Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Der Deutsche Bundestag trauert um Dr. Hans
Stercken, der dem Hause von 1976 bis 1994 als Abge-
ordneter angehörte und am Sonnabend der letzten Wo-
che einem schweren Leiden erlag.
Hans Stercken, am 2. September 1923 in Aachen ge-
boren, zog nach der Bundestagswahl 1976 als direkt ge-
wählter Abgeordneter seiner Heimatstadt in den Bun-
destag ein. Der Name Hans Stercken ist untrennbar mit
dem Amt des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschus-
ses verbunden, das er von 1985 bis zu seinem Ausschei-
den aus dem Bundestag im Jahre 1994 innehatte.
Höhepunkt der politischen Laufbahn Hans Sterckens
war zweifellos seine Wahl zum Präsidenten der Inter-
parlamentarischen Union im Jahre 1985. Mit ihm wurde
erstmals ein deutscher Parlamentarier in den Vorsitz die-
ser wichtigen weltweiten Abgeordnetenvereinigung be-
rufen.
Der Lebensweg Hans Sterckens war vom europäi-
schen Geist der Grenzregion geprägt. Mit Entschieden-
heit und großem Einfühlungsvermögen hat er sich insbe-
sondere für eine Vertiefung der deutsch-französischen,
der deutsch-israelischen und der deutsch-türkischen Be-
ziehungen eingesetzt.
Unermüdlich hat sich Hans Stercken weltweit für die
Menschenrechte eingesetzt. Der Idee des Friedens ver-
pflichtet, hat er sich darum bemüht, Konflikte zu lösen
oder zu entschärfen. Er vertrat seine Standpunkte mit
nachhaltigem Engagement vor allem in Zypern, dem
Iran und dem Irak, in Nordkorea und immer wieder in
Afrika.
Zum Persönlichkeitsbild Hans Sterckens gehörten
aber nicht nur seine Aktivitäten im Bereich der interna-
tionalen Zusammenarbeit. Stercken hat sich in seiner ge-
samten Abgeordnetenzeit auch stets ein Ohr für die An-
liegen der Bürgerinnen und Bürger bewahrt.
Der Deutsche Bundestag gedenkt seines früheren
Mitgliedes Hans Stercken in Dankbarkeit und Anerken-
nung. Seinen Angehörigen spreche ich im Namen des
Hauses unser tiefempfundenes Mitgefühl aus. –
Sie haben sich zu Ehren des Verstorbenen von Ihren
Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Fraktion der
SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben fristgerecht be-
antragt, die im Ältestenrat erörterte und unter Vorbehalt
gestellte Tagesordnung durch das Plenum feststellen zu
lassen, da eine Vereinbarung im Sinne des § 20 Abs. 1
der Geschäftsordnung nicht getroffen wurde.
Die Fraktion der PDS hat fristgerecht beantragt, die
vorläufige Tagesordnung um die zweite und dritte Be-
ratung ihres Gesetzentwurfs zur Änderung des Dritten
Buches Sozialgesetzbuch zu erweitern.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat Kollege Roland
Claus, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Die PDS-Fraktion bean-tragt einen zusätzlichen Tagesordnungspunkt, und zwar– um es verständlicher zu sagen – die abschließende Le-sung eines PDS-Gesetzentwurfes zur Wiedereinfüh-rung des Streikparagraphen. Wir haben dazu im Älte-stenrat keine Einigung erzielt. Das ist relativ selten, abernicht einmalig. Womöglich wird Kollege Schmidt nach-her für die SPD sagen, die PDS, die sich bisher durchparlamentarische Seriosität ausgezeichnet habe, kommenun auch noch mit Geschäftsordnungstricks wie dieCDU.
Deshalb sage ich schon einmal vorsorglich: Daran wür-de nur der erste Teil stimmen.Wir haben an diesem Verhandlungstage keinen origi-nären PDS-Tagesordnungspunkt, wohl aber einen inverbundener Debatte. Das liegt nun aber, meine Damenund Herren, nicht an Ihrem Wohlwollen, sondern an un-serem parlamentarischen Fleiß. Wir wissen sehr wohl– und ich will das auch nicht in Abrede stellen –, daßwir kein Aufsetzungsrecht für eine zweite und dritte
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Lesung haben. Sie hätten das aber auch nicht behindernmüssen, denn es gibt umgekehrt keine Pflicht zur Ver-hinderung von PDS-Themen.
An diesem Problem werden – darauf möchte ich hieraufmerksam machen – gleich mehrere Behinderungenunserer Fraktion deutlich.Erster Punkt. PDS-Themen werden in der Regel indie Nachtstunden verbannt. Sie fragen uns immer kurzvor Ablauf der Plenarsitzungen, ob wir nicht bereit sei-en, unsere Reden zu Protokoll zu geben. Sie ärgern sichund sind entrüstet, wenn wir dazu nicht bereit sind. Ichweiß, daß es einige im Hause gibt, die die ganze PDSlieber ins Protokoll verbannen würden. Aber das habendie Wählerinnen und Wähler anders entschieden.
Zweiter Punkt unserer Kritik. Die abschließende Be-ratung parlamentarischer Initiativen wird der PDS nichtselten verwehrt. Ich möchte Ihnen einige Daten nennen,an denen die PDS Anträge gestellt hat: 26., 28. und30. Oktober 1998 sowie 5., 9., 10., 11. und 19. Novem-ber 1998. Die Themen – das ist vielleicht auch nichtuninteressant – waren Vermögensteuer, Airbus-Ferti-gung, Luxussteuer, ermäßigte Mehrwertsteuer.Dritter Punkt. Es kommt auch vor, daß die abschlie-ßende Beratung von PDS-Initiativen in diesem Hause solange hinausgeschoben wird, bis es der Koalition inihren politischen Zeitplan paßt. Ein Beispiel dafür ist dieVorlage zum Schlechtwettergeld, die wir heute lesen.Auch hier zeigt sich eine Parallele zu dem heutigen Pro-blem. Wir wollen das nicht unwidersprochen hinneh-men, obwohl wir natürlich um die Mehrheitsverhältnissehier im Hause wissen, die wir akzeptieren. Aber wir se-hen darin eine unzulässige Einschränkung der Rechteeiner Oppositionsfraktion und ärgern uns ein bißchendarüber, daß die CDU/CSU das auch noch mitmacht undzuläßt und keine Interessenallianz sieht.Nun möchte ich der sozialdemokratischen Fraktionkeine unlauteren Absichten unterstellen. Schließlich istsie unser aller Koalitionspartner – mit Ausnahme derCSU, die mit ihr nur verschwägert ist. Aber ich möchtetrotzdem folgende Fragen stellen: Könnte es nicht auchsein, daß Sie sich bei der Diskussion über den Streikpa-ragraphen nicht ausgerechnet von der PDS dabei störenlassen wollen, erneut ein Wahlversprechen zu brechen?
Könnte es nicht auch sein, daß Sie eine solche sozialde-mokratische Bastion gegenüber den Gewerkschaftenüberhaupt keiner anderen Partei überlassen wollen?Könnte es nicht auch sein, daß Sie die IG-Metall-Konferenz Anfang September dieses Jahres stört, weildort über das spannende Thema der Aktualität desStreikparagraphen diskutiert wird? Könnten nicht alleAspekte, die ich mit meinen Fragen angesprochen habe,ein bißchen zutreffen oder wenigstens ein paar davon?
Wäre es nicht besser, Sie würden sich inhaltlich mit un-seren Vorschlägen und Themen auseinandersetzen, alssie von der Tagesordnung zu verbannen?
Ich bitte Sie also um Zustimmung zu unserem Vor-schlag. Das wäre auch eine kleine Ausgleichsmaßnahmedafür, daß Sie unser spannendes Thema für die AktuelleStunde von der Tagesordnung verdrängt haben, welcheslautete: Forderungen von SPD-Abgeordneten nach Kür-zung der Ostförderung.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wilhelm Schmidt, SPD-Fraktion.
Guten Mor-gen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Zweck der Übung des Kollegen Claus war wohl,über eine Geschäftsordnungsdebatte zu versuchen, in dieSachthemen einzuführen, obwohl das nun wirklich nichtzu einer Geschäftsordnungsdebatte gehört.
Deshalb sage ich nur: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt.Wir werden heute Ihrem Antrag nicht nachkommen.Das haben wir, die Vertreter aller Fraktionen des Hau-ses, Ihnen, Herr Claus, schon in der Runde der Ge-schäftsführerinnen und Geschäftsführer mitgeteilt. So istes auch im Ältestenrat bekanntgegeben worden.Es ist unerheblich, aus welchem Grunde wir heutediesen Tagesordnungspunkt nicht beraten wollen. Ausunserer Sicht ist er nicht beratungsreif. Entscheidend istnun einmal, daß zum einen Tagesordnungen nur im Ein-vernehmen zustande kommen und zum anderen ein Auf-setzungsrecht einzelner Fraktionen zu Beschlußemp-fehlungen, die die Ausschüsse gemacht haben, nicht be-steht. Deshalb ist das, was Sie heute hier gemacht haben,sehr vordergründig und aus unserer Sicht abzulehnen.Ich möchte, liebe Kolleginnen und Kollegen, auchnoch darauf hinweisen, daß wir einvernehmlich dasÜberweisungsgesetz auf die Tagesordnung setzen wol-len. Darüber soll am Donnerstag morgen zu Beginn derTagesordnung und noch vor der Debatte „50 Jahre De-mokratie – Dank an Bonn“ beraten werden. Es wird zudiesem Zeitpunkt darüber beraten, weil es einen techni-schen Fehler bei der Aufsetzung und bei der Beratunggegeben hat, der heute nicht mehr rückgängig gemachtwerden kann. Wir werden morgen das Überweisungsge-setz ohne Debatte beraten und darüber abstimmen.Ich möchte Sie bitten, unter Berücksichtigung dieserbeiden Aussagen die Tagesordnung für diese Woche sofestzustellen.Vielen Dank.
Roland Claus
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Wir kommen zur
Abstimmung.
Wer stimmt für den Geschäftsordnungsantrag der
Fraktion der PDS auf Erweiterung der vorläufigen
Tagesordnung? – Wer stimmt dagegen? – Gibt es
Stimmenthaltungen? – Der Antrag ist gegen die Stim-
men der PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen
abgelehnt.
Wer stimmt für den Geschäftsordnungsantrag von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Feststellung der
unter Vorbehalt gestellten Tagesordnung mit der soeben
vorgetragenen Maßgabe, daß über Tagesordnungspunkt
14 e – Überweisungsgesetz – erst Donnerstag morgen
ohne Debatte abgestimmt wird? – Wer stimmt dagegen?
– Stimmenthaltungen? – Damit ist dieser Antrag mit den
Stimmen der Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grü-
nen, CDU/CSU und F.D.P. gegen die Stimmen der PDS
und eine Stimme aus der CDU-Fraktion angenommen.
Damit ist die Tagesordnung – wie verteilt, aber mit
der soeben genannten Maßgabe – festgestellt.
Liebe Kollegen, zum Ablauf der Tagesordnung ist
nunmehr noch auf folgendes hinzuweisen: Interfraktio-
nell ist vereinbart worden, die Wahl eines Mitglieds des
Parlamentarischen Kontrollgremiums vorzuziehen und
bereits nach der Debatte über die Gesundheitsreform
aufzurufen.
Des weiteren soll die verbundene Tagesordnung um
die Ihnen in einer Zusatzpunktliste vorliegenden Punkte
erweitert werden:
ZP1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Hal-tung der Bundesregierung zur aktuellen Situation im Kosovo
ZP2 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfseines Dreiunddreißigsten Gesetzes zur Änderung desLastenausgleichsgesetzes – Drucksache14/866 –
Außerdem weise ich auf eine nachträgliche Aus-
schußüberweisung im Anhang der Zusatzpunktliste hin.
Der in der 45. Sitzung des Deutschen Bundestages überwie-sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus-schuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zur Mitbe-ratung überwiesen werden.
Gesetzentwurf des Bundesrates zur Erleichterung der Ver-waltungsreform in den Ländern – Drucksache 14/640 –
– Drucksache 14/1245 –
Überweisungsvorschlag:
Ich will unsere Zeit nicht damit verschwenden, aufeinige Entgleisungen der Debatte in den letzten Monateneinzugehen. Lassen Sie mich aber sagen: Ich finde esschon auffällig, wie sich plötzlich sehr viele, die anson-sten durchaus sehr unterschiedliche Interessen vertreten,in der Verteidigung des Status quo ganz einig sind– eines Status quo, der schon ganz lange kritisiert wor-den ist und plötzlich für das Bessere gehalten wird.Es gibt einen auffälligen Mangel an konstruktivenVorschlägen bei denjenigen, die gegen dieses Gesetzopponieren und die Ansicht vertreten, es führe in die fal-sche Richtung. Wer das Gesetz nicht will, der soll unssagen, was wir machen sollen oder ob wir einfach soweitermachen sollen wie bisher. Dann mag es vielleichteine kurze Zeit des Aufatmens auf der Seite der Lei-stungserbringer geben, weil es keine finanziellen Be-schränkungen gibt, aber nach einiger Zeit werden dieBeiträge so sehr gestiegen sein, daß die Menschen keinInteresse mehr an einer solidarisch organisierten Kran-kenversicherung haben.
Ich meine, daß wir dieses System mit Reformen für dieZukunft fit machen müssen. Zu einer modernen Gesund-heitsreform gehört als allererstes und oberstes Ziel, daß
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die Patienten im Mittelpunkt stehen und das Gesundheits-system nach ihren Bedürfnissen ausgerichtet wird.
Die Bedürfnisse von Patientinnen und Patienten habensich verändert. Manche Strukturen passen nicht mehrdarauf; manches ist an diesen Strukturen allerdingsschon so lange kritisiert worden, daß ich, wie gesagt, derMeinung bin, daß wir diese Debatte endlich aufgreifenund eine wirkliche Lösung dafür finden müssen.Ich will hier noch einmal ganz deutlich sagen, daß ichunser Gesundheitssystem für gut und leistungsfähighalte. Es kann sich im internationalen Vergleich sehenlassen.
Ich will auch ausdrücklich betonen, daß wir diese Re-form durchführen, weil wir dieses System schätzen, dasmit einer solidarischen Finanzierung im Rahmen der ge-setzlichen Krankenversicherung für die notwendigeUmverteilung zwischen Jung und Alt, zwischen Gesun-den und Kranken, zwischen Familien und Singles sorgt.Wir wollen diese Finanzierung genauso wie die paritä-tische Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitneh-mer erhalten. Wir wollen auch das ganz wichtige Prinzip– darin unterscheiden wir uns wirklich in vielerlei Hin-sicht positiv von anderen Ländern – erhalten, daß Lei-stungen unabhängig vom eigenen Einkommen gezahltwerden. Das halte ich für ganz elementar.
Vor welchen Herausforderungen stehen wir, und wasmüssen wir deswegen verändern? Die erste Herausfor-derung ist der demographische Wandel. Wir wissenalle, daß schon heute jede fünfte Person in unseremLand über 60 Jahre alt ist. Im Jahr 2030 wird es jededritte sein. Jetzt liegt natürlich intuitiv die Vermutungnahe, daß damit auch die Kosten im Gesundheitswesenexponentiell steigen. Schon ein früherer Sachverständi-genrat im Gesundheitswesen hat uns eines Besseren be-lehrt: Diese Korrelation liegt nicht zwangsläufig vor,denn der demographische Wandel ist ja unter anderemder Tatsache zu verdanken, daß die Menschen länger ge-sund sind und auch alte Menschen insgesamt gesündersind. Wir können davon ausgehen, daß sie das Gesund-heitssystem zwar über einen längeren Zeitraum in An-spruch nehmen, aber dafür nicht so stark, wie es früherbei anderen Krankheiten der Fall war.
Wir haben es vor allen Dingen mit verändertenKrankheitsbildern zu tun; das heißt, wir haben mehrchronische Krankheiten und Mehrfacherkrankungen.Wir können davon ausgehen, daß der Versorgungsbedarfin Rehabilitation und Pflege stärker steigen wird als derin der Akutversorgung.
Darauf sollten wir, wie ich meine, nicht so reagieren,daß wir die Geldzufuhr zum Gesundheitswesen expo-nentiell steigern. Der entscheidende Punkt ist vielmehr,die Versorgungsstrukturen so zu verändern, daß Krank-heitsbilder, die häufiger auftauchen, zum Beispiel chro-nische oder Mehrfacherkrankungen, angemessen behan-delt werden können.Die Herausforderung der Stunde ist, eine stärkere Zu-sammenarbeit zwischen einzelnen Ärzten, zwischenÄrzten verschiedener Fachrichtungen sowie zwischendem ambulanten und stationären Bereich herbeizufüh-ren. Es geht also um die gute Zusammenarbeit allerBeteiligten im Gesundheitswesen. Dafür wollen wirmit diesem Gesetz die Weichen stellen.Die Maßnahmen, die dafür im Gesetz vorgesehensind, sind die bessere Verzahnung des ambulanten undstationären Sektors, die Stärkung der Stellung des Haus-arztes als Lotsen durch das Gesundheitssystem
und die Verbesserung der Rahmenbedingungen, damitintegrierte Versorgungsstrukturen gefunden werdenkönnen und flexibler bei der Finanzierung von Gesund-heitsleistungen, die in verschiedenen Sektoren erbrachtwerden, vorgegangen werden kann. Das Stichwort lautethier, daß das Geld der Leistung folgen soll und nichtumgekehrt. Wir wollen auch die Rehabilitation durcheine Reihe von Maßnahmen stärken, die in diesem Ge-setzespaket vorgesehen sind.Wenn man diese veränderten Krankheitsbilder alseine der gesundheitspolitischen Herausforderungen derZukunft erkennt, kommt man zu der Feststellung, daßGesundheitsförderung und -vorsorge das zentrale Gebotder Stunde sind.Wir müssen auch Präventionskonzepte für ältereMenschen entwickeln. Maßnahmen der Gesundheitsför-derung sind immer sinnvoll, egal in welchem Alter siedurchgeführt werden. Der entscheidende Punkt aber, denwir vorgesehen haben, ist, daß die Kassen wieder überLeistungen der Gesundheitsförderung informierendürfen, sie anbieten und finanzieren können und daßwir – das halte ich ebenfalls für einen ganz wichtigenSchritt – die Finanzierung von Selbsthilfegruppen undSelbsthilfekontaktstellen stärker ermöglichen.Aus der Tatsache, daß wir auch in der Zahnmedi-zin verstärkt auf Prophylaxe und Zahnerhalt setzenwollen,
können Sie ersehen, daß für uns die Frage der Vorbeu-gung ganz zentral ist. Die Bedeutung der Vorsorgekennt man schon lange. Trotzdem hat man mit demVerweis auf einige negative Beispiele in den letztenJahren all die guten Ansätze, die sich auf diesem Ge-biet entwickelt hatten, zunichte gemacht. Meiner Mei-nung nach war es ein Etikettenschwindel, von der Stär-kung der Eigenverantwortung zu sprechen, aber auf derBundesministerin Andrea Fischer
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anderen Seite darauf zu setzen, daß die Menschen mehrzahlen müssen.
Wir sagen: Die Selbstverantwortung beginnt bei derVerantwortung, die man für die eigene Gesundheitübernimmt. Die wollen wir fördern, weil es eine Zu-kunftsinvestition für unser Gesundheitssystem ist.
Die zweite Herausforderung, vor der wir stehen, be-trifft den medizinischen Fortschritt, der uns in kurzenAbständen neue Erkenntnisse und neue Möglichkeitensowohl im Bereich der Diagnostik und der Arzneimittelals auch bei den Behandlungsmethoden bietet. Ich sageganz deutlich: Dieser Fortschritt soll, so er sinnvoll ist,den Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherungzur Verfügung stehen. Wir wissen, daß einige Neuent-wicklungen teuer sind. Ich erwähne beispielsweise neueMedikamente gegen die Krankheit Aids. Wir wissenaber auf der anderen Seite, daß manche neue Verfahrenzu Kosteneinsparungen führen. Ich nenne den Bereichder minimalinvasiven Chirurgie, durch die die Liege-zeiten in den Krankenhäusern deutlich verringert wer-den.Es ist zu einfach, zu sagen: Der medizinische Fort-schritt kostet Geld, also müssen wir immer mehr Gelddraufpacken. Wir brauchen statt dessen eine ständigeselbstkritische Überprüfung dieses Systems. Dazu ge-hört auch, zu fragen: Ist das Neue wirklich besser? Indem Fall können wir alte Verfahren durch neue Verfah-ren ersetzen. Wir wollen den Prozeß der ständigen Er-neuerung befördern und nicht den vermeintlich einfa-chen Weg gehen, immer mehr Geld draufzupacken. Dasist eine moderne Sozialpolitik, die nicht einer Bruttore-gistertonnen-Ideologie folgt.
Deswegen brauchen wir zum Beispiel für die im Be-reich der Diagnostik eingesetzten Technologien eineständige Überprüfung, ob deren Einsatz eigentlich sinn-voll ist. Wir haben es sehr wohl auch mit dem Problemzu tun, daß die Vergütungsstrukturen im Gesundheits-system falsche Anreize geben und dazu führen, daß esUntersuchungen gibt, die zwar für denjenigen, dem dasbetreffende Gerät gehört, betriebswirtschaftlich zwin-gend notwendig sind, aber über deren medizinischenNutzen trefflich gestritten werden kann.Für eine moderne Gesundheitspolitik steht die Frageder Qualität ganz obenan. Dabei geht es nicht nur dar-um, daß wir uns die Arbeit der einzelnen Institutionenim Gesundheitswesen anschauen. Es geht vor allen Din-gen darum, die Qualität der Diagnose und des anschlie-ßenden Behandlungsprozesses zu überprüfen. Aus die-sen Erkenntnissen müssen Leitlinien für die Therapieentwickelt werden. Das ist meines Erachtens eine wich-tige Unterstützung sowohl für die Behandelnden im Ge-sundheitswesen als auch für die Behandelten, die infor-miert werden und damit besser über die Behandlung mitihren Ärzten sprechen können.Wir müssen viel stärker das Qualitätsmanagementin Praxis und Klinik verankern. Ich will in diesem Zu-sammenhang ganz deutlich sagen, daß auch die Posi-tivliste ein Instrument der Qualitätssicherung ist.
Wir wollen damit all denjenigen, die mit dem sehr un-übersichtlichen Arzneimittelmarkt zu tun haben, Hilfe-stellung und Anleitung geben.
Sie wissen ja, daß die deutsche Ärzteschaft wirklichunverdächtig ist, unsere Reform in starkem Maße zuunterstützen. Aber sie hält zumindest die Positivliste fürangemessen,
um Ordnung auf den Arzneimittelmarkt zu bringen unddamit die Qualität der Behandlung zu erhöhen.Ich meine, daß wir auf der Ebene des Anreizsystemsin unserem Gesetz auch zu Recht vorgesehen haben,durch andere Vergütungsstrukturen die Anreize füreinen sinnvollen Einsatz aufwendiger Medizintechnik zusetzen und diese durch entsprechende Anwendungsleit-linien zu unterstützen.Die dritte Herausforderung, vor der wir stehen, be-steht darin, daß sich die Haltung der Menschen zu allensozialen Sicherungssystemen und damit auch zum Ge-sundheitssystem verändert hat. Die Menschen wollennicht länger Objekt staatlicher Fürsorge sein,
sondern sie wollen aktiv mitgestalten. Wir wissen, daßHeilungsprozesse nur dann gelingen können, wenn Pa-tientinnen und Patienten dabei eine aktive Rolle spielen.Deswegen ist die Stärkung der Patientinnen und Patien-ten, sowohl was ihre Information als auch was ihreRechte anbelangt, ein wichtiger Ansatz dafür, daß wirmit den Mitteln im Gesundheitswesen sinnvoll umgehenkönnen.
Wir wissen doch, sei es aus eigener Erfahrung, sei esaus entsprechenden Untersuchungen, daß man als Pa-tient nicht dann am zufriedensten ist, wenn man die mei-sten Medikamente verschrieben bekommen hat, sonderndann, wenn man weiß, worum es geht, warum etwasBundesministerin Andrea Fischer
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getan wird oder auch warum etwas nicht getan wird undzum Beispiel auf das Verschreiben verzichtet werdenkann.Deswegen halte ich es für sehr bedeutsam, daß wir inder Gesundheitsreform darauf setzen, daß Patientenmehr Rechte bekommen, daß sie besser informiert wer-den und bei Behandlungsfehlern stärker auf Unterstüt-zung zählen können. Wir wollen ausprobieren, welcheMöglichkeiten durch unabhängige Beratungsstellen ge-schaffen werden können.
Wir wollen auch das vielfältige Engagement vonSelbsthilfegruppen wieder stärker fördern, als es bis-lang der Fall war, weil wir der Auffassung sind, daß ge-rade das Expertentum in eigener Sache in eine Gesund-heitspolitik von morgen gehört.
Zweifelsohne einer der umstrittensten Bereiche in un-serem Gesetzespaket sind die von uns vorgesehenen Re-formen im Krankenhausbereich. Wir wollen – das istder Gedanke, der hinter diesem Gesetzespaket steht –
eine Versorgung, die den Grundsatz „ambulant vor sta-tionär“ konsequent umsetzt. Wir können feststellen: Wirhaben eine deutlich höhere Anzahl von Krankenhaus-betten als vergleichbare Länder. Deswegen muß mansehr wohl die Frage stellen, ob wir in unserem Kranken-hausbereich nicht eine veränderte Struktur brauchen.Dabei müssen wir über die Überkapazitäten reden,die wir dort aufgebaut haben. Zur Zeit fließt ein Drittelaller Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung inden Krankenhausbereich. Obwohl es in den letzten Jah-ren auch von denjenigen, die sich jetzt über das, was wirmachen, so aufregen,
reichlich Versuche gegeben hat, in diesem Bereich Ko-sten zu reduzieren, ist der Anteil der Ausgaben hier inden letzten Jahren zu Lasten der übrigen Bereiche in dergesetzlichen Krankenversicherung ständig gewachsen.Die Ausgaben der GKV für die Krankenhausbehandlun-gen sind von 59 Milliarden DM in 1991 auf 85 Milliar-den DM in 1998 gestiegen. Das ist immerhin einWachstum von 44 Prozent in acht Jahren. Das bedeutet,daß ein immer größerer Anteil der GKV-Ausgabendurch den stationären Sektor gebunden wird. Das führtnatürlich zu einer erheblichen Kritik aller anderen, dieim Gesundheitswesen arbeiten, weil sie den Eindruckhaben, daß die Bereiche in dieser Hinsicht ungleich be-handelt werden.Trotzdem – auch das wissen wir – ist der Kranken-hausbereich sehr sensibel, wenn man dort Veränderun-gen anstrebt. Das ist der Grund, aus dem wir vorhaben,die vorgesehenen Reformschritte sehr behutsam einzu-leiten. Wir haben statt dramatischer Schnitte langeÜbergangszeiten vorgesehen, weil die Beteiligten Zeitbrauchen, um sich auf Veränderungen einzustellen.Es gibt keinen einfachen Weg zum Krankenhaus derZukunft. Ich meine aber auch, daß die schlichte Forde-rung nach mehr Geld an den Herausforderungen, diesich auf dem Weg in die Zukunft der Krankenhäuserstellen, vorbeigeht.
Die Krankenhäuser brauchen mehr Transparenz undWirtschaftlichkeit. Sie brauchen dafür ein neues, einpauschaliertes Finanzierungssystem – das ist übrigenseiner der Punkte in unserem Gesetzespaket, dessenNotwendigkeit von fast niemandem bestritten wird –
und den Übergang von der dualen zur monistischenKrankenhausfinanzierung.Ich weiß wohl, daß die Unzufriedenheit der Be-schäftigten in den Krankenhäusern außerordentlichgroß ist. Die Hauptklage dabei ist, daß die dortigenEinsparungen vor allen Dingen zu Lasten des Pflege-personals gehen.
Ich nehme diese Proteste sehr ernst. Aber ein Auswegkann nicht sein, zu leugnen, daß die Verantwortung füreine angemessene Personalausstattung vor Ort bei dendort Beteiligten liegt und nicht bei der Gesundheitspoli-tik des Bundes. Deswegen muß der Versuch scheitern,einen Konflikt zwischen den Tarifparteien auf Dritte zuverlagern, indem sich die beiden Beteiligten, die sichnicht einigen können, gegen die Bundesregierung ver-bünden.
Ich will es hier ganz deutlich sagen: Aufgabe derVerantwortlichen vor Ort – das bedeutet insbesondereder Krankenhausträger und der Krankenhausleitungen –ist es, daß sie die für die Erfüllung der Aufgaben not-wendige Personalausstattung vorhalten und den beste-henden Gestaltungsspielraum sinnvoll nutzen. Das heißtaber auch, daß für eine patientenfreundliche Betreuung,die auch die berechtigten Interessen der Beschäftigtenberücksichtigt, die krankenhausinternen Strukturen aufden Prüfstand gehören: die Hierarchie, die Mitbestim-mung und die Einbeziehung des Pflegepersonals. Dar-über muß diskutiert werden und nicht nur darüber, daßwir mehr Geld benötigen.
Bundesministerin Andrea Fischer
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Mit diesem Gesetz setzen wir die Rahmenbedingun-gen für einen solchen Prozeß. Wir werden alle Anstren-gungen für eine Verbesserung der Ablauforganisationin den Krankenhäusern unterstützen. Ich meine, daß ge-rade unsere Vorschläge zur Verzahnung des ambulantenund des stationären Bereichs und die angestrebten Maß-nahmen zur Qualitätssicherung bei der Pflege dazu bei-tragen, das Abteilungsdenken und die hierarchischenStrukturen zu überwinden. Das ist der entscheidendePunkt, mit dem die Kompetenz der Pflegenden in denAbläufen der Krankenhäuser angemessen berücksichtigtund die Arbeitszufriedenheit erhöht werden kann.
Ich möchte noch einige Worte zu Ostdeutschlandsagen.
Wir wollen eine Angleichung der Lebensverhältnisse inOst und West, und wir wollen dies auch im Gesund-heitswesen. Ich will diejenigen, die in diesem Zusam-menhang sehr keck daherreden, daran erinnern, daß wirim Vorschaltgesetz die Befristung der Solidaritätszah-lungen von West nach Ost im Bereich der Krankenver-sicherung, die Sie auf drei Jahre festgelegt hatten, erstaufheben mußten.
Das heißt, daß die Krankenkassen in Ostdeutschlandauch über das Jahr 2001 hinaus – nur bis zu diesemZeitpunkt hatte die frühere Regierung entsprechendeZahlungen vorgesehen – mit beachtlichen Ausgleichs-zahlungen der Krankenkassen im Westen rechnen kön-nen. Wir haben uns damit dauerhaft von einer Diskus-sion verabschiedet, die von der ehemaligen Regierungüber die Regionalisierung von Sozialversicherungsbei-trägen geführt wurde, und zwar in der Form, daß sichdiejenigen, denen es gutgeht, von denjenigen abkoppeln,die eine Unterstützung brauchen.
Mit dem vorliegenden Gesetz koppeln wir die Ausgabenin Ostdeutschland nicht mehr an die ostdeutsche Lohn-entwicklung, sondern an die gesamtdeutsche. Das ist überden materiellen Aspekt hinaus ein wichtiger symbolischerAkt für die Gesundheitspolitik in Ostdeutschland.
Wir haben außerdem vorgesehen, daß die Festsetzungder Transferzahlungen von West- nach Ostdeutschlandauf eine Obergrenze entfällt. Statt dessen erfolgen Zah-lungen, wie es im Rahmen des RSA notwendig ist.Ich will nicht verhehlen, daß wir bei den Einnahmender Kassen im Osten ein Problem haben. Darüber führenwir seit Wochen mit allen Beteiligten intensive Gesprä-che,
um eine Lösung zu finden, die den Bedürfnissen in Ost-deutschland gerecht wird. Ich bin mir sicher, daß einigevon denen, die zur Zeit so groß tönen, in Ostdeutschlandanders sprechen als im Westen. Denn jede Schwierigkeitim Zusammenhang mit dem Finanzausgleich zwischenWest- und Ostdeutschland muß immer im Westen ver-mittelt werden. Das wissen Sie ganz genau; denn Siehaben in den letzten Jahren eine solche Debatte geführt.Wir suchen deswegen nach einer Lösung, die für Ostund West gleichermaßen tragbar ist.
Nun komme ich zu dem, was am stärksten kritisiertwird und angesichts dessen sich alle Beteiligten trotzihrer widerstreitenden Interessen – da wollen sie garnicht mehr zugeben, daß ihre Interessen nicht kon-fliktfrei vereinbar wären – im Protest zusammenfinden,zum Globalbudget. Sprachlich ist das Globalbudgetsicherlich keine Meisterleistung. Es verbirgt sich aberzunächst einmal nichts anderes dahinter als die Forde-rung nach Beitragssatzstabilität. Das ist nicht meine Er-findung und nicht die Erfindung der neuen Bundesregie-rung. Dies ist vielmehr vor zehn Jahren in das SGB Vaufgenommen worden. Meiner Erinnerung nach war ichdamals nicht Ministerin für Gesundheit.
Die Beitragssatzstabilität ist also in der Gesundheits-politik ein schon lange anerkanntes Ziel. Es geht dochnicht um eine Schikane aller Beteiligten. Wir alle habenin den letzten Jahren schmerzhaft erfahren müssen– unter anderem, weil Sie die Sozialversicherungsbeiträ-ge ins Unermeßliche haben steigen lassen –,
wie schädlich die arbeitsmarktpolitischen Folgen sind,wenn die Sozialversicherungsbeiträge nicht stabil ge-halten werden.
Wir wissen inzwischen – das können Sie nicht leug-nen –, daß wir die Sozialversicherungsbeiträge senkenmüssen.
Diese Anforderung stellen wir an die Gesundheitsreformnoch nicht einmal. Wir wollen zunächst einmal nur sta-bile Beitragssätze, weil wir wissen, daß auch das Ge-Bundesministerin Andrea Fischer
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sundheitswesen ein arbeitsmarktpolitisch sensibler Be-reich ist. Deswegen müssen wir diesen Mittelkurs fah-ren. Allen, die mit Blick auf die Arbeitsplätze im Ge-sundheitswesen meinen, man müsse die Beitragssätzesteigen lassen,
will ich sagen: Dies wäre ein Eigentor. Dies würde aufdem Umweg über die Lohnnebenkosten wieder zu einerBelastung derjenigen führen, die dies fordern.
Und all diejenigen, die in bezug auf diese Reform dasRationierungsgespenst an die Wand malen, machen sichweniger gescheit, als sie es doch eigentlich sind. Jeder,mit dem man im Gesundheitswesen redet, weiß, wasgemacht wird, obwohl es eigentlich nicht sein muß. Wirhaben bergeweise Erkenntnisse darüber, was im Ge-sundheitswesen an Überflüssigem gemacht wird, wasman aus Qualitätssicherungsmaßnahmen lernen kann.Ich sage nicht, daß diese Erkenntnisse im Verhältnis 1:1umgesetzt werden können.
Ich sage nur: Wer so tut, als sei dieses System trotzdemnicht reformbedürftig, wer meint, man müsse nur mehrGeld fließen lassen, der geht wirklich den billigsten, deneinfachsten Weg, den es gibt, der würde dieses Systemdadurch nur schlechter machen.
Wir müssen uns natürlich immer bewußt sein, daßwir es hier mit einem schwierigen Komplex zu tun ha-ben, weil es hier einen Widerspruch gibt, der jeden be-trifft: Einerseits möchte man so viele Leistungen be-kommen, wie man nur kriegen kann, andererseitsmöchte man als Versicherter nicht so hohe Beiträgezahlen. Das sollte man sich doch fairerweise eingeste-hen. Jeder, der für die Lösung des Problems mehr Geldfordert, der muß schon sagen, woher er es nehmen will:über erhöhte Zuzahlungen, über erhöhte Beiträge oderüber höhere Steuern? Steuern müssen auch gezahlt wer-den; sie fallen nicht vom Himmel. Das heißt: Hier istwirklich intellektuelle Redlichkeit gefordert,
gerade angesichts dessen, daß in der Debatte das Glo-balbudget als Teufel an die Wand gemalt wird.
Auch wenn wir sagen, daß wir unterhalb der Grenzeder Mittel bleiben wollen – falls Sie noch eine guteIdee haben, wie man jemandem Geld abnehmen kann,ohne daß er schreit: ich bin sehr gespannt darauf –, sosind die Mittel trotzdem begrenzt. Jedes System mußmit begrenzten Mitteln auskommen. Deswegen ist esso wichtig, daß wir im Rahmen dieser Gesundheitsre-form Instrumente bereitstellen, wie man mit diesen be-grenzten Mitteln – und eine Begrenzung ist notwen-dig – gut arbeiten und eine hohe Qualität bereitstellenkann. Vor dieser Aufgabe könnten auch Sie nichtfliehen.Wir wollen auch, daß im Rahmen des Globalbudgetsdie Gelder zwischen den Sektoren flexibler eingesetztwerden können. Jetzt sagen alle: Das ist uns zu riskant;wir fürchten uns vor dem, was bei den Verhandlungenherauskommt; wir glauben, daß dann die Kassen allesdiktieren werden. – Meine Damen und Herren, heißt dasim Klartext, daß Sie bei sektoralen Budgets bleibenwollen? Ich dachte, die wären immer kritisiert worden.Es ist doch in der Gesundheitspolitik eine uralte Debatte,daß gerade die strenge Trennung der finanziellen Sekto-ren dazu führt, daß die Leistungen die Sektorengrenzennicht überwinden können. Wir müssen auf der Finanzie-rungsseite dieselbe Flexibilität haben, die wir in deralltäglichen Arbeit bei der Zusammenarbeit von den Be-schäftigten im Gesundheitswesen wollen. Deshalb brau-chen wir dieses Globalbudget.
Lassen Sie mich abschließend noch auf das Argumentder Arbeitsplätze eingehen, da man dies sehr ernstnehmen muß. Ich will noch einmal darauf hinweisen:Bei einer Steigerung der Grundlohnsumme kommt jedesJahr mehr Geld in das System. Es handelt sich hier nichtdarum, daß weniger ausgegeben wird; hier wird nichtgekürzt, vielmehr wird der Zuwachs der Ausgaben be-grenzt. Deswegen sind einige der kursierenden Zahlenzu der Frage, wie viele Arbeitsplätze abgebaut werdenwürden, völlig überdimensioniert und haben überhauptnichts mit der Realität zu tun. Ich habe es eben schoneinmal gesagt: Wenn wir zu Lasten der Beiträge imRahmen des Systems der gesetzlichen Krankenversiche-rung eine expansive Gesundheitspolitik betreiben, wirduns das arbeitsmarktpolitisch über die negativen Folgender höheren Lohnnebenkosten wieder einholen.Selbstverständlich ist der Gesundheitsmarkt einWachstumsmarkt, aber dieses Wachstum muß sich nichtausschließlich im Bereich der gesetzlichen Krankenver-sicherung abspielen.
Wir haben uns entschieden – und das schon vor sehrlanger Zeit –, daß wir im Rahmen der gesetzlichenKrankenversicherung nur das Notwendige, Ausreichen-de, Zweckmäßige und das, was wirtschaftlich vertretbarist, vorsehen wollen.
Das Wachstum findet sehr stark in den Bereichen statt,die darüber hinausgehen. Dabei geht es – das wissen wiralle – um Wellness, Fitneß, um Kuren, die jenseits des-sen liegen, was medizinisch unbedingt notwendig ist.Hier liegen die großen Wachstumspotentiale. Die Forde-rung, dieses Wachstumspotential ausschließlich imBundesministerin Andrea Fischer
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Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung auszu-schöpfen, geht in die Irre.Ich will zum Abschluß folgendes sagen: Die heutigeLesung ist ja die erste Lesung. Das heißt, wir habenjetzt ein gutes halbes Jahr vor uns, in dem über diesenGesetzentwurf weiter debattiert wird. Ich stelle michdieser Kritik, und ich weiche ihr nicht aus. Ich denke,ich habe das in den letzten Wochen hinreichend bewie-sen. Ich finde, es ist normal, daß in einer Demokratie dieMenschen unterschiedlicher Meinung sein können. Aberes geht nach meiner Meinung nicht, daß diese Kritikeine persönliche Dimension bekommt, und was vor allenDingen nicht geht, ist, daß die Auseinandersetzung, diesich auf Grund der unterschiedlichen Interessen in derGesundheitspolitik ergibt, auf dem Rücken von Patien-tinnen und Patienten ausgetragen wird.
Ich denke, daß die Behandlung eines kranken Menschender ungeeignete Zeitpunkt und der ungeeignete Ort ist,um über politische Differenzen zu sprechen. Ich erwarte,daß das von allen Beteiligten respektiert wird,
und ich erwarte auch, daß es nicht zu Verunsicherungs-kampagnen kommt.Wir werden über die Details dessen, was wir vorge-legt haben, noch viel zu reden haben, und es wird dafürreichlich Gelegenheiten geben. Ich bin trotzdem ganz si-cher, daß auch am Ende dieses Diskussionsprozesses
sich an den Grundlinien nichts geändert haben wird.
Denn Patientennähe, Kooperation, hohe Qualität undWirtschaftlichkeit sind einfach die Gebote der Stundebei einer modernen Gesundheitspolitik.In diesem Sinne!
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Hermann Kues, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Fi-scher, Sie können hier heute morgen so schön reden, wieSie wollen: Für mich steht eines fest: Heute ist einschlechter Tag für die Patientinnen und Patienten inDeutschland.
Was die rotgrüne Koalition hier als Reform verkaufenwill, ist in Wirklichkeit nur eines: ein verhängnisvollerRückschritt für die medizinische Versorgung unsererBevölkerung.
Das Gesetz ist eine Ansammlung schöner Überschriftenund schlechter Inhalte. Das Ziel, das Sie damit verfol-gen, ist klar: Sie wollen verschleiern, worauf es hinaus-laufen soll: auf ein von der Krankenkassenbürokratie ge-steuertes Gesundheitswesen. Der Kranke wird nur nochals Kostenfaktor betrachtet, und die im Gesundheits-wesen Tätigen werden zu Erfüllungsgehilfen degradiert.
Bleibt es bei den Plänen der Bundesregierung, dannwerden nicht mehr die Ärzte, sondern die Verwaltungender Krankenkassen entscheiden, ob eine medizinischeBehandlung notwendig ist,
ob sie erbracht werden soll und ob sie bezahlt wird.
Dies wird sich nach der jeweiligen Kassenlage und da-her nicht ausschließlich nach den Bedürfnissen derKranken richten. Dieser Weg führt in die Irre, und wirgehen ihn nicht mit.
Frau Ministerin, Sie werden am Ende eines erreichen,was noch keinem Gesundheitspolitiker vor Ihnen gelun-gen ist, nämlich steigende Beitragsbelastungen der Ver-sicherten und gleichzeitig eine Verschlechterung derLeistungen für die Kranken.
Das, was auffällig ist, ist Ihre Sturheit und Dickfelligkeitgegenüber der Kritik der Fachwelt.
Hinzu kommt, daß Sie mit Ihren Kürzungsorgien bei Ar-beitslosen und bei Rentnern zu Mindereinnahmen in Höhemehrerer Milliarden Mark bei der gesetzlichen Kranken-versicherung beitragen. Beispielsweise entziehen Sie mitIhren Rentenkürzungen den Krankenkassen im Jahr 2000Bundesministerin Andrea Fischer
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mehr als 500 Millionen DM und im Jahr 2001 mehr als1,5 Milliarden DM an Beitragseinnahmen.
Mit diesen Verschiebebahnhöfen zur Deckung IhrerHaushaltslöcher gefährden Sie die finanzielle Grundlageder Krankenversicherung und steigern Sie, entgegenIhren Behauptungen und Ihren Absichten, die Lohnne-benkosten.Verlierer der Reform sind – ich sage das noch ein-mal – die Patientinnen und Patienten. Ich bin sehr damiteinverstanden, gesundheitspolitische Auseinanderset-zungen nicht auf dem Rücken der Patienten auszutragen.Noch besser hätte ich es gefunden, wenn Sie – und auchHerr Dreßler und der Bundeskanzler – dies schon imletzten Bundestagswahlkampf beherzigt hätten.
Nach dem „630-Mark-Murksgesetz“ kommt jetzt das„Gesundheits-Pfuschgesetz“.
Wie ein roter Faden zieht sich durch alle rotgrünen Ge-setze der Geist der staatlichen Lenkung und der Bevor-mundung. Sie glauben, alles zu wissen und das den Bür-gern vorschreiben zu müssen.Jemand aus Ihren eigenen Reihen hat das so gut for-muliert, wie ich es gar nicht könnte. Ihr langjährigerFraktionsvorsitzender Hans-Ulrich Klose, ein unver-dächtiger Zeitgenosse, hat folgendes gesagt – wörtlicheRede! –:Mein Hauptproblem ist die Philosophie, die demEntwurf zugrunde liegt. Da wird in starkem Maßereglementiert, und man tut so, als ob es eine rich-tige, für alle Patienten anwendbare Medizin gäbe.Die wird vorgegeben nach der Melodie: Wir sageneuch, nach welcher Methode die Ärzte zu behan-deln haben.Herr Klose sagt weiter folgendes:Ich habe ein anderes Menschenbild als jenes, dasdiesem Entwurf zugrunde liegt. Es geht um diegrundsätzliche Entscheidung, ob man auf Reglemen-tierung setzt oder auf individuelle Verantwortung.Kollege Klose hat recht.
Verbieten, kontrollieren und reglementieren, das istIhre ganze Philosophie, und damit werden Sie scheitern.Innerhalb weniger Monate haben Sie ein in den letztenJahren finanziell stabiles und verläßliches Gesundheits-wesen auf einen verhängnisvollen Kurs gebracht.
Das Ergebnis ist schon jetzt absehbar:Erstens. Mit einem Übermaß an Bürokratie erstickenSie jeden Leistungswillen und halten Sie die im Ge-sundheitswesen Tätigen von ihrer eigentlichen Aufgabeab, nämlich der Zuwendung zu den Patienten.Zweitens. Mit der Budgetierung riskieren Sie, daßGesundheitsleistungen – das gilt, denken Sie an dieGrundlohnentwicklung, vor allem auch für die neuenBundesländer – künftig nach den Prinzipien einer Man-gelverwaltung zugeteilt werden, ganz abgesehen davon,daß Sie damit Tausende von Arbeitsplätzen gefährden.Drittens. Mit der Verlagerung der Macht einseitig indie Hände der Krankenkassen merzen Sie alle auf selb-ständiges Handeln ausgerichteten Elemente in der ge-setzlichen Krankenversicherung aus. Am Ende stehtnicht mehr der Arzt, der seine Patienten nach gesund-heitlichen Bedürfnissen versorgt, sondern der Arzt derKassen, der seine Patienten nach den Regeln und öko-nomischen Bedürfnissen der Kassen verarztet. Das istein falscher Weg, und den gehen wir nicht mit.
Viertens. Trotz all der von Ihnen geplanten juristi-schen Regelungen und Datenpyramiden drohen der ge-setzlichen Krankenversicherung durch Ihre Gesetze De-fizite in Höhe mehrerer Milliarden Mark. Die Kassengehen von Mehrausgaben allein durch die Übernahmeder Krankenhausfinanzierung von 8 Milliarden DM aus.Die AOK Baden-Württemberg rechnet mit Belastungenfür die GKV durch Ihre Gesetze von bis zu 0,7 Beitrags-satzpunkten. Das wollte ich zum Thema Lohnnebenko-sten sagen.Fünftens. Ein Ergebnis ist klar: Die Verlierer dieserGesetzespläne sind die Patienten, insbesondere die so-zial Schwachen, die sich Gesundheitsleistungen ander-weitig nicht beschaffen können. Sozialdemokraten soll-ten sich dafür schämen.
Ich will noch einmal an die Vergangenheit erinnern,damit wir uns auf die Zahlen verständigen: 1997 und1998 hatte die gesetzliche Krankenversicherung Über-schüsse von über 1 Milliarde DM jährlich
und ist mit finanziellen Reserven von 8 Milliarden DMin das Jahr 1999 gestartet, und dies – mit Ausnahme desArzneimittelbereichs – ohne Budgets.Daß Ihre Taschenrechnerpolitik, völlig überstürzt undvöllig unausgegoren Maßnahmen zu ergreifen, weil Sievor der Wahl etwas Falsches versprochen hatten – dashaben Sie im vergangenen Jahr gemacht –, nicht funk-tioniert, können Sie an der Entwicklung im erstenQuartal 1999 sehen. Die Kassen haben ein Defizit vonüber 2 Milliarden DM. Die Prognosen des Chefs der Er-satzkassen lauten, daß sie für das Jahr 1999 ein Defizitvon über 8 Milliarden DM haben werden.Ausgerechnet dort, wo die Ausgaben gedeckelt sind,explodieren sie am meisten: bei den Arzneimitteln um14 Prozent und bei den Krankenhauskosten um 4 Pro-zent. Es besteht also kein Zweifel: Durch Ihre Gesetzeklafft schon jetzt ein großes Loch bei den Finanzen.Dr. Hermann Kues
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Ein Wahlgeschenk war eine teilweise Rücknahmevon Zuzahlungen. Ich habe jetzt mit Interesse gelesen,daß Sie im Argumentationspapier für die Kolleginnenund Kollegen der Koalitionsfraktionen begründen, wes-halb Zuzahlungen wichtig und unabdingbar sind. Vordiesem Hintergrund wäre es interessant zu diskutieren,wie Sie die Menschen im Wahlkampf hinters Lichtgeführt haben.
Sie verlagern einseitig Kosten für die Krankenhäuserauf die Krankenkassen und entziehen damit den Kran-kenkassen in hohem Umfang finanzielle Mittel. Ande-rerseits knebeln Sie die Krankenhäuser, die Ärzte undden Arzneimittelbereich durch willkürliche Ausga-benobergrenzen in Form von Budgets.Das Herzstück Ihrer Veränderungen, nämlich dieBudgetierung, gefährdet die medizinische Versorgung.Es ist ein großer Irrtum – hier sind Sie, Frau MinisterinFischer, völlig auf der falschen Linie –, zu glauben, dieMittel für den notwendigen medizinischen Bedarf derBevölkerung könnten durch strikte Anbindung der Aus-gaben an die Entwicklung der Beitragseinnahmengedeckt werden.Wer patientenorientiert denkt, kann nicht bereitsheute durch schematische Budgets festlegen, was dieBevölkerung künftig an medizinischen Leistungen be-nötigt; denn die Häufigkeit und die Schwere von Krank-heiten richten sich nicht nach staatlichen Vorgaben undden von Bürokraten festgelegten finanziellen Mitteln.Wer so handelt, nimmt bewußt Leistungskürzungen undeine schlechtere medizinische Versorgung in Kauf.
Der Bundeskanzler, der heute nicht da ist, der sichaber ausdrücklich für das Gesetz ausgesprochen hat– das heißt bei ihm natürlich nichts, erkundigen Sie sichbei Herrn Riester –, wird nicht zuletzt den Menschen inden neuen Ländern das Vorhaben erklären müssen. Erwird zum Beispiel der rheumakranken Rentnerin erklä-ren müssen, weshalb wegen des Budgets eine notwen-dige Massage nicht verordnet wird. Er wird auch erklä-ren müssen, weshalb die Hüftgelenksoperation des Kas-senpatienten von Dezember auf das nächste Jahr ver-schoben und statt dessen der Privatpatient, dessen Be-handlung das Budget nicht belastet, vorgezogen wird. Erwird der schwerkranken Frau auch erklären müssen,weshalb sie sich mit einem kostengünstigen, aber weni-ger wirksamen Mittel begnügen muß. Das ist allein Fol-ge Ihrer unsozialen Politik, die auf die Knochen derSchwächsten geht.
Wir haben mit der letzten Gesundheitsreform ge-zeigt, in welche Richtung wir wollen.
Wir haben intelligente, beim einzelnen Leistungser-bringer im Gesundheitswesen ansetzende Lösungen wieArzneimittelrichtgrößen oder Regelleistungsvoluminaentwickelt, die Sie mit einem Federstrich unwirksamgemacht haben, bevor sie überhaupt zur Anwendungkamen. Statt dessen greifen Sie auf alte Kamellen wiedie simple Ausgabendeckelung zurück. Diese Form derkollektiven Haftung von Leistungserbringern ist Gift fürdie individuelle Verantwortung jedes einzelnen Kran-kenhauses, jedes Arztes und Patienten.
Sie beseitigen damit jeden Anreiz, mit den Mittelnder gesetzlichen Krankenversicherung im eigenen Inter-esse wirtschaftlich umzugehen. Abgesehen davon sinddie Regelungen für das Globalbudget, wie sie jetzt imGesetz festgelegt sind, so kompliziert, daß es in der Um-setzung weder transparent noch praktikabel sein kann.Es ist falsch, die Selbständigkeit und Eigenverant-wortung der Ärzte und Patienten aufzuheben und denEinfluß einer anonymen Krankenkassenbürokratie insUnermeßliche zu steigern.Die Krankenkassen sollen zu einer gigantischen Da-tensammel- und Überwachungsmaschinerie werden. Sieselbst wehren sich dagegen. In ihrer Stellungnahme vom11. Mai 1999 sagen die Spitzenverbände der Kranken-kassen, daß sie befürchten, daß der Medizinische Dienstzu einer „Datensammelstelle und zu einer zentralenSteuerungsbehörde umfunktioniert“ wird. Sie sind auch„gegen eine kostenträchtige Monopolisierung der Medi-zinberatung“. Also: Die Krankenkassen selbst warnenvor einer Aufblähung des Verwaltungsapparates. Dassollten Sie ernst nehmen.Im übrigen: Wo bleiben die von Ihnen so häufig ge-nannten Rechte der Versicherten gegenüber den Kassenund gegenüber dem Medizinischen Dienst? Die Patien-ten werden schlichtweg vergessen; der Datenschutzbleibt auf der Strecke. Ein besonders tiefer Einschnitt indie Patientenrechte offenbart sich in der ungeahntenLeidenschaft der rotgrünen Koalition für das Sammelnvon Daten. Die ehemaligen Boykotteure der Volkszäh-lung wollen den „gläsernen Patienten“ und den „gläser-nen Arzt“ schaffen.
Die Kollegin Knoche könnte sich dazu äußern. Sie hatschon ähnliches formuliert. Dieser Überwachungsstaatsoll ausgerechnet unter tatkräftiger Mithilfe von grünenPolitikerinnen geschaffen werden, für die dies noch voreinigen Jahren eine Schreckensvision war.Ich zitiere noch einmal Herrn Klose. Er hat gesagt:Das am meisten gebrauchte Hauptwort in demEntwurf lautet „Richtlinie“. Bei solchen Wörternfröstelt es mich immer – und es sollte auch die SPDfrösteln lassen.Herr Klose hat wiederum recht.
Wir werden in den kommenden Wochen die Alterna-tiven auch mit der Bevölkerung diskutieren. Wir werdenDr. Hermann Kues
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die Alternativen aufzeigen: entweder ein freiheitlichesGesundheitswesen, in dem Versicherte ihre Kranken-kasse, ihren Arzt frei wählen und sich für verschiedeneGestaltungsformen ihrer medizinischen Versorgung ent-scheiden können, oder eine Bevormundung und Regle-mentierung der Versicherten und Ärzte. Wir sagen: ent-weder die solidarische Absicherung einer hochwertigenmedizinischen Versorgung und die Übernahme vonEigenverantwortung bei kleinen Risiken oder die Voll-versorgung auf niedrigerem Niveau mit Leistungsaus-grenzungen und eine Reduzierung der medizinischenVersorgung.Die Pläne der rotgrünen Koalition sind ein Irrweg. Esist zu hoffen, daß sie so nie Wirklichkeit werden.
Das Wort hat nun
Kollege Rudolf Dreßler, SPD.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir einenkleinen Ausflug
in die intellektuelle Tiefe der gerade gehörten Ausfüh-rungen.
Ich habe während der gesamten Rede des CDU-Vertreters an einer einzigen Stelle eine einzige Alterna-tive zu unserem Gesetzentwurf vernommen.
Diese Alternative hieß – ich zitiere ihn jetzt wörtlich –,die CDU trete für Richtlinien ein. Daran werde sie fest-halten.
– Die Richtgröße ist eine Richtlinie, Herr Kollege Zöl-ler, ob Sie das nun wahrhaben wollen oder nicht. – ZweiMinuten später zitiert er meinen FraktionskollegenKlose, der sich genau gegen die Einführung von Richt-linien in ein Gesetz wendet, und führt ihn als Kronzeu-gen gegen uns für die CDU/CSU an. Um 8.13 Uhr heißtes also: Richtlinie ist Kappes. Um 8.15 Uhr heißt esjedoch: Sie ist die Lösung des Problems, sobald dieCDU sie im Munde führt.
Meine Damen und Herren, eine Opposition, die ernst-genommen werden will, macht das, was die SPD-Fraktion1996, 1992 und 1989 gemacht hat, als wir hier großeAuseinandersetzungen um die Gesundheitspolitik hatten:Sie legt dem Hause eine schriftliche, gesetzgebungsreifeAlternative vor. Sie haben bis zu dieser Minute nichteinen Satz vorgelegt, nicht einen einzigen Satz!
Mit dem heute vorgelegten Gesetzentwurf erfüllendie Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünenden zweiten Teil eines Versprechens, das wir vor denBundestagswahlen gegeben haben, nämlich des Ver-sprechens, zunächst die gröbsten Ungerechtigkeiten ausder CDU/CSU-F.D.P.-Zeit zu beseitigen – das haben wirmit dem sogenannten Vorschaltgesetz getan, das seitdem 1. Januar 1999 in Kraft ist – und sodann diegesundheitliche Versorgung auf eine neue, verläßlicheBasis zu stellen. Das tun wir mit dem heute zur erstenLesung anstehenden Gesetzentwurf. Anders ausge-drückt: Die Koalition hat in Sachen Umgestaltung desGesundheitswesens Wort gehalten.Der vorliegende Entwurf bricht mit der Tradition fastaller Gesundheitsgesetze der letzten Jahrzehnte.
In denen wurde nämlich Reform als etwas verstanden,das mit Leistungsverschlechterungen und zusätzlichenBelastungen für die Patienten einherzugehen hatte.Damit ist Schluß, meine Damen und Herren.
Der vorliegende Entwurf erhöht keine einzige Zuzah-lung, grenzt keine einzige Leistung aus und steuertgleichwohl das Ziel an, die Beitragssatzentwicklung zustabilisieren. Mit ihm wird die Krankenversicherungihren Beitrag zur wirtschaftlich erwünschten Entlastungbei den Lohnzusatzkosten leisten.
Nach Aussage des Gesundheitsministers der abge-wählten Koalition, von Herrn Seehofer, verfügt unserGesundheitswesen über Rationalisierungsreserven vonrund 25 Milliarden DM.
Diese Zahl kommt den tatsächlichen Verhältnissenziemlich nahe. Rationalisierungsreserven aber, HerrLohmann – das liegt in der Natur der Sache –, sind ver-deckte Unwirtschaftlichkeiten, die beseitigt werdenkönnen, ohne daß sich an der Qualität und Leistungs-Dr. Hermann Kues
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fähigkeit des Gesundheitswesens etwas ändert. Genaudas tut die Koalition mit diesem Gesetzentwurf.
Gesundheit, meine Damen und Herren, gehört imBewußtsein der Menschen zu den höchsten, in besonde-rem Maße schützens- und erhaltenswerten Gütern. Wirmachen Schluß damit, daß dieses Bewußtsein der Men-schen noch länger zu einem Alibi für das Geldverplem-pern umgebogen wird.
Wir wollen die 25 Milliarden DM an Wirtschaftlich-keitsreserven, von denen Herr Seehofer gesprochen hat,freisetzen, indem wir die Strukturen unseres Gesund-heitswesens verändern, jene Strukturen also, die dasGeldverplempern erst möglich werden lassen.Die Kritiker des vorliegenden Gesetzentwurfs sindzahlreich. Es wäre ein Wunder, wenn es anders wäre;denn Gesundheitsgesetzen wird prinzipiell diesesSchicksal zuteil. Das ist also für die Koalitionsfraktio-nen weder Anlaß zur Besorgnis noch Anlaß zu politi-schen Kursänderungen. Anlaß zur Besorgnis allerdingsbietet der Mangel an Glaubwürdigkeit, der mit dieserKritik vielfach verbunden ist. Ich mache das an drei Bei-spielen deutlich.Fangen wir bei der Opposition in diesem Hause an,die am Gesetzentwurf der Koalition kein gutes Haarläßt. Wenn die Damen und Herren von CDU/CSU undF.D.P. den Weg der Koalition für falsch halten, dannsollten sie dem Hause
– ich halte Ihnen das erneut vor; Herr Lohmann, ichweiß, daß es unangenehm ist, wenn Sie hier mit leerenHänden auftauchen, aber ich muß es Ihnen immerwieder sagen, damit jeder sieht, daß Sie leere Händehaben –
nicht länger vorenthalten, was ihrer Auffassung nach derrichtige Weg ist. Das aber bleibt offenkundig Ihr Ge-heimnis. Außer Genöle und Genörgel liegt nichts vor. Esgibt noch nicht einmal den Hauch eines alternativenKonzeptes. Oder wollen Sie, meine Damen und Herrenvon CDU/CSU und F.D.P., uns wirklich einreden, dieFortsetzung Ihrer eigenen Gesundheitspolitik der letztenJahre sei das Konzept?
– Ich will dann auch festhalten, was das heißt: Fortset-zung der Leistungsausgrenzung für die Versicherten,noch mehr Zuzahlungen für die Kranken.
Ich stelle fest: Das war Ihre Politik der letzten Jahre. Diewollen Sie fortsetzen. Wir werden Sie daran hindern,meine Damen und Herren!
Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, daß wir diesengesundheitspolitischen Kurs fortsetzen werden? Wasalso ist nun die Alternative der Opposition? Wir hören,und wir warten. Wollen wir einmal sehen, ob im Laufedieser Debatte etwas kommt.
Das zweite Beispiel mangelnder Glaubwürdigkeit desKritikerchors liefern uns Teile der Industrie. Die Forde-rung der Unternehmen nach stabilen Lohnzusatzkostenist verständlich. Aber wenn sie gilt, dann gilt sie für alle.Es kann nämlich nicht sein, daß einerseits im Gewandevon Bundesverband der deutschen Industrie oder vonBundesvereinigung der Arbeitgeberverbände etwas ein-zufordern ist und dann im Gewande der Pharma- undMedizingeräteindustrie alles getan wird, damit dieseForderung unerfüllbar bleibt. Wenn stabile Lohnneben-kosten für Siemens und Hoechst wichtig sind, dann kön-nen sie für die Firmenpolitik von Siemens Medizin-geräte oder Hoechst Pharma nicht gleichgültig sein. Hierist Glaubwürdigkeit angebracht, meine Damen und Her-ren.
Das dritte Beispiel läßt sich vortrefflich bei Kran-kenhäusern ansiedeln, vor allem bei der DeutschenKrankenhausgesellschaft. Die Wirtschaftlichkeitsreser-ven im Krankenhaus seien restlos erschöpft, heißt es da.
Diese Behauptung verdient, höflich formuliert, Skepsis.Eine differenzierte Betrachtung zeigt nämlich, daß eshöchst effektive, qualifizierte Krankenhäuser gibt, diekeine zusätzlichen Reserven mehr haben, und sie zeigt,daß es, bezogen auf die Wirtschaftlichkeit, Krankenhäu-ser gibt, bei denen eigentlich der gnädige Mantel desVergessens angebracht wäre. Das können wir uns nichtmehr leisten, meine Damen und Herren. Also auch hierbitte mehr Glaubwürdigkeit!Ich erlebe immer wieder das gleiche Ritual: JedeSeite erzählt, wo in den anderen Sektoren Wirtschaft-lichkeitsreserven stecken. Das weiß ich aber allesschon. Ich wollte von den Vertretern jedes einzelnenSektors eigentlich wissen, wo sie bei sich selbst, imeigenen Verantwortungsbereich, Wirtschaftlichkeitsre-serven orten. Sankt Florian ist mittlerweile zumSchutzpatron der Leistungserbringer im Gesundheits-wesen geworden.Rudolf Dreßler
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Der vorliegende Gesetzentwurf setzt nun neue Ak-zente in der Grundorientierung unseres Gesundheits-wesens. Er verknüpft den Gedanken einer stärkerenwettbewerblichen Orientierung mit dem einer konse-quenten Anwendung der sozialstaatlichen Prinzipien.
Da, wo es möglich ist, wollen wir unser Gesundheitswe-sen zukünftig wettbewerblich orientieren. Aber wir wis-sen: Der Markt der Gesundheitsleistungen ist keinMarkt im klassischen Sinne. Der Nachfrager, also derPatient, geht nicht ins Krankenhaus, weil er Lust hat,sich den Blinddarm entfernen zu lassen,
sondern weil er entfernt werden muß. Er kann auch nichtdie Blinddarmoperation durch eine Mandeloperationersetzen, so wie der Verbraucher Fleisch durch Fisch.Eines der konstitutiven Merkmale jedes funktionieren-den Marktes, den autonomen, souveränen Konsumenten,gibt es im Gesundheitswesen nicht oder es gibt ihn nursehr begrenzt.
Eine weitere Besonderheit kommt hinzu. Der Gesund-heitsmarkt reagiert invers. Hier bestimmt nicht die Nach-frage das Angebot, sondern das Angebot die Nachfrage.Wir könnten die Zahl der Krankenhausbetten um Tausen-de erhöhen, alle wären belegt. Wir könnten noch 50 000Ärzte mehr zur Versorgung zulassen, die Wartezimmerwären gleichwohl voll. Und wir könnten die Zahl derArzneimittel verdoppeln, alle würden verordnet.
Die dritte Besonderheit ist schließlich die fehlendeMarkttransparenz. Diese aber ist Voraussetzung fürfunktionierende Märkte. Im Gesundheitswesen istMarkttransparenz gar nicht herstellbar, weil deren kon-stitutive Instrumente – das sind Information und Wer-bung – eben nicht anwendbar sind. Oder kann sich etwairgend jemand in diesem Hause bei den Apotheken Zu-stände nach dem Motto vorstellen: Rosenapotheke – dasAngebot der Woche: 20 Aspirin für 1,99 DM? Das istdoch wohl undenkbar, meine Damen und Herren.Auch wenn Marktideologen niemals begreifen wer-den, gilt eine Grundsätzlichkeit: Die Gesundheitsversor-gung der Menschen ist nicht marktwirtschaftlich organi-sierbar.
Der Gesetzentwurf der Koalition vermeidet deshalbdiesen Irrweg. Allerdings intensivieren wir den Wettbe-werb. Wir gewähren den Krankenkassen, die über dasInstrumentarium der Nachfrageseite verfügen müssen,zukünftig entscheidende Mitgestaltungs- und Entschei-dungsmöglichkeiten, was das Gesundheitsangebot an-geht, also bei den Arzneimitteln, bei den Ärzten undZahnärzten und bei den Krankenhäusern. Das bedeutetmehr Wettbewerb unter den Leistungserbringern, wofürSie in den vergangenen Jahren kein Jota politischer Ak-tivität in diesem Hause gezeigt haben.
Wir intensivieren aber auch den Wettbewerb unterden Krankenkassen selbst, indem wir ihnen zusätzlicheWettbewerbsinstrumente an die Hand geben. Im Rah-men der sogenannten Integrationsversorgung können siezukünftig speziell auf die Bedürfnisse ihrer Versichertenzugeschnittene innovative Versorgungsstrukturen an-bieten. Sie können bestimmte Versorgungsnetze für alleoder spezielle Versorgungsnetze für erkrankte Gruppenwie zum Beispiel für Diabetiker oder für Rheumakrankeeinrichten und anbieten.Die für die Beteiligten wohl schmerzhaftesten Neue-rungsprozesse gehen in diesem Gesetzentwurf von jenenLösungsvorschlägen aus, vor denen sich CDU/CSU undF.D.P. – manchmal sogar klientelbedingt – immer ge-drückt haben.
Unser Gesundheitswesen, meine Damen und Herren,hat ein Kapazitätsproblem. Wir haben zu viele Ärzte,wir haben zu viele Krankenhausbetten und zu viele Arz-neimittel. Wenn wir 1976 mit 36 000 Kassenärzten dieVersorgung sichergestellt haben und heute behaupten, siemit 112 000 Ärzten sicherstellen zu müssen, dann ist dasein Unterschied von über 300 Prozent. Selbst wer Nach-holbedarf, medizinischen Fortschritt und demographischeVeränderungen in Rechnung stellt, weiß, das kann wederso weitergehen, noch kann es so bleiben. Vor allen Din-gen aber kann es nicht mehr bezahlt werden.Wenn im vergleichbaren Frankreich 49 Kranken-hausbetten auf 10 000 Einwohner kommen, um Franzö-sinnen und Franzosen adäquat stationär zu versorgen,wieso sollen wir dann in Deutschland 72 Betten auf10 000 Einwohner benötigen? Jeder weiß: Auch daskann nicht so bleiben, weil es unbezahlbar ist.Wir haben in Deutschland rund 50 000 Arzneimittelam Markt, viele davon nicht einmal zugelassen, sondernlediglich nach Uraltrecht registriert. Die Schweiz kommtmit rund einem Fünftel dieser Zahl aus.
Wer behauptet, diese 50 000 Präparate seien für diequalitativ hochstehende Versorgung der Menschen not-wendig, gehörte eigentlich aus dem Verkehr gezogen,weil er damit zugleich behauptet, er habe dabei auchnoch einen Überblick.
Rudolf Dreßler
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Jeder Arzt, meine Damen und Herren, der mehr als 600Präparate in seinem Verordnungsspektrum hat, wird vonseinen Kollegen offen als Gesundheitsrisiko gebrand-markt. Das alles sind Überkapazitäten – teuer und weit-gehend nutzlos.Der vorliegende Gesetzentwurf belegt, daß dieKoalitionsfraktionen diese Überkapazitäten zurückfüh-ren wollen. Wir wissen, wer die Kapazitätsfrage imGesundheitswesen nicht löst, wird schon mittelfristigdas Ziel, eine leistungsfähige, bezahlbare Gesundheits-versorgung für alle in Deutschland sicherzustellen,ernsthaft gefährden.Herr Lohmann, Ihre Zwischenrufe amüsieren mich.
Jetzt stelle ich Ihnen einmal eine Frage, Herr Lohmann.Während Ihrer Regierungszeit ist das ambulante Ope-rieren in Deutschland eingeführt worden. In dieser rela-tiv kurzen Zeit hat sich die Zahl der Kniearthroskopienverdoppelt. Die Knie in Deutschland sind gleich geblie-ben. Haben Sie das bei Ihren Nichtantworten auf dieKapazitätsfrage in Deutschland jemals überlegt? Nichtshaben Sie gemacht!
Herr Lohmann, ich kann Ihnen noch ein zweites Bei-spiel geben.
– Nun seien Sie einmal ganz lieb, Herr Möllemann. Sieals gesundheitspolitischer Sprecher der alten Koalitionwährend der Regierung haben genausowenig Antwortenzu diesem Problem gegeben.
Ich komme zurück auf die Kassenärztliche Vereini-gung in einem Bereich. Da sind, meine Damen und Her-ren, Honorare festgelegt worden in folgendem Verhält-nis: 200 Kinderärzte haben die gleiche Honorarsummebekommen wir acht Laborärzte.
Das ist alles bekannt. Aber es ist mit „medizinisch not-wendig“ nicht zu begründen. Diese Zahlen lassen sichreihenweise fortsetzen. CDU/CSU und F.D.P. haben inden vergangenen 16 Jahren zu diesem Überkapazitäts-problem geschwiegen. Sie haben keine Aktivitäten ent-wickelt. Wir müssen heute die Probleme der letzten16 Jahre lösen, meine Damen und Herren. Nichts ande-res ist Sachverhalt.
In der ambulanten ärztlichen und zahnärztlichen Ver-sorgung wird es eine strikte, an Verhältniszahlen orien-tierte bedarfsgerechte Zulassung geben. Das aber heißt:Das derzeit praktizierte Überlaufmodell der CDU/CSUund F.D.P., das zwar Zulassungsbegrenzungen bei nichtbedarfsgerechter Niederlassung vorsah, sie aber niepraktizierte, wird durch eine strengere Regelung ersetzt,die Zulassungssperren nicht nur andeutet, sondern sieauch anwendet. Denn wo das Boot voll ist, ist es voll.Wo alle Boote voll sind, sind auch alle Boote voll, mitallen Konsequenzen.Mit größter Gelassenheit sehen wir der Verfassungs-klage des Marburger Bundes gegen diese Regelung ent-gegen; denn die Bestimmung des Grundgesetzes, meineDamen und Herren, die vorschreibt, daß alle zulas-sungswilligen Ärzte irgendwie auch zugelassen werdenmüßten – und sei es um des finanziellen Ruins derKrankenversicherung willen –, ist bis heute nichtbekanntgeworden. Das Verfassungsgerichtsurteil inSachen ärztlicher Niederlassungsfreiheit aus den 60erJahren ist dabei kein Fall, auf den man sich berufenkann. Es wurde zu Zeiten von Ärztemangel gesprochen;heute haben wir das Gegenteil. So gesehen gilt zwar,daß man auf hoher See und vor Gericht immer in GottesHand ist, aber da fühlen wir uns mit unserem Gesetzes-vorschlag diesmal besonders gut aufgehoben.
In der Krankenhausversorgung wollen wir den Abbauzusätzlicher Betten. Wir erreichen das – übrigens inÜbereinstimmung mit den sozialdemokratisch geführtenLändern – durch eine neugeordnete Krankenhausbe-darfsplanung. Krankenkassen und Länder planen denRahmen der Krankenhauslandschaft zukünftig gemein-sam. Das bedeutet, sie planen im Einvernehmen. Rah-menplanung heißt eben nicht Einzelbettplanung. Weildas so ist, wird der sogenannte Kontrahierungszwang– also die Pflicht der Krankenkassen, mit allen Kran-kenhäusern, die im Bedarfsplan aufgenommen sind,Versorgungsverträge zu schließen – aufgehoben.
Da mögen sich einige noch so sehr in Rage reden – andiesem strategischen Punkt entscheidet sich, ob dieseStrukturreform ein Erfolg wird oder nicht.
Diese Veränderung in der Planung wird durch eineVeränderung in der Finanzierung unterstützt. Wir wer-den schrittweise die monistische Finanzierung einführen.Das heißt: Die Krankenkassen werden zukünftig auch dieInvestitionskosten der Krankenhäuser tragen. Dieser Um-finanzierungsprozeß wird 2008 abgeschlossen sein.
Rudolf Dreßler
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– Herr Zöller, hätten Sie zugehört, dann hätten Sie gera-de einen längeren Beitrag von mir zum Kapazitätsabbauvernommen.
Da Sie aber weggehört haben, stellen Sie jetzt die dum-me Frage, wie das finanziert wird. Hören Sie in dieserDebatte zu und machen Sie nicht solche wirklich dum-men Zwischenrufe!
Eine weitere Neuerung in der Finanzierung wird dieEinführung eines einheitlichen leistungsorientiertenPreissystems im Krankenhaus sein. Ab 2003 werdennicht mehr Kosten erstattet, sondern Leistungen bezahlt.Die Entfernung eines Blinddarms ist in der Klinik derMaximalversorgung die gleiche Leistung wie in einemKreiskrankenhaus. Deshalb wird es zukünftig dafür anbeiden Plätzen den gleichen Preis geben. Die Zeit kran-kenhausindividueller Preise wird vorbei sein.
Ich bin mir sicher, dieses leistungsorientierte Preissy-stem wird die Krankenhauslandschaft in Deutschland imHinblick auf mehr Wirtschaftlichkeit nachhaltig verän-dern – nachhaltiger als alle neuen Planungs- und Inve-stitionsregelungen zusammen. Auch in diesem Zusam-menhang stelle ich fest: Der Erfolg des gesamten Re-formgesetzes wird sich an der Durchsetzung und demErfolg der Krankenhausregelungen entscheiden.Ich will mir an dieser Stelle ein Wort an die großeZahl der Mitstreiter im Wortsinne gönnen. Meine Da-men und Herren, Reform- und Veränderungsbereitschafterkennt man in der Regel an der Dialogfähigkeit.
Diese hängt allerdings von der Qualität der Argumenteab und nicht von deren Lautstärke oder Rüpelhaftigkeitim Tonfall.
Jeder muß wissen, auf was er sich einläßt. Ist man ersteinmal in der Ecke der Dialogunfähigkeit angelangt,wird man so schnell nicht wieder herausfinden.
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in denKrankenhäusern leisten wertvolle und unverzichtbareArbeit. Sie muß gerecht entlohnt werden. Das ist ohneeine finanziell leistungsfähige und stabile Krankenver-sicherung unmöglich. Diese zu sichern dient also auchden Krankenhausbeschäftigten. Die Gewerkschaftenim öffentlichen Dienst, die auch die Interessen derKrankenhausbeschäftigten vertreten und ihnen Gehörverschaffen, stehen vor einem schwierigen Abwägungs-prozeß. Sie müssen diese Interessen mit den Interessenaller ihrer anderen, die Krankenversicherung durch Bei-träge finanzierenden Mitglieder vereinbaren. DieseInteressenabwägung muß vollzogen werden, so schwie-rig sie auch sein mag. Deshalb treten wir in diesem Ge-setzgebungsprozeß für die Dialogfähigkeit aller – Lei-stungserbringer, Beschäftigte und Krankenkassenver-sicherte – ein.
Wir bieten uns ausdrücklich an – –
– Und wir nehmen es auf. Herr Lohmann, hätten Sie dieDebatten der letzten Monate verfolgt, dann wäre Ihnennicht entgangen, daß ich mit über 40 Institutionen, Or-ganisationen und Verbänden geredet habe
und daß, Herr Lohmann, maßgebliche, aus diesen Ge-sprächen hervorgegangene Erkenntnisse in diesem Ge-setzentwurf wiederzufinden sind. Man darf nämlichnicht nur hier sitzen und dumme Zwischenrufe machen,
man muß auch einmal lesen, was die Koalition vor-schlägt.
Ich will zum Kapitel – –
– Die Zwischenrufe waren dumm.
– Herr Ramsauer, unterhalten Sie sich mit sich selber.
Wenn Sie so einen Dialog mit mir führen wollen, hat daswirklich keinen Sinn.
In der Arzneimittelversorgung wird die Zahl derverordnungsfähigen Präparate begrenzt. Wir wollen eineListe verordnungsfähiger Arzneimittel, die Positivliste,die dieses Haus mit den Stimmen derjenigen Abgeord-neten von CDU/CSU und F.D.P., die sie heute ablehnen,bereits beschlossen hatte. Insofern ist die Kritik der Op-Rudolf Dreßler
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position daran allenfalls deshalb interessant, weil siesich gegen deren eigenen Beschluß von 1992 richtet.Die Positivliste wird eingeführt. Sie ist für eine Qua-litätsverbesserung in der Arzneimittelverordnung derKassenpraxis notwendig. Sie bereinigt den deutschenArzneimittelmarkt – soweit er für die Krankenkassenvon Belang ist – von therapeutischen Zweifelhaftigkei-ten und von Präparaten mit ungeklärtem therapeutischenNutzen. Insofern ist die Kritik, die Positivliste sei inno-vationsfeindlich, schlicht absurd. Wer die Verordnungenauf qualitativ hochwertige, therapeutisch nützliche Arz-neimittel konzentriert, wer also Zweifelhaftigkeiten be-seitigt, der behindert nicht Innovation und Forschung,sondern fördert diese.
Uns wird kein einziger Vertreter der forschenden phar-mazeutischen Industrie allen Ernstes einreden, daß sichderen Forschung auf Zweifelhaftigkeiten, aber nicht aufInnovationen konzentriert. Wäre das so, dann wäre dasunternehmerische Konzept sicherlich renovierungsbe-dürftig.Die Positivliste ist so konzipiert, daß mit ihr die Rolleder natürlichen Arzneimittel, also der Homöopathika,der Phytotherapeutika und der Antroposophika, nichttangiert wird. Auch sie können zukünftig verordnetwerden. Sie werden, wenn über sie nicht eine schulme-dizinische, sondern nur eine ihnen gemäße naturheil-kundliche Erfolgsbilanz vorgelegt werden kann, eben-falls im Anhang der Liste über verordnungsfähige Arz-neien aufgelistet.
Zudem ist durch einen qualifizierten Minderheiten-schutz sichergestellt, daß die Mitglieder des Arzneimitte-linstituts, die die Aufnahme in die Liste empfehlen, nichtnach medizinischen Schulen entscheiden können. JedeSeite muß auch immer Vertreter der anderen Seite über-zeugen. Dies halten wir für ein tragfähiges Verfahren.
Sie wissen, daß ebenfalls im Zentrum des Projektes„Strukturreform 2000“ die Einführung eines Global-budgets für die Ausgaben der gesetzlichen Krankenver-sicherung steht. Ich möchte deshalb zum Schluß nocheine Bemerkung von Frau Ministerin Fischer ergänzendaufgreifen.
Sie als Oppositionsfraktionen haben jahrelang als Regie-rungsparteien Budgets im Gesetz festgeschrieben undvor diesem Deutschen Bundestag erklärt, daß eine Aus-gabenbeschränkung aus Gründen der Beitragssatzstabi-lität notwendig sei. Dieses Ziel haben Sie selber formu-liert. Wenn Sie diesen Kurs beibehalten wollen, dannmüssen Sie sich bei allen von Ihnen hier gestellten For-derungen, die diese Ausgabenbeschränkung nicht ge-währleisten, sondern für zusätzliche Ausgaben sorgen,zwischen zwei Lösungen entscheiden, nämlich zwischenBeitragserhöhungen, um die Zusatzausgaben zu finan-zieren,
oder weiteren Leistungsausgrenzungen.
Sie haben sich in der letzten Legislaturperiode für Lei-stungsausgrenzungen und Belastungen der Patientenentschieden. Wenn Sie das weiterhin wollen, dann erklä-ren Sie das hier.
Wenn Sie Beitragserhöhungen wollen,
dann erklären Sie das hier.
Solange Sie aber nur fordern und die Finanzierung ih-rer Forderungen dem Deutschen Bundestag verschwei-gen, bleibt Ihre konzeptionelle Strategie nicht durch-sichtig. Wir können nicht erkennen, was die CDU/CSUanders machen will als in den vergangenen Jahren,nämlich Patienten zu belasten oder die Beiträge zu erhö-hen.
Wir wollen beides nicht. Wir wollen die Strukturenaufbrechen, um mit den daraus gewonnenen Ressourcendas System zu refinanzieren und damit die Beitragsatz-stabilität zu garantieren. Wir laden Sie ein, mit uns fürdiesen Weg zu streiten, hart in der Sache, aber kon-struktiv für die Patienten, Herr Zöller, und nicht aufihrem Rücken.Schönen Dank.
Das Wort hat Kolle-
ge Dieter Thomae, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Auf Grund der Aus-sagen der Ministerin sage ich Ihnen: Die Ministerin hatam Sonntag in Köln gezaubert – heute wird sie entzau-bert.Dieses Gesetz ist von der Budgetierung geprägt.Budgetierungen in allen Ländern zeigen, daß sie zur Ra-tionierung von Gesundheitsleistungen führen. Da gibt eskein Entkommen. Wenn ich England und Schwedenheranziehe, wo über viele Jahre ein Budget gehandeltRudolf Dreßler
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wird, dann stelle ich fest, daß es zu Rationierung, dannzu Warteschlangen und letztlich zu Altersgrenzenkommt. Wenn Sie den Weg dieser Politik gehen wollen,dann müssen Sie den deutschen Patienten sagen, daß Siedas alles – Wartelisten und auch die Diskussion überAltersgrenzen bei medizinischen Leistungen – in Kaufnehmen.
Sie alle wissen, daß in England und Schweden Al-tersgrenzen für gewisse Krankheitsbilder wie Hüft-,Herz- und andere Operationen eingeführt worden sind.Wenn Sie mit Budgets konsequent fortfahren, dann wer-den Sie sich dieser Frage stellen müssen. Ich sage dendeutschen Patienten: Dies ist ein System, das wir aufkeinen Fall wollen. Wir lehnen es ab.
Nachher werde ich Ihnen sagen, was wir wollen.Jetzt möchte ich auf das Globalbudget zu sprechenkommen. Das ist ein solcher Schwachsinn. Jede gesetz-liche Krankenkasse bekommt ein Budget. Wir habendann mindestens 500 Globalbudgets. Ferner haben wirdie sektorale Budgetierung im ärztlichen Bereich, imzahnärztlichen Bereich, im Arzneimittelbereich, imHeilmittelbereich, neuerdings im Krankenhausbereichund nun auch im Rehabilitationsbereich. Ich möchtewissen, wie der Übergang der sektoralen Budgets zu denKassenbudgets gehandlet werden soll – das kann Ihnennoch nicht einmal ein Vertreter der Krankenkassen sa-gen; vom Ministerium spreche ich gar nicht –; vomMinisterium ist nichts an Informationen ausgegebenworden. Ich sage Ihnen: Das Handlen wird nicht passie-ren.Damit den Patienten ganz deutlich wird, was dieseBundesregierung macht, möchte ich drei Beispiele her-vorheben.Erstes Beispiel: Arzneimittelbudget. Natürlich kannich die Patienten verstehen, die darauf hinweisen, dieZuzahlungen seien im Rahmen des Arzneimittelbudgetsgeringfügig reduziert worden. Aber es wird verschwie-gen, daß das Budget insgesamt, also in der Summe, re-duziert worden ist und daß der Arzt damit gar nichtmehr in der Lage ist, die Arzneimittel in bisherigemUmfang zu verschreiben.
Darin besteht der Betrug dieser Koalition. Sie belügenund betrügen die Patienten, weil Sie nicht die Wahrheitsagen, wie die Budgetierung in der Praxis aussieht.
Ich darf Ihnen ein zweites Beispiel nennen. GehenSie zu den Ärzten und Patienten, und fragen Sie, wie esim Massagebereich und in der Krankengymnastikaussieht. Wenn ein Patient dringend Krankengymnastikbraucht, dann ist der Arzt auf Grund seines Budgetsnicht in der Lage, mehr als drei oder vier Therapien zuverschreiben.
Es stellt sich die Frage, ob das medizinisch sinnvoll ist.Sie treiben die Patienten einfach dahin, gewisse Lei-stungen nicht mehr zu bekommen. Das ist das Brutale:Ein Budget grenzt aus; ein Budget gibt nicht mehr dieMöglichkeit, die notwendigen Therapien zu ermög-lichen. Das verschweigen Sie.
Herr Kollege Tho-
mae, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Kirschner?
Sofort.
Sie betreiben eine Zweiklassenmedizin; denn nur der
ökonomisch Starke kann sich diese Leistungen privat
kaufen. Er kann sich Massage oder Krankengymnastik
kaufen. Er kann sich – auch darauf komme ich nachher
zu sprechen – im Arzneimittelbereich Arzneimittel kau-
fen, wenn sie ihm nicht mehr verschrieben werden, weil
sie nicht in der Positivliste stehen. Das ist Ihre Zwei-
klassenmedizin. Sie schützen nicht mehr den sozial
Schwachen – das haben wir getan – –
– Ich weiß: Es paßt Ihnen nicht. Wir haben eine Härte-
fallregelung und eine Überforderungsregel. Was haben
Sie? Sie haben ein Budget, und Sie verschreiben gewisse
Therapien nicht mehr.
Kollege Kirschner,
Sie dürfen jetzt.
Herr Kollege Dr. Thomae,glauben Sie, daß beispielsweise die Menschen im Be-reich der Kassenärztlichen Vereinigung Südbaden, woich wohne
– nein, das ist kein Spiel; das ist eine ernsthafte Frage,Herr Kollege Dr. Thomae, bezüglich Ihrer Ausführun-gen, mit denen Sie den Menschen Angst machen, siewürden nicht mehr ordentlich mit Medikamenten ver-sorgt werden – und wo die Ärzte umgerechnet Arznei-mittel für 328 DM pro Einwohner verordnen, währendes beispielsweise im Einzugsbereich der KV Rheinhes-sen/Pfalz 403 DM sind, also über 20 Prozent mehr, nichtordentlich mit Medikamenten versorgt werden? WollenSie den Ärzten dies unterstellen?Dr. Dieter Thomae
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Herr Kirschner, Siesprechen die in Ihrem Gesetz enthaltene Thematik desBenchmarkings an. Darum geht es. Sie glauben, Siekönnten dieses Verfahren auf der Basis der von Ihnenangeführten zwei Kriterien, nämlich Geschlecht undAlter, bundesweit einführen. Damit machen Sie es sicherheblich zu einfach. Sie müßten in diesem Zusammen-hang auch die Morbidität und das Verhältnis von statio-närer und ambulanter Versorgung in den Regionen be-rücksichtigen. Wenn man nur mit zwei Kriterien arbei-tet, wie Sie das machen, ist dieses Benchmarking inmeinen Augen nicht zu akzeptieren.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nun aufdie Thematik der Positivliste zu sprechen kommen: Ichhalte von einer Positivliste überhaupt nichts, weil jedePositivliste die Therapiefreiheit des Arztes einschränkt.Ich möchte, daß Patienten und Ärzte die Therapie mit-einander absprechen. Diese Möglichkeit wird aber hier-durch eingeschränkt.
– Die Ärzte wollen sie, weil Sie ihnen so ein brutalesArzneimittelbudget vorgeben! Das ist doch der Grund.
Herr Dreßler, Sie sprachen von 50 000 aufgeführtenArzneimitteln. Aber Sie wissen doch ganz genau, daßbei diesen 50 000 Arzneimitteln die unterschiedlichenDarreichungsformen mitgezählt werden.
Wenn Sie diese mitzählen, ist die Zahl der Arzneimittelerheblich geringer. Sie wissen auch – darum haben wirdamals von dieser Überlegung Abstand genommen –,daß der Arzneimittelverbrauch in den Ländern, in denenes eine Positivliste gibt, mindestens so hoch wie in derBundesrepublik Deutschland liegt.
– Natürlich ist es so; in Frankreich ist er genauso hoch.Realisieren Sie das. Ich habe mich damit beschäftigt.Sie schränken durch eine Positivliste die Therapie-freiheit ein und bauen Forschungshindernisse für diemittelständische Pharmaindustrie in Deutschland auf.Das kann nicht unsere Absicht sein; von daher lehnenwir das ab.
Nun zum Thema Krankenhaus: Natürlich gibt esKrankenhäuser – das wissen wir aus der Vergangen-heit –, die sehr effektiv geführt werden, und andere, dieeben nicht so gut geführt werden. Wenn Sie, Herr Dreß-ler, diese Auffassung teilen, dann dürfen Sie in diesemBereich aber nicht die Rasenmähermethode anwenden.
Das ist unmöglich. Sie müssen vielmehr mit jedemeinzelnen Krankenhaus individuelle Verhandlungenführen.
– Lesen Sie es doch in Ihrem Gesetz nach! Das ge-schieht eben nicht. Der Fehler in Ihrem Gesetz ist, daßandere haften, wenn irgendwo unökonomisch gearbeitetwird. Das ist unfair.
Jetzt, meine Damen und Herren, gehen wir von derBasis aus.
Beim Budget gehen Sie von einem sehr niedrigen Aus-gangsniveau aus. Außerdem sehen Sie den Abschlag,den wir als vorübergehenden Abschlag eingeführt ha-ben, jetzt auf Dauer vor. Ich kann mich noch gut erin-nern, wie intensiv die Ministerin und die Grünen diesenAbschlag kritisiert haben, aber scheinbar gilt auch hier:Was stört mich das Geschwätz von gestern!
Jetzt behalten Sie diesen Abschlag auf Dauer ein; dabeigeht es um mindestens 1 Milliarde DM.Nun zum Thema Mehrerlös und Finanzierungbis zum Jahre 2007/2008: Sie reden von Wettbewerb,aber gleichzeitig streichen Sie beim Mehrerlös 1 Mil-liarde DM.
– Die Krankenhäuser, die effektiv arbeiten, können denMehrerlös dafür einsetzen, in gewissen Bereichen zu in-vestieren oder Perspektiven für die Zukunft aufzubauen.Diese Möglichkeiten, über mehr Leistung etwas zu er-reichen, werden ihnen weggenommen, wenn dieser ge-strichen wird.
– Sie wissen ganz genau, daß in unserem alten Gesetzkeine 100prozentige Vergütung vorgesehen war. HörenSie doch auf!Nächster wichtiger Punkt – ich merke, Sie werdennervös –: das ärztliche System. Von Ihrem Vorschlag„integrierte Versorgungsformen“ glauben Sie, das seidie ideale Lösung. Ich sage Ihnen: Dieser Vorschlag istein trojanisches Pferd; denn hinter diesem Begriff ver-birgt sich das Einkaufsmodell.
Integrierte Versorgung bedeutet, daß mit einzelnenÄrzten und Arztgruppen Verträge abgeschlossen werden
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können. Damit gefährden Sie die flächendeckende Ver-sorgung in der Bundesrepublik Deutschland.
Auch das müssen die Bürger wissen: Die integriertenVersorgungsformen werden zuerst aus dem Budget ent-lohnt, bevor die anderen finanziert werden. Darum sageich Ihnen: Auf diese Weise werden viele Patienten – ne-ben den Ärzten – erheblich benachteiligt. Dazu kommtnoch, daß Sie durch die Budgets die floatenden Punkt-werte weiter vorantreiben. Das heißt: Die Freiberuf-lichkeit wird weiter gefährdet. Ich frage mich manch-mal: Wollen Sie wirklich die Freiberuflichkeit des Arz-tes abschaffen und den staatlich angestellten Arzt ein-führen? Ich glaube ja, denn sonst könnten Sie ein sol-ches Gesetz nicht auf den Weg bringen.
Sie versprechen den Bürgern alles; Sie wollen dieLeistungen ausdehnen. Sie dehnen sie aus – zum Bei-spiel: Soziotherapie und im zahnärztlichen Bereich –,aber die Budgets bleiben niedrig. Wie wollen Sie demBürger erklären, daß er eine optimale Versorgung imzahnärztlichen Bereich bekommt, obwohl für die Im-plantate ein niedriges Budget eingeführt werden soll?Wenn ich es höflich ausdrücke, ist es Augenwischerei;wenn ich ehrlich bin, ist es Betrug. Ihre Formulierung istBetrug am Patienten.
Zur Selbstverwaltung. Ich will gar nicht über dieDatensammelstellen reden. Auf diesen Punkt geht meinKollege nachher ein. Sie wollen die Selbstverwaltungder Ärzte und der Zahnärzte völlig umbauen. Sie wollenHauptamtliche etablieren. Das hört sich im ersten Mo-ment vielleicht interessant an. Die erste Generation derHauptamtlichen wird auch noch aus dem ärztlichen oderzahnärztlichen Bereich kommen. Aber die zweite oderdritte Generation wird aus Funktionären bestehen. Dannsind die Ärzte und Zahnärzte mundtot gemacht, was wiruns in unserer Gesellschaft nicht leisten können.
Sie wollen die Selbstverwaltung auflösen.Zu den neuen Bundesländern. Ich bin schon er-staunt, Frau Ministerin, daß Sie sagen: Wir wollen inden neuen Bundesländern etwas tun. Dann hätten Sienämlich in der letzten Ausschußsitzung unserem Antragzustimmen müssen.
Sie hätten nicht seit acht Wochen sagen dürfen: Wir müs-sen nachdenken. Acht Wochen zum Nachdenken sind füreine Bundesregierung angesichts der Problematik in denneuen Bundesländern eine viel zu lange Zeit. Jetztschleppen Sie dieses Thema über die Sommerpause.
Wir haben kein schizophrenes Vorschaltgesetz gemacht.Wir haben Sie vielmehr vor acht Wochen darauf hinge-wiesen, daß dieses Vorschaltgesetz in den neuen Bun-desländern im Krankenhausbereich zu katastrophalenZuständen führt. Sie schleppen und schlampen sich da-mit über die Sommerpause. Das ist unverantwortlich.
Zu Europa. In dem Gesetzentwurf findet sich keinWort über Europa, obwohl sonst immer von Europageredet wird. Herr Schröder reist kreuz und quer durchEuropa und spricht mit allen, um die Integration inEuropa zu fördern. Aber der Gesundheitsmarkt, der fastder größte Markt ist, soll nicht integriert, sondern vomeuropäischen Ausland separiert werden.An dieser Stelle, Frau Ministerin, begehen Sie einenentscheidenden Fehler. Die Versicherten, die im Aus-land Urlaub machen oder dort arbeiten, müssen Per-spektiven für ihre gesetzliche Versicherung haben. Siemüssen den deutschen gesetzlichen Krankenkassen dieMöglichkeit einräumen, innerhalb des gesetzlichen Sy-stems Leistungen im Ausland zu finanzieren. GlaubenSie nicht, daß Ihr Traum vom Sachleistungssystem hierin Erfüllung gehen könnte. Es ist aus ökonomischen,aber auch aus verwaltungstechnischen Gründen einfachnicht machbar, ein solches System über Sachleistungenaufzubauen.
Ich sage Ihnen, was wir wollen: Wir wollen die Stär-kung der Eigenverantwortung statt einer Rundumversor-gung.
Wir wollen Wettbewerb statt Einheitskasse. Wirwollen echte Wahlmöglichkeiten für Patienten statt Ein-heitstarife. Wir wollen Verhandlungslösungen und keinDiktat der Krankenkasse mit ihren Partnern. Wir wolleneine leistungsgerechte Vergütung und keine floatendenPunktwerte. Wir wollen die Kostenerstattung statt desSachleistungssystems. Wir wollen eine europäischeAusrichtung.
Wie können wir das erreichen? Wir haben in der ver-gangenen Wahlperiode gemeinsam mit der CDU/CSUeinen Weg beschritten. Diesen Weg halten wir für rich-tig. Er kann aber nur gegangen werden, wenn wir einevernünftige Steuerreform auf den Weg bringen, damitdie Patienten Geld in der Tasche haben, um dies auch zufinanzieren. Es soll keine Leistungskürzungen geben,wo es nicht sinnvoll ist. Mit Ihrer Budgetierung treibenSie die Patienten auf die Barrikaden. Das erleben Sieschon heute tagtäglich.Ich wünsche Ihnen bei dieser Gesetzgebung nicht vielFreude, sondern ich wünsche eine Umkehr. Wir jeden-falls werden diesem Gesetzeswerk nie zustimmen.
Dr. Dieter Thomae
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Das Wort hat nun
Kollegin Ruth Fuchs, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Für eine Reform des Gesundheitswe-sens gibt es im Grunde genommen nur noch zwei Optio-nen, die mit einer eigenen Logik ausgestattet sind. Al-lerdings haben sie diametral entgegengesetzte Auswir-kungen auf die soziale Qualität der gesundheitlichenVersorgung.Die erste Alternative besteht in der zunehmendenPrivatisierung der Gesundheitskosten und einer damitverbundenen Zweiklassenmedizin. Meine Damen undHerren auf der rechten Seite, egal, was Sie heute sagen:Auf diesen Weg hat sich die alte Koalition begeben. Siehat völlig auf weitgehende Strukturreformen im Ge-sundheitswesen verzichtet.
Diese Entwicklung hielten wir für verhängnisvoll,denn wir betrachten Gesundheitssicherung und medi-zinische Versorgung als soziales Menschenrecht.
Eine möglichst gute Gesundheit gehört zu den elementa-ren Voraussetzungen von sozialer Gerechtigkeit undChancengleichheit. Hier liegt über das unmittelbare me-dizinische Wirken hinaus die unverzichtbare sozialeFunktion des Gesundheitswesens. Genau das ist auchder Grund, weshalb uns soviel an einer Gesundheitsver-sorgung liegt, die unabhängig vom individuellen Ein-kommen und Vermögen bleibt und die allen gleicher-maßen zugänglich ist.
Die andere, nach unserer festen Überzeugung not-wendige und auch mögliche Alternative lautet: Verteidi-gung und Erneuerung einer sozial gerechten, solidari-schen und humanen Gesundheitsversorgung, auch untererheblich veränderten gesellschaftlichen und wirtschaft-lichen Rahmenbedingungen.Um dies zu erreichen, ist es zunächst erforderlich, dieVorzüge und Stärken des bestehenden Gesundheits-systems nicht in Frage zu stellen, sondern zu festigenund auszubauen.
Deshalb befürworten wir, daß mit dem vorliegenden Ge-setzentwurf an einer solidarischen Absicherung desKrankheitsrisikos, an der gemeinsamen paritätischenFinanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer, amSachleistungsprinzip sowie an einem für alle gültigenund medizinisch vollwertigen Leistungskatalog festge-halten werden soll.Wer ein solidarisches Gesundheitswesen erhaltenwill, muß selbstverständlich auch bestrebt sein, beste-hende Unwirtschaftlichkeiten durch Strukturreformen zubeseitigen und die Effektivität des Systems zu erhöhen.Auch in dieser Hinsicht sehen wir, daß die Regierungdarum bemüht ist, den Reformstau zu überwinden unddie Weichen für eine andere Gesundheitspolitik zu stel-len. Das zeigt sich beispielsweise an den Absichten, zumehr Kooperation und integrierenden Versorgungsfor-men zu kommen und insbesondere auf ein besseres Zu-sammenwirken von ambulantem und stationärem Sektorhinzuwirken. Das gleiche gilt für das Ziel, die Rolle derHausärzte zu stärken und dazu auch von seiten des Ge-setzgebers konkrete Festlegungen zu treffen.Für wichtig halten wir ebenfalls, daß der Gesetzent-wurf Maßnahmen vorsieht, die auf eine rationellereArzneimittelversorgung zielen, und natürlich alles wasgeeignet ist, Gesundheitsförderung, Prävention undSelbsthilfe einen höheren Stellenwert zu verleihen.Allerdings sind angekündigte Ziele und Absichtenselbst dort, wo sie richtig sind, nur das eine. Entschei-dend ist erfahrungsgemäß ihre Ausgestaltung im Sinneüberzeugender und praktikabler Lösungen. Die bishervorgelegten Vorstellungen von Rotgrün lassen aber ge-rade in dieser Hinsicht noch viele Fragen offen.Auffallend ist, daß inzwischen von einer weiteren Zu-rückführung der Zuzahlungen der Patienten so gut wienicht mehr die Rede ist. Gerade dies aber war vor nochgar nicht langer Zeit erklärtes Ziel der heutigen Regie-rungsparteien. Für uns bleibt es dabei: Zuzahlungenund Selbstbeteiligungen in einem solidarischen Kran-kenversicherungssystem sind unsozial und medizinischkontraproduktiv. Sie müssen vollständig zurückgenom-men werden.
Was die volle Übernahme der Krankenhausfinan-zierung durch die Kassen betrifft, so ist die Regierungoffensichtlich entschlossen, einen folgeschweren Irrwegzu beschreiten. Richtig ist, daß neue Krankenhauskapa-zitäten im Einvernehmen zwischen Ländern und Kassenentstehen sollen. Warum deshalb aber die ohnehin ge-beutelten Beitragszahler der gesetzlichen Krankenversi-cherung nun auch noch mit Investitionskosten für dieKrankenhäuser belastet werden sollen, ist nicht einzuse-hen.
Es gibt keinen Grund, die Länder aus der richtigerweisebei ihnen angesiedelten Verantwortung zu entlassen.Ein Grundfehler ist aus unserer Sicht auch, daß dieneue Regierung offensichtlich gewillt ist, den ökonomi-schen Wettbewerb der Krankenkassen nicht nur beizu-behalten, sondern ihn sogar auf die Leistungserbringerauszuweiten. Dabei haben Elemente des Marktes undökonomischer Wettbewerb in der gesundheitlichenVersorgung eine höchst verhängnisvolle Wirkung: Siefördern Risikoselektion und Entsolidarisierung; sie dis-kriminieren die sozial Schwächsten und führen zu weite-rer Zersplitterung und Bürokratisierung des Systems.Dies steht im völligen Gegensatz zu den Intentioneneiner sozial empfindenden und humanistischen Medizin.Die Grundsätze einer solidarischen Gesundheitssiche-
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rung werden auf diese Weise entgegen eigenen Absich-ten ebenfalls in Frage gestellt.
Fatal ist, daß die neue Koalition unmittelbar an dievorgesehenen Strukturveränderungen die Erwartungknüpft, sofort mit geringstmöglichen Zuwächsen auszu-kommen oder teilweise Mittel direkt freisetzen zu kön-nen, wie es sich beispielsweise beim vorgesehenenÜbergang zur monistischen Krankenhausfinanzierungzeigt. Damit geht die Koalition in einer grundlegendenFrage von falschen Voraussetzungen aus. Weder von dernotwendigen Stärkung der Hausärzte noch von neuenintegrierten Versorgungsformen oder von einer Posi-tivliste können kurzfristig Einsparungen erwartet wer-den. Denn während man mit den vorgesehenen Maß-nahmen Rationalisierungsreserven bestenfalls schritt-weise erschließen kann, wächst der Versorgungsbedarfweiter an.Außerdem gibt es im Gesundheitswesen nicht nurÜberkapazitäten und Unwirtschaftlichkeiten, sondernauch große Felder mit Unterversorgung und Nachhol-bedarf. Hier sei nur an die Prävention, die Rehabilita-tion, den großen psychiatrischen Sektor oder an dennoch immer tendenziell unterbesetzten Pflegebereicherinnert. Mit anderen Worten: Der dieser Reform zu-grundeliegende Gedanke, daß durch notwendige Struk-turveränderungen Mittel sofort eingespart und freige-setzt werden können, beruht weitgehend aufWunschdenken.Daran knüpft sich ein weiterer Trugschluß der Koali-tion an. Sie glaubt, Beitragsstabilität mit einem Global-budget zu erreichen, welches lediglich an die jährlicheSteigerungsrate der Grundlohnsumme gebunden ist.
Bekanntlich haben sich die ökonomischen Rahmenbe-dingungen für die Finanzierung der Sozialsysteme unddamit auch der gesetzlichen Krankenversicherunggrundlegend verändert. An die Stelle weitgehenderVollbeschäftigung ist Massenarbeitslosigkeit getreten.Seit Mitte der 70er Jahre sinkt, gemessen am Bruttosozi-alprodukt, der Anteil der Einkommen der lohnabhängi-gen Beschäftigten. Statt um jährliche Wachstumsratenbei der Grundlohnsumme von 4 oder 6 Prozent geht esnur noch um bescheidene Zuwächse zwischen 1 oder 2Prozent. In den neuen Bundesländern wurde 1998 sogareine rückläufige Entwicklung von minus 0,5 Prozentverzeichnet.Es ist inzwischen eine Binsenweisheit: Die GKV hatnicht nur ein Ausgabenproblem, sondern vor allem einzunehmendes Einnahmenproblem.
Das Gesundheitswesen wird auch zukünftig ein Wachs-tumsbereich bleiben, in dem insbesondere die Zahl derBeschäftigten weiter steigen muß. Dies erfolgt nichtprimär als Ergebnis von Steuerungsfehlern, sondern inerster Linie wegen des wachsenden Leistungsbedarfs.Die Vorgängerregierung hat sich zuletzt dafür entschie-den, nur noch das Einnahmenproblem zu sehen, und wargewillt, die zusätzlich benötigten Mittel vor allem ausden Taschen der Versicherten und Patienten zu holen.
Die rotgrüne Koalition zieht es nun unter dem Zwangdes wirtschaftsliberalen und unternehmerfreundlichenGesamtkurses ihrer Regierung vor, nur noch das Ausga-benproblem wahrzunehmen und ab sofort mit hartenBudgetierungen zu beginnen.Dahinter verbirgt sich eine grundsätzliche Verken-nung der ökonomischen Stellung des Gesundheitswe-sens im Gesamtgefüge der Wirtschaft. Es ist nun einmalein klassischer personenbezogener Dienstleistungssektormit wachsendem und überwiegend hochqualifiziertemBeschäftigungsanteil. Die Möglichkeiten, durch Pro-duktivitätssteigerungen Arbeitskräfte freizusetzen, sindäußerst begrenzt.
Es scheint die Koalition auch nicht zu irritieren, daßdie verheerenden Folgen dieser Politik schon im laufen-den Jahr sichtbar werden. Vor allem in Ostdeutschlandsind die Krankenhäuser und andere Gesundheitsein-richtungen gegenwärtig mit ernsten Finanzierungseng-pässen konfrontiert, die sich aus der schon für 1999festgelegten grundlohnorientierten Budgetierung erge-ben mußten und die durch aktuelle Tarifabschlüsse nocherheblich verschärft wurden.
Die Folgen sind Androhung von Personalabbau undweiteren Verschlechterungen der Arbeitsbedingungensowie von Abstrichen bei der medizinischen Leistungs-fähigkeit.Schon jetzt wächst der Widerstand gegen diese Artvon Gesundheitspolitik. Man kann der Bundesregierungnur raten, die Forderungen der Beschäftigten ernst zunehmen.
Notwendig ist unseres Erachtens, daß noch für 1999Möglichkeiten eröffnet werden, den medizinisch unab-weisbaren Versorgungsbedarf zusätzlich zu vergüten.Hier handelt es sich nicht, wie Sie sagten, KollegeDreßler, um Verschwendung; denn in den neuen Bun-desländern ist schon viel geschehen. Das hat eine andereUrsache. Hier muß etwas passieren.
Darüber hinaus muß sich die Bundesregierung denbesonderen Finanzierungsproblemen des Gesundheits-wesens in Ostdeutschland mit größerer Konsequenzstellen. Sie muß den Finanzausgleich zwischen Westund Ost deutlich verbessern und endlich die nicht mehrzu vermittelnde Ungleichbehandlung der Gesundheits-einrichtungen in Ostdeutschland beenden.Bekanntlich hat die Landesregierung von Mecklen-burg-Vorpommern angekündigt – es gibt auch entspre-Dr. Ruth Fuchs
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chende Signale aus anderen neuen Bundesländern –:Wenn sich nicht etwas ändert – im Ausschuß wurde ver-sprochen, daß sich etwas tut –,
wird sie diesem Gesetz ihre Zustimmung verweigern.Wir haben natürlich nicht übersehen, daß der Budget-entwicklung künftig in Ost und West der gemeinsamedurchschnittliche Grundlohnsummenanstieg zugrundegelegt werden soll. Aus unserer Sicht werden damit al-lerdings die Probleme weder für den Osten noch für denWesten befriedigend gelöst. In seinen tatsächlichenAuswirkungen bedeutet dies lediglich, daß künftig beideTeile gleichermaßen mit einem knallharten Sparpro-gramm für das Gesundheitswesen überzogen werden– auf Verlangen der Wirtschaft und im Zeichen der neo-liberalen Angebotspolitik à la Schröder und Blair. Dassollte man, so glaube ich, ändern.Es ist in unseren Augen ein Grundfehler dieser Re-form, daß sie entschieden zuviel von wirtschaftspoli-tischen Erwägungen und zuwenig von gesundheitspoliti-schen Notwendigkeiten geprägt ist.
Dazu paßt im übrigen auch, daß die Koalition denSchwarzen Peter für die Budgeteinhaltung allein denLeistungserbringern zuweist,
während sie bisher der Dominanz und dem Profitstrebender medizinischen Großindustrie nicht allzu nahe getre-ten ist. Es nützt auch gar nichts, wenn Herr Dreßler andie Verantwortung der Pharmaindustrie appelliert.Wir fragen: Wo bleibt das Bemühen der Regierungum die Senkung der zu hohen Sachkosten im Gesund-heitswesen, beispielsweise durch Druck auf überhöhteArzneimittelpreise? Wo bleibt der Ansatz einer mög-lichen Senkung der Mehrwertsteuer auf Arzneimittel?Das scheint angesichts der Streichaktion von HerrnEichel für Sie überhaupt nicht mehr diskussionswürdigzu sein. Wo bleibt das Bemühen, Fortschritte bei derGroßgeräteplanung durchzusetzen? Dies sucht man indiesem Gesetz vergebens.
Meine Damen und Herren, bleibt es allein bei derbisherigen Finanzierung des Gesundheitswesens, dannwird die Schere zwischen Kosten und Beitragseinnah-men rasch weiter auseinandergehen.
Beitragssatzstabilität um jeden Preis, wie es der Koali-tion als oberstes Ziel ihrer Reform vorschwebt, wird sonicht zu haben sein. Das Gesundheitswesen brauchtnicht nur Strukturreformen, um medizinisch unnötigeAusgaben möglichst zu vermeiden und vorhandeneWirtschaftlichkeitsreserven zu erschließen. Es brauchtzugleich eine Erweiterung der Finanzierungsbasis dergesetzlichen Krankenversicherung. Davon ist im Ge-setzentwurf allerdings nirgendwo die Rede.Beitragssatzstabilität kann gewährleistet werden,wenn die Solidargemeinschaft der Versicherten schritt-weise finanziell gestärkt wird. Diesem Ziel dienen bei-spielsweise die Anhebung der Grenze der Versiche-rungspflicht und die Einbeziehung aller Bevölkerungs-schichten, auch der Selbständigen, der Beamten und derAbgeordneten, in die GKV im Sinne einer allgemeinenVersicherungspflicht.
Aber diese Gedanken scheinen bei der sozialdemokrati-schen Partei und bei den Grünen auch nicht mehr zurDiskussion zu stehen, und es gibt nur noch das Entwe-der-Oder: Es gibt entweder die Zuzahlung der Patientenoder eine strenge Budgetierung. Ich denke, über den vonmir angesprochenen Weg sollten wir nachdenken; er istder richtige.Zugleich wird es nötig sein, gesundheitliche Leistun-gen stärker auch aus Steuermitteln mitzufinanzieren.Das ist allerdings genau das Gegenteil von dem, was dieKoalition jetzt bei der Finanzierung der Investitionen derKrankenhäuser vorhat, wo der Staat massiv weiter ausseiner finanziellen Verantwortung für die gesundheit-liche Daseinsvorsorge entlassen werden soll. Im übrigengilt für das Gesundheitswesen und die gesetzliche Kran-kenversicherung ebenso wie für die anderen sozialenSicherungssysteme aus unserer Sicht: Wer ihren solida-rischen Charakter bewahren will, muß künftig die Ein-nahmen von ihrer alleinigen Lohnbezogenheit lösenund sie stärker beispielsweise an die Wertschöpfungbinden.
Er muß die Arbeitslosigkeit wirksam bekämpfen undden gesellschaftlichen Reichtum gerechter verteilen.Ich fasse abschließend zusammen: Der Reforment-wurf von Rotgrün weist unseres Erachtens im Blick aufdie anstehende Reform der Strukturen im Gesundheits-wesen eine Reihe richtiger Ausgangspunkte und Zieleauf. Unserer Meinung nach greift er jedoch zu kurz, undgerade das andere große Problem, die Reform derGrundlagen der Finanzierung des Gesundheitswesens,bleibt völlig ausgeklammert. Das müßte sich ändern.Ein weiteres Manko besteht unserer Meinung nachdarin, daß die Reform in ihren Prämissen und Zielennahtlos in die wirtschaftsliberale Gesamtpolitik der rot-grünen Regierung eingeordnet ist. Einer qualitativ hoch-stehenden und vor allen Dingen humanen Gesundheits-versorgung kann dies nicht dienlich sein. Ich hoffe, daßwir im Verlauf der parlamentarischen Beratungen zuVeränderungen kommen werden.
Dann werden wir sehen, wie wir uns entscheiden.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Dr. Ruth Fuchs
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4172 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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Das Wort hat nun
Kollegin Gudrun Schaich-Walch, SPD-Fraktion.
Herr Präsident!Werte Kolleginnen und Kollegen! Für die PDS ist in un-serem Entwurf zuviel Streben nach Wirtschaftlichkeitund nach Wettbewerb enthalten, für die F.D.P. zuwenig.
Ich denke, daß die Wahrheit in der Mitte liegt.
Einig sind wir uns hier alle zumindest in dem Punkt, daßwir ein sehr gutes Gesundheitssystem haben
und daß es gilt, es weiterzuentwickeln, den Anforderun-gen anzupassen und für die Zukunft zu sichern. Das,Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, wird unsnicht allein mit dem Slogan „mehr Geld ins System“ ge-lingen.
Dies wird uns letztendlich nur dann gelingen, wenn wirVerbesserungen der Qualität und einen zielgenauen Ein-satz der Mittel erreichen.
Das sind wir, denke ich, letztendlich den Versichertenund auch den Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die dieBeiträge zur Krankenversicherung aufbringen, schuldig.Im Gegensatz zur F.D.P. fühlen wir uns nicht aus-schließlich der Einkommenssituation einiger im Ge-sundheitswesen Tätiger verpflichtet.
Das Geld, das wir zur Verfügung haben, muß so ein-gesetzt werden, daß wir eine patientenorientierte Me-dizin mit hohem Qualitätsanspruch bekommen. DasHauptanliegen dieses Gesetzes ist es daher, eine Unter-versorgung zu vermeiden und die Überversorgung abzu-bauen, so daß wir die Unterversorgung hinter uns lassenund eine vernünftige Versorgung gestalten können. Esgibt in unserem Gesundheitssystem Überversorgung.Von ihr kann man dort sprechen, wo im erheblichenUmfang solche Leistungen erbracht werden, die medizi-nisch nicht erforderlich sind. Ich will einige dieser Be-reiche ansprechen.In der invasiven Kardiologie werden in Deutschlandso viele Linksherz-Katheteruntersuchungen vorge-nommen wie in keinem anderen Industrieland. DieseEingriffe sind für Patientinnen und Patienten nicht ohnegesundheitliches Risiko; sie können zum Herzinfarktführen. Das heißt, die Vermeidung unnötiger Eingriffein diesem Bereich spart nicht nur Beitragsgelder ein; sieist zugleich auch ein Akt des Patientenschutzes.
Ein zweites Beispiel. Wir sind in Europa dasjenigeLand – darauf machte jüngst die entsprechende Fachge-sellschaft aufmerksam –, in dem – das bezieht sich jetztauf die Teilgebietsradiologie – am meisten geröntgtwird. Auch unter dem Gesichtspunkt des Schutzes vorunnötiger Strahlenbelastung liegt eine Änderung im In-teresse des Patienten.Untersuchungen des Medizinischen Dienstes weisenferner darauf hin, daß in vielen Krankenhäusern zwi-schen 10 und 30 Prozent der Patientinnen und Patientenohne medizinische Notwendigkeit stationär aufgenom-men werden. Das liegt nicht alleine im Handeln der ver-antwortlichen Ärzte begründet, sondern im wesentlichendarin, daß zwischen der Krankenhausversorgung und derVersorgung in der Arztpraxis eine absolute Trennungherrscht.Neben dieser Überversorgung gibt es aber auch eineUnterversorgung, speziell im Bereich von chronischkranken Patienten. Ich möchte dabei auf das Beispiel derDiabetes verweisen. Zur Prävention, Diagnostik undBehandlung dieser Erkrankungen liegen eindeutige, wis-senschaftlich abgesicherte medizinische Erkenntnissevor. Würden diese tatsächlich umgesetzt, könnte ein er-heblicher Teil der Erkrankungen vermieden, die Krank-heitsverläufe in ihrem Schweregrad positiver gestaltet,das heißt abgemildert werden, und viele Folgeerkran-kungen wie Erblindungen, Beinamputationen, Nieren-versagen mit der Notwendigkeit von Dialyse träten nichtauf. Das ist relativ lange bekannt. Der Sachverständigen-rat hat darauf aufmerksam gemacht, daß eine systemati-sche Umsetzung der vorhandenen Erkenntnisse zu einersehr stark verbesserten Versorgungssituation führenwürde. Aber in der Situation optimaler Versorgung sindleider nur 20 Prozent der betroffenen Patientinnen undPatienten. Mit dem Weg, den wir einschlagen wollen,verfolgen wir das Ziel, diesen Prozentsatz zu erhöhen.Dazu brauchen wir Strukturreformen. Als erstesmüssen wir die starren Grenzen zwischen den einzelnenSektoren im Gesundheitswesen auflösen.
Das Gesundheitssystem muß sich künftig an den Be-dürfnissen von Patientinnen und Patienten orientierenund nicht an der Ausgestaltung unserer sektoralenBudgets. Es müssen Anreize zur Errichtung qualitäts-gesicherter Behandlungsketten quer durch alle Sekto-ren gebildet werden. Für alle Beteiligten, die dort ar-beiten, muß das Erbringen von medizinischen Leistun-gen, die nicht unbedingt notwendig sind, unattraktivsein. In diesem Zusammenhang möchte ich nur daranerinnern, daß für das gleiche Krankheitsbild oftmals anverschiedenen Orten Doppeluntersuchungen in einemMaße vorgenommen werden, das einfach nicht mehrvertretbar ist.Diese Erkenntnisse über die Defizite in unserem Sy-stem hatten auch Sie schon, meine Damen und Herrenvon der CDU/CSU, und zwar zu einer Zeit, als Sienoch bereit waren, über Strukturreformen zu diskutie-ren. Sie haben sich dann allerdings dafür entschieden,auf Strukturreformen zu verzichten und diese durch er-
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höhte Zuzahlungen für Patientinnen und Patienten zuersetzen.
Durch Ihre Haltung haben Sie wertvolle Jahre für eineReform verstreichen lassen. Sie haben falsche Signalegesetzt. In der Zwischenzeit sind die Probleme gewach-sen. Ihre Signale waren letztlich: Laufen lassen, mehrGeld ins System durch Erhöhung der Zuzahlungen beiPatientinnen und Patienten.
– Wenn Ihnen ein Minus drohte, haben Sie das nichtüber Strukturreformen zu verhindern versucht, sondernnur bei Patientinnen und Patienten abkassiert.
Ich möchte Sie noch einmal daran erinnern, daß Sieabkassiert haben: durch erhöhte Zuzahlungen bei Arz-neimitteln, bei Krankenhausaufenthalten, bei Mütterku-ren, bei Rehabilitationsmaßnahmen, bei Heil- undHilfsmitteln.
Sie haben Leistungen ausgegrenzt. Im Bereich der Re-habilitation hat es dramatische Einschränkungen gege-ben. Sie haben Tausende von Arbeitsplätzen nicht nurgefährdet, sondern vernichtet.
Jetzt legen Sie einen Antrag vor, der all das, was Sieeinmal gefordert haben, konterkariert.
Sie erwarten, daß wir jetzt das, was Sie in den letztenJahren in der Rehabilitation kaputtgemacht haben, aufeinen Schlag wieder reparieren können. Im Gesund-heitswesen einmal Zerstörtes ist nicht in ein paar Wo-chen zu reparieren. Dazu werden wir Jahre brauchen.
Sie sind dann bei einer Gruppe, von der Sie glaubten,daß sie sich nicht wehren kann, den zweiten Weg ge-gangen: Sie haben den Zahnersatz bei Jugendlichen ge-strichen. Wir haben in diesem Bereich inzwischen alleskorrigiert. Wir haben die Zuzahlungen dort zurückge-führt, wo sie im wesentlichen chronisch Kranke belastethaben. Dort hätten wir gerne mehr gemacht, aber ausGründen der Finanzverantwortung war das jetzt nichtmöglich.
Nun möchte ich etwas zu Ihren Privatisierungsmaß-nahmen sagen. Sie haben nichts anderes getan, als imBereich des Zahnersatzes Kostenerstattungen einzu-führen. Das hat dazu geführt, daß die Leistungen um30 Prozent zurückgegangen sind.
Wir wissen heute noch nicht, ob der Bedarf tatsächlichzurückgegangen ist oder ob sich die Menschen die pri-vatärztlichen Rechnungen nicht mehr leisten konnten.Das hat aber dazu geführt, daß im Bereich der Zahn-technik nicht nur 30 Prozent, sondern im Osten sogar40 Prozent der Arbeitsplätze vernichtet worden sind.
Wir haben gestern mit den Zahntechnikern aus Ost-deutschland gesprochen. Ich denke, wir sind auf einemguten Weg, einen Lösungsansatz für sie zu finden, mitdem eine Preissenkung vermieden werden kann.
Mit all den von Ihnen getroffenen Maßnahmen ha-ben Sie letztendlich eines gemacht: Sie haben die Ak-zeptanz des Gesundheitssystems beschädigt. Wir habenjetzt die Verantwortung, sie wiederherzustellen. Dasheißt, wir stehen vor der Notwendigkeit, strukturelleReformen durchzuführen, und wir müssen dafür sor-gen, daß das Geld dort hingelenkt wird, wo es ge-braucht wird, und die Qualität der Gesundheitsleistun-gen und der Krankenversorgung weiter verbessert wer-den kann.Einige Ihrer Maßnahmen haben wir bereits mit demSolidaritätsstärkungsgesetz zurückgenommen. Wir ha-ben zum Beispiel durch Einführung eines dauerhaftenFinanzausgleichs, den wir einmal gemeinsam beschlos-sen haben, ein Stück mehr Solidarität mit dem Osten un-seres Landes realisiert.
– Wir mußten es nicht nur, wir wollten es auch.Wir haben in dem neuen Gesetz eine gemeinsameGrundlohnsumme für Ost und West festgelegt; dennwir haben – ich sage es sehr offen – aus den Erfahrun-gen mit der negativen Grundlohnsumme im Osten ge-lernt. Wir haben ferner in dem Gesetzentwurf festgelegt,daß die Patientinnen und Patienten aus Ostdeutschlandauch in Westdeutschland gesundheitliche Leistungen inAnspruch nehmen können. Wir wissen, daß die schwie-rige finanzielle Situation der ostdeutschen Krankenkas-sen trotz der bisher geleisteten milliardenschweren Hil-fen dringend Handlungsbedarf erfordert. Die Staatsse-kretäre der neuen Bundesländer stehen in Zusammenar-beit mit der Bundesregierung.
– Sonst ist Ihnen immer alles zu früh, was wir machen. –Wir werden versuchen, bis Ende August eine Lösung zufinden, die die Situation der Kassen, die die Situationder Krankenhäuser, aber auch die zukünftige Zusam-Gudrun Schaich-Walch
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menführung von Ost und West auf gleichem Niveaugewährleistet.
Wir haben vor der Wahl nicht nur versprochen, daßwir einige Dinge, wie die Streichung des Zahnersatzesfür Jugendliche und den Kostenanstieg der Zuzahlungenin Verbindung mit Beitragssatzsteigerung, zurückneh-men, sondern wir haben auch angekündigt, daß wir not-wendige Strukturreformen durchführen werden, um dieVersorgung der Patientinnen und Patienten zu verbes-sern. Ein Kernelement unseres Gesetzentwurfs ist, denKrankenkassen die Möglichkeit zu geben, mit den imGesundheitswesen tätigen Ärztinnen und Ärzten, aberauch Physiotherapeuten, Rehabilitationseinrichtungen,Krankenhäusern und Apotheken Versorgungsnetze zubilden. Das kann außerhalb der GKV gemacht werden,es muß aber nicht außerhalb der GKV gemacht werden.
Deshalb glaube ich, daß wir trotz allem den Sicherstel-lungsauftrag der GKV respektieren.
– Sie können Vertragspartner sein, wenn sie es wollen.Wir wollen allerdings nicht, daß man derartige neueBehandlungsformen verhindern kann, weil wir davonüberzeugt sind, daß wir durch eine bessere Koordinati-on, durch bessere Zusammenarbeit all derer, die im Ge-sundheitswesen tätig sind, eine in der Qualität sehr vielbessere Versorgung der Patientinnen und Patienten er-reichen.
Wir haben ferner versprochen, den Hausarzt zu stär-ken. Der vorliegende Gesetzentwurf enthält Regelungenzur Förderung der Ausbildung von Fachärzten der All-gemeinmedizin und zur Verbesserung der Einkommenund der Arbeitssituation von Hausärzten. Besonderswichtig ist, daß jeder Facharzt, jedes Krankenhaus, jederPhysiotherapeut verpflichtet wird, die Behandlungsdatenseiner Patientinnen und Patienten an den Hausarzt wei-terzuleiten.
Nur das bietet Gewähr dafür, daß der Hausarzt seinenAufgaben als Koordinator und Lotse im System gerechtwerden kann.Wir haben allerdings nicht – was Sie vorhin in einemRedebeitrag unterstellt haben – den freien Zugang zumArzt, das heißt die Arztwahl beschränkt.
Wir sind uns dessen sehr bewußt, daß wir ein ausge-sprochen gutes Facharztsystem haben, daß der Facharztweiterhin seine Aufgabe hat. Es ist nur, glaube ich, sehrwichtig, daß der Patient und die Patientin zur rechtenZeit am rechten Ort die notwendige Behandlung finden.
– Wenn Sie den Ärzten so wenig zutrauen, dann wird esvielleicht eine Sprechblase bleiben. Wir haben da eineetwas andere Einstellung der gesamtdeutschen Ärzte-schaft.
Wir haben in dem Gesetzentwurf ferner vorgesehen,die Gesundheitsförderung zu stärken. Das machen wirzum einen dadurch, daß eigene Verhaltensänderungenund auch die Veränderung der Lebenssituation Zielset-zung der Förderungsmaßnahmen der gesetzlichen Kran-kenversicherung sein werden. Das machen wir zum an-deren dadurch, daß wir die betriebliche Gesundheitsvor-sorge, die seit 1997 nicht mehr möglich war, wieder ein-führen, weil wir glauben, daß es besser ist, mehr Geldfür die Vermeidung von Erkrankungen aufzuwenden alsfür deren Reparatur.
Ich möchte noch etwas dazu sagen, wie das Geld zurVerfügung gestellt wird. Der vorgelegte Gesetzentwurfdefiniert für alle Krankenkassen eine Ausgabenober-grenze; das ist korrekt. Aber was Sie hier permanentunterschlagen, ist die Tatsache, daß es eine jährlicheSteigerungsrate dieses Budgets gibt, und zwar entspre-chend den beitragspflichtigen Löhnen und Gehältern.
Da sind wir im Moment bei 1,7 Prozent, Herr Zöller.Das bedeutet: Im Durchschnitt wird es in den nächstenJahren jährlich 4 Milliarden bis 5 Milliarden DM mehrfür die Versorgung der Gesundheit in der Bundesrepu-blik geben.
Diese 4 Milliarden bis 5 Milliarden DM stehen in die-sem System zur Verfügung. Ich glaube, wenn man damitvernünftig umgeht, kann man die Gesundheitsversor-gung in diesem Land über einen sehr langen Zeitraumleisten.Sie haben in Ihren Gesetzen folgendes Perfide ge-macht:
– Ich hoffe, daß wir die auch wieder haben werden.
Sie haben ein Budget eingeführt, haben es aber nichtehrlich gesagt. Sie haben vielmehr gesagt: Wenn eineKrankenkasse erhöhte Ausgaben hat, weil sie zum Bei-spiel ein ganz besonders hohes Risiko bei Ihren Versi-chertengruppen hat, dann müssen die Patienten dieseGudrun Schaich-Walch
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Mehrbelastung der Krankenkasse durch erhöhte Zuzah-lungen tragen.
Das ist bei Krankenkassen, die im Wettbewerb stehen,ein Knebelungsinstrument par excellence. Das ver-schweigen Sie.
Dieses Instrument haben wir abgeschafft. Ich denke, je-des Wirtschaftsunternehmen würde sich freuen, wenn esjetzt noch immer eine Zuwachsrate von nahezu 2 Pro-zent hätte.
Nun möchte ich noch etwas zur Qualitätssicherungsagen. Der Gesetzentwurf enthält die Verpflichtung füralle im Gesundheitswesen Tätigen, sich an qualitäts-sichernden Maßnahmen zu beteiligen. Er benennt Ver-antwortliche für die Definition von Qualitätsstandardsund für die Durchführung von Qualitätsprüfungen. InZukunft wird es also sehr viel einfacher sein, an Handdieser Qualitätsstandards zu einer Mengenbegrenzungbei Leistungen zu kommen, die nicht notwendig oder imSinne des Patientenschutzes sogar bedenklich sind. Wirwerden auf diesen Bereich der Qualitätssicherung nichtverzichten können; er ist ein Kernpunkt unseres Gesetz-entwurfs.Meine Kolleginnen und Kollegen, wir haben Ihneneinen Gesetzentwurf vorgelegt, der meiner Meinungnach geeignet ist, längst überfällige Strukturveränderun-gen
zu bewerkstelligen und die medizinische Versorgung zugewährleisten.
– Auch wenn Sie jetzt so aufgebracht sind,
habe ich trotzdem die Bitte an Sie und an die Kollegin-nen und Kollegen der anderen Fraktionen, mit uns einekonstruktive, zielführende Diskussion zu führen. DiesesAngebot gilt auch für die Patientinnen und Patienten, diein Selbsthilfeorganisationen oder Patientengruppen tätigsind. Letztendlich richtet es sich auch an diejenigen, diein unserem Gesundheitssystem arbeiten.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat jetzt
die Kollegin Dr. Bergmann-Pohl, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Prä-sidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was wirheute von den Koalitionsfraktionen als Strukturreform2000 im Gesundheitswesen vorgelegt bekommen haben,übertrifft alle meine Befürchtungen.
1990 habe ich mich mit Engagement der Aufgabe ge-widmet, einen Staat zu überwinden, der durch Planwirt-schaft, zentralistische Strukturen und ein ausgefeiltesÜberwachungssystem die Bürger in eine auswegloseSituation geführt hatte. Leider muß ich der „Ärzte Zei-tung“ zustimmen, wenn sie kommentiert, daß sich dieehemaligen DDR-Bürokraten, die ihre Republik bisheute so schmerzlich vermissen, jetzt glücklich schätzenkönnen, daß man in der Bundesrepublik die Planwirt-schaft im Gesundheitswesen einführt und so der Sozia-lismus jedenfalls in diesem Bereich doch noch zu einemspäten Erfolg kommt.
Frau Ministerin Fischer, haben Sie eigentlich schoneinmal bemerkt, daß kaum jemand Ihre Gesundheitsre-form begrüßt, nicht einmal diejenigen,
die nach Ihrer Ansicht davon profitieren sollen? Manhöre und staune: Nicht einmal die Hausärzte sind mitdiesem Gesetzentwurf so richtig einverstanden. Dankdes Globalbudgets, das von Ihrer Koalition neu einge-führt werden soll, kommen Sie in Deutschland zu einerZweiklassenmedizin: die erste Klasse für die Privatver-sicherten und die zweite Klasse für die gesetzlich Versi-cherten, aber zum Preis der ersten Klasse.
Die Deckelung der Ausgaben der gesetzlichen Kran-kenversicherung steht in krassem Gegensatz zu den Her-ausforderungen der gesetzlichen Krankenversicherung,die auch Herr Schröder, jedenfalls nach dem Schröder-Blair-Papier,
bei der Reform des Gesundheitswesens berücksichtigenwill. Die Menschen in Deutschland werden immer älter;dank des medizinischen Fortschritts kostet das aber auchmehr, es sei denn, wir wollten die älteren Menschenvom medizinischen Fortschritt abkoppeln, wie es inEngland gemacht wird.
Eines wird die Bundesregierung damit auch erreichen:Sie wird die Folgen der Morbiditäts- und der demogra-phischen Entwicklung auf die Leistungserbringer abwäl-Gudrun Schaich-Walch
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zen. Das muß letztendlich zu Lasten der Versichertengehen.Aber es gibt auch noch andere Verlierer Ihrer Ge-sundheitsreform.
Infolge Ihrer Gesetze rechnet man in Deutschland mitdem Verlust von mindestens 10 000 Arbeitsplätzen nurbei den niedergelassenen Ärzten. Das bedeutet einenMitarbeiter pro Arztpraxis, und auch das wird sich aufdie medizinische Versorgung der Patienten auswirken.
Die Politik sollte den Mut haben, deutlich zu machen,daß, bedingt durch den medizinischen, medizinisch-technischen Fortschritt und die demographische Ent-wicklung, bei begrenzten Finanzen der Krankenversi-cherung entweder der Leistungskatalog auf den Prüf-stand gestellt und die Eigenverantwortung gestärkt wer-den müssen oder eine Verbreiterung der finanziellen Ba-sis notwendig ist.
Ich wage zu bezweifeln, daß wir über nennenswerte Ra-tionalisierungsreserven verfügen, die global durch ge-setzliche Zwangsvorlagen zu erschließen sind.
Deutschland ist ein Sozialstaat, aber kein sozialistischerStaat mit einer Entmündigung durch eine Staatsmedizin.
Schröder und Blair führen in ihrem berühmten Papieraus: „Innerhalb des öffentlichen Sektors müsse es darumgehen, Bürokratie auf allen Ebenen abzubauen“. Wiewahr! Aber was tut die Bundesregierung mit ihrer Ge-sundheitsreform?
Sie schafft ein Berichtsunwesen ohnegleichen. Sie ver-sucht mit einem wilden Gestrüpp bürokratischer Vor-schriften, mit Budgetwirrwarr, mit einer Entmachtungder Selbstverwaltung und mit einem ins uferlose gehen-den Berichtswesen davon abzulenken, daß am Ende derPatient die Zeche zahlen muß.
Nun ein paar konkrete Beispiele.Sie nennen es Stärkung der hausärztlichen Versor-gung. Aber was tun Sie tatsächlich? Eine bessere Koor-dinierung zwischen Haus- und Facharzt einerseits undstationärer Versorgung andererseits ist ja zunächstdurchaus wünschenswert. Aber sind diese Bürokratie,die Vermehrung der Paragraphen und die Gängelung derÄrzte und der Versicherten notwendig? Einer repräsen-tativen Umfrage des „Wido“ aus dem Jahre 1995 zufol-ge haben bereits 94,8 Prozent der Befragten einen Haus-arzt.
Laut Zentralinstitut für kassenärztliche Versorgung undGesundheitsforschung, München, liegt der Anteil derPatienten, die in einem Quartal parallel bei mehr als dreiFachärzten und bei mehr als zwei Allgemeinmedizinernin Behandlung waren, unter 3 Prozent. Ich wiederhole:unter 3 Prozent.
Keiner hat doch etwas gegen Befundübermittlung.Aber Sie schaffen für die Ärzte eine Verpflichtung zuübermäßiger Bürokratie, und zwar vor allem durch dieNeufassung der Wirtschaftlichkeitsprüfung.
Sie nehmen – das ist das schlimmste, Frau Schaich-Walch – den Ärzten die Zeit für die Patienten. Sie errei-chen mit Ihren Regelungen, daß der Patient nur nochverwaltet und nicht mehr behandelt wird.
Sie nennen es Integrationsversorgung. Aber was tunSie tatsächlich? Niemand wird widersprechen, wenn dieAufgabentrennung zwischen ambulanter und stationärerVersorgung gezielt durchbrochen werden soll. Aber wastun Sie? Sie lassen es zu, daß die Krankenkassen miteinzelnen Vertragsärzten, Gemeinschaften dieser Lei-stungserbringer, Krankenhäusern sowie Vorsorge- undRehabilitationseinrichtungen Versorgungsverträge ab-schließen können. Daraus ergibt sich das Ziel dieserVersorgungsform, welches sich wie ein roter Fadendurch Ihr Konzept zieht: Alle Macht den Krankenkassenund Einkaufsmodelle durch die Hintertür.
Die Beteiligung und der Sicherstellungsauftrag der kas-senärztlichen Vereinigungen werden dabei systematischausgehöhlt.Die Öffnung der Krankenhäuser für die ambulant-fachärztliche Versorgung birgt auch die Gefahr der all-mählichen Aushöhlung der fachärztlichen Versorgungdurch niedergelassene Ärzte.
In Berlin verfolgt man zum Beispiel jetzt schon durchGrünen-Politiker dieses Ziel konkret in einem Modell-versuch. Für den Versicherten – um den geht es Ihnendoch angeblich –
wird das System immer unübersichtlicher. Denn diemühsam gewonnenen Strukturveränderungen durch Pra-xisnetze und andere Modelle werden plötzlich in Fragegestellt.Die stärkste Einschränkung der Versichertenrechtefindet man aber ganz versteckt in einer Satzungsmög-lichkeit für die Krankenkassen, mit der es darum geht,„die Rechte und Pflichten der Versicherten“ bei Teil-nahme an der Integrationsversorgung festzulegen. DasDr. Sabine Bergmann-Pohl
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ist eindeutig eine Beschneidung des Rechtes des Versi-cherten auf freie Arztwahl.
Eine Mehrheit der Bürger legt aber großen Wert auf die-ses Recht. Ob der Versicherte, gelockt durch günstigeAngebote und Preisnachlässe der Krankenkassen, diestatsächlich überblickt, wenn er sich für die Integrations-versorgung entscheidet, wage ich zu bezweifeln.
Im Einzelfall, Frau Schaich-Walch, kann das nämlichheißen: Die Krankenkasse schreibt einer Patientin vor,welchen Gynäkologen, welchen Hausarzt, welchenFacharzt sie aufzusuchen hat.
– Natürlich. Anders kann Ihr System doch gar nichtfunktionieren.
Nun zu den Qualitätssicherungsmaßnahmen. GegenQualitätssicherung kann man ja eigentlich nichts ein-wenden. Da wird aber gefordert, daß Leistung in derfachlich gebotenen Qualität wirtschaftlich erbracht wer-den muß. Die Bundesärztekammer spricht mit Recht vonder Quadratur des Kreises. Was soll denn nun eigentlichim Vordergrund stehen: die Qualität oder die Wirt-schaftlichkeit?
– Frau Schaich-Walch, Sie und die Frau Ministerin ha-ben heute deutlich gemacht, was das bedeutet: daß derStaat und Bürokraten in Zukunft den medizinischenFortschritt festlegen werden
und daß der Staat zum Beispiel festlegen wird, ob einPatient ein Linksherzkatheter bekommt oder nicht. Nichtdie Ärzte werden die Indikation stellen, sondern Siewollen sie stellen.
Welcher Arzt soll denn noch durchblicken bei demganzen Budgethorror wie Gobalbudget, Arznei- undHeilmittelbudget, Krankenhausbudget, Hausarztbudget,Facharztbudget, Zahnarztbudget und kombinierte Bud-gets bei Integrationsversorgung? Der Arzt wird nichtmehr alles verordnen können. Er wird auch nicht mehrden medizinischen Fortschritt an die Versicherten wei-tergeben können.
Warum akzeptieren Sie denn nicht die von uns verfolg-ten sinnvollen Ansätze von Regelleistungsvolumina,Richtgrößen und auch einer sozialverträglichen Zuzah-lung?
Die Auswirkungen auf die neuen Bundesländerwerden dabei noch gravierender sein. Dank unserer bis-herigen Gesundheitspolitik gibt es bei den Krankenkas-sen Finanzreserven.
In den alten Bundesländern sind das 9,2 Milliarden DM.Allerdings sieht es in den neuen Bundesländern aufGrund der negativen Einnahmeentwicklung und desfehlenden gesamtdeutschen Risikostrukturausgleichsnicht so gut aus. Dort haben die Krankenkassen Schul-den in Höhe von 1,7 Milliarden DM. Glauben Sie, daßIhre geplanten halbherzigen Maßnahmen die Problemeder neuen Bundesländer lösen? Auch die Entfristung desFinanzstärkungsgesetzes mit dem Entfallen der finan-ziellen Obergrenze wird nicht den gewünschten Erfolghaben.
Die Versicherten in den neuen Bundesländern werdendie Scheinheiligkeit Ihrer Bemühungen bald durchblik-ken.
Sagen Sie einmal, was Sie sich eigentlich bei der Er-weiterung der Aufgabe des Medizinischen Dienstes derKrankenkassen zu einer Superbehörde gedacht haben!
Wer hat Ihnen eigentlich diesen Floh ins Ohr gesetzt?Der MDK wird in Zukunft Zugriff auf alle medizini-schen Leistungsdaten im ambulanten und stationärenBereich haben. Er wird auch Kontrollbehörde für dieVersicherten werden. Ziel ist natürlich der gläserne Pa-tient beim Arzt und im Krankenhaus. Wer aber kontrol-liert eigentlich die Qualität dieser Mammutbehörde, undwas kostet der ganze Spaß eigentlich? Das haben Sie unsnicht gesagt.
Meine Damen und Herren, kaum zu glauben: ZumAbschluß etwas Positives. Sie haben die richtigen Wei-chen in der Rehabilitation gestellt. Die Trennung undKlarstellung der Begriffe Vorsorge und Rehabilitationerschien mir schon immer wünschenswert. Auch dieQualitätssicherungsmaßnahmen sind zu begrüßen.Eines aber haben Sie verpaßt, nämlich für ein stärke-res Zusammenwirken der Rentenversicherung undder gesetzlichen Krankenversicherung zu sorgen. EsDr. Sabine Bergmann-Pohl
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4178 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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ist für die Qualitätssicherung und die betroffenen Versi-cherten, aber auch für die Einrichtungen nicht mehrnachvollziehbar, daß bei der Rehabilitation zwischen derRentenversicherung und der Krankenversicherung nichtverbindliche gemeinsame Qualitätskriterien und Rah-menempfehlungen, zum Beispiel unter dem Dach derBundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation, erarbeitetwerden.
Aus meiner Sicht ist dies nur ein halbherziger Schritt.
Meine Damen und Herren, insgesamt ist dieser Ge-setzentwurf nicht geeignet, die Probleme der Zukunft imBereich der Solidargemeinschaft zu lösen. Sie werdenschon gar nicht das angestrebte Ziel erreichen, die Sozi-alversicherungsbeiträge bei gleichbleibender Qualitätder medizinischen Versorgung zu senken. Sie werdenmit diesem Gesetzentwurf nur eines erreichen: Beitrags-anhebung, Rationierung und Zweiklassenmedizin. DieHauptverlierer der Reform sind die Kranken.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, den-
ken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Letzter
Satz.
Unsozialer geht es eigentlich nicht mehr. Aber es ist
konsequent, da dieses Ergebnis der Zielrichtung des
Schröder/Blair-Papiers entspricht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die FraktionBündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin KatrinGöring-Eckardt.
Kollegen! Liebe Frau Dr. Bergmann-Pohl, Sie habendavon geredet, daß wir mit diesem Gesetzentwurf dieReglementierung auf die Spitze treiben würden. Ichkann Ihnen nur sagen: Ich empfehle Ihnen die Lektüredes „Handelsblatts“ – des „Handelsblatts“ und nicht des„Neuen Deutschlands“! – von heute.
Darin können Sie nachlesen, daß sich gerade diejenigen,die von dieser Reform profitieren werden, auch heuteschon dem Wettbewerb im System stellen, einem Wett-bewerb übrigens, den Sie immer wieder in die Schran-ken gewiesen haben. Ich glaube, wenn Sie das gelesenhaben, werden Sie Ihre Meinung wohl ändern müssen,zumindest nach innen; ob Sie das nach außen zugebenkönnen, werden wir noch sehen.
Ein zweiter Punkt. Sie haben gesagt, Qualität undWirtschaftlichkeit zu prüfen sei Reglementierung. Inwessen Sinne prüfen wir denn Qualität und Wirtschaft-lichkeit, bitte schön? Wir tun das doch ganz sicher, da-mit Patientinnen und Patienten wissen, worauf sie sicheinlassen können, und damit Patientinnen und Patientenin vollem Umfang, in hoher Qualität und mit Wirt-schaftlichkeit – die sich am Ende doch auf das Gesamt-system auswirkt – betreut werden können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Gesundheitsre-form 2000 ist auf den Weg gebracht. Mit dem vorlie-genden Entwurf wird dem Reformbedarf im SystemRechnung getragen. Vor allem wird dafür gesorgt, daßdas solidarisch finanzierte System auch langfristig be-stehen kann. Es gibt viele Erwartungen an diese Reform,und es gibt auch viele Befürchtungen. Die zum Teiläußerst harsch vorgebrachte Kritik ist inzwischen inkonstruktive Zusammenarbeit mit den meisten der Be-teiligten umgewandelt worden. Bedauerlich ist nur, daßSie, meine Damen und Herren von der Opposition, mitIhren hohlen Parolen und Anwürfen ein bißchen hinterder Zeit sind.
Erst wenn es gelingt, ein System zu gestalten, in demnicht Leistungserbringer auf der einen und Kassen aufder anderen Seite miteinander aushandeln, womit Ver-sicherte und Patienten am Ende irgendwie klarkommenmüssen, werden wir tatsächlich von Solidarität redenkönnen. Was in der Liebesbeziehung meistens nichtfunktioniert, ist dabei das Ziel: ein kreatives Dreiecks-verhältnis, in dem Leistungserbringer, Kassen sowiePatientinnen und Patienten gleichberechtigt sind.
Patientinnen und Patienten in den Mittelpunkt zustellen und die Beitragszahler nicht über Gebühr zu be-anspruchen, das ist der Geist des Gesetzes. Dafür legenwir uns übrigens auch gern mit denen an, die am Systembeteiligt sind. Dabei geht es nicht darum, denjenigen, dieim Gesundheitssystem arbeiten, irgendwie den Schwar-zen Peter zuzuschieben. Im Gegenteil: Wir wissen undgehen davon aus, daß dort Arbeit mit hoher Qualität er-bracht wird. Wir wissen und gehen davon aus, daß derWettbewerb um Qualität innerhalb der gesetzlichenRahmenbedingungen gefördert werden muß und nichtbehindert werden darf. Dieser Wettbewerb wird amEnde den Patientinnen und Patienten zugute kommen.
Lassen Sie mich zu einem weiteren Punkt der Be-fürchtungen der Leistungserbringerseite kommen. DieGesundheitspolitiker der Koalition haben – zu Recht,wie ich finde – am Anfang ihrer Beratungen die Verab-redung getroffen, daß bei der Erarbeitung des GesetzesDr. Sabine Bergmann-Pohl
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4179
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die Reform im System und die zu erschließenden Ein-sparmöglichkeiten Priorität haben. Heute stehen wirvor der Situation, daß insbesondere Krankenhausträgerhergehen und uns sagen, jede weitere Einsparung würdeautomatisch mit Kündigungen einhergehen, und derPersonalabbau würde sich selbstverständlich zuvörderstim Bereich der Pflegekräfte abspielen. Ich halte dieseDebatte aus drei Gründen für verlogen.Erstens. Wenn man mit Pflegekräften spricht, so stelltman fest, daß sie es sind, die sehr klare Vorstellungendavon haben, wie Ressourcen etwa im Ablauf des Kran-kenhausbetriebes zu erschließen sind: zum Beispiel, in-dem Patientinnen und Patienten bewußt mobilisiert undam Heilungsprozeß beteiligt werden und indem es in-nerhalb eines Hauses Flexibilität zwischen den Stationengibt. Das sind alles Vorschläge, die ich höre und bei de-nen ich mich frage, warum wir uns eigentlich nochKrankenhausstrukturen leisten können, in die die pla-nerische Kompetenz der Pflegenden nur außerordentlichunzureichend einfließen kann.
Zweitens. Der Gesundheitsbereich wächst wie keineandere Branche. Immer mehr Menschen investieren inihre Gesundheit. Das sind ganz sicher nicht nur die Gut-verdienenden. Es werden Möglichkeiten erschlossen, indiesem Bereich ganz neue berufliche Chancen zu be-kommen. Dazu gehören sicher Mut und Ideenreich-tum. Aber wer wollte das ausgerechnet denjenigen, dieim Gesundheitsbereich arbeiten, nicht zutrauen?Drittens. Wir haben bereits festgestellt, daß die An-sprüche und Notwendigkeiten anders und größer wer-den. Die demographische Entwicklung wird zu mehrund nicht zu weniger Erkrankungen führen.
Wenn wir innerhalb dieser Reform sagen, daß wirzum Beispiel den Grundsatz „ambulant vor stationär“endlich in die Praxis umsetzen wollen, dann heißt dasdoch, daß neue Betätigungsfelder entstehen und bereitsbestehende ausgeweitet werden. Ganz gewiß – darauswollen wir keinen Hehl machen – wird das Veränderun-gen bedeuten. Diese Veränderungen sind wünschens-wert, weil gerade das Verharren im Bestehenden, wieSie es heute wieder gepredigt haben, zu Leistungsabbauund weniger Beschäftigung führen würde. Das wollenwir nicht; wir wollen eine Trendwende.
Zum nächsten Punkt der Kritik, den ich gerne auf-greifen will. Budgetierung sei Rationierung, heißt es.Dazu zunächst folgendes: Das von uns vorgeschlageneGlobalbudget wird in jedem Jahr anwachsen, und zwarum die Steigerung der Grundlohnsummenrate.
Das gilt übrigens – das haben wir heute schon be-sprochen – in Ost und West gleichermaßen. Es ist einwichtiger und zentraler Schritt, bei der gesundheitlichenVersorgung das weitere Auseinanderdriften zwischenOst und West zu verhindern.Herr Thomae, wir denken doch nicht seit acht Wo-chen im stillen Kämmerlein nach. Nein, wir haben ge-nau das gemacht, was Sie uns vorgeworfen haben, nichtgetan zu haben: Wir reden mit den Beteiligten und su-chen nach einer Lösung für die Probleme,
die in diesem Jahr entstanden sind. Wir werden dieseLösung gemeinsam finden. Wir werden dafür sorgen,daß das Auseinanderdriften zwischen Ost und West, dasSie während Ihrer Regierungszeit zugelassen haben, daßdiese Art der Zweiklassenmedizin, die Sie initiiert ha-ben, endlich ein Ende hat.
In jedem Jahr wird, wie gesagt, mehr Geld zur Verfü-gung stehen. Alle, die heute behaupten, die Deckelung derAusgaben im Gesundheitswesen bedeute Mängel in derVersorgung, seien an zwei Sachverhalte erinnert: AlleBeteiligten in der Politik, in den Verbänden, in den Ver-tretungen der Kassen haben immer wieder gesagt: Ja, esgibt Einsparmöglichkeiten. Daß diese Möglichkeiten je-weils immer bei den anderen eruiert wurden, verwundertkaum. Vor allem bitte ich alle, die so argumentieren, sicheinfach selbst in die Rolle des Beitragszahlenden zu ver-setzen. Natürlich will jede Patientin und jeder Patient op-timal behandelt werden. Aber natürlich möchte jeder auchBeiträge in einem erträglichen Maß zahlen. Reserven in-telligent erschließen, neue Versorgungsformen auf denWeg bringen und zugleich die notwendigen Leistungenerbringen – das ist der Weg, den wir beschreiten werden.Wir werden damit Erfolg haben.Hier bietet auch die globale Budgetierung neueChancen. Endlich legt die Politik nicht mehr fest – sowie Sie das noch für sich in Anspruch genommen ha-ben –, wieviel Geld in welchem Bereich ausgegebenwerden muß. Es wird dafür gesorgt, daß Patientinnenund Patienten zur richtigen Zeit am richtigen Ort behan-delt werden, weil das Geld der Leistung folgt. DiesesPrinzip gilt auch zwischen den Sektoren.Was wird sich nun für Versicherte sowie Patientinnenund Patienten ändern? Sie werden nicht zu gläsernenPatientinnen und Patienten werden, sondern sich endlichin einem System zurechtfinden können, über das kaumnoch jemand einen Überblick hat. Sie werden Verände-rungen vor allem dort erleben, wo sie selbst aktiv ein-greifen können. So ist der Prävention – das hatten Sieabgeschafft; Sie erinnern sich sicherlich – endlich wie-der der ihr gebührende Platz eingeräumt worden.
Es ist schon schizophren, daß Sie bei der Präventioneinsparen wollen, um das Geld anderswo selbstver-ständlich wieder drauflegen zu müssen.Katrin Göring-Eckardt
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4180 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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Ein weiterer Punkt betrifft das Hausarztsystem.Wenn man mündige Patienten will, die sich selber zu-rechtfinden, dann muß man dafür sorgen, daß sie einenPartner bekommen. Den wollen wir ihnen mit demHausarzt zur Seite stellen. Wir wollen niemanden zwin-gen, irgendeinen Hausarzt oder Facharzt zu besuchen.Die freie Wahl des Arztes ist nach wie vor gegeben.Auch dieses Prinzip wollen wir natürlich weiterhin auf-rechterhalten.Ich erinnere an die Patientenberatungsstellen. Wirwollen die Beratung und Information des Patienten nichtmehr bunten Illustrierten überlassen, sondern durch einetatsächlich objektive und unabhängige Stelle durchfüh-ren lassen. Damit wollen wir nicht das Vertrauensver-hältnis zu den Ärzten zerstören, sondern ein zusätzlichesAngebot machen.Mit der Stärkung der Selbsthilfe, die heute hier schonangesprochen wurde, werden diejenigen unterstützt, dieselbst etwas im Prozeß der Gesundung oder auch imUmgang mit ihrer Krankheit beitragen wollen.Die Forderung, daß Kassen Patientinnen und Patien-ten bei Behandlungsfehlern unterstützen sollen, gehörtauch dazu.Auch die Positivliste, die für mehr Transparenz sorgtund in deren Anhang die alternativen Medikamente ent-halten sind, die auch nach entsprechenden Kriterien be-wertet werden,
– ist kein Feigenblatt, sondern in allererster Linie ein In-strument zur Qualitätssicherung, die wir auch in diesemBereich brauchen.
Ich bin überzeugt, daß diese Reform ein wichtigerund wirkungsvoller Schritt zu einem Gesundheitssystemim Interesse der Patientinnen und Patienten ist. Ich binüberzeugt, wir haben eines der besten Gesundheitssy-steme der Welt.
Mit der vorgelegten Reform sorgen wir dafür, daß esModernität und Solidarität miteinander verbindet, daß esEigenverantwortung und Selbstbestimmung stärkt unddaß es künftig mehr auf das Setzen von Rahmenbedin-gungen denn dirigistisches Reglementieren zielt.Wir laden Sie noch immer ein, mit uns sinnvoll dar-über zu diskutieren, nicht zu pöbeln und zu nörgeln. Ichglaube, daß wir auf einem guten Weg sind.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Kollege Detlef Parr für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Ich sehe die Plakate mit der Aufschrift„Arbeit, Arbeit, Arbeit“ noch vor mir. Unter diesesMotto, meine Damen und Herren von der SPD und vonden Grünen, haben Sie noch vor wenigen Monaten IhrenWahlkampf gestellt. Jede Entscheidung sollte, bevor siein Kraft tritt, hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf denArbeitsmarkt abgeklopft werden. Als wir dieses Themavor 14 Tagen auf die Tagesordnung gesetzt haben,haben Sie die von uns beantragte Aktuelle Stunde zu denFolgen Ihrer Gesundheitsreform für die Arbeitsplätzevon der Tagesordnung abgesetzt.
Das Pflegepersonal in den Krankenhäusern undArzthelferinnen bangen um ihre Zukunft, und Sie drük-ken sich um die parlamentarische Auseinandersetzungherum.
Sie lassen diese Menschen allein, und Sie lassen sie mitden negativen Folgen auch für die Patienten im Stich.Statt dessen laden Sie in den Zirkus zu einem „Dialog“mit einer Riesenanzahl von Gästen ein: Illusionstheater– schöner Schein statt ernsthafter Gespräche.Zwischen Ihren Ansprüchen und der Wirklichkeitklafft eine riesige Lücke. Sie behaupten, daß Sie denÄrzten ermöglichen wollen, Ihre Patienten optimal zubetreuen. Statt dessen strangulieren Sie sie, so daß ihnenkaum mehr Luft zum Atmen bleibt: Sie berauben sieihrer ehrenamtlichen Selbstverwaltung; Sie konfrontie-ren sie mit sinkenden Punktwerten und Planungsun-sicherheit; Sie pressen sie in ein Korsett unterschiedlich-ster Budgetvorgaben. So geht die Freiberuflichkeit alsGarant für patientenorientiertes Handeln vor dieHunde.
Sie behaupten, dafür sorgen zu wollen, daß die Pati-enten eine gute Zahnprophylaxe und, wenn es notwen-dig ist, einen gut aussehenden Zahnersatz erhalten.Gleichzeitig senken Sie für diejenigen, die das garantie-ren sollen, die Vergütungen und nehmen dem Patientenjede Möglichkeit der freiwilligen Zuzahlung für einehöherwertige Leistung. High-Tech-Zahnersatz soll zu-künftig in den Leistungskatalog der gesetzlichen Kran-kenversicherung aufgenommen werden; aber einezusätzliche Bezahlung dieser Leistungen kommt selbst-verständlich nicht in Betracht, nach dem Motto: Wirhaben ja das Globalbudget.Im Krankenhausbereich treiben Sie es ganz beson-ders toll. Sie wollen, daß die Patienten im Krankenhausumfassend versorgt und betreut werden. Gleichzeitigentziehen Sie den Krankenhäusern massiv Geld.
– Milliardenbeträge.Als am schlimmsten empfinde ich – das sage ich vorallen Dingen der Fraktion der Grünen, Frau Göring-Katrin Göring-Eckardt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4181
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Eckardt und Frau Knoche – Ihre fehlende Sensibilitäthinsichtlich der Datenerfassung.
Während der Datenschutz für Sie vor wenigen Jahrennoch der entscheidende Grund für die Ablehnung derVolkszählung war, wollen Sie jetzt den Krankenkassenohne mit der Wimper zu zucken und abweichend vonder bisherigen Anonymität die Sammlung patienten-bezogener Diagnosedaten in einer zentralen Daten-annahmestelle zugestehen.
Damit sind wie selbstverständlich der Datenträgeraus-tausch,
die Prüfung der medizinischen Notwendigkeit von Lei-stungen, die Kontrolle der Wirtschaftlichkeit, derZweckmäßigkeit und der Qualität der ärztlichen Lei-stungen, Übermittlungen an besondere Prüfstellen unddie Medizinischen Dienste der Krankenkassen, die alsKontrollorgane aufgebläht werden, und ihrer Spitzen-verbände verbunden. Das bedeutet den gläsernenPatienten und den gläsernen Arzt. George Orwell hataber gerade im Gesundheitswesen absolut nichts verlo-ren.
– Dazu müßten sie Liberalität erst einmal etwas tieferstudieren.Ich möchte noch ein Wort an die Frau Ministerinrichten. Sie tragen stets sehr gestenreich – bis hin zurAtemlosigkeit – Ihre Vorstellungen vor. Wir hoffen mitallen am Gesundheitswesen Beteiligten, daß diese kurz-atmig vorgetragenen Vorstellungen ebenso kurzlebigsind.
Wenn Sie wirklich ein qualitativ hochwertiges Gesund-heitssystem erhalten wollen, wenn Sie es mit Qualitäts-sicherung ernst meinen, dann lassen Sie unsere Ärztin-nen und Ärzte ihrem Beruf und ihrer Berufung wiedermit Freude nachgehen.
Das funktioniert eben nicht mit staatlichen Strangulie-rungs- und Disziplinierungsmaßnahmen, sondern nur ineinem freiheitlichen System mit großzügigen Rahmen-bedingungen.Lassen Sie mich zum Schluß noch ein Zitat vortra-gen. Sophokles läßt Teiresias in seiner „Antigone“ fol-gendes sagen:
– Man muß auch ein bißchen klassische Bildung ein-bringen können. – Hören Sie genau zu, es ist ganz wich-tig:
Der Irrtum istzwar aller Menschen ganz gewisses Teil,doch wer auch irrt, er bleibt nicht ohne Rat,nicht ohne Segen, wenn er Heilung suchtvon seiner Krankheit, nicht in Starrsinn fällt.Das wünsche ich mir für die weiteren Beratungen undvor allen Dingen für die Anhörungen im September.Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat jetzt
der Kollege Werner Schuster für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als sozialdemokra-tischer Arzt zur Gesundheitspolitik zu reden bedeutet ei-ne Gratwanderung. Auf der einen Seite steht man imGeruch, befangen zu sein; auf der anderen Seite wirdvermutet, daß jemand fahnenflüchtig sei und die Seitengewechselt habe.
Trotzdem will ich mich gezielt an meine ärztlichenKolleginnen und Kollegen draußen im Lande mit derherzlichen Bitte um einen konstruktiven Dialog überfünf Punkte wenden.Viele Reaktionen offizieller Art von seiten derBundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundes-vereinigung sind für mich nur schwer nachvollziehbar: er-stens die Verteufelung des Globalbudgets. Das istabsolut nichts Neues, Herr Lohmann. Der Beschluß vonLahnstein 1992 – Globalbudget als Summe der sektoralenBudgets – wurde mehrfach zitiert. Sie, meine Damen undHerren von der CDU/CSU, waren damals mit uns einig.
Sie haben nicht ganz zufällig nach dem 24. März 1996,als die F.D.P. in drei Landtage einzog, Ihre gesundheits-politischen Grundüberzeugungen an der Garderobe vomThomas-Dehler-Haus abgegeben.
Wir bieten unseren Kolleginnen und Kollegen draußenan, innerhalb dieses Globalbudgets selber den Anteil derSektoren zu bestimmen und festzulegen. Das halten wirfür einen Fortschritt.
– Natürlich.Detlef Parr
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4182 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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Zweitens haben wir erklärtermaßen, Herr Zöller, ge-sagt, daß in Zukunft ambulante Behandlung vor statio-näre Behandlung gehe. Frau Schaich-Walch hat daraufhingewiesen, daß das Geld der Leistung folgen soll. Dasbedeutet doch im Klartext, daß der Markt für die nie-dergelassenen Ärzte zunehmen wird. Das ist eine großeChance, weil sie im Prinzip gegenüber Krankenhäusernkonkurrenzlos preiswert sind. Ich fordere meine Kolle-gen auf, diese Chance zu nutzen.Trotzdem stimme ich meinem Kollegen Dreßler zu,daß wir nach wie vor zu viele und vor allem falsch aus-gebildete Ärzte haben. Für die Umsetzung unseresHausarztmodells brauchen wir eine ganz andere Artvon Aus- und Weiterbildung. Zu viele Ärzte verschärfenaußerdem das Verteilungsproblem.
Hier sind, Frau Ministerin und Herr Minister, Dr. Rep-nik, vor allem die Wissenschaftsminister der Länder ge-fordert, endlich ihr Vorgartendenken aufzugeben. WirGesundheitspolitiker könnten dann gemeinsam mit denÄrzten für eine gewisse Entspannung sorgen.
Drittens macht es mich nachdenklich, daß inDeutschland nach wie vor überproportional viele über-flüssige Eingriffe sowohl in der Therapie wie auch beider Diagnostik vorgenommen werden, obwohl wir Ärzteden berühmten Eid des Hippokrates geschworen haben:Wir wollen nicht schaden – nil nocere. Mich machtnachdenklich, daß epidemiologische Studien bei chro-nisch Kranken nachweisen, daß wir mehr als zwei Drit-tel sparen könnten, wenn wir Präventionsmaßnahmenergriffen. Auf die Unterversorgung der Diabetiker wurdehingewiesen.
Mich macht es nachdenklich, wenn viele diagnosti-sche und therapeutische Maßnahmen auch bei Anwen-dung der Kriterien der Schulmedizin umstritten sind.Mich macht es nachdenklich, daß die Kommunikationzwischen den behandelnden Ärzten in den drei Stufennach wie vor häufig zu Lasten des Patienten geht,unvollständig ist und zu spät kommt. Diese Defizite sinduns seit langem bekannt. In dem Gutachten des Sachver-ständigenrates, Herr Kues, wurde mehrfach daraufhingewiesen, daß hier offensichtlich die berühmteSelbstverwaltung versagt hat. Deswegen müssen wirgesetzlich regeln, was die Selbstverwaltung selber nichtschaffen konnte.
Viertens. Es gibt in der Gesundheitspolitik eine Reihevon Denkfehlern. Ein Denkfehler ist, zu glauben, daßdie Interessen der Versicherten identisch mit denen derPatienten seien. Das gilt auch für die Krankenkassen, dienicht immer die Interessen der Patienten vertreten. Dasgilt aber auch, Frau Kollegin Dr. Bergmann-Pohl, füruns Ärzte. Auch wir sind nicht die alleinigen Interessen-vertreter unserer Patienten,
weil wir eigene Interessen haben. Unser Gesundheits-versorgungssystem ist nach wie vor deutlich überpro-portional ärzte- und zuwenig patientenorientiert.
Fragen Sie einmal chronisch kranke Patienten – nicht inder Sprechstunde, sondern im normalen Leben – nachihrer Situation. Sie werden Ihnen erzählen, wiebeschwerlich es für sie ist, wenn sie in diesem Irrgartenweitergereicht werden. Wir hoffen jedenfalls, mit unse-rem Vorschlag des Hausarztsystems für den einzelnenPatienten eine Erleichterung zu schaffen und durch dieStärkung der Selbsthilfegruppen die Patienteninteressendeutlicher in den Vordergrund stellen zu können.Wir Ärzte könnten uns auf Patientenforen mit Pa-tienten zusammensetzen und sie fragen, wo es ihnenfehlt.
Wir müssen fragen, wo die Defizite im Bereich der nie-dergelassenen Ärzte und der Krankenhäuser liegen. Beidieser Gelegenheit könnte man den Patienten einmal dieWahrheit sagen, daß man nicht für jede Krankheit gleicheine Pille braucht. Diese Diskussion können Sie abernicht im Sprechstundenzimmer führen, sondern dazubrauchen Sie ein anderes Forum.
Fünftens. Der Sachverständigenrat hat in vielen Gut-achten nachgewiesen, daß integrierte Systeme Vorteilehaben. Die Kooperation zwischen Haus-, Fach- undKlinikärzten ist schon lange möglich. Aber leider sinddie Strukturverträge erst aufgekommen, nachdem derGesetzgeber Druck gemacht hat.
Anders als Sie kenne ich viele junge Ärzte, die gerne insolchen integrierten Systemen arbeiten würden. Auchhier gilt: Was die Selbstverwaltung nicht selber geregelthat, müssen wir als Gesetzgeber initiieren.Zum Schluß noch eine Bemerkung an die Gesund-heitspolitiker unter uns. Papst Johannes XXIII. – er warder Papst, der in den letzten 50 Jahren die meisten Re-formen in der katholischen Kirche vorangebracht hat –hat sich immer selber mit dem Satz ermahnt: Johannes,nimm dich nicht so wichtig! – Dieser Satz sollte auchfür uns Gesundheitspolitiker gelten.Herr Thomae, wenn ich richtig gezählt habe, dannkann ich feststellen, daß wir heute bei der siebtenReform der Nachkriegszeit sind. Wir werden ganz sicherdie achte Reform im Jahre 2004 haben. Das ist ja schonein Fortschritt im Vergleich zu der Gesetzesflut in denletzten vier Jahren.Dr. R. Werner Schuster
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4183
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Wir sollten zufrieden sein, wenn uns in diesen vier Jah-ren zwei Dinge gelingen sollten: erstens eine systemati-sche Verbesserung der Zusammenarbeit – sie soll sich aufdie drei Bereiche Prävention, Kuration und Rehabilitationbeziehen – unter den niedergelassenen Ärzten und denKrankenhäusern und zwischen diesen beiden Säulen;zweitens das Vorhaben, die Patienteninteressen in denMittelpunkt des Gesundheitssystems zu rücken.Wenn wir diese beiden Dinge erreicht haben, habenwir einen guten Job getan. Deshalb bitten wir Sie umIhre breite Unterstützung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt derSozialminister des Landes Baden-Württemberg, Dr.Friedhelm Repnik.
men und Herren! Der heute in erster Lesung zu behan-delnde Gesetzentwurf zur GKV-Gesundheitsreform2000 ist meiner Meinung nach gründlich mißlungen.
Leider scheint die jetzige Bundesregierung nicht in derLage zu sein, Reformen richtig anzupacken. Dabeiwollte sie doch alles besser machen.
Nach der verheerenden Niederlage bei der Europawahlsagte Kanzler Schröder: Wir haben verstanden. – Ichkann nur erwidern: Sie haben nichts, aber auch rein garnichts verstanden.
Die Zielsetzung der GKV-Gesundheitsreform 2000hört sich eigentlich gut an, Frau Fischer. Angeblich solleine hohe Qualität der medizinischen Versorgung mitstabilen Beitragssätzen durch mehr Wettbewerb zwi-schen Krankenkassen und Leistungserbringern ange-strebt werden.
Schaut man sich jedoch die geplanten gesetzlichen Be-stimmungen genauer an, dann wird klar: Es handelt sichum einen reinen Etikettenschwindel. Tatsächlich setztdie Bundesregierung und die Bundesgesundheitsministe-rin nicht auf mehr Marktwirtschaft. Realität ist vielmehrein Mißtrauen gegen Eigenverantwortung undSelbstverwaltung.
Statt eines freiheitlichen Gesundheitswesens steuertdie rotgrüne Bundesregierung, Herr Kirschner, einestärkere Bevormundung an.
Die Bundesregierung fördert nicht mehr marktwirt-schaftliche Steuerungselemente, sondern Zentralismus,Reglementierung und Bürokratie.
– Das kommt noch.
Durch die enorme Ausweitung der Kompetenzen derBundesverbände der Krankenkassen und des Medizini-schen Dienstes wird ein zentral gesteuertes Gesundheits-system angestrebt. Solche zentralistischen Bestrebungenbedeuten Kompetenzverlust und damit letztendlich eineEntmündigung der Krankenkassen auf Landesebene.
Ich fordere Sie auf, zu einer Politik des partner-schaftlichen Miteinanders zwischen Politik und den Lei-stungserbringern im Gesundheitswesen zurückzufinden.
Vergiften Sie die Atmosphäre in diesem wichtigen Be-reich nicht durch staatlichen Dirigismus!
Ich will heute nicht die ganze Bandbreite der Unzu-länglichkeiten und Fehlentwicklungen des Gesetzent-wurfs darlegen. Ich würde dazu Stunden brauchen.
– Oder Tage. Vielmehr will ich mich als Landesgesund-heitsminister, der vor Ort für ein gut funktionierendesGesundheitswesen zuständig und verantwortlich ist, aufdie wichtigsten Punkte konzentrieren.Punkt 1: die schrittweise Einführung einer monisti-schen Krankenhausfinanzierung. Als Land sind wirdurch die geplante Einführung der Monistik in derKrankenhausfinanzierung zuallererst betroffen. In zweiStufen sollen bis zum Jahr 2008 die Investitionskostender Krankenhäuser, die bis heute von den Ländern ge-tragen werden, von den Krankenkassen übernommenwerden. Dies ist ein Griff in die politische Mottenkiste.Bis 1972 wurden die Investitionen schon einmal moni-stisch von den Krankenkassen finanziert. Leider hat dieErfahrung jedoch gezeigt, daß über Krankenhausentgeltekeine ausreichenden Investitionen getätigt werdenkonnten.
Die Krankenhäuser hatten damals einen erheblichenSubstanzverlust zu beklagen. Innovative Neuerungenblieben unfinanziert. Dies hatte zur Folge, daß der An-schluß an den Stand der Medizin und der Medizintech-nik fast verlorenging.
Dieser Schuß ging wirklich nach hinten los. Leider habenaber einige anscheinend bis heute nichts daraus gelernt.
Dr. R. Werner Schuster
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4184 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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So, wie die Überleitung in die Monistik im Gesetz-entwurf angelegt ist, fehlt darüber hinaus eine seriöseGegenfinanzierung. Allein in Baden-Württembergmüßten über 600 Millionen DM pro Jahr aus dem Ge-samtbudget erwirtschaftet werden.
Diese Annahme erscheint mir bei nach wie vor steigen-den Leistungen mehr als unrealistisch. ZwangsläufigeFolge wird die Unterfinanzierung der Krankenhäusersein.
Sie werden, wie vor 1972, Schaden an der Substanznehmen, und im Ergebnis wird nur die Versorgungs-qualität verschlechtert. Verlierer Ihrer Reform, meinesehr verehrten Damen und Herren von Rot und Grün,werden also die Patienten sein.
Wollen Sie das wirklich? Ich will es nicht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage?
ich mit meiner Zeit nicht hin.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, die Zeit wird
Ihnen nicht angerechnet.
fragen. Bitte.
Herr Minister Repnik,wenn ich Sie richtig verstanden habe, wollen Sie, daßbeim stationären Bereich, um dieses Beispiel zu neh-men, alles beim alten bleibt. Sie wissen aber doch, daSie aus Baden-Württemberg kommen, daß die Kranken-kassen dort beispielsweise Finanzhilfen für Berlin lei-sten, was mit einem Abbau der dortigen Kapazitäten ge-koppelt ist. Da besteht ein Widerspruch, den Sie einmalaufklären müßten, Herr Kollege Repnik.
spruch; ich werde in meinen weiteren Ausführungendarauf eingehen.
Baden-Württemberg besitzt eine ausgezeichnete Kran-kenhauslandschaft – das wissen Sie, Herr Kirschner, ambesten –
und hat die effektivste und wirtschaftlichste Kranken-hausversorgung aller Bundesländer.
Dennoch, Frau Fischer – dies nur als Nebensatz –, wer-den durch dieses Reformgesetz und durch die Budgetie-rung allein in Baden-Württemberg zirka 1 000 Arbeits-plätze im Krankenhausbereich, meist beim Pflegeper-sonal, abgebaut werden müssen.Das gute System in Baden-Württemberg ist im we-sentlichen durch die staatliche Verantwortung für dieKrankenhausplanung begründet,
die in Baden-Württemberg schon seit Jahren konsequentan einer echten Bedarfsnotwendigkeit orientiert ist.Auch die Beteiligung der Kostenträger war uns stets einehrliches Anliegen. Ich kann heute mit gutem Recht sa-gen, daß in über 99 Prozent der Fälle unserer Kranken-hausanpassungen das Einvernehmen mit den Kostenträ-gern hergestellt worden ist.Wir haben in den letzten Jahren – mit den Kranken-kassen abgesprochen, Herr Kirschner – in Baden-Württemberg über 6 000 Betten abgebaut oder umge-widmet und zirka 70 Krankenhäuser geschlossen. Wirwerden in den nächsten Jahren noch weitere 3 000 Bet-ten abbauen, und zwar im Einvernehmen mit den Ko-stenträgern.
Baden-Württemberg bekennt sich zu seiner Pla-nungsverantwortung und zur Verantwortung für die Fi-nanzierung der baulichen Maßnahmen von Krankenhäu-sern. Planung und Finanzierung gehören zusammen,und deswegen lassen wir uns das nicht aus der Handnehmen.
Auch wenn es unser Land viel Geld kostet, sage ich: DerStaat ist es aus Gründen der Daseinsfürsorge seinenBürgern schuldig, auch weiterhin für eine flächendek-kende, leistungsfähige und wirtschaftliche Kranken-hausversorgung und für die entsprechende Finanzierungeinzustehen.Zweiter Punkt: Positivliste.
Sie ist ein Lieblingskind der rotgrünen Bundesregierung.Hierzu sage ich Ihnen klipp und klar: Eine Positivlisteder verordnungsfähigen Arzneimittel lehnen wir ab.
Minister Dr. Friedhelm Repnik
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4185
(C)
(D)
Für uns ist die Einzelbewertung von Arzneimitteln Sa-che des Arzneimittelgesetzes und nicht Sache der Kran-kenversicherung. Eine derartige Bewertung der Arznei-mittel führt nicht zur Qualitätsverbesserung.
Sie birgt vielmehr die Gefahr sozialer Härten und kanndas Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient sehrstark belasten.
Sie ist der direkte Weg in eine Zweiklassenmedizin.
Wollen Sie das? Wir lehnen das ab.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister, ge-
statten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen
Dreßler?
gen. Ich habe gemerkt, daß sich, wenn ich meine Rede
fortführe, die Fragen erübrigen. Außerdem hat mich Ihre
heutige Rede, Herr Dreßler, sehr enttäuscht; denn Sie
wollen mit Programmen aus dem Jahre 1992 die Ge-
sundheitspolitik im Jahr 2000 retten. So geht es nicht.
Im übrigen sind Einsparungen mehr als fraglich.
Denn Ausgrenzungen über eine Liste können massive
Substitutionseffekte verursachen und hierdurch die Arz-
neimittelversorgung letztendlich verteuern. Ich bin
schon verwundert, daß eine grüne Bundesgesundheits-
ministerin – trotz aller gegenteiliger Beteuerungen –
will, daß die Verordnung pflanzlicher Arzneimittel ge-
strichen und „chemische Keulen“ verordnet werden
sollen. Das macht doch keinen Sinn.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister, ichfrage ein letztes Mal, ob Sie eine Zwischenfrage zulas-sen.
ren.
Außerdem sollten wir eines nicht übersehen: DieAusgrenzungswirkung einer Positivliste wird gerade in-novative mittelständische Arzneimittelhersteller und dieforschende Pharmaindustrie in ihrer Existenz bedrohen.Dies können wir nicht hinnehmen.
Herr Kirschner, jetzt komme ich zu dem Punkt derfinanziellen Hilfen in besonderen Notlagen oder zurErhaltung der Wettbewerbsfähigkeit. Unser Grundver-ständnis von Föderalismus, aber auch unser Verständnisvon Solidarität in einer gesetzlichen Krankenversiche-rung wird von dem neugefaßten § 265a des vorliegendenGesetzentwurfes ganz erheblich tangiert, mit dem einobligatorischer Finanzausgleich innerhalb der Kassen-arten eingeführt wird. Bisher war dies freiwillig, Stich-wort: AOK Baden-Württemberg und AOK Berlin. Dabeisoll künftig allein der Vorstand des Spitzenverbandesüber den Hilfeantrag einer Krankenkasse entscheiden.Die Zustimmung der beteiligten Landesverbände soll imEinzelfall nicht mehr erforderlich sein. Dieser drohendeFinanzausgleich ist föderalismusfeindlich. Er ist im An-satz ordnungspolitisch falsch, da die Beseitigung derMitbestimmungsrechte der Landesverbände der Kran-kenkassen letztlich einen reinen Umverteilungsmecha-nismus fördert und die Anreize für wirtschaftlichesHandeln schwinden.
Baden-Württemberg hat sich der Solidarität innerhalbder GKV nie verschlossen. Unsere Versicherten und Ar-beitgeber tragen durch den Risikostrukturausgleich unddurch die mischkalkulierten Beitragssätze der bundes-weiten Krankenkassen jedes Jahr rund 1,6 MilliardenDM zur Mitfinanzierung der Krankenkassen in den an-deren Bundesländern bei. Es kann doch nicht sein, daßweitere Gelder unkontrolliert zur Unterstützung unwirt-schaftlicher Strukturen im Gesundheitswesen abfließen.Wir machen das nicht mit. Im übrigen ist durch die ge-plante Neuregelung zum kasseninternen Finanzausgleichder Weg in eine bundesweite Einheitskasse vorpro-grammiert.
Ich hoffe, daß wir nicht die einzigen sind, die das nichtwollen.
Ein weiterer Punkt ist das Globalbudget. Der Gipfelder Planwirtschaft offenbart sich an dem vorgesehenenGlobalbudget. Frau Fischer, auch wenn Sie es so nichtwollen: Ein Globalbudget führt zu sektoralen Budgets;Herr Thomae hat darauf hingewiesen.
Hier summieren sich Planwirtschaft, Bürokratismus undhandwerkliche Mängel.
Minister Dr. Friedhelm Repnik
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4186 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
(C)
Das Globalbudget wirkt so, wie wenn man einen Auto-fahrer zwingt, mit 10 Litern Benzin unbekannte Entfer-nungen zurückzulegen.
Nach meiner Überzeugung ist ein Globalbudget zurstrukturellen Weiterentwicklung der GKV der schlechte-ste aller denkbaren Ansätze. Globale Finanzierungs-reserven, die über eine Budgetierung abgeschöpft wer-den könnten, sind im System kaum mehr vorhanden.
Die wichtigsten Leistungsbereiche wie Krankenhaus,Arzthonorare und Arznei- und Heilmittel sind dochbereits seit Jahren gedeckelt.Mit einem Globalbudget wird das Morbiditätsrisikoauf die Ärzte und Krankenhäuser übertragen. Diesewerden bei ausgeschöpftem Budget gezwungen sein,Rationierungsentscheidungen zu treffen. Die Warte-listenmedizin ist vorgezeichnet, ohne Wenn und Aber.
Ein Globalbudget führt somit zur schleichenden Lei-stungsrationierung. Das Globalbudget ignoriert diewachsende Nachfrage nach Gesundheitsleistungen, be-hindert den medizinischen Fortschritt und führt zuerheblichen Qualitätseinbußen. Wollen Sie das? Wirwollen das nicht. Krankheiten lassen sich nicht budge-tieren, Herr Dreßler!
Im übrigen sind die Überwachung und Einhaltung desGlobalbudgets nur mit einem gewaltigen, kostenträchti-gen bürokratischen Aufwand möglich.Meine sehr verehrten Damen und Herren, uns liegtbesonders der Grundsatz der Beitragssatzstabilität amHerzen. Die Beitragssatzstabilität, die wir in den letztenfünf Jahren hatten, wird durch die geplante Gesundheits-reform aufs höchste gefährdet.
Neben dem prognostizierten Defizit in der GKV für dasJahr 1999 fehlt für die im Reformgesetz vorgesehenenLeistungserweiterungen, zum Beispiel im Krankenhaus-bereich, bei der Prävention, beim Zahnersatz oder beider Patientenberatung, die notwendige Gegenfinanzie-rung. Verschiedene Modellberechnungen gehen vonMehrausgaben in Milliardenhöhe aus; dies wirdzwangsläufig zu erheblichen Beitragssatzsteigerungenführen. Herr Kues hat vorhin schon gesagt, daß die AOKBaden-Württemberg – ich wiederhole dies – mit einerBeitragssatzsteigerung in Höhe von 0,7 Prozent rechnet.
Dies hätte für die Versicherten und die Arbeitgeber unddamit für den Wirtschaftsstandort Deutschland verhee-rende Folgen.
Die Beitragssatzstabilität ist auch deshalb in Gefahr,weil der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregie-rung eine Antwort auf die zu lösenden Finanzierungs-fragen schuldig bleibt. Die Probleme der GKV bestehennicht so sehr auf der Ausgabenseite – es gibt keine Aus-gabenexplosion –, sondern insbesondere auf der Ein-nahmenseite. Wegen der Globalisierung des Standort-wettbewerbs, des veränderten Erwerbsverhaltens, desmedizinischen Fortschritts und der veränderten demo-graphischen Bedingungen ist eine Anpassung derSysteme der sozialen Sicherung erforderlich. Die der-zeitige, fast ausschließlich an das Arbeitseinkommengebundene Form der GKV-Finanzierung ist diesen Her-ausforderungen auf Dauer nicht mehr gewachsen. Dar-über müssen Gespräche geführt werden; je eher diesgeschieht, desto besser.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich kommezum Schluß. Ich fordere die Bundesregierung und dieKoalitionsfraktionen auf: Nehmen Sie Ihre sozial- undgesundheitspolitisch falschen und wirtschaftspolitischschädlichen Weichenstellungen im Gesundheitswesenzurück! Wir brauchen ein plurales Gesundheitswesen,das von den Prinzipien der Freiheit, der Eigenverant-wortung, der Subsidiarität, der Regionalität und der So-lidarität getragen wird. Die Gesundheit der Menschen inunserem Land ist zu wichtig, als daß diese Grundsätzevorschnell über Bord geworfen werden dürfen.
Hektisches Rudern, wie Sie es gerade tun, bringt unsnicht weiter. Die Richtung muß stimmen, und die Rich-tung stimmt bei diesem Gesetzentwurf leider überhauptnicht.Ich bedanke mich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt dem Kollegen Martin Pfaff,
SPD, das Wort.
Ich habe vier Fragen an Sie.Zu meiner ersten Frage. Sie haben die Positivlisteverteufelt und die Krankenhäuser in Baden-Würt-temberg gelobt – übrigens nicht ganz zu Unrecht. Frage:Wenden die Krankenhäuser in Baden-Württembergnicht seit Jahrzehnten eine Positivliste an? Heißt das,daß all Ihre Kritikpunkte an der Positivliste auch dieKrankenhausversorgung in Baden-Württemberg betref-fen?Meine zweite Frage bezieht sich auf die Entlastungdes Krankenhausbereichs und die zusätzliche Belastungder Kassen, die Einsparungen für Investitionen vorneh-men sollen. Ich frage Sie: Wie sieht es denn mit derEntlastung durch Mutterschafts- und Sterbegeld aus?Übrigens: Wenn Sie in Baden-Württemberg so viel fürdie Krankenkassen tun wollen, was hindert Sie dann, inMinister Dr. Friedhelm Repnik
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anderen Bereichen eine effektive Entlastung der Kran-kenkassen zu erreichen, nämlich dadurch, daß das, wasbisher über Beiträge finanziert wird, aus Steuermittelngezahlt wird?Die dritte Frage bezieht sich auf den Risikostruktur-ausgleich. Wollen Sie nicht auch, daß Kassen in Baden-Württemberg vom Risikostrukturausgleich profitierenund von ihm begünstigt werden? Ich sage das, weil siedurch ihre Grundlohnsummen, durch ihre Versicherten-struktur und ähnliches ebenfalls Empfängerkassen sind.Können Sie das leugnen?Letzter Punkt. Sie haben das Globalbudget – wie an-dere auch – verteufelt. Können Sie uns erklären, was derUnterschied zwischen der Beitragssatzstabilität, diedurchgesetzt wird, und dem Globalbudget ist?Wenn Sie diese Fragen überzeugend beantwortenkönnen, dann haben Ihre Argumente mehr Glaubwür-digkeit.Einen allerletzten Punkt möchte noch ansprechen:Vor Lahnstein haben wir uns in der Opposition, meinelieben Kolleginnen und Kollegen von der anderen Seite,nicht verweigert, weil uns die Probleme der Menschen,der Versicherten und der Patienten, zu ernst waren. VonIhnen habe ich noch nicht gehört,
daß Sie ein konstruktives Angebot gemacht hätten, zu-mindest Teile unseres Gesetzes mitzutragen. Das möchteich gern von Ihnen heute noch hören.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Erwiderung Mi-
nister Dr. Repnik, bitte.
Herren, ich fange beim letzten Punkt an: Permanent wird
hier von uns erwartet und gefordert, daß wir Vorschläge
machen. Ich verstehe das überhaupt nicht. Wir hatten ein
Gesundheitssystem, das seit Jahren Beitragssatzstabilität
aufwies.
Dieses System hatte eine hohe Qualität. Die Ärzte waren
zufrieden
– Moment; es geht weiter –; die Patienten waren zufrie-
den. Es gab überhaupt keinen Grund dafür, dies zu ver-
ändern. Sie mußten das System aber letztlich verändern,
weil Sie die Wahlversprechen, die Sie vor der Bundes-
tagswahl abgegeben hatten, einhalten wollten.
Dazu sage ich: Sie haben es schlecht gemacht, weil Sie
die Wähler belogen haben. Ich kann mich daran erin-
nern, wie die Roten und die Grünen durch Baden-
Württemberg und Bayern gezogen sind und in bezug auf
die Rehabilitationseinrichtungen und die Kureinrichtun-
gen gesagt haben: Wir nehmen alle Zuzahlungen zurück.
Der Skandal ist der, daß Sie es eben nur marginal zu-
rückgenommen haben.
Es gibt auch weiterhin Zuzahlungen bei den Arznei-
mitteln. Hier haben Sie viel mehr versprochen. Sie ha-
ben es nicht gehalten; Sie haben Ihr Wahlversprechen
gebrochen.
Sie fragen mich nach der sogenannten Positivliste im
Bereich des Krankenhauses. Die Krankenhäuser Baden-
Württembergs sind deswegen in einer so guten Verfas-
sung, weil wir seit Jahren dabei sind, unwirtschaftliche
Strukturen abzubauen, Betten abzubauen, Betten umzu-
widmen. Das ist gemeinsam mit den Krankenkassen ge-
schehen. Deswegen sage ich, Herr Pfaff: Wir haben das
gemeinsam gemacht, um die Krankenhäuser fit für das
nächste Jahrtausend zu machen. Wir können das auf
Dauer nur dann durchhalten, wenn wir als Land die Ver-
antwortung für die Gesundheit der Bürgerinnen und
Bürger in der Fläche behalten und nicht die Krankenkas-
sen entscheiden, wo welches Bett zu stehen hat.
Noch ein Wort, Herr Pfaff. Warum fällt der SPD
eigentlich nichts anderes ein, als immer nur auf Steuer-
mittel zurückzugreifen? Dieses System soll nicht aus
Steuermitteln finanziert werden, sondern es soll von den
Bürgerinnen und Bürgern und damit auch von den
Krankenkassen über Beiträge finanziert werden, nicht
durch Steuermittel. Wenn Ihnen sonst nichts mehr ein-
fällt, dann kommen Sie immer auf Steuermittel zurück.
Aus der einen Tasche heraus, in die andere Tasche hin-
ein – dabei machen wir nicht mit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt für
die SPD-Fraktion der Kollege Horst Schmidbauer.
Liebe FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Wir von derKoalition sind nicht darüber überrascht, daß die Opposi-tion heute poltert. Man wird das Gefühl nicht los, daßdieses Poltern über die eigenen Versäumnisse hinweg-täuschen soll,
daß dieses Poltern auch darüber hinwegtäuschen soll,daß man – wir haben das Gegenteil praktiziert – heutekeine Alternative zu dieser Gesundheitsreform vorlegt.
Dr. Martin Pfaff
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Ich denke, bei diesem Poltern spielt auch ein gewisserNeid auf das Stehvermögen von Andrea Fischer undRudolf Dreßler mit.
Das Stehvermögen von Andrea Fischer und RudolfDreßler ist ein Symbol für Aufrichtigkeit und Durchset-zungskraft.
Das ist, glaube ich, momentan ganz zentral gefragt.Ich wollte eigentlich damit beginnen, daß ich dievielen Fragen, die offengeblieben sind, beantworte unddie vielen Falschmeldungen korrigiere. Aber gestattenSie mir den Hinweis, daß meine Redezeit nicht annä-hernd ausreichen würde, das klarzumachen.Mir ist ganz wichtig, daß bei diesem Gepolter unddem Aufschrei der Anbieter das Beifallklatschen derBetroffenen nicht untergeht.
Wir müssen dafür sorgen, daß nicht nur diejenigen zuWort kommen, die, über Beitragsgelder finanziert, Mil-lionen von Mark für große Werbekampagnen aufwen-den, sondern auch die Betroffenenorganisationen und-verbände sich in der öffentlichen AuseinandersetzungGehör verschaffen.
Ich verstehe natürlich, daß Sie das nicht wollen; dennder VdK, der Sozialverband Reichsbund, die Bundesar-beitsgemeinschaft Selbsthilfe, die Deutsche Rheuma-Liga, der Paritätische Wohlfahrtsverband begrüßen ohneVorbehalt diese Reform nachdrücklich. Sie dagegenwollen dies nicht zur Kenntnis nehmen. Sprechen Siedoch endlich einmal mit den richtigen Leuten und nichtnur mit der einen Seite!
– Frau Präsidentin, dazu muß ich eine persönliche Erklä-rung abgeben: Ich finde das unerhört, Herr KollegeThomae. Sie wissen ganz genau, daß zu diesem Zeit-punkt mein Vater verstorben ist und ich dort deswegennicht hinkommen konnte. Ich finde es ungeheuerlich,daß Sie versuchen, sich auf diese Art mit mir auseinan-derzusetzen. Dafür gibt es andere Gelegenheiten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Schmidbauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Thomae?
Natürlich.
Herr Schmidbauer, ich
erinnere Sie an eine Veranstaltung in Bad Kissingen, für
die Sie zugesagt hatten. Vor der Wahl sind Sie in den
Kurorten herumgereist und haben dort vor den Bürgern
Versprechen abgegeben, die Sie nie gehalten haben.
Als Sie jetzt die Chance hatten, dort an einer Diskussion
teilzunehmen, haben Sie gekniffen. Das ist die Diskre-
panz zwischen Versprechungen machen und Verspre-
chungen halten. Ich rede nicht von der anderen Veran-
staltung, sondern von dieser Sache.
In bezug auf die Veranstaltung mit den Diabetikern
muß ich Herrn Wodarg ansprechen, der dort anwesend
war. Die Diabetiker waren darüber entsetzt, was in die-
sem Gesetz steht. Durch das Vorschaltgesetz zu diesem
Gesetz spüren sie schon heute, daß ihre Versorgung
nicht mehr gesichert ist.
Ich kannIhnen das erklären: Weil ich mit dem Auto unterwegswar – anders war es verkehrstechnisch nicht zu machen;denn zuvor ist, wie wir das öfters erleben, eine Flugver-bindung ausgefallen –, konnte ich nicht rechtzeitig dortsein. Ich habe Bad Kissingen von unterwegs angerufenund dem Kurdirektor Bescheid gesagt, daß ich allerVoraussicht nach erst gegen 21.30 Uhr Bad Kissingenerreichen kann. Darauf hat mich der Kurdirektor gebe-ten, nicht mehr nach Bad Kissingen zu kommen, weil eskeinen Sinn mehr habe. Das hat also nichts mit Kneifenzu tun.Wir haben auch überhaupt keine Veranlassung, HerrKollege Thomae, in diesen Fragen zu kneifen. Denn wirhaben eine ganze Menge von dem repariert, was Sieplattgemacht haben.
Sie tragen Verantwortung dafür, daß Tausende vonhochqualifizierten Arbeitsplätzen im Bereich von Reha-und Kureinrichtungen weggefallen sind. Wir sind jetztdabei, das, was Sie plattgemacht haben, schrittweise undunter Wahrung der Beitragssatzstabilität in Ordnung zubringen.
Das gilt insbesondere für den Bereich der chronischKranken. Im Vordergrund unseres Gesetzes steht dieVersorgung von chronisch Kranken. Entscheidend dabeiist, mittels der Auflösung von sektoralen Begrenzungenressortübergreifende Behandlungskonzepte und -formeneinzuführen. Die Versorgung der chronisch Kranken undder Diabetiker muß so gestaltet werden, daß das reali-Horst Schmidbauer
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siert wird, was Sie vor zehn Jahren unterschrieben hat-ten: die Zahl der Amputationen innerhalb weniger Jahrezu halbieren. Nichts ist geschehen. Die Amputationsratein Deutschland ist gestiegen. Wir geben über 1 MilliardeDM für Amputationen aus. Genau das wollen wir nicht.Wir wollen das Geld nicht für Amputationen, sondernfür eine ordentliche, sachgerechte Versorgung von Dia-beteskranken ausgeben. Nur so kann die Amputations-rate gesenkt werden.
Noch zu einem anderen Punkt: Heute ist immer wie-der dargelegt worden, die GKV sei an uns, die neueRegierung, mit einem tollen, positiven Ergebnis überge-ben worden. Ich habe von 2 Milliarden DM, aber auchschon von 8 Milliarden DM gehört. Deshalb habe ichmir erlaubt, nachzufragen. Es stellt sich heraus, daß derexakte Überschußbetrag bei 1 187 987 258 DM lag.
– Ja, der Überschuß. Der Überschuß ist von Ihnenbisher auf 2 Milliarden DM aufgerundet worden.
Ich möchte jetzt Ihren Trick in aller Deutlichkeitansprechen. Sie müssen der Öffentlichkeit sagen, aufwessen Kosten und zu wessen Lasten Sie diesen Über-schuß bei den Krankenkassen erreicht haben. Sie ver-schweigen nämlich, daß Sie die Menschen durch IhrGesetz, mit dem Sie die Versicherten beim Zahnersatzzu Privatversicherten gemacht haben, dazu gebrachthaben, mit den Füßen abzustimmen. Sie ließen keinenZahnersatz mehr vornehmen, und die Folge war: Eswurden den Versicherten exakt 2 582 498 210 DM fürZahnersatz vorenthalten. Das ist Ihr sogenanntes posi-tives Ergebnis. Ich würde mich schämen, hier mit sol-chen Manipulationen anzutreten.
Was uns in der Sozialdemokratie so aufbringt, ist,
daß Sie die Frage der Eigenverantwortung zur Kaschie-rung mißbrauchen, um in Wirklichkeit Ihre Abzockereiweiter zu betreiben,
obwohl Sie längst erlebt haben, daß die Grenze derBelastbarkeit bei den Kranken bereits erreicht, ja über-schritten ist. Wo haben wir das erlebt? Wir haben dasbeim Zahnersatz erlebt. Dort haben 30 Prozent derMenschen keinen Zahnersatz mehr gewollt, nachdem sieden Kostenvoranschlag vom Zahnarzt erhalten und vonihrer Krankenkasse gehört hatten, welchen Festbetragsie dafür erhalten würden. Die Menschen haben dienotwendige Behandlung nicht durchführen lassen, son-dern sich bestenfalls für Reparaturen entschieden.
Das ist für uns das Zeichen, daß die Belastungsgrenzeüberschritten ist.Das gleiche haben wir auch im Bereich der Arzneimit-tel erlebt. Ich verstehe nicht, wieso man die EMNID-Umfrage, die die Apotheker seinerzeit in Auftrag gegebenhaben, einfach weggesteckt hat. Was sagte diese EMNID-Umfrage? 41 Prozent der Patienten gingen nicht mehrzum Arzt, knapp 50 Prozent lösten ihr Rezept nicht volloder gar nicht ein. 18 Prozent hatten Verordnungen nurnoch bei schwerwiegender Krankheit eingelöst. Der Ver-brauch rezeptfreier Arzneimittel ging um 11 Prozent zu-rück. Das war das Umfrageergebnis der Apotheker. Daszeigt auch, daß Ihre Abzockerei die Belastungsgrenze fürdie Patientinnen und Patienten erreicht hatte, und deswe-gen mußten die Zahlen zurückgehen.Wir sagen: Die hohen Zuzahlungen führen zu mehrchronischen Krankheiten, und die zusätzlich chronischKranken sind es, die letztendlich die Krankenkassenmassiv Geld kosten.
Deswegen haben wir versprochen: Wir werden nicht nurdas Sachleistungsprinzip für den Zahnersatz wieder ein-führen, sondern wir werden auch die Zuzahlungen suk-zessive zurücknehmen.Ich freue mich ganz besonders darüber, daß wir inden ersten drei Monaten 400 Millionen DM an die Men-schen zurückgegeben haben, die Sie ihnen unberechtig-terweise abgezockt hatten.
Das nenne ich Worthalten. So wollen wir mit den Men-schen umgehen. Wir wollen die Menschen nicht fürdumm verkaufen.Ich ärgere mich über die ungesunde Entwicklung– das ist heute vielfach angesprochen worden – unseresGesundheitswesens. Ich denke, wir brauchen zur Wie-derherstellung eine ganz intensive Therapie. Wir sindfest davon überzeugt, daß mit dieser Therapie die Effi-zienz unseres Gesundheitswesens, nämlich Qualität undWirtschaftlichkeit, wieder den Rang erreichen wird, denwir viele Jahrzehnte in Deutschland vorzuweisen hatten.
Diese Fehlentwicklung müssen wir wieder in Ordnungbringen. Auch Sie haben diese Fehlentwicklung ge-kannt, auch Sie haben von den unwirtschaftlichenStrukturen gesprochen, aber man muß feststellen: Diealte Regierung hatte nicht die Kraft, diese Problemenachhaltig anzugehen.In dieser Frage hilft uns der neoliberale Ansatz, derStaat müsse sich nur zurückziehen, dann sei alles zumBesten bestellt, nicht. Ich will Ihnen einmal zur Kennt-nis bringen, was der Augsburger Laborarzt Schottdorfvor kurzem von sich gegeben hat. Er meint, es geht vie-len Medizinern nicht darum,wie man die Patienten am besten versorgen kann,sondern darum, wer sie versorgen darf, wer dieLizenzen hat und was man damit herausholen kann.Horst Schmidbauer
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Ich denke, das sind die Folgen einer neoliberalenGesundheitspolitik, die wir so nicht mehr fortsetzenwollen. Die Verantwortlichen müssen sich doch fragenlassen: Geht es noch um die Patienten oder nur um dieKassenlizenz, nur darum, mit dem Labor Geld zu druk-ken?Wir sagen: Nein, das kann nicht angehen. Wir brau-chen einen aktivierenden Staat und keinen Nacht-wächterstaat; denn wir müssen dafür sorgen, daß dieUmstrukturierung in diesem Lande läuft. Wir haben zuviele Ärzte, die sich dem Existenzminimum nähern. Wirmüssen davon wegkommen, daß nur einige wenigeÄrzte kräftig einsacken. Wir müssen diesen Bereiche-rungsbazillus in Deutschland abtöten, damit wir letzt-endlich zu gerechten Vergütungen von Leistungenkommen können.
Ich habe das Gefühl, daß Sie uns zur Zeit mitSchlagwörtern wie „Globalbudget“ und „Rationierung“in die Ecke treiben wollen. Wir sagen: Solange wir un-wirtschaftliche Strukturen haben, die 20 bis 25 Milliar-den DM kosten, haben wir die Verpflichtung, alles dar-anzusetzen, diese unwirtschaftlichen Strukturen aufzulö-sen und die dadurch gewonnenen Gelder gezielt dorteinzusetzen, wo Unterversorgung herrscht.
Ich frage mich, wer denn diese unwirtschaftlichenStrukturen weiterhin gutheißen will. Noch zu IhrerZeit, unter der Verantwortung von Herrn Seehofer, wur-de eine Qualitätssicherungsstudie in Auftrag gegeben,die die Gynäkologie und die Geburtshilfe betraf. Manmuß sich einmal vor Augen halten, daß jede zweiteGebärmutterentfernung und mindestens 25 Prozent derEierstockentfernungen in Deutschland nach diesem vonSeehofer in Auftrag gegebenen Qualitätssicherungsgut-achten überflüssig waren. Da geht es für mich um dieFrage der Menschenwürde und um die Frage derRechtsverletzungen, die damit einhergehen. Dahinterstecken aber natürlich auch die unwirtschaftlichenStrukturen. Ich frage: Wer entzieht sich der Verantwor-tung, beides in Ordnung bringen zu wollen, nämlichUnwirtschaftliches zu beseitigen und gleichzeitig dieQualität so zu sichern, daß wir sie auch akzeptierenkönnen?Ich glaube, wir müssen das Thema Qualitätssiche-rung in den Vordergrund stellen. Für uns muß Quali-tätssicherung – das kann man im Gesetz der Koalitionerkennen – gewährleisten, daß möglichst wenig Geld fürDinge verpulvert wird, die der Heilkunst nichts nutzen.Wir müssen das Geld so effizient wie möglich einsetzen.Dazu brauchen wir in diesem Gesetz eine Qualitäts-sicherung, die einen zentralen Charakter hat und diesedoppelte Aufgabe wahrnimmt.Ich denke, das ist der entscheidende Punkt, den wirumsetzen. Wir werden es nicht zulassen, daß 70 Millio-nen Kassenpatienten in eine Situation hineingezogenwerden, welche die Qualitätssicherung vernachlässigt.Das ist nichts anderes als versuchte Geiselnahme. Wirwerden uns schützend vor die Patientinnen und Patien-ten stellen, damit sie nicht mißbraucht werden.
Wir werden dafür sorgen, daß sie objektiv über ihre Zu-kunft informiert werden, damit sie darüber abstimmenkönnen, wie sie das in der Vergangenheit getan haben.
Ich möchte mich aber am Schluß in meiner Bewer-tung zurückhalten. Ich möchte lieber einen Fachmannzitieren, der nicht im Verdacht steht, der rotgrünen Ko-alition besonders nahezustehen. Ich zitiere:Was nun in den Umrissen sichtbar ist, bietet Aus-sicht auf eine wirkliche Reform des Gesundheits-wesens, die auch für die Vertragsärzte neue Chan-cen eröffnet.Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß KBVund KVen mit Fundamentalkritik … antworten.Diese Organisationen, die ihren Monopolcharakterverlieren, nicht jedoch ihre Zwangsmitglieder, sinddie wahren Looser dieser Reform.Für die Vertragsärzte entstehen dagegen neue Op-tionen: Sie können den Krankenkassen innovative,vernetzte Versorgungsformen anbieten und ohnedie KV Verträge schließen. Die rotgrüne Koalitionsetzt damit bewußt auf die Reformfreudigkeit undKreativität an der Versorgungsbasis, nachdem sichKBV und KVen über viele Jahre als viel zu schwer-fällig erwiesen haben, notwendige Reformen anzu-packen.Es wird auch Verlierer geben: die Ewiggestrigen,die Eigenbrötler, diejenigen, die nicht kooperati-onsfähig sind. Das ist die Soziallast der KVen, unddie wird stärker spürbar.Dieses Zitat stammt aus einem Kommentar unter demMotto „Die Reform als Chance sehen“, verfaßt vonHelmut Laschet, dem stellvertretenden Chefredakteurder „Ärzte-Zeitung“. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Kollege Wolfgang Zöller, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dreßler, ich geheals erstes auf Sie ein. Sie forderten hier vorhin Alterna-tiven der CDU/CSU. Dann frage ich Sie: Haben Sie einso kurzes Gedächtnis, daß Sie nicht einmal mehr unserGesetz von vor zwei Jahren kennen
Horst Schmidbauer
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– das Zweite Neuordnungsgesetz –, das dazu geführthat, daß die Beiträge stabil waren und daß die Patientenübers ganze Jahr eine Versorgungssicherheit hatten, undin dem wir Strukturverträge eingeführt haben? DieseStrukturverträge, die Sie jetzt zum Teil übernommenhaben, sind übrigens einer der wenigen positiven Ansät-ze, die ich in Ihrem Gesetzentwurf erkennen kann. Aberunser Gesetz war so gut, daß man es nicht schon nachzwei Jahren ändern muß. Das hätte man ruhig systema-tisch fortführen können.
Was Ihre Äußerung hinsichtlich der 25 MilliardenDM angeht, so bitte ich Sie, Herr Dreßler, endlich zurKenntnis zu nehmen, daß diese Aussage vor vier Jahrengetätigt wurde und daß gerade im Krankenhausbereichschon viel getan wurde. In den letzten zwei Jahren wur-den 17 000 Betten abgebaut. Da können Sie doch nichtso tun, als sei diese Rationalisierungsreserve nach wievor vorhanden. Seien Sie doch mit Ihren Zahlen etwasehrlicher!
In dem Gesetzentwurf von Rotgrün zur Gesundheits-reform 2000 heißt es:Ein sozial gerechtes Krankenversicherungssystemmuß sich zudem verpflichtet wissen, die Selbst-bestimmung und Selbstverantwortung der Patien-tinnen und Patienten zu achten, ihre Eigenkompe-tenz zu stärken ...
Selbst wenn man von Gott und der Bibel nicht viel hält,gilt für Sie auch der Satz: „Nicht an ihren Worten, anihren Taten sollt ihr sie erkennen.“
Der heute von Ihnen vorgestellte Gesetzentwurf ver-birgt hinter wohlklingenden Überschriften systemverän-dernde Maßnahmen. Ich sage nur beispielhaft: Sie spre-chen von Positivlisten; in Wirklichkeit bedeuten sieListenmedizin und Einschränkung der Therapiefreiheit.
Sie sprechen von Hausarztmodell; in Wirklichkeit führtes zur Einschränkung und Aufgabe der freien Arztwahl.
Sie sprechen von Globalbudget; in Wirklichkeit be-deutet es Krankenbehandlung nach Kassenlage.
Sie sprechen von Stärkung der Patientenrechte; inWirklichkeit führt es zu Entmündigung und Bevormun-dung der Versicherten.Ich will versuchen, Ihnen an einigen Beispielen zuverdeutlichen, wie weit Reden und Handeln bei dieserRegierung auseinander liegen. Sie haben zum Beispielvollmundig angekündigt, die Rechte der Patienten zustärken. Wie haben Sie jetzt gehandelt?Erstens. Wir haben gesetzlich geregelt, daß die Pati-enten von ihrem Arzt endlich eine Rechnung bekom-men. Dies bedeutete mehr Transparenz und eine Stär-kung der Patientenrechte.
Aber das war das erste, was Sie abgeschafft haben. MehrPatientenrechte à la SPD!Zweitens. Wir haben dem Patienten die Wahlmög-lichkeit gegeben, sich auch als Privatpatient behan-deln zu lassen. Sie haben den Patienten diese Wahl-möglichkeit wieder genommen. Mehr Patientenrechteà la SPD!Kurioserweise haben Sie diese Einschränkung teil-nachgebessert, allerdings mit der fatalen Folge, daß jetztnur Besserverdienende in der gesetzlichen Krankenver-sicherung ein Wahlrecht haben und weniger Verdienen-de dieses Wahlrecht nicht mehr haben. Gerechtigkeit fürdie kleinen Leute à la SPD!
Drittens. In Ihrem sogenannten Hausarztmodellentmündigen Sie den Patienten, da er auf die freieArztwahl verzichtet. Der Krankenkassenfunktionär undnicht mehr der Patient entscheidet, zu welchem Arzt ergeht. Auch möchte ich jedem – besonders bei schwerenErkrankungen – eine Zweitmeinung zubilligen, ohne daßer dafür finanziell abgestraft wird.
Im übrigen bin ich der Meinung, meine sehr geehrtenDamen und Herren, daß die erfreulich hohe Qualität desGesundheitswesens in Deutschland im wesentlichen eineFolge der freien Arztwahl ist.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Re-gierung, Ihre vielleicht gutgemeinte Idee, die Patien-tendokumentation beim Hausarzt zu sammeln, kannman auch unter Beibehaltung der freien Arztwahl ver-wirklichen, indem man einfach die gegenseitigen Infor-mationen der Ärzte regelt.
Dies scheint jedoch nicht Ihr wahres Ziel zu sein. Siewollen den ersten Schritt in Richtung Einkaufsmodellvollziehen. Das ist der wahre Hintergrund.Ich darf in diesem Zusammenhang einen von mir sehrgeschätzten Politiker zitieren, der bemerkt hat, zuge-spitzt gesagt, es fehle in diesem sehr dirigistischen Ent-wurf nur noch der Schritt, alle Vertragsärzte gleich zuAngestellten der Krankenkassen zu machen;
denn unabhängige Selbständige würden diese nach demGesetz nicht mehr sein, sondern eher Scheinselbstän-Wolfgang Zöller
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dige. Und die Scheinselbständigenregelung läßt beiIhnen ja auch grüßen.
– Wer das ist? Wenn Sie es nicht wissen, bin ich gernebehilflich. Das ist einer Ihrer Parteikollegen, Herr Klose,den ich wirklich sehr schätze.Viertens. Die Positivliste ist eine Liste verordnungs-fähiger Arzneimittel im System der gesetzlichen Kran-kenversicherung. Sie schafft nicht nur Medikamente er-ster und zweiter Klasse, sondern fördert auch die Zwei-klassenmedizin. Außerdem gefährdet die Positivliste dieTherapiefreiheit des Arztes; denn der Patient hat nurAnspruch auf das gelistete Medikament und nicht aufdas für ihn sinnvollste.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit dieserAusgrenzung treffen Sie besonders chronisch Kranke,für die Sie sich doch angeblich besonders einsetzenwollen. Sie konterkarieren auch ein weiteres Verspre-chen, daß nämlich die chronisch Kranken von der Zu-zahlung befreit würden. Es stimmt zwar, daß sie nichtszuzahlen müssen, sie müssen es aber ganz zahlen. Auchbei Ihrer Chroniker-Regelung benachteiligen Sie dieFamilien und stellen sie schlechter als bei unserer bishe-rigen Regelung.
Eine Familie mit einem chronisch Kranken undeinem Einkommen von 4 000 DM zahlte bei uns maxi-mal 480 DM jährlich zu. Bei Ihrer Regelung zahlt zwarder chronisch Kranke nichts, die Familie aber 960 DM.
Diese Regelung trifft bewußt für Lebensgemeinschaftennicht zu. Wen wundert es?
Nun zu Ihrem Einwand, bei der Zuzahlung würde ab-gezockt. Wie ehrlich Ihre Argumente sind, sieht mandaran, daß Sie die Zuzahlung in einer Größenordnungvon 0,8 Milliarden DM zurücknehmen und im gleichenZeitraum Arzneimittel für über eine Milliarde DM ganzausgrenzen.
Sie haben also die Leute nicht um 0,4 Milliarden DMentlastet, sondern Sie haben sie belastet. Da frage ichmich, wer hier wo abzockt.
Ein fünfter Punkt, der mit dem Patientenrecht zu-sammenhängt, ist Ihr sogenannter Patientenschutz, derdie Kassen verpflichtet, die Kosten zu übernehmen, dieentstehen, wenn Verbraucherschutzverbände und derenRechtsvertreter medizinische Gutachten erstellen, umzum Beispiel gegen Ärzte vorzugehen. Dies wird letzt-endlich zu Lasten der Patienten gehen. Die Ärzte werdensich nun rechtlich mehr absichern müssen. Dies wird zumehr Untersuchungen führen, die medizinisch nichtnotwendig sind. Die Rechtsanwälte müssen künftig vonden Krankenkassenbeiträgen ebenso bezahlt werden wiedie überflüssigen Untersuchungen. Dies geht zu Lastenmedizinisch notwendiger Leistungen in unserem Ge-sundheitssystem.
Als sechstes Beispiel bringe ich Ihnen: Die Einfüh-rung der monistischen Finanzierung der Krankenhäu-ser wird das Ende einer wohnortnahen stationären Ver-sorgung sein.
Genauso wird Ihre zusätzliche Öffnung der Kranken-häuser für ambulante Tätigkeiten zum Verlust der flä-chendeckenden Versorgung mit Fachärzten führen. Danützt es auch nichts, wenn Ihr Redner sich hier hinstelltund ausführt, Sie würden besonders an die Fachärztedenken.Ich darf aus einem internen Papier der SPD zitieren.Da erkennt man auch Ihre Gesinnung. Da heißt es unterPunkt 3:Ziel: Liquidierung einer fachärztlichen Versorgungauf freiberuflicher BasisIch würde mich schämen, so etwas auch nur zu denken.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, entschuldi-gen Sie bitte, wenn ich nochmals eine sehr treffendeBewertung Ihres Gesetzentwurfs aus Ihren eigenen Rei-hen zitiere. Sie ist so gut, daß ich sie gern wiederhole,zumal gute Äußerungen von dieser Seite leider sehr sel-ten sind.Es geht um eine für mich sehr grundsätzlicheFrage. Da kann man keine Kompromisse machen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Dieter
Thomae?
Nein, jetzt bei demguten Zitat garantiert nicht.Ich habe ein anderes Menschenbild als jenes, dasdiesem Entwurf zugrunde liegt. Das Gesundheits-system muß nach meiner Überzeugung auch deneinzelnen Patienten und den einzelnen Arzt in sei-ner Verantwortung sehen. Es geht also um diegrundsätzliche Entscheidung, ob man auf Regle-mentierung setzt oder auf individuelle Verantwor-tung.Wenn es mir auf meine Redezeit nicht angerechnetwürde, würde ich dieses Zitat noch zwei-, dreimal vor-lesen; denn es ist so gut.
Wolfgang Zöller
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, ich
frage Sie noch einmal: Lassen Sie jetzt die Zwischenfra-
ge des Kollegen Dr. Dieter Thomae zu?
Selbstverständlich.
Herr Zöller, ich habe
eine Passage Ihrer Rede nicht ganz mitbekommen.
Könnten Sie das bitte wiederholen und das Papier der
SPD zum Thema Facharzt zitieren?
Ich hatte eine Über-
schrift über die Einschätzung aus einem SPD-internen
Papier vorgelesen. Da heißt es:
Liquidierung einer fachärztlichen Versorgung auf
freiberuflicher Basis
Die zweite Überschrift lautet:
Zerschlagung der Kassenärztlichen Vereinigung
Die weitere Überschrift lautet:
Unbefristete Fortsetzung der Budgetierung
Allein wenn man diese drei Überschriften sieht, kann
man sich vorstellen, in welchem Geist solche Gespräche
geführt werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, selbst das
Bündnis Gesundheit 2000, ein Zusammenschluß von
Krankenschwestern, Apothekern, Hebammen, Kranken-
gymnasten und Ärzten, kritisiert Ihren Entwurf und stellt
fest: Unser bewährtes Gesundheitssystem, das allen Pa-
tienten unabhängig vom sozialen Status offensteht, soll
durch ein Planwirtschaftssystem ersetzt werden. Der
große Verlierer wird der Patient sein.
Deshalb komme ich zu der Schlußfolgerung: Es ist
für mich zum einen sehr erfreulich, daß man endlich
wieder klare Alternativen zwischen Rotgrün und der
CDU/CSU erkennen kann: Auf der einen Seite haben
wir ein freiheitliches und hochqualifiziertes System mit
Eigenverantwortung, auf der anderen Seite ein Einheits-
system Richtung Staatsmedizin.
Sollte dieser Gesetzentwurf trotzdem umgesetzt wer-
den
– ich befürchte es, da eindeutige Erkenntnisse in Anhö-
rungen von Ihnen bisher nie respektiert wurden –,
dann wird wohl der Satz von Bundeskanzler Schröder
nach der Europawahl „Wir haben verstanden“ nachge-
bessert werden müssen in: „Ich habe fertig“. Ich wün-
sche dies uns allen von ganzem Herzen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Dr. Wolf Bauer, CDU/
CSU.
Frau Präsidentin! Mei-ne sehr verehrten Damen, meine Herren! Ich habe dieseDebatte sehr aufmerksam verfolgt. Als letzter Rednermuß ich mich, da ich von der SPD und den Grünen ge-hört habe, daß wir ein gutes Gesundheitssystem haben,ehrlich fragen: Warum strengen Sie sich an und wollendieses gute Gesundheitssystem mit aller Gewalt zerstö-ren?
Es kann doch nur eine ideologische Zielsetzung sein.Minister Repnik hat die Alternativen aufgezeigt. Wirbrauchen eigentlich gar keine neuen Modelle, weil dieAlternativen mit unseren Vorhaben der letzten Jahreübereinstimmen. Das muß und kann man weiterent-wickeln. Aber man darf es doch nicht einfach zerstören,nur weil man es will und nur weil es von der anderenPartei ist. Wenn Sie es – das will ich feststellen – mitNachdruck durchsetzen wollen und stolz darauf sind,daß Sie das gegen den Widerstand von den Verbändenmachen, dann kann ich nur sagen: Bei einigen wird of-fenbar Stehvermögen – wie es eben von Herrn Schmid-bauer zitiert worden ist – mit Sturheit verwechselt.
Heute ist viel über das Globalbudget gesagt worden.Ich will nur eines wiederholen: Das ist der unintelligen-teste Weg, unser Gesundheitssystem zu reformieren,
und es ist keine adäquate Antwort auf die Herausforde-rungen der Zukunft. Das ist heute noch gar nicht gesagtworden. Es hat niemand von der demographischen Ent-wicklung gesprochen; es hat niemand von der veränder-ten Morbidität gesprochen; es hat niemand von steigen-der Erwartungshaltung und steigender Lebensqualitätgesprochen. Ja, wollen Sie das denn den Versichertenvorenthalten?Das einzige, was angesprochen worden ist, ist dermedizinische Fortschritt. Nun weiß ich, daß in den De-batten immer wieder kritisiert wird, daß der Arzneimit-telverbrauch in dem ersten Vierteljahr zu stark gestie-gen sei. Sie müssen dabei aber auch zur Kenntnis neh-men, daß es Untersuchungen gibt, nach denen 5,5 bis6 Prozent dieser Ausgabensteigerung im ersten Quartal1999 auf einer Verbesserung der Arzneimitteltherapieberuhen. Das dürfen wir doch den Patienten und Versi-cherten nicht vorenthalten! Ein Budget führt – da kön-nen Sie reden, was Sie wollen – zu einer Rationierungund – auch das ist mehrfach gesagt worden – zu einerZweiklassenmedizin.
Ich kann nicht verstehen, daß Sie das wollen.Das gleiche gilt für die Positivliste, denn sie fügt sichnahtlos in dieses System ein. Warum ist die Positivlistepatientenfeindlich? Weil den Patienten all die Arznei-
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4194 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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mittel vorenthalten werden, die nicht darin stehen. Diemüssen sie dann selber kaufen.
Was hat das zur Folge? Der sozial Schwache kann sichdas nicht leisten; nur der Rest kann sich diese Ergänzun-gen leisten.
Herr Dreßler, Sie haben vorhin die 50 000 Arznei-mittel angesprochen. Die sind doch nicht das Problem!
– Nein, sie sind nicht das Problem. Lassen Sie doch je-den Arzt und jeden Patienten individuell das aus diesen50 000 Arzneimitteln auswählen, was für ihn das besteist und was in die Therapie hineinpaßt! Das ist doch aus-schlaggebend.
Mit der Positivliste werden Sie überhaupt nichts sparen.Das einzige, was Sie damit erreichen werden, ist, daßÄrzte gezwungen werden, letztlich stärker wirkendeArzneimittel und solche mit mehr Nebenwirkungen auf-zuschreiben. Das kann doch nicht Sinn und Zweck derSache sein! Aber genau das wollen Sie mit Ihrer Posi-tivliste erreichen.
Heute ist schon viel gesagt worden. Ich möchte etwaserwähnen, was noch nicht zur Sprache gekommen ist.Ich möchte einen Versicherten sprechen lassen, weil esmeiner Meinung nach ungeheuer wichtig ist, zu sagen,wie Sie die Versicherten in der kurzen Zeit seit IhrerRegierungsübernahme verunsichert haben. Ich meinedamit sowohl die Leistungserbringer als auch die Betrof-fenen selbst. Ich zitiere aus einem Brief:Nach einer Krebsoperation, Chemobehandlungenund Bestrahlungen wurde ich noch einmal in eineKlinik eingewiesen, um mich wieder aufzubauenund mein Immunsystem wieder auf normale Wertezu bringen. Nach einiger Zeit, als die Bemühungender Ärzte Erfolge zeigten und es mir auch wiederbesser ging, entließ man mich nach Hause miteinem Arztbrief, auf dem die weitere Medikationfür die nächsten Monate stand.Da man in der Klinik Medikamente nur für dieZeitspanne bis zum nächsten Arztbesuch bekommt,war mein erster Gang zum Hausarzt. Nach anfäng-licher freudiger Begrüßung kam schnell die Er-nüchterung. Nachdem er gelesen hatte, was weiterverordnet werden soll …, sagte er dann, daß er diesnicht verordnen könne und es außerdem statistischnicht erwiesen sei, daß dieses was bringt.Nach Einwendungen meinerseits sagte er mir, erkönne ja verstehen, daß man nach jedem Strohhalmgreift, wenn man an der Wand steht. Verordnenkönne er mir nur die Lymphdrainagen – mit demNachsatz, daß mir das nächste Rezept der Frauen-arzt verschreiben solle.Diese würden sein Budget nicht so überfordern.Dies war nun schon das zweite Mal, daß er michwegen seines Budgets an andere Ärzte verwies.Nachdem ich darauf sagte, daß ich mir wegen sei-ner Einstellung einen Arzt mit Naturheilverfahrensuchen wolle, entgegnete er mir, wenn ein Arzt soetwas vertritt, dann solle er es auch verschreiben; erhätte nichts dagegen.Dann wird die Patientin weiter an den Frauenarzt undwieder zurück an den Hausarzt überwiesen. Die Ver-antwortung wird hin und her geschoben. Die Vertreterder Krankenkassen sagen am Ende, man könne die Arz-neimittel verschreiben. Aber durch die von Ihnen verur-sachte Verunsicherung findet sich kein Arzt, der dies tut.Der Schlußsatz in dem Brief heißt:Ist das der Sinn einer Gesundheitsreform?Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der SPDund von den Grünen: Wollen Sie eine solche Verunsi-cherung wirklich erreichen? So wie in diesem Beispielwirkt sich das Globalbudget aus.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich bitte Sie alle, Ihre Plätze einzunehmen
und auch dem letzten Redner in dieser Debatte zu fol-
gen. Das ist ein Akt der Kollegialität.
Ich möchte hier auchden Vorstandsvorsitzenden der Barmer Ersatzkasse zi-tieren. Er sagt: Das vorgesehene Globalbudget sei einetotale Fehlgeburt. Für das Jahr 2000 sei für die Kran-kenkassen ein Volumen eingeplant, das nur um 2,8 Pro-zent über dem von 1998 liege. Die Kassen lägen bereitsin diesem Jahr um 3 bis 4 Prozent darüber. Der Vor-standsvorsitzende endet mit dem Satz:Ich kann schon heute sagen, ich kann dieses Glo-balbudget nicht einhalten.Wenn Sie uns, der Opposition, schon nicht glauben,dann glauben Sie doch wenigstens den Vertretern derKrankenkassen.
Sie müssen doch einmal folgendes bedenken: JederArzt muß sich täglich die Frage stellen, ob eine Therapienotwendig, wirtschaftlich und ausreichend ist. Heuteerwartet jeder Versicherte – das erwartet er zu Recht –,daß die bestmögliche Therapie angewendet wird. DerArzt und nicht irgendein Mitglied einer Krankenkassemuß seinem Patienten mitteilen, daß nicht das Optimale,sondern nur noch das gerade medizinisch Notwendigegetan werden darf. Ich frage Sie, ob Sie das wollen. DerFrau Ministerin, die so viel von Qualität spricht, sageich: Hier bleibt die Qualität auf der Strecke. Diese Bei-spiele ließen sich fortsetzen.Herr Kirschner, ich möchte zum Beispiel noch dasBenchmark-Modell ansprechen, obwohl die gesamteKoalition das Wort „Benchmark-Modell“ scheut wieDr. Wolf Bauer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4195
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der Teufel das Weihwasser. Sie wissen genau, was da-hintersteckt. Durch Ihr Modell gibt es keine bessereMedizin. Ihr Modell orientiert sich am Billigsten. Siekönnen nicht einfach davon ausgehen, daß Sie mit denKriterien „Alter“ und „Geschlecht“ dieses Problemlösen können.Sie müssen sich schon einmal die Mühe machen – ichhabe es getan –, anzuschauen, wie sich die Arzneimittel-ausgaben zusammensetzen. Wenn Sie das tun, erhaltenSie auch eine Antwort darauf, warum es zwischen deneinzelnen KVen große Unterschiede gibt. So ist zumBeispiel der Insulinumsatz pro Einwohner in der KVSüdbaden nur etwa halb so hoch wie der in der KVMecklenburg-Vorpommern. Solche Unterschiede gibt esauch zwischen den saarländischen und den badischenKVen. Daran können Sie erkennen, daß man mit sturemFesthalten an einem Globalbudget die Probleme nichtlösen kann. Mehr Flexibilität ist notwendig. Das fordernwir von Ihnen. Wir werden diese Forderung aufrecht-erhalten und sie immer wieder stellen, wenn Sie dieserForderung nicht ausreichend nachkommen.Zum Schluß. Neben allen Ungereimtheiten bleibt dieFrage offen, was Sie, meine Damen und Herren von derKoalition, mit Ihrer Gesundheitsreform überhaupt errei-chen wollen. Daß Sie Wahlversprechungen einlösenwollen und müssen, haben wir heute schon gehört. DaßSie dabei in weiten Bereichen den vollkommen falschenWeg gehen, werden Sie noch einsehen. Aber machenSie doch wenigstens nicht die gleichen Fehler, die wirzum Teil auch gemacht haben und die wir sofort korri-giert haben! Lernen Sie doch wenigstens daraus! Erken-nen Sie, daß es so nicht weitergehen kann!Das, was Sie vorhaben, führt – ob Sie es wahrhabenwollen oder nicht – zu Mangelverwaltung, zu Rationie-rung und zu großen Arbeitsplatzverlusten im Gesund-heitswesen. Das kann nicht Ziel der Politik sein, die hierin diesem Hause betrieben wird.Verlierer – darauf möchte ich vor allem hinweisen –sind die Versicherten – besonders die sozial Schwachen –,die sich mit den Gesundheitsleistungen zufriedengebenmüssen, die SPD, Grüne und die Krankenkassen ihnenvorschreiben. Die Sozialhilfeempfänger und vor allemdie Rentner bleiben auf der Strecke, wenn es zusätzlichzu den von Ihnen vorgesehenen Rentenkürzungenkommt.Verlierer sind auch die vielen mittelständischenStrukturen. Heute ist bereits das Einkaufsmodell ange-sprochen worden. Zum Schluß möchte ich nur noch dar-auf hinweisen, daß ich am 20. März dieses Jahres aufeiner Veranstaltung der KV in Köln war. Auf dieserVeranstaltung hat unsere Ministerin gesagt, sie sei gegenEinkaufsmodelle. Sie hat aber auch gesagt, sie sei fürVerkaufsmodelle. Man weiß doch, was dahintersteckt:Das Ziel ist, über Einkaufsmodelle dieses gute Gesund-heitswesen kaputtzumachen. Ich kann Ihnen allen nursagen: Wehret den Anfängen, damit die rotgrüne Koali-tion das deutsche Gesundheitswesen nicht ruiniert!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich das Wort dem Kollegen Martin Pfaff.
Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Zöller hat hier gesagt, die SPD befür-
worte in einem Arbeitspapier – wohlgemerkt – die „Li-
quidierung der fachärztlichen Versorgung“. Kein einzi-
ger der hier anwesenden Gesundheitspolitiker, die ich
gefragt habe, kann sich an ein solches Arbeitspapier er-
innern. Ich versichere Ihnen: Das Thema Liquidierung
der fachärztlichen Versorgung wurde nie und nimmer in
unseren Reihen diskutiert. Wenn von uns von einer Um-
gewichtung des Zahlenverhältnisses zwischen Fachärz-
ten und Hausärzten gesprochen wird, dann weise ich Sie
darauf hin, daß das in vielen Gutachten des Sachver-
ständigenrates und in einschlägigen Fachpublikationen
zu lesen ist; aber nie und nimmer wurde von uns die Li-
quidierung der freiberuflichen oder der fachärztlichen
Versorgung gefordert. Ich kann das nicht unwiderspro-
chen im Raume stehenlassen.
Herr Kollege Zöller, sind Sie bereit, das zu akzeptie-
ren? Sie müssen wissen: Ihre Behauptung grenzt nicht
nur an Verleumdung; vielmehr ist sie es auch, wenn sie
angesichts meiner Aussage wiederholt wird. Das werden
wir niemals akzeptieren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Zöller,
möchten Sie erwidern?
Herr Kollege Pfaff,
ich habe aus einem Schreiben zitiert. Es handelt sich um
ein Arbeitspapier, das von der SPD stammt. Überschrift
eins: „Unbefristete Fortsetzung der Budgetierung, Glo-
balbudget“, Überschrift zwei: „Zerschlagung der Kas-
senärztlichen Vereinigungen“, Überschrift drei: „Liqui-
dierung einer fachärztlichen Versorgung auf freiberufli-
cher Basis“. Mehr habe ich Ihnen nicht gesagt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache.Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetz-entwurfs auf Drucksache 14/1245 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 3 auf:Wahl eines Mitglieds des ParlamentarischenKontrollgremiums gemäß § 4 des Gesetzesüber die Parlamentarische Kontrolle nach-richtendienstlicher Tätigkeit des Bundes– Drucksache 14/1299 –Dr. Wolf Bauer
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4196 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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Die Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen undF.D.P. schlagen auf Drucksache 14/1299 den Abgeord-neten Hans-Christian Ströbele vor.Bevor wir zur Wahl kommen, bitte ich um Ihre Auf-merksamkeit für einige Hinweise zum Verfahren. Dieerforderlichen Stimmkarten wurden verteilt. Sollten Sienoch keine erhalten haben, können Sie sie jetzt noch vonden Plenarsekretären bekommen. Für die Wahl benöti-gen Sie außerdem Ihren gelben Wahlausweis, den Sie,soweit noch nicht geschehen, jetzt noch Ihrem Stimm-kartenfach in der Eingangshalle entnehmen können.Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mit-glieder des Bundestages auf sich vereint, das heißt min-destens 335 Stimmen erhält. Stimmkarten, die mehr alsein Kreuz, andere Namen oder Zusätze erhalten, sindungültig.Die Wahl ist nicht geheim. Sie können die Stimm-karte deshalb an Ihren Plätzen ankreuzen.Bevor Sie die Stimmkarten in eine der aufgestelltenWahlurnen werfen, geben Sie bitte Ihren Wahlausweisdem Schriftführer oder der Schriftführerin. Die Abgabedes Wahlausweises gilt als Nachweis der Teilnahme ander Wahl.Ich bitte jetzt die Schriftführerinnen und Schriftfüh-rer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alleWahlurnen besetzt? – Ich bitte alle Schriftführerinnenund Schriftführer zu den Wahlurnen. Es dürfte doch keinProblem für die Fraktionen sein, ihre Schriftführerinnenund Schriftführer an die Urnen zu schicken. Es fehltnoch ein Schriftführer oder eine Schriftführerin von derOpposition. Ich frage ein letztes Mal: Sind die Urnenjetzt alle besetzt? – Das ist der Fall. Dann eröffne ich dieWahl.
Haben alle Mitglie-der des Hauses ihre Stimmkarte abgegeben? – Das istoffensichtlich der Fall. Ich schließe die Wahl und bittedie Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. DasWahlergebnis wird später bekanntgegeben.*) Wir setzendie Beratungen fort.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 2 a bis 2 c auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBerufsbildungsbericht 1999– Drucksache 14/1056 –Überweisungsvorschlag:
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten BirgitSchnieber-Jastram, Dr. Maria Böhmer, Karl-JosefLaumann, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSUAusbildung, Qualifizierung und Arbeit fürjunge Menschen– Drucksache 14/1011 –
ordneten Maritta Böttcher, Rosel Neuhäuser, RolfKutzmutz und der Fraktion der PDS eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zur solidarischen
– Drucksache 14/14 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzung
– Drucksache 14/583 –Berichterstattung:Abgeordnete Willi BraseDr.-Ing. Rainer JorkMatthias BerningerCornelia PieperMaritta BöttcherZum Berufsbildungsbericht liegt ein Entschließungs-antrag der Fraktion der F.D.P. vor. Ich weise darauf hin,daß wir nachher eine namentliche Abstimmung durch-führen werden. Nach einer interfraktionellen Vereinba-rung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorge-sehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es sobeschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort derBundesministerin für Bildung und Forschung, FrauEdelgard Bulmahn.Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung: Sehr geehrter Herr Präsident! Meinesehr geehrten Herren und Damen! Motivierte und gutausgebildete Menschen sind für unser Land das ent-scheidende Kapital. Dafür brauchen wir moderne Aus-bildungsplätze in ausreichender Zahl. Der Berufsbil-dungsbericht 1999, den wir heute hier diskutieren, be-schreibt die Berufsbildungssituation im Jahre 1998. Ererläutert Maßnahmen zur Sicherung des Ausbildungs-platzangebots und Initiativen zur strukturellen Weiter-entwicklung der Berufsausbildung.In der aktuellen politischen Diskussion über den Be-rufsbildungsbericht 1999 geht es vor allem um die Aus-bildungsplatzsituation im vergangenen Jahr. DieseVizepräsidentin Petra Bläss
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Situation sah folgendermaßen aus: 1998 wurden bun-desweit 612 771 neue Ausbildungsverträge abgeschlos-sen. Das sind rund 25 000 mehr als im Jahr zuvor. Eingroßer Teil davon, ungefähr 19 000, kam durch zusätz-liche Angebote der Wirtschaft zustande. Ich möchtedeshalb vor allen Dingen den Firmen danken, die überihren Bedarf hinaus ausgebildet haben oder die sich be-reit erklärt haben, jetzt auszubilden.
Obwohl 25 000 zusätzliche Ausbildungsplätze ge-schaffen worden sind, können wir uns nicht mit der Si-tuation zufriedengeben, weil wir 1998 kein ausgegliche-nes Ausbildungsplatzangebot erreicht haben. Nach wievor konnte ein Teil der Jugendlichen keinen Ausbil-dungsplatz finden. Das hat im wesentlichen zwei Grün-de: Einerseits ist es demographisch bedingt. Anderer-seits schieben wir sozusagen einen großen Stau von Ju-gendlichen vor uns her, der abgebaut werden muß. VieleJugendliche, die in den letzten Jahren keinen Ausbil-dungsplatz gefunden haben und die zunächst auf alter-native oder Übergangsmaßnahmen ausweichen mußten,kommen nun aus diesen Warteschleifen zurück. Warte-schleifen sind aber nicht gut, weil sie für die Jugendli-chen belastend und volkswirtschaftlich unsinnig sind.
Obwohl diese demographische Entwicklung seit lan-gem vorhersehbar war und obwohl wir wußten, daß dieAnzahl der Jugendlichen pro Jahr zunimmt, meine Her-ren und Damen von der Opposition, haben Sie es in denvergangenen Jahren versäumt, die notwendige Vorsorgezu treffen, damit Jugendliche eben nicht in eine Warte-schleife abgeschoben werden. Das heißt, die Berufsaus-bildung ist auf Kosten unserer Jugendlichen jahrelangsträflich vernachlässigt worden. Das, muß ich leidersagen, ist ein Vorwurf, den ich Ihnen machen muß.
Die neue Bundesregierung hat sich entschlossen, daszu ändern, und dieses Vorhaben auch sofort nach Regie-rungsantritt umgesetzt. Wir haben gesagt: Wir könnenso nicht weitermachen, wir müssen den Jugendlichen einganz konkretes Angebot machen. Deshalb haben wirzwei Initiativen ergriffen. Wir haben zum einen das So-fortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeits-losigkeit beschlossen. Mit diesem Programm fördernwir Maßnahmen, die das betriebliche Lehrstellenangeboterhöhen, und spezielle Trainingsprogramme für Jugend-liche, die noch nicht wissen, was sie wollen, was für sieder richtige Weg ist. Wer Ende 1999 noch keinen be-trieblichen Ausbildungsplatz hatte, konnte eine Ausbil-dung in einer außerbetrieblichen Berufsbildungsstättebeginnen. Sehr viele Jugendliche haben diese Chancegenützt. Ende Mai waren 101 000 Jugendliche in diesenMaßnahmen des Sofortprogrammes, entweder in Aus-bildung oder in Beschäftigung.
Davon befanden sich 25 500 Jugendliche in eineraußerbetrieblichen Ausbildung.In der Kürze der Zeit, in der wir dieses Programm aufden Weg gebracht haben und in der es umgesetzt wor-den ist, ist das ein beachtliches Ergebnis. Die große Re-sonanz, die dieses Programm bei den Jugendlichen ge-funden hat, zeigt für mich vor allen Dingen eines: DieJugendlichen in unserem Land wollen arbeiten. Siebrauchen eine Chance, um sich zu qualifizieren. Wennsie eine Chance erhalten, nützen sie sie auch.Neben diesem ersten positiven Ergebnis des Sofort-programmes gibt es ein zweites, wie ich finde, wirklichgutes Ergebnis: Es zeigt sich, daß viele Jugendliche, diedie Chance ergriffen haben, auch durchhalten.
Aber – das will ich genauso deutlich sagen – Ar-beitslosigkeit kann nicht alleine durch Maßnahmen derBundesregierung beseitigt werden, und sie kann über-haupt nicht durch ein Regierungsdekret beseitigt wer-den.
Arbeitslosigkeit müssen wir im Dialog mit den Sozial-partnern verringern. Eine gute Ausbildung – ich denke,daß wir da nach wie vor übereinstimmen – lohnt sich.Sie lohnt sich für die Jugendlichen, und sie lohnt sicherst recht für die Unternehmen.
Investitionen in Ausbildung sind Investitionen in dieZukunft des Unternehmens.Deshalb haben wir im „Bündnis für Arbeit, Ausbil-dung und Wettbewerbsfähigkeit“, das wir ins Lebengerufen haben, mit den Sozialpartnern die Fragen erör-tert: Wie können wir mehr Betriebe für Ausbildunggewinnen? Wie können wir Betriebe dazu bringen, überihren Bedarf hinaus auszubilden? Denn wir wissen, daßwir gemeinsam mit den Sozialpartnern, mit Wirtschaftund Gewerkschaften, die Ausbildungs- und Beschäfti-gungschancen von Menschen, gerade von Jugendlichen,langfristig sichern müssen, damit wir von dem jähr-lichen Krisenhandeln wegkommen. Wir brauchen lang-fristig tragfähige Verabredungen.
Das gilt – lassen Sie mich das noch deutlich sagen –insbesondere für Menschen mit schlechteren Start-chancen.Wir haben im Bündnis inzwischen erste Erfolge er-zielt. Wirtschaft und Gewerkschaften wollen zusätzlicheAnstrengungen unternehmen, um ab 1999 ein ausrei-chendes Ausbildungsplatzangebot sicherzustellen. Dasgeht von Vereinbarungen zur Steigerung des Angebotesin möglichst vielen Tarifverträgen bis hin zu einer ge-meinsamen Lehrstellenkampagne zur Schaffung zusätz-licher Ausbildungsplätze und nicht zuletzt – das ist ganzwichtig – zur Gewinnung neuer Ausbildungsbetriebe.Bundesministerin Edelgard Bulmahn
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4198 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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Aber auch der Bund selbst nimmt seine Verpflichtungals Arbeitgeber ernst. Die Bundesverwaltung wird 1999ihr Ausbildungsplatzangbot um über 4 Prozent steigern.Auch das ist in der jetzigen Situation notwendig undrichtig.
Frau Bundesmini-
sterin Bulmahn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst Hinsken?
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Selbstverständlich.
Frau Minister, waswürden Sie den Betrieben empfehlen, die händeringendversuchen, Auszubildende zu finden, aber keine an Landziehen können? Ich möchte nur darauf verweisen, daßzum Beispiel in meiner ostbayerischen Heimat auf100 Nachfrager 368 Ausbildungsplätze kommen. Dagibt es also eine große Diskrepanz. Ich sorge mich vorallen Dingen um die Unternehmer, die ausbilden wollen,aber leider keinen Auszubildenden bekommen. Was tunSie dagegen?Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung: Herr Hinsken, es besteht eine regionalsehr unterschiedliche Situation. Das ist ein Teil des Pro-blemes. Das gab es schon immer. Das ist auch heute so.Ich weiß, daß es Betriebe gibt, die keinen Auszubil-denden bzw. keine Auszubildende finden. Wir haben inden Gesprächen mit den Sozialpartnern überlegt, wiewir dieses regional unausgewogene Verhältnis verän-dern können. Es gibt Jugendliche, die durchaus bereitsind, mobil zu sein. Aber wir müssen erreichen, daß wirauch Jugendlichen in denjenigen Regionen, in denen esviel zuwenig Ausbildungsplätze gibt, Ausbildungsplätzeanbieten können. Denn Sie stimmen sicherlich mit mirüberein, daß es zum Beispiel für einen 16jährigen jun-gen Mann oder eine 16jährige junge Frau nicht in jedemFall zumutbar ist, nach München oder in Ihre nieder-bayerische Heimat zu ziehen, wenn dort kein Lehrlings-heim bzw. keine praktische Betreuung vorhanden ist.Wir werden also sicherlich nicht alle Probleme lösenkönnen.Aber wir gemeinsam müssen schon erreichen, daßinsgesamt ein ausreichendes Ausbildungsplatzangebotbesteht. Aus den Debatten, die wir hier im Bundestagbisher miteinander geführt haben, weiß ich, daß Sie mitmir übereinstimmen, daß dies unser gemeinsames Zielsein muß.Die Erfahrungen mit dem Sofortprogramm habenzum Beispiel gezeigt, daß Jugendliche nach einer gutenBeratung durchaus bereit sind, ihren ursprünglichen Be-rufswunsch zu verändern. Deshalb halte ich es nach wievor für richtig, den Weg so weiterzugehen, daß denjeni-gen Jugendlichen, die keinen Ausbildungsplatz gefun-den haben, durch eine gute Beratung und Informationund auch durch Trainingsmaßnahmen eine Perspektiveeröffnet wird, so daß sie selber einen Ausbildungsplatzfinden und nach Möglichkeit diejenigen Betriebe, diejetzt keinen Auszubildenden finden, dann einen Jugend-lichen bzw. eine Jugendliche finden, der bzw. die denangebotenen Ausbildungsplatz dann auch wahrnimmtund damit eine berufliche Perspektive gewinnt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben guteChancen, in den alten Ländern das Ausbildungsplatz-problem zu lösen. Die Hauptprobleme liegen zur Zeit inden neuen Bundesländern. Das hat konjunkturelle, aberauch strukturelle Gründe. Es fehlen immer noch gesundeund stabile Betriebsstrukturen in den neuen Bundeslän-dern. Das ist leider das Hauptproblem. Sie aber sindGrundlage für ein ausreichendes Arbeitsplatz- und Aus-bildungsplatzangebot. Deshalb werden wir in den neuenBundesländern in den kommenden Jahren noch mitstaatlichen Programmen helfen müssen. Ich denke, dar-an geht kein Weg vorbei. Das müssen wir akzeptieren.Wir werden daher im Rahmen des „Ausbildungs-platzprogramms Ost“ 17 500 zusätzliche Ausbildungs-plätze für noch unvermittelte Jugendliche fördern. Dabesteht eine Absprache mit den Ländern. Wir haben dieZahl erhöht, weil wir wissen, daß der Bedarf gestiegenist, und weil wir nicht wollen, daß in den neuen Bun-desländern Jugendliche ohne Ausbildung bleiben.Wir haben parallel dazu in den neuen Bundesländerndas Programm für Ausbildungsplatzentwickler bisEnde 2001 verlängert und weiter ausgebaut. Die Hand-werkskammern sowie die Industrie- und Handelskam-mern in den neuen Bundesländern haben gerade gesterngesagt, daß dies ein außerordentlich erfolgreiches Pro-gramm ist, mit dem sehr viele Betriebe für die Ausbil-dung gewonnen worden sind. Deshalb ist dies ein richti-ger Ansatz. Wir haben in diesem Jahr die Zahl der Aus-bildungsplatzentwickler von 160 auf 200 erhöht.
In der Arbeitsgruppe Aus- und Weiterbildung desBündnisses für Arbeit werden wir nach der Sommer-pause darüber beraten, wie wir die verschiedenen Pro-gramme, die es auf Bundes- und Länderebene gibt, nochbesser aufeinander abstimmen und wie wir die Mittelinsgesamt noch effektiver einsetzen können. Denn esgibt nicht nur Bundes- und Länderprogramme, sondernauch eine Reihe weiterer Programme, die wir noch bes-ser aufeinander abstimmen müssen.Meine Herren und Damen, über die nach Regierungs-antritt eingeleiteten Sofortmaßnahmen werden zahlrei-che, zusätzliche betriebliche und außerbetriebliche Aus-bildungsplätze mobilisiert. Außerdem hat die Wirtschaftzugesagt, daß das betriebliche Ausbildungsplatzangebotauch in diesem Jahr über den demographischen Zu-wachsbedarf hinaus erhöht werden soll.
In der Kanzlerrunde am 6. Juli dieses Jahres geht es dar-um, dies zu konkretisieren.Bundesministerin Edelgard Bulmahn
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Zur mittelfristigen Sicherung eines ausreichendenbetrieblichen Ausbildungsplatzangebots aber brauchenwir noch weitergehende strukturelle Reformen. Wir er-arbeiten zur Zeit gemeinsam mit den Sozialpartnern undden Ländern im Rahmen des Bündnisses für Arbeit kon-sensfähige Entwicklungskonzepte.Dabei haben die folgenden Handlungsfelder Priorität:Erstens: Verstärkung der Aktivitäten zur Früherken-nung des Qualifikationsbedarfes. Wir müssen noch bes-ser und noch schneller neue Berufe in wachsenden Be-schäftigungsfeldern erschließen. Dafür brauchen wir ei-ne systematische Weiterentwicklung der beruflichenBildung und vor allem eine systematische Weiterent-wicklung des Informationssystems, um diesen Bedarffrühzeitig zu erkennen. Nur so können wir recht schnelldie notwendigen und richtigen Entscheidungen treffen.Wir haben uns weiterhin darauf verständigt, die sy-stematische Analyse neuer Beschäftigungsfelder und derdazugehörigen Qualifikationsprofile zu intensivieren.Wir müssen eben schon heute für die Berufe von mor-gen ausbilden. Ein Schwerpunkt wird sein, zu analysie-ren, welche neuen Beschäftigungsfelder sich im Dienst-leistungsbereich bilden, da ein sehr großes Ungleichge-wicht zwischen der Zahl der Auszubildenden und derZahl der anschließenden Beschäftigungsverhältnisse be-steht. Im Anschluß an die Ausbildung gibt es zwar guteBeschäftigungsmöglichkeiten, es gibt aber noch nicht inausreichendem Maße Berufsbilder für die Ausbildungim Dienstleistungsbereich.Ein zweiter großer Komplex ist die rasche Moderni-sierung, Differenzierung und Flexibilisierung der Aus-bildungsberufe. Moderne und neue Ausbildungsberufesichern Arbeitsplätze und schaffen Ausbildungsmög-lichkeiten vor allem in Betrieben, die bisher noch nichtausbilden; und diese Betriebe müssen wir gewinnen.
Wir werden zum 1. August 26 modernisierte Ausbil-dungsordnungen in Kraft treten lassen und drei neue Be-rufsfelder einführen. Eine ganze Reihe weiterer Ausbil-dungsordnungen werden zur Zeit überarbeitet. Wir wer-den sie so rasch wie möglich zur Anwendung bringen.Bei den neuen und modernisierten Ausbildungsberufenstreben wir noch mehr Flexibilität, Differenzierung undPraxisnähe an, weil wir wissen, daß wir dadurch mehrBetriebe für die Ausbildung gewinnen können. Die Be-triebe sollen die Möglichkeit erhalten, die Ausbildungsin-halte auf ihre spezifischen Bedürfnisse hin zu variieren.Ausbildungsberufe müssen nach unserer Auffassungvon den Anforderungen des Beschäftigungssystems herdefiniert werden und zur vollen Berufsbefähigung füh-ren. Letzteres ist für mich ein ganz wichtiges Ziel. Ichwill, daß die Jugendlichen im Anschluß an die Berufs-ausbildung auch wirklich einen Arbeitsplatz erhalten; siesollen nicht in die Arbeitslosigkeit gehen.
Der dritte große Komplex ist die Förderung von Ju-gendlichen mit schlechteren Startchancen und die Sen-kung des Anteils von Jugendlichen ohne Berufsab-schluß. Gerade für diese Jugendlichen müssen wir dieAusbildungschancen deutlich verbessern. Wir habendeshalb im Bündnis ein Konzept für die berufliche För-derung benachteiligter Jugendlicher beraten und erst-mals gemeinsame Leitlinien und Umsetzungsschritteverabredet.Dazu gehören neben der Schaffung weiterer betriebli-cher Ausbildungsmöglichkeiten Maßnahmen zur Moti-vierung, besseren Berufsvorbereitung, Ausbildung undNachqualifizierung. Auch benachteiligte Jugendlichemüssen in vollwertigen Ausbildungsberufen ausgebildetwerden und entsprechende Weiterbildungsoptionen er-halten.
Um dies zu erreichen, müssen wir das volle Gestal-tungspotential des Berufsbildungsgesetzes und derHandwerksordnung nutzen.Es kann also nicht darum gehen, teilqualifizierendeAusbildungsgänge unterhalb der Facharbeiterebene, so-genannte Einfachberufe, zu schaffen, wie es jetzt in demAntrag der Opposition vorgeschlagen wird. Es geht dar-um, für Jugendliche mit unterschiedlichen Leistungsvor-aussetzungen ein breites Berufsspektrum zu schaffen.Ziel ist eine volle Berufsbefähigung, damit – ich habedies schon angesprochen – diese Jugendlichen anschlie-ßend einen Arbeitsplatz finden. Deshalb müssen wir da-für Sorge tragen, keine Ausbildungsgänge zu entwik-keln, die in die Arbeitslosigkeit führen. Ich hoffe, daßwir uns in diesem Punkt einig sind.
Eine unserer wichtigsten Aufgaben ist es, den Über-gang von der Schule in die Ausbildung zu verbessern.Hierauf müssen unsere Jugendlichen vorbereitet sein.Das gilt im übrigen auch für die zweite Schwelle, denÜbergang von der Ausbildung in die Beschäftigung.Wir müssen uns besonders um lernschwächere Ju-gendliche und Jugendliche mit Motivationsproblemenkümmern. Dieses Problem haben wir im Bündnis aktivin Angriff genommen. Wir werden im Bündnis auch denDialog zum Thema Ausbildungsreife mit den Ländernfortsetzen. Unser Ziel ist es, neue Kooperationskonzeptezwischen Schule und Wirtschaft zu entwickeln und denÜbergang von der Schule in die Wirtschaft zu erleich-tern und zu verbessern.Meine sehr geehrten Herren und Damen, der Berufs-bildungsbericht 1999 beschreibt die Ausgangslage, diewir vorgefunden haben. Er zeigt zugleich unsere erstenSchritte zur Sicherstellung eines ausreichenden Ausbil-dungsplatzangebots und zur Modernisierung der berufli-chen Bildung. Das duale Ausbildungssystem muß durcheine flexiblere Gestaltung von Ausbildung, Ausbil-dungsordnung und Ausbildungsinhalten weiterentwik-kelt werden. Wir brauchen mehr Betriebsnähe, mehr Ef-fizienz und mehr Qualität in der beruflichen Ausbildung.Bundesministerin Edelgard Bulmahn
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4200 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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Ein modernes Berufskonzept muß Fachkenntnisse mitSchlüsselqualifikationen und volle Berufsfähigkeit miteinem breiten Zugang zum Arbeitsmarkt verbinden. Einsolches umfassendes Konzept für die Reform der be-ruflichen Aus- und Weiterbildung erarbeiten wir zurZeit im Konsens mit den Sozialpartnern. Wir haben mitdem Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslo-sigkeit schnell gehandelt. Vor allem werden wir in denkommenden Jahren den Schulabgängern eine Perspekti-ve geben, und wir werden mit diesem Sofortprogrammauch im kommenden Jahr dafür Sorge tragen, daß dieDauer der Warteschleife, die es gibt, deutlich verringertwird, so daß Jugendliche eben nicht noch längere Zeitwarten müssen.
Frau Minister Bul-
mahn, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Lenke?
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Ja.
Frau Ministerin, Sie sprachen
eben von einer besseren Verknüpfung von Schule und
Berufsausbildung. Ich frage Sie, welche Initiativen Sie
ergriffen haben, um die Länder aufzufordern, für die
Schüler erst einmal eine bessere Schulausbildung zu
organisieren. Denn Sie wissen ganz genau, daß es da
hapert und sich die Betriebe darüber beklagen, daß
Deutschkenntnisse und Mathematikkenntnisse manches
Mal unzureichend sind. Wir wissen alle, daß die Länder
zuwenig Geld in diesen Bereich der Bildungspolitik
stecken. Welche Initiativen haben Sie also gestartet?
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Ich habe mehrere Initiativen gestartet.
Es werden zum einen mit Unterstützung des BMBF
Modellversuche durchgeführt, mit denen wir Methoden
einer besseren Kooperation zwischen Unternehmen und
Schule ausprobieren wollen. Wir wollen herauszufinden
versuchen, was eigentlich der bessere Weg ist. Zum an-
deren habe ich die Länder in die Beratungen der Ar-
beitsgruppe Ausbildung und Weiterqualifizierung in das
Bündnis für Arbeit mit einbezogen, weil ich davon über-
zeugt bin, daß wir die Verbesserung zusammen mit den
Ländern gestalten müssen. Deshalb halte ich es auch für
richtig, daß sie – im Gegensatz zum Verfahren in den
anderen Arbeitsgruppen – hier mitwirken. Wir haben im
Bündnis für Arbeit gemeinsam mit den Ländern, den
Unternehmen und den Schulen verabredet, daß wir über
Länderprogramme Modellversuche der Kooperation
durchführen. Die Länder werden die Erfahrungen, die
sie mit diesen Modellen gemacht haben, auswerten und
austauschen.
Ebenfalls habe ich initiiert, daß wir mit den Ländern
gemeinsam ein Forum für Bildung einrichten wollen,
das heißt, Bundesregierung und Bundesländer. Das ist
das erste Mal seit vielen, vielen Jahren, daß wir gemein-
sam in einer Arbeitsgruppe mit Experten aus Wirtschaft,
aus Gewerkschaften, aus Kirchen, aber vor allen Dingen
auch mit den Jugendlichen selber miteinander beraten,
Fragen erörtern und auch Vorschläge erarbeiten, wie wir
insgesamt Bildung und Ausbildung verbessern können.
Ich denke, das ist der richtige Weg, daß man es nämlich
in Kooperation mit den Ländern und mit den Sozialpart-
nern macht. Wir können zwar allein entsprechende Be-
schlüsse fassen. Aber wenn wir bei der Umsetzung er-
folgreich sein wollen, müssen wir es mit diesen drei
Partnern gemeinsam hinbekommen.
Gestatten Sie eine
zweite Frage?
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Ja.
Frau Ministerin, Sie haben alsodie Länder aufgefordert, mehr in die Bildungspolitik,sprich: mehr in die Schulausbildung, zu investieren.Denn Sie wissen, daß überall Unterrichtsausfälle zu ver-zeichnen sind. Ich frage Sie: Haben Sie das gemacht?Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung: Wir haben im Bündnis für Arbeit, wieich das eben dargestellt habe, mit den Ländern gemein-sam erörtert – wir haben auch entsprechende Modelleentwickelt –, wie wir erreichen können, daß vor allenDingen die Jugendlichen auf der Hauptschule eine bes-sere Kenntnis von der Arbeitswelt haben, wie wir errei-chen können, daß die Betriebe selber stärker in dieSchule hineingehen und daß Jugendliche in Betriebenarbeiten können, und wie wir erreichen können, Bildungund berufliche Tätigkeit miteinander zu kombinieren.Denn wir wissen, daß das gerade für diese Gruppe vonJugendlichen ein erfolgversprechender Ansatz ist. Dasmachen die Länder mit.
Das ist – das sage ich ganz offen – ein Erfolg im Ver-gleich zu der Politik der vergangenen Jahre. Denn dieKonfrontation und Schuldzuweisungen helfen nichtweiter. Vielmehr müssen wir solche gemeinsamen Pro-jekte auf den Weg bringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen den jun-gen Menschen Chancen und Perspektiven geben. Wirhaben in diesem Haus in der letzten Woche eine Debattedarüber geführt, daß wir Perspektiven dadurch aufzeigenmüssen, daß wir auf der einen Seite sparen – wir habenein Sparpaket verabschiedet –, daß wir aber auf der an-deren Seite Investitionen an den richtigen Stellen täti-gen.
Bundesministerin Edelgard Bulmahn
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4201
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Das haben wir gemacht. Wir haben nicht nach Rasen-mähermethode gespart, sondern Prioritäten gesetzt. DieZukunftsinvestitionen in Forschung, Bildung und Wis-senschaft werden Jahr für Jahr erhöht,
und wir werden das Sofortprogramm zur Bekämpfungder Jugendarbeitslosigkeit fortsetzen. Wir werden unse-rer Jugend mehr Ausbildung bieten und weniger Schul-den zumuten. Dafür lohnt es sich zu arbeiten.Vielen Dank.
Ich komme zum
Tagesordnungspunkt 3 zurück. Ich gebe das von den
Schriftführern ermittelte Ergebnis der Wahl eines Mit-
glieds des Parlamentarischen Kontrollgremiums be-
kannt. Mitgliederzahl: 669. Abgegebene Stimmen: 594.
Ungültige Stimmen: 6. Mit Ja haben gestimmt: 349 Ab-
geordnete. Mit Nein haben gestimmt: 227 Abgeordnete.
Enthaltungen: 12.*)
Der Abgeordnete Hans-Christian Ströbele hat die
nach § 4 Abs. 4 des Gesetzes über die Parlamentarische
Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes
erforderliche Mehrheit von 335 Stimmen erreicht. Er ist
damit als Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgre-
miums gewählt.
Wir fahren in der Aussprache fort. Ich gebe das Wort
dem Kollegen Klaus Hofbauer von der CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Jahr
1999 werden rund 690 000 junge Menschen einen Aus-
bildungsplatz suchen. Das sind rund 40 000 mehr als im
vergangenen Jahr. Erhebliche Anstrengungen werden
notwendig sein, um dieser Nachfrage gerecht zu werden.
Ich möchte gleich zu Beginn feststellen: Das von der
Bundesregierung aufgelegte Sofortprogramm hat die
Erwartungen bei weitem nicht erfüllt und ist den Anfor-
derungen nicht gerecht geworden.
Das zentrale Thema unserer Gesellschaft ist, jungen
Menschen eine Lebensperspektive zu geben. Nach Be-
endigung der Schulzeit muß ihnen eine Ausbildung und
danach der Einstieg in das Berufsleben ermöglicht wer-
den. Auch und gerade heute ist eine Berufsausbildung
die beste Vorsorge gegen spätere Arbeitslosigkeit.
Die Grundlagen für eine gute Ausbildung werden be-
reits im Elternhaus gelegt. Darüber hinaus ist eine enge
–––––––––
*) Verzeichnis der Namen der Abgeordneten, die an der Wahl teilge-nommen haben, siehe Anlage 2
Kooperation zwischen Wirtschaft und Schule dringend
notwendig. Nur mit einer zukunftsorientierten Ausbil-
dung und Qualifizierung hat der Wirtschaftsstandort
Deutschland eine Chance.
Bildung und – dies möchte ich ganz bewußt hinzu-
fügen – Erziehung sind wesentliche Faktoren, um Inno-
vation und Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und
damit Wohlstand und berufliche Existenz eines jeden
einzelnen zu sichern.
Das deutsche Bildungssystem muß zur Erfüllung die-
ser Voraussetzungen schlanker, effizienter und interna-
tionaler werden.
Wenn wir über die Ausbildungssituation in Deutschland
sprechen, dann sollten wir auch einige positive Beispiele
herausstellen und vielleicht auch einmal Dank abstatten.
Wir danken der deutschen Wirtschaft, die mit steigender
Tendenz Ausbildungsplätze zur Verfügung stellt. Dabei
können wir feststellen, daß der Mittelstand die ent-
scheidende Vorreiterrolle spielt.
In diesen Dank einschließen möchte ich unsere Ar-
beitsverwaltungen, die erhebliche Anstrengungen unter-
nehmen, um jungen Menschen eine Ausbildungsstelle zu
vermitteln. Ich danke aber auch den Lehrerinnen und
Lehrern an den Haupt- und Realschulen, die den Ju-
gendlichen mit viel Idealismus beistehen.
Herr Kollege Hof-
bauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Ich möchte gerne eine Fra-
ge zu dem von Ihnen eben Geäußerten stellen: Können
Sie die zunehmende Ausbildungsbereitschaft der Indu-
strie, vor allem der Großindustrie, mit Zahlen belegen?
Ich kann es nicht ge-
nerell mit Zahlen belegen. Aber ich habe heute einer
Pressemitteilung des bayerischen Handwerks entnom-
men, daß wir in Bayern eine Jugendarbeitslosigkeit von
4,8 Prozent haben. Wenn man weiß, daß die Struktur
hier mittelständisch ist, sieht man auch, daß der Mittel-
stand eine entscheidende Rolle gespielt hat.
Gestatten Sie eine
weitere Zwischenfrage der Abgeordneten Böttcher?
Selbstverständlich.
Bundesministerin Edelgard Bulmahn
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4202 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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Ja, ich will alles genau wis-
sen.
Das war nicht meine Frage. Das Handwerk und die
kleinen und mittelständischen Betriebe stehen überhaupt
nicht zur Diskussion. Sie leisten in Gesamtdeutschland
Hervorragendes.
Sie haben aber gesagt, in Deutschland habe sich die
Industrie besonders hervorgetan, Ausbildungszuwächse
zu sichern. Ich möchte noch einmal nachfragen, woher
diese kommen.
Ich habe nicht vonder Industrie gesprochen, sondern von der Wirtschaft,insbesondere vom Mittelstand.
Zu dieser Aussage stehe ich, weil sie mit Zahlen belegtwerden kann.Ich möchte einmal den jungen Menschen selbst dan-ken. Wir sprechen immer von den jungen Menschen, diekeinen Ausbildungsplatz haben. Ich möchte aber insbe-sondere von den jungen Menschen sprechen, die sichmit viel Idealismus, mit Fleiß und Einsatzbereitschaftihren Ausbildungsplatz selbst gesucht haben. 90 bis95 Prozent unserer jungen Leute sind motiviert undbereit, zukunftsorientiert tätig zu werden.
Ernst Hinsken hat bereits die Ausbildungssituationin Bayern angesprochen. Ich bin in seinem Nachbar-wahlkreis Schwandorf/Cham tätig. In diesem Wahlkreisgibt es genauso viele Ausbildungsplätze, die von derWirtschaft angeboten werden, wie Auszubildende amMarkt – wenn ich es so banal ausdrücken darf – vorhan-den sind. Unsere Region ist mittelständisch geprägt. Dasbelegt meine eingangs gemachte Aussage.Die positive Ausgangslage kommt nicht von unge-fähr. Günstige politische Rahmenbedingungen sind beiuns in Bayern möglich. Ich möchte ein Beispiel nennen,das bei uns in Bayern praktiziert wird. Ich war über15 Jahre hinweg Projektleiter. Wir haben Eltern, Schu-len, Gewerkschaft, Ausbildungsbetriebe und die Wirt-schaft an einen Tisch zusammengeholt. Die Wirtschaftbestätigt uns, daß wir keine Ausbildungsprobleme ha-ben.
Ganz anders ist die Situation auf Bundesebene. DieSituation hat sich durch die neue Bundesregierung nochverschlechtert. Die rotgrüne Bundesregierung hat zwarversprochen, Hemmnisse abzubauen, in Wirklichkeitbelastet sie jedoch die Wirtschaft immer mehr. DieStichworte sind: Steuerreform, 630-DM-Gesetz undScheinselbständigkeit. Diese negativen Fakten werdensich auf Dauer auch negativ auf die Arbeitsplätze undinsbesondere auf die Ausbildungsplätze auswirken.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Sofort-programm der Bundesregierung für 100 000 Ausbil-dungs- und Arbeitsplätze hat nicht das gehalten, wasversprochen wurde. Im letzten Herbst wurde recht voll-mundig angekündigt, daß 100 000 Jugendliche miteinem Sofortprogramm schnell in Ausbildung undBeschäftigung gebracht werden sollen. Nach wenigenMonaten müssen wir feststellen, daß die Ankündigungenbei weitem nicht erfüllt wurden.Ganz offensichtlich haben nur wenige Jugendlicheeinen festen Ausbildungsplatz und vor allen Dingen eineArbeitsstelle im ersten Arbeitsmarkt erhalten. Über50 000 sind in sogenannten Trainingsprogrammen un-tergebracht worden, die nach einem Vierteljahr beendetsind, und dann stehen die Jugendlichen wieder auf derStraße.Wir treffen deshalb folgende Feststellung: Mit vielGeld wurde bei diesem Programm viel zu wenig er-reicht.
Wir lehnen eine Ausbildungsplatzumlage ausgrundsätzlichen Erwägungen ab. Ausbildungsplätzekönnen nicht verordnet werden. Mit Zwang, Dirigismusund bürokratischer Gängelung kann nichts erreicht wer-den. Es bedarf im Gegenteil ständiger Bemühungenvieler Seiten: der Wirtschaft, der Schulen und derBerufsberatung. Unabdingbar sind gute politische Rah-menbedingungen.Damit ist auch unsere Haltung zu dem heute ebenfallszu diskutierenden PDS-Antrag umschrieben. DieseUmlage würde mehr Bürokratie und höhere Kosten fürdie Betriebe bedeuten, aber voraussichtlich wenigerAusbildungsplätze wegen des dann zu erwartendenFreikaufs der Unternehmen von der Ausbildungspflichtbringen.
Wir bekennen uns grundsätzlich – das möchte ichbetonen – zur dualen Ausbildung. Gewisse ergänzendeMaßnahmen sind notwendig, um insbesondere den klei-nen Handwerksbetrieben eine Chance zu geben.In diesem Sinne, meine sehr geehrten Damen undHerren, meine Schlußfeststellung: Mit dem Antrag unse-rer Fraktion, der CDU/CSU, wollen wir neue Impulsefür eine bessere Ausbildungssituation geben. Wir wollenjungen Menschen eine sichere Zukunft geben. Wir sinduns dabei bewußt, daß die Politik alleine dieses Anlie-gen nicht lösen kann. Viele gemeinsame Initiativen aufallen Ebenen sind notwendig. Unser Antrag enthältpraktische Anregungen, die jedenfalls zum Teil ohnegroßen finanziellen Aufwand umzusetzen sind.In diesem Sinne bitte ich, unserem Antrag endgültigzuzustimmen.Herzlichen Dank.
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Das war die erste
Rede des Kollegen Hofbauer. Ich möchte Ihnen dazu im
Namen des Hauses gratulieren.
Ich gebe nunmehr das Wort der Kollegin Antje Her-
menau vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn mandem Kollegen Hofbauer hier so zuhört, müßte man mei-nen – bei dem vielen Lob für die jungen Leute und für dieUnternehmen, die sich alle anstrengen –, daß dieCDU/CSU JUMP gemacht hätte. Hat sie aber nicht. Erhat dann auch ein bißchen Kritik hineingestreut, damit dasja nicht als Verdacht aufkommt und gemeint, die Erwar-tungen wären nicht erfüllt worden. Tja, Herr Hofbauer,wessen Erwartungen denn? Meinen Sie, Ihre Erwartungensind nicht erfüllt worden? Oder meinen Sie, die Erwar-tungen der jungen Leute sind nicht erfüllt worden?
Ich kann verstehen, daß nach mehreren Jahren einerwirklich schlechten Versorgung mit Lehrstellen die jun-gen Leute natürlich sehr hohe Erwartungen haben, weilsie sagen, es muß ja endlich einmal besser werden. Esmag sein, daß JUMP vielleicht noch nicht jedemJugendlichen alle Erwartungen erfüllen konnte. Aberwenn Sie den Enthusiasmus zugrunde legen, mit demdie jungen Leute das JUMP-Programm angenommenhaben, weil sich endlich wieder einmal jemand um dieseLeute kümmert und fragt, wie es ihnen geht und was sieaus ihrem Leben so machen können,
dann, denke ich, ist es gar nicht schlimm, daß wir nochein bißchen hinter den Erwartungen der jungen Leutezurückgeblieben sind.Ihre Erwartungen halte ich für nicht so wichtig; dennwir haben jahrelang beobachten müssen, wie Sie voneinem Sofortprogramm zum nächsten gejumpt sind,ohne daß da der Enthusiasmus der jungen Leute irgend-wie gedeckt worden wäre.
Ich finde es sehr wichtig, daß wir in der Lage gewe-sen sind, den Zeitgewinn herauszuarbeiten, den wir ein-fach nötig hatten, um die Gespräche im Bündnis fürArbeit in aller Ruhe – auch zu diesem Themenbereich –zu führen. Wir werden in der nächsten Woche heraus-finden, was das Ergebnis dieser Gespräche ist. Ich per-sönlich bin da guten Mutes.Natürlich bin ich auch sehr froh darüber, daß wir imHerbst eine sehr vernünftige und, wie ich hoffe, auchsehr qualifizierte Debatte über den Maßnahmenkatalogaus dem diesjährigen JUMP-Programm führen werden.Es wird wichtig sein, daß wir uns mit den einzelnenMaßnahmen auseinandersetzen, ihre Wirksamkeit über-prüfen, das rausschmeißen, was nicht so sinnvoll ist, unddas verstärken, was sehr sinnvoll ist. Vielleicht werdenwir die Dinge auch neu zuordnen. Das muß man allessehen.Aber es wurden ja auch Experimente mit den Mög-lichkeiten dieses JUMP-Programms gemacht. Die Leutehaben Kreativität entwickelt. Industrie- und Handels-kammern haben sich zu regionalen Ausbildungskonfe-renzen zusammengesetzt. Sie haben überlegt, wie manzum Beispiel aus einer vierteljährlichen Qualifizie-rungsmaßnahme, die Sie in Ihrer Rede so herabgewür-digt haben, etwas machen kann, damit ein jungerMensch, der schon eine Berufsausbildung hat, für dieBedürfnisse in seiner Region zusätzlich qualifiziert wer-den kann, um dort vermittelbar zu werden.
Das sind sehr sinnvolle Experimente, die erst durchdiesen Katalog überhaupt möglich wurden, weil man einbißchen mit den verschiedenen Möglichkeiten spielenkonnte. Man hatte endlich die Möglichkeit, auf die indi-viduelle Situation von jedem einzelnen jungen Men-schen einzugehen. Ich halte das für einen großen Fort-schritt in der ganzen Debatte über die Lehrstellensitua-tion.
Was ich hingegen nicht verstehen kann, ist, wie danneinzelne Bundesländer komischerweise auf die Ideekommen, solche Maßnahmen zu konterkarieren oder so-gar zu boykottieren. So ist es zum Beispiel in Sachsenneuerdings Usus, nach vielen Jahren einer sehr vernünf-tigen Auslegung der Richtlinie zur Berufsausbildung beiden Ausbildungsverbünden, diese jetzt enger auszule-gen, weil die Finanzen im Land Sachsen durch denFinanzminister knapp bemessen werden. Es ist demKultusminister nicht gelungen, sich durchzusetzen.Sie haben vorhin nach der Verantwortung der Ländergefragt. Es stellt sich heraus, es wird jetzt so eng ausge-legt, daß die Ausbildungsverbünde, die existieren undwirklich gut sind, wahrscheinlich daran scheitern wer-den, daß der Kreis nicht mehr finanziert. Damit kanndieser Verbund nicht mehr überregional funktionieren.Das halte ich für ein großes Problem.Sie versuchen immer, irgendwelche sozialdemokrati-schen und rotgrünen Landesregierungen in Verruf zubringen. In Sachsen kann das nicht der Fall sein. Das isteindeutig schwarz regiert.Dann haben Sie davon gesprochen, daß wir noch soviele Bewerber haben, die noch nicht versorgt sind. Ja,natürlich; wir alle kennen die Herbstzahlen und dieFrühjahrszahlen. Wir werden im nächsten Herbst nocheinmal über dieses Thema sprechen. Wir wissen, daß dieFrühjahrszahlen immer eine hohe Zahl unversorgterBewerber beinhalten, die bis zum 1. September nochLehrstellen finden werden.Trotzdem – da gebe ich Ihnen recht – werden wirwahrscheinlich mit mindestens 10 000 jungen Leuten
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4204 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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rechnen müssen, die keine Ausbildungsstelle finden, sodaß noch nicht einmal ein rechnerischer Ausgleich zuerreichen sein wird. Also werden wir uns noch etwaseinfallen lassen müssen. Aber nachdem Sie jahrelang indiesem Bereich politisch geschlampt haben, können Sienatürlich nicht erwarten, daß wir innerhalb eines Jahresalle strukturellen Probleme lösen, und das womöglichnoch neben aktuell auftretenden Nachfragespitzen.
Insgesamt wird deutlich – das ist eine Tendenz, diemich mit Sorge erfüllt –, daß es einen gewissen Ver-drängungsprozeß bei der Nachfrage von Lehrstellengibt. Er hat damit zu tun, daß der Lehrstellenmarkt sehreng bemessen ist. Wir haben eine steigende Anzahl vonjungen Leuten. Auch gibt es immer mehr sogenanntelatente Bewerber. Das sind diejenigen, die eigentlich gerneine Ausbildung machen würden, aber keine Ausbil-dungsstelle bekommen haben und inzwischen herumjob-ben. Da hat sich eine große Gruppe junger Leute gebildet– vielleicht bin ich bei diesem Problem als Ostdeutscheein bißchen empfindlicher, weil die Zahlen bei uns in denfünf neuen Ländern viel höher sind –, mit der wir unsnach meiner Einschätzung ein Problem an den Hals zie-hen, das wir in den Diskussionen im Herbst ebenfalls an-packen müssen. Wir können uns nicht darum herummo-geln, sondern müssen eine Lösung dafür finden, daß dieseLeute nachträglich die Möglichkeit bekommen, eineordentliche Berufsausbildung zu absolvieren.Ansonsten werden wir in den ostdeutschen Ländernmit dem Phänomen konfrontiert, daß bei uns die Anzahlder nichtqualifizierten Arbeitnehmer gewachsen ist,seitdem wir zur Bundesrepublik Deutschland gehören.Wir hatten früher einen viel niedrigeren Prozentsatz vonunqualifizierten Arbeitnehmern, als er im Altbundesge-biet üblich war. Dieser Prozentsatz steigt jetzt, und dasist unvernünftig. Ich hoffe, daß wir – vielleicht erst ein-mal nur im Osten als Testgelände – zu einer vernünfti-gen Lösung kommen, um diesen Berg von Altbewerbernund latenten Bewerbern abzubauen. Ich habe mit sehrviel Wohlwollen gehört, daß im Ministerium daranschon auf Hochtouren gearbeitet wird.Die meisten Menschen in Deutschland haben schonsehr wohl gespürt, daß man sich dieses Problems endlichernsthaft annimmt, viele verschiedene Wege probiert,um herauszufinden, welche am ehesten zum Ziel führen,und sich nicht mehr damit begnügt, so zu tun, als gebees kein Problem oder als könnte man das Problem, wennes denn doch eines gibt, aus Finanzgründen nicht lösen.Ich bin mit der Prioritätensetzung der Bundesregierungin diesem Bereich sehr zufrieden
und hoffe, daß wir im Herbst erfolgreich über die Qua-lität der einzelnen Maßnahmen weiter diskutieren kön-nen, die nötig sind, um Fortschritte zu erzielen.Schönen Dank.
Ich gebe der Kolle-
gin Cornelia Pieper für die F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Eine der größten sozialenHerausforderungen unserer Zeit ist es, jedem jungenMenschen mit einem Ausbildungsplatz eine Perspektivefür sein Leben zu geben.
Gleiche Chancen beim Start und eine moderne, qualifi-zierte Ausbildung heute ersparen uns soziale Problemevon morgen. Bundespräsident Roman Herzog sagte, diebeste Eintrittskarte für den Arbeitsmarkt sei eine guteAusbildung. Ich meine sogar, die jungen Menschen indiesem Lande haben einen Anspruch auf die beste Aus-bildung als Gegenleistung für eine später geringereRentenleistung.Aber entsprechen unser Schulsystem und die Ausbil-dung den modernen Anforderungen einer Wissens- undInformationsgesellschaft von morgen? Von betroffe-nen Eltern, Schülern und Experten hören wir ein klaresNein. Hier möchte ich Sie, Frau Bulmahn, auffordern,insbesondere in den SPD-regierten Ländern die Haus-aufgaben erst einmal selbst zu erledigen.
Das heißt für uns von der F.D.P., mehr Vielfalt und Dif-ferenzierung im Schulsystem zuzulassen, nicht aufGleichmacherei einer Einheitsschule zu setzen, Schulenbesser auszustatten und Unterrichtsausfall zu verhin-dern.
Meine liebe Kolleginnen und Kollegen, in Niedersach-sen beträgt der Unterrichtsausfall an den Berufsschulenfast 20 Prozent.
Damit ist Niedersachsen Spitzenreiter aller Bundeslän-der. Hier muß man unbedingt etwas tun. Aber hier sindSie in Ihren Landesregierungen selbst gefordert.
Dazu gehört auch, deutlich zu machen, daß wir Re-formen bei den Bildungsinhalten brauchen. Wirtschaftund Technik müssen verstärkt Einzug in den Unterrichtaller Schulformen halten.
Was die berufliche Ausbildung anbelangt, beklagt sichdie Wirtschaft zu Recht über die zurückgehende Ausbil-dungsreife zum einen und über die fehlende Praxisnäheder Ausbildung zum anderen. Allein 40 Prozent derAuszubildenden fallen nämlich bei den Kammerprüfun-gen durch. Lehrpläne sind überfrachtet. Wenn ein jungerMensch nach drei Jahren Installationslehre nicht einmalAntje Hermenau
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4205
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den Durchmesser berechnen kann, muß man die Qualitätdes Unterrichts in Frage stellen dürfen.
Eine Differenzierung in der beruflichen Bildung fin-det nicht statt. Es gibt weder berufsfachliche Zu-satzqualifikation für Begabte noch Förderunterrichtfür eher praktisch orientierte Auszubildende. Ich meine,daß bei praktisch orientierten Berufen ein Berufs-schultag künftig ausreicht. Bei theorieorientierten Be-rufsbildern ist mehr Flexibilität in Form der theoreti-schen Ausbildung im Block gefragt.
In den neuen IT-Berufen werden Fachkräfte gesucht,aber es mangelt an Ausbildungsplätzen. Auf diese Pro-bleme haben Sie, Frau Ministerin, in Ihrem Berufsbil-dungsbericht meines Erachtens keine ausreichendenAntworten gegeben.Die F.D.P.-Fraktion hält eine Reform der beruflichenAusbildung im Interesse der Chancen junger Menschenfür dringend geboten. Die duale Ausbildung zu stärken,indem wir sie reformieren, muß das eigentliche Zielsein. Die Reform des dualen Berufsbildungssystemsmuß umgehend in Angriff genommen werden. DieF.D.P. setzt sich schon lange für eine Modularisierungder beruflichen Ausbildung nach dem Muster einesBaukastensystems ein. Dabei haben wir leistungsstarkeund leistungsschwache junge Menschen gleichermaßenim Auge. Eine Modularisierung von Ausbildungsgängenmit berufsqualifizierenden Abschlüssen bietet gleichzei-tig die Möglichkeit, Berufsbilder auch auf jene zuzu-schneiden, die nicht durch ihre guten theoretischen Be-gabungen auffallen und eher praktische Fähigkeiten undFertigkeiten aufweisen.
Die jungen Menschen erhalten in einem solchen Sy-stem eine echte Chance für ihren Einstieg in den Beruf.Gerade das ist wichtig; denn die Zahl der Einfachar-beitsplätze sinkt Jahr für Jahr. Ungelernte haben immerweniger Chancen.
Unser Modell, liebe Kolleginnen und Kollegen von derSPD, ist nicht der Anfang einer Schmalspurausbildung.Grundberufe mit Spezialisierungsrichtungen, zwei- unddreijährige Ausbildungsgänge, einige Ergänzungslehr-gänge bzw. Anpassungslehrgänge sind der richtige An-satz. Ich füge hinzu: Die Schaffung einer modularenvierten Aufbaustufe in den Berufs- und Berufsfach-schulen soll künftig die Möglichkeit zu Fachhochschul-reife bzw. zum Fachabitur bieten.Wir brauchen dringend diese Reform. Ich sage esnoch einmal. Die Probleme sind mit dem Sofortpro-gramm der Bundesregierung alleine nicht gelöst, schongar nicht in Ostdeutschland. Wenn im Osten Deutsch-lands 70 Prozent der jungen Menschen außerbetrieblicheAusbildungsstätten besuchen, können wir davon ausge-hen, daß immer weniger von ihnen anschließend Chan-cen auf einen Arbeitsplatz haben werden.
Mit anderen Worten: Wir haben nicht nur ein Ausbil-dungsplatzproblem. Wir haben Dank dieser rotgrünenBundesregierung vor allem ein Arbeitsplatzproblem fürjunge Menschen in diesem Land.
Wenn bisher Dreiviertel aller Ausbildungsplätze imHandwerk und im Mittelstand entstanden sind, dann istes richtig, zu sagen: Die beste Ausbildungsplatzpolitikist eine ordentliche Mittelstandspolitik. Die Politik IhrerRegierung ist mittelstandsfeindlich und damit ausbil-dungsplatzgefährdend. Das muß an dieser Stelle aucheinmal gesagt werden.
Das, meine Damen und Herren von der rotgrünenRegierungskoalition, hat das Bündnis für Arbeit auchnicht verhindern können. Es hält vielleicht doch nichtdas, was Sie sich von ihm versprechen.Ich komme zum Schluß. Verehrte Frau Ministerin,ich bleibe dabei: Es gibt zwar im Moment keine Alter-native zum Sonderprogramm,
aber ich sage es deutlich: Ihnen fehlt jeglicher Mut fürReformen sowohl in der Steuer- und Wirtschaftspolitikals auch in der Bildungspolitik. Fassen Sie Mut! Wirsind reformfreudig genug. Wir werden Sie dabei unter-stützen.
Erledigen Sie Ihre Hausaufgaben, und wir kommen imInteresse der jungen Menschen ein gutes Stück voran.
Als nächste Redne-
rin spricht für die PDS die Kollegin Maritta Böttcher.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Frau Ministerin Bulmahn, obwohlich eine gewisse Hochachtung für Ihre Offenheit bezüg-lich dieses Problems habe, wie sie in Ihrer Rede zumAusdruck gekommen ist, bin ich nicht zufrieden. Auchwenn sich das Ausbildungsangebot dank vielfältigerFördermaßnahmen etwas stabilisiert hat, so verfestigtsich der Trend des Rückgangs betrieblicher Ausbil-dungsstellen insbesondere in den neuen Ländern. DiesCornelia Pieper
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4206 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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haben Sie auch so ausgeführt. Diese Tendenz setzt sichim aktuellen Vermittlungsjahr leider fort. Die „LausitzerRundschau“ vom 8. Juni 1999 titelt:Der Staat wird zum Ausbilder Nummer eins.Im Klartext: In Südbrandenburg erlangen in diesemJahr erstmals mehr Jugendliche einen Beruf in öffentlichfinanzierten Programmen als in Betrieben. Die als Not-lösung gedachten Sonderprogramme verfestigen sich zurDauereinrichtung. Das Angebot an betrieblichen Aus-bildungsplätzen geht weiter zurück. Die Cottbuser Be-rufsberater zum Beispiel rechnen mit nicht viel mehr als2 500 Lehrstellen, aber über 11 000 Ausbildungsanwär-tern.Ein weiterer Trend, der sich bereits im vergangenenJahr verstetigte, ist die Steigerung des Anteils von Alt-bewerbern sowie die Verdrängung der Hauptschulab-solventen durch Bewerber und Bewerberinnen mit mitt-leren Abschlüssen oder Hochschulreife.Die ersten Bilanzen des Sofortprogramms weisen indieselbe Richtung. Im Osten besaß mit 54 Prozent dasGros der Vermittelten einen mittleren oder höherenSchulabschluß. Darüber können nur Leute staunen, diedie verbreiteten Märchen von der dummen und faulenJugend tatsächlich geglaubt haben.Jetzt wird dagegen von regierungsamtlicher Stelleimmerhin bestätigt, daß die Jugend wirklich und wahr-haftig ein Problem hat und kein Problem ist. Es ist jaauch nicht mehr zu leugnen, wenn Hunderte von Anru-fen täglich eingehen und plötzlich Leute leibhaftig vorden Vermittlern stehen, die zwar in keiner Statistik mehrauftauchen, weil sie es irgendwann aufgegeben hatten,sich an der Nase herumführen zu lassen, aber nun trotz-dem noch einmal auf eine Chance hoffen. Schon alleindieser Effekt des Sofortprogramms darf auf keinen Fallunterschätzt werden.Aber in der Koalitionsvereinbarung hieß es, daß imMittelpunkt des Sofortprogramms die Vermittlung inbetriebliche Ausbildungs- und Arbeitsplätze steht. DieBilanz unter diesem Aspekt nimmt sich eher dürftig aus.Im Osten wurden bisher 25 Projekte mit 200 betrieb-lichen Stellen, im Westen 160 Maßnahmen mit 1 700Stellen gefördert.Dagegen nahmen zwischen 30 und 40 Prozent an so-genannten Trainingsmaßnahmen teil, die zwischen-zeitlich vielfach bereits wieder beendet worden sind.Sehr viel mehr als erwartet landeten die Jugendlichen inder außerbetrieblichen Ausbildung und sehr viel wenigerals erhofft in der betrieblichen.Das ist eigentlich kein Wunder, wenn man bedenkt,daß wir es hier mit nichts weiter als klassischer Ar-beitsmarktpolitik zu tun haben. Das Programm verstärktdie Angebote, die es schon immer gab, für eine be-stimmte Personengruppe. Das ist zwar mehr als früher;das sind aber auch gleichzeitig die Grenzen.Mit solchen Methoden können zwar Jugendliche vonder Straße geholt werden. Ausbildungs- und Arbeitsplät-ze entstehen so jedoch nicht. Es wird eine weitere Bug-welle – es gibt auch andere Begriffe dafür – aufgebaut.Betriebliche Angebote gehen weiter zurück.Das Grundproblem ist wieder um ein Jahr verschlepptund vertagt worden. Weitere Jahre werden vergehen, bisSofortprogramme analysiert, verstetigt oder abgebro-chen sind. Diejenigen, um die es hier und heute geht,sind dann nicht mehr 20, sondern vielleicht schon 30und wissen dann wohl selbst am besten, was mit Per-spektiven gemeint war. Die aktuelle Vermittlungsstati-stik weist – genau wie die erste Bilanz des Sofortpro-gramms und der Berufsbildungsbericht – in eine Rich-tung, die die Regierungsparteien schon einmal beschrit-ten hatten. Allerdings waren sie da noch in der Opposi-tion.Unser Gesetzentwurf zur Umlagefinanzierung liegtIhnen heute zur Abstimmung vor. Zur Erinnerung seienmir einige Zitate erlaubt. In der Begründung des Gesetz-entwurfs der SPD vom Oktober 1997 heißt es:Eine überbetriebliche Ergänzung der Finanzierungder betrieblichen Berufsausbildung durch eineAusbildungsplatzumlage ermöglicht ...– besser als durch staatliche Subventionierung dieBereitstellung eines qualitativ und quantitativausreichenden und strukturell bedarfsgerechtenAusbildungsplatzangebotes,
– eine Stärkung der betrieblichen Ausbildung ge-genüber außerbetrieblichen Angeboten,– den Ausgleich regionaler Unterschiede durchgezielten Einsatz der Mittel aus dem Aufkom-men der Ausbildungsplatzumlage,– eine gerechtere Verteilung der Ausbildungsko-sten zwischen den Betrieben und Verwaltungensowie die Vermeidung von Wettbewerbsverzer-rungen aufgrund unterschiedlicher Ausbil-dungsleistungen,– die Entlastung der öffentlichen Haushalte vonSubventionierungskosten durch Bereitstellungder Mittel seitens der Betriebe und Verwaltun-gen selbst sowie– einen ordnungspolitisch, finanzpolitisch undwirtschaftspolitisch gewollten Rückzug desStaates aus der Verantwortung für die finanzielleAbsicherung der bestehenden Ausbildungs-platzlücke.Es gab aber noch einen weiteren Gesetzentwurf imparlamentarischen Gang. Bei den Grünen hieß es:Durch dieses Gesetz soll erreicht werden,– daß alle Jugendlichen eine qualifizierte Ausbil-dung erhalten;– daß die Betriebe auch künftig ihren Bedarf anqualifizierten Angestellten und Facharbeiterin-nen und Facharbeitern decken können;– daß die Inhalte der Ausbildung den ökologi-schen, sozialen, wirtschaftlichen und techni-schen Anforderungen gerecht werden;– daß Betriebe, die nicht ausbilden, keine Wettbe-werbsvorteile erlangen.Maritta Böttcher
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4207
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Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
Ich weiß nicht, warum das alles heute plötzlich nichtmehr wahr sein soll,
wenn man in der Regierungskoalition die Möglichkeiterhält, praktische Veränderungen vorzunehmen können,zu denen weder Sofortprogramme – in welcher Dimen-sion auch immer – noch Bündnisgespräche jemals füh-ren werden.Frau Hermenau sprach in ihrem Beitrag von ver-schiedenen Wegen, die bei dieser komplizierten Materiezu gehen seien. Sehr richtig; auch ich sehe das so. Des-halb appelliere ich: Stimmen Sie unserem Gesetzentwurfzu und füllen Sie ihn aus, um in der Problemlösung end-lich ein gutes Stück voranzukommen!
Es sei mir gestattet anzumerken: Wenn es denn wirk-lich nicht funktioniert, dann kann man – das tun wir indiesem Hause ja sehr oft – das auch wieder ändern.Danke schön.
Zu einer Kurzinter-
vention gebe ich der Kollegin Antje Hermenau das
Wort.
Frau Kollegin Böttcher hat um Aufklärung gebeten,
warum wir zur Zeit keinen Gesetzentwurf zur Umlagefi-
nanzierung vorlegen. Das ist ganz einfach zu erläutern.
Wir haben schon immer gesagt – Sie wissen das auch;
wir haben das diskutiert –, daß wir diesen Gesetzentwurf
als Drohkeule benutzen wollen, falls sich keine Bewe-
gung in den Gesprächen herausstellt. Diese Bewegung
ist eingetreten; die Diskussionen verlaufen – soweit ich
das beurteilen kann – positiv. Vor diesem Hintergrund
wäre es albern, eine Woche vor dem Ende der Gesprä-
che zum „Bündnis für Arbeit“ einen Gesetzentwurf zu
diesem Thema zu verabschieden. Sie wissen das. Ich
halte das für einen eigentlich völlig unpolitischen Vor-
gang – es sei denn, es geht Ihnen wieder nur um den
Eigennutz Ihrer Partei.
Danke.
Nun hat für die
SPD-Fraktion der Kollege Ernst Küchler das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Der Berufsbildungsbericht 1999weist – trotz der insgesamt positiven Entwicklung, wasdie Zahl der Ausbildungsplätze angeht – auf das nachwie vor drängende Problem der Jugendarbeitslosigkeithin. Die Zahl der Ausbildungsverträge konnte 1998um 4,3 Prozent gesteigert werden. Das ist in erster Linieein Erfolg der Betriebe und Unternehmen, die mehrAusbildungsplätze angeboten haben, aber auch einer derWirtschaftsverbände, der Kammern und der Bundesan-stalt für Arbeit mit ihren intensiven Aktivitäten und In-itiativen.
Konsequenterweise ist damit auch die Zahl der nochnicht vermittelten Bewerber rückläufig, und zwar umüber 24 Prozent gegenüber 1997. Diese Zahlen belegen,daß es nicht nur gelungen ist, den demographischenTrend auszugleichen, sondern auch, die Zahl der Aus-bildungsplätze deutlich zu steigern. Der Berufsbildungs-bericht weist jedoch auch darauf hin, daß zum Abbauder Jugendarbeitslosigkeit und zu einem angemessenenAusbau der Ausbildungskapazitäten in den kommendenJahren gerade wegen der demographischen Entwicklungnoch erhebliche Anstrengungen unternommen werdenmüssen.
Das Problem der Jugendarbeitslosigkeit ist nicht nureine Frage des Auseinanderklaffens der wachsendenZahl von Jugendlichen, die eine Ausbildung suchen, undder damit nicht Schritt haltenden Zahl der Ausbildungs-plätze. Bei genauerer Betrachtung müssen wir feststel-len, daß die erforderlichen Ausbildungsvoraussetzungenviel zu häufig nicht gegeben sind. Deshalb muß eineStrategie zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeitimmer differenziert angelegt sein. Mit vollmundigenVersprechungen, wie wir sie von der Kohl-RegierungJahr für Jahr gehört haben, mit Appellen an die Betriebe,Ausbildungs- und Arbeitsplätze zur Verfügung zu stel-len, sowie mit Verdächtigungen und Schuldzuweisungenan die Jugendlichen, Ausbildungsbereitschaft, Mobilitätund Flexibilität vermissen zu lassen, konnte das Problemnicht gelöst werden.
Wer ausschließlich die wirtschaftlichen Rahmenbe-dingungen im Blick hat, aber die Rollen des Staates undder Gesellschaft vernachlässigt und die Bedingungen,unter denen Jugendliche und Kinder heute aufwachsen,ausblendet, kann nicht die richtigen Antworten geben.Es ist eine Binsenweisheit, daß letztlich nur die BetriebeAusbildungs- und Arbeitsplätze schaffen können. Den-noch kann sich der Staat nicht der Verantwortung ent-ziehen, jene Rahmenbedingungen zu schaffen, die dieChancen der Jugendlichen verbessern.
Die Untätigkeit der konservativen Regierung in denletzten Jahren, das Ausblenden der Jugendlichen, diehäufig nicht über die Voraussetzungen verfügen, eineAusbildung zu beginnen, und die Ignoranz gegenüberMaritta Böttcher
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dem Reformbedarf im Ausbildungssystem haben zu derSituation geführt, die wir heute beklagen.Uns unterscheidet nicht das Ziel, allen Jugendlicheneine Ausbildung zu ermöglichen, sondern die Bewertungdes sozialen und ökonomischen Bedingungsrahmens.Sie sprechen von Freiheit und individueller Verantwor-tung, nach dem modischen Möllemann-Slogan: Machaus dir, was in dir steckt. Sie diffamieren sowohl diepolitischen Anstrengungen wie das Sofortprogramm derBundesregierung zur Bekämpfung der Jugendarbeitslo-sigkeit als auch die Jugendlichen, denen es angeblich anAusbildungwillen und Ausbildungsbereitschaft fehlt.CDU/CSU und F.D.P. sprechen ungern von der öko-nomischen und sozialen Verantwortung der Wirtschaftund der Gesellschaft, weil sie in ihrer ideologischenVerblendung allein auf die Kräfte des Marktes setzen.
Die neue Bundesregierung hat nach ihrem Amtsantrittunmittelbar und – wie sich schon jetzt erkennen läßt –erfolgreich die ersten Schritte zur Bekämpfung derJugendarbeitslosigkeit unternommen. Das Sofortpro-gramm, das mit 2 Milliarden DM ausgestattet wurde, istein voller Erfolg.
Mit dem Sofortprogramm wollten wir 100 000 jungenFrauen und Männern unter 25 Jahren eine qualifizierteBerufsausbildung ermöglichen oder ihnen durch Quali-fizierung, Beschäftigung und Betreuung den Einstieg indas Berufsleben ermöglichen, ihnen also Brücken inAusbildung und Beruf bauen, vielen eine zweite Chanceeröffnen.
Die beeindruckende Vielfalt und Intensität des Pro-gramms, mit dem alle Instrumente der Förderung ausge-schöpft werden, macht den Erfolg aus, der schon heutemit eindrucksvollen Zahlen belegt werden kann. VonJanuar bis Mai 1999 sind insgesamt 141 792 Jugend-liche in das Programm einbezogen worden. Dieses Pro-gramm hat auch bereits auf den Arbeitsmarkt durchge-schlagen. So ist nach Angaben der Bundesanstalt fürArbeit die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen unter25 Jahren in den ersten fünf Monaten dieses Jahres dankdes Sofortprogramms um über 40 000 zurückgegangen.
Während im Mai 1998 noch 422 400 junge Menschenunter 25 Jahren arbeitslos gemeldet waren, sank dieseZahl im Mai 1999 auf 368 100. Das sind 13 Prozent we-niger als im Vorjahr.Das Programm ist deshalb so erfolgreich, weil es alsTeil aktiver Arbeitsmarktpolitik sowohl auf die Aktivie-rung des Ausbildungsmarktes als auch auf die Qualifi-zierung und Integration jener Jugendlichen setzt, die dieAusbildungsvoraussetzungen noch nicht erfüllen. Wennder CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Schäuble diesesProgramm als milliardenschweres Programm diffamiert,mit dem lediglich Jugendliche ohne Beschäftigung ru-higgestellt werden sollen, und wenn die F.D.P. in ihremsogenannten Neun-Punkte-Konzept zur Schaffung vonzusätzlichen Ausbildungsplätzen formuliert, das Pro-gramm erweise sich bei näherer Betrachtung als„Augenwischerei“ und schiebe „die Jugendlichen haupt-sächlich auf die lange Vorsorgebank“, dann muß ichfeststellen, daß dies nichts anderes als der untauglicheVersuch ist, den Erfolg dieses Programms kleinzureden.
Der Erfolg des Programms ist auf das gelungene Zu-sammenwirken der Arbeitsverwaltungen, der Betriebe,der Kammern und der Wirtschaftsverbände zurückzu-führen, die sich aktiv und engagiert in das Programmeingeklinkt haben.
An dieser Stelle möchte ich denjenigen danken, diesich engagiert für die Umsetzung dieses Programms ein-gesetzt haben. Die Jugendlichen haben all die Vorurteileder Opposition eindrucksvoll widerlegt, die sie bisher sogerne bemüht hat, um von ihrer Tatenlosigkeit abzulen-ken.
Angesichts der eindrucksvollen Zahlen, die den Er-folg des Sofortprogramms belegen, wirkt es geradezuabsurd, wenn der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Wolf-gang Schäuble in seiner Rede am 24. Februar dieses Jah-res formuliert hat:Das 2-Milliarden-Sofortprogramm für Ausbil-dungsplätze führt nach Auskunft der Arbeitsämterüberwiegend dazu, daß Geld in Hülle und Füllevorhanden ist, ausbildungswillige und -fähige jungeMenschen aber eher Mangelware sind.Abgesehen davon, daß der Satz in sich nicht geradeschlüssig ist, möchte uns Herr Schäuble wohl glaubenmachen, daß die überwiegende Zahl der arbeitslosenJugendlichen weder ausbildungswillig noch ausbil-dungsfähig ist. Das paßt in das fahrlässige Gerede vonder mangelnden Leistungsbereitschaft der Jugend-lichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie michnoch einen anderen Aspekt ansprechen, der bei der Su-che nach den Gründen für die Jugendarbeitslosigkeit oftvernachlässigt wird: Es handelt sich um die sozialenVerwerfungen, die Sie maßgeblich mit zu verantwortenhaben. Sie sind immer öfter die Ursache dafür, daßJugendliche die Voraussetzungen nicht erfüllen, eineAusbildung aufzunehmen. Das Scheitern vieler Jugend-licher in der Schule und an der Schwelle von der Schulein den Beruf hat hier seine Ursachen. Viele Maßnahmenzur Herstellung von mehr Chancengerechtigkeit habenSie von der Opposition eingeschränkt und beschnitten.Ich erinnere nur an die sogenannte Reform des Arbeits-förderungsgesetzes. Gerade hier hat das Sofortpro-Ernst Küchler
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gramm neue Akzente gesetzt. Es wendet sich auch undbesonders an jene Jugendliche, die die Ausbildungsvor-aussetzungen noch nicht erfüllen.Auch im „Bündnis für Arbeit, Ausbildung undWettbewerbsfähigkeit“ hat die berufliche Aus- undWeiterbildung einen besonderen Platz. In der Arbeits-gruppe „Aus- und Weiterbildung“ wurden mit den Wirt-schaftsverbänden und den Gewerkschaften Gesprächeaufgenommen, um zu Vereinbarungen über die Siche-rung eines ausreichenden Ausbildungsplatzangebots für1999 und die kommenden Jahre zu kommen. Bereits inder zweiten Sitzung des Bündnisses am 25. Februar1999 haben die Wirtschaftsverbände erklärt, daß sie dasbetriebliche Ausbildungsplatzangebot 1999 erneut überden demographisch bedingten Zusatzbedarf hinaus er-höhen werden.
Die Bündnispartner haben folgende flankierendenMaßnahmen vereinbart:Die Wirtschaftsverbände und die Gewerkschaftenwollen in ihren Tarifverhandlungen möglichst viele aus-bildungsfördernde Vereinbarungen zur Steigerung desAusbildungsplatzangebotes treffen.Die Bundesregierung hat zugesagt, das Ausbildungs-platzangebot in der Bundesverwaltung um 4 Prozent zusteigern.Die Bundesregierung hat bereits mit den neuen Län-dern eine Fortsetzung des Ausbildungsprogramms Ostmit einem Umfang von 17 500 zusätzlichen Ausbil-dungsplätzen vereinbart.200 Millionen DM stehen im ERP-Ausbildungs-platzprogramm für zusätzliche Ausbildungsplätze inkleinen und mittleren Betrieben zur Verfügung.Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich möchte nochkurz ein anderes Kapitel des Berufsbildungsberichts an-sprechen. Es widmet sich auch dem Thema der beruf-lichen Weiterbildung. Vom Bedeutungszuwachs derWeiterbildung ist lange genug geredet worden. Allesprechen vom lebensbegleitenden Lernen, von den Her-ausforderungen, vor denen unsere Gesellschaft und un-sere Wirtschaft angesichts des rasanten technischenWandels stehen. Auch bei der Beschreibung der Defizitesind sich alle politischen und gesellschaftlichen Kräftesehr schnell einig: mangelnde Transparenz, unzurei-chende Qualitätssicherung, Ressourcenverschwendung,fehlende Verschränkungen der Erstausbildung mit denSystemen der Weiterbildung und eine erkennbareSchieflage, was die Zugänglichkeit zu den Angebotender Weiterbildung für die Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer angeht.Die Bundesregierung hat erstmals zu diesem Bereichdes Bildungswesens Stellung bezogen. Weiterbildungsoll zu einem gleichberechtigten Bereich des Bildungs-systems ausgebaut,
lebensbegleitendes Lernen soll als Querschnittsaufgabealler Bildungsbereiche verwirklicht werden. Dies wirdeine nicht leicht zu bewältigende Aufgabe sein. Ich willnur auf eine richtungweisende Passage in dem Berichtaufmerksam machen. Im Kapitel über berufliche Wei-terbildung heißt es:Es gilt, die Weiterbildungsbeteiligung besondererPersonengruppen, insbesondere benachteiligter undin der Weiterbildung unterrepräsentierter Gruppenzu verbessern. …Hier sind insbesondere zusätzlicheWeiterbildungsanstrengungen für weniger Qualifi-zierte bzw. für Erwachsene ohne formalen Be-rufsabschluß erforderlich.Konsequenterweise haben die Arbeitsämter 1999 ihreMittel für Maßnahmen der beruflichen Weiterbildungum 1 Milliarde DM auf 14 Milliarden DM erhöht.
Nur in einer konzertierten Aktion aller Verantwort-lichen wird es möglich sein, das Problem der Jugend-arbeitslosigkeit zu bewältigen. Die CDU formuliert inihrem Antrag, der einige durchaus begrüßenswerte Vor-schläge enthält, daß es bei der Bekämpfung derJugendarbeitslosigkeit eines Konsenses für die Zukunftder jungen Menschen in Deutschland bedarf. LiebeKolleginnen und Kollegen von der Opposition, wenn Siedies ernst meinen, dann beenden Sie Ihre ignorante undvon Passivität geprägte Arbeitsmarkt- und Bildungs-politik, und beteiligen Sie sich endlich aktiv und kon-struktiv an den Bemühungen, den Jugendlichen in unse-rer Gesellschaft eine Perspektive zu geben!
Ich bin sicher, daß wir dann bei der Debatte über dennächsten Berufsbildungsbericht im Jahr 2000 eine positi-ve Entwicklung der Arbeitsmarktdaten feststellen können.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Auch dies war eine
Jungfernrede; Ihnen gilt der Glückwunsch des Hauses.
Nun gebe ich dem Kollegen Dr. Rainer Jork für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Bei einem ersten Blick inden Berufsbildungsbericht ist Kontinuität feststellbar.Dort steht, daß sich die im Jahre 1997 begonnene posi-tive Entwicklung fortgesetzt hat. Das ist ja sicherlich alsKompliment an die alte Bundesregierung aufzufassen.
Wenig später steht dort aber auch:Allerdings stand einem deutlichen Zuwachs in denalten Ländern –Ernst Küchler
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– gemeint ist: an Ausbildungsplätzen –ein Rückgang in den neuen Ländern gegenüber.Diese Problemsituation ist ein Kernpunkt, der besonde-rer Aufmerksamkeit bedarf. Früher wurde die Situationum diese Zeit immer wieder, spätestens zum drittenMale, mit dem Begriff „Lehrstellenkatastrophe“ be-zeichnet. Es hat im Zusammenhang mit meinen früherenErfahrungen und vielleicht auch mit der Rede von HerrnKüchler einen gewissen Liebreiz, Frau Ministerin, daßSie vorhin sagten, Konfrontation und Schuldzuweisungwürden nicht weiterhelfen.Beim genaueren Hinsehen stellt man fest, daß im Be-rufsbildungsbericht viel steht und viele Fragen ange-sprochen werden, aber nicht alle beantwortet werden.Unklar bleibt für mich zum Beispiel, wie einerseitsattraktive Ausbildungsmöglichkeiten für Leistungs-schwächere geschaffen werden, andererseits aber dannLeistungsstärkeren besondere Chancen eröffnet werdensollen.Mir fällt beim Berufsbildungsbericht weiterhin auf,daß neben Chancengleichheit einzig und allein Interes-sen und Neigungen der Jugendlichen als Teilhabekrite-rium genannt werden. Es geht hier nicht um Beschimp-fungen, aber wir wissen, daß das Berufsbildungssystemein duales System ist und dort ganz wesentliche Unter-schiede zu anderen Bildungsbereichen bestehen.Der Vorteil und der Reiz bestehen ja eben darin, daßes um eine partnerschaftliche Orientierung auf ein Er-gebnis mit Zukunftseffekten geht, an dem beide Partner,die Betriebe und die Jugendlichen, beteiligt sind. DieWirtschaft ist ein markierender Partner und hat ein In-teresse, ihren Beitrag zu leisten. Da helfen – das sage ichnoch einmal, Herr Küchler – Konfrontation und Schuld-zuweisungen nicht weiter. Es muß dann doch wohl auchrichtig sein, daß man nach Eignung und Bedarf fragt.Ohne die Berücksichtigung von Eignungen provoziertman Enttäuschungen. Ohne den Bedarf in der Wirtschaftzu berücksichtigen, riskiert man Arbeitslose. Auf dieseFrage wird im Bericht auf mehreren Seiten eingegangen.Ich frage die Bundesregierung: Wollen Sie Enttäu-schungen und Arbeitslosigkeit riskieren?Die Bundesregierung – das ist bemerkt worden – hatsehr zügig dieses 100 000-Stellen-Programm auf denWeg gebracht.
Wir erkennen grundsätzlich an, daß etwas für dieJugendlichen getan wird, Herr Tauss. Ich bin mit meinenKollegen dankbar für das, was in den Arbeits- und So-zialämtern dafür getan worden ist.
Dieses Programm ist nicht dem Haushalt des Bundesmi-nisteriums für Bildung und Forschung zugeordnet. Es istoffenbar in erster Linie eine soziale Maßnahme. Ich mußdarauf hinweisen, daß die Jugendlichen praxisnahe Aus-bildungsplätze und praxisnahe Arbeitsplätze in der Wirt-schaft benötigen.Mit Blick auf dieses Hauptziel, Chancen auf Arbeitzu bekommen, muß ich einfach auf folgende Mängeleingehen, die sicher, wie ich hoffe, bei der weiteren Be-arbeitung oder Neuauflage noch berücksichtigt werden.Zum ersten: Lehrstellenabbrecher werden belohnt.Es kann doch wohl nicht sein, daß jemand, der die Lehreabbricht, mit einem Betrag in Höhe von 80 Prozent derQualifikations-ABM mehr Geld bekommt, als einemanderen an Ausbildungsvergütung bezahlt wird.
Zum zweiten: Strukturelle Probleme auf dem Aus-bildungsmarkt werden nicht gelöst. Das haben wir hierschon wiederholt gehört. Darauf muß man aber einge-hen. Ich sehe ja ein, Frau Hermenau, daß man nicht allesam Anfang und sofort machen kann, aber auf Ihre Be-merkung, ein bißchen Spielen sei ganz schön,
muß ich entgegnen, daß es um 2 Milliarden DM, umQualität und auch um Verantwortung geht.Zum dritten: Vorleistungen, die im Rahmen des Pro-gramms erbracht werden, sollen und müssen in der fol-genden Ausbildung honoriert werden. Es geht darum,daß die Ausbildung, die mit diesem Programm ermög-licht wird, auch Sinn macht.Zum vierten: Die Ausbildung ist zuwenig auf die Be-rufspraxis bezogen.Zum fünften: Wehrdienstleistende werden benach-teiligt.Wir sind und waren uns einmal über die drei wesent-lichen Kriterien einig, an denen sich die Güte der Be-rufsausbildung zu messen hat: Qualität, Praxiskontaktund Einstieg in die Berufstätigkeit. Wenigstens zweidieser drei Kriterien werden im Programm nicht odernicht ausreichend berücksichtigt.Ich möchte auf die Wirtschaft zurückkommen. Alljene, die wertschöpfend arbeiten – also Handwerk, Indu-strie und der Hauptteil des sogenannten Mittelstandes –,leben von Leistungen, verkaufsfähigen Ergebnissen undProdukten. Sie leben nicht von Behauptungen, Verspre-chungen oder Nachbesserungen. Handwerk und Indu-strie brauchen Planungssicherheit und stabile Ausbil-dungsbedingungen. Was aber tut die Bundesregierung?Sie schafft eine nicht ökologische Ökosteuer, die dieEnergiekosten hochtreibt. Sie bringt eine Gesetzgebungüber 630-Mark-Jobs auf den Weg, die die Schwarzarbeitfördert.
– Schwarzarbeiter bilden nicht aus, Herr Tauss. Viel-leicht ist Ihnen diese Tatsache entgangen. – Letztlichverhindert die Bundesregierung mit Kündigungsfristendie Risikobereitschaft.Die Ministerin hat gesagt: Hier helfen staatlicheProgramme nicht allein. Sie hat an dieser Stelle recht.Dr.-Ing. Rainer Jork
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Es geht um ein Zusammenspiel zwischen Wirtschaft undStaat. Wer heute bereit ist, Lehrlinge auszubilden, denktan den zukünftigen Facharbeiter, und zwar meist imeigenen Betrieb. Hier schneiden sich die Interessenlinienderer, die im Bereich der Berufsausbildung Verantwor-tung tragen. Diese Situation ist also anders als die Situa-tion in jedem anderen Bildungsbereich.Vergessen wir nicht: Es sind die Handwerksmeister,die im wesentlichen den praktischen Teil der Berufsaus-bildung praxisnah und qualitätsgerecht sichern. DerVorteil unseres dualen Bildungssystems ist das direkteLernen in der Arbeitswelt. Die Berufsbezogenheit istdas Herzstück der Berufsbildung. Sie ist zu sichern undzu fördern. Lernen und Arbeit müssen eine Einheit blei-ben.Ich fordere darum die Bundesregierung auf: Gefähr-den Sie nicht die praktische Berufsausbildung, denHauptakteur im Betrieb, indem Sie den Meisterbrief undseine Relevanz in Frage stellen! Führen Sie die imBerufsbildungsbericht angeführte Modernisierung derBerufe und der Berufsbildung fort! Geben Sie auch lei-stungsschwächeren Jugendlichen eine Chance, indemSie angemessene Berufe und Berufsbefähigung zulas-sen! Ich denke in diesem Zusammenhang an die Diskus-sion um den modularen Aufbau der Berufe. Aber auchdas Satellitenmodell kann zugrunde gelegt werden. Nursollte man sich über die Begriffe klarwerden, bevor manprophylaktisch anfängt, zu schimpfen und ideologischeProbleme darüber auszukippen.Ich fordere die Bundesregierung weiter auf: HörenSie mit Ihrer politischen Versuchs-/Irrtumspraxis in be-zug auf den Umgang mit jungen Leuten auf! Frau Her-menau hat dieses Vorgehen als Spielen bezeichnet.
Schaffen Sie stabile Rahmenbedingungen hinsichtlichder Motivation, ohne die die Ausbildungsbereitschaftnicht wächst! Fördern Sie die allseitige Innovationsbe-reitschaft – vor allem in den neuen Bundesländern!Es trifft die Wirtschaft schon hart, wenn die Bundes-regierung die Patentgebühren anhebt. Wir waren unsfrüher einmal einig, daß dieses Vorgehen ausgesprochenschädlich ist, weil dieser Bereich die Innovation fördert.Auch diese Betriebe bilden Lehrlinge aus, so daß auchdort eine Rückkopplung zu den Lehrstellen gegeben ist.Ich danke.
Zu einer Kurzinter-
vention gebe ich der Kollegin Maritta Böttcher das
Wort.
Vielen Dank. – Herr Jork,
strukturelle Probleme gibt es in der Berufsausbildung
seit mindestens acht Jahren. Ich will daran erinnern, daß
während dieser Zeit bekanntlich Sie in der Regierungs-
verantwortung standen. Mir sind noch Ihre Worte im
Ohr, mit denen Sie die Beseitigung der mangelnden Fle-
xibilität, der schlechten Schulausbildung und damit der
schlechten Vorbereitung der Auszubildenden für den
Arbeitsmarkt angemahnt haben.
Ich möchte sagen: Auch Sie haben schließlich nichts
dafür getan, außer zu appellieren, um dieses Problem zu
lösen. Es bestreitet niemand, daß das direkte Lernen in
der Arbeitswelt notwendig und wichtig ist. Sie wissen
aber sehr gut, daß das gerade hinsichtlich des dualen
Systems nicht erst seit heute in Gefahr ist.
Eine weitere Anmerkung möchte ich zur Rede von
Frau Hermenau machen. Nach Ihren Ausführungen,
Frau Hermenau, werden wir uns möglicherweise auf
eine Sondersitzung einrichten müssen, denn es wird ja
dann sicherlich Ergebnisse geben, die hier im Hause zu
behandeln sind.
Schließlich: Wer in Regierungsverantwortung die
Drohkeule einpackt, die er zu Zeiten der Opposition ge-
schwungen hat, kann wohl nicht sehr ernst genommen
werden.
Zu einer Erwide-
rung hat das Wort der Kollege Jork.
Bloß ein paarkurze Bemerkungen, Frau Böttcher. Sie haben nicht klargesagt, daß die meisten Probleme bei den Lehrstellen inden neuen Bundesländern liegen. Wir haben dort durchden Übergang von der volkseigenen Industrie eine er-hebliche Strukturänderung; das wissen Sie ganz genau.
Wenn Sie von Struktur reden, müssen Sie einmal dar-über nachdenken, inwieweit das bei dem Stand, demNiveau und den Möglichkeiten paßfähig war. Ihre Um-lage ist wieder nur auf eine zentralstaatliche Lösung mitUmverteilung orientiert.
Sie haben das Problem überhaupt nicht erkannt. Siemeinen, es sei überhaupt nichts getan worden. Aber dasdrückt sich nicht nur in Geld aus. Ich empfehle Ihnen:Vergleichen Sie doch einmal den diesjährigen Berufs-bildungsbericht mit den früheren Berichten; dann wer-den Sie erkennen, was die frühere Bundesregierung aufdem Weg der Modernisierung alles getan hat.
Wenn Sie das einmal zur Kenntnis nehmen, werden Sieunsere Situation vielleicht etwas zeitnäher beurteilenund von Ihrem siebten Himmel des realen Sozialismusetwas herunterkommen.Danke.
Dr.-Ing. Rainer Jork
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Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht nun der Kollege Chri-
stian Simmert.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Zu den Widerstandskämpfern äußere ich michjetzt nicht, sondern eher zum Berufsbildungsbericht.Auch dieses Jahr werden die Zahlen der Absolventin-nen und Absolventen von allgemeinbildenden und be-rufsbildenden Schulen um 1,4 Prozent steigen. In abso-luten Zahlen sind das 19 000 Jugendliche mehr als imVorjahr, die in diesem Sommer eine Ausbildungs- oderArbeitsstelle suchen werden. Knapp eine halbe Millionjunger Menschen suchen zur Zeit eine Ausbildung oderArbeit. Ihnen wird verwehrt, was bis heute für unseraller Identität wichtig ist: die Erwerbsarbeit.Der Luxemburger Beschäftigungsgipfel hat noch-mals festgestellt, daß den Jugendlichen keinerlei Warte-zeiten zuzumuten sind. Kommt es zum Beispiel zu einerLücke zwischen Schule und weiterer Ausbildung oderArbeit, hat dies immer nachhaltige negative Folgen fürdas Selbstwertgefühl eines jungen Menschen. Bis zu5 500 junge Anrufer bei der Hotline der Bundesanstaltfür Arbeit im Rahmen des Sofortprogramms der Bun-desregierung haben gezeigt, wie motiviert die Jugend-lichen sind.Das bedeutet allerdings auch, daß jetzt große Erwar-tungen an uns gerichtet werden. Junge Menschen, dieschon lange aus der Statistik herausgefallen waren undsich nicht mehr beim Arbeitsamt gemeldet hatten, wur-den durch das Sofortprogramm angesprochen. Diesejungen Menschen, denen – auch von der rechten Seitedes Hauses – nur allzuoft der Schwarze Peter für ihr an-gebliches Versagen zugeschoben worden ist, sind nunmotiviert, ihren Anteil an der Erwerbsarbeit zu leisten.Selbstverständlich wollen wir keine Maßnahmenkar-rieren. Deswegen klopfen wir alle Maßnahmen, ob aufnationaler oder auch auf europäischer Ebene, darauf ab,ob junge Menschen nur irgendwie aus der Statistik ver-schwinden sollen, also in einer Warteschleife „geparkt“werden, oder ob sie mit Hilfe einer staatlich gefördertenMaßnahme wirklich eine Qualifikation erhalten, die ih-nen etwas bringt und sie auf den Arbeitsmarkt vorberei-tet. Zum Beispiel die von Ihnen, meine Damen und Her-ren von der CDU/CSU, bundesweit geforderten AQJ-Maßnahmen sind deshalb ein wichtiger Bestandteil desSofortprogramms, ebenso wie viele andere Punkte, dieSie in Ihrem Antrag einfordern. Sie sehen, das klapptschon ganz gut. Aber selbstverständlich werden wir da-bei nicht stehenbleiben, sondern das stetig verbessern.In der Mehrzahl haben junge Menschen mit mittlerenund höheren Schulabschlüssen von diesem Programmprofitiert. Das zeigt einerseits, daß Erwerbslosigkeitheute wirklich ein Massenphänomen ist. Das ist nichtsNeues. Es macht aber auch deutlich, daß wir für wirklichbenachteiligte Jugendliche, die angesichts der allgemei-nen Misere gar keine Chance mehr auf dem Ausbil-dungs- und Arbeitsmarkt haben, dringend Initiativenbrauchen.Auch junge Mütter konnten zum Beispiel von die-sem Programm nicht profitieren. Doppelt so viele jungeFrauen wie gleichaltrige Männer leben von Sozialhilfe.Viele von ihnen würden gerne eine Arbeit oder Ausbil-dung aufnehmen. Hier fehlen innovative Möglichkeitender Maßnahmenausgestaltung, aber auch Rahmenbedin-gungen struktureller Art, wie zum Beispiel eine flächen-deckend ausreichende Kinderbetreuung. Generell sindjunge Frauen bislang von nur zwei Maßnahmen des So-fortprogramms angesprochen worden. Das wollen wirändern und verbessern.Junge Migrantinnen und Migranten erfahren zuhäufig Benachteiligungen durch eine schlechte Ausbil-dung. Das beginnt bereits beim Schulabschluß. Beson-ders die Gruppe der älteren Jugendlichen zum Beispieltürkischer Herkunft, in der jeder zweite ohne Berufsab-schluß geblieben ist, macht uns große Sorgen.Die Beispiele zeigen: Hier ist differenziertes Maß-nahmendenken gefragt. Pilotprojekte in den neuen Bun-desländern zeigen, daß sie, wenn sie auf den Bedarf vorOrt genau zugeschnitten sind, selbst in den schwierig-sten Situationen Erfolg haben können. Deswegen halteich das, was Frau Hermenau gerade angesprochen hat,für richtig. Solche innovativen Projekte wollen wir ver-stärkt fördern.Staatlich geförderte Maßnahmen sind erst dann einErfolg, wenn die Jugendlichen den Schritt in den erstenAusbildungs- oder Arbeitsmarkt geschafft haben. Des-halb setzen wir uns dafür ein, daß das Förderprinzip ver-ändert wird: weg von der Individualförderung hin zurProjektförderung. Denn es kann nicht angehen, daß derTräger, der die meisten Teilnehmerinnen und Teilneh-mer einer Maßnahme in den ersten Arbeitsmarkt ver-mittelt hat, an seinem Erfolg pleite geht und wenigerFörderung erhält.Ganz individuell müssen wir die Beratung gestalten.Viele von uns schielen auf Großbritanniens New Dealund wünschen sich eine deutsche Neuauflage. DiesenKolleginnen und Kollegen möchte ich mit auf den Weggeben: Dort gibt es pro Betreuerin oder Betreuer nur 40und nicht, wie hierzulande, 250 Jugendliche, die beglei-tet werden. Davon können wir tatsächlich lernen.Auch die Zusammenarbeit aller beteiligten Institutio-nen sowie die Jugendsozialarbeit müssen wir stärkerfördern. Dafür müssen wir uns auch in den Bildungsin-stitutionen unseres Landes ganz genau umsehen. EineReform der beruflichen Bildung steht für meine Fraktionganz oben auf der Agenda. Denn Bildung – das zeigt derBerufsbildungsbericht ganz deutlich – ist das Schlüssel-kriterium schlechthin für einen gelungenen Eintritt indas Erwerbsleben.Wir werden deshalb nicht zulassen, daß das dualeSystem allein dadurch weiter in die Krise gerät, daß dieBetriebe nicht ausbilden, aber immer besser ausgebildeteArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigenwollen. Die neue Bundesregierung ist dem Prinzip ver-pflichtet, möglichst im Konsens mit allen BeteiligtenLösungen zu suchen, so auch bei der Bekämpfung desLehrstellenmangels und der allgemeinen Ausbildungs-und Arbeitsplatzmisere.
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Das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbe-werbsfähigkeit hat hier einen großen Vertrauensvor-schuß erhalten. Diesem muß es gerecht werden. Solltedas Bündnis für Arbeit in diesem Sommer und ange-sichts der neu auf uns zukommenden Lehrstellenmiseremöglicherweise keine Anzeichen für eine Verständigungaufweisen, wird, so denke ich, über den Koalitionsver-trag diskutiert werden. Dort haben wir uns darauf fest-gelegt, daß man, sollte dies eintreten, überlegen wird,welche Maßnahmen erforderlich sind.Ich selbst möchte an dieser Stelle alle Unternehmerauffordern, in diesem Sommer in ausreichendem MaßeAusbildungsplätze zur Verfügung zu stellen, damit wirim Bündnis für Arbeit endlich weiterkommen und be-rufliche Chancen für Jugendliche eröffnen können.Vielen Dank.
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht nun der Kollege Klaus Haupt.
Sehr geehrter Herr Präsident!Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, wir sinduns einig: Ausbildung und Qualifizierung der Jugendentscheiden die Zukunft unserer Gesellschaft. Deshalbist die Jugendarbeitslosigkeit eines der größten gesell-schaftlichen Probleme. Wir als F.D.P. begrüßen, daßauch die jetzige Bundesregierung hier gesteigertenHandlungsbedarf sieht.
Ich komme aus einer Region mit einer Arbeitslosen-quote von 27 Prozent. Die Notwendigkeit staatlicher„Feuerwehr“-Programme ist für mich als Liberalen un-bestritten. Ich begrüße deshalb ausdrücklich, daß dasSonderprogramm zur Bekämpfung der Jugendar-beitslosigkeit fortgeführt werden soll; denn es wäre un-verantwortlich gewesen, mit viel Getöse Hoffnung zuwecken und die Jugendlichen dann praktisch in dieWarteschleife zu schicken. Aber selbst bei 100prozen-tiger Umsetzung des Programms dürfen wir nicht ver-gessen, daß 400 000 Jugendliche ohne Arbeit und Aus-bildung bleiben.Gestatten Sie mir auf Grund der Erfahrungen in mei-ner ostsächsischen Problemregion einige kritische,sachliche, aber, Kollege Küchler, weniger parteipoli-tische Bemerkungen. Jugendarbeitslosigkeit stellt sichsehr unterschiedlich dar. Deshalb ist eine maximale Um-setzungsfreiheit für die Beteiligten vor Ort wichtig; nurso können effektive und effiziente Maßnahmen wirklichergriffen werden.
Bei der Fortschreibung des Programms muß verstärktauf die Qualifikationsstruktur der arbeitslosen Jugend-lichen geachtet werden – dies gilt vor allen Dingen fürdie neuen Bundesländer –: auf Jugendliche ohneSchulabschluß, Jugendliche ohne Berufsabschluß undJugendliche mit Berufsabschluß.Das Sofortprogramm ist im Dezember vorigen Jahresunter erheblichem Zeitdruck entwickelt und umgesetztworden. Zu der Vielzahl bereits existierender Program-me kamen nun weitere Angebote hinzu. Dies hatte zurFolge, daß schnell gestrickte Projekte entstanden, auch,wie bereits erwähnt, mit vergütungsrechtlichen Verwer-fungen: Zwei Jugendliche lernen beim gleichen Bil-dungsträger mauern. Der eine bekommt dafür 1 800 DM,der andere nichts.Es hatte zur Folge, daß eine zielgenaue Zuweisungder Jugendlichen in Maßnahmen häufig schwer möglichwar.
Es hatte zur Folge, daß die notwendige Kontinuität inder Maßnahmeplanung und -umsetzung gelitten hat. Eshatte auch zur Folge, daß bewährte Projekte beeinträch-tigt wurden.
Bei der Fortführung des Programms müssen vor al-lem die Qualität von Projekten sowie die Effektivität fürden einzelnen und damit eine gelungene Integration ju-gendlicher Arbeitsloser in den Arbeitsmarkt im Vorder-grund stehen.
Dazu ist eine Harmonisierung der bewährten Aspektedes Sofortprogramms – das ist die eine Seite – und derStrukturen der traditionellen Programme – das ist dieandere Seite – notwendig. Es kommt auf eine stärkereVernetzung von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmenmit Projekten der Jugendhilfe an. Die Zusammenarbeitmit den Bildungsträgern muß dem Ziel dienen, bedarfs-orientierter auszubilden und zu qualifizieren, damit ziel-gruppengenaue und zeitgemäße Angebote für Jugend-liche garantiert werden.
Nicht zuletzt muß der bisher hohe Verwaltungsaufwanddringend verringert werden.Immer neue Staatsprogramme helfen aber nicht, derJugendarbeitslosigkeit auf Dauer Herr zu werden. Einnachhaltiger Abbau der Jugendarbeitslosigkeit ist nur zuerreichen, wenn die Rahmenbedingungen in Deutsch-land wieder stimmen.
Dies kann erreicht werden durch ein vereinfachtesSteuersystem, einen umfassenden Bürokratieabbau undeine mutige Bildungsreform.
Christian Simmert
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4214 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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Ich sage Ihnen: Der Gesetzesmurks, den die Bundesre-gierung in den letzten Monaten fabriziert hat, steht dazuin krassem Widerspruch.
Ich möchte dies an einem Beispiel beweisen: Die zuRecht vielgescholtene 630-Mark-Neuregelung hat auch– von der Politik fast unbemerkt – zu einer erheblichenSteigerung der Lohnkosten für Ausbildungsplätze ge-führt.
Ein konkretes Beispiel, Herr Kollege: Der FachverbandSanitär, Heizung, Klima Sachsen hat mir mitgeteilt, daßnach Anhebung der Geringverdienergrenze auf 630 DMdie Ausbildungsvergütung nun teilweise unter der Grenzeliegt, bis zu der ein Arbeitgeber die Sozialversicherungs-beiträge komplett zahlen muß. Das heißt: Der Ausbil-dungsplatz in diesem Bereich kostet zwischen 1 400 und3 000 DM mehr. Das trägt nicht zu einer Verbesserungder Ausbildungsbereitschaft beim Handwerk bei.
Ein Wort zur Ausbildungsplatzabgabe, wie sie vonder PDS gefordert wird.
Durch Vorgabe eines Ausbildungssolls greift der Staatdoch massiv in die Personalplanung der Firmen ein. Dasweckt für mich Erinnerungen an längst vergangenePlanwirtschaftszeiten. Die Betriebe werden nicht nurfinanziell, sie werden auch mit einem gewaltigen büro-kratischen Aufwand belastet. Schließlich wird auch zu-sätzliche staatliche Bürokratie geschaffen. Das habenwir bei Rotgrün schon genug erlebt. Weder akuteStaatsprogramme noch planwirtschaftliche Vorschriftenwerden das Problem der Jugendarbeitslosigkeit lösenkönnen.
An der Reform der beruflichen Bildung führt keinWeg vorbei, ebensowenig an der Entlastung der Wirt-schaft, die die berufliche Bildung wesentlich trägt. Ichfüge aber auch noch hinzu: Wer Ausbildungsplätze unddamit Chancen für die Jugend schaffen will, muß auchdas gesellschaftliche Umfeld in den Blick nehmen. Dennüber die Chancen, die ein Jugendlicher hat, wird nichterst bei der Ausbildungsplatzfrage entschieden.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Nun spricht für die
CDU/CSU-Fraktion der Kollege Heinz Wiese.
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! An derSchwelle zum nächsten Jahrtausend stehen wir in derBildungs- und Sozialpolitik vor neuen großen Heraus-forderungen. Für eine zukunftsorientierte Beschäfti-gungspolitik müssen neue Prioritäten gesetzt werden.Vor allen Dingen geht es um eine nachhaltige Verbesse-rung der Zukunftschancen für unsere junge Generation.Wir gehen davon aus, daß Ausbildung und Qualifizie-rung auch künftig der beste Schutz gegen Arbeitslosig-keit sind.
Unsere Jugend will gefördert, sie muß aber auch ge-fordert werden. Vor allen Dingen brauchen wir überkurzfristige Programme hinaus, die teilweise nur einenStrohfeuereffekt haben, neue Strukturen, die langfristighalten und realistische Zukunftsperspektiven beinhalten.Das Sofortprogramm der Bundesregierung ist in dieserHinsicht bei weitem nicht der große Wurf,
es ist aber als Einstiegsprogramm und in seiner Brük-kenfunktion durchaus angemessen zu werten.
Die meisten Teilnehmer an diesem Hilfsprogrammwurden ja bekanntlich in öffentlich finanzierte Trai-ningsprogramme, Umschulungskurse und AB-Maßnah-men geschickt. Es ist vorher schon – auch von der FrauMinisterin – das Wort Warteschleife gefallen. Wir gehendavon aus, daß bisher 3 100 Jugendliche auf einen Ar-beitsplatz in der freien Wirtschaft vermittelt werdenkonnten. Aber leider – das ist das große Dilemma beidiesem Programm – erhielten nicht einmal 1 000Schulabgänger einen Ausbildungsplatz im dualenSystem. Das ist natürlich für ein milliardenschweresProgramm entschieden zuwenig.
Mit unserem Antrag „Ausbildung, Qualifizierung undArbeit für junge Menschen“ wollen wir uns neuen Her-ausforderungen unserer Zeit stellen. Es sind dies: dieGlobalisierung der Märkte, der rasante Strukturwandelin der Berufs- und Arbeitswelt und nicht zuletzt die so-genannte digitale Revolution im Informationszeitalter.Die japanische Kultusministerin hat kürzlich die Pro-gnose gewagt: Wer mit 30 Monaten nicht anfängt, spie-lerisch mit dem Computer umzugehen, der kann mit30 Jahren nicht zur Spitze gehören.Vor diesem Hintergrund und im Hinblick auf dienoch steigende Zahl der Schulabgänger, auf die bereitshingewiesen wurde, haben wir in den nächsten zehn Jah-ren im Bereich Bildung, Ausbildung und Qualifizierunggroße Aufgaben vor uns. Bildung gewinnt auch als neu-er Standortfaktor zunehmend an Bedeutung. Unser heutescheidender Bundespräsident Roman Herzog hat Bil-dung als das Megathema der nächsten Jahre bezeichnet.Wie recht er hat! Der Bedarf an qualifizierten Erwerbs-tätigen wird ständig zunehmen. Wir brauchen fundiertefachliche Kompetenzen und Berufserfahrung, um guteChancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Hinzu kom-Klaus Haupt
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men soziale Kompetenzen wie Flexibilität, Teamfähig-keit, Leistungsbereitschaft und selbständiges Handeln.Ich glaube aber, daß die entscheidende Vorausset-zung für eine gute Berufsausbildung eine solide Schul-bildung ist. Dieser Erkenntnis muß in allen Bundeslän-dern Rechnung getragen werden.
Wir brauchen einen breiten nationalen Diskurs überLehren und Lernen, eine Anpassung der Bildungsziele,die Professionalisierung und Qualitätssicherung derSchulbildung. Endlich muß die Vergleichbarkeit der Ab-schlüsse in allen Bundesländern hergestellt werden.
Nur so kann das bildungspolitische Süd-Nord-Gefälle inDeutschland endlich beseitigt werden.
Die politischen Rahmenbedingungen sind bereits an-gesprochen worden. Sehr wichtig wird sein, wieder zueiner soliden wachstumsorientierten Politik zurückzu-kommen. Denn wenn wir glauben, die Ausbildungsplät-ze für die Zukunft mit einem Wirtschaftswachstum von1,5 Prozent schaffen zu können, sitzen wir einem ver-hängnisvollen Irrglauben auf. Betriebe und Unternehmerbrauchen wieder Planungssicherheit. Zumindest für denMittelstand und das Handwerk gilt noch heute derGrundsatz: Die Gewinne der Wirtschaft von heute sinddie Investitionen von morgen und die Arbeits- und Aus-bildungsplätze von übermorgen.
Bei uns, in der mittelständisch orientierten Wirtschaft inBaden-Württemberg, funktioniert das.In puncto Ausbildungsumlage nur einen Satz: Esmuß endlich Klarheit geschaffen werden. Beenden Sie,meine Damen und Herren von der Regierungsbank, die-se schädliche Verunsicherung. Lassen Sie die Fingerweg von jeder zusätzlichen Abgabe!
Ein großes Problem stellen für uns die weniger qua-lifizierten Menschen dar. Wir haben in Deutschland einerhebliches Defizit an einfachen Arbeitsplätzen. Progno-sen zufolge wird sich die Zahl dieser Arbeitsplätze biszum Jahr 2010 noch einmal halbieren und dann nur noch10 Prozent aller Arbeitsplätze ausmachen.
– Die mittelständische Industrie bei uns wird – das wer-den wir im Wege von Konsensgesprächen erreichen –entsprechende Arbeitsplätze bereitstellen.Wir müssen die Steigerung der Berufsreife in denVordergrund stellen. Das ist die eine Forderung. Eineweitere Forderung ist, ausbildungswilligen Schülern mitkognitiven und sozialen Defiziten eine besondere Förde-rung zukommen zu lassen. Sie im besonderen laufen Ge-fahr, sich in gesellschaftliche Randständigkeit und Aus-grenzung hineinzubewegen. Für diese schwer vermittel-baren Jugendlichen, die oft ein eher praktisch orientier-tes Begabungsprofil haben, fordern wir teilqualifizieren-de oder modulare Ausbildungsgänge und neue Berufs-bilder mit theoriegemindertem Anforderungsprofil. DasSatellitenmodell des DIHT ist vorhin schon angespro-chen worden. All dies sind neue Wege zu einer moder-nen Beruflichkeit. Ich appelliere an alle Teilnehmer derGespräche im Bündnis für Arbeit und Ausbildung, gera-de im Hinblick auf diese Jugendlichen konsensfähigeMaßnahmenbündel zu vereinbaren.Ich gehe davon aus, daß die Bundesländer voneinan-der lernen können. Es sollte einen Ideenwettbewerb zwi-schen den einzelnen Bundesländern geben, einen frucht-baren Wettstreit um bessere Modelle und Programme.Die Jugendberufshelfer in Baden-Württemberg bei-spielsweise haben genauso wie in Bayern das Projektder Einrichtung von Praxisklassen Modellcharakter.Gleiches gilt für einen Schulversuch für Fachpraktiker inDienstleistungsbranchen – ein Projekt, das der Sozial-minister von Baden-Württemberg, Herr Repnik, ange-schoben hat. Vielen Dank dafür!
Themen wie die Senkung der Lohnnebenkosten fürweniger produktive Arbeitsplätze, die Reduzierung derArbeitskosten bei einfachen Dienstleistungen sowieKombilohnmodelle sollten Eingang in die Bündnisge-spräche finden.Wir brauchen in Zukunft noch mehr Ausbildungsver-bünde. Wir müssen den kleinen Betrieben helfen, dieaus verschiedenen Gründen bisher zuwenig Ausbil-dungsplätze anbieten.Meine Damen und Herren, die Probleme der neuenBundesländer sind bereits angesprochen worden. Eswird im besonderen darauf ankommen, daß wir imOsten die Lehrstelleninitiative Ost fortsetzen und denhöheren Stellenwert von beruflicher Ausbildung immerwieder klar betonen.Eines kann ich für ganz Deutschland sagen: Statt mitdem Rotstift zu wüten, muß die Maßgabe gelten, eineneue Bildungsinitiative und Bildungsoffensive für dieberufliche Bildung zu starten. Lassen Sie uns gemein-sam an der Zukunft unserer Jugend arbeiten!Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Auch das war eineerste Rede. Deswegen möchte ich dem Kollegen Wieseden herzlichen Glückwunsch des Hauses aussprechen.
Nun gebe ich für die SPD-Fraktion das Wort demKollegen Willi Brase.Heinz Wiese
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Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Je-
der Mensch hat das Recht auf berufliche Bildung. Be-
sonders wichtig ist der Zugang zu einer breitangelegten
qualifizierten Ausbildung für alle Jugendlichen. Die
Aktivitäten von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik
müssen darauf gerichtet sein, Chancengleichheit in
einem umfassenden Sinne zu ermöglichen.
Der Anspruch unserer jungen Menschen auf Ausbil-
dung und Zukunftsperspektive unabhängig von ihrer
Herkunft und den Einkommensverhältnissen der Eltern
ist Zielsetzung staatlicher Politik und muß gemeinsam
von den entscheidenden Trägern in der beruflichen Bil-
dung umgesetzt werden.
Das duale Berufsausbildungssystem hat sich trotz
mancher quantitativer Schwierigkeiten bei der Bereit-
stellung einer ausreichenden Anzahl von Ausbildungs-
plätzen im Grundsatz bewährt. Dies belegt der Berufs-
bildungsbericht eindrucksvoll; er zeigt aber auch auf, wo
das Angebot durch zusätzliche staatliche Maßnahmen
und Aktivitäten stabilisiert und ergänzt werden mußte.
Dabei ist es aus unserer Sicht richtig, das Berufskonzept
in der beruflichen Ausbildung auch für die Zukunft als
unverzichtbar darzustellen.
Angesichts der zu erwartenden schnellen Verände-
rungen in der Arbeitswelt der Zukunft müssen die Erst-
ausbildungen neben einer breiten Grundausbildung auch
gleichzeitig eine große Flexibilität und umfassende
Verwertungsmöglichkeiten mit sich bringen. Fachkom-
petenz, Sozialkompetenz, Methodenkompetenz und die
immer stärker notwendig werdende Medienkompetenz
zeigen sehr deutlich, in welche Richtung die Moderni-
sierung der Ausbildungsinhalte und der Ausbildungs-
ordnungen gehen müssen. Zusammengefaßt geht es um
die Fähigkeit zum vernetzten Denken, um Schlüsselqua-
lifikationen und um ganzheitliches Lernen.
Wird dies in den nächsten Jahren umgesetzt, verbessern
sich die Zukunftsperspektiven unserer jungen Men-
schen.
Auch der Bericht zur technologischen Leistungsfä-
higkeit Deutschlands zeigt auf, welche Bedeutung die
Ausbildungs-, die Bildungs- und die Weiterbildungs-
politik im Wandel zur Wissensgesellschaft mit sich
bringt.
Mittlerweile verfügen gut 72 Prozent der sozialversiche-
rungspflichtig Beschäftigten in der gewerblichen Wirt-
schaft über eine abgeschlossene Berufsausbildung. Der
Anteil Geringqualifizierter ist im Verlauf der letzten
Jahre um mehrere Prozentpunkte gesunken. Hochquali-
fizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden
verstärkt nachgefragt.
Die Beschäftigungschancen für Geringqualifizierte
haben sich weiter verschlechtert. Der Trend zur Ver-
schiebung der Qualifikationsstruktur setzt sich damit
weiter fort. Die Zahl der Einfacharbeitsplätze wird
künftig weiter sinken; bis zum Jahre 2010 sollen 40 Pro-
zent der sogenannten Einfacharbeitsplätze des Jahres
1997 entfallen. Diese wenigen Zahlen und Perspektiven
verdeutlichen, daß wir insbesondere leistungsgeminder-
ten und sozial benachteiligten Jugendlichen eine ver-
nünftige Qualifizierung und Ausbildung ermöglichen
müssen, um ihnen überhaupt eine Chance auf dem Ar-
beitsmarkt zu geben.
Dieses Problem in der beruflichen Ausbildung und in
der Arbeitsmarktpolitik zu lösen ist wichtig.
Die immer wiederkehrende Debatte über Perspekti-
ven für leistungsgeminderte, schulisch weniger qualifi-
zierte Jugendliche und eine generelle Verkürzung der
Ausbildungszeit auf zwei Jahre mit entsprechenden An-
geboten wird den zukünftigen Erfordernissen nicht ge-
recht. Diese Forderung muß abgelehnt werden.
Der schon erwähnte Bericht zur technologischen Lei-
stungsfähigkeit, aber auch die Lektüre der Berufsbil-
dungsberichte der letzten Jahre zeigen: Nur mit einer
breiten Qualifizierung sind junge Menschen in der Lage,
sich auch am Arbeitsmarkt der Zukunft zu behaupten.
Unter Pädagogen und Wissenschaftlern ist unstreitig,
daß gerade Menschen mit schulisch weniger qualifi-
zierten Abschlüssen häufig mehr Zeit brauchen, um die
Inhalte und das Wissen aufnehmen zu können, als dieje-
nigen, die als Begabte und Höherqualifizierte bezeichnet
werden. Es ist angesichts in Zukunft fehlender soge-
nannter Einfacharbeitsplätze geradezu widersinnig, Ju-
gendliche mit Teilqualifizierungen in massiver Art und
Weise ausschließlich auf eine zweijährige Ausbildungs-
dauer zu orientieren. Dies ist nicht akzeptabel; dieses
Problem muß anders und besser gelöst werden.
Herr Kollege Brase,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollgen Grehn?
Ja.
Herr Kollege, Sie haben
wiederholt auf die Anzahl der Un- und Angelernten
verwiesen. Stehen Ihnen oder Ihrer Regierungskoalition
konkrete Angaben darüber zur Verfügung, wie viele der
Un- und Angelernten deshalb in der Statistik stehen,
weil sie durch langanhaltende Arbeitslosigkeit dequalifi-
ziert worden sind und von den Arbeitsämtern als Un-
und Angelernte geführt werden, selbst wenn sie einen
höheren Bildungsabschluß haben?
Herr Kollege, ich will auf dieseFrage folgendes antworten: Den Arbeitsämtern ist in derPraxis sehr wohl bewußt, vor welchem Hintergrund undmit welchen Problemen Jugendliche mit Teilqualifizie-rung dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Es gibt
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Möglichkeiten, die gerade in den Arbeitsamtsbezirkenvor Ort umgesetzt werden und so aussehen, daß man fürdiese Jugendlichen mit den Betrieben zusammen beson-dere Qualifizierungsmaßnahmen vorsieht, um ihnenüber den sogenannten Klebeeffekt eine Perspektive inder realen Wirtschaftswelt, das heißt in den Unterneh-men zu eröffnen. Das halte ich für wesentlich besser undwichtiger, als auf eine Ausbildungszeit von zwei Jahrenzu zielen.
Die vorgelegten Zahlen im Berufsbildungsbericht1999 belegen, daß es regionale Unterschiede bei der Be-reitstellung und Schaffung von Ausbildungsplätzen gibt.Unsere Erfahrungen zeigen deutlich, daß in den Regio-nen, wo der Wille zur Kooperationsbereitschaft und zurUmsetzung gemeinsamer Lösungsschritte in der beruf-lichen Bildung vorhanden ist, Ausbildungsplätze undAusbildungsqualität miteinander verzahnt und das Aus-bildungsplatzangebot insgesamt verbessert worden sind.Wir wissen alle: Die Innovationsfähigkeit der Unter-nehmen wird durch Ausbildungsbereitschaft und Aus-bildungsfähigkeit verbessert. Erstausbildung und Zu-satzqualifikation im Sinne von lebenslangem Lernenführen dazu, daß sich die entsprechenden Unternehmenzukunftsgerichtet jederzeit am Markt behaupten können.Dieses Klima der Kooperationsfähigkeit und der Be-reitschaft zum Konsens hat dazu geführt und führt dazu,daß größere Probleme bei der Versorgung mit Ausbil-dungsplätzen unterbleiben. Deshalb muß es Ziel derPolitik sein, diesen Ansatz zur Lösung der Ausbildungs-platzprobleme zu stärken und voranzutreiben.
Wir ermuntern die Bundesregierung ausdrücklich, die-sen Weg zu beschreiten und die entsprechenden Ergeb-nisse aus den Ländern und Regionen in die Diskussioneinzubeziehen.Es fällt doch auf, daß gerade da, wo man sich ge-meinsam mit den zuständigen Stellen der Ausbildungs-problematik annimmt, mit dem Sofortprogramm we-sentlich mehr Erstausbildungsplätze für die Jugendli-chen angeboten werden als in den Regionen, die in derKooperationsfähigkeit noch nicht so weit sind. Wir se-hen daher gute Chancen, daß die mit dem Sofortpro-gramm eingeleiteten Maßnahmen in betrieblicher Aus-und Weiterbildung weitergeführt werden. Das ist eineAufgabe für das Bündnis für Arbeit, Ausbildung undWettbewerbsverbesserung.
Lassen Sie mich noch eine Erfahrung deutlich an-sprechen, die wir in den Regionen unseres Landes im-mer wieder machen. Allzu häufig haben wir unabhängigvon der jeweiligen wirtschaftspolitischen Lage eine Ent-koppelung des Ausbildungmarktes vom Arbeitsmarkterlebt. Das bedeutet, daß unabhängig von der konjunktu-rellen Situation in den Regionen mit großer Koopera-tionsbereitschaft und mit der Fähigkeit, miteinander zuhandeln, die Ausbildungsplatzgestaltung als zentraleAufgabe begriffen und entsprechend bearbeitet wurde.Dies hatte als Positives die Verbesserung der Zukunfts-chancen unserer jungen Menschen in ihrer Heimat zumAusdruck gebracht, und das wollen wir fortsetzen.
Der Berufsbildungsbericht 1999 und der vorliegendeAntrag der CDU/CSU-Fraktion bieten die Grundlage,um sachlich und inhaltlich fundiert über die Zukunfts-perspektiven für Ausbildung, Qualifizierung und Arbeitfür junge Menschen zu diskutieren.
Abschließend weise ich für meine Fraktion daraufhin, daß wir den von der PDS vorgelegten Gesetzent-wurf ablehnen, da wir auf die Anstrengungen der Bun-desregierung mit dem Sofortprogramm gegen Jugend-arbeitslosigkeit, den Verabredungen im Bündnis für Ar-beit, Ausbildungs- und Wettbewerbsverbesserung undden vor Ort immer stärker werdenden Bündnissen fürAusbildung setzen. Die Einführung einer Ausbildungs-umlagefinanzierung wäre derzeit kontraproduktiv undwird von uns hier und heute abgelehnt.
Zum Entschließungsantrag der F.D.P. verweise ichdarauf, daß die Frage der Ausbildungsverbünde schonlängst in der Praxis positiv geregelt ist. Dadurch konntenwir kleinere Unternehmen stärker an der Ausbildungbeteiligen.
Man kann nicht auf der einen Seite beklagen, daß Ju-gendliche nach der Ausbildung keinen Arbeitsplatz ha-ben, wenn gleichzeitig die Tarifpartner über Tarifverträ-ge zumindest eine zeitlich befristete Übernahme ermög-lichen. Wir ermuntern sie ausdrücklich dazu, diesenWeg gemeinsam weiterzugehen.Herzlichen Dank fürs Zuhören.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Meckelburg.
Frau Präsi-dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wirhaben heute eine eineinhalbstündige Bildungsdebattemit dem Schwerpunkt geführt, wie man junge Menschenin Ausbildungs- und Arbeitsplätze bringt. Als Resümeeder Debatte möchte ich folgendes festhalten.Wer Ausbildungsplätze schaffen und junge Menschenin Arbeit bringen will, muß zunächst vorrangig dafürsorgen, daß die Rahmenbedingungen für Arbeitsplätzein der Wirtschaft stimmen,
Willi Brase
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der muß für Wirtschaftswachstum sorgen, der mußSteuerreformen großer Art angehen
und der muß die Lohnnebenkosten senken, ohne neueBelastungen zu schaffen.
Davon sind Sie in der rotgrünen Koalition weit entfernt.
– Wenn Sie es nicht glauben, will ich es Ihnen gernebelegen.
Wir haben am Ende unserer Regierungszeit ein Wirt-schaftswachstum von 2,7 Prozent hinterlassen. Das er-ste Quartal dieses Jahres brachte als Ergebnis Ihrer Poli-tik ein Wachstum von nur 0,7 Prozent.
Es standen für eine Steuerreform 20 Milliarden DM be-reit. Die hat Ihr inzwischen davongelaufener Finanzmi-nister Lafontaine verwurstelt. Jetzt müssen Sie sparen.Wir haben eine Rentenstrukturreform gemacht. Siehaben diese Reform ausgesetzt und kommen jetzt mitneuen Überraschungen. All das schafft nicht die Bedin-gungen, die dazu führen, daß mehr Arbeits- und Ausbil-dungsplätze geschaffen werden.
Ich sage Ihnen auch noch einmal, was Sie im Bereichder Arbeitsmarktpolitik bisher geschafft haben. Die Ar-beitslosigkeit ist saisonbereinigt im April um 10 000und im Mai noch einmal um 10 000 gestiegen. Das sindnicht die Ergebnisse, die die Wähler von Ihrer Politikerwartet haben.
– Wenn Sie rufen: „Unter 4 Millionen!“, dann will ichIhnen noch eines deutlich sagen. Die Basis dafür, daßdie Arbeitslosigkeit in diesem Jahr niedriger ist, ist imletzten Jahr gelegt worden. In diesem Jahr ist saisonbe-reinigt nichts hinzugekommen.
Wer Ausbildungsplätze schaffen und junge Menschenin Arbeit bringen will, meine Damen und Herren vonder rotgrünen Koalition, der muß vorrangig Ausbil-dungsplätze im dualen System, die in den ersten Ar-beitsmarkt führen, schaffen. Ich habe den Eindruck, daßSie mit Ihrem Programm, das Sie überall verkünden, einwenig von diesem Weg abkommen.
Wer Arbeitsplätze schaffen und junge Menschen inArbeit bringen will, der muß den Weg weitergehen, denwir begonnen haben, neue Ausbildungsberufe bereit-zustellen und Ausbildungsgänge zu modernisieren. Daswird zum Teil auch die Quintessenz der Erfahrungensein, die Sie nach einem Jahr mit Ihrem Programm ge-sammelt haben werden. Wir müssen uns die Frage stel-len: Was machen wir mit den Jugendlichen, die es ein-fach schwer haben, in eine normale Ausbildung zukommen? Machen Sie gemeinsam mit den Gewerk-schaften im Bündnis für Arbeit den Weg frei, daß eskünftig zweijährige Ausbildungen mit einer qualifi-zierten Abschlußprüfung gibt!
Das ist für junge Menschen, die einen dreijährigen Ab-schluß nicht erreichen können, notwendig. Helfen Siemit!Meine Damen und Herren, wer Ausbildungsplätzeschaffen und jungen Menschen Arbeit verschaffen will,der muß Maßnahmen mit möglichst direktem Übergangin den ersten Arbeitsmarkt schaffen – das ist ein we-sentlicher Punkt –, und der muß – das sage ich in Rich-tung PDS, aber auch zur SPD – vor allem Überlegungenhinsichtlich einer Ausbildungsplatzabgabe und ähnlichesfallenlassen.
Das ist Gift für die Wirtschaft, das sind Belastungen, dassind Kosten, aber das bringt keinen Arbeitsplatz.
Meine Damen und Herren, wer Ausbildungsplätzeschaffen und jungen Menschen Arbeit bringen will, dermuß in der Schule anfangen. Es kann nicht hingenom-men werden, daß 60 000 junge Menschen jedes Entlas-sungsjahrgangs nicht ausbildungsreif und nicht ausbil-dungsfähig sind. Daß wir mit der Politik in der Schuleanfangen müssen, sage ich auch in Richtung SPD, weilzumindest zur Zeit noch die Mehrheit der Länder SPD-regiert ist.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auch einpaar Worte zur Bewertung des 100 000-Jobs-Pro-gramms verlieren.
– Ich glaube Ihnen schon, daß es weh tut, wenn Sie dashören müssen.
Diesem 100 000-Jobs-Programm für junge Leutefehlt die Nachhaltigkeit. Zum einen fehlt die Nachhal-tigkeit bezüglich der Laufzeit. Das Programm ist zu-nächst auf ein Jahr beschränkt. Wir müssen gemeinsamklären, was danach mit den jungen Leuten passiert. Ist esein Strohfeuerprogramm für ein Jahr, oder wird es fort-gesetzt? Die Aussage im Sparprogramm reicht nicht aus.Wolfgang Meckelburg
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Die Finanzierung muß geklärt sein. Diesbezüglich habenSie sich durchgemogelt, indem Sie Ende letzten Jahresdas Gesetz geändert und 2 Milliarden DM hierfür ausden Mitteln der Bundesanstalt für Arbeit bereitgestellthaben. Das ist eigentlich nicht vorgesehen gewesen. Dassollte eine Ausnahme sein. Wir müssen regeln, wie esweitergeht. – Soweit zur Nachhaltigkeit, was die Lauf-zeit angeht.Wir müssen auch die Frage der Nachhaltigkeit in derWirkung angehen. Dies ist auch eine Frage der Bewer-tung des Programms: Bringt es jungen Menschen wirk-lich dauerhaft Ausbildung oder Arbeit, oder ist es nureine statistische Beruhigungspille? Ich darf in diesemZusammenhang darauf hinweisen, daß gerade die Kurz-zeittrainingsmaßnahmen einen relativ breiten Raum ein-nehmen. Man muß darüber reden, ob das wirklich ge-wollt ist. Das bringt die Zahl nach oben. Damit könnenSie draußen herumtönen. Es hilft den jungen Leutenaber nicht, weil sie nach dem Kurzzeitlauf wieder daste-hen und einen Ausbildungsplatz suchen.
Wichtig ist auch die Nachhaltigkeit bezüglich derQualität. Hierzu ist eine konkrete Analyse des erstenDurchganges notwendig. Wir dürfen nicht einfach wei-termachen oder plötzlich aufhören, sondern wir müssendieses Programm im Hinblick auf funktionierende Maß-nahmen bewerten und sehen, wie wir gemeinsam Quan-tität und Qualität unterscheiden können. Nicht die Zahlderjenigen, die an diesen Maßnahmen teilnehmen, istentscheidend, sondern die Qualität. Wir sollten mög-lichst viele erreichen, aber möglichst auch Ausbildungs-plätze schaffen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zumSchluß auf das zu sprechen kommen, was Sie im Wahl-kampf verteilt haben, die Garantiekarte. „Bewahren Siedie Karte auf. Sie werden sehen, daß wir halten, was wirversprechen.“ – Das haben Sie im Wahlkampf freiwilliggesagt.
– Sehen Sie, die Schwierigkeit fängt wirklich damit an,daß Sie schon beim Erwähnen der Garantiekarte klat-schen. Das ist ein Grundfehler Ihrer Politik.
Sie haben sich so unter den Druck dieser Karten gesetzt,daß Sie gar nicht gemerkt haben, mit welcher Hektik Siean Probleme herangegangen sind und wie Sie geradedadurch Unsinn in der Politik verzapft haben.
Da steht hier als erstes Versprechen: mehr Arbeits-plätze durch eine konzertierte Aktion für Arbeit, Inno-vation und Gerechtigkeit. Arbeitslosigkeit kann man be-kämpfen.
Ich wiederhole – klatschen Sie nicht zu früh –: Bisherist es Ihnen nicht gelungen. Sie hatten im April und Maisaisonbereinigt jeweils 10 000 Arbeitslose mehr.
Das ist Ihre Garantiekarte wert.
Sie haben versprochen, durch ein Sofortprogramm100 000 Ausbildungsplätze für Jugendliche und mehrLehrstellen durch eine Ausbildungsoffensive 1999 zuschaffen.
Wenn Sie sich die Maßnahmen anschauen, werden Siefeststellen, daß Ausbildungsplätze und Arbeitsplätze ineinem ganz bescheidenen Umfang entstanden sind. DieZahl von 140 000, die Sie zustande kriegen, kriegen Siein großem Umfang durch Kurzläufergeschichten hin.Das sind nicht die Dinge, die Sie versprochen haben.Auch da liegen Sie daneben.
Meine Damen und Herren, ich will Ihnen ersparen,die anderen Punkte hier vorzutragen, weil sie zum Teilandere Bereiche betreffen. Aber man kann Ihnen sagen:Wenn Sie das Versprechen erfüllen wollen, müssen Sieganz schön hart arbeiten.
Sonst heißt es nämlich am Ende: versprochen, gebro-chen.Schönen Dank.
Danke schön.– Ich schließe damit die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufDrucksachen 14/1056 und 14/1011 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Der Entschließungsantrag der F.D.P. auf Drucksache14/1225 soll an dieselben Ausschüsse wie der Berufsbil-dungsbericht überwiesen werden. Sind Sie damit einver-standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung sobeschlossen.Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetz-entwurf der Fraktion der PDS zur solidarischen Ausbil-dungsfinanzierung auf Drucksache 14/14.Es gibt eine gemeinsame persönliche Erklärung zurAbstimmung, die ich Sie bitte zu Protokoll nehmen zudürfen, und zwar von den Abgeordneten Nahles, Kort-mann, Lambrecht, Moosbauer, Nietan, Röspel, Roth,Sauer, Violka und Marhold.*) Sind Sie einverstanden? –Das ist der Fall. Dann nehmen wir das zu Protokoll.––––––*) Anlage 3Wolfgang Meckelburg
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4220 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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Der Ausschuß für Bildung, Forschung und Technik-folgenabschätzung empfiehlt auf Drucksache 14/583,den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Ge-setzentwurf der PDS auf Drucksache 14/14 abstimmen.Die PDS verlangt namentliche Abstimmung.Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, diePlätze einzunehmen. – Sind alle Urnen besetzt? – Dasscheint der Fall zu sein. Dann eröffne ich die Abstim-mung.Ist jemand anwesend, der seine Stimme noch nichtabgegeben hat? – Das scheint so zu sein. Dann wartenwir noch ein wenig. – Möchte noch jemand abstimmen?– Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Ich schließe die Ab-stimmung und bitte, mit der Auszählung zu beginnen.Das Ergebnis wird Ihnen später bekanntgegeben.*)Wir setzen die Beratungen fort, und zwar mit einerganzen Reihe von Abstimmungen. Deswegen bitte ich,die Gänge für eine bessere Übersicht frei zu machen unddie Gespräche nach Möglichkeit nach draußen zu verle-gen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:Überweisung im vereinfachten VerfahrenErste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Rah-menabkommen vom 28. Oktober 1996 überden Handel und die Zusammenarbeit zwi-schen der Europäischen Gemeinschaft undihren Mitgliedstaaten einerseits und der Re-publik Korea andererseits– Drucksache 14/1200 –Überweisungsvorschlag:
18. August 1948 über die Regelung der Schiff-fahrt auf der Donau
– Drucksache 14/1007 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
– Drucksache 14/1273 –Berichterstattung:Abgeordnete Annette FaßeDer Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswe-sen empfiehlt auf Drucksache 14/1273, den Gesetzent-wurf unverändert anzunehmen. Ich bitte die, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-entwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses ange-nommen worden.Tagesordnungspunkt 14 b:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Abkommen vom20. April 1998 zwischen der BundesrepublikDeutschland und Japan über Soziale Sicher-heit– Drucksache 14/1018 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Sozialordnung
– Drucksache 14/1291 –Berichterstattung:Abgeordneter Peter DreßenDer Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung emp-fiehlt auf Drucksache 14/1291, den Gesetzentwurf un-verändert anzunehmen. Ich bitte die, die dem Gesetz-entwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist auch die-ser Gesetzentwurf einstimmig angenommen worden.Tagesordnungspunkt 14 c:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zu dem Abkommen vom 2. Mai1998 zwischen der Bundesrepublik Deutsch-land und der Republik Ungarn über SozialeSicherheit– Drucksache 14/1019 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Sozialordnung
– Drucksache 14/1289 –Berichterstattung:Abgeordneter Peter DreßenVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4221
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Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung emp-fiehlt auf Drucksache 14/1289, den Gesetzentwurf un-verändert anzunehmen. Ich bitte die, sich zu erheben, diedem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Stimmt jemanddagegen? – Enthaltungen? – Damit ist auch dieser Ge-setzentwurf einstimmig angenommen worden.Tagesordnungspunkt 14 d:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom5. September 1998 zwischen der Regierungder Bundesrepublik Deutschland, der Regie-rung des Königreichs Dänemark und der Re-gierung der Republik Polen über das Multi-nationale Korps Nordost– Drucksache 14/1103 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärti-gen Ausschusses
– Drucksache 14/1303 –Berichterstattung:Abgeordnete Uta ZapfEckart von KlaedenDr. Helmut LippeltUlrich IrmerWolfgang Gehrcke-ReymannDer Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache14/1303, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.Ich bitte die, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der F.D.P. ge-gen die Stimmen der PDS angenommen worden.Der Tagesordnungspunkt 14 e wird morgen aufgeru-fen.Tagesordnungspunkt 14 f:Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-derung des Einführungsgesetzes zum Ge-richtsverfassungsgesetz– Drucksache 14/870 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 14/1293 –Berichterstattung:Abgeordnete Alfred HartenbachNorbert GeisHans-Christian StröbeleDer Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache14/1293, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.Ich bitte die, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,um das Handzeichen. – Stimmt jemand dagegen? – Ent-haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be-ratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom-men worden.Dritte Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte die, die dem Gesetz-entwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit einstimmig angenommen worden.Tagesordnungspunkt 14 g:Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Christine Ostrowski, Gerhard Jüt-temann, Dr. Evelyn Kenzler, Dr. Gregor Gysiund der Fraktion der PDS eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Geset-zes zur Regelung der Miethöhe– Drucksache 14/461 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 14/1304 –Berichterstattung:Abgeordnete Hans-Joachim HackerDr. Wolfgang GötzerRainer FunkeHierzu liegt eine persönliche Erklärung der Abgeord-neten Ostrowski vor, die zu Protokoll gegeben werdensoll. Sind Sie damit einverstanden? – Dann wird die Er-klärung zu Protokoll gegeben.*)Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetz-entwurf der Fraktion der PDS zur Änderung des Geset-zes zur Regelung der Miethöhe auf Drucksache 14/461.Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 14/1304,den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse jetzt über denGesetzentwurf der PDS auf Drucksache 14/461 abstim-men. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, bitte ich um das Handzeichen. – Gegenstimmen?– Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Be-ratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, derCDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der PDSabgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Ge-schäftsordnung die weitere Beratung.Tagesordnungspunkt 14 h:Beratung der Beschlußempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-nung zu der Unterrichtung durchdie BundesregierungElfter Bericht der Bundesregierung über dieArt, den Umfang und den Erfolg der von ihroder den Länderregierungen vorgenommenenBeanstandungen betreffend die Anwendungdes Artikels 141 EG-Vertrag übergleiches Entgelt für Männer und Frauen – Be-richtszeitraum 1995 bis 1997 –– Drucksachen 14/227, 14/305 Nr. 1.3, 14/1290 –Berichterstattung:Abgeordnete Leyla Onur––––––*) Anlage 4Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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4222 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
(C)
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlußempfehlungist damit einstimmig angenommen worden.Wir kommen nun zu den Beschlußempfehlungen desPetitionsausschusses.Tagesordnungspunkt 14 i:Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 52 zu Petitionen– Drucksache 14/1248 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 52 ist mit den Stimmen desganzen Hauses bei Enthaltung der PDS angenommenworden.Tagesordnungspunkt 14 j:Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 53 zu Petitionen– Drucksache 14/1249 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 53 ist mit den Stimmen desganzen Hauses gegen die Stimmen der PDS angenom-men worden.Tagesordnungspunkt 14 k:Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 54 zu Petitionen– Drucksache 14/1250 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 54 ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmender CDU/CSU und der F.D.P. angenommen worden.Tagesordnungspunkt 14 l:Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 55 zu Petitionen– Drucksache 14/1251 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 55 ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamtenOpposition angenommen worden.Tagesordnungspunkt 14 m:Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 56 zu Petitionen– Drucksache 14/1252 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 56 ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der PDS gegendie Stimmen der F.D.P. angenommen worden.Tagesordnungspunkt 14 n:Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 57 zu Petitionen– Drucksache 14/1253 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 57 ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmenvon CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden.Tagesordnungspunkt 14 o:Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 58 zu Petitionen– Drucksache 14/1254 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 58 ist mit den Stimmen desganzen Hauses gegen die Stimmen der PDS angenom-men.Ich gebe Ihnen jetzt das von den Schriftführerinnenund Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichenAbstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur soli-darischen Ausbildungsfinanzierung bekannt. Abgegebe-ne Stimmen 580. Mit Ja haben gestimmt 30, mit Neinhaben gestimmt 550, Enthaltungen keine. Der Gesetz-entwurf ist damit in zweiter Beratung abgelehnt worden.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 580;daovn:ja: 30nein: 550JaPDSMonika BaltDr. Dietmar BartschPetra BlässMaritta BöttcherEva Bulling-SchröterRoland ClausHeidemarie EhlertDr. Heinrich FinkDr. Ruth FuchsWolfgang Gehrcke-ReymannDr. Klaus GrehnDr. Gregor GysiDr. Barbara HöllUlla JelpkeSabine JüngerGerhard JüttemannDr. Evelyn KenzlerDr. Heidi Knake-WernerRolf KutzmutzHeidi Lippmann-KastenHeidemarie LüthAngela MarquardtManfred Müller
Rosel NeuhäuserChristine OstrowskiPetra PauChristina SchenkGustav-Adolf SchurDr. Ilja SeifertDr. Winfried WolfNeinSPDBrigitte AdlerGerd AndresRainer ArnoldVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4223
(C)
(D)
Hermann BachmaierErnst BahrDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsEckhardt Barthel
Klaus Barthel
Ingrid Becker-InglauWolfgang BehrendtDr. Axel BergHans-Werner BertlFriedhelm Julius BeucherPetra BierwirthRudolf BindigLothar Binding
Kurt BodewigKlaus BrandnerAnni Brandt-ElsweierWilli BraseDr. Eberhard BrechtRainer Brinkmann
Bernhard Brinkmann
Hans-Günter BruckmannEdelgard BulmahnDr. Michael BürschHans Martin BuryHans Büttner
Marion Caspers-MerkWolf-Michael CatenhusenDr. Peter DanckertDr. Herta Däubler-GmelinChristel DeichmannPeter DreßenRudolf DreßlerDetlef DzembritzkiDieter DzewasDr. Peter EckardtSebastian EdathyLudwig EichMarga ElserPeter EndersGernot ErlerPetra ErnstbergerAnnette FaßeLothar Fischer
Gabriele FograscherIris FollakNorbert FormanskiRainer FornahlHans ForsterDagmar FreitagLilo Friedrich
Harald FrieseAnke Fuchs
Arne FuhrmannMonika GanseforthKonrad GilgesIris GleickeGünter GloserUwe GöllnerRenate GradistanacGünter Graf
Angelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnAchim GroßmannWolfgang GrotthausKarl Hermann Haack
Hans-Joachim HackerChristel HanewinckelAlfred HartenbachAnke HartnagelKlaus HasenfratzNina HauerHubertus HeilReinhold HemkerFrank HempelRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogMonika HeubaumUwe HikschReinhold Hiller
Stephan HilsbergGerd HöferJelena Hoffmann
Walter Hoffmann
Frank Hofmann
Ingrid HolzhüterChristel HummeLothar IbrüggerBarbara ImhofBrunhilde IrberGabriele IwersenRenate JägerJann-Peter JanssenDr. Uwe JensVolker Jung
Johannes KahrsUlrich KasparickSabine KaspereitSusanne KastnerHans-Peter KemperKlaus KirschnerMarianne KlappertHans-Ulrich KloseWalter KolbowFritz Rudolf KörperKarin KortmannAnette KrammeNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerHorst KubatschkaErnst KüchlerHelga Kühn-MengelUte KumpfDr. Uwe KüsterWerner LabschChristine LambrechtBrigitte LangeChristian Lange
Detlev von LarcherChristine LehderRobert LeidingerKlaus LennartzDr. Elke LeonhardEckhart LeweringGötz-Peter Lohmann
Christa LörcherErika LotzDr. Christine LucygaDieter Maaß
Winfried ManteDirk ManzewskiTobias MarholdUlrike MascherChristoph MatschieIngrid Matthäus-MaierHeide MattischeckMarkus MeckelUlrike MehlUlrike MertenAngelika MertensDr. Jürgen Meyer
Ursula MoggChristoph MoosbauerSiegmar MosdorfMichael Müller
Jutta Müller
Christian Müller
Franz MünteferingAndrea NahlesVolker Neumann
Gerhard Neumann
Dr. Edith NiehuisDietmar NietanGünter OesinghausEckhard OhlLeyla OnurManfred OpelHolger OrtelAdolf OstertagKurt PalisAlbrecht PapenrothDr. Willfried PennerDr. Martin PfaffGeorg PfannensteinJohannes PflugDr. Eckhart PickJoachim PoßKarin Rehbock-ZureichMargot von RenesseRenate RennebachBernd ReuterDr. Edelbert RichterReinhold RobbeGudrun RoosRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Birgit Roth
Marlene RupprechtThomas SauerDr. Hansjörg SchäferGudrun Schaich-WalchBernd ScheelenSiegfried SchefflerHorst SchildDieter SchlotenHorst Schmidbauer
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Dagmar Schmidt
Wilhelm Schmidt
Regina Schmidt-ZadelHeinz Schmitt
Olaf ScholzKarsten SchönfeldFritz SchösserOttmar SchreinerGisela SchröterDr. Mathias SchubertBrigitte Schulte
Reinhard Schultz
Volkmar Schultz
Ilse SchumannDr. R. Werner SchusterDr. Angelica Schwall-DürenErnst SchwanholdRolf SchwanitzBodo SeidenthalErika SimmDr. Sigrid Skarpelis-SperkDr. Cornelie Sonntag-WolgastWieland SorgeWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltLudwig StieglerRolf StöckelRita Streb-HesseDr. Peter StruckJoachim StünkerJoachim TappeJörg TaussJella TeuchnerDr. Gerald ThalheimWolfgang ThierseFranz ThönnesAdelheid TröscherRüdiger VeitGünter VerheugenSimone ViolkaUte Vogt
Hedi WegenerWolfgang WeiermannReinhard Weis
Matthias WeisheitGert Weisskirchen
Dr. Ernst Ulrich vonWeizsäckerHans-Joachim WeltDr. Rainer WendHildegard WesterLydia WestrichInge Wettig-DanielmeierDr. Margrit WetzelDr. Norbert WieczorekHelmut Wieczorek
Jürgen Wieczorek
Heidemarie Wieczorek-ZeulDieter WiefelspützHeino Wiese
Klaus WiesehügelBrigitte Wimmer
Engelbert WistubaBarbara WittigDr. Wolfgang WodargVerena WohllebenHanna Wolf
Waltraud Wolff
Heidemarie WrightUta ZapfDr. Christoph ZöpelPeter ZumkleyCDU/CSUUlrich AdamIlse AignerPeter AltmaierVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Metadaten/Kopzeile:
4224 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
(C)
Norbert BarthleDr. Wolf BauerGünter BaumannBrigitte BaumeisterMeinrad BelleDr. Sabine Bergmann-PohlOtto BernhardtHans-Dirk BierlingDr. Joseph-Theodor BlankRenate BlankDr. Heribert BlensDr. Norbert BlümDr. Maria BöhmerSylvia BonitzWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachDr. Wolfgang BötschKlaus BrähmigDr. Ralf BrauksiepePaul BreuerMonika BrudlewskyGeorg BrunnhuberKlaus Bühler
Hartmut Büttner
Cajus CaesarPeter H. Carstensen
Leo DautzenbergWolfgang DehnelHubert DeittertAlbert DeßRenate DiemersThomas DörflingerHansjürgen DossMarie-Luise DöttMaria EichhornRainer EppelmannAnke EymerIlse FalkDr. Hans Georg FaustUlf FinkIngrid FischbachDirk Fischer
Dr. Gerhard Friedrich
Dr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeDr. Jürgen GehbNorbert GeisDr. Heiner GeißlerGeorg GirischDr. Reinhard GöhnerPeter GötzKurt-Dieter GrillHermann GröheManfred GrundGottfried Haschke
Gerda HasselfeldtNorbert Hauser
Hansgeorg Hauser
Klaus-Jürgen HedrichUrsula HeinenManfred HeiseSiegfried HeliasErnst HinskenPeter HintzeKlaus HofbauerKlaus HoletschekDr. Karl-Heinz HornhuesJoachim HörsterHubert HüppeGeorg JanovskyDr.-Ing. Rainer JorkDr. Harald KahlDr. Dietmar KansyManfred KantherIrmgard KarwatzkiVolker KauderEckart von KlaedenUlrich KlinkertDr. Helmut KohlNorbert KönigshofenEva-Maria KorsThomas KossendeyRudolf KrausDr. Martina KrogmannDr. Paul KrügerDr. Hermann KuesKarl LamersDr. Karl A. Lamers
Dr. Norbert LammertDr. Paul LaufsKarl-Josef LaumannVera LengsfeldPeter LetzgusUrsula LietzWalter Link
Eduard LintnerDr. Klaus Lippold
Dr. Manfred LischewskiWolfgang Lohmann
Julius LouvenDr. Michael LutherErich Maaß
Erwin MarschewskiDr. Martin Mayer
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterDr. Angela MerkelFriedrich MerzHans MichelbachMeinolf MichelsDr. Gerd MüllerBernward Müller
Elmar Müller
Bernd Neumann
Claudia NolteGünter NookeFranz ObermeierEduard OswaldNorbert Otto
Dr. Peter PaziorekAnton PfeiferDr. Friedbert PflügerBeatrix PhilippRonald PofallaRuprecht PolenzMarlies PretzlaffDr. Bernd ProtznerThomas RachelHans RaidelDr. Peter RamsauerHelmut RauberPeter RauenChrista Reichard
Erika ReinhardtHans-Peter RepnikKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberFranz RomerHeinrich-Wilhelm RonsöhrDr. Klaus RoseNorbert RöttgenDr. Christian RuckVolker RüheDr. Jürgen RüttgersAnita SchäferDr. Wolfgang SchäubleHartmut SchauerteHeinz SchemkenKarl-Heinz ScherhagGerhard ScheuDietmar SchleeAndreas Schmidt
Hans Peter Schmitz
Birgit Schnieber-JastramDr. Andreas SchockenhoffDr. Rupert ScholzReinhard Freiherr vonSchorlemerWolfgang SchulhoffDiethard W. Schütze
Clemens SchwalbeDr. Christian Schwarz-SchillingWilhelm-Josef SebastianHorst SeehoferHeinz SeiffertRudolf SeitersBernd SiebertWerner SiemannJohannes SinghammerMargarete SpäteCarl-Dieter SprangerWolfgang SteigerErika SteinbachDr. Wolfgang Freiherr vonStettenAndreas StormDorothea Störr-RitterMax StraubingerMatthäus StreblThomas StroblMichael StübgenDr. Rita SüssmuthEdeltraut TöpferDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzAngelika VolquartzAndrea VoßhoffDr. Theodor WaigelPeter Weiß
Gerald Weiß
Annette Widmann-MauzHeinz Wiese
Hans-Otto Wilhelm
Gert WillnerKlaus-Peter WillschMatthias WissmannWerner WittlichDagmar WöhrlAribert WolfElke WülfingPeter Kurt WürzbachWolfgang ZeitlmannBenno ZiererWolfgang ZöllerBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGila Altmann
Marieluise Beck
Volker Beck
Angelika BeerAnnelie BuntenbachEkin DeligözDr. Thea DückertFranziska Eichstädt-BohligDr. Uschi EidHans-Josef FellKatrin Göring-EckardtRita GrießhaberWinfried HermannKristin HeyneUlrike HöfkenMichaele HustedtMonika KnocheDr. Angelika Köster-LoßackSteffi LemkeDr. Helmut LippeltDr. Reinhard LoskeKlaus Wolfgang Müller
Kerstin Müller
Winfried NachtweiChrista NickelsCem ÖzdemirSimone ProbstClaudia Roth
Christine ScheelIrmingard Schewe-GerigkAlbert Schmidt
Werner Schulz
Christian SimmertChristian SterzingHans-Christian StröbeleJürgen TrittinDr. Antje VollmerLudger VolmerSylvia VoßHelmut Wilhelm
F.D.P.Rainer BrüderleErnst BurgbacherJörg van EssenUlrike FlachHorst Friedrich
Rainer FunkeDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannJoachim Günther
Dr. Karlheinz GuttmacherKlaus HauptDr. Helmut HaussmannUlrich HeinrichVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4225
(C)
(D)
Walter HircheBirgit HomburgerUlrich IrmerDr. Klaus KinkelDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppIna LenkeSabine Leutheusser-SchnarrenbergerJürgen W. MöllemannDirk NiebelGünther Friedrich NoltingHans-Joachim Otto
Detlef ParrCornelia PieperGerhard SchüßlerDr. Irmgard SchwaetzerMarita SehnDr. Hermann Otto SolmsDr. Max StadlerCarl-Ludwig ThieleDr. Dieter ThomaeJürgen TürkDr. Guido WesterwelleIch rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:Fragestunde– Drucksachen 14/1270, 14/1298 –Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bun-desministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Zur Be-antwortung der Fragen ist der Parlamentarische Staats-sekretär Gerd Andres erschienen. Ich rufe als erstes dieDringliche Frage 1 der Abgeordneten Birgit Schnieber-Jastram auf:Wie steht die Bundesregierung zu den Berechnungen desVerbandes Deutscher Rentenversicherungsträger vom 28. Juni1999, wonach das Nettorentenniveau bei Umsetzung der Spar-pläne der Bundesregierung unter Berücksichtigung der Revisionder Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung bei Nettostellungdes Kindergeldes 2002 auf 63,9 % sinkt und 2030 bei 64,8 %liegt?G
Frau Präsidentin!
Frau Kollegin Schnieber-Jastram, auf Grund der Revi-
sion der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung erhöht
sich das Rentenniveau um insgesamt rund einen Pro-
zentpunkt. Die Wirkung setzt sich aus zwei gegenläufi-
gen Effekten der Revision zusammen. Die Bruttostel-
lung des Kindergeldes, das nach der Revision nicht mehr
zur Nettolohn- und -gehaltssumme zählt, erhöht das
Rentenniveau um rund 2,5 Prozentpunkte. Die sonstigen
rückwirkenden Änderungen der Revision senken das
Rentenniveau um rund 1,5 Prozentpunkte.
Die Maßnahmen der Bundesregierung führen unter
Berücksichtigung der Revision der volkswirtschaftlichen
Gesamtrechnung zu einer Senkung des Rentenniveaus
von zur Zeit rund 70 Prozent auf bleibend rund 67 Pro-
zent. Dies bestätigen auch die Berechnungen des Ver-
bandes Deutscher Rentenversicherungsträger, der dies
gestern so nochmals ausdrücklich in einer gemeinsamen
Presseerklärung mit dem Bundesministerium für Arbeit
und Sozialordnung klargestellt hat. Ohne volkswirt-
schaftliche Gesamtrechnungsrevision würde das Ren-
tenniveau von rund 69 Prozent auf rund 66 Prozent sin-
ken.
Die Bundesregierung ist gehalten, auf der Basis der
jeweils gültigen Daten der volkswirtschaftlichen Ge-
samtrechnung zu rechnen. Weitere fiktive Vergleichs-
rechnungen, wie sie der VDR darüber hinaus angestellt
hat und die zu anderen Rentenniveaus führen, finden in
den amtlichen VGR-Daten keine Stütze.
Unabhängig von allen Vergleichsrechnungen bleibt
folgendes festzuhalten: Das Rentenniveau sinkt durch
die Maßnahmen der Bundesregierung um rund drei Pro-
zentpunkte. Das können Sie auch in den von Ihnen an-
gesprochenen Vergleichsrechnungen nachvollziehen. Im
Rentenreformgesetz 1999 der früheren Bundesregierung
war dagegen eine Absenkung des Rentenniveaus von
68,9 Prozent auf 64 Prozent, also um rund fünf Prozent-
punkte, vorgesehen. Dies belegen die Ausführungen in
der finanziellen Begründung zum Rentenreformgesetz
1999.
Eine Zusatz-
frage.
Herr Staatssekretär
Andres, Sie haben soeben selbst den Effekt der Umstel-
lung von der bisherigen Nettostellung des Kindergeldes
auf die Bruttostellung des Kindergeldes mit zweieinhalb
Prozentpunkten beziffert. Inwiefern können Sie dann
von einer fiktiven Rechnung sprechen, nachdem Sie sel-
ber diesen Effekt quantifiziert haben?
G
Herr Abgeordneter
Storm, ich habe zwei Daten genannt: Wenn man das
Kindergeld herausrechnet, ergibt sich eine Steigerung
um 2,5 Prozent, aber durch andere Maßnahmen eine Ab-
senkung um 1,5 Prozent. Das führt nach der Volkswirt-
schaftlichen Gesamtrechnung dazu, daß das Nettoren-
tenniveau um etwa 1 Prozentpunkt ansteigt.
Eine Nachfra-
ge des Kollegen Grund, bitte.
Herr Staatssekretär,
die Senkung des Rentenniveaus um 3 Prozentpunkte
bleibt ja ziemlich abstrakt. Das wird für die Rentnerin-
nen und Rentner ja erst konkret greifbar, wenn sie wis-
sen, wieviel weniger sie ab dem Jahre 2001 zur Verfü-
gung haben. Können Sie Berichte bestätigen, daß ab
dem Jahr 2001 dem Rentner in den alten Bundesländern
monatlich etwa 100 DM weniger verbleiben, als ihm
nach den bisherigen Erwartungen zustände, und den
Rentnern in den neuen Bundesländern 124 DM monat-
lich gegenüber den Steigerungen, die ihnen zustehen
würden, vorenthalten werden?
G
Herr AbgeordneterGrund, ich weiß nicht, woher Sie Ihre Zahlen haben.Deswegen kann ich sie weder bestätigen noch dementie-ren. Ich stimme Ihnen aber bei einer Aussage Ihrer Fra-ge ausdrücklich zu: Diese Debatten sind völlig abstraktund für kaum jemanden noch nachvollziehbar. Deswe-gen will ich noch einmal festhalten, daß die Bundesre-gierung erklärt hat – sowohl der VDR als auch die BfAhaben es heute bestätigt –, daß wir durch die beschlos-senen Maßnahmen das Nettorentenniveau künftig beizirka 67 Prozent stabilisieren können.Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Metadaten/Kopzeile:
4226 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
(C)
Ich kann Ihnen noch einmal bestätigen – weil ich sel-ber daran teilgenommen habe –, daß bei den Beratungendes Rentenreformgesetzes 1999 eine Absenkung umrund 5 Prozentpunkte vorgesehen war.
Ich denke, daß es angesichts der vielen Modellrechnun-gen, die die Öffentlichkeit beschäftigen, wichtig ist, denMenschen zu vermitteln, daß durch Beschluß des Bun-deskabinetts die Renten in den nächsten beiden Jahren inHöhe der Preissteigerungsrate ansteigen werden und daßdas den Effekt hat, daß das Nettorentenniveau bei einemgleichzeitig stabilen Beitrag von zirka 19 Prozent überlange Zeit stabil bei zirka 67 Prozent liegen wird. Das isteine wichtige Botschaft, die man auch draußen vermit-teln muß.
Zusatzfrage
des Abgeordneten Dreßen.
Herr Staatssekretär, kann es
sein, daß die Unklarheiten daher kommen, daß die Op-
position und Teile der Presse zwar die Berechnungen
des VDR, die ja jetzt bekanntgeworden sind, auf der
einen Seite mit dem Blüm-Modell und auf der anderen
Seite mit dem Riester-Modell vergleichen, aber dabei
vergessen, daß der VDR in Wirklichkeit von der aktuel-
len Gesetzeslage ausgegangen ist, also die zweijährige
Aussetzung des Demographiefaktors schon berücksich-
tigt hat?
G
Herr Abgeordneter
Dreßen, wir sehen das auch so. Wer auf der Grundlage
der aktuellen Gesetzeslage rechnet, der rechnet natürlich
auf der Grundlage, die im Herbst des vergangenen Jah-
res mit Wirkung zum 1. Januar dieses Jahres vorgesehen
war. Wir haben aktuell beschlossen, daß der sogenannte
Demographiefaktor aus dem Rentenreformgesetz 1999
der alten Koalition für dieses und nächstes Jahr ausge-
setzt wird. Wenn man auf dieser Grundlage rechnet, er-
hält man natürlich ganz andere Vergleichszahlen, als
man eigentlich heranziehen müßte. Es wäre ja nicht da-
von auszugehen gewesen, daß die alte Koalition, wenn
sie die Wahl noch einmal gewonnen hätte, den Demo-
graphiefaktor ausgesetzt hätte. Also muß man sozusagen
von den Auswirkungen der Blümschen Reform ausge-
hen, wie sie damals beabsichtigt und beschlossen war.
Daraus ergibt sich allerdings eine Schwierigkeit –
auch das muß man zugeben. Wenn man jeweils gleiche
Stände miteinander vergleichen will, zieht das außeror-
dentlich komplizierte Rechenoperationen nach sich, die
der Öffentlichkeit überhaupt nicht mehr zu vermitteln
sind. Deswegen ist es der Bundesregierung ganz wich-
tig, deutlich zu machen, daß wir mit unseren Maßnah-
men im Grunde genommen mehrere Dinge gleichzeitig
erreichen: Wir erreichen ein stabiles Nettorentenniveau
in Höhe von zirka 67 Prozent, also ein deutlich höheres
Niveau, als es durch die Reform der alten Koalition er-
reicht worden wäre, und stabile Beiträge von zirka
19 Prozent, die deutlich niedriger liegen als die der alten
Koalition.
Wir werden mit unserer Reform der Rentenversicherung
erreichen, daß die Rentenversicherung auf lange Sicht
zum einen zukunftsfest und zum anderen armutssicher ist.
Zusatzfrage
der Abgeordneten Schwaetzer.
Herr Staatsse-
kretär, Sie haben in all Ihren Aussagen bisher die Anga-
be von Jahreszahlen sorgfältig vermieden. Das heißt, Sie
haben in keiner Ihrer Aussagen gesagt, wann das von
Ihnen in den Raum gestellte Rentenniveau erreicht ist.
Stimmen Sie mir zu, daß nach den Berechnungen des
Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger die von
Ihnen durch das Aussetzen der nettolohnbezogenen
Rentenanpassung angestrebte Absenkung des Nettoren-
tenniveaus in den nächsten zwei Jahren von heute zirka
71 Prozent auf zirka 64 Prozent im Jahre 2002 die bru-
talste Absenkung ist, die man sich überhaupt nur vor-
stellen kann?
G
Frau Adam-
Schwaetzer,
ich stimme Ihnen ausdrücklich nicht zu. Wenn Sie sich
auf die Zahlen des VDR berufen, dann muß ich Ihnen sa-
gen, daß diese Zahlen Ihre Schlußfolgerung nicht stützen.
Im übrigen bitte ich um Entschuldigung. Sie heißen
nicht mehr Adam-Schwaetzer, sondern nur noch
Schwaetzer.
– Frau Präsidentin, darf ich dazu etwas sagen? – Frau
Schwaetzer hat mich eben ausdrücklich gebeten, sie
nicht mehr mit Adam-Schwaetzer anzureden. Ich bedau-
re, daß ich sie eben mit Adam-Schwaetzer und nicht mit
Schwaetzer angeredet habe. Was ist daran falsch? Viel-
leicht kann es mir jemand erklären?
Ich denke, die-ser Punkt ist endgültig geklärt.Parl. Staatssekretär Gerd Andres
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4227
(C)
(D)
Wir kommen zur Zusatzfrage des AbgeordnetenSinghammer.
Herr Staats-
sekretär, nicht hinreichend klar sind die Auswirkungen
auf das Nettorentenniveau für den Fall, daß Ihre Überle-
gungen verwirklicht werden sollten, die bisherigen frei-
willigen Beiträge für die betriebliche und private Alters-
vorsorge in einen Pflichtbeitrag umzuwandeln. Die
Auswirkung auf das Rentenniveau wäre dergestalt, daß
eine entsprechende Berechnung eine für Sie günstigere
Prognose ergeben würde. Damit würde aber gleichzeitig
die Vergleichbarkeit mit der bisherigen Berechnung auf
Grundlage der jetzigen Rentenformel noch weniger ge-
geben sein, wodurch noch mehr Wirrwarr in die öffent-
liche Diskussion käme. Wie beurteilen Sie also die Um-
wandlung der Beiträge im Bereich der privaten Alters-
vorsorge in Pflichtbeiträge in Hinblick auf das Netto-
rentenniveau?
G
Herr Abgeordneter
Singhammer, ich kann Ihnen ausdrücklich bestätigen,
daß es in der öffentlichen Debatte einen unglaublichen
Wirrwarr über die sehr unterschiedlichen Zahlen gibt.
Wir haben die ganze Zeit über das Nettorentenniveau
geredet. Dieses Niveau liegt nach übereinstimmender
Aussage des VDR, der BfA und der Bundesregierung in
den nächsten Jahren stabil bei 67 Prozent. Ich weiß
nicht, worauf Ihre Bemerkungen zum Pflichtbeitrag be-
ruhen. Dieser Punkt wird in der Debatte um eine zu-
künftige Rentenreform diskutiert werden müssen. Dar-
über hat es zwar öffentliche Äußerungen gegeben, aber
ich kann Ihnen nicht bestätigen, daß die Bundesregie-
rung bisher irgendeine Regelung zu einem zusätzlichen
Pflichtbeitrag beschlossen hat.
Zusatzfrage
des Kollegen Weiß.
Gerald Weiß (CDU/CSU): Herr
Staatssekretär, räumen Sie ein, daß die Renten nach
Ihrem schwerwiegenden Eingriff in die Rentenanpas-
sung im Jahr 2000 nur um 0,7 Prozent statt um die an-
sonsten fälligen 3,7 Prozent angepaßt werden und daß
das jedenfalls erheblich weniger ist, als wenn noch die
alte Formel mit dem Demographiefaktor gelten würde,
so daß die Darstellung, Sie würden mit Ihrer Rentenan-
passung günstiger liegen, als es nach der Rentenreform
1998 der Fall war, völlig unzutreffend ist?
G
Herr Abgeordneter
Weiß, wir haben jetzt die ganze Zeit über das Nettoren-
tenniveau diskutiert. Ich räume folgendes ein: Die Bun-
desregierung hat per Kabinettsbeschluß festgelegt, daß
die Rentenanpassungen für das Jahr 2000 und für das
Jahr 2001 entsprechend den Preissteigerungsraten statt-
finden werden. Der Bundesfinanzminister und andere
haben hier in öffentlichen Debatten deutlich gemacht,
warum wir das für notwendig halten. Wir glauben, daß
es möglich ist, das Rentensystem durch eine Stabilisie-
rung des Nettorentenniveaus sowie durch vernünftig re-
duzierte Beitragssätze, beispielsweise über die Ökosteu-
er, in einem umfassenden Konzept zukunftsfest und
gleichzeitig armutsfest zu machen. Ich will Sie darauf
verweisen, daß der Bundesfinanzminister deutlich ge-
macht hat, daß wir von vielen Menschen in unserem
Lande auf Grund der verheerenden Haushaltssituation,
die wir von Ihrer Regierung übernommen haben, er-
warten, daß sie in den nächsten Jahren sozusagen ein
Stück weit innehalten. Es gibt einen Ausgleich des
Preisanstiegs und damit keine Verschlechterung der Le-
benssituation. Wir werden anschließend wieder die net-
tolohnbezogene Rentenanpassung vornehmen, wie das
bisher üblich war.
Jetzt kommt
die Zusatzfrage des Kollegen Brecht.
Herr Staatssekretär,
könnten Sie mir eine Jahreszahl benennen, wann etwa
das Rentenniveau über dem liegt, was den Rentnern
nach dem Blümschen Modell zugestanden hätte?
G
Ich will noch ein-mal darauf verweisen, daß ich in der Antwort auf dieFrage, die Frau Schnieber-Jastram hier als erste Dring-liche Frage gestellt hat, deutlich gemacht habe, daß nachdem Rentenreformgesetz 1999 von Norbert Blüm eineSenkung des Nettorentenniveaus auf 64 Prozent geplantwar.
– Entschuldigung, ich bin gerade dabei, die Frage desAbgeordneten Brecht zu beantworten.Nach dem Stand der damaligen Diskussionen warvorgesehen, daß das Nettorentenniveau nach dieser Re-form bereits im Jahre 2010 bei 65 Prozent gelegen hätteund wahrscheinlich im Jahre 2012/13 auf 64 Prozent ab-gesenkt worden wäre.
Die Bundesregierung geht davon aus, daß sie mit denMaßnahmen, die sie jetzt beschlossen hat und die hierdiskutiert werden, auf längere Frist, bis zum Jahre 2030,Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Metadaten/Kopzeile:
4228 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
(C)
ein Nettorentenniveau von 67 Prozent gewährleistenkann.
Jetzt kommt
die Zusatzfrage des Herrn Kollegen Schäuble.
Herr Staats-
sekretär, wären Sie in der Lage, einzusehen, daß die
Bundesregierung zu den auch von Ihnen beklagten Ver-
wirrungen in der Öffentlichkeit über die Zahlen unter
anderem dadurch beiträgt, daß Sie, auch jetzt bei der
Beantwortung der Fragen, wenn Sie über das Rentenni-
veau der Blümschen Rentenreform sprechen, permanent
die Zahlen nennen, die sich vor der Revision der Volks-
wirtschaftlichen Gesamtrechnung ergeben haben, wäh-
rend Sie, wenn Sie über Ihre eigenen Reformvorhaben
sprechen, die Zahlen nehmen, die sich nach der Revision
der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ergeben, so
daß Sie 64 Prozent mit 67 Prozent vergleichen, obwohl
der Unterschied geringer wäre, wenn Sie seriös wären
und in beiden Fällen die Zahlen vor oder nach der Revi-
sion der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nehmen
würden? Können Sie mir die Frage beantworten, ob das
Absicht ist oder nur Versehen?
G
Herr Abgeordneter
Schäuble, ich bin nicht in der Lage, das einzusehen.
Ich würde Ihnen empfehlen, sich die VDR-Vergleichs-
zahlen, die Anlaß für die Fragen waren, anzuschauen.
Da ist es völlig unerheblich, von welchem Niveau man
bei den Modellrechnungen jeweils ausgeht; in dem einen
Fall, bei Ihnen, wird um 5 Prozentpunkte gesenkt, wäh-
rend bei uns um 3 Prozentpunkte gesenkt wird. Und das
bleibt auch so.
Um Ihnen das zu belegen, möchte ich, was die Daten
angeht, darauf verweisen, daß in § 68 des Rentenre-
formgesetzes 1999 festgelegt ist, daß das Nettorenten-
niveau nicht unter 64 Prozent absinken darf. In Nr. 7
dieses Paragraphen heißt es:
Bei der Bestimmung des neuen aktuellen Renten-
werts sind für das vergangene Kalenderjahr die
dem Statistischen Bundesamt zu Beginn eines Ka-
lenderjahres vorliegenden Daten und für das vor-
vergangene Kalenderjahr die bei der Bestimmung
des bisherigen aktuellen Rentenwerts verwendeten
Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung
zugrunde zu legen.
Nichts anderes hat die Bundesregierung getan. Das
heißt, wir halten uns an rechtliche Bestimmungen, die
noch unter Ihrer Koalition durch das Rentenreformge-
setz 1999 so beschlossen wurden.
Eine Zusatz-
frage des Kollegen Niebel.
Herr Staatssekretär, können Sie
mir angesichts dessen, daß der Herr Bundeskanzler die
Absenkung des Rentenniveaus auf 64 Prozent durch
Einführung des demographischen Faktors nach der alten
Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung bis zum Jahre
2015 während des Wahlkampfes als unanständig be-
zeichnet hat, mitteilen, wie der Herr Bundeskanzler die
Absenkung des Rentenniveaus auf 65 Prozent innerhalb
von zwei Jahren nach der neuen Volkswirtschaftlichen
Gesamtrechnung bezeichnet?
G
Ich kann nur das
wiederholen, was ich bereits mehreren Fragestellern ge-
antwortet habe: Die Bundesregierung muß sich an das
halten, was gesetzliche Grundlage ist. Nach der gesetzli-
chen Grundlage ist es so – dies war auch bei der frühe-
ren Koalition so –, daß man sich auf die Daten der
Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung stützen muß.
Das habe ich hier ausgeführt.
Ich habe schon erläutert, daß wir im Zusammenhang
mit einer umfassenden Reform der Rentenversicherung
– wir wollen sie zukunfts- und armutsfest machen – eine
Reihe von Maßnahmen beschlossen haben. Eine dieser
Maßnahmen für das nächste und das übernächste Jahr ist
die Anpassung der Renten an die Preissteigerungsrate.
Herr Niebel,
Sie können nur einmal fragen. Aber es sind ja noch ge-
nügend Fragesteller im Raum.
Jetzt rufe ich die Zusatzfrage des Kollegen Strobl auf.
Herr Staatssekretär,
Sie haben eingeräumt, daß hinsichtlich der Rentenpläne
der Bundesregierung öffentliche Verwirrung entstanden
ist. Zählen Sie dazu auch Äußerungen aus den Reihen
der Koalitionsfraktionen, beispielsweise der Abgeord-
neten Scheel, den von Ihnen abgeschafften Demogra-
phiefaktor im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens wie-
dereinführen zu wollen, und wie beurteilt die Bundesre-
gierung eine solche Äußerung?
G
Ich habe die Ver-wirrung, die Sie eingangs Ihrer Frage unterstellt haben,natürlich nicht zugestanden. Ich bitte Sie um Verständ-nis: Die Bundesregierung wird hier nicht zu Äußerungeneinzelner Abgeordneter der Koalition oder sonstigenÄußerungen Stellung nehmen.Parl. Staatssekretär Gerd Andres
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4229
(C)
(D)
Ich habe darzustellen – danach bin ich gefragt wor-den –, was die Bundesregierung zu tun beabsichtigt. Dagibt es Kabinettsbeschlüsse, die darauf hinauslaufen, inden nächsten beiden Jahren eine Anpassung der Rentennach bestimmten Kriterien vorzunehmen. Hierbei wirddiskutiert, welche Auswirkungen das auf das Beitrags-niveau und auf das Rentenniveau hat. Dazu habe ichmich zu äußern, und ich gedenke hier nicht, öffentlicheÄußerungen der Frau Abgeordneten Scheel zu kom-mentieren.
Eine Zusatz-
frage des Abgeordneten Hauser.
Herr Staatsse-
kretär, welches Rentenniveau hätte sich im Jahre 2001
nach dem Modell Blüm auf der Basis vor Umstellung
der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ergeben, und
welches Rentenniveau hätte sich im Jahre 2001 nach
dem Modell Riester vor der Veränderung der Volkswirt-
schaftlichen Gesamtrechnung ergeben? Welches Ren-
tenniveau ergibt sich demgemäß zum Jahre 2001 für
beide Modelle nach der Umstellung der Volkswirt-
schaftlichen Gesamtrechnung?
G
Herr Kollege Hau-
ser, das ist eine Frage, die man so nicht beantworten
kann.
Ich kann Ihnen beantworten, wie dies im Zusammen-
hang mit den Planungen bezüglich eines Rentenreform-
gesetzes des Bundesarbeitsministers Blüm ausweislich
der Bundesratsdrucksache 603/97 ausgesehen hat: Da
wäre es zu einem Nettorentenniveau in einer Größen-
ordnung von 69,8 Prozent bei einem Rentenbeitrag von
20,7 Prozent gekommen. Inzwischen aber liegt der Bei-
tragssatz nicht mehr bei 20,7 Prozent. Auf Grund der
Korrelationen ist ein Vergleich nicht möglich.
– Doch, er hat nach einem Vergleich von zwei völlig
verschiedenen Dingen gefragt.
Da schon mehrfach danach gefragt wurde, möchte ich
folgendes deutlich machen: Auf Grund der veränderten
Rechtslage ist ein unmittelbarer Vergleich nicht mög-
lich. Ich habe schon ein Beispiel genannt: Wir haben
den Demographiefaktor für die Jahre 1999 und 2000
ausgesetzt. Wenn man davon ausgeht und die Blümsche
Rentenreform nimmt, dann gilt der Faktor als ausgesetzt,
obwohl ich unterstelle, daß die alte Koalition nie daran
gedacht hätte, ihn außer Kraft zu setzen. Wir haben zu-
gesagt, den Demographiefaktor auszusetzen, und dies
auch umgesetzt. Nun ergeben sich ganz andere Zahlen.
Ich kann nur wiederholen, daß wir die Absicht haben
– das hat das Kabinett beschlossen –, die Renten im
nächsten Jahr in einer Größenordnung von 0,7 Prozent
anzupassen, im Jahr darauf in einer Größenordnung von
1,6 Prozent. Wir haben bereits zum 1. April den Renten-
versicherungsbeitrag von 20,3 Prozent auf 19,5 Prozent
gesenkt. Dies steht in Abhängigkeit zueinander. Es
macht also überhaupt keinen Sinn – das habe ich bereits
darzustellen versucht –, auf Grund der unterschiedlichen
Ausgangspositionen verschiedene Modelle miteinander
zu vergleichen.
Wäre der Demographiefaktor beibehalten worden,
hätte man errechnen können, was sich verändert; das ist
in den entsprechenden Gesetzentwürfen nachzulesen. Da
wir ihn aber ausgesetzt haben und bestimmte Verände-
rungen vornehmen, ergibt sich eine ganz andere Wir-
kung.
Zusatzfrage
des Kollegen Grehn.
Herr Staatssekretär, zu-
nächst einmal zur Ausgangsposition: Wir haben vor kur-
zer Zeit beschlossen, daß die Ausnahmeregelung für die
Sozialhilfeempfänger weiterhin gilt. Danach wird die
Erhöhung der Sozialhilfe der Rentenanpassung angegli-
chen. Nun aber werden wir bei den Renten eine Talfahrt
erleben. – Meine Frage: Welche Auswirkungen hat dies
für die Sozialhilfeempfänger und die Arbeitslosenhil-
feempfänger?
G
Herr Kollege, ich
teile Ihre Einschätzung in bezug auf die Talfahrt nicht.
Um das Rentensystem zukunftsfest und sicher zu ma-
chen, wird die Rentenanpassung in den nächsten zwei
Jahren nach einem bestimmten Mechanismus vorge-
nommen. Wir haben ausdrücklich festgelegt, daß dieser
Mechanismus auch für die Sozialhilfe und die Arbeits-
losenhilfe gelten wird. Für diese Bereiche und auch die
verwandten Rentensysteme bedeutet dies – um mit den
Worten des Bundesfinanzminsters zu sprechen – ein
zweijähriges Innehalten. Es wird gewährleistet, daß je-
der für zwei Jahre seinen Lebensstandard behält, indem
die Preissteigerungsrate ausgeglichen wird. Uns schafft
dies ausreichend Luft und Möglichkeiten, die Systeme
so zu gestalten, daß sie durch die Beitragszahler weiter-
hin vernünftig zu finanzieren sind, daß sie ein ausrei-
chendes Versorgungsniveau gewährleisten und zu-
kunftsfest werden.
Zusatzfrage
des Kollegen Seehofer.
G
Jetzt fehlt nur noch
Norbert Blüm. Dann haben wir sie alle.
Es gibt noch soviele, die nachfragen wollen. Ich nenne einmal diejenigen,
Metadaten/Kopzeile:
4230 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
(C)
Schnieber-Jastram und Herrn Kraus.G
Frau Präsidentin, darf
ich eine Frage stellen?
Ja.
G
Frau Schnieber-
Jastram hätte als Fragestellerin das Recht gehabt, zwei
Zusatzfragen zu stellen. Darauf hat sie verzichtet. Hat
sie erneut die Möglichkeit der Fragestellung? – Ich un-
terhalte mich gerne mit Ihnen, Frau Schnieber-Jastram.
Ich frage nur.
Sie haben völ-
lig recht. Wenn sie darauf förmlich verzichtet hat, hat sie
dieses Recht nicht. Wenn sie ihre Fragen nur hat ruhen
lassen, hätte sie das Recht wieder.
Jetzt wollen wir aber doch die Frage des Kollegen
Seehofer hören. Bitte.
Herr Staatssekretär, ist
es nicht so, daß unter den Fachleuten in der Rentenver-
sicherung seit jeher die Auswirkung einer Veränderung in
der Rentenversicherung danach beurteilt wird, wie von ihr
ein Durchschnittsverdiener, der sein volles Arbeitsleben
Beiträge in die Rentenversicherung eingezahlt hat, betrof-
fen ist? Das ist der sogenannte Eckrentner. Wenn man ihn
zugrunde legt, sieht man, daß dadurch, daß Sie die Ren-
tenerhöhung in den Jahren 2000 und 2001 kappen, diesem
Durchschnittsverdiener im Jahr 1 200 DM weggenommen
werden. Die Absenkung des Rentenniveaus, die damit
verbunden ist, wäre bei der Reform von Norbert Blüm
frühestens 10 Jahre später erreicht worden. Das heißt, daß
Sie 10 Jahre lang Rentner, die im Bestand sind, aber auch
Neurentner – wenn es sich um Durchschnittsverdiener
handelt – um 1 200 DM im Jahr erleichtern. Könnte darin
der Grund dafür liegen, daß der saarländische Minister-
präsident gestern erklärt hat, daß er sich angesichts eines
solchen unsozialen Einschnitts außerstande sehe, dieser
Reform zuzustimmen?
G
Herr Abgeordneter
Seehofer, selbstverständlich arbeiten wir in der Renten-
versicherung mit dem sogenannten Eckrentner. Das ist
derjenige, der 45 Jahre lang Beiträge in die Versiche-
rung eingezahlt hat und der dabei im Durchschnitt der
Beitragszahlungen aller Versicherten lag. Dafür kann
man bestimmte Dinge ausweisen.
Ich will Sie aber darauf hinweisen, daß beispielsweise
diese Regierung den sogenannten Demographiefaktor,
der bei der Rentenanpassung bereits in diesem Jahr ge-
wirkt hätte – –
– Entschuldigen Sie, ich darf doch bei einer Frage, die
etwas komplizierter ist, etwas umfassender antworten.
Oder nicht?
Herr Seehofer hat gesagt, es gebe keine Anpassung.
Ich wiederhole noch einmal: Das stimmt nicht. Es wird
eine Anpassung für alle Rentnerinnen und Rentner im
Jahre 2000 und im Jahre 2001 auf der Grundlage der
Rate der Preissteigerung geben. Wer Vergleiche zu Nor-
bert Blüm zieht, dem muß ich einfach sagen können, daß
die Rentenanpassung, die morgen wirksam wird, Herr
Abgeordneter Seehofer, 1,34 Prozentpunkte ausmacht.
Diese Rentenerhöhung kommt nur dadurch zustande,
daß die neue Bundesregierung den Demographiefaktor
ausgesetzt hat. Wäre er nämlich in Kraft geblieben, wäre
diese Rentenanpassung – ich beziehe mich jetzt aus-
drücklich auf den Westen – um 0,55 Prozent geringer
ausgefallen. Damit hätte die Rentenanpassung in diesem
Jahr 0,79 Prozentpunkte betragen und hätte damit
hauchdünn über dem Inflationsausgleich gelegen.
Wer bestimmte Dinge anspricht, der muß wissen, in
welchen Wirkungsmechanismen sie zueinander stehen.
Mehr versuche ich hier nicht darzustellen.
Jetzt ist der
Kollege Weiß mit seiner Zusatzfrage dran.
Ich möchte darauf hinweisen: Es gibt noch weitere
Fragen, und dazu kann man wiederum weitere Zusatz-
fragen stellen, und zwar zu einer Frage nur jeweils eine
Zusatzfrage.
Bitte.
Herr
Staatssekretär Andres, nachdem Sie mehrmals Verglei-
che zwischen der geplanten Rentenreform der derzeiti-
gen Bundesregierung und der Rentenreform unter Ver-
antwortung von Herrn Bundesminister Blüm in der frü-
heren Regierung gezogen haben – Sie haben immer
wieder Vergleiche gezogen zwischen der Absenkung um
3 Prozentpunkte und der um 5 Prozentpunkte –, möchte
ich Sie fragen, ob Sie noch einmal darlegen könnten,
wann das Rentenniveau von 67 Prozent – nach Ihrer Be-
rechnung – nach Ihrem Rentenreformmodell erreicht
wird und wann der sogenannte demographische Faktor
nach dem unter Federführung von Bundesminister Blüm
beschlossenen Rentenreformgesetz voll zur Geltung ge-
kommen wäre. Ich möchte Sie bitten, diese Jahreszahlen
noch einmal einander gegenüberzustellen.
G
Ich will zunächstnoch einmal feststellen, daß ich ausdrücklich gesagt ha-be – das ist ja der Kern dessen, worüber wir uns hierauseinandersetzen; das ist die Ausgangsfrage von FrauSchnieber-Jastram –: Wenn man für unterschiedlicheWirkungsweisen bestimmte Modellrechnungen macht– ich nehme jetzt die Rentenreform 1999 und nehme dieAbsichten, die diese Bundesregierung hat –, dann gibt esVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4231
(C)
(D)
in bezug auf verschiedene Veränderungen unterschiedli-che Ausgangslagen. Mir ist völlig klar: Wenn ich in die-sem Jahr von der geltenden Gesetzeslage ausgehe unddann den Demographiefaktor einbeziehe, komme ich zuanderen Werten, als wenn ich das im vergangenen Jahrberechnet hätte. Denn der Demographiefaktor ist – ichwiederhole das – in diesem und im nächsten Jahr ausge-setzt.
Deswegen ist die Vergleichbarkeit bestimmter Posi-tionen – das muß man öffentlich deutlich sagen – nichtgegeben. Es hilft überhaupt nichts, sich Modellrechnun-gen von diesem, von jenem und von Dritten anzuschau-en. Sinnvoll ist lediglich, sich mit der konkreten Be-schlußlage auseinanderzusetzen. Die derzeitige Be-schlußlage ist folgendermaßen: Wir haben bestimmteTeile des Rentenreformgesetzes 1999 aufgehoben. Dasist eine Tatsache. Das Bundeskabinett hat beschlossen,die Rentenanpassung für das nächste und das übernäch-ste Jahr gemäß einer bestimmten Grundlage vorzuneh-men. Eine dieser Grundlagen ist – ich bin immer nochdabei, Ihre Frage zu beantworten –, daß die Anpassungim nächsten Jahr 0,7 Prozent, im Jahr darauf 1,6 Prozentbetragen soll. Das nämlich sind die für die beiden Fol-gejahre geschätzten Preissteigerungsraten. Was passiertnun eigentlich, wenn die Preissteigerungsraten geringeroder höher ausfallen? Da die Anpassung dann auf derGrundlage eines davorliegenden Vorganges erfolgt,kann man diesbezüglich nur Annahmen auf Grund ge-setzter Daten treffen. Wenn sich die Raten ändern undhöher oder niedriger ausfallen, sind die Folgen für dieFolgejahre schon andere.Deswegen sage ich ausdrücklich – das ist die Positionunseres Hauses –: Es macht überhaupt keinen Sinn, sichüber unterschiedliche Modellrechnungen mit unter-schiedlichen Ausgangslagen auseinanderzusetzen. Dasführt nur zur Verwirrung der Bürgerinnen und Bürger.Viel sinnvoller ist es, deutlich zu machen, was beschlos-sen ist und womit wir umgehen.Äußern kann ich mich – das habe ich auch getan – zuden Auswirkungen der Gesetzgebung nach der Blüm-schen Rentenreform 1999 sowie zu dem jetzigen Stand,zu dem, was die Bundesregierung jetzt gemacht hat: Siehat den Demographiefaktor ausgesetzt, die geplantenVeränderungen im Bereich BU/EU zurückgenommenund festgelegt, wie die Anpassungen für die nächstenzwei Jahre aussehen sollen. Darüber kann ich Aussagentreffen. Alle weiteren Aussagen helfen nicht weiter undändern nichts an der Position, die ich hier dargestellthabe.
Jetzt eine Zu-
satzfrage des Kollegen Meckelburg.
Herr Staats-
sekretär, es verdichtet sich hier der Eindruck, daß Sie
nicht bereit sind, zwischen den beiden Modellen Ver-
gleichbarkeit herzustellen.
Ich beziehe mich in meiner Frage jetzt noch einmal auf
Ihre Aussage, man könne das nicht berechnen. Die Höhe
des Kindergeldes ist bekannt. Warum ist es nicht mög-
lich, Herr Staatssekretär, zu Vergleichszwecken die
Nettolohnentwicklung – unter Einbeziehung der Kinder-
gelderhöhung – zu berechnen und damit das Nettoren-
tenniveau auf bisheriger Basis anzugeben? Wir möchten,
daß Sie Dinge vergleichen, die vergleichbar sind. Sie
weigern sich bisher, das zu tun.
G
Ich weigere michüberhaupt nicht. Der VDR hat mitgeteilt – dies war jaAusgangspunkt und Veranlassung für diese Fragen –,daß das durchschnittliche Jahresnettoentgelt West durchdie Bruttostellung des Kindergeldes von 33 651 auf33 150 DM gesunken ist. Die Renten sind bisher nichtgeändert worden; insofern ist überhaupt nichts passiert.Sinkt das durchschnittliche Jahresnettoentgelt – weil dasKindergeld aus der Nettobewertung in die Bruttobe-wertung gestellt wird; weil es, wie Sie alle wissen, aufanderem Wege ausgezahlt wird –, erhöht sich der Pro-zentsatz des Rentenniveaus automatisch, wenn die Ren-ten gleichbleiben.
Ich weigere mich überhaupt nicht, Vergleiche anzustel-len.
– Ich kann Ihnen ganz unterschiedliche Zahlen vomVDR, von der BfA und von anderen vortragen. Dasmacht aber, so finde ich, überhaupt keinen Sinn, weilman sich mit der jeweiligen Berechnungsgrundlage aus-einandersetzen muß. Dann gelangt man wieder zu derspannenden Frage, ob der Demographiefaktor einbezo-gen ist oder nicht.Ich kann Ihnen also folgendes sagen – ich wiederholedas, weil das hier konkret beschlossen worden ist –: Umdas Rentenversicherungssystem zukunftsfähig zu ma-chen und gleichbleibende Beitragsbelastungen zu errei-chen, haben wir Maßnahmen für die nächsten zwei Jahreveranlaßt, die dazu führen, daß das Nettorentenniveaubei 67 Prozentpunkten liegt.
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4232 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
(C)
Ich verstehe,
daß bei diesem Thema die Emotionen hochgehen. Ich
muß trotzdem darum bitten, sie zu dämpfen, weil jetzt
der Herr Staatssekretär die Frage beantworten wird.
G
Der Kollege Hein-
rich hat gesagt, daß wir die gesetzlichen Grundlagen
verlassen. Selbstverständlich, Herr Kollege Heinrich,
wird unsere Anpassung, wie ich mehrfach geschildert
habe, auf gesetzlicher Grundlage geschehen. Daran be-
steht überhaupt kein Zweifel.
Ich will Ihnen noch einmal ausdrücklich zusichern:
Es gibt eine unterschiedliche Bewertung, aber wenn man
in Berechnungen Tatbestände miteinander vergleicht,
dann kann man wirklich nur vergleichbare Dinge mit-
einander vergleichen. Ich wiederhole: Wir haben seit
einem halben Jahr geänderte gesetzliche Bedingungen.
Nach den Beratungen des Rentenreformgesetzes 1999
wären wir bei einem Nettorentenniveau von 65 Prozent
im Jahre 2010 angekommen. Das können Sie in den
Protokollen des Deutschen Bundestages nachlesen.
Wir sagen Ihnen, daß wir durch die Maßnahmen, die
wir beschlossen haben, nicht nur auf der einen Seite die
Rentenversicherungsbeiträge zum 1. April dieses Jahres
von 20,3 Prozent auf 19,5 Prozent gesenkt haben, son-
dern daß wir auf der anderen Seite über eine lange Lauf-
zeit ein Nettorentenniveau von etwa 67 Prozent errei-
chen und stabilisieren werden. Das ist die Absicht der
Bundesregierung. Das kann ich hier nur wiederholen.
Frau Schnie-
ber-Jastram, hatten Sie nun verzichtet oder nicht?
Vielleicht einigen wir uns auf eine Nachfrage.
Herr Staats-
sekretär, wie steht die Bundesregierung zu Meldungen
der „Süddeutschen Zeitung“ vom 28. Juni 1999, wonach
das Herausrechnen des Kindergeldes aus der Lohnstati-
stik nicht zwingend notwendig gewesen wäre und damit
das Nettorentenniveau um 2,6 bis 2,8 Prozent zu hoch
ausgewiesen wird?
G
Frau Schnieber-
Jastram, ich will darauf hinweisen, daß wir uns auf die
volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, die das Statisti-
sche Bundesamt vornimmt, bezogen haben und daß das
gesetzeskonform ist. Wie sich Zeitungen dazu verhalten,
muß ich hier nicht kommentieren.
Eine Zusatz-
frage des Kollegen Laumann.
Herr Staats-
sekretär, hat sich die Bundesregierung einmal darüber
Gedanken gemacht, wie sich die neue Beitragsberech-
nung bei Arbeitslosen auf das Renteniveau der Men-
schen auswirkt, die lange arbeitslos sind? Sind meine In-
formationen richtig, daß ein Mensch, der ein Bruttoge-
halt von 4 400 DM hatte, bislang durch die Beiträge der
Arbeitslosenversicherung an die Rentenversicherung in
einem Jahr einen Rentenanspruch von 37,90 DM erwarb
und jetzt nach Ihrer Regelung nur noch einen Rentenan-
spruch von 14,90 DM erwartet? Sind Sie nicht der Mei-
nung, daß Sie damit viele Menschen, die länger arbeits-
los sind, im Rentenalter in die Sozialhilfe abdrängen?
Wie rechtfertigen Sie diese starke Absenkung der Ren-
tenansprüche für diese Menschen?
G
Herr AbgeordneterLaumann, das Bundeskabinett hat im Rahmen der Auf-stellung des Haushaltes für das Jahr 2000 im Bereich derArbeitslosenhilfe in der Tat Änderungen vorgenommen.Die Zahlungen, die die Bundesanstalt für Arbeit bei-spielsweise an die Rentenversicherung gewährt, wird diefiktive Größe „80 Prozent des letzten Nettoeinkom-mens“ auf den Zahlbetrag reduziern. Das hat – wenn dasüber längere Zeit geschieht; man kann es auf ein Jahroder auf längere oder kürzere Zeiträume fixieren – fürdie betroffenen Menschen dahin gehend Auswirkungen,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4233
(C)
(D)
daß sich ihre Rentenansprüche im späteren Rentenfallverringern.
– Sie präsentieren mir in der Frage Zahlen, von denenSie erwarten, daß ich sie bestätige oder nicht bestätige.Ich kann keine Zahlen bestätigen, die in irgendeinerZeitung gestanden haben. Wenn Sie mir diesen Artikelaber zur Verfügung stellen, Herr Laumann, werde ichgerne etwas dazu sagen.
Eine Zusatz-
frage des Kollegen Kraus.
Herr Staatsminister, ich
werde mich bemühen, eine ganz einfache Frage zu stel-
len. – Sie rühmen die Rücknahme des Demographie-
faktors ständig als eine Großtat. Können Sie vielleicht
überblicken, ob die 1 200 DM, die für den Eckrentner
bei Ihrer Rentenzahlung in der Zukunft herauskommen,
weniger ist als das, was herausgekommen wäre, wenn
wir bei der Blümschen Reform geblieben wären? Ich
vereinfache die Frage: Können Sie wenigstens bestäti-
gen, daß für die Menschen ganz erheblich weniger Rente
herauskommt als sie nach den Aussagen Ihrer Partei im
Wahlkampf glauben mußten?
G
Herr Kollege
Kraus, die konkreten Zahlen kann ich Ihnen so nicht be-
stätigen. Ich kann Ihnen aber eines bestätigen – das tue
ich gerne –: Wir werden in den nächsten beiden Jahren
die Rentenanpassung nach einem bestimmten Mecha-
nismus vornehmen, den wir hier schon mehrfach erläu-
tert haben.
Wenn man diesen Mechanismus nicht anwenden würde,
dann würde es zu höheren Rentenanpassungen kommen.
Es ist völlig klar – das haben die Bundesregierung, der
Finanzminister und andere im Plenum dieses Hauses be-
reits dargelegt –, daß wir aus Gründen, die mit der Bei-
tragsstabilität und mit einer umfassenden Rentenreform,
die das Rentensystem zukunfts- und armutsfest machen
soll, zusammenhängen, eine Maßnahme ergreifen, durch
die auf der einen Seite die Beiträge auf längere Sicht bei
ungefähr 19 Prozent stabilisiert werden und die auf der
anderen Seite zu einem Nettorentenniveau von um die
67 Prozent führt. Man muß sich jeweils im einzelnen an-
schauen, was das für den einzelnen Rentner bedeutet.
Das tun wir; das ist überhaupt nicht zu bestreiten. Damit
ist die Anpassung natürlich geringer als wenn man die
übliche Anpassung vorgenommen hätte. Sie wäre aber
auch in diesem Jahr schon geringer gewesen; das habe
ich eben schon einmal dargestellt. Sie ist höher, weil wir
für dieses Jahr den Demographiefaktor ausgesetzt haben.
Herr Kollege
Kraus, Sie haben zu einer Frage nur eine Nachfrage.
Jetzt kommen noch Nachfragen der Kollegen Ostertag,
Seifert und Blüm.
Herr Kollege Ostertag, bitte.
Frau Präsidentin! Wenn Sie
gestatten, möchte ich das statistische Grundseminar
verlassen und den Staatssekretär fragen – –
– Doch, natürlich sind Zahlen wichtig. Aber für eine
Rentendebatte sind nicht nur die statistischen Spitzfin-
digkeiten, sondern auch praktische Fragen entscheidend.
Daher möchte ich den Staatssekretär fragen, ob es zu-
trifft, daß in den letzten vier Jahren, in denen die heutige
Opposition regierte, die heute mit statistischen Daten ar-
gumentiert, die Rentenerhöhungen jeweils niedriger als
die Preissteigerungsrate waren,
ob er uns dazu eventuell Zahlen nennen kann und ob das
nicht ein wichtiges Argument gegen die Kampagne der
Opposition ist.
G
Herr KollegeOstertag, ich habe Ihnen schon die Zahl für dieses Jahrgenannt. Für dieses Jahr beträgt die Rentenanpassung1,34 Prozentpunkte, weil wir die Demographieformelaußer Kraft gesetzt haben. Wäre sie in Kraft geblieben,hätte es eine Rentenanpassung um nur 0,79 Prozent ge-geben. Die Rentenanpassung liegt in diesem Jahr knapp0,9 Prozent über der Inflationsrate.
Im vergangenen Jahr betrug die Preissteigerungsrate1 Prozent, die Rentenpassung 0,44 Prozent.
Im Jahr 1997 betrug die Preissteigerungsrate 1,9 Pro-zent, die Rentenanpassung – ich beziehe mich immer aufdie Daten für Westdeutschland – 1,65 Prozent.
Im Jahr 1996 betrugen die Preissteigerungsrate 1,4 Pro-zent und die Rentenanpassung 0,95 Prozent.
Parl. Staatssekretär Gerd Andres
Metadaten/Kopzeile:
4234 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
(C)
In den Jahren seit 1992 – ich möchte jetzt hier nicht diegesamte alte Statistik vorlesen –
gab es nur ein einziges Mal eine Rentenanpassung, dieüber der Preissteigerungsrate lag. Das war 1994.
In dem Jahr betrug die Preissteigerungsrate 2,7 Prozentund die Rentenanpassung 3,39 Prozent.Das Problem, das hier jetzt offensichtlich zu Geschreiund Auseinandersetzungen führt, ist, daß man über zu-rückliegende Daten relativ präzise Auskunft geben kann,daß aber über die Auswirkungen zukünftiger Daten aufeine Rentenreform und die Entwicklung des Nettoren-tenniveaus nur sehr schwierig verbindliche Zahlen ge-nannt werden können. Beispiele dafür habe ich erwähnt.Kein Mensch weiß, wie die Preissteigerungsrate imnächsten Jahr ist. Nach dieser Preissteigerungsrate wirdsich die Rentenanpassung im Jahr darauf richten. Eshandelt sich also nur um angenommene Daten.
Jetzt eine
Nachfrage des Kollegen Dr. Seifert.
Herr Staatssekretär, ich kann
mich des Eindrucks schwer erwehren, daß es Ihnen
ziemlich schwer fällt, auch auf verhältnismäßig präzise
Fragen präzise Antworten zu geben, wenn es um einen
Vergleich mit der früheren Regierung geht,
es sei denn, es sind bestellte Fragen aus Ihrer Fraktion.
Vielleicht gelingt es Ihnen, eine präzise Antwort auf
eine Frage zu geben, die innerhalb Ihres Systems ange-
siedelt ist.
Wenn ich Sie vorhin richtig verstanden habe, haben
Sie gesagt, daß die Rentensteigerungen der nächsten
zwei Jahre ausschließlich an die Inflationsrate gebunden
sein werden. Heißt das im Umkehrschluß, daß man,
wenn man den Rentnerinnen und Rentnern in Zukunft
ein hohes Rentenniveau wünschen will, sich für zwei
Jahre eine hohe Inflationsrate wünschen muß?
G
Das Problem ist,
Herr Abgeordneter – –
Herr Kollege
Dr. Seifert, wenn man sein eigenes Recht wahrnimmt,
muß man immer aufpassen, daß man nicht das Recht
anderer diffamiert. Alle Kollegen haben hier ein Frage-
recht, und wir gehen davon aus, daß sie davon auch frei
Gebrauch machen. Etwas anderes sollte man sich unter-
einander nicht unterstellen. – Jetzt kommt die Antwort.
G
Herr Abgeordneter
Seifert, ich möchte zunächst noch einmal darauf hinwei-
sen – darin liegt der Unterschied –, der Streitpunkt in der
Frage von Frau Schnieber-Jastram sind Daten, die auf
Grund unterschiedlicher Rechenmodelle unterschiedlich
ausfallen. Es ist ein Unterschied, ob ich verschiedene
Rechenmodelle habe und über die Prognosen von VDR,
BfA usw. rede oder ob ich darüber rede, welche gesi-
cherten Daten ich über die Vergangenheit habe.
Ich habe Daten über die Preissteigerungsraten und
über die Rentenanpassung. Ich habe hier erklärt, wie die
Rentenanpassung für das nächste und das übernächste
Jahr aussehen soll. Außerdem habe ich erklärt, daß auf
Grund verschiedener gesetzgeberischer Maßnahmen be-
stimmte Dinge vor der Bundestagswahl nicht einfach
mit Heutigem vergleichbar sind, weil es – das habe ich
zugestanden – gesetzliche und statistische Änderungen
gegeben hat.
Nun zu Ihrer zweiten Frage, ob man eine hohe Infla-
tionsrate wünschen müsse. Nein, das macht natürlich
keinen Sinn. Mit der Rentenanpassung der nächsten bei-
den Jahre verbinden wir die Absicht, den Rentnerinnen
und Rentnern zuzusichern, daß ihr Lebensstandard ge-
halten wird. Wenn wir die Preissteigerungsrate als
Grundlage der Steigerung der Rentenzahlbeträge neh-
men, dann ist damit garantiert, daß sie ihren Lebens-
standard wahren. Im Gegensatz hierzu habe ich soeben
vorgetragen, daß es in den letzten sieben Jahren eine
ganze Reihe von Jahren gegeben hat, in denen die Ren-
tenanpassung deutlich niedriger als die Preisanpassungs-
rate ausgefallen ist.
Jetzt warten
wir auf die Frage des Abgeordneten Blüm.
Herr Staatssekretär,darf ich Ihnen behilflich sein, eine Frage präzise zu be-antworten?
Ich beziehe mich auf die Frage: Was bedeutet es,wenn, wie Sie dargestellt haben, der Beitrag für die Ar-beitslosenhilfebezieher – das sind die Langzeitarbeitslo-sen; ich sage das, damit Sie genau wissen, um wen esgeht – von 80 Prozent vom Brutto auf den Zahlbetragder Arbeitslosenhilfe – 53 Prozent vom Netto – reduziertwird? Da Sie diese Frage nicht beantworten konnten,was das für den Langzeitarbeitslosen bedeutet, will ichIhnen helfen. Das bedeutet für ihn im Durchschnitt min-destens die Halbierung des jährlich erworbenen Renten-anspruchs während der Zeit des Bezugs von Arbeitslo-senhilfe. Sie halbieren den Rentenanspruch des Lang-zeitarbeitslosen für die Zeit seiner Arbeitslosigkeit. – IchParl. Staatssekretär Gerd Andres
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4235
(C)
(D)
wollte Ihnen nur bei der Präzisierung Ihrer Antwort be-hilflich sein.
Aber jetzt fra-
gen wir uns alle, Herr Kollege Blüm, wo die Frage in
Ihrem Redebeitrag war.
Die Frage war: Darf
ich Ihnen helfen? Ich kann es noch präzisieren: Können
Sie die einfache Rechnung – von 80 Prozent des Brutto
auf 53 Prozent des Netto – nachvollziehen und bestäti-
gen, daß das im Durchschnitt für die Langzeitarbeitslo-
sen die Halbierung ihres Rentenanspruches bedeutet,
Herr Staatssekretär?
Herr Staatsse-
kretär!
G
Herr Abgeordneter
Blüm, Ihre Frage war ja, ob Sie mir helfen dürfen. Ich
bedanke mich herzlich für Ihre Hilfeversuche.
Ich kann Ihnen bestätigen, daß es selbstverständlich,
wenn man den Rentenzahlbetrag verändert, auch zu ver-
änderten Leistungen kommt. Aber der spannende Punkt
dabei ist: Wie hoch war das Einkommen, und wie hoch
ist der Zahlbetrag, den der Betroffene erhält?
– Nein, ich kann die Halbierung nicht bestätigen.
Wie sich dies auswirkt, hängt entscheidend davon ab,
wie hoch die Leistung in der Arbeitslosenhilfe ist.
Ich will noch ein Zweites sagen. Herr Abgeordneter
Blüm, ich habe mich für Ihre Hilfeversuche bedankt.
Wir kennen uns ja lange genug. Ich habe in den vergan-
genen Legislaturperioden eine Reihe von Diskussionen
miterlebt, die der damalige Bundesarbeitsminister Blüm
hinsichtlich der Frage von Arbeitslosenhilfe und Sozial-
hilfe geführt hat. Ich will Ihnen sagen: Ihr Ziel war die
Vereinheitlichung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe.
– Entschuldigen Sie. Herr Abgeordneter Blüm, ich habe
eine schriftliche Unterlage mitgebracht, weil ich dachte,
man muß auch das Kurzzeitgedächtnis ein wenig benut-
zen: Wer im Rahmen einer Debatte bezüglich neuer In-
itiativen zur Beschäftigungsförderung im Zusammen-
hang mit der Veränderung der Arbeitslosenhilfe erklärt,
es sei völlig unverständlich, daß wir zwei Versorgungs-
systeme haben, daß wir eine Arbeitslosenhilfe und eine
Sozialhilfe haben,
der muß auch die Frage beantworten, wer eigentlich für
Sozialhilfeempfänger Rentenversicherungsbeiträge be-
zahlt und in welcher Weise dies stattfindet. Ich sage
Ihnen: Eine der Maßnahmen, die wir treffen – das habe
ich schon geschildert –, besteht in der Veränderung der
Rentenversicherungsbeiträge für Bezieher von Arbeits-
losenhilfe, mit der Auswirkung, Herr Blüm, daß sie
später geringere Rentenansprüche haben.
Aber ich weise gleichzeitig darauf hin, daß wir im
Rahmen der beabsichtigten Rentenreform so etwas wie
eine soziale Grundsicherung und andere Dinge einfüh-
ren. Wir sind also gewillt, bestimmte Dinge dort wieder
auszugleichen.
Mir liegen zu
dieser – ich weise darauf hin: immer noch ersten –
Dringlichen Frage noch zwei Wünsche nach Zusatzfra-
gen vor, nämlich vom Kollegen Girisch und von der
Kollegin Barnett. Ich werde dann weitere Fragen zu
dieser ersten Frage nicht mehr zulassen und möchte
dann die Frage 2 aufrufen. Es sind nämlich jetzt eine
Stunde lang Nachfragen zur ersten Frage beantwortet
worden.
Kollege Girisch!
Herr Staatssekretär,
was soll ich einem Rentner in meinem Wahlkreis sagen,
der 45 Jahre lang gearbeitet hat und durch die Blümsche
Reform in diesem Jahr 2 000 DM Rente bezieht: Was
bekommt er nach Ihrer Reform im Jahre 2000 und im
Jahre 2001? Bitte nennen Sie mir die Zahlen.
G
Das erste Problemist: Es kommt immer auf den Rentner an.
Im übrigen würde ich Ihnen empfehlen, bei der Fra-gestunde zuzuhören. Dann können Sie ihm sagen, daßer nach der Beschlußlage im nächsten Jahr 0,7 Prozentund im darauffolgenden Jahr 1,6 Prozent Rentenerhö-hung bekommt, wenn die Preissteigerungsrate 1,6 Pro-zent ausmacht. Das können Sie dem Rentner sagen. Jenach Rentenfall wird sich das ganz unterschiedlichauswirken.Dr. Norbert Blüm
Metadaten/Kopzeile:
4236 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
(C)
Frau Kollegin
Barnett, bitte.
Herr Staatssekretär, vorausge-
setzt, es stimmt, daß wir in diesem Hause die Lohnne-
benkosten senken wollen – wegen der Arbeit, die wir
doch schaffen wollen –, und vorausgesetzt, daß damit
die Beiträge zur Rentenversicherung sinken sollen, hätte
ich von Ihnen gerne gewußt, wie die Entwicklung aus-
sehen könnte, wenn wir alles das vollziehen, was sich
die Opposition wünscht, so mit dem großen Füllhorn
nach dem Motto: Weiter so! Am besten nichts kürzen,
sondern noch mehr draufgeben. Wie würden sich erstens
die Beiträge entwickeln, und wie wäre zweitens die Lei-
stungsentwicklung, insbesondere in bezug auf die Preis-
steigerung?
G
Frau Kollegin Bar-
nett, ich will zunächst sagen, daß die neue Bundesregie-
rung zum 1. April dieses Jahres eine Absenkung des
Rentenversicherungsbeitrages durchgesetzt hat. Er be-
trug bekanntermaßen 20,3 Prozent. Wir haben ihn auf
19,5 Prozent abgesenkt. Es gibt die Absicht, diesen
Rentenversicherungsbeitrag weiter abzusenken. Wir
wollen über lange Zeit erreichen, daß der Rentenversi-
cherungsbeitrag stabil bei etwa 19 Prozent gehalten
werden kann.
Ich kann Ihnen sagen: Die 20,3 Prozent, die wir von
der Vorgängerregierung übernommen haben, waren
auch nur durch ganz schwierige Maßnahmen zu re-
duzieren, weil wir in den Rentenkassen im Oktober
des vergangenen Jahres ein Defizit vorgefunden haben
und die Schwankungsreserve nicht erreicht werden
konnte.
Wir versuchen, mit den Maßnahmen, die wir ergrei-
fen, drei oder vier Dinge miteinander zu kombinieren:
Wir wollen, daß die Rentnerinnen und Rentner in den
nächsten zwei Jahren ihren Lebensstandard halten kön-
nen. Das garantieren wir auch. Wir wollen unser Ren-
tenversicherungssystem zukunftsfähig machen. Das
bedeutet für uns, eine Reform auf den Weg zu bringen,
mit der wir stabile Beiträge, ein stabiles Nettorenten-
niveau erreichen, indem wir eine neue Regelung der
Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten durchsetzen,
und mit der wir eine Reform der eigenständigen Alters-
sicherung der Frau vollziehen, was ein ganz wichtiger
Tatbestand ist.
Um dies alles unter einen Hut zu bringen, um also für
die Zukunft Vorsorge zu treffen, ist es notwendig, diese
Maßnahmen zu ergreifen. Dazu hat die Bundesregierung
den ersten Schritt beschlossen, nämlich die Anpassung
für das nächste und übernächste Jahr. Die Einzelheiten
einer Rentenreform werden der Debatte in den nächsten
Monaten überlassen bleiben. Wir haben die Absicht,
diese Rentenreform im nächsten Jahr gesetzgeberisch
umzusetzen.
Jetzt rufe ich
die Dringliche Frage 2 der Abgeordneten Birgit Schnie-
ber-Jastram auf:
Aus welchen Gründen hat das Bundesministerium für Arbeitund Sozialordnung die Öffentlichkeit nicht darauf hingewiesen,daß bei Umsetzung der Sparpläne der Bundesregierung unterBerücksichtigung der Revision der Volkswirtschaftlichen Ge-samtrechnung bei Nettostellung des Kindergeldes das Nettoren-tenniveau um gut 2,5 Prozentpunkte niedriger liegt als bei denvom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung angege-benen Ergebnissen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
G
Frau Kolle-
gin Schnieber-Jastram, die Bundesregierung hat die
Finanzwirkung ihrer Maßnahmen stets auf Basis der
aktuellen amtlichen Statistik dargestellt.
Im übrigen verweise ich in diesem Zusammenhang
auf meine Antwort zur Dringlichen Frage 1.
Möchten Sie
nachfragen, Frau Kollegin?
Ja, bitte.
Bitte sehr.
Herr
Staatssekretär, Sie haben vorhin immer wieder deutlich
gemacht, daß es eine Anpassung geben wird. Wenn wir
darüber reden, dann müssen wir, finde ich, das ein biß-
chen konkreter machen, damit man es auch wirklich ver-
steht, denn wir betreiben ja sehr viel Zahlenspiel. Des-
wegen noch einmal die Frage: Ist es richtig, daß Ihre
Anpassung, die Sie in den Jahren 2000 und 2001 vor-
nehmen werden, für den normalen Eckrentner bedeutet,
daß er im Westen 100 DM und im Osten sogar 140 DM
im Monat weniger als bei der Blümschen Reform hat?
G
Frau Schnieber-
Jastram, ich kann Ihnen nur noch einmal sagen: Für den
Eckrentner bedeutet das eine Rentenanpassung von
0,7 Prozent und von 1,6 Prozent für das nächste bzw. für
das übernächste Jahr.
Kollegin
Schnieber-Jastram, bitte.
HerrStaatssekretär, meine Frage war eine andere. Da Sie aufdiese Frage offensichtlich nicht antworten wollen,möchte ich darauf zurückkommen, daß es neben den
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4237
(C)
(D)
Beitragsempfängern auch Beitragszahler gibt. Das Ifo-Institut hat in einer Stellungnahme gesagt, daß die Ren-tenreform à la Riester die jungen Menschen langfristighöher belasten werde. Können Sie dazu Stellung neh-men?G
Die Berechnungen
des Ifo-Instituts sind eine Berechnung wie die des VDR,
der BfA oder anderer. Das Problem ist – ich habe mehr-
fach versucht, das deutlich zu machen –, daß wir eine
Balance zwischen der Beitragszahlung, die wir deutlich
unter 20 Prozent – nämlich auf 19 Prozent – halten
wollen, und einem Nettorentenniveau, das nach den
Aussagen, die ich jetzt schon mehrfach getroffen habe,
bei etwa 67 Prozent liegt, erreichen müssen. Wenn wir
das hinbekommen, glauben wir, daß das auf der einen
Seite zur Entlastung der Beitragszahler – das ist dann
auch eine Entlastung der jüngeren Generation, weil sie
ja entsprechend in die Rentenversicherung einzahlen
muß – und auf der anderen Seite zu einer vernünftigen
Stabilisierung des Rentenniveaus führt.
Eine Zusatz-
frage des Kollegen Storm.
Herr Staatssekretär, in
Ihrer Antwort zur Frage 1, auf die Sie gerade verwiesen
haben, haben Sie bestätigt, daß der isolierte Effekt der
Umstellung von der Nettostellung auf die Bruttostellung
des Kindergeldes bei 2,5 Prozentpunkten liegt. Warum
hat Ihre Kollegin Frau Mascher in einer Mitteilung des
BMA vom 24. Juni diesen Effekt auf nur einen Prozent-
punkt beziffert?
G
Das kann ich Ihnen
nicht beantworten. Ich habe Ihnen gesagt, daß es nach
den Berechnungen der volkswirtschaftlichen Gesamt-
rechnung 2,5 Prozentpunkte ausmacht und daß man an-
dere Veränderungen mit 1,5 Prozentpunkten dagegen-
rechnen muß, so daß sich das Nettorentenniveau durch
diese Operationen rechnerisch um einen Prozentpunkt
erhöht. Ich möchte einmal vermuten, daß sich meine
Kollegin Ulrike Mascher auf exakt diesen einen Pro-
zentpunkt, der den Unterschied ausmacht, bezieht.
Eine Zusatz-
frage des Kollegen Dreßen.
Herr Staatssekretär, kann das
auch dadurch entstehen, daß wir die Steuern und Beiträ-
ge gesenkt haben und sich damit die Einkommen der
Arbeitnehmer in den nächsten Jahren natürlich sehr stark
erhöhen werden? Dadurch entwickelt sich doch die
Nettoerhöhung entsprechend. Berühren die guten Taten,
die wir beschlossen haben und die die Opposition nie in
dieser Form vorhatte – deswegen kann die Berechnung
so auch nicht funktionieren –, berühren also die Senkung
der Steuern und die damit verbundene Entlastung
von Familien mit Kindern um bis zu 1 200 DM bzw.
2 000 DM im Jahr die Rentenentwicklung – jeweils mit
Blick auf die Nettoentlastung?
G
Selbstverständlich
ist das so. Ich nenne als Beispiel die Senkung des Ren-
tenversicherungsbeitrages um immerhin 0,8 Prozent-
punkte. Durch die Senkung dieses Beitrags erhöht sich
auf der anderen Seite das Nettoeinkommen. Es fließt
also dort ein. Die Erhöhung des Kindergeldes und
Steuerentlastungen, wie zum Beispiel durch die Senkung
des Eingangssteuersatzes um zwei Prozentpunkte, füh-
ren dazu, daß auf der einen Seite die Nettoeinkommen
steigen und damit auf der anderen Seite auch die Netto-
anpassungen steigen würden.
Als weiteren Punkt möchte ich das Familienurteil
vom Januar dieses Jahres nennen, in dem Karlsruhe an-
gemahnt hat, daß die Familienleistungen deutlich erhöht
werden müssen. Die Erhöhung dieser Leistungen – ganz
abgesehen von der Erhöhung des Kindergeldes –, die auf
Grund dieses Urteiles notwendig sind, würde dazu füh-
ren, daß die Nettoanpassungen höher ausfallen müßten.
Ich weise in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf
hin: Es kann doch keinen Sinn machen, daß man all die-
se Leistungen einrechnet und sie an die Rentnerinnen
und Rentner unmittelbar weitergibt.
Es muß eine vernünftige Balance zwischen denjeni-
gen, die jung sind und Kinder erziehen, und der älteren
Generation, die in Rente ist, geben. Deswegen sehen wir
in den Maßnahmen, die wir für die nächsten zwei Jahre
umsetzen wollen, einen Pakt für die Zukunft, um das
Rentenversicherungssystem zukunftsfähig zu machen.
Dafür erwarten wir natürlich auch einen entsprechenden
Beitrag der Rentnerinnen und Rentner.
Genau aus den Gründen, die Sie genannt haben, ist es
schwierig und macht es gar keinen Sinn, irgendwelche
konkreten Zahlen zu bestätigen. Denn es ist noch völlig
unklar, wie hoch die Nettorentenanpassung im nächsten
Jahr sein wird. Das kann auch keiner von den Damen
und Herren von der Opposition darlegen. Ich kann nur
darauf verweisen, daß es jetzt eine Steigerung um
0,7 Prozent gibt. Aber wie hoch im Vergleich dazu
die Nettorentenanpassung sein wird und wieviel sie in
D-Mark betragen wird, kann momentan niemand sagen.
Zwar können hier viele Zahlen genannt werden, aber ich
werde das nicht tun, weil ich das nicht für vernünftig
und verantwortbar halte.
Eine Zusatz-
frage, Herr Kollege Niebel.
Herr Staatssekretär, Sie habenin Ihrer Antwort auf Frage 1 verwiesen. Ich möchte aufden Punkt zurückkommen, den der Kollege Blüm ange-sprochen hat. Sie wollen offenkundig keine konkretenZahlen nennen. Deswegen erlaube ich mir, meine FrageBirgit Schnieber-Jastram
Metadaten/Kopzeile:
4238 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
(C)
anders zu formulieren: Stimmen Sie mir – ohne konkreteZahlen zu nennen – im Grundsatz zu – vorhin haben Siedarauf verwiesen, daß es wichtig sei, wieviel beispiels-weise ein Langzeitarbeitsloser zuletzt verdient habe –,daß 80 Prozent vom Brutto in aller Regel mehr sind als80 Prozent von 53 Prozent vom Netto?G
Wie war das noch
einmal? Ich habe die Frage nicht verstanden; vielleicht
können Sie sie noch einmal etwas deutlicher formulie-
ren. Wie verhalten sich 80 Prozent vom Brutto zu Netto?
80 Prozent
vom Brutto sind mehr als 53 Prozent vom Netto.
Nein, als 80 Prozent von
53 Prozent vom Netto.
Der Kollege Blüm hat vorhin richtigerweise darauf
hingewiesen, daß der Rentenversicherungsbeitrag von
Arbeitslosenhilfeempfängern nach dem Brutto berechnet
wird. Es werden 80 Prozent des letzten Bruttoeinkom-
mens zugrunde gelegt. Nach Ihren Vorschlägen und
nach den Diskussionsgrundlagen, die wir hier kennen,
werden jetzt 53 Prozent vom Netto, also die Arbeits-
losenhilfe, als Bemessungsgrundlage bei Langzeit-
arbeitslosen angenommen. Stimmen Sie mir zu, daß das
weniger ist als vorher?
G
Erstens teile ich
nicht die Position von Herrn Blüm. Zweitens stimmt
Ihre zweite Annahme nicht. Die Höhe der Rentenversi-
cherungsbeiträge wird auf Grund der realen Zahlbeträge
festgelegt. Ich stimme Ihnen gerne darin zu, daß die bis-
herigen Zahlungen höher waren als die, die wir durch
gesetzliche Veränderungen anstreben.
Eine Zusatz-
frage der Kollegin Ostrowski.
Herr Staatssekretär, es
ist doch keine Auslegungsfrage, ob Sie Herrn Blüm zu-
stimmen oder nicht, sondern einfach Arithmetik, also
Mathematik. Da beißt die Maus nun keinen Faden ab.
Ich möchte auf die Frage von Frau Schnieber-Jastram
nach der Lage der jungen Generation zurückkommen,
die Sie nur ausweichend beantwortet haben, indem Sie
sinngemäß sagten: Dadurch, daß die Regierung eine
Senkung des Rentenbeitrags auf – ungefähr – stabile
19 Prozent anstrebe, werde auch die junge Generation
entlastet. So weit – so gut.
Ich frage Sie jetzt: Stimmt es denn, daß die Senkung
des Rentenbeitrages auf 19 Prozent durch die Einnah-
men aus der Ökosteuer, an der wiederum alle privaten
Haushalte, sprich: auch die gesamte junge Generation,
beteiligt sind, erreicht werden soll?
G
Vielleicht darf ich
Sie darauf hinweisen, daß wir schon die bisherigen Ein-
nahmen aus der Ökosteuer dazu genutzt haben, bei-
spielsweise folgendes herzustellen:
Erstens. Für Kindererziehungszeiten zahlt der Bund
jetzt reale Beiträge an die Rentenversicherung. Wir ha-
ben etwas durchgesetzt, was dazu führt, daß es zu einer
vernünftigen Finanzierung der Rentenversicherung
kommt. Ich sage noch einmal: Mein geschätzter Kollege
Norbert Blüm, der früher einmal Bundesarbeitsminister
war – er hat Vorschläge in Form einer Familienkasse
und ähnlichem gemacht – , hätte gejubelt, wenn er eine
andere Finanzierung der Anteile an der Rentenversiche-
rung zustande gebracht hätte, die durch den Gesetzgeber
veranlaßt worden wäre, aber früher nur den Beitrags-
zahlern zugeschoben wurde.
Zweitens. Wer die EU-Rente und die BU-Rente für
das kommende Jahr neu ordnen will, der muß wissen,
daß das in einem bestimmten Maße Geld kostet. Wir
wollen das Ganze verändern, weil wir die Arbeitsmarkt-
situation so vorfinden, wie sie nun einmal ist, und weil
wir Menschen, die erwerbs- oder berufsunfähig werden,
dafür nicht bestrafen können. Das bedeutet, daß die
Ökosteuer zu einem Teil in die Beitragsabsenkung und
in die Beitragsstabilisierung einfließt; aber sie fließt bei-
spielsweise auch in eine bedarfsorientierte Grundsiche-
rung ein, die steuerfinanziert ist, so daß eine einfache
Rechnung, nach dem Motto: „Hier habe ich eine Öko-
steuer, und um den Anteil der Ökosteuer müßte auf der
anderen Seite einfach der Beitrag absinken“, nicht
stimmt. Diese Rechnung ist zu kurzschlüssig; denn man
muß die soziale Grundsicherung, die normalerweise
über die Sozialhilfe der Sozialämter geleistet wird und
steuerfinanziert ist, entsprechend gegenfinanzieren. Un-
ser Konzept ist ausgewogen und vernünftig.
Ich sage noch einmal: Es geht darum, die Rentenver-
sicherung zukunftsfähig zu machen. Wir glauben, dieses
Ziel damit zu erreichen.
Eine Zusatz-
frage des Kollegen Weiß.
HerrStaatssekretär Andres, nachdem Sie in Beantwortungeiner vorher gestellten Frage ausgeführt haben, es fürDirk Niebel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4239
(C)
(D)
gerechtfertigt zu halten, daß Nettolohnsteigerungen, diesich durch politische Entscheidungen ergeben haben, beieiner Rentenerhöhung nicht voll zu Buche schlagen, fra-ge ich Sie: Halten Sie es auch für gerechtfertigt, daßdurch politische Entscheidungen herbeigeführte Mehr-belastungen für die Rentnerinnen und Rentner aber zuBuche schlagen?Ich spreche konkret von den Auswirkungen der Öko-steuer. Die Rentnerinnen und Rentner haben nichts vonder Senkung des Rentenversicherungsbeitrages. Siewerden aber mit rund 100 DM monatlich voll durch dieÖkosteuer zur Kasse gebeten. Wie erklärt es sich, daßSie auf der einen Seite Leistungen, die sich im Netto-lohnbereich positiv auswirken, nicht an die Rentnerin-nen und Rentner weitergeben wollen, aber andererseitsBelastungen durch Ihre politischen Entscheidungen,sprich: Einführung und Erhöhung der Ökosteuer, voll andie Rentnerinnen und Rentner weitergeben wollen?G
Ich will noch ein-
mal sagen: Wenn Sie bei der Beantwortung der Frage
eben zugehört hätten, dann hätten Sie festgestellt: Es ist
nicht so, daß das Ökosteueraufkommen nur der Bei-
tragsabsenkung zugute kommt; vielmehr kommt das
Ökosteueraufkommen auch einer vernünftigen Stabili-
sierung und Ausstattung des Systems zugute. Daß Kin-
dererziehungszeiten in dem System so finanziert sind,
wie sie finanziert werden müssen, oder daß wir die Ab-
sicht haben, eine soziale Grundsicherung einzuführen,
die man ebenfalls zusätzlich finanzieren muß und die
den davon betroffenen Rentnerinnen und Rentnern zu-
gute kommt, all das – ich könnte es wieder aufzählen –
läßt Ihren Rückschluß gar nicht zu; denn wenn Sie
sagen, die Rentnerinnen und Rentner hätten nichts von
der Ökosteuer, dann stimmt schon diese Annahme nicht.
In denjenigen Punkten, von denen ich gerade gespro-
chen habe, haben die Rentnerinnen und Rentner sehr
wohl etwas von der Ökosteuer. Wir leisten damit einen
Beitrag, das Rentenversicherungssystem auf lange Zeit
stabil und zukunftsfähig zu halten. Auch davon haben
die Rentnerinnen und Rentner etwas.
Eine Zusatz-
frage der Kollegin Barnett.
Herr Staatssekretär, bezüglich
der Ökosteuer interessiert mich, ob in Ihre Berechnung
auch die Verhaltensänderung der Verbraucher und der
durch den wahrscheinlich geringeren Verbrauch verbun-
dene Ausgleich eingegangen ist?
G
Es ist davon auszu-
gehen, daß Verbraucher auch auf Preisfragen reagieren.
Von daher kommt auch dieser Aspekt zum Zuge.
Eine Zusatz-
frage des Kollegen Grehn.
Herr Staatssekretär, in
Kenntnis der bisherigen Diskussion und Ihrer Antworten
frage ich Sie: Arbeitet Ihr Ministerium zur Zeit daran,
eine Veröffentlichung herauszugeben, die den Betroffe-
nen aller Kategorien „eineindeutig“ erklärt, was Sie
eigentlich planen und was für sie dabei im Detail her-
auskommt?
G
Herr Abgeordneter
Grehn, ich wiederhole jetzt noch einmal, was ich schon
mehrfach gesagt habe. Sie als Mitglied des Ausschusses
für Arbeit und Sozialordnung wissen das auch. Das Ka-
binett hat bisher beschlossen, daß wir die Renten im
nächsten und übernächsten Jahr nach einem bestimmten
Mechanismus anpassen. Das wird das Bundesarbeitsmi-
nisterium auch öffentlich mitteilen. Alle weiteren Fra-
gen, die mit einer umfassenden Reform des Rentenver-
sicherungssystems zusammenhängen, werden in den
nächsten Monaten öffentlich diskutiert und Anfang
nächsten Jahres dem Gesetzgebungsverfahren zugeleitet.
Das habe ich allerdings schon mehrfach gesagt. Sie wer-
den sicherlich wissen, daß der Bundesarbeitsminister
öffentlich und umfassend darüber informieren kann, was
das Kabinett beschlossen hat und was Recht und Gesetz
wird. Das werden wir tun.
Zusatzfrage
der Kollegin Reinhardt.
Herr Staatssekretär,
Sie haben gerade ausgeführt, daß es dringend notwendig
ist, daß der Bundeszuschuß zur Rentenkasse erhöht
wird. Stimmen Sie mir dabei zu, daß im letzten Jahr
117 Milliarden DM als Zuschuß von der alten Regierung
bezahlt wurden, so daß das Defizit voll ausgeglichen
werden konnte?
Beabsichtigen Sie, den Ausgleich an die Inflations-
raten anzupassen, wie dieses 1979, 1980 und 1981 unter
Ihrer Regierung geschah?
G
Frau Kollegin, denBetrag von 117 Milliarden DM kann ich nicht bestäti-gen, weil es sich in den letzten Jahren um unterschied-liche Größenordnungen handelte. Wir haben beispiels-weise alle gemeinsam daran mitgewirkt, daß die Mehr-wertsteuer um einen Prozentpunkt erhöht wurde und dieEinnahmen daraus der Rentenversicherung zugeführtworden sind. Das ändert aber nichts an der Tatsache– das habe ich vorhin gesagt –, daß die neue Bundes-regierung zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt hat,um beispielsweise die Kindererziehungszeiten mit Zei-ten realer Beitragszahlung gleichzustellen. Dadurch sinddie Beträge in diesem Jahr höher geworden und werdenauch in den nächsten Jahren noch steigen. Dafür sindzum Beispiel Einnahmen aus dem Ökosteueraufkommenvorgesehen.Peter Weiß
Metadaten/Kopzeile:
4240 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
(C)
Was Sie hinsichtlich der Rentenanpassung der Jahre1979, 1980 und 1981 gesagt haben, kann ich Ihnen nichtbestätigen.
Zusatzfrage
des Kollegen Singhammer.
Herr Staats-
sekretär, ich formuliere betont einfach und verzichte auf
die Angabe genauer Zahlen in Ihrer Antwort. Der Bun-
deskanzler hat am 17. Februar 1999 in Vilshofen aus-
geführt: Ich stehe dafür, daß die Renten in Zukunft
so steigen wie die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer.
126 Tage später hat der Bundeskanzler in einem Inter-
view ausgeführt: Wir haben die Nettolohnformel für die
nächsten zwei Jahre nur ausgesetzt. Meine Frage: Was
war der Grund für diesen doch überraschenden Mei-
nungsumschwung innerhalb der Bundesregierung?
Könnten Sie sich vorstellen, daß viele Rentnerinnen und
Rentner dies als eine Lüge empfinden, bei der sich die
Balken biegen?
G
Herr Singhammer,
ich kann Ihnen zunächst einmal die Aussage des Bun-
deskanzlers bestätigen. Sie wissen – das habe ich hier
schon mehrfach dargestellt –, daß wir im Rahmen der
Diskussionen um den Haushalt und des Versuchs, schon
im nächsten Haushaltsjahr das Defizit um 30 Milliarden
DM zu senken, für das nächste und übernächste Jahr ei-
ne andere Form der Rentenanpassung wählen. Danach
wird die nettolohnbezogene Rentenanpassung wieder in
Kraft gesetzt.
Zusatzfrage
des Kollegen Bierling.
Herr Staatssekre-
tär, Sie haben die Frage meines Kollegen Peter Weiß
zwar weitschweifig, aber dennoch ziemlich unklar be-
antwortet. Deswegen möchte ich die Frage sinngemäß
kurz und präzise wiederholen.
Sie haben die Absenkung des Rentenversicherungs-
beitrages um 0,8 Prozentpunkte, die die Bundesregie-
rung vorgenommen hat, gepriesen. Wären Sie bereit, mir
und den Rentnern zu bestätigen, daß die Rentner an
der Absenkung des Rentenversicherungsbeitrages um
0,8 Prozentpunkte auf Grund der Finanzierung über die
Ökosteuer zwar beteiligt sind, aber von der Absenkung
nichts haben?
G
Der Sachverhalt ist
viel komplizierter.
– Wenn Sie komplizierte Fragen stellen, dann müssen
Sie auch hinnehmen, daß es komplizierte Antworten
gibt.
Ich habe eben schon einmal gesagt, daß die Einnah-
men aus der Ökosteuer zum Teil für Leistungen in der
gesetzlichen Rentenversicherung genutzt worden sind.
Darin ist die Finanzierung der Lasten enthalten, die sich
aus der Übertragung unseres Rentensystems auf die
neuen Bundesländer ergeben haben. Auch diese Lasten
– einschließlich der Kindererziehungszeiten – werden
über die Ökosteuer als Bundesaufgabe gegenfinanziert,
wie das immer unsere Auffassung war.
Ein anderer Teil der Einnahmen aus der Ökosteuer
wird dazu benutzt, die Beiträge abzusenken. Angesichts
der Diskussionen, die wir in den vergangenen Jahren
gehabt haben, glaube ich, daß die Rentnerinnen und
Rentner auch ein Interesse daran haben müssen – Sie
haben gesagt, die Rentner hätten nichts von dieser
Regelung –, daß das Rentenversicherungssystem mit
vernünftigen, kalkulierbaren und akzeptablen Beiträgen
aufrechterhalten werden kann. Auch daran müssen
Rentnerinnen und Rentner ein Interesse haben. Insofern
haben sie etwas von dieser Regelung.
Ich rufe jetzt
die Dringliche Frage 3 des Abgeordneten Andreas Storm
auf:
Wo wurden die Ergebnisse der revidierten Netto-
lohnstatistik bisher veröffentlicht?
G
Herr Kollege
Storm, die revidierte Nettolohnstatistik wurde vom Sta-
tistischen Bundesamt noch nicht amtlich veröffentlicht.
Sie liegt auf Arbeitsebene vor und ist – wie in früheren
Jahren – von diesem Zeitpunkt an bei den Berechnungen
berücksichtigt worden.
Das Statistische Bundesamt beabsichtigt, im März
2000 die amtlichen Zahlen zu den Nettolöhnen für die
Jahre 1998 und 1999 in der Zeitschrift „Wirtschaft und
Statistik“ zu veröffentlichen. Im September 1999 wird
zur Methodik und zu relevanten Änderungen eine Veröf-
fentlichung erfolgen.
Zusatzfrage? –
Bitte.
Herr Staatssekretär,Es ist eine Umstellung der Statistik mit massiven Ver-änderungen erfolgt, die Sie unter anderem im Kinder-geldbereich auf die Größenordnung von 2,5 Prozent-punkten beim Rentenniveau angesetzt haben. Sie habenhier erklärt, daß diese Statistik bisher noch nicht veröf-Parl. Staatssekretär Gerd Andres
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4241
(C)
(D)
fentlicht worden ist. Das heißt, Dritten außerhalb desBundesarbeitsministeriums und der Rentenversiche-rungsträger sind diese Zahlen nicht zugänglich. SolangeSie Ihre Fakten nicht auf den Tisch legen, hat die Oppo-sition in diesem Hause bis zum März 2000 keinen Zu-gang zu diesen Daten.G
Ich habe Ihnen
gerade in meiner Antwort dargelegt, daß die Daten auf
Arbeitsebene vorliegen und daß mit diesen Zahlen gear-
beitet wird, so wie es in den früheren Jahren ebenfalls
der Fall war. Ich habe Ihnen die Veröffentlichungs-
grundlagen und die Auswirkungen im Rahmen meiner
Antwort auf die von Frau Schnieber-Jastram zuerst ge-
stellte Frage genannt.
Herr Staatssekretär,
Sie haben damit bestätigt, daß sämtliche Daten, mit de-
nen Sie bisher rechnen, Dritten nicht zugänglich sind.
Beabsichtigen Sie, die Daten, auf deren Basis Sie Ihre
Berechnungen angestellt haben, der Opposition zur Ver-
fügung zu stellen?
G
Ich will Sie noch
einmal darauf hinweisen, daß das, was Sie sagen, nicht
stimmt. Ich habe das auch nicht bestätigt, sondern Ihnen
dargelegt, daß diese Daten auf Arbeitsebene vorliegen
und daß inzwischen auch die Rentenversicherungsträger
und andere damit arbeiten. Von daher stimmt Ihre An-
nahme nicht.
Jetzt muß ich
den Abgeordneten Strobl fragen – ich habe Sie eben mit
dem Kollegen Singhammer verwechselt, weil Sie ne-
beneinander saßen; deswegen sind Sie nicht auf meiner
Liste gelandet –: Paßt Ihre Frage auch zu dieser Frage,
oder paßt sie eher zu der nächsten?
Ich weise darauf hin, daß wir den Rahmen mit den Fra-
gen schon lange gesprengt haben.
Bitte.
Frau Präsidentin, ich
weiß nicht, ob die Frage dem Herrn Staatssekretär paßt,
aber sie paßt jedenfalls in den Zusammenhang.
Eine Begründung des Bundesministeriums für Arbeit
für die von der Bundesregierung geplanten Rentenkür-
zungen war, die Umsetzung des Familienurteils des
Bundesverfassungsgerichts würde zu erheblich steigen-
den Kindergeldzahlungen und damit zu erheblich stei-
genden Rentenzahlungen führen. Nun hat sich aber her-
ausgestellt, daß das Kindergeld nach der neuen Berech-
nungsmethode überhaupt nicht mehr im Nettolohn ent-
halten ist.
Damit ist die erste Begründung, die das Bundesministe-
rium für Arbeit für die Rentenkürzungen gegeben hat,
hinfällig. Jetzt ist meine Frage, ob Sie diesen Zusam-
menhang am Anfang fahrlässigerweise nicht gesehen
haben oder ob das Bundesministerium für Arbeit mit
Absicht eine falsche Begründung gegeben hat.
Ich muß jetzt
einmal der Redlichkeit halber sagen, daß diese Nachfra-
ge eigentlich weder zur vorigen noch zur jetzigen Frage
gehört.
– Nein. Sie müssen jetzt auch ein bißchen fair sein. Der
Herr Staatssekretär beantwortet jetzt seit anderthalb
Stunden Fragen und Nachfragen, die immer zu der ent-
sprechenden Frage gehören.
– Ich will ihm das ja freistellen, ob er darauf antwortet.
Aber ich habe Sie vorhin gefragt, ob Ihre Nachfrage zu
dieser Frage gehört, und zu dieser Frage paßt sie nun tat-
sächlich nicht.
Aber vielleicht beantworten Sie die Frage ja trotzdem.
G
Ich will noch ein-mal darauf hinweisen, wie die Frage des AbgeordnetenStorm lautete: „Wo wurden die Ergebnisse der revidier-ten Nettolohnstatistik bisher veröffentlicht?“ Aber ichbin gerne bereit, auf Ihre Frage einzugehen; denn ichhabe den Eindruck – obwohl ich das schon zehnmal ge-tan habe; ich mache das auch noch ein elftes Mal –, daßman das erklären muß.Es ist so, daß die Kindergeldzahlungen auf Grundstatistischer Grundlagen, EU-Bestimmungen und ähnli-chem, nicht mehr in den Nettolohn einberechnet, son-dern brutto gestellt werden. Es war, wenn Sie sich erin-nern, bis zum vergangenen Jahr so, daß Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmern, die Kindergeld bekamen,dieses vom Arbeitgeber ausgezahlt wurde, also sie dassozusagen jeden Monat netto bekommen haben. Erstenshaben wir das geändert, und zweitens wird diese kon-krete Zahlung nun nicht mehr in die Jahresnettosummeeinbezogen. Das ist das eine Problem.Das andere Problem ist: Wenn wir beispielsweise da-zu übergehen, Kinderfreibeträge zu ändern, hat das mitAndreas Storm
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4242 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
(C)
dem Kindergeld erst einmal überhaupt nichts zu tun.Wenn Sie aber Kinderfreibeträge ändern, verändern sichauch bestimmte andere Dinge. Also müssen Sie schauen,welche Kriterien in welchem Zusammenhang in dieNettolohnsumme eingerechnet werden oder wie sich be-stimmte steuerliche Veränderungen im Nettobereichauswirken.Das heißt, die Veränderungen beim Kindergeld sindkein Willkürakt von uns. Ich habe ganz zu Anfang derFragestunde die rechtliche Grundlage vorgelesen; ichkann sie auch noch einmal vorlesen. Sie ist mit demRentenreformgesetz 1999 verabschiedet worden. Darinsteht genau, auf welcher Grundlage man was zu tun hat.Die Bundesregierung hält sich schlicht an Recht undGesetz, das bei uns gilt.
Ich rufe jetzt
die Dringliche Frage 4 des Abgeordneten Andreas Storm
auf:
Um wie viele Prozentpunkte sinkt das Netto-
rentenniveau durch die von der Bundesregierung
geplanten Sparmaßnahmen im Vergleich zum
Basisjahr 1998 – bis zum Jahr 2002 – bis zum
Jahr 2030?
G
Herr Kollege
Storm, durch die von der Bundesregierung geplanten
Maßnahmen wird das Nettorentenniveau mittel- und
langfristig um rund 3 Prozentpunkte gesenkt, und zwar
von rund 70 Prozent auf bleibend rund 67 Prozent. Im
Jahre 2030 liegt das Rentenniveau bei 67,3 Prozent.
Lediglich im Jahre 2002 ergibt sich auf Grund der An-
hebung der Nettolöhne durch die dritte Stufe der Steuer-
reform ein Niveau von 66,3 Prozent. Auf Grund der hö-
heren Rentenanpassung im Folgejahr, im Jahre 2003,
steigt das Nettorentenniveau jedoch wieder auf über
67 Prozent.
Nach dem Rentenreformgesetz 1999 der früheren
Bundesregierung dagegen wäre das Rentenniveau lang-
fristig um 5 Prozentpunkte abgesunken. Da durch die
revidierte Nettolohnstatistik das rechnerische Ausgangs-
rentenniveau um etwa 1 Prozent angehoben wird – ich
habe vorhin erläutert, warum das so ist –, wäre, eine ent-
sprechende Verlängerung der Lebenserwartung voraus-
gesetzt, nach dem Rentenreformgesetz 1999 auch eine
Absenkung des Rentenniveaus um mehr als 5 Prozent-
punkte möglich gewesen, da die sogenannte Sicherungs-
klausel mit einer Untergrenze von 64 Prozent von einer
Statistikrevision gesetzlich unberührt bleibt.
Ein statistisch erhöhtes Ausgangsniveau könnte so zu
einer stärkeren Absenkung führen, als die frühere Bundes-
regierung noch 1997 angenommen hat, nämlich um bis zu
6 Prozentpunkte. Damit wäre die Niveauabsenkung dop-
pelt so hoch ausgefallen wie jetzt von uns geplant. Die
Wirkung von Maßnahmen ist am Rentenniveau des Jahres
vor Einsetzung dieser Maßnahmen zu messen, das heißt
am Rentenniveau 1999. Der Rückgang des Rentenniveaus
von 1998 auf 1999 hat nun wirklich nichts mit den ge-
planten Maßnahmen der Bundesregierung zu tun, die im
Jahre 2000 ihre erste Wirkung haben.
Erste Zusatzfrage,
Herr Kollege Storm, bitte.
Herr Staatssekretär,
meine Frage zielte weder auf einen Vergleich mit der
Blüm-Reform noch auf andere Dinge, sondern auf einen
Vergleich des Rentenniveaus der Jahre 2002 und 2030
mit dem Rentenniveau des Jahres 1998. Ist die Bundes-
regierung nicht in der Lage, das Rentenniveau des Jahres
1998 anzugeben?
G
Sie haben nach
einem Vergleich vom Basisjahr 1998 bis zum Jahr 2002
und 2030 gefragt. Beide Größenordnungen, die für das
Jahr 2002 und die für das Jahr 2030, habe ich Ihnen ge-
nannt.
Das Nettorentenniveau des Jahres 1998 hat eben
schon mehrfach eine Rolle gespielt. Herr Kollege, das
war nicht Gegenstand Ihrer Frage.
Zweite Zusatzfrage,
Herr Kollege.
Herr Staatssekretär,
ich habe Sie nach der Veränderung zum Basisjahr 1998
gefragt. Stimmen Sie mir zu, daß das Nettorentenniveau
im Jahre 1998 auf der Basis der geänderten Statistik bei
71,7 Prozent liegt, die Effekte der Absenkung des Ren-
tenniveaus damit erheblich stärker sind und Ihre Ver-
weigerung der Antwort auf meine Frage nach dem Jahr
1998 nur einen Zweck hat, nämlich die Wirkungen Ihrer
Maßnahmen zu verharmlosen?
G
Herr Storm, ichstimme Ihnen ausdrücklich nicht zu. Ich wiederhole IhreFrage, die Sie schriftlich gestellt haben.
Sie haben gefragt:Um wie viele Prozentpunkte sinkt das Nettorenten-niveau durch die von der Bundesregierung geplan-ten Sparmaßnahmen im Vergleich zum Basisjahr1998 – bis zum Jahr 2002 – bis zum Jahr 2030?Beides ist exakt beantwortet worden.
Parl. Staatssekretär Gerd Andres
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4243
(C)
(D)
Deswegen teile ich Ihre Auffassung nicht.
Jetzt hat Frau Dr.
Schwaetzer zu einer weiteren Zusatzfrage das Wort. –
Bitte sehr.
Herr Staatsse-
kretär, ich versuche es noch einmal: Es war vom Jahre
2002 die Rede. Schon in meiner ersten Frage habe ich
Sie danach gefragt – Sie haben mir keine Antwort gege-
ben –, ob es richtig ist, daß im Jahre 2002 das Nettoren-
tenniveau niedriger ist als das, das gelten würde, wenn
die veränderte Nettorentenanpassungsformel inklusive
des demographischen Faktors der früheren Regierung in
Kraft geblieben wäre?
Das ist eine Frage, die man mit Ja oder Nein beantwor-
ten kann.
Frau Kollegin, die
Antwort wird jetzt der Herr Staatssekretär geben. – Bitte
sehr.
G
Frau Schwaetzer,
ich habe eben dargelegt, daß das Niveau im Jahre 2002
bei 66,3 Prozent liegen wird.
Ich habe den Herrn
Staatssekretär so verstanden, daß das die Antwort war.
– Sicher.
Als nächster hat der Herr Kollege Grehn das Wort zu
einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, jenseits
aller Statistiken, jenseits der 53 Prozent und der 80 Pro-
zent, möchte ich Sie fragen: Stimmen Sie mit mir über-
ein, daß für die mehr als 1,5 Millionen Langzeitarbeits-
losen – die Sozialhilfeempfänger nicht eingerechnet –,
die schon heute einem erheblichen Armutsrisiko unter-
liegen, das Armutsrisiko im Alter nach Ihrer gegenwär-
tigen Vorstellung erheblich ansteigen wird?
G
Nein.
Es gibt keine weite-
ren Zusatzfragen. Damit ist Frage 4 beantwortet.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Kollege Hör-
ster.
Frau Präsidentin!
Nachdem es nun in immerhin eineinhalb Stunden nicht
gelungen ist, dem Herrn Staatssekretär klare Antworten
auf unsere Fragen zu entlocken und damit Klarheit über
die künftige Entwicklung des Rentensystems zu schaf-
fen, möglicherweise auch über einen Wortbruch gegen-
über den Rentnern, beantrage ich namens meiner Frak-
tion im Anschluß an die Fragestunde eine Aktuelle
Stunde zu diesem Thema.
Vielen Dank, Herr
Hörster.
Die Fraktion der CDU/CSU hat, wie Sie gehört ha-
ben, zur Antwort der Bundesregierung auf die dringli-
chen Fragen zur Entwicklung des Nettorentenniveaus
auf Drucksache 14/1298 eine Aktuelle Stunde verlangt.
Das entspricht Nr. 1b unserer Richtlinien für die Ak-
tuelle Stunde.
Für die, die sich darauf vorbereiten müssen: Die Ak-
tuelle Stunde findet im Anschluß an die Fragestunde
statt, also in 20 Minuten und 29 Sekunden.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit. Die Fragen 1 und 2 werden schriftlich beant-
wortet.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-
deskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Zur Beant-
wortung steht Herr Staatsminister Dr. Michael Naumann
zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 3 des Abgeordneten Norbert Hau-
ser auf:
Mit welchem Ergebnis wurden die Verhandlungen zwischender Bundesregierung und der Bundesstadt Bonn zum sog. Bonn-Vertrag abgeschlossen, deren Ende der Staatsminister Dr. Mi-chael Naumann in der Fragestunde vom 3. März 1999 für Juni1999 angekündigt hat?
Herr Staatsminister, bitte sehr.
D
Herr Abgeordneter, die Verhandlungen zwi-
schen der Bundesregierung und der Bundesstadt Bonn
zur Bonn-Vereinbarung 2000 sind noch nicht abge-
schlossen. Wie Sie sicher schon wissen, wurde aber vor-
sorglich in den Finanzplan für das Jahr 2000 für kultu-
relle Angelegenheiten der Bundesstadt ein Betrag von
65 Millionen DM eingestellt.
Zusatzfrage, HerrKollege Hauser? – Bitte sehr.Parl. Staatssekretär Gerd Andres
Metadaten/Kopzeile:
4244 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
(C)
Herr Staats-
minister, können Sie einen Zeitraum angeben, in dem
Sie mit dem Abschluß der Verhandlungen rechnen?
D
Die Verhandlungen sind de facto abge-
schlossen. Es gibt indes noch Gespräche mit dem Kul-
turreferenten und der Frau Oberbürgermeisterin über
Einzelheiten. Ich hoffe, daß diese Gespräche in den
nächsten Tagen oder Wochen zu einem Abschluß kom-
men werden.
Noch eine Zusatz-
frage? – Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Staats-
minister, da die Verhandlungen im Prinzip abgeschlos-
sen sind, obwohl sie noch nicht abgeschlossen sind: Ist
es Ihnen möglich, die Kürzung der Zahlungen der Bun-
desrepublik Deutschland an die Bundesstadt Bonn in
den nächsten Jahren zu bestätigen, die die Oberbürger-
meisterin genannt hat: 47 Millionen DM im Jahr 2000,
um 57 Millionen DM im Jahr 2001, etwa 67 Millio-
nen DM im Jahr 2002 und 92 Millionen im Jahr 2003?
D
Herr Abgeordneter Hauser, wie Sie wissen,
schätze ich die Bonner Oberbürgermeisterin sehr. Ich
hänge buchstäblich an ihren Lippen und höre dem, was
sie sagt, genau zu. Ich weiß nicht, ob auch Sie ihr so ge-
nau zuhören.
Diese Zahlen betreffen zweifellos andere Zuwendun-
gen. Es sind auf keinen Fall die Zahlen, die für die kul-
turellen Zuwendungen der Stadt Bonn aus der Bundes-
kasse gelten. Diese Angaben über die Kürzungen über-
treffen das, was jemals vorgesehen war. Mit anderen
Worten: Die Zahlen, die Sie eben vorgetragen haben,
stimmen mit denen, die mir für mein Ressort geläufig
sind, nicht überein.
Damit ist die Frage
beantwortet. Ich danke dem Herrn Staatsminister für die
Beantwortung der Fragen.
Die Fragen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amtes – das waren die Fragen 4 und 5 – werden schrift-
lich beantwortet.
Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisteriums des Inneren auf; das sind die Fragen 6 und 7.
Auch sie werden schriftlich beantwortet.
Nun rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesmini-
steriums für Wirtschaft und Technologie auf.
Zur Beantwortung der Fragen ist eigentlich der Parla-
mentarische Staatssekretär Siegmar Mosdorf anwesend.
Aber ich höre gerade, daß die Fragen zu diesem Ge-
schäftsbereich – das sind die Fragen 8 und 9 des Kolle-
gen Peter Ramsauer – schriftlich beantwortet werden
sollen. Damit sind auch diese Fragen erledigt.
Wir kommen somit zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und For-
sten. Hier steht zur Beantwortung Herr Parlamenta-
rischer Staatssekretär Dr. Thalheim zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 10 des Kollegen Ulrich Heinrich
auf:
Zu welchen Preisen können nach Kenntnis der Bundesregie-rung die Landwirte in den Mitgliedstaaten der EuropäischenUnion ihre Traktoren mit Kraftstoffen betanken, und in welchenMitgliedstaaten ist das Betanken der Traktoren mit Heizölen er-laubt?
Herr Staatssekretär, bitte.
Dr
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Verehrter Herr
Kollege Heinrich, für Dieselkraftstoffe in der Gemein-
schaft wurden nach Angaben des Agrarberichts 1999 der
Bundesregierung – niedergelegt im Materialband auf
Seite 78 – im ersten Halbjahr 1998 in den EU-Mitglied-
staaten folgende Nettoverkaufspreise ermittelt: Belgien
0,33 DM pro Liter, Luxemburg 0,34 DM pro Liter, Dä-
nemark 0,43 DM pro Liter, Finnland ebenfalls 0,43 DM
pro Liter, Vereinigtes Königreich 0,45 DM pro Liter,
Spanien 0,49 DM, Niederlande 0,49 DM, Deutschland
0,58 DM, Portugal 0,63 DM, Frankreich 0,64 DM, Ita-
lien 0,69 DM, Griechenland 0,98 DM, Schweden
0,98 DM und Österreich 1,05 DM pro Liter.
Das Betanken der Traktoren mit Heizöl ist nach
Kenntnis der Bundesregierung nur in Frankreich – mit
roter Einfärbung – erlaubt.
Erste Zusatzfrage,
Herr Kollege? – Bitte sehr.
Ihre Antwort auf die Fra-
ge, wo Heizöl getankt werden kann, ist bemerkenswert.
Heizöl hat ja bekanntlich einen wesentlich niedrigeren
Preis, als das in Ihrer Antwort für Frankreich mit einem
Preis um die 60 Pfennig – wenn ich das gerade in der
Eile richtig verstanden habe – zum Ausdruck kam. Wor-
auf führen Sie hier die Differenz zurück?
Dr
Aus der Zahlenreihe, die ich vorgetragen habe,wird deutlich, daß in den einzelnen Mitgliedstaaten derEuropäischen Union hinsichtlich der Verbilligung desDieselkraftstoffs für die Landwirtschaft sehr unter-schiedliche Regelungen gelten. In Deutschland gibt eseine Rückerstattung; in anderen Ländern gibt es einenverminderten Mineralölsteuersatz. Die Ausnahme isteben Frankreich, wo Heizöl verwendet werden kann. Siesehen also, daß es sehr unterschiedliche Regelungengibt, die in der Konsequenz zu sehr unterschiedlichenPreisen für die Landwirtschaft – wie ich das auch in derAntwort dargelegt habe – führen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4245
(C)
(D)
Zweite Zusatzfrage,
Herr Kollege? – Bitte.
Heizöl hat aber einen ge-
ringeren Preis als den, den Sie für Frankreich genannt
haben. Worauf – das war meine Frage – führen Sie den
Unterschied zurück?
Dr
Ich kann mich nur auf die statistischen Angaben
beziehen. Sie besagen, daß der Preis in Frankreich
0,64 DM pro Liter beträgt. Dieser Wert ist bezogen auf
den Heizölpreis in Frankreich.
Nun rufe ich die
Frage 11 des Kollegen Ulrich Heinrich auf.
Welche Wettbewerbsnachteile entstehen durch die Strei-chung der Gasölbeihilfe und die Erhöhung der Mineralölsteuervon 24 Pfennig pro Liter für die landwirtschaftlichen Betriebe inden verschiedenen Betriebszweigen, und wie verträgt sich diesmit der in der Koalitionsvereinbarung festgeschriebenen Siche-rung der Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Landwirte?
Herr Staatssekretär, bitte.
Dr
Herr Kollege Heinrich, richtig ist, daß bei Wegfall
der Gasölverbilligung und bei der beabsichtigten Mine-
ralölsteuererhöhung die Anforderungen der deutschen
Landwirte für Dieselkraftstoff deutlich ansteigen. Die
Wettbewerbsnachteile können jedoch nicht quantifiziert
werden, da die Entwicklung bei der Mineralölsteuer in
den anderen Mitgliedstaaten nicht vorhergesagt werden
kann. Die Bundesregierung wird die Situation jedoch
sorgfältig beobachten.
Hinsichtlich der Wirkungen ist jedoch zu beachten,
daß dadurch deutliche Anreize für die Einsparung von
Energieträgern durch technische Verbesserungen gege-
ben sind. Die Bundesregierung geht davon aus, daß
Landmaschinenhersteller und Landwirtschaft diese
Möglichkeiten nutzen werden.
Erste Zusatzfrage,
Herr Kollege? – Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, kön-
nen Sie den Wettbewerbsnachteil, den die deutsche
Landwirtschaft auf Grund der bestehenden Situation hat,
bestätigen und quantifizieren?
Dr
Die Unterschiede in der Wettbewerbssituation der
Landwirtschaft der einzelnen Mitgliedstaaten liegen
nicht nur in der Höhe der Mineralölsteuer – bzw. der
Höhe der Rückgewährung, wie das in Deutschland
üblich ist – begründet. Vielmehr sind eine ganze Reihe
weiterer Punkte zu berücksichtigen, so zum Beispiel die
Strukturproblematik: Wie groß sind die Betriebe? Wie
hoch ist der Pachtanteil?
So müssen wir feststellen, daß sich die Ausgaben für
die Pacht innerhalb der Betriebe der Europäischen
Union erheblich unterscheiden. In einigen Ländern liegt
der Anteil deutlich über dem deutschen, in anderen dar-
unter. Insofern ist es nicht möglich, die Wettbewerbs-
situation der deutschen Landwirtschaft allein an der Hö-
he der Ausgaben für die Gasölbeihilfe festzumachen.
Haben Sie noch eine
weitere Zusatzfrage, Herr Kollege? – Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, kön-
nen Sie bestätigen, daß zusammen mit der Einführung
der Ökosteuer insgesamt 30 Pfennig pro Liter zusätz-
lich zusammenkommen, so daß – unter Berücksichti-
gung des ohnehin höheren Preises, den die deutsche
Landwirtschaft schon heute zu tragen hat – der Unter-
schied zu anderen Mitgliedsländern insgesamt mehr als
50 Pfennig pro Liter zu Lasten der deutschen Land-
wirtschaft beträgt?
Dr
Ich habe in der Antwort auf die Frage deutlich
gemacht, daß die Konsequenz der Entscheidungen aus
dem Sparpaket ist, daß auf die deutsche Landwirtschaft
durch den Wegfall der Gasölbeihilfe bis zum Jahr 2002
zusätzliche Belastungen zukommen. Allerdings gehen
wir davon aus, daß es auch Anpassungsreaktionen ge-
ben wird, zum Beispiel Einsparungen im Energiebe-
reich.
Darüber hinaus muß man deutlich darauf hinweisen,
daß bei der Entscheidung zu Einsparungen die Belastun-
gen der Landwirtschaft nicht verkannt wurden. Vielmehr
geht sie auf die Haushaltssituation in Deutschland und
die Belastung des Bundes mit Schulden zurück, die sich
auf 1,5 Billionen DM belaufen. Deshalb mußten wir
Einsparungen im Bundeshaushalt vornehmen, zu denen
die Landwirtschaft natürlich beitragen muß. Wir sahen
keine andere Möglichkeit, einen verfassungsgerechten
Haushalt vorzulegen.
Eine weitere Zusatz-
frage, Frau Kollegin, bitte sehr.
Herr Staatssekretär, istIhnen bekannt, welche Auswirkungen das für die neuenBundesländer haben wird? Es gibt dort viele kleinelandwirtschaftliche Einrichtungen, die dringend auf die-se Beihilfen angewiesen sind. Wenn wir Arbeitsplätzeschaffen wollen, dann frage ich mich, wie diese Betriebemit derartigen Belastungen klarkommen sollen. Wirkönnen meines Erachtens nicht nur den Haushalt sehen.Wenn wir Arbeitsplätze brauchen, müssen auch wir dieGesamtwirtschaft im Blick haben.
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4246 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
(C)
Dr
Verehrte Kollegin, meine Kenntnisse gehen eher
dahin, daß die Landwirtschaft in Ostdeutschland von
Großbetrieben dominiert wird. Durch das erfolgreiche
Wirken von Bundesminister Funke konnte bei den Ver-
handlungen zur Agenda 2000 erreicht werden, daß diese
Betriebe von der konzipierten Degression der Aus-
gleichszahlungen ausgenommen wurden. Dadurch ent-
steht diesen Betrieben ein Vorteil in erheblicher Grö-
ßenordnung, so daß sie die Konsequenzen aus der Ab-
senkung bzw. dem Wegfall der Gasölbeihilfe – selbst
nach Aussagen der Betriebe – verschmerzen können.
Herr Kollege, eine
weitere Zusatzfrage, bitte sehr.
Herr
Staatssekretär, Sie haben in Ihrer Antwort auf die Fragen
meines Kollegen Heinrich deutlich gemacht, daß der
Sparbeitrag der deutschen Landwirte etwa 1,5 Milliar-
den DM betragen wird und somit im Vergleich zu ande-
ren Berufsgruppen ausgesprochen hoch ausfällt. Können
Sie angesichts dessen Zahlenangaben des Deutschen
Bauernverbandes bestätigen, wonach ein 50-Hektar-
Betrieb auf Grund dieser Sparbeschlüsse mit etwa 7 000
DM jährlich zusätzlich belastet wird?
Dr
Diese Aussagen kann ich nicht bestätigen, weil in
den Projektionen des Deutschen Bauernverbands, was
die Auswirkungen der Beschlüsse der Agenda 2000
bzw. die Auswirkungen der Steuerreform anbelangt,
immer der ungünstigste Fall angenommen wurde. Das
ist grundsätzlich nicht anzunehmen. Die Erfahrungen
der Reform von 1992 im Getreidebereich, die auf euro-
päischer Ebene damals bekanntermaßen von Ignaz
Kiechle durchgesetzt wurde, haben zum Beispiel ge-
zeigt, daß die Getreidepreise sehr schnell über dem
Niveau der Getreidepreise innerhalb der Europäischen
Union gelegen haben. Es ist nicht auszuschließen, daß
eine ähnliche Entwicklung in der Zukunft eintreten wird.
Das heißt, die Projektionen, die immer den ungün-
stigsten Fall annehmen, sind in der Sache falsch. Außer-
dem muß man davon ausgehen, daß es auf seiten der
Landwirtschaft Anpassungsreaktionen geben wird. Das
heißt, der Wegfall der Gasölbeihilfe wird, obwohl das
schwierig ist – das gebe ich zu –, auch zu Einsparreak-
tionen bei der Landwirtschaft durch einen effizienteren
Maschineneinsatz und somit Einsparungen von Energie
führen.
Damit sind die Fra-
gen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums
für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten beantwortet.
Ich danke Herrn Staatssekretär Dr. Thalheim.
Wir kommen zum Bereich des Bundesministeriums
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Die Frage 12
wird schriftlich beantwortet.
Aus dem Bereich des Bundesministeriums für Ge-
sundheit wird die Frage 13 schriftlich beantwortet.
Nun kommen wir zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums der Justiz. Zur Beantwortung der Fra-
gen steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Pick
zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 14 des Kollegen Dr. Rainer Jork
auf:
Inwieweit kann die Bundesregierung ausschließen, daß esdurch die geplante Erhöhung von Patentgebühren zu einer Be-einträchtigung der technologischen und innovativen Leistungs-fähigkeit Deutschlands und zu einer Vernichtung von Arbeits-plätzen, insbesondere in den neuen Ländern mit vielen kleinenoder gerade in Gründung befindlichen Unternehmen, kommt?
Herr Staatssekretär, bitte sehr.
D
Herr Kollege Dr. Jork, die Ge-
bühren beim Deutschen Patent- und Markenamt sollen
zum 1. Januar 2000 erhöht werden, weil das Amt bisher
nicht kostendeckend arbeitet. Bekanntlich wurden die
Patentgebühren seit 1976 nicht mehr erhöht. Überdies ist
es in den vergangenen Jahren leider versäumt worden,
das Deutsche Patent- und Markenamt zu modernisieren
und so auszustatten, wie es die technische und innova-
tive Leistungsfähigkeit unseres Landes verlangt.
Die Bundesregierung setzt hier die notwendigen
Schwerpunkte und holt das Versäumte unter anderem
durch Schaffung neuer Prüferstellen nach. Im übrigen
wird die Gebührenerhöhung gerade mit Rücksicht auf
die forschenden Kreise in der Wirtschaft und namentlich
die kleinen und mittleren Unternehmen moderat bemes-
sen sein.
Erste Zusatzfrage,
Herr Kollege. Bitte sehr.
Herr Staats-
sekretär, ist der Bundesregierung bekannt, daß vor allem
in den neuen Bundesländern Innovationen die einzige
Chance sind, neue Produktionen aufzubauen? Ist ihr fer-
ner bekannt, daß zum Beispiel die finanzielle Basis für
die Patentanmeldung von den nicht mehr vorhandenen
Industrieforschungseinrichtungen bzw. deren früheren
Mitarbeitern schwerlich aufzubringen ist und durch die-
se Erschwerung dem Ziel, Arbeit in den neuen Bundes-
ländern zu schaffen, entgegengewirkt wird? Läßt man
hier die notwendige Hilfe angedeihen?
D
Herr Kollege Dr. Jork, die Ge-bührenanhebung ist mit durchschnittlich 15 Prozent sobemessen, daß sie auch für kleine und mittlere Unter-nehmen – darauf habe ich hingewiesen – tragbar seinwird. Die Eingangsgebühr beträgt 100 DM. Hier neh-men wir überhaupt keine Erhöhung vor, weil wir in derTat um die Verhältnisse der kleinen und mittleren Un-ternehmen nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch inden alten Bundesländern wissen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4247
(C)
(D)
Noch eine Zusatz-
frage, Herr Kollege? Bitte sehr.
Herr Staatsse-
kretär, ist Ihnen bekannt, daß wir auch bei den alten Ge-
bühren überparteilich das Ziel angestrebt hatten, Gebüh-
renermäßigungen und Zahlungserleichterungen für die
genannten Partner in den neuen Bundesländern umzu-
setzen? Wenn die Anmeldung mehrere Länder betrifft,
dann sind die Gebühren so hoch, daß sie schwerlich be-
zahlbar sind. Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen,
daß aus meiner Sicht und aus Sicht der Ingenieure in
diesem Bereich, vor allem in den neuen Bundesländern,
Handlungsbedarf besteht.
D
Herr Kollege Dr. Jork, die Ge-
bühren, die das Bundespatent- und Markenamt verlangt,
sind moderat bemessen; ich habe das eben dargestellt.
Wir dürfen diese Gebühren nicht mit den Gebühren
verwechseln, die entstehen, wenn es um eine europa-
weite Anmeldung geht. Dafür ist das Europäische Pa-
tentamt zuständig. Hier sind die Gebühren in der Tat
sehr viel höher. Es gibt im Moment Bestrebungen, die
Gebühren des Europäischen Patentamtes herabzusetzen.
Sie sind aber trotz aller Bemühungen, die zum Teil
schon verwirklicht worden sind, noch immer um ein
Mehrfaches höher als die des Deutschen Patent- und
Markenamts.
Eine Zusatzfrage der
Kollegin Margot von Renesse. Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, da
Ihre Bemerkung zu dem Fehlen der Prüfer etwas unter-
gegangen ist, erlauben Sie mir dazu eine Nachfrage: Wie
beurteilt die Bundesregierung im Verhältnis zu der Fra-
ge der Höhe der Gebühren das Fehlen der Prüfer für den
Patent- und Innovationsschub?
D
Frau Kollegin von Renesse, die
Bundesregierung hat bei ihrem Amtsantritt feststellen
müssen, daß es beim Deutschen Patent- und Markenamt
erhebliche Rückstände gab. Diese Rückstände sind zum
Teil abgebaut worden; sie machen uns aber noch immer
Sorge. Es ist in den letzten Jahren ein erheblicher Abbau
von Stellen gerade im Prüferbereich erfolgt. Wir bemü-
hen uns zur Zeit, die Zahl der Prüferstellen zu erhöhen.
Die vorgesehenen Erhöhungen um 76 Stellen durch die
Bundesregierung – ich bitte das Parlament sehr herzlich
um Unterstützung – würden einen großen Beitrag leisten
und uns helfen, vor allen Dingen mittelstandsfreundlich
zu arbeiten und einen besseren und schnelleren Service
zu bieten.
Damit sind wir am
Ende der Fragestunde. Die übrigen Fragen werden
schriftlich beantwortet.
– Nein, ich habe keine zweite Frage aufgerufen, weil die
Fragestunde zu Ende ist.
Ich bitte um Nachsicht, daß ich das so streng handhabe.
Es ist mit den beiden Schriftführern abgestimmt: Wir
hatten zwei Stunden; diese sind nun vorüber.
Damit kommen wir zur Aktuellen Stunde:
Entwicklung des Nettorentenniveaus – Drucksache
14/1298.
– Herr Hörster, ich lasse mich jetzt mit Ihnen auf eine
Debatte ein, damit wir Zeit gewinnen. Frau Staatssekre-
tärin Mascher nimmt Platz, damit die Bundesregierung
durch das Ressort vertreten ist.
Ich eröffne die Aussprache.
Als erster hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege
Andreas Storm das Wort.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! In den letzten zehn Tagenkonnten wir erleben, daß der Bundesarbeitsminister imHinblick auf die Auswirkungen seiner geplanten Ren-tenreform den Deutschen Bundestag und die Öffentlich-keit an der Nase herumgeführt hat.
Der Eiertanz, den der Kollege Andres vorhin hier aufge-führt hat, hat alle Chancen, als Wackeltango in die deut-sche Sozialgeschichte einzugehen.Fakt ist: Erstens. Auf der Basis der vom Verband derDeutschen Rentenversicherungsträger am Montag vor-gelegten Ergebnisse ergibt sich, daß die veränderte stati-stische Erfassung des Kindergelds das Rentenniveau umnahezu 2,5 Prozentpunkte höher ausweist als nach derbisherigen Vorgehensweise.So ist die Aussage des Bundesarbeitsministers, daßdas Rentenniveau auf der Basis der neuen Berechnungenim Jahr 2002 auf 66,4 Prozent sinkt und langfristig beirund 67 Prozent liegt, zwar formal korrekt. Rechnet man– nur so sind die Zahlen wirklich vergleichbar – wiebisher das Kindergeld für die Durchschnittslöhne hinzu,dann sinkt allerdings das Rentenniveau im Jahr 2002 aufunter 64 Prozent und pendelt sich bis zum Jahr 2030 beiknapp unter 65 Prozent ein. Das bedeutet also, daß diefaktische Senkung des Rentenniveaus erheblich höherist, als es der Bundesarbeitsminister bisher eingestandenhat.Zweitens, meine Damen und Herren. Warum ist dieseFrage für uns überhaupt relevant? Das hängt damit zu-sammen, daß der Bundesarbeitsminister gemeinsam mitdem Verband Deutscher Rentenversicherungsträger der-zeit ein Datenmonopol in der Frage der Nettolohnstati-stik hat; denn der Staatssekretär hat vorhin selbst einge-
Metadaten/Kopzeile:
4248 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
(C)
räumt, daß das Statistische Bundesamt die relevantenDaten bisher noch nicht veröffentlicht hat, der Arbeits-minister aber über Arbeitsergebnisse verfügt, die erverwendet hat. Das heißt, die einzig zugängliche Daten-quelle sind die Angaben des Bundesarbeitsministers undseit vorgestern eben auch die Angaben der Rentenversi-cherungsträger. Es wäre die Pflicht des Bundesarbeits-ministers gewesen, darauf hinzuweisen, daß die für dieEinschätzung der Auswirkungen seiner rentenpoliti-schen Sparmaßnahmen so wichtige Größe Rentenniveaunach seinen neuen Berechnungen um 2,5 Prozentpunkteallein auf Grund von statistischen Effekten höher aus-gewiesen wird, als es bisher der Fall war.
Meine Damen und Herren, dieser Informationsver-pflichtung ist der Bundesarbeitsminister offensichtlichbewußt nicht nachgekommen. Auf die Forderung derUnion vom Wochenende, der Arbeitsminister solle nunalle relevanten Daten auf den Tisch legen, hat er vorge-stern deutlich gemacht, daß er bis zur Vorlage des Ren-tenversicherungsberichts im Herbst keinerlei Angabenmehr zur Beitragsentwicklung und zum Rentenniveauvorlegen will. Das bedeutet, das Parlament hat biszur Vorlage des Rentenversicherungsberichts keinerleiChance, die von ihm in die Welt gesetzten Angaben zurEntwicklung des Rentenniveaus nachzuprüfen.
– In der Tat ein einmaliger Vorgang.Drittens, meine Damen und Herren. Der Vorsitzendedes Sozialbeirats der Bundesregierung, Professor Win-fried Schmähl, hat am vergangenen Sonntag in der„Welt am Sonntag“ zum Vorschlag eines zusätzlichenPflichtvorsorgebeitrags folgendes geschrieben:Nach Rückkehr zur nettolohnbezogenen Renten-anpassung würden dann die Anpassungssätze ge-ringer, die Renten also weniger steigen, und Ren-tenausgaben sowie Finanzbedarf der Rentenver-sicherung würden sich mindern. Faktisch würdedadurch eine weitere Senkung des Rentenniveauseintreten.Er hat dies heute in der „Welt“ präzisiert. Nach seinenAngaben „reduzierte sich“ durch die Einführung des vonWalter Riester vorgesehenen Pflichtvorsorgebeitrages inHöhe von 2,5 Prozentpunkten des Bruttolohns „auch dasRentenniveau um 2,5 Prozentpunkte. Geht man voneinem Rentenniveau von 66 Prozent aus“ – das könnenSie auch entsprechend mit 67 Prozent rechnen – „ver-ringert sich der Level nach Einführung der Zweitrenteauf nur noch 63,5 Prozent.“
Meine Damen und Herren, der Wirtschaftsdienst derBHF-Bank hat dies ähnlich analysiert und diese fakti-sche Niveauabsenkung des Vorsorgebeitrags wie folgtkommentiert:
Es kommt wohl auf den politischen Standort an, obman diesen Riesterschen Einfall als geschicktenKunstgriff lobt oder als billigen Taschenspielertrickverurteilt.
Diese Analyse, die mit dem übereinstimmt, was nichtirgend jemand, sondern der Vorsitzende des Sozialbei-rats dieser Bundesregierung deutlich gemacht hat, undIhre Verhaltensweise in der Fragestunde, insbesonderedie Verhaltensweise des Parlamentarischen Staatssekre-tärs im Arbeitsministerium, machen deutlich: Sie sindein weiteres Mal als Trickser und Täuscher entlarvtworden.
Ich bitte Sie darum,auch in einer heftigen Debatte ein bißchen auf die Aus-drucksweise zu achten. Ich wollte vorhin auch etwas imProtokoll rügen, tue das jetzt aber nicht, sondern gebedem Bundesarbeitsminister Walter Riester das Wort.
– Nein, es geht nur um den Ton, Herr Kollege.
– Wenn Sie sagen „Prolet bleibt Prolet“, ist das auchnicht so schön. – Ich schließe damit diese Debatte zwi-schen uns. Herr Minister, Sie haben das Wort.Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Frau Präsidentin! Meine Damen und Her-ren! Es wird Zeit, daß man die Leute beruhigt, die dieZahlenspielereien, die Sie produzieren, nicht mehrnachvollziehen können.
Worum geht es? Kein Rentner wird im nächsten Jahrweniger Rente haben. Die Rente eines jeden Rentnerswird vielmehr angehoben werden.
Im Kern geht es um die Entscheidung: Besitzstandswah-rung oder Zukunftssicherung? Wir setzen auf Zukunfts-sicherung.
Wir tun dies, indem wir das Rentensystem von mehrerenSeiten dauerhaft stabilisieren, und zwar im Sinne derRentner und im Sinne derjenigen, die jetzt die Renten-leistungen bezahlen.
Andreas Storm
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4249
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Wir haben gesagt, daß wir dazu mehreres im Sinneder Zukunftssicherung tun. Zunächst werden wir dienächsten Stufen der Ökosteuereinnahmen einspeisen.
– Weil der Zuruf „Toll!“ gemacht wurde, darf ich anfolgendes erinnern. 1994 lag der Rentenversicherungs-beitrag bei 17,5 Prozent. Ich habe bei 20,3 Prozent über-nommen.
Dieses Ansteigen des Niveaus des Rentenversicherungs-beitrages bedeutet, 42 Milliarden DM zusätzlich, die Sieden Beitragszahlern abverlangt haben.
Das war die erste Rechnung. Nun zur zweiten Rech-nung. Gleichzeitig ist der Bundeszuschuß inklusive derMehrwertsteuererhöhung, bei der wir Sie unterstützt ha-ben, um 25 Milliarden DM gestiegen.
Meine Damen und Herren, das sind innerhalb von fünfJahren 67 Milliarden DM oder, in einer anderen Größeausgedrückt, rund 4 Prozent Mehrwertsteuer, und daswar nicht etwa eine Zukunftssicherung, sondern hat unsin eine Situation hineinmanövriert, auf Grund derer wirjetzt reformieren müssen.Diese Bilanz trage ich der Bevölkerung gerne vor,meine Damen und Herren.
Wir sagen jetzt: Wir stabilisieren das System, undzwar im Sinne der Menschen, die ein Anrecht daraufhaben, nachvollziehbar nachgewiesen zu bekommen,wie sich die Situation in den Jahren 2010, 2020 und2030 darstellt.
Der Beitrag, den die Rentner zur Sicherung des Sy-stems, zum Erhalt der Rente auch für die zukünftige Ge-neration einbringen, erfolgt in zwei Jahren, in denen wirein höheres Niveau absichern als in den zurückliegendenvier Jahren auf Grund der Nettoanpassungsformel.
Auch in diesen zwei Jahren wird der Rentner die jewei-lige Preissteigerungsrate des Vorjahres bekommen. Da-mit, meine sehr geehrten Damen und Herren, stelle ichmich gerne vor die Rentner hin.
Ich denke, daß die Rentner ein hohes Verantwortungs-bewußtsein haben – darauf setze ich –, daß sie sich vonIhren Parolen nicht verrückt machen lassen.
Deswegen haben wir überhaupt kein Problem, ehrlich zuargumentieren.
Ich bin davon überzeugt, daß auch die vielen Rechen-spiele, die jetzt – bewußt oder unbewußt – zur Verwir-rung der Leute in den Medien auftauchen, letztendlich,wenn man vor die Leute hintritt und sagt: Das ist derBeitrag, den ihr einbringt – –
– Ich habe vorher nie anders argumentiert. Sie dürfenmich gerne überall zitieren.
Ich kann für mich in Anspruch nehmen, daß ich vor derWahl genauso argumentiert habe wie nach der Wahl.
Ich habe die Risiken des deutschen Rentenversiche-rungssystems niemals bestritten. Ich habe sie aufgezeigt.Ich habe auch hier im Parlament erklärt: Die Risiken derDemographie sehe ich sehr wohl. Gleichwohl bin ichnicht bereit, den Weg, den Sie angeboten haben, zu ge-hen.
Exakt um die besseren Lösungen zu schaffen, haben wirden Faktor ausgesetzt.
Den Zwischenruf, was daran falsch ist, nehme ichgern auf. Ich habe es hier schon einmal erläutert, aberich erläutere es Ihnen gern noch einmal.Der Abschlagfaktor hat nur sehr mittelbar etwas mitDemographie zu tun. Wir wissen, daß er spätestens imJahre 2012/2014 zu 64 Prozent Rentenniveau führt.Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder das Gesetzwird geöffnet und das Niveau sinkt auf 60 Prozent, oderman zieht die Beitragsschraube an und der Beitragsteigt. Etwas anderes bleibt Ihnen dann nicht mehrübrig. Den Weg wollen wir nicht mitgehen.
Bundesminister Walter Riester
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4250 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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Wir sind gern bereit, vor das ganze deutsche Volk zutreten und eine Generationenlösung anzubieten, die bei-de Seiten – diejenigen, die in Rente sind, und diejenigen,die Beiträge einbringen – in ein Solidarsystem einbe-zieht, das dauerhaft stabil bleibt. Das haben die Rentner,und das haben diejenigen, die aktiv arbeiten, verdient.
In der Form werden wir weiterhin ehrlich argumen-tieren.Danke schön.
Das Wort hat nun
die Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Handeln der rot-grünen Koalition in den Rentenfragen ist in doppelterHinsicht ein handfester Skandal. Der erste Teil liegt inder Vergangenheit. Da hat die christlich-liberale Koali-tion eine Rentenreform ’99 vorgelegt. Wir haben dabeiein doppeltes Ziel verfolgt: Sicherheit, Verläßlichkeitund Kontinuität in der Rentenpolitik zugunsten derRentner und Schutz der jüngeren Generation vor einerÜberforderung mit Beiträgen an die Rentenkasse in derZukunft, das heißt Stabilisierung der Beiträge.
Es wird wohl jeder zugeben, daß das sehr ehrenwerteZiele sind. Das haben wir mit Hilfe des demographi-schen Faktors in der Rentenformel erreichen wollen.Das heißt, die jährliche Steigerung der Renten sollteüber fast 30 Jahre 0,4 bis 0,5 Prozentpunkte geringerausfallen als die Steigerung der Nettolöhne. Die Rentnerhätten sich aber jährlich auf eine Steigerung ihrer Ren-ten verlassen können.
Bei Ihnen, bei Ihren Willkürmaßnahmen können sie dasnicht mehr. Wer soll Ihnen denn noch abnehmen, wennSie zwei Jahre lang die Nettoformel aussetzen, daß Siedas nie wieder tun?
Der Schaden besteht im Vertrauensverlust gegenüberdiesem wichtigen Alterssicherungssystem.
Mit welch infamer und populistischer Kritik ist diedamalige Opposition aus SPD und Grünen über die da-malige Regierungskoalition hergefallen! Sie haben jedesAngebot für ein gemeinsames Handeln in der Renten-politik ausgeschlagen, und zwar aus parteitaktischenÜberlegungen heraus; nichts anderes stand dahinter.
Unsere Bemühungen um eine gesicherte Rentenkassehat Herr Dreßler in der zweiten und dritten Lesung fürdie Rentenreform ’99 mit dem Wort „Rentenkürzung“gegeißelt, was schlicht falsch war. Er wußte das, und Siewußten das auch. Das ist das Infame!
Herr Riester, Sie haben damals nicht im Plenum ge-sessen. Ich finde es übrigens überhaupt nicht zum Grin-sen, muß ich Ihnen sagen, wenn man die Rentner der-maßen hintergeht. Sie haben sie hintergangen. Sie wuß-ten, daß es notwendig war, was wir damals gemacht ha-ben. Sie wußten, daß wir es gemeinsam hätten machenkönnen; das wäre besser gewesen.
Der Skandal ist aber auch, daß der heutige Bundes-kanzler im Wahlkampf in allen Fernsehauftritten denRentnerinnen und Rentnern gesagt hat, was wir da be-schlossen hätten, sei unanständig.Meine Damen und Herren, was ist denn eigentlichunanständiger als Ihre drastische Senkung der Renten imJahre 2002 unter das Niveau, das mit unserer Renten-politik erreicht worden wäre? Das ist ein wirklich drasti-scher Einschnitt. Sie bezeichnen das nicht als unanstän-dig. Sie wußten, daß das, was wir damals gemacht ha-ben, notwendig war. Sie aber haben sich verweigert. Siewerden es auch in der Zukunft spüren.Skandal Nummer 2 findet nach der Bundestagswahlstatt. Nach Rücknahme der Rentenreform schlagen Siejetzt bei den Rentnern zu. Wir wollten in der Tat einesanfte Landung. Das hätte die Probleme gelöst.Herr Riester, Sie können sich hinstellen und Taschen-spielertricks betreiben.
Ihr Staatssekretär hat das eben in der Fragestunde aus-führlich getan. Sie vergleichen Unvergleichbares. Siesagen 64 Prozent, wo Sie nach Ihren Berechnungen66 Prozent sagen müßten, und Sie sagen 67 Prozent, woSie nach den alten Berechnungen 65 Prozent sagenmüßten. Damit führen Sie die Leute wieder hintersLicht. Das sind Taschenspielertricks.
Sie müssen jetzt 30 Milliarden DM Mehrausgaben,die Sie 1999 aufwenden, um Ihre Wahlversprechen zufinanzieren, wieder einsammeln. Sie tun das vorwiegendbei den Rentnern und Arbeitslosen, und das nenne ichunsozial.
Ich fordere Sie deshalb auf – damit komme ich zumSchluß –:Erstens. Setzen Sie den demographischen Faktorwieder in Kraft.Bundesminister Walter Riester
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Zweitens. Fördern Sie betriebliche und privateAltersvorsorge steuerlich so, daß sie echte Säulen derAltersversorgung in Zukunft werden.Drittens. Legen Sie endlich eine langfristige Konzep-tion zur Sanierung der Rentenversicherung vor, statt hieralle Welt mit irgendwelchen Eckpunkten, die am näch-sten Tag wieder überholt sind, zu verunsichern.Danke.
Jetzt hat die Kolle-gin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen, dasWort.
Verunsichern tun doch gerade Sie von der Opposition.Sie verunsichern gerade eine ganze Generation mit einerunsäglichen Kampagne, die alles mögliche aufbläht, diealles mögliche unterstellt, ohne ein einziges Mal dieDaten, die Fakten und vor allen Dingen die Lage anzu-gucken, die Sie hinterlassen haben.
Sie haben ein Rentensystem hinterlassen, das für heutesicher ist und für morgen und übermorgen auf ein Wun-der hofft.Warum müssen wir überhaupt eine Rentenreformmachen? Wegen der demographischen Entwicklung bei-spielsweise. Das haben in der letzten Legislaturperiodeauch Sie eingesehen. Sie wissen, daß Bündnis 90/DieGrünen gesagt haben, daß sie diesen Grundsatz richtigfinden.
Was ist herausgekommen? Die übliche Halbherzigkeit,die das System nicht gesund gemacht hat, sondern nurweiße Salbe war, die einen Placeboeffekt hatte, aberauch nur für die alte Generation und nicht für die Jun-gen, die dafür geradestehen müssen.Was machen wir? Wir wollen mit der Rentenreformeinen Ausgleich zwischen Jung und Alt herstellen.
Mit dem ersten Schritt haben wir sehr deutlich gemacht,daß wir das auch tun werden. Rentnerinnen und Rentnererhalten auch in den nächsten beiden Jahren mehr Rente.Sie erhalten einen Inflationsausgleich, in den übrigensauch die Teuerung durch die Ökosteuer einfließt. Zu-gleich werden wir dafür sorgen, daß die Beitragssätzeauf einem für die heute junge Generation zumutbarenNiveau liegen.Wenn wir sagen, daß wir die Möglichkeiten der pri-vaten und betrieblichen Vorsorge stärken, dann bedeutetdas natürlich auch, daß wir Beiträge brauchen, bei denendie Menschen in der Lage sind, solche Vorsorge zu be-treiben. Wir wollen freiwillige Vorsorge – das haben wirgesagt –; die Möglichkeit dazu wollen wir eröffnen.Was wollen wir weiter? Wir wollen Armutsfestigkeit,und zwar auf unterschiedliche Art und Weise.Erstens. Wir wollen mit einer bedarfsorientiertenGrundsicherung nach unten absichern. Sie haben diealten Leute zum Sozialamt geschickt. Sie haben sie ent-würdigt.
Damit machen wir Schluß.
Wir werden ihnen mit einer bedarfsorientierten Grund-sicherung ihre Würde zurückgeben.Zweitens. Wir werden die Armutsfestigkeit auch überdas Rentenniveau sicherstellen. Wer erwerbstätig warund auf die Rente angewiesen ist, wird genug bekom-men. Die Zahlen, die im Raum sind, machen das, denkeich, ausreichend deutlich.Drittens. Wir werden die unterbrochenen Erwerbs-biographien, wie sie heute insbesondere bei Frauen üb-lich sind, in der Rentenpolitik der Realität entsprechendbewerten. Der Eckrentner, der 45 Jahre arbeitet, ist nichtmehr der Normalfall. Wir werden dafür sorgen, daß ins-besondere Frauen, die Kindererziehungszeiten hatten,
und diejenigen, die aus anderen Gründen unterbrocheneErwerbsbiographien hatten, auf eine Rente zurückgrei-fen können, die ihre Existenz sichert.Was tun Sie dagegen? Sie spielen mit Ihrer Verunsi-cherungskampagne die Generationen erneut gegenein-ander aus. Das machen wir nicht mit. Wir wollen denAusgleich zwischen den Generationen und nicht dasAusspielen der Generationen gegeneinander.
Ihr heutiges Jonglieren mit den Zahlen spottet deshalbjeder Beschreibung. Dieses Jonglieren sorgt weiterhinfür eine Verunsicherung der Alten wie der Jungen.Wir werden noch in diesem Jahr eine sehr durchdachteund ausgereifte Reform auf den Tisch legen. Sie könnensich dann entscheiden, ob Sie noch immer der Vergan-genheit anhängen oder tatsächlich an die zukünftigen Ge-nerationen und deren heutige Belastbarkeit, an die Fami-lien mit Kindern und an diejenigen denken, die im Rah-men Ihrer Reformen immer vom Hund gebissen wordensind, die immer am Ende der Schlange standen und wederheute noch in der Zukunft eine Chance haben.Vielen Dank.
Dr. Irmgard Schwaetzer
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4252 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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Das Wort hat die
Kollegin Monika Balt, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte
Damen und Herren Abgeordnete! Nach fast 90 Minuten
Fragen und Antworten konzentrierte sich letztlich alles
auf eine Frage, die in der heutigen Ausgabe einer Zei-
tung so formuliert wurde: War die Reform Blüms für die
Rentner wirklich schlimmer als die von Riester geplante,
wie letzterer behauptete? Oder hat Riester es mit
Zahlentricks geschafft, seine Reform als die bessere zu
verkaufen, obwohl sie es gar nicht ist? Ich bin der Mei-
nung, daß aus gegenwärtiger Sicht weder für die eine
noch für die andere Seite ein Grund besteht, sich vor die
Brust zu schlagen und sich als Retter der Rentnerinnen
und Rentner aufzuspielen.
Wahr ist, daß nach dem Blümschen Modell das Ren-
tenniveau im Jahre 2030 64 Prozent des Nettodurch-
schnittslohns betragen hätte. Das war nachvollziehbar.
Auf eine so genaue Zahl wollte sich Herr Staatssekretär
Andres heute nicht festlegen.
Wenn man versucht, beide Modelle rechnerisch mit-
einander zu vergleichen, ergibt sich folgendes Bild:
Beim Modell von Minister Riester wird von 81,7 Pro-
zent des Nettolohns 1998 ausgegangen, 70,5 Prozent
sind es beim Blümschen Modell. Nach dem Riester-
Modell beträgt das Rentenniveau im Jahre 2030
64,8 Prozent, nach dem Blümschen Modell 64 Prozent.
Liegen die Zahlen wirklich soweit auseinander?
Durch die Abkoppelung der Rentenanpassung von
der Einkommensentwicklung in den Jahren 2000 und
2001 sinkt das Rentenniveau von derzeit 70 auf 64 Pro-
zent der Nettoeinkommen. Die danach wieder vorgese-
hene Ankoppelung der Rentenentwicklung an die Net-
tolöhne vollzieht sich dann auf diesem niedrigen
Niveau. Durch diesen Willkürakt, der der Sanierung des
Haushaltes dienen soll, werden die Rentnerinnen und
Rentner zu „Sparschweinen“ der Nation gemacht.
Besonders fatal wird sich das auf ostdeutsche Rentne-
rinnen und Rentner auswirken, deren Rentenwert ohne-
hin nur bei 86,7 Prozent des Westwertes liegt und für die
die Rente die einzige Einkommensquelle ist.
Bei diesen Plänen muß auch berücksichtigt werden,
daß eine Vielzahl der Rentnerinnen und Rentner das
durchschnittliche Rentenniveau erst gar nicht erreicht.
Nach der letzten gültigen Statistik bezogen die Frauen in
den alten Bundesländern eine Durchschnittsrente von
831 DM. Wenn für sie die Rentenanpassung ausfällt,
dann gleiten sie hoffnungslos in die Altersarmut ab.
Zusätzlich muß bedacht werden, daß der Rentenwert
im Osten ohnehin nur 86,7 Prozent des Rentenwertes im
Westen ausmacht. Durch die Aussetzung der Anpassung
wachsen also die Abstände zwischen Ost und West.
Die Willkür, mit der diese Reform umgesetzt wird,
birgt große Gefahren für die Zukunft. Man kann sich
wohl auf folgendes einstellen: Im Jahr der Bundestags-
wahl wird eine Rentenanpassung erfolgen. Da man im
Wahlkampf wahrscheinlich verspricht, auch im nächsten
Jahr eine Rentenanpassung zu realisieren, wird einiges
dafür sprechen, daß auch im Folgejahr eine Rentenan-
passung erfolgt. Dann wird sie für zwei Jahre ausgesetzt,
um sie im Wahljahr wieder durchzuführen. Für diese
Legislaturperiode bedeutet das, daß die Rentenanpas-
sung in den Jahren 2000 und 2001 ausfällt, um sie im
Jahr 2002 zu vollziehen. Man muß in den Jahren 2004
und 2005 mit der nächsten Rentensenkung rechnen.
Als Vorsitzende des Arbeitslosenverbandes in Bran-
denburg – im übrigen im Ehrenamt – und als senioren-
politische Sprecherin meiner Fraktion wende ich mich
entschieden gegen diese Art der Rotstiftpolitik. Damit
meine ich auch die Senkung der Sozialversicherungs-
beiträge für Empfängerinnen und Empfänger von Ar-
beitslosenhilfe.
Soziale Transferleistungen dürfen nicht von der aktuel-
len Kassenlage abhängig gemacht werden. Derartige
Vorschläge sind sehr kurzsichtig und unverantwortlich.
Durch eine solche Diskussion sinkt die Glaubwürdigkeit
der gesetzlichen Rentenversicherung vor allem bei jun-
gen Menschen weiter.
Ich danke.
Ich erteile der Kol-
legin Birgit Schnieber-Jastram das Wort.
Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrterHerr Minister, bevor ich beginne, möchte ich Ihnen dieÜbergabe eines kleinen Geschenks avisieren. Ich denke,Sie sollten sich fit machen.
Ich werde Ihnen nach meiner Rede eine Rechenmaschi-ne überreichen, damit das, was Sie sagen, in Zukunftauch stimmt.Was ich eben in der Aktuellen Stunde als ausgespro-chen mißlich empfunden habe, das ist der Eindruck, denich gewonnen habe, Herr Andres, daß Sie überhauptnicht hinter Ihrer Reform stehen. Sie haben nicht miteinem einzigen Wort diese Reform verteidigt; vielmehrhaben Sie anderthalb Stunden versucht, darum herumzu-reden. Wir kennen Ihre Lage. Aber wir haben auch hin-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4253
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ter unpopulären Entscheidungen gestanden. Sie solltenlhr Verhalten ändern.Sehr geehrter Herr Riester, Sie haben in Ihrem Bei-trag eben nicht einen einzigen Vorwurf meines KollegenStorm zurückgewiesen; vielmehr haben Sie sich unend-lich gedrückt. Sie haben kein Wort zu den Aussagen vonBundeskanzler Schröder gesagt, der noch im Februarverkündet hat: Liebe Leute, es gibt sicher eine Nettoan-passung. Statt dessen tricksen und täuschen, mixen undmurksen Sie weiter. Sie tun das nicht nur mit den Rent-nern, sondern gleicherweise auch mit den jungen Men-schen; denn diese Maßnahmen haben nur einen Sinn:den Haushalt zu sanieren. Mit einer Verbesserung derSituation in der Rentenversicherung haben sie überhauptnichts zu tun.
Wenn ein so ruhiger, besonnener und solider Mann wieHerr Schmähl heute vom „Sargnagel für die Renten-versicherung“ spricht, Herr Riester, dann muß Ihnendas wirklich zu denken geben. Bevor sich HerrSchmähl zu so einer Äußerung hinreißen läßt, dauert essehr lange.Ich will noch einmal deutlich machen, worüber wirreden: Es geht um die Einkommenssituation eines Rent-ners. Ich denke, sie ist uns bewußt. Der Rentner wird mitIhrer Reform monatlich 100 DM weniger erhalten, alswir ihm gegeben hätten. Er wird zusätzlich 20 DM Öko-steuer draufzahlen. Im Osten ist es noch mehr. Dort gibtes für den Rentner 140 DM weniger. Das ist die Realität.Wenn Sie meinen, daß die Rentner so viel Geld haben,locker und flockig auf 100 DM oder im Rahmen einesRentnerlebens auf 20 000 DM verzichten zu können,dann ist dies nicht richtig.
Ihre Pläne für eine Zusatzrente, die sicherlich nochkommt – sie ist unverändert im Gespräch –, würden dazubeitragen, daß der Rentenbeitrag für diese Zusatzrente dasdurchschnittliche Nettoeinkommen senkt und damit dasRentenniveau um 2,5 Prozent gesenkt wird. Herr Andres,das wären noch einmal 52 DM weniger. Das ist nicht imHimmel geschrieben, sondern Ihre Reform.
Ich möchte Ihnen sagen, mit welchen Forderungenwir in diese Sommerpause und in die weitere Debattegehen. Wir wollen gar nicht nur draufhauen; vielmehrwollen wir auch deutlich machen, was wir für wichtighalten. Wir wollen, daß die vom Bundeskabinett be-schlossene Rentenanpassung in Höhe der Inflationsratenicht umgesetzt wird. Wir halten dieses Vorgehen fürsozial ungerecht.
Wir werden Sie auffordern, den demographischenFaktor bis spätestens 1. Januar 2000 in Kraft zu setzen.Wir wollen, daß ein Konzept zur Verbesserung der be-trieblichen und privaten Altersvorsorge vorgelegt wird.Wir werden uns intensiv über die Hinterbliebenen-sicherung unterhalten. Was Sie dazu vorgelegt haben,ist unter aller Kanone. Wir brauchen ein tragfähigesKonzept zur eigenständigen sozialen Absicherung derFrauen.
Ganz deutlich sage ich Ihnen noch einmal: Sie müs-sen damit anfangen, eine Generationenbilanz aufzustel-len. Sie versuchen hier nämlich eine große Täuschung.In vielen Bereichen erhöhen Sie die Steuern und tun so,als ob dieses niemand bezahlen muß. Junge, Alte, allemüssen gleichermaßen die erhöhten Steuern bezahlen.
Da gibt es keine Entlastung.
Was Sie hier vorgelegt haben, ist keine Reform undbietet auch keine Eckpunkte für eine Reform, sondern eshandelt sich wirklich um das Stochern im Nebel, umeine Haushaltssanierung auf Kosten der Rentner in die-sem Lande, zu der auch die jungen Leute beitragen müs-sen.
Ich möchte noch
einmal darauf hinweisen, daß ich die Reihenfolge der
Redner ein wenig vertauscht habe. Wundern Sie sich
deshalb bitte nicht, wenn nach der Kollegin Lotz der
Kollege Klaus Müller spricht. Jetzt also die Kollegin
Lotz, dann der Kollege Müller, und danach geht es in
der vereinbarten Reihenfolge weiter.
Frau Kollegin, bitte sehr.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-nen! Liebe Kollegen! Da Sie, Frau Schnieber-Jastram,anmahnen, eine Generationenbilanz zu erstellen, möchteich Sie doch daran erinnern, daß Sie während Ihrer Re-gierungszeit 1,5 Billionen DM Schulden aufgehäuft ha-ben, was zu einer jährlichen Zinsbelastung von fast90 Milliarden DM führt und dazu, daß fast jede vierteMark aus Steuereinnahmen für Zinszahlungen drauf-geht. Das war Ihr Beitrag zu einer Generationenbilanz.
Das Ziel der Aktuellen Stunde und dessen, was Siehier heute abziehen, ist aus meiner Sicht ganz eindeutig:Sie wollen unsere Rentenreform miesmachen. Ich sageIhnen voraus: Es wird Ihnen nicht gelingen.
Ich nehme es Ihnen aber übel, daß Sie die Rentnerin-nen und Rentner wieder verunsichern.
Birgit Schnieber-Jastram
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4254 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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Die Rentnerinnen und Rentner werden sich aber daranerinnern, daß die Rentenerhöhungen, die sie unter IhrerRegie erhalten haben, niedriger als die Preissteigerungs-rate lagen.
Diese Erfahrung werden sie mit uns nicht machen.
Sie haben auch dafür gesorgt, daß jedes Kind in unse-rem Lande mittlerweile weiß, was versicherungsfremdeLeistungen sind. Auch daran möchte ich Sie noch ein-mal erinnern.
Welches Ziel verfolgten Sie denn mit Ihrem vielge-priesenen Demographiefaktor? Die Eckrenten sollten auf64 Prozent abgesenkt werden. Mit der BezeichnungDemographiefaktor haben Sie dem Ganzen einen wis-senschaftlichen Anstrich gegeben, aber in Wirklichkeitging es nur darum, die Renten abzusenken.
Heute spielen Sie die Unschuldsengel.
Dr. Norbert Blüm sagte am 12. Januar 1998 in einemSchreiben an die Mitglieder der CDU/CSU- und F.D.P.-Bundestagsfraktionen unter anderem: „Rentenversiche-rung – Entlastungswirkung 1997 60 Milliarden DM“.
Es handelt sich dabei um 60 Milliarden DM, die Sieletztendlich Rentnern und Rentnerinnen abgenommenhaben.
Unser Reformgesetz sieht etwas anderes vor: Wirwerden wieder Sicherheit für die Rentner und Rentne-rinnen und für die junge Generation schaffen. Deshalbbieten wir auch eine bedarfsabhängige Grundsicherungan.
Sie haben zwar immer über Altersarmut geredet, aberunternommen haben Sie in dieser Beziehung nichts.
Wer nicht mehr arbeiten kann, hat Anspruch darauf,von der Gesellschaft versorgt zu werden. Dieser Grund-satz galt schon bisher. Trotzdem gab und gibt es Rentne-rinnen und Rentner, die arm sind. Es gibt alte Menschen,die von weniger als dem Existenzminimum leben. Esgibt Rentnerinnen und Rentner, die die Sozialhilfe bitternötig hätten und sie trotzdem nicht beantragen, weil siezum Teil gar nicht wissen, daß sie darauf Anspruch ha-ben, weil sie zum Teil befürchten, daß ihre Kinder dafüraufkommen müssen, oder weil sie sich einfach nurschämen. Dieser Zustand darf nicht so bleiben. SozialeGerechtigkeit muß auch für unsere älteren Mitbürgerin-nen und Mitbürger selbstverständlich werden.
Altersarmut jetzt und in Zukunft zu verhindern isteines der wesentlichen Ziele der anstehenden Rentenre-form. Sie können noch soviel dagegenreden: Dieses Zielwerden wir verwirklichen.
Wir wollen den Rentnern den Gang zum Sozialamtersparen. Deshalb führen wir die bedarfsorientierte so-ziale Grundsicherung ein. Darauf hat jede und jeder mit65 Jahren Anspruch oder auch derjenige, der dauerhafterwerbsunfähig ist.
Damit machen wir deutlich, daß es das gute Recht der-jenigen, die ein ganzes Leben lang gearbeitet haben, ist,im Alter existentiell abgesichert zu sein.Wir wollen, daß die Menschen wissen, daß sie denZugriff auf das Einkommen ihrer Kinder nicht mehr be-fürchten müssen. Grundsicherungsberechtigte Rentnerund Rentnerinnen werden in Zukunft wissen: Mit derReform wird der Rückgriff auf das Einkommen unter-haltspflichtiger Kinder ausgeschlossen. Das ist unserZiel, das Sie verschweigen. Wir werden aber dafür sor-gen, daß die Menschen wissen, was sie an unserer Re-form haben. Wir werden ferner dafür sorgen, daß derPakt der Generationen wieder Gültigkeit hat und daß dieRentnerinnen und Rentner, aber auch die jungen Men-schen keine Angst mehr haben müssen.Danke schön.
Das Wort hat nunder Kollege Klaus Müller, Bündnis 90/Die Grünen.Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Frau Schnieber-Jastram, wennsich das Niveau Ihres Beitrages in der Rentendebattedarauf beschränkt, den Rechenschieber zu benutzen,dann sehe ich schwarz für Ihre weiteren Vorschläge undfür Ihre Kritik. Ich glaube, daß sowohl der Kollege Rie-ster als auch erst recht die Regierungskoalition inzwi-schen ein bißchen weiter im Hinblick auf die moderneErika Lotz
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Technik sind. Unsere Berechnungen beruhen auf etwasmehr als dem Hantieren mit ein paar Kugeln. Damitkann man zwar spielen, aber keine Rentenreform durch-führen.
Wenn Sie in den Raum stellen, es gebe keine Steuer-entlastung durch Rotgrün, dann ist das schlicht falsch.Ich bin sicher, daß Ihnen nachher der Kollege Seiffertdas Finanztableau aus dem Finanzausschuß gebenwird. Dort sind – nur zur Erinnerung – 20 MilliardenNettoentlastung aus der Einkommensteuerreform ent-halten.
Weiter sind dort 5,7 Milliarden DM Nettoentlastung fürdie Familien und 8 Milliarden DM Nettoentlastung fürdie Unternehmen enthalten.
Unter Rotgrün gibt es also eine klare Steuerentlastungs-politik
und dazu noch eine Abgabensenkung auf Grund derÖkosteuer. Wir müssen uns also nicht verstecken; IhreKritik geht ins Leere.
Das Problem ist, daß sich die CDU nicht entscheidenkann. Interessant war in diesem Zusammenhang die Re-de des Kollegen Merz letzte Woche, der sonst immersehr kluge Vorschläge macht, aber letzte Woche herum-geeiert hat. Das tun Sie bis heute immer noch.
Sie können sich immer noch nicht entscheiden, ob Sie dasSparpaket richtig finden oder ob Sie gegen jede Spar-aktion polemisieren wollen.Die Rentnerinnen und Rentner, mit denen ich in denletzten Wochen gesprochen habe, sagen, daß sie dasSparpaket der Bundesregierung gut finden. Sie sagen,daß auch sie bereit sind, einen Beitrag dazu zu leisten,die Verschuldung, die Sie aufgebaut haben, in den näch-sten Jahren abzubauen.
Ich finde, es ist ein Zeichen von wirklicher Solidarität,daß Menschen, denen es manchmal besser- und manch-mal schlechtergeht, bereit sind, als Mitglieder der älterenGeneration einen Beitrag zur Konsolidierung zu leisten,weil sie der Meinung sind, daß diese Verschuldung bisins Mark unsozial ist und daß auch sie Verantwortungfür die nächste Generation tragen.
Wir begrüßen, daß die Nettolöhne – auch wegen derPolitik der neuen Koalition – so kräftig ansteigen. Dasheißt aber noch lange nicht, daß man das Ganze auto-matisch auf die Rentnerinnen und Rentner übertragenmuß.
– Wenn Sie rechnen könnten, dann wüßten Sie, daßSteuerfreibeträge dazu führen, daß die Nettolöhne stei-gen. Das ist im Familienentlastungsgesetz und bei derEinkommensteuerreform vorgesehen. Das können Ihnendie Finanzpolitiker Ihrer Fraktion ja bei Gelegenheitnoch einmal erklären.
Überlegen Sie einmal in aller Ruhe, ob Sie jetzt wie-der Unterschriften sammeln oder ob Sie Briefchenschreiben wollen. Das wird in der ganzen Debatte letzt-endlich zu nichts führen.
Ich würde mich freuen, wenn wir hier von Ihnen kon-kret etwas hören würden,
was jenseits Ihrer alten Pläne liegt. Übrigens, FrauSchwaetzer, waren wir in diesem Punkt im Wahlkampfgar nicht so weit voneinander entfernt. Auch die Grünenhaben für einen demographischen Faktor gestritten, unddazu stehen wir auch.
– Brüllen Sie doch nicht so rum, mein Gott.
Lassen Sie uns darüber reden, wie wir die Rente zu-kunftsfähig und generationengerecht reformieren kön-nen, was wir dagegen tun können, daß Menschen imAlter in Armut stürzen, und was wir dafür tun können,daß auch jüngere Menschen dieses System akzeptieren.In meiner Generation hieß es unter dem verehrten Kol-legen Blüm übrigens immer: „Die Rente ist sicher“ – dashabe ich tausendmal von Ihnen gehört; im Nachsatz hießes bei uns dann immer –, „und die Erde ist eine Schei-be.“ Das war das Niveau der Debatte, die unter jüngerenMenschen zu Ihrer Regierungszeit geführt wurde.Ich kann nur sagen: Wir denken an beide Seiten, andie Seite der Menschen, die jetzt Beiträge zahlen und beidenen wir eine Akzeptanz für eine solidarische Um-finanzierung, ergänzt durch eine private Altersvorsorge– das gehört für uns zusammen –, erreichen wollen, undKlaus Wolfgang Müller
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4256 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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an die Seite der älteren Menschen, die die Sicherheitbrauchen, daß die Renten nicht sinken, sondern nach wievor steigen. Wahrscheinlich werden sie sogar kräftigersteigen als in Ihrer Regierungszeit.
Das heißt, wir müssen uns hier nicht verstecken. Wirwerden eine solidarische Debatte führen, mit den Rent-nerinnen und Rentnern auf der einen und den Beitrags-zahlern auf der anderen Seite.Vielen Dank.
Ich erteile nun das
Wort dem Kollegen Johannes Singhammer, CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsi-dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! DasWichtigste, was Rentner brauchen, ist Verläßlichkeit.
Das einzige, worauf sich die 17 Millionen Rentnerinnenund Rentner bei der Regierung Schröder noch verlassenkönnen, ist der Satz: Es gilt das gebrochene Wort.
Noch nie zuvor in der Geschichte der BundesrepublikDeutschland haben ein Bundeskanzler und eine Bundes-regierung die Öffentlichkeit so mit der Unwahrheit be-dient wie Gerhard Schröder. Gerhard Schröder hat am17. Februar 1999 in Vilshofen erklärt: „Ich stehe dafür,daß die Renten in Zukunft so steigen wie die Nettoein-kommen der Arbeitnehmer.“ Nur 126 Tage später er-klärt der Kanzler in einem Interview: „Wir haben dieNettolohnformel für die nächsten zwei Jahre nur ausge-setzt.“Die Rentnerinnen und Rentner in Deutschland sindMenschen mit Lebenserfahrung. Sie wissen: Wer einmallügt, dem glaubt man nicht.
Gerhard Schröder steht mit seiner Politik des „Ver-sprochen und nicht gehalten“ im übrigen nicht allein.
So erklärte beispielsweise der stellvertretende Vorsit-zende der SPD-Bundestagsfraktion Rudolf Dreßler vorder Bundestagswahl: „Selbstverständlich wird die SPDdie Senkung des Rentenniveaus weder akzeptieren nochtolerieren.“ Deshalb hat Ihr Ministerpräsident Klimmtgestern zu Recht angekündigt, gegen derartige Überle-gungen zu stimmen und dagegen Front zu machen.Ich sage Ihnen eines: Dieser Rentenbetrug bleibt derRegierung wie ein Kainsmal auf der Stirn geschrieben.
Die 110 DM, die der Durchschnittsrentner pro Monatweniger erhält, sind heute schon angesprochen worden.Wenn man eine durchschnittliche Rentenbiographie– Einstieg ins Arbeitsleben mit 18 oder 19 Jahren unddurchschnittliche Lebenserwartung – zugrunde legt,kann man den Verlust, der sich daraus ergibt, leichthochrechnen. Man kommt dann auf einen Betrag vonsage und schreibe 20 000 DM.Hätte jemand von Ihnen das den Rentnerinnen undRentnern vor der Wahl gesagt, hätten Sie viel wenigerStimmen erhalten, als es der Fall war. Deshalb sagenwir: Das, was Sie gemacht haben, ist schäbig.
Um all dies zu vernebeln, wird jetzt eine chaotischeDebatte angezettelt
und ein Zahlensalat angerichtet, so daß draußen keinermehr durchblickt. Das dient der Vernebelung. Bei derBerechnung der Rentenstatistik wird manipuliert, und eswerden ständig neue Modelle für eine tarifvertraglicheZusatzrente ins Gespräch gebracht. Der Rentenberichtder Bundesregierung, der endlich Klarheit bringen soll,wird auf den Sankt Nimmerleinstag im Spätherbst ver-schoben.Der Gipfel des Ganzen ist: Mit Steuergeldern in Höhevon 900 000 DM – so ist zu lesen – wollen Sie eineWerbekampagne starten, um Ihre gescheiterte Renten-politik bei den Wählern zu verkaufen. Dazu stelle ichfest: Bei den Rentnern zu sparen und bei den Werbeaus-gaben der Bundesregierung zu klotzen, das nenne ichunsozial und schlimm.
Für den Fall, daß Sie richtig hätten sparen wollen,hätte ich Ihnen sagen können, wo etwas zu holen gewe-sen wäre. Um diese Antwort wollen wir uns nicht drük-ken. Ihr Bundeskanzler hatte ja angekündigt, die Zah-lungen an die Europäische Union zu senken. Auf Ihremletzten Parteitag hat er gesagt: „Die Hälfte des Geldes,das in Europa verbraten wird, stammt aus Deutschland.“Da hat er recht. Aber zurückgeholt und eingespart hat ernichts.
Auf dem Europagipfel in Brüssel hat er sich eine Nie-derlage geholt. Nachdem er zunächst sehr viel angekün-digt hat, hat er nichts für Deutschland erreicht. Da wärenKlaus Wolfgang Müller
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Summen einzusparen gewesen, aber nicht bei den Rent-nern.
Ich sage Ihnen noch eines: Nirgendwo in der Politikist Verläßlichkeit und Vertrauen so nötig wie in derRentenpolitik.
Diese rotgrüne Bundesregierung hat mehr angerichtet,als sich nur selbst zu schaden. Sie hat nämlich das Ver-trauen der Rentnerinnen und Rentner nachhaltig beschä-digt.
Das haben diese Generationen nicht verdient. Sie habennicht verdient, daß ihr Vertrauen zerstört wird, und siehaben auch diese Bundesregierung nicht verdient.
Nun hat das Wort
der Kollege Kurt Bodewig, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das, was wir heutehier erleben, ist schon eigenartig. Zuerst erlebten wir inder Fragestunde Ihre mangelnde Kreativität. Ich glaube,daß Ihre Nummer mit der tibetanischen GebetsmühleIhnen nicht zur Ehre gereicht.
Dann erleben wir hier in der Aktuellen Stunde die Fort-setzung Ihrer schauspielerischen Künste. Dazu kann ichnur sagen: Jede „daily soap“ hätte eine höhere Ein-schaltquote verdient als das, was uns heute von Ihnendargestellt worden ist.Ich bin ganz froh, daß eine von Ihnen beantragte Ak-tuelle Stunde nur wöchentlich stattfinden kann und nichttäglich.
Ich glaube, die Zuschauer hätten das nicht verdient.
Jeder Schülertheater-Workshop hat eine höhere schau-spielerische Qualität als Ihre Laiendarstellung.
Hätte Herr Hörster die Aktuelle Stunde ein bißchen frü-her beantragt, nämlich anderthalb Stunden früher, alsozu dem Zeitpunkt, zu dem darüber gemunkelt wurde,hätten wir statt der anderthalb Stunden dauernden Frage-stunde und Ihren permanent wiederholten Fragen zudemselben Thema Zeit für Sinnvolleres gehabt.
Jetzt komme ich zu einem anderen Punkt. Ich habeden Eindruck, als ob Sie einen partiellen Gedächtnis-verlust hätten.
Sie tun so, als ob Herr Blüm die letzten 16 Jahre im Vor-ruhestand war. Ich erinnere Sie daran, daß die Arbeits-losen bei Ihnen mit 60 Jahren zwangsverrentet wurden.Das bedeutet einen Abschlag von der Rente in Höhe von18 Prozent. Das sind reale Eingriffe in das Portemonnaieder Betroffenen.
Herr Storm ist mittlerweile wirklich in der Gefahr,seine Seriosität zu verlieren.
Sie werfen immer wieder neue Zahlen in die Debatte,und dann erhalten Sie von fachkundigen Menschen im-mer wieder eine Widerlegung.
Gestern war es der Verband Deutscher Rentenversiche-rungsträger, der gesagt hat, daß Ihre Zahlen falsch unddie des BMA richtig sind. Heute hat dies die BfA deut-lich gemacht. Wir haben von allen Rentenversiche-rungsträgern bestätigt bekommen, daß wir dauerhaft einRentenniveau von 67 Prozent sichern.
Sie haben von allen bestätigt bekommen, daß bei Ihnen,würden Sie noch das Sagen haben, das Rentenniveausystematisch auf 64 Prozent abgesenkt worden wäre.
Wir haben prinzipielle Kritik am demographischenFaktor. Das sage ich als jemand, der Anfang vierzig ist.
Die Kollegin Eckardt hat eben deutlich gemacht, daß siedas mit Anfang dreißig noch anders sieht. Erklären Sieeinmal dem Zwanzigjährigen, warum ausgerechnet erderjenige sein soll, der neben Ihrer systematischen Ab-senkung seines späteren Leistungsanspruchs die heutigeRentenversicherung finanzieren soll! Wir gehen einenanderen Weg, und ich glaube, daß unser Weg richtig ist.
Johannes Singhammer
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4258 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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Wir wollen einen neuen Generationenpakt, einen Ge-nerationenpakt, der mehrere Beteiligte hat.
Danach leisten alle ihren Beitrag: die Rentner, indem siezwei Jahre lang nur eine um den Inflationsausgleich er-höhte Rente erhalten – das ist etwas, was Sie in denletzten Jahren nicht geleistet haben –, und die junge Ge-neration, der die Verantwortung für ihre Eigenvorsorgeübertragen wird. Mit der Ökosteuer als drittem Instru-ment stabilisieren wir dauerhaft die Beiträge. Wir finan-zieren damit so wichtige Dinge wie die von der FrauKollegin Lotz angesprochene soziale Grundsicherung imRentensystem.
Wir schaffen Sicherheit, Sie machen das Gegenteil.Mit Ihren Zahlenspielereien zerstören Sie systematischdas Vertrauen in die Rentenversicherung. Das ist einsehr gefährliches Spiel. Es wird Ihnen auch nicht helfen,sondern schadet nur der Demokratie und der Kultur inunserer Gesellschaft.
Ihre Einschnitte hatten Wirkungen: zum einen auf dasRentenniveau, zum anderen auf die realen Rentenbe-züge. Ihre Einschnitte waren katastrophal. Was Siedurch das WFG angerichtet haben, durch die Reduzie-rung der Anrechnung der Ausbildungszeit von siebenauf drei Jahre, macht sich bei den Betroffenen sichtlichim Portemonnaie bemerkbar.
Die Zwangsverrentung habe ich schon angesprochen.
All das wirkt sich konkret aus, währenddessen Sie hiereine abstrakte Diskussion führen.
Fakt ist: Die Rentner erhalten in den Jahren 2000 und2001 mehr als in den Vorjahren.
In den letzten zehn Jahren erhielten die Rentnerinnenund Rentner sechsmal weniger, als der Preissteigerungs-rate entsprochen hätte.
In den letzten fünf Jahren war dies viermal der Fall, nur1994 nicht – interessant, daß es ein Wahljahr war. Daszeigt doch, wie durchsichtig Sie hier argumentieren.
Ich sage Ihnen: Wir sichern dauerhaft das Renten-system; die Aussagen von VDR und BfA belegen dies.Wir schaffen Chancen für Jüngere; dies ist im Genera-tionenpakt enthalten. Unser Programm gegen Jugendar-beitslosigkeit ist ungeheuer erfolgreich. Das ist etwas,was Sie in den letzten 16 Jahren nicht einmal im Ansatzerreicht haben.
Mit einem solchen Zukunftspakt, an dem alle Genera-tionen beteiligt sind, werden wir die Probleme, die Sieuns hinterlassen haben, lösen können.Vielen Dank.
Jetzt spricht der
Kollege Manfred Grund, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Kollege Bode-wig, Sie haben im Zusammenhang mit der Rentenversi-cherung von Gedächtnisschwund gesprochen.
Ich frage Sie: Wo ist die von Arbeitsminister Riester undvon Ihnen vor der Wahl versprochene „Rente mit 60“geblieben?
Davon spricht kein Mensch mehr.Wissen Sie, was ein Riester ist? Ein Riester ist dieGeschwindigkeit, mit der die vor der Wahl versprochene„Rente mit 60“ zu „60 Prozent Rente“ nach der Wahlwird.
Das ist kollektiver Gedächtnisschwund.Als „unanständig“ hat Gerhard Schröder im 98erWahlkampf die Rentenreform von Norbert Blüm be-zeichnet;
unanständig, weil mit der demographischen Kompo-nente eine be- und ausrechenbare Komponente für mehrGenerationensolidarität in die mathematische Renten-formel eingearbeitet worden wäre.
Das ist eine Rentenformel, die vor Norbert Blüm gegol-ten hat, die auch während der Ministerzeit von NorbertBlüm gegolten hat und die unter Arbeitsminister Riesternicht mehr gelten soll.Nach Minister Riesters Vorstellungen sollen dieRenten in den neuen Bundesländern im Jahr 2000 stattKurt Bodewig
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um 4,7 Prozent lediglich in Höhe des westdeutschenInflationsausgleichs in Höhe von 0,7 Prozent steigen,
im Jahr 2001 statt der gesetzlich vorgeschriebenen4,5 Prozent lediglich um 1,6 Prozent.
Damit wird den Rentnern Rente vorenthalten, und zwardenen im Osten mehr als denen im Westen.
Ab 2001 erhalten die Rentner in den neuen Bundeslän-dern monatlich 142 DM Rente weniger.
Über ein Jahr Rentenbezug wird ihnen eine Monatsrentevorenthalten, und bei einer Rentenbezugsdauer von 17oder 18 Jahren sind das 20 000 DM und mehr.
– Herr Kollege Dreßen, dafür bekommen dann die Rent-ner in den neuen Bundesländern wahrscheinlich einDankschreiben, in dem steht: SPD und Grüne bedankensich für Ihren unfreiwilligen Sparbeitrag, den Sonder-beitrag für den Aufbau Ost.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Sietatsächlich die Rentenerhöhung an die Inflationsratebinden, untergraben Sie auf Dauer das Vertrauen in dieVerläßlichkeit der gesetzlichen Rentenversicherung,
und in den neuen Bundesländern koppeln Sie die Rent-ner von der allgemeinen Einkommensentwicklung ab.Rente ist dann nicht mehr ausrechenbar und kalkulier-bar,
wenn die Erhöhung in den Jahren, in denen die Infla-tionsrate niedriger ist als die Nettolohnanpassung, ent-sprechend der Inflationsrate erfolgt, in den Jahren aber,in denen die Inflationsrate darüber liegt, auch nach derInflationsrate berechnet wird. Das ist Willkür, ebensowie die Heranziehung der Inflationsrate Willkür ist.
Sie könnten genausogut den Pegelstand des Rheins beiKöln oder die Zahlen vom Mittwochslotto nehmen. Esist das die gleiche Unberechenbarkeit, die gleiche Will-kür.
Herr Minister Riester, Sie haben vor einigen Wochenan dieser Stelle gesagt, daß in 6 Jahren unter NorbertBlüm die Rentensteigerungen immer unter der Infla-tionsrate geblieben sind, nur im Jahr 1994, in einemWahljahr, sei es anders gewesen. Sie haben gefragt, obdas Zufall gewesen sei. Herr Riester, für diese Unge-heuerlichkeit müßten Sie sich eigentlich bei NorbertBlüm entschuldigen.
Denn Sie unterstellen Norbert Blüm genau das an Ren-tenmanipulation, was Sie selbst vorhaben.
Herr Minister Riester, Sie haben dabei unterschlagen,daß die Rentensteigerungen in den neuen Bundesländernimmer über der Inflationsrate gelegen sind, weil dieLohnsteigerungen in den neuen Bundesländern immerhöher gewesen sind als die Lohnsteigerungen in denalten Bundesländern, damit der Ausgleich zwischen Ostund West erreicht werden konnte. So betrug zum 1. Juli1993 die Rentensteigerung Ost 14 Prozent, am 1. Juli1994 3,45 Prozent, zum 1. Juli 1997 5,55 Prozent. OhneIhre Eingriffe würden im Osten im Jahre 2000 die Ren-ten um 4,7 Prozent steigen und danach um 4,5 Prozent.
Herr Minister Riester, ist Ihnen nicht bekannt, daß fürdie meisten ostdeutschen Rentner die Monatsrente allesist, daß die wenigsten Vermögen, Wohneigentum oderSparguthaben haben, auf das sie zurückgreifen können?Für einen ostdeutschen Rentnerhaushalt beläuft sichdann ab dem Jahre 2001 die Belastung auf 280 DM we-niger Rente. Dazu kommen 30 DM auf Grund der soge-nannten Ökosteuer. Das sind summa summarum310 DM, die einem Rentnerhaushalt in den neuen Bun-desländern fehlen. Die Rentner in den neuen Bundeslän-dern können darauf nicht verzichten.Herr Minister Riester, wenn Sie die Rentenerhöhungim Osten am Inflationsausgleich festmachen, unterbre-chen Sie dauerhaft den Rentenaufholprozeß zwischenOst und West. Dann müssen Sie den Rentnern im Ostensagen, daß diese nie Westniveau erreichen werden. Siespalten dieses Land in Rentner erster und Rentner zwei-ter Klasse.
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist abgelaufen. Wir sind in der Aktuellen Stunde.
Ich bin beim letzten
Satz, Frau Präsidentin.
Wenn er nicht solang ist.Manfred Grund
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4260 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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Wenn Sie dieses Land
spalten, werden wir Ihnen das nicht durchgehen lassen.
Die Rentner, die sehr bewußte Staatsbürger sind, werden
auf dem nächsten Wahlzettel das Kreuz entsprechend
machen. Sie werden abstimmen und werden sagen: Wir
haben fertig mit der SPD.
Nun kommt die
Kollegin Ute Kumpf, SPD-Fraktion.
Sehr verehrte Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Eine Aktuelle Stunde zu be-antragen ist das gute Recht der Opposition. Ich habeaber gedacht, das würde sich auf einem etwas höherenNiveau abspielen.
Das wäre unseren Verdiensten adäquat gewesen. Ichhätte nicht erwartet, daß es Ausflüge in die Landwirt-schaft gibt. Frau Schnieber-Jastram hat ja von Schwei-nerei geredet.
Wir sind doch nicht dazu da, hier sozusagen Schweine-zucht zu betreiben und zu überlegen, welches Schweinwir in einer Woche wieder durch diesen Saal treibenkönnen. Vielmehr sind wir dazu da, politische Lösungenund Konzepte vorzulegen.
Ich frage mich schon: Haben CDU/CSU und F.D.P.vielleicht in einem Workcamp bei Scientology gelernt,wie man 16 Jahre ausradieren kann? In relativ kurzerZeit haben Sie gänzlich verdrängt, wie die politischeLage davor aussah.
Es ist eine schiere Frechheit, daß Sie hier von „Renten-manipulation“ und „Rentenlüge“ reden und Protestak-tionen ankündigen. Das ist Populismus hoch drei.
Wo bleibt Ihr christliches Gewissen? Sie wissen genau:Man soll nicht lügen.
Das gilt heute, wie es in den Jahren zuvor galt.
Außer demagogischer Wortakrobatik kam bishernichts. Sie sind nicht nur die Antwort schuldig geblie-ben, wie Sie einen Generationenvertrag für die Zukunft,einen Pakt zwischen Jung und Alt, gestalten wollen,
sondern auch, wie Ihr trübes frauenpolitisches Augewieder klar werden soll. Denn neben einem Generatio-nenvertrag muß auch ein Vertrag zwischen Mann undFrau gestrickt werden, getreu dem Motto: Ganze Män-ner machen halbe-halbe. Wir wollen eine solche eigen-ständige Alterssicherung für Frauen gestalten. Wenn Sieein bißchen mehr Geduld hätten und genauer hinschauenwürden, was in dem Rentenpaket insgesamt steht, dannwüßten Sie, daß wir in Eckpunkten diese eigenständigeAlterssicherung für Frauen formuliert haben. Aber Siehaben ja keine Geduld, darauf einmal einzugehen. Inso-fern wünsche ich mir schlichtweg mehr Redlichkeit undKompetenz.
Wir sind verantwortlich, dem Bürger, was unsere politi-schen Konzepte angeht, Rede und Antwort zu stehen.Wir wollen unser Konzept zukunftsfest und armuts-sicher machen, wollen stabile Beitragssätze garantierenund für die eigenständige Alterssicherung von Frauensorgen, auf die Frauen seit 16 Jahren warten. Sie habensie 1991 verschaukelt, Sie haben sie 1992 verschaukelt.Wir Frauen warten schon lange darauf, aber bislang istvon Ihrer Seite kein konkreter Vorschlag gekommen. Siewissen ganz genau, daß eine Frau mit dem berühmten„Eckrentner“ nicht zu vergleichen ist, weil sie 45 Bei-tragsjahre in der Regel nicht erreichen wird. Deswegensind wir gehalten, für die Frauen Sicherung zu betreiben.Denn die Situation der Frauen sieht anders aus: niedrigereErwerbsquote, höherer Anteil an Teilzeit, häufigere undlängere Unterbrechung der Erwerbstätigkeit, immer nochgeringere Verdienste, weniger Versicherungsjahre,
geringere durchschnittliche Entgeltpunkte und damiteine geringere Rente als Männer. Dafür müssen wireinen Ausgleich suchen.Frauen verlangen mit Recht ihr Recht auf eine eigen-ständige Alterssicherung und wollen nicht wieder aufden Sankt-Nimmerleins-Tag vertröstet werden. Wirwollen das im Rahmen dieses Rentenpaketes lösen. Wirwerden das zügig angehen und haben dazu diese Punktevorgelegt. Sie wissen ganz genau, daß wir neben demKoalitionsvertrag, in dem diese Ziele formuliert sind– zur Mindestsicherung sind schon vorhin Ausführungengemacht worden; hinzu kommt die eigenständige Alters-sicherung für Frauen –, ein Wahlmodell für die zukünf-tigen Ehen verfolgen. Die Entgeltpunkte für diejenigenVersicherten, die Kinder unter zehn Jahren erziehen,sollen entsprechend dem Mindesteinkommen aufge-wertet werden. Dadurch fördern wir die Teilzeitbeschäf-tigung von Eltern. Dies soll auch für Ehen gelten, diebereits geschlossen sind – und hoffentlich auch zukünf-tig halten –, also bei geltendem Recht weitergeführtwerden.
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Ich fordere Sie auf: Zügeln Sie Ihre Zunge, strengenSie Ihren Kopf an, und machen Sie eigene Vorschlägefür die Alterssicherung der Frauen und für die Zukunfts-sicherung der Renten! Ich glaube, das wäre Ihrer Ge-haltsgruppe adäquat.
Nun hat das Wort
der Kollege Wolfgang Meckelburg, CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsi-dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ichwerde meine Zunge zügeln, aber dennoch in aller Deut-lichkeit einiges in Ihre Richtung sagen, Frau Kumpf.Das ist ja vermutlich die letzte Rentendebatte hier inBonn. Ich sage bewußt: vermutlich. Denn in den letztenWochen haben wir ja gelernt, daß eigentlich jeden Tagetwas Neues aus Riesters Rentenkiste kommt. Aber ichbleibe einmal dabei: Es wird die letzte rentenpolitischeDebatte hier sein.Ich kann Ihnen in aller Deutlichkeit drei Vorwürfenicht ersparen. Der erste Vorwurf bleibt – als Schluß-bilanz in Bonn –: Das, was Sie mit den Rentnern ge-macht haben, ist Wählerbetrug. Es bleibt dabei, und eswird immer wieder gesagt werden.
Sie haben im letzten Bundestagswahlkampf all das,was mit der Reduzierung des Rentenniveaus zu tun hat-te, als Rentenkürzung diffamiert. Heute reduzieren Siedas Rentenniveau. Die Rentner haben von Ihnen etwasanderes erwartet.
Wollen Sie einen Beweis? Der geschätzte KollegeJochen Poß, mein Gegenpart in Gelsenkirchen, hat einJahr vor der Wahl in der Presse gesagt: Rentnern stehtdas Wasser bis zum Hals, rettet die Rente. Private Zu-satzversicherungen sind nach Ansicht von Poß nicht derrichtige Weg, hieß es. Die Leute haben daher etwas an-deres von Ihnen erwartet.Heute machen Sie eine Rentenniveausenkung. Nochim Februar hatte Bundeskanzler Schröder das Gegenteilbehauptet. Wenn man es sich realistisch anschaut, sindSie eigentlich einen Schritt auf Blüms Reform zugegan-gen. Hier wäre ein Ansatz gegeben, zu gemeinsamenPositionen zurückzukehren; denn Sie haben die Position,die Sie vor der Wahl hatten, verlassen. Das will ich hierdeutlich festhalten.Mein zweiter Vorwurf betrifft etwas, worüber mannicht mit sich reden läßt, denn das ist noch schlimmer:Es ist der Eingriff ins Rentensystem. Was Sie hier ma-chen, ist die Abkehr von der Rentenformel. Sie habendie Dreistigkeit besessen
– ich kann Sie wirklich nicht verstehen –, das, was alsRentenformel, als Vertrauensformel bei den Rentnernbekannt ist, ins Gegenteil zu verkehren. Sie haben denVergleich gezogen, daß die Rentensteigerung in denletzten beiden Jahren unterhalb der Inflationsrate geblie-ben sei und Sie in den nächsten beiden Jahren darüberhinausgingen.Sie streuen den Rentnern damit erneut Sand in dieAugen. Das Wichtige am System ist die Lohn- und Bei-tragsbezogenheit der Renten und nicht der willkürlicheAustritt aus der Systematik, den Sie wollen.
Wer das einmal macht, macht es je nach Kassenlageauch ein zweites Mal. Sie machen aus der Rentenformelals Vertrauensformel eine Willkürformel. Das ist meinHauptvorwurf. Das müssen Sie ändern.
Kehren Sie zu anderen Instrumenten zurück. Bleiben Siebei der Formel. Lassen Sie mit sich darüber reden, wieman auf lange Sicht die Rentensicherheit zwischen denGenerationen herstellen kann.
Mein dritter Vorwurf ist der heute lange durchge-kaute Vorwurf der Zahlentrickserei. Ich fordere Sie auf,Herr Arbeitsminister – wir hatten bisher keine Chance,an die Zahlen zu kommen –, uns eine Vergleichsrech-nung vorzulegen. Wir möchten wirklich auf gleicher Ba-sis Blüms Reform und Riesters Reform vergleichen.Heute haben Sie sich geweigert. Ich fordere Sie auf, unsden Vergleich zu ermöglichen.
Eines möchte ich noch festhalten: Riesters Modell istein Modell, das gebraucht wird, um in zwei Jahren nurdie Inflationsrate auszugleichen. Sie haben zwischen-zeitlich überlegt, ob das ein Jahr geschoben oder viel-leicht halbiert werden soll. Jetzt haben Sie die schöneFormel des Inflationsausgleichs gefunden. Das läßt sichbesser verkaufen. Es bleibt aber gegenüber der normalzu erwartenden Formel eine Reduzierung.
– Nein, keine Lebensstandardsicherung. Das ist einemassive Kürzung. In zwei Jahren bringen Sie die Rent-ner auf die Rutsche. Die haben von Ihnen, Herr Andres,etwas anderes erwartet.Riesters Modell ist ein Abkassiermodell für denHaushalt. Blüms Modell hatte einen Demographiefaktorund hat damit wirkliche Zukunftssicherung zwischenden Generationen geschaffen.
Sie haben die Chance, hier in Bonn zu sagen: Das,was wir gemacht haben, war nicht so gut; wir nutzen denUte Kumpf
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4262 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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Umzug nach Berlin und legen die Riester-Geschichtezur Seite,
stellen die Gehirne neu an und versuchen, zu einer Ren-tenreform zu kommen, die wieder auf eine breite Basisgestellt werden kann.
Denn diese Basis geht, wenn Sie diese Reform durch-ziehen, wirklich verloren.
Ich wünsche Ihnen viel Spaß und Herrn Riester einelange Regierungszeit. Ich bin sicher, wenn das so weiter-geht, sind wir beim nächstenmal wirklich wieder dran.
Jetzt hat die Kolle-
gin Ulrike Mascher das Wort.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich frage mich: Was wollenSie von der CDU/CSU eigentlich?
Wollen Sie – um es auf Bayerisch zu sagen – den ver-balen „Watschentanz“, den Herr Singhammer hier vor-geführt hat?
– Herr Ramsauer, ich bin in München geboren. Ich binalso – so glaube ich – berechtigt, hier als Bayerin zusprechen. – Oder wollen Sie bei der Rentenpolitik denvon Herrn Schäuble geforderten verantwortungsbewuß-ten Konsens? – Sie müssen sich entscheiden.
Herr Storm, Sie müssen sich entscheiden, ob Sie ineiner heftigen Debatte weiterhin Begriffe verwenden,die langsam die Grenze des Erträglichen überschreiten.Sie überschreiten die Grenze, indem Sie hier dem Ar-beitsminister, dem Arbeitsministerium oder dem Parla-mentarischen Staatssekretär immer wieder vorwerfen,Trickser und Täuscher zu sein.
Herr Storm, zumindest bisher waren Sie ein seriöserFachpolitiker. Sie müßten also genau wissen, daß wir aufder Zahlenbasis des Statistischen Bundesamtes arbeiten,also auf der Zahlenbasis, auf der Ihr Hintermann – derehemalige Bundesarbeitsminister Blüm – bisher auch ge-arbeitet hat. Was also Tricksen und Täuschen ist, fällt aufSie zurück, wenn Sie diese Argumentation verwenden.
Wenn Sie versuchen, den Eindruck zu erwecken,Blüm sei besser gewesen als Riester, dann frage ich Sie,ob folgende Punkte wirklich besser waren: War es bes-ser, die Höherbewertung der ersten Berufsjahre zu kür-zen, also etwas zu tun, Frau Schnieber-Jastram, wodurchvor allem die Frauen mit niedrigem Einkommen getrof-fen werden? Oder war es wirklich besser, die Alters-grenzen für Frauen im Turbotempo anzuheben? Sie wis-sen aus vielen Diskussionen genau wie ich, daß das dieFrauen empfindlich getroffen hat – viel empfindlicherals eine Anpassung zum Inflationsausgleich.
Ich frage mich, ob Sie angesichts der wildgewordenenDebatte verantworten können, daß es inzwischen Rent-nerinnen und Rentner gibt, die anfragen, ob sie denn nurnoch 67 oder 64 Prozent ihrer Rente bekommen. Ichsage hier ganz deutlich: Keine Rente wird gekürzt; esgibt vielmehr eine Rentenanpassung entsprechend derPreissteigerungsrate.
Das ist etwas, was in den letzten Jahren von der altenBundesregierung nicht erreicht worden ist.Frau Schnieber-Jastram, ich bin seit 1990 Abgeord-nete in diesem Bundestag. Ich frage Sie: Was hat dieBundesregierung getan, um eine eigenständige Alterssi-cherung der Frauen zu erreichen?
Was hat die Bundesregierung getan, um die Beitragssät-ze abzusenken?
– Nichts! Was hat die Bundesregierung getan, um diebetriebliche Altersrente zu verbessern?
– Nichts! Was wäre bei dem Demographiefaktor vonHerrn Blüm herausgekommen?
– Ohne eine soziale Flankierung mehr Armut bei denAlten. Was wäre herausgekommen? – Eine Niveauab-senkung ohne alle Verbesserungen der Altersvorsorge.
Um es ganz schlicht und einfach zu sagen: Bei NorbertBlüm hätte es durch seinen Demographiefaktor eine Ni-veauabsenkung gegeben; Walter Riester dagegen schafftdurch seine zusätzliche Altersversorgung ein höheresVersorgungsniveau und mehr materielle Sicherheit imAlter.
Wolfgang Meckelburg
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4263
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Wir werden den Generationenkonflikt nicht schüren,sondern werden den Generationenpakt neu befestigen.Ich kann Sie nur auffordern: Kehren Sie zu einer sachli-chen Rentenpolitik zurück und versuchen Sie mit unseinen Konsens, den Sie, Herr Blüm, 1996 mit demWachstums- und Beschäftigungsförderungesetz aufge-kündigt haben.
Wir sind zu Gesprächen bereit.
Damit ist die Aktu-
elle Stunde beendet.
Die Aktuelle Stunde zur Situation im Kosovo entfällt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Edzard
Schmidt-Jortzig, Jörg van Essen, weiteren Ab-
geordneten und der Fraktion der F.D.P. einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-
regelung des Schutzes parlamentarischer
Beratungen
– Drucksache 14/183 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Dr. Evelyn Kenzler, Sabine Jünger,
Petra Pau, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion
der PDS eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Aufhebung der Bannmeilenregelung
– Drucksache 14/516 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Neuregelung des Schutzes von Verfassungs-
organen des Bundes
– Drucksache 14/1147 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
ordnung
– Drucksache 14/1292 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Roland Claus
Jörg van Essen
Steffi Lemke
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
Dieter Wiefelspütz
Zum Koalitionsentwurf liegen drei Änderungsanträge
der CDU/CSU vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktionen von F.D.P. und PDS jeweils fünf Minuten
erhalten sollen. Sind Sie damit einverstanden? – Dann
ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erstem erteile ich
dem Kollegen Eckhardt Barthel, SPD-Fraktion, das
Wort.
– Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sind herzlich
eingeladen, im Saal zu bleiben, weil auch der jetzt auf-
gerufene Tagesordnungspunkt interessant ist. Aber wenn
Sie schon die Debatte nicht verfolgen wollen, dann bitte
ich Sie, die Gespräche nicht im Saal weiterzuführen.
Bitte, Herr Kollege!
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Mit dem Umzug des Deut-schen Bundestages und des Bundesrates nach Berlinstellt sich auch die Frage nach der sogenannten Bann-meile neu. Ich gebe zu, es gibt sicher wichtigere Fragen;aber auch diese muß von uns beantwortet werden.Brauchen wir eine Bannmeile und, wenn ja, in wel-cher Form, oder reichen die Bestimmungen des Ver-sammlungsgesetzes aus, um die obersten Verfassungs-organe zu schützen?
Von den 17 deutschen Parlamenten haben elf eineBannmeile, sechs haben keine. Die Erfahrungen derParlamente in der Bundesrepublik Deutschland sowie inanderen Ländern – ich denke etwa an Frankreich –haben gezeigt, daß sich sowohl der Verzicht auf eineBannmeile als auch die Existenz einer Bannmeile je-weils bewährt haben. Die Diskussion um ein derartigesGesetz spiegelt genau dies wider.
– Ich weiß nicht, ob Frankreich ein solches Gesetz hat,aber ich lasse mich von Ihnen gern belehren.
Einige wollen gar keine Bannmeile haben, andereverlangen eine sehr wehrhafte Regulierung. Es geht inder Tat um eine Güterabwägung: einmal des Schutzesdes hohen Gutes der Versammlungsfreiheit und zumanderen des ungehinderten Zuganges zum Parlamentund der Arbeitsfähigkeit des Parlamentes. Letzteresbedeutet die Arbeitsfähigkeit aller Parlamentarier, wes-halb wir eigentlich eine Regelung finden sollten, dieeinen Konsens in diesem Hause ermöglicht. Wir meinen,daß mit unserer Vorlage dieser Konsens eigentlich mög-lich ist.Ulrike Mascher
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4264 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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Meine Damen und Herren, unser Gesetzentwurf trägtbeiden Interessen und Zielen, dem der Versammlungs-freiheit und dem der Arbeitsfähigkeit, Rechnung. Wennwir es auf einen Nenner bringen, so haben wir uns ander Maxime orientiert: So viel Regulierung wie nötig, sowenig Einschränkungen wie möglich. Mit der Beschrän-kung auf das Notwendige genügt unser Entwurf auchder Rechtsprechung der Bundesverfassungsgerichts unddes OVG Münster, wonach die Versammlungsfreiheitnicht beliebig relativiert werden darf. Ein wie auch im-mer genanntes Bannmeilengesetz muß den Wesensge-halt des Art. 8 des Grundgesetzes respektieren. Wir se-hen dies in unserem Gesetzentwurf verwirklicht.
Im übrigen haben wir mit diesem Entwurf das Radnicht neu erfunden. Natürlich lag uns bei der Erarbei-tung unseres Entwurfs auch der F.D.P.-Entwurf aus dervorigen Legislaturperiode vor. Die Differenzen zwi-schen Ihrem Entwurf und unserem Entwurf sind so ge-ring, daß Sie eigentlich frohen Herzens unserem Ent-wurf zustimmen sollten.
Meine Damen und Herren, ich komme nun zu denwichtigsten Punkten unseres Entwurfes und beginne mitetwas, was sicherlich wieder eine fröhliche Diskussionauslösen wird. Gleichwohl halten wir es für notwendig,die Frage des Begriffes zu erörtern. Wir halten den Be-griff der Bannmeile, unter dem heute eine Verbannungder Bevölkerung verstanden wird, für nicht mehr zeit-gemäß und für vordemokratisch. Wir wollen nicht dieBevölkerung verbannen, sondern einen befriedeten Be-reich für die Arbeit des Parlaments schaffen,
was übrigens nicht heißt, daß die anderen Bereiche un-friedlich sein könnten. Dieses Ziel sollte sich auch imNamen ausdrücken. Deshalb sprechen wir von befriede-ten Bezirken.Meine Damen und Herren, bei dem Platz der Repu-blik, dem Platz vor dem Reichstag, geht es nicht umeinen noch so schönen Rathausplatz, sondern um einenhistorischen Ort. Ich bitte Sie, auch daran zu denken.
Auf diesem Platz haben sich Hunderttausende zu Frei-heitskundgebungen und anderen Anlässen versammelt.Das muß auch zukünftig möglich sein. Ich frage michallerdings, ob wir weiterhin Hunderttausende auf dieBeine bekommen, ohne daß es zu einer Love Paradeausartet.Gerade angesichts der Bedeutung dieses Platzes be-sonders für die Berliner Bevölkerung, an die man viel-leicht auch einmal denken sollte, darf kein Eindruck ent-stehen, der auch nur annähernd etwas mit Verbannen zutun haben könnte. Dies wäre fatal.Meine Damen und Herren, ich habe mich gewundert,als Herr Hörster bei der ersten Lesung die polemischeFrage gestellt hat: Warum muß denn unbedingt inner-halb der Bannmeile demonstriert werden? Ich meine,diese Frage ist entlarvend, und sie drückt auch einetotale Unkenntnis der Geschichte dieses Platzes der Re-publik aus.
Meine Damen und Herren, wir haben eine enge Be-grenzung des befriedeten Bezirkes vorgenommen, undzwar einerseits, weil wir so wenig Einschränkung wiemöglich wollen, andererseits aber auch aus polizeitech-nischen Erwägungen heraus. Ich freue mich übrigens,daß die Berliner Polizei dies richtig findet und auch un-terstützt. Im übrigen glaube ich, daß hinsichtlich der Be-grenzung dieses Raumes eigentlich kein Dissens vor-handen ist, obwohl es einige gab, die das Bundeskanz-leramt, den Pariser Platz usw. mit einbeziehen wollten.Dies ist aber zum Glück vom Tisch.Meine Damen und Herren, so wenig Einschränkungwie möglich bedeutet allerdings auch, daß sich dieseEinschränkung nur auf die Gewährleistung der Parla-mentsarbeit beziehen darf. Deshalb wollen wir, daß dasVersammlungsverbot faktisch nur dann ausgesprochenwerden kann, wenn auch Parlamentsarbeit stattfindet.Mit anderen Worten: Wenn keine Sitzung des Parla-ments oder seiner Gremien stattfindet, wird unser GesetzVersammlungen nicht verhindern.Ein dritter Punkt, meine Damen und Herren. In Zu-kunft soll die Verletzung des befriedeten Bereiches nichtmehr als Straftat, sondern als Ordnungswidrigkeit be-handelt werden.
– Das ist nicht das Schlimmste. Ich glaube, das ist dasWesentlichste an diesem Gesetz.
Meine Damen und Herren, man kann es Abrüstungnennen. Man kann auch sagen: Laßt es uns tiefer hän-gen. Das ist aber nicht der einzige Grund. Ich glaubevielmehr auch – wiederum kann ich mich, was michsehr erfreut, auf die Polizei berufen –, daß durch denVerzicht auf das Legalitätsprinzip und die Statuierungdes Opportunitätsprinzips für die Polizei sehr viel flexi-blere Möglichkeiten bestehen, was zu einer Deeskalationbeitragen kann und hoffentlich auch beitragen wird.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschlie-ßend sagen: Im Vorfeld dieses Gesetzes hat es viele Dis-kussionen und, wie ich gehört habe, auch eine kleine An-hörung gegeben. Viele Befragungen wurden durchge-führt. Wir hatten den Eindruck – dies ist kaum zu wider-legen –, daß unser Entwurf auf große Zustimmung stößt.
Eckhardt Barthel
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4265
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Er ist faktisch eine Brücke zwischen den beiden Polen,die ich anfangs genannt habe. Ich würde mich freuen,meine Damen und Herren von der Opposition, wenn Siemit über diese Brücke gehen würden.Ich bedanke mich.
Herr Kollege Bar-
thel, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag.
Ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses.
– Aber sie war sehr gut. Herzlichen Glückwunsch!
Nun erteile ich dem Kollegen Dr. von Stetten,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort. – Es ist ganz bestimmt
nicht Ihre erste Rede, Herr Kollege.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Trotzdemwürde ich mich freuen, wenn ich auch so ein Lob bekä-me wie der Kollege.
Die CDU/CSU-Fraktion hat bereits in der letzten Le-gislaturperiode die Verabschiedung eines neuen Bann-meilengesetzes angemahnt, um rechtzeitig vor dem Um-zug nach Berlin auch dort den Schutz der Parla-mentsarbeit zu gewährleisten und abzusichern. DieVerhandlungen zogen sich deswegen hin, weil dieCDU/CSU bei einer so wichtigen Angelegenheit einenbreiten Konsens über die Parteien hinweg erreichenwollte.Bei uns gab es keine Diskussion über die Frage, obeine Bannmeile notwendig ist oder nicht. Herr KollegeBarthel, uns mit anderen Ländern, beispielsweise mitFrankreich, zu vergleichen ist sicherlich nicht möglich.– Herr Barthel, hören Sie gerade zu? – Nun gut, dannnicht. – In Frankreich schützt sogar das Militär das Par-lament, wenn es sein muß, und zwar auf Grund einereinfachen Verordnung.Wir halten es für eine selbstverständliche demokrati-sche Notwendigkeit, daß die Parlamentarier ungestört,ohne Druck von der Straße und ohne Demonstrationen,arbeiten können, und erinnern uns noch gut an die Blok-kadesituationen in Bonn, bei denen ohne die Bannmeileein Arbeiten von Parlamentariern nicht möglich gewe-sen wäre.Dies ist auch keine Einschränkung des Demonstra-tionsrechts, und, Herr Kollege Barthel, die Frage desKollegen Hörster, warum gerade in der Bannmeile de-monstriert werden solle und nicht in 99,9 Prozent derBundesrepublik Deutschland, ist doch berechtigt.
Dies dient der Erhaltung der Regierungsfähigkeit undder Freiheit der Abgeordneten, auch in schwierigenSituationen freie Entscheidungen zu treffen.Nach der Wahl wurde deswegen im Geschäftsord-nungs- und Immunitätsausschuß vereinbart, gemeinsamein solches Gesetz zu erarbeiten und zu beschließen.Dazu ist es leider nicht gekommen. Die Koalition ausSPD und Grünen hat zwar diese Gespräche angekündigt,die Zusage aber nicht eingehalten.
– Stellen Sie doch eine Frage, anstatt dazwischenzure-den.Vor 14 Tagen wurde ein fertiger Entwurf auf denTisch gelegt, und dabei wurde erklärt, daß dieser abernicht verhandlungsfähig sei, so nach dem Motto: Vogelfriß oder stirb. Wir, die SPD, wollen zwar eine breiteMehrheit. Aber eure Meinung müßt ihr für euch behal-ten. Ihr könnt nur akzeptieren oder ablehnen.Das geht uns leider bei vielen Gesetzen so, die ent-weder dahingeschludert werden oder sehr schlecht sind,weil der kleinere Koalitionspartner, die Grünen, dieSozialdemokraten unter Druck setzt. Das Ganze hatirgendwie Methode und Parallelen zu den Wählern derrotgrünen Koalition vom 27. September 1998, derenMeinung nicht mehr zählt. Wir haben heute nachmittagdie Debatte über die Renten gehabt. Sie fühlen sichschlichtweg um ihre Stimme betrogen.Die CDU/CSU-Fraktion will eine Bannmeile. Es istauch nicht das Thema, ob dies nun Bannmeile oder be-friedeter Bezirk heißt. Herr Kollege, das ist bei uns nichtin der Diskussion. Wichtig ist der Zweck. Auch dieräumliche Ausdehnung, die wir in der Tat lieber etwasgrößer gesehen hätten, aber die mit den Sicherheitsbe-hörden abgestimmt ist, kann akzeptiert werden.Wir wollen aber, daß dieser befriedete Bezirk einwirklich befriedeter Bezirk ist, und zwar bei allen Sit-zungen des Bundestages und der Bundestagsgremien.Deswegen fordern wir, die Bestimmung des bisherigen§ 3 des Bannmeilengesetzes wiederaufzunehmen und andie Stelle des etwas schwammigen und unverständlichen§ 5 neuer Fassung zu setzen.Damit wollen wir sicherstellen, daß nicht nur die un-mittelbaren Sitzungen, sondern auch die durch die Frak-tionen organisierten Arbeitsgruppen und die vielfach insitzungsfreien Zeiten durchgeführten Fachgespräche,Anhörungen, Vor- und Nacharbeiten zu den Sitzungs-wochen und Fraktionssitzungen geschützt werden.Es muß für alle Bürger unmißverständlich klar sein,daß Demonstrationen in diesem Bezirk die Ausnahmebilden und nicht die Regel. Das heißt, es darf keine Be-weislastumkehr geben. Wir werden deswegen einen ent-sprechenden Antrag stellen.Eckhardt Barthel
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Für viel gravierender halten wir jedoch die Herab-zonung der Verletzung der Bannmeile von einerStraftat gemäß § 106 a StGB zu einer bloßen Ord-nungswidrigkeit. Konnte die Verletzung bisher mit biszu 6 Monaten Freiheitsstrafe und die Aufforderung,sprich: Aufhetzung zur Verletzung mit bis zu zwei Jah-ren Freiheitsstrafe geahndet werden, so ist diese ganzwichtige Differenzierung nun aufgehoben worden undalles zusammen zu einer bloßen Ordnungswidrigkeitdegradiert worden.Wir sind der Meinung, daß schon sehr deutlich einUnterschied gemacht werden müßte zwischen dem, derrechtswidrig zu einer solchen Tat auffordert, und dem,der als Verführter diese Tat ausführt. Ähnlich – nurvielleicht in einem anderen System – hat die F.D.P. jaauch votiert.Wir sind auch der Meinung, daß es geradezu eineAufforderung an linke Autonome oder rechte Chaotendarstellt, es doch einmal mit der Verletzung des befrie-deten Bezirks zu versuchen; denn es wird ja nur so ge-ahndet, wie wenn man bei Rot über die Ampel fährt.Es ist auch eine Frage des Selbstverständnisses derAbgeordneten und ihrer Verantwortung gegenüber ande-ren Verfassungsorganen, wie sie mit den demokratischenInstitutionen umgehen und ob sie wirksam gegen Gewalt,Erpressung, physische und psychische Störungen ge-schützt werden. Hier versagt die rotgrüne Koalition, ins-besondere versagen die Grünen, die nur noch mit einemHerrn vertreten sind – Herrn Ströbele, der Gegner derBannmeile ist –, wegen ihres sowieso gestörten Verhält-nisses zum Staat, vor allem zum Gewaltmonopol.Eigentlich müßten die Grünen nach ihrem letztenParteitag die Lehren gezogen haben, auf dem sie selbsteinmal gespürt haben, wie es ist, wenn man in der Be-wegungs- und Meinungsfreiheit behindert wird. Siehaben sicher ein gewisses Verständnis für uns, HerrStröbele, wenn wir Schadenfreude nur mühsam unter-drücken konnten, als wir sahen, daß diejenigen, die frü-her zu den Oberstoßern und den Oberwerfern gehörten,diesmal selbst zu Gestoßenen und Beworfenen wurden.Das wollen wir vor dem Reichstag, vor dem Bundesratund dem Bundesverfassungsgericht vermeiden. Deswe-gen wollen wir ein vernünftiges Gesetz. Wir werden da-her den Antrag stellen, daß Art. 4 Abs. 2 ebenso ersatzlosaufgehoben wird wie Artikel 5 des Gesetzes, damit diealte Strafbewehrung des § 106 a StGB weiter gilt.
Für geradezu absurd halten wir den Kotau der Sozial-demokraten vor den Grünen mit der Befristung desGesetzes bis zum 30. Juni 2003. Ein befristetes Gesetzträgt immer den Schein des Unrechts.
Das Gegenteil wäre richtig: nicht befristen, sondernnach drei oder vier Jahren überprüfen, ob es geändertwerden muß.Praktisch richtig, aber rechtssystematisch sicherfalsch ist der Trost der Sozialdemokraten: Ihr könntdann ja mit eurer Mehrheit nach der Bundestagswahl2002 die Befristung aufheben. – Wir werden das tun,weil wir dann die Mehrheit haben werden. Aber ich darfhinzufügen, daß wir – und mit uns wohl die Mehrheitder Wähler in Deutschland – der Meinung sind, daß die-se in sich zerstrittene Koalition schon jetzt wieder reifist, abgelöst zu werden. Aber das Sich-Klammern-an-die-Macht hält zusammen. Herr Beck, Sie sind einerdieser Klammerer, ein Oberklammerer.
Es gibt ganz unterschiedliche Gesetze. Es gibt sol-che, die wirklich inhaltlich neu sind, wo man eineErfolgskontrolle machen muß und wo die Erfolgs-kontrolle dann dazu führen kann, daß man in derTat ein Gesetz abändert oder ganz aufhebt, und esgibt solche – denken Sie an das BGB oder an Straf-gesetze! –, wo es natürlich absoluter Blödsinn wä-re, jetzt ein Verfallsdatum einzubauen. Das würdenur dazu führen, daß man Gesetze noch wenigergut berät oder daß die Verwaltung … nicht mehrweiß, was sie tun muß.Ich bitte jetzt um Entschuldigung: Ich habe nicht an-gekündigt, daß ich ein Zitat gebracht habe. Diese Sätzesagte wörtlich die heutige Justizministerin Dr. HertaDäubler-Gmelin, damals noch stellvertretende SPD-Vorsitzende und Obfrau im Rechtsausschuß, am 8. Ja-nuar 1997 im Rundfunk, und wo sie recht hat, hat sierecht. Ich wiederhole:… denken Sie an das BGB oder an Strafgesetze …,wo es natürlich absoluter Blödsinn wäre, jetzt einVerfallsdatum einzubauen. Das würde dazu führen,daß man Gesetze noch weniger gut berät …„Wie wahr, wie wahr!“ würde ich der Ministerin zu-rufen, wenn sie da wäre.Wir werden deswegen beantragen, daß dieses Ver-fallsdatum ersatzlos gestrichen wird, und wären dank-bar, wenn die Aufrechten in der SPD – auch die sitzenhier – dem zustimmen würden. Das würde unsere Zu-stimmung zu dem Gesetz erleichtern.
– Ich habe Sie nur angeguckt, Herr Kollege.
Die zwei wichtigsten Arbeitsgruppen der CDU/CSU – –
– Ich habe Sie fixiert?
– Gott sei Dank ist das vorbei; reden wir im Aus-schuß darüber.
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4267
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Die Arbeitsgruppe für Recht und die Arbeitsgruppefür Inneres der CDU/CSU-Fraktion haben Ihren Gesetz-entwurf, den wir schlichtweg nur als Mogelpackung be-zeichnen können, abgelehnt; ihre Mitglieder haben inden Ausschüssen dagegen gestimmt.Wir wollen eine Bannmeile in Berlin um denReichstag und um den Bundesrat am Potsdamer Platzund natürlich auch um das Verfassungsgericht in Karls-ruhe. Wir wollen eine Lösung, die sich in Bonn undKarlsruhe bewährt hat; sie sollte nicht ohne Not – nurweil Sie als SPD mit den Grünen nicht zu Rande kom-men – aufgegeben werden. Wir bitten daher um Zu-stimmung zu unseren Änderungsanträgen. Dann ständeeiner breiten Mehrheit für das Gesetz nichts im Wege.
Danke schön.
Alsnächster Redner hat der Kollege Hans-Christian Ströbelevon Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
gen! Unser Gesetzentwurf geht von der Vorstellung aus,daß die parlamentarische Demokratie in der Bundes-republik Deutschland nach 50 Jahren erwachsen und reifgeworden ist
und daß sich dieses Parlament, wenn es nach Berlin um-gezogen sein wird, nicht besonders vor der BevölkerungBerlins oder den nach Berlin Angereisten schützen willund muß.Wir meinen, daß die Bevölkerung ein Recht daraufhat, auch auf der Straße durch Versammlungen undDemonstrationen ihre Abgeordneten zu beeinflussenund ihre Meinung kundzutun. Das sollen nicht nur dieauch hier in Bonn in nahen Büros als Lobbyisten Täti-gen tun können, die möglichst jeden Tag, in jeder Stun-de mit viel Schriftlichem und Mündlichem die Abgeord-neten zu beeinflussen und auf ihre Seite zu ziehen ver-suchen. Diese Möglichkeit soll auch die Bevölkerunghaben. Deshalb haben wir einen Gesetzentwurf vorge-legt, in dem eine Bannmeile nicht mehr vorgesehen ist,wie sie in Bonn bis heute existiert.Wir verfolgen mit unserem Gesetzentwurf einenzweiten Grundgedanken. Wir wollen nicht, daß der Be-völkerung durch ein Gesetz verboten wird, auf demPlatz der Republik – darauf ist bereits hingewiesen wor-den –, auf einem der berühmtesten Plätze in Deutsch-land, auf dem nach dem Krieg große Demonstrationenfür die Freiheit mit Ernst Reuter oder Willy Brandt statt-gefunden haben, zusammenzukommen, zu demonstrie-ren, die Meinung kundzugeben und von ihm aus frei-heitliche Signale rund um den Erdball zu senden. Daswollten wir nicht. Das Wort „Verbot“ finden Sie in un-serem Gesetzentwurf nicht mehr.Wir wollen – ich denke, das ist ein richtiger und we-sentlicher Schritt hin zu mehr Freiheit und auch zu mehrSelbstbewußtsein dieses Parlaments; es ist das Gegenteilvon dem, was Sie erreichen wollen; man hat manchmalden Eindruck, daß Sie sich vom Volk umzingelt fühlenund Angst vor ihm haben – Demonstrationen und Kund-gebungen immer dann zulassen – so steht es in unseremGesetzentwurf –, wenn keine konkreten Anhaltspunktedafür vorhanden sind, daß die Arbeit des Parlaments be-hindert werden könnte. Das ist eine freiheitliche Rege-lung. Damit wird das Demonstrationsrecht, das Rechtder Bevölkerung auf Meinungskundgabe, ernst genom-men.Wir wollen Übertretungen der Zulassungsbeschrän-kung lediglich als Ordnungswidrigkeit geahndet wis-sen. Die Ahndung einer Ordnungswidrigkeit liegt in derDisposition der Ordnungsbehörden, das heißt, daß sienicht einschreiten müssen, wenn drei Behinderte vordem Reichstag ein Schild hochhalten, was sie nach demgeltenden Gesetz tun müßten; denn damit ist das eineDemonstration im Bannkreis und somit eine strafbareHandlung. Wir wollen der Polizei wie bei allen anderenOrdnungswidrigkeiten einen Ermessensspielraum zubil-ligen, zu entscheiden, ob sie einschreitet. Aber sie sollnicht mehr durch Gesetz zum Einschreiten gezwungensein. Sie soll im Einvernehmen mit dem Präsidenten desDeutschen Bundestages die Entscheidung zum Ein-schreiten fällen.Nach unserem Gesetzentwurf werden Demonstratio-nen nicht nur in der sitzungsfreien Zeit, sondern auch zuanderen Zeiten in der Nähe des Reichstags und auch aufdem Platz der Republik stattfinden. Ich freue mich aufdie vielen friedlichen Demonstranten, die uns bei vielenwesentlichen Entscheidungen, die wir treffen müssen,ihre Meinung mit auf den Weg geben – zur freien Beur-teilung durch die Abgeordneten. Deshalb machen wirdieses Gesetz. Weil wir sicher sind, daß die Erfahrungenmit diesem Gesetz, mit der Bevölkerung und mit derDemonstrationskultur in Berlin positiv sein werden,werden wahrscheinlich am Ende dieser Legislatur-periode überhaupt keine Sonderregelungen mehr nötigsein. Wir werden die Erfahrung gemacht haben, daß dieStrafgesetze und das Versammlungsgesetz völlig ausrei-chen. Wenn das zutrifft, dann hat sich unser Gesetz sel-ber überflüssig gemacht. Dieses Ziel steht im letztenTeil unseres Gesetzentwurfes. Ab dem Jahre 2003 gibtes überhaupt keine Beschränkung mehr.
Das ist ein wesentlicher, richtiger Schritt hin zu mehrDemokratie, zu mehr Mitbestimmung und zu mehrMöglichkeiten der Bevölkerung, auf die AbgeordnetenDr. Wolfgang Freiherr von Stetten
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4268 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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Einfluß zu nehmen. Dafür stehen wir. Deshalb wollenwir dieses Gesetz verabschieden. Das tun wir heute mitMehrheit.
Als
nächster Redner hat der Kollege Jörg van Essen von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Die F.D.P.-Bundestagsfraktion freut
sich, daß heute eine Regelung gefunden wird, die weit-
gehend ihren eigenen Vorstellungen entspricht. Der aus
dem Bundestag ausgeschiedene Kollege Dr. Burkhard
Hirsch hat sich in der Frage der Bannmeilenregelung be-
sonders engagiert. Ich möchte ihm hier ausdrücklich da-
für danken, daß er Denkanstöße gegeben hat, die im
Hause – das zeigt die heutige Debatte – großen Wider-
hall finden,
nämlich die Überlegung, ob die bisher in Bonn prakti-
zierte Bannmeilenregelung nicht zu starr ist.
Wir alle hatten häufig ein schlechtes Gewissen, wenn
wir zum Beispiel im Immunitätsausschuß mit Strafver-
fahren befaßt waren. Als ich in den Bundestag eingezo-
gen bin, habe ich gesehen, daß die Fälle, in denen es
große Zustimmung für Demonstranten gab und in denen
außer gegen die Bannmeilenregelung gegen kein ande-
res Strafgesetz verstoßen wurde, anders als andere ge-
handhabt wurden. Das wurde dann akzeptiert, so will ich
einmal vorsichtig sagen. Es gab aber auch Demonstran-
ten, die diesen politischen Rückhalt nicht hatten und bei
denen das Legalitätsprinzip in voller Wucht Anwendung
fand.
Als jemand, der aus der Justiz kommt und der sich
daher sehr intensiv der Gerechtigkeit verpflichtet fühlt,
habe ich dabei ein sehr ungutes Gefühl gehabt. Ich muß
sagen, es gefällt mir jetzt sehr gut, daß wir in Zukunft
besser abwägen können und daß wir das, was wir an
Eingriffen vornehmen, auf das Notwendigste beschrän-
ken. Ich glaube, daß der Weg, den wir jetzt gehen, gut
ist.
Herr Ströbele, ich widerspreche Ihnen: Die Überle-
gung, ob möglicherweise das allgemeine Polizeirecht
ausreicht, ist natürlich heranzuziehen. Für mich war die
Asyldebatte – ich war bei dieser Debatte Verhandlungs-
führer meiner Fraktion – der entscheidende Punkt, an
dem ich gemerkt habe, daß wir ohne eine Regelung, die
einen Abstand vom Parlament gewährleistet, nicht aus-
kommen werden. Die damaligen Vorgänge haben
gezeigt, daß selbst diejenigen Kollegen, die damals ge-
genüber dem neuen Asylrecht kritisch eingestellt waren
– ich erinnere an Professor Ullmann –, in einer unglaub-
lichen Weise bedrängt wurden. Dem Kollegen Ullmann
wurde sogar die Rede zerrissen. Er ist damals ohne sein
gegen die Asylrechtsänderung verfaßtes Redemanu-
skript im Bundestag angekommen. Stellen Sie sich bitte
vor, daß alles das, was wir damals an der Bannmeile er-
lebt haben, hier unmittelbar vor unserer Tür geschehen
wäre. Diese Vorstellung macht deutlich, daß wir eine
solche Bannmeilenregelung brauchen.
Ich bin deshalb anderer Auffassung als Sie, Herr Strö-
bele. Sie haben gesagt: Wir werden sie nicht brauchen.
Daher wundert es mich, daß Sie diesem Gesetzentwurf
zustimmen. Denn wenn Sie diese Gewißheit haben, dann
müssen Sie diesen Gesetzentwurf heute ablehnen. Das
ist nun einmal so.
Herr
Kollege van Essen, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ströbele?
Ja.
Bitte
schön, Herr Ströbele.
zei Sie an derselben Stelle, an der Sie bei der damaligen
Debatte durch die Bannmeile geschützt wurden
– ich kenne die Einzelheiten nicht –, allein auf der
Grundlage des Versammlungsgesetzes, wie es überall in
der Bundesrepublik Deutschland gilt, genauso hätte
schützen können? Auch ohne Bannmeile hätte die Poli-
zei 1 Kilometer, 3 Kilometer, 300 Meter oder 500 Meter
vor dem Parlament absperren können. Das macht doch
keinen Unterschied. Dazu braucht man doch kein spe-
zielles Gesetz. Dazu reichen die Möglichkeiten des Ver-
sammlungsgesetzes. Oder sehen Sie das anders?
Herr Kollege Ströbele, ichsehe das anders. Gerade die Asylrechtsänderung wurdein unserem Lande außerordentlich kritisch diskutiert.Wenn die Polizei damals beispielsweise einen Kordongezogen hätte, dann hätte sie sich vielfältigen Fragenausgesetzt gesehen. In diesem Zusammenhang wäreselbstverständlich der Rechtsweg beschritten worden.Wir kennen das von entsprechenden Verfügungen. Einsolches Vorgehen hätte dazu führen können, daß wirkeine gültige polizeirechtliche Verfügung gehabt hätten,zum Beispiel weil der Rechtsweg noch nicht vollständigausgeschöpft worden war. Dadurch, daß wir eine Bann-meilenregelung hatten, konnte sich die Polizei daraufberufen und eine klare Grenzziehung vornehmen. Dasist ein Vorteil, dessen wir uns nicht begeben sollten.Ich bin dem Kollegen Wiefelspütz dankbar, daß er inder Debatte des Geschäftsordnungsausschusses gesagthat, daß der F.D.P.-Entwurf, der als erster eingereichtworden ist, in vielen Punkten Inspiration für den Ent-wurf der Koalition gegeben hat. Ich will aber deutlichmachen, warum wir dem vorliegenden Gesetzentwurf– letztendlich aus drei Gründen – nicht zustimmen wer-den.Erstens. Wir können einer Befristung nicht zustim-men. Ich habe hier mit Nachdruck ausgeführt, warumHans-Christian Ströbele
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wir eine Bannmeilenregelung für notwendig halten. Wirsind zwar dafür, Erfahrungen zu prüfen; aber das machtkeinen Sinn – das ist unsere Auffassung –, wenn das Er-gebnis von vornherein feststeht. Warum läßt man sichüberhaupt noch einen Bericht geben, wenn man schonzuvor bestimmt, daß das Gesetz ausläuft, wenn dies mitder Begründung geschieht, die Herr Ströbele hier gege-ben hat, man werde feststellen, daß es überflüssig ist?Damit nimmt man das Ergebnis der Überprüfung vor-weg. Deswegen können wir uns einer solchen Befristungnicht anschließen.Zweitens. Wir möchten gerne, daß das Präsidium desDeutschen Bundestages über die Zulassung von De-monstrationen entscheidet. Wir möchten das deswegen,weil das Gesetz dem Schutz der parlamentarischen Be-ratungen dienen soll. Wir sollen geschützt werden. Des-halb möchte ich, daß wir als Mitglieder des DeutschenBundestages darüber entscheiden.
Ich möchte nicht, daß wir die Entscheidung an die Poli-zei abgeben. Ich kann mir vorstellen, daß die Polizeieinen Sachverhalt aus polizeitaktischen Gründen sehrviel enger sehen wird als wir Politiker, weil wir es ge-wöhnt sind, daß man sich mit uns kritisch auseinander-setzt, und weil wir bereit sind, das eine oder andere Ri-siko einzugehen. Deshalb möchte die F.D.P.-Bundes-tagsfraktion, daß das Präsidium, das mehr Mut hat, mehrMut haben kann, die letztendliche Entscheidung trifft.Diese Entscheidung soll es im Benehmen mit dem In-nenminister treffen, denn es müssen natürlich dabei auchpolizeiliche Erkenntnisse berücksichtigt werden. Aberdie letztendliche Entscheidungsvollmacht in dieser Fra-ge soll beim Präsidium des Deutschen Bundestages lie-gen.Es gibt einen letzten Punkt, bei dem man leider nichtauf unsere Vorschläge eingegangen ist. Wir sind zwarwie die Koalition der Auffassung, daß ein Verstoß gegendas Gesetz als Ordnungswidrigkeit geahndet werdensoll, weil dann das Opportunitätsprinzip gilt, nach demdie Polizei lageangemessen entscheiden kann, und nichtmehr das Legalitätsprinzip, gemäß dem sie verfolgenmuß. Wir möchten aber, daß die Hintermänner, die allessteuern und die Leute aufwiegeln, auch in Zukunft alsStraftäter bestraft werden können.
Das sind drei wesentliche Punkte, die wir im Gesetzleider nicht wiederfinden und die letztlich dazu führen,daß wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen können.Herzlichen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Roland Claus von der
PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Zu dem jetzt vorliegenden
Ergebnis nach den Beratungen in den Ausschüssen läßt
sich sagen: Sie haben mit Ihrer Mehrheit die Bannmeile
umbenannt, aber Sie haben sie nicht verbannt. Wir
haben damit insgesamt als Parlament, wie wir finden,
eine Chance vertan. Wir ziehen nach Berlin um und
schränken als erstes das Versammlungsrecht der Berli-
nerinnen und Berliner ein. Jenen Mitbürgerinnen und
Mitbürgern, denen wir noch bei der Reichstagseröffnung
zugerufen haben, daß sie uns willkommen sind und daß
wir mit ihnen in einen Dialog eintreten wollen, setzen
wir erst einmal eine Einschränkung des Versammlungs-
rechts vor die Nase. Das kann unsere Zustimmung nicht
finden.
Dennoch wollen natürlich auch wir nicht verkennen, daß
die jetzige Beschlußempfehlung bedeutende Fortschritte
gegenüber der Bonner Bannmeilenregelung mit sich
bringt. Diese sind aus unserer Sicht durchaus anerken-
nenswert. Es reicht uns aber nicht aus, um hier zuzu-
stimmen.
Wenn Sie, Herr Kollege Ströbele, an wen auch immer
die aus meiner Sicht sehr begrüßenswerte Botschaft
richten, daß sich das Ganze im Jahre 2003 erledigt ha-
ben kann, sollten spätestens die Zwischenrufe, die Sie
von Ihren Kollegen Koalitionspartnern hier bekommen
haben, klargemacht haben, daß eine solche Äußerung
ein frommer Wunsch ist und mit den Realitäten – auch
in dieser Koalition – im Moment leider nichts zu tun hat.
Insofern empfinden wir dieses Gesetz als einen Ana-
chronismus mitten in der Bundeshauptstadt, der auch
nicht zu Europa paßt, insbesondere angesichts der Tat-
sache, daß es Bannmeilen bekanntlich nur in vier west-
europäischen Demokratien gibt – die anderen Staaten
sind Belgien, Großbritannien und Österreich, über die
hier schon gesprochen wurde – und daß in den neuen
Ländern, wo ja die jüngsten Landtage agieren, sich nur
ein einziger Landtag, nämlich der in Thüringen, für die
Einführung einer Bannmeile entschieden hat. Dazu ist
aus unserer Sicht nur zu sagen: Sie haben eben nicht
verstanden.
Herr
Kollege Claus, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ströbele?
Ja, klar.
Bitteschön, Herr Ströbele.
auch heute, ohne daß ein solches Gesetz in Berlin gilt– es ist ja noch nicht in Kraft –, bei der Polizei anmeldenmüssen, wenn Sie vor dem Reichstag demonstrierenwollen – die Baustelle müßte man sich wegdenken –,und die Polizei dann abwägen dürfte und müßte, ob die-Jörg van Essen
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ses Vorhaben angemessen und richtig ist und ob höhereInteressen gefährdet sind, und möglicherweise auch einVerbot erlassen oder Auflagen verlangen könnte? Worinsehen Sie den Unterschied zu der Anmeldung, die schonheute gefordert ist, und der Anmeldung zur Zulassung,die Sie nach dem vorliegenden Gesetz vornehmen müß-ten?
Ich gebe Ihnen da gerne recht,
Herr Kollege. Aber: ich will nur darauf verweisen, daß
es beim Bannmeilengesetz immerhin um eine Ein-
schränkung des Versammlungsrechtes geht. Ich möchte
Sie dann noch darauf hinweisen, daß die mir gestellte
Frage in ihrer Logik genau diametral der Frage gegen-
übersteht, die Sie Herrn Kollegen van Essen vorhin ge-
stellt haben.
Wir wollen Ihnen einen Vorschlag machen, meine
Damen und Herren. Schicken Sie allen Berliner Haus-
halten den Sitzungsplan des Bundestages zu und schrei-
ben Sie einen freundlichen Text dazu, etwa in der Art:
„Liebe Bürgerinnen und Bürger, meiden Sie an rot und
blau markierten Wochentagen das Zentrum in Reichs-
tagsnähe. Es sind ja nur 100 Tage im Jahr. Verstehen Sie
uns nicht falsch: Als Ihre Volksvertreter wollen wir für
das Wohl des Volkes sorgen, von ihm aber nicht gestört
werden.“
Sagen Sie den Berlinerinnen und Berlinern bitte noch
etwas – dieser Punkt gehört auch zur Wahrheit –: Die
Rasenflächen vor dem Reichstag sind zwar sogenannte
Ausgleichsflächen für die Bautätigkeit von Parlament
und Regierung, aber sie liegen innerhalb der Bannmeile
und können damit für den Ausgleich nicht herangezogen
werden.
Wir werden mit den praktischen Folgen noch zu tun ha-
ben; Sie werden sich noch mit ihnen auseinandersetzen
müssen.
Sie haben eine weitere Folge nicht hinreichend be-
dacht:
Bei der Anwendung der Regeln für den befriedeten Be-
zirk werden Sie die zentrumschneidende Ost/West-
Automagistrale lahmlegen.
Zum Schluß will ich Ihnen noch sagen: Sprache ist
oft entlarvend. Sie nennen die Bannmeile jetzt befriede-
ten Bezirk. Das Wort „befrieden“ stammt aus der Kolo-
nialzeit und meint sinngemäß – wohlgemerkt: im Sinne
der Kolonialherren –, den Wilden Benimm beizubrin-
gen, und das vorwiegend durch Androhung und Aus-
übung von Gewalt.
Man muß in diesem Zusammenhang die Frage stellen:
Was ist denn das Gegenteil von befriedetem Bezirk?
Das sind unbefriedete Bezirke. Wer also befriedete Be-
zirke will, hält demnach die übrige Stadt für unbefriedet.
Insofern ist Ihre Umbenennung eine Art sprachliche
Vermummung, die Sie mit der Öffentlichkeit treiben.
Deshalb unser Gegenvorschlag: Nehmen Sie das
PDS-Gesetz zur Aufhebung der Bannmeile an. Das wä-
re, nebenbei gesagt, ein guter Beitrag des Deutschen
Bundestages zur Berliner Love-Parade in zehn Tagen;
das dürfte doch auch so recht im Interesse unseres an
Pop-art interessierten Kanzlers liegen.
Vielen Dank.
Als
letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die
Kollegin Erika Simm von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine liebenKolleginnen und Kollegen! Gerade vor dem Hintergrunddes letzten Beitrages möchte ich auf die Diskussion ein-gehen, ob eine Bannmeile grundsätzlich zulässig sei. Ichhabe nämlich den Eindruck, daß hier zum Teil in einerArt und Weise diskutiert wird, als gehe es um dieGrundfesten der Demokratie. Ich plädiere stark dafür,die ganze Diskussion niedriger zu hängen.
Wenn ich in dem Entwurf der PDS lese, daß „die Bann-meilenregelung die für die Demokratie lebensnotwendi-ge Kommunikation zwischen Wählern und Gewählten“behindert,
dann denke ich, daß man sich ein bißchen versteigt.
Man mißt dieser Frage eine Bedeutung zu, die sie ob-jektiv nicht hat.
Demonstration ist ja im Regelfall kein Kommunika-tionsprozeß, sondern eher eine einseitige Meinungsäuße-rung. Es ist daher sehr fraglich, ob die Adressaten dieseüberhaupt unmittelbar wahrnehmen. Im Zweifel tun siedies nur vermittelt über die Medien. Der Diskurs zwi-schen Wählern und Gewählten findet regelmäßig bei an-deren Gelegenheiten und an anderen Orten statt.Völlig absurd finde ich die Vorstellung, die Akzep-tanz des Bundesverfassungsgerichtes und seiner Ent-scheidungen werde wesentlich dadurch mitbestimmt,daß man zu jeder beliebigen Zeit in beliebiger Nähe desGerichtsgebäudes demonstrieren könne.
Hans-Christian Ströbele
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Im übrigen hat die Rechtsprechung im Rahmen von Ur-teilen der Gerichte verschiedenster Instanzen mehrfachentschieden, daß das Versammlungsrecht durch Rege-lungen für geschützte Bereiche von Verfassungsorganenzulässigerweise eingeschränkt werden kann. Nicht um-sonst steht Art. 8 des Grundgesetzes unter Gesetzesvor-behalt. Dieser Vorbehalt ist nicht zuletzt im Hinblick aufdas mögliche Erfordernis von Bannmeilenregelungen indas Grundgesetz aufgenommen worden.Ich bin der Meinung, es handelt sich hier um eineFrage, die in erster Linie praktische Bedeutung hat. Siesollte vor dem Hintergrund der Schutzbedürfnisse derVerfassungsorgane beantwortet werden. Da können wirfeststellen, daß wir einen breiten Konsens haben: DasBundesverfassungsgericht möchte eine solche Regelung,der Bundesrat möchte eine solche Regelung, und dieMehrheit der Abgeordneten des Deutschen Bundestagesmöchte eine solche Regelung.Dem haben wir in einer Art und Weise Rechnung ge-tragen, die der Rechtsprechung des Bundesverfassungs-gerichts zur Einschränkung des Versammlungsrechts in,wie ich meine, vollem Umfang gerecht wird. Es ist einausgewogener Gesetzentwurf, der Ihnen jetzt zur An-nahme empfohlen wird. In den Grundzügen haben wir,wie hier mehrfach gesagt worden ist, mit der F.D.P.vieles gemeinsam. Ich verstehe nicht so ganz, Herr vanEssen, warum die Hürde für eine Zustimmung für dieF.D.P. so hoch ist. Ihre Argumente überzeugen michnicht.
Was die Regelung der Entscheidungsbefugnisse beiAusnahmegenehmigungen angeht, haben wir vorigeWoche das dringende Ersuchen des Bundestagspräsi-denten übermittelt bekommen, ihm diese Entscheidungnicht zu übertragen. Der Vertreter des Bundesrates hatexpressis verbis gesagt, das Präsidium des Bundesratessei dafür ein ungeeignetes Gremium; das sei überhauptnicht praktikabel, denn dieses Präsidium aus Minister-präsidenten sei kein ständiges Gremium. Deshalb würdesich der Abstimmungsprozeß sehr schwierig gestalten.Auch die unterschiedliche Einstufung von Gesetzes-verstößen – einmal Ordnungswidrigkeit, einmal Straf-tat – haben wir in zwei Ausschüssen erörtert. Das hat,außer bei der F.D.P., eigentlich nirgends besondereBegeisterung ausgelöst und ist überall auf rechtsdogma-tische Bedenken gestoßen.Es wäre also möglich, daß die F.D.P. dem Gesetz-entwurf der Koalition zustimmt. Aber darüber und überdie Begründung einer eventuellen Ablehnung entschei-den Sie natürlich selber.Ich möchte noch einen Satz zu der Frage Befristungund Berichtspflicht sagen. Als Vorsitzende des Ge-schäftsordnungsausschusses habe ich im Ausschuß Zu-stimmung zu meiner Anregung gefunden, daß sich die-ser Ausschuß in dieser Legislaturperiode intensiv mitFragen der Gesetzesfolgenabschätzung beschäftigensollte. Unter diesem Aspekt finde ich die hier getroffeneRegelung für beide Fragen sehr positiv.
Denn auch die Befristung ist ein – wenn auch unterFachleuten durchaus kontrovers diskutiertes – Mittel derGesetzesfolgenabschätzung. Ich finde es ganz gut, daßwir hier Gelegenheit haben, auch damit Erfahrungen zusammeln.Zum Schluß möchte ich es nicht versäumen, den Mit-gliedern aller Fraktionen des Geschäftsordnungsaus-schusses sehr herzlich dafür zu danken, daß sie es – in-dem sie keine Geschäftsordnungsanträge gestellt haben,die das verhindert hätten – ermöglicht haben, daß wirheute in zweiter und dritter Lesung über dieses Gesetzentscheiden und eine Regelung schaffen, bevor wir nachBerlin umziehen. Ich denke, es hätte schlecht ausgese-hen, wenn der Bundestag hier nicht rechtzeitig zu einerEntscheidung gefunden hätte.Herzlichen Dank.
Ichschließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von denFraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen einge-brachten Gesetzentwurf zur Neuregelung des Schutzesvon Verfassungsorganen des Bundes, Drucksachen14/1147 und 14/1292 Nr. 1. Es liegen drei Änderungs-anträge der CDU/CSU-Fraktion und ein Änderungsan-trag der F.D.P.-Fraktion vor, über die wir zunächst ab-stimmen.Wir fangen mit den Änderungsanträgen der CDU/CSU-Fraktion an. Wer stimmt für den Änderungsantragauf Drucksache 14/1317? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Damit ist der Änderungsantrag mit denStimmen aller anderen Fraktionen als denen derCDU/CSU abgelehnt.Wer stimmt für den Änderungsantrag der CDU/CSUauf Drucksache 14/1318?
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit istdieser Änderungsantrag mit gleichem Stimmenverhält-nis wie zuvor abgelehnt.Wer stimmt für den Änderungsantrag der CDU/CSUauf Drucksache 14/1319? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Dann ist dieser Änderungsantrag mitwiederum gleichem Stimmenergebnis abgelehnt.Wer stimmt für den Änderungsantrag der F.D.P.-Frak-tion auf Drucksache 14/1330? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Dann ist dieser Änderungsantrag mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS beiZustimmung der F.D.P.-Fraktion und einiger Abgeord-neter der CDU/CSU-Fraktion sowie Enthaltungen andererAbgeordneter der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.
Erika Simm
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Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf inder Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Hand-zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dann istdieser Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalitions-fraktionen und einiger Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen der anderen Abgeordnetender CDU/CSU-Fraktion, der F.D.P.-Fraktion und derPDS-Fraktion angenommen. – Das war die zweite Be-ratung.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.– Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann istder Gesetzentwurf in dritter Lesung mit dem gleichenStimmenverhältnis wie in der zweiten Lesung ange-nommen.Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Gesetz-entwurf der Fraktion der F.D.P. zur Neuregelung desSchutzes parlamentarischer Beratungen auf Drucksache14/183. Der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität undGeschäftsordnung empfiehlt auf Drucksache 14/1292unter Nr. 2, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lassejetzt über den Gesetzentwurf der F.D.P.-Fraktion aufDrucksache 14/183 abstimmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dann ist derGesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der PDS-Fraktion gegen dieStimmen der F.D.P.-Fraktion und einiger Abgeordneterder CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltungen der anderenAbgeordneten der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung eineweitere Beratung.Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetz-entwurf der Fraktion der PDS zur Aufhebung derBannmeilenregelung auf Drucksache 14/516. Der Aus-schuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord-nung empfiehlt auf Drucksache 14/1292 unter Nr. 3, denGesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetz-entwurf der PDS auf Drucksache 14/516 abstimmen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Dann ist der Gesetzentwurf mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen, den Fraktionen derCDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der Frak-tion der PDS abgelehnt.Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung eben-falls die weitere Beratung. Wir sind damit am Ende desAbstimmungsverfahrens zu diesem Tagesordnungs-punkt.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6a und 6b auf: a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENNeuregelung zum Schlechtwettergeld noch indieser Winterperiode– Drucksache 14/1215 –
ordneten Dr. Heidi Knake-Werner, Dr. RuthFuchs und der Fraktion der PDS eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Wiedereinführungdes Schlechtwettergeldes– Drucksache 14/39 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Sozialordnung
– Drucksache 14/1230 –Berichterstattung:Abgeordneter Konrad GilgesNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat derKollege Klaus Wiesehügel von der SPD-Fraktion dasWort.
Herr Präsident! Sehr ge-ehrte Damen und Herren! Durch die Abschaffung desSchlechtwettergeldes in der 13. Legislaturperiode wurdeeiner der wichtigsten Binnenmarktbranchen nachhaltigerSchaden zugefügt, den wir nun mühsam reparieren müs-sen.
Auch bei der alten Schlechtwetterregelung gab es invom Winter hart betroffenen Regionen schon immer diesogenannte Ausstellungspraxis: Arbeitnehmer wurdenvor Weihnachten entlassen und zu Ostern teilweise wie-der eingestellt. Das betraf, so zeigt ein Blick in die Ar-beitsmarktstatistik, ungefähr 70 000 Arbeitnehmer, auchin den Wintern 1993 und 1994.Durch die von der heutigen Opposition zu verant-wortende Streichung des Schlechtwettergeldes erhöhtesich die Zahl der Winterkündigungen im ersten Win-ter auf 174 000 und im nachfolgenden Winter auf200 000. Bei einer durchschnittlichen Arbeitslosigkeitvon drei Monaten muß die Bundesanstalt für Arbeit proArbeitnehmer zirka 7 300 DM aufbringen; das warenallein im Winter 1996/97 1,4 Milliarden DM. Die Aus-fälle an Sozialbeiträgen und Steuern eingerechnet,steigt der Betrag auf über 2 Milliarden DM an – undVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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das alles nur, um 700 Millionen DM zu sparen, widerbesseres Wissen.
Nur weil Sie damals Ihren Regierungsentwurf nichtnachbessern wollten, wurden die wenigen Sozialpoliti-ker unter Ihnen in die Schranken gewiesen und wurdedie Streichung knallhart durchgezogen.
1,3 Milliarden DM Mehrkosten und 130 000 zusätzlicheArbeitslose – das war der Preis.
Auch nachdem die Tarifvertragsparteien den Schadendurch erhebliche Aufwendungen der Arbeitnehmer ein-zudämmen versuchten, wurden noch im letzten Winterallein aus Witterungsgründen 160 000 Arbeitnehmer ar-beitslos – und das, obwohl führende Arbeitgeberfunk-tionäre, die der CDU herzlich und auch parteilich ver-bunden sind, per Brief alle Bauunternehmen aufforder-ten, in diesem Winter auf Entlassungen zu verzichten,weil ein Regierungswechsel mit einer neuen Schlecht-wettergeldregelung drohe.
Dennoch sind Entlassungen in dieser Größenordnung er-folgt.
Wie sieht es für den nächsten Winter aus?
Vor mir liegt ein Schreiben eines großen deutschen Kon-zerns – ich will den Namen nicht öffentlich nennen –, derdarin ankündigt, daß allen gewerblichen Arbeitnehmernzum 31. Dezember 1999 gekündigt werden soll und daßman sich mit dem Betriebsrat einig sei, sie zum 1. Juni2000 wieder einzustellen. Dieses Schreiben wurde am27. Mai verfaßt. Es wurde also höchste Zeit, eine solcheVereinbarung, wie wir getroffen haben, in Angriff zunehmen.
– Ich kann Ihnen das Schreiben unter vier Augen zeigen.Ich nenne den Namen nicht im Parlament.Es sind nicht nur die vielen Arbeitslosen und die ge-waltigen Mehrkosten, die einen wirtschaftlichen Scha-den verursacht haben. Seit Streichung des Schlechtwet-tergeldes leidet das Baugewerbe verstärkt unter einersaisonalen Auftragsvergabe. Weil jetzt viele Bauunter-nehmen auf jegliche Produktionsmöglichkeiten imWinter verzichten, werden die Bauaufträge so dispo-niert, daß am 1. April Baubeginn und – koste es, was eswolle – vor Weihnachten der Termin der Fertigstellungist. Da ein großer Teil der Aufträge von der öffentlichenHand vergeben wird und damit haushaltstechnischenDenkmustern unterliegt, erleben wir heute in der Bau-wirtschaft eine produktionsfreie Zeit von mindestensdrei Monaten. Volkswirtschaftlich gesehen ist das eineKatastrophe. Dies muß jetzt durch eine Neuregelung desSchlechtwettergeldes mühsam zurückgeführt werden.
In keinem unserer Nachbarländer in der EU wird sowenig praktischer und technischer Winterbau betrie-ben wie in unserem Land. Wir sind durch die Politik deralten Regierung in Sachen „technischer Winterbau“ inEuropa mittlerweile zu einem Entwicklungsland gewor-den.
Die in der Zeit der sozialliberalen Koalition Mitte der80er Jahre eingeführten Maßnahmen, zum BeispielInvestitionskostenzuschüsse zur Förderung des ganz-jährigen Bauens, wurden von Ihnen sämtlich gestrichen;die mit hohem Sachverstand ausgestatteten Winterbau-ausschüsse bei der Bundesanstalt für Arbeit wurden auf-gelöst. Wenn wir bei der technischen Fortentwicklungdes Winterbaus im europäischen Vergleich an das Endegerutscht sind, dann nur, weil Sie in diesen Fragen eineverbandsorientierte Interessenspolitik verfolgt haben.
Herr Rauen ist leider nicht hier. Er hat bei seinerletzten Rede zu diesem Thema noch einmal sehr deut-lich gemacht, daß auch er mit diesem Entwurf nicht ein-verstanden ist. Er als Bauunternehmer vertritt ja auchInteressen – was Sie mir ebenfalls immer vorwerfen. Ichfinde es ja in Ordnung, daß man hier von verschiedenenPositionen heraus diskutiert. Aber wir sollten hier keinefalschen Positionen vertreten. Er hat hier – das könnenSie nachlesen – gesagt, daß die Winterbauumlage vonihm nicht in Anspruch genommen wird. Ich habe dasnoch einmal genau nachgerechnet und das auch für sei-nen Betrieb berechnet. Nach dem heutigen Stand desGesetzes bekommt er die Hälfte zurück. Wenn das neueGesetz kommt, dann sind dies höchstens noch 33 000DM, 0,25 Prozent der Bruttolohnsumme, und damit er-hält er eine Risikoabsicherung gegen alle Winterausfäl-le, auch dann, wenn der Winter einmal besonders hart istund er die Ansparkonten voll ausschöpfen muß. Ichwerde es ihm auch noch einmal persönlich sagen. Ichhabe gehofft, daß er sich das heute hier anhört.Meine Damen und Herren, das ist Sozialpolitik mitAugenmaß. Wir haben eine Regelung zum Wohl allerBeteiligten gemacht, zu der Sie, meine Damen und Her-ren von der Opposition, in den letzten 16 Jahren nichtbereit und leider auch nicht in der Lage waren.Die Streichung des Schlechtwettergeldes reiht sich indie zahlreichen Versuche der alten Bundesregierung ein,sozialpolitische Gesetzgebung auf die Schultern der Ta-Klaus Wiesehügel
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rifvertragsparteien zu laden. All diese Versuche sind ge-scheitert, mußten scheitern, weil Tarifverträge nun ein-mal keine Gesetze sind und in jeder Branche neu gere-gelt werden müssen. Schon die alte CDU-Regierungunter Bundeskanzler Adenauer hatte erkannt, daß tarifli-che Vereinbarungen, die sozialpolitisch wirken sollen,einen gesetzlichen Rahmen brauchen. Dies galt und giltinsbesondere für die Schlechtwettergeldregelung. Sie istin über 35 Jahren durch die Säulen Staat, Arbeitgeberund Arbeitnehmer stabilisiert worden. Leider haben sei-ne Enkel dies nicht begriffen. Sie haben, blinder Ideolo-gie folgend, die Säule Staat einfach eingerissen, unddamit ist das System, das von Konrad Adenauer ge-schaffen wurde, eingebrochen. Das müssen Sie sich an-hören.
Die jetzt von uns eingebrachten Entwürfe, das, waswir mit den Tarifvertragsparteien vereinbart haben, ste-hen Ihnen in der Form von zehn Eckpunkten zur Verfü-gung. Wir wollen diese Eckpunkte zu einem neuen Ge-setz machen, das wirklich verhindert, daß Arbeitslosig-keit im Winter nach wie vor eintritt, daß diejenigen, vondenen ich eben gesprochen habe, solche Kündigungenvor Weihnachten bekommen. Wir erreichen das da-durch, daß wir die Arbeitgeber über Winterbauumlage inden liquiditätsschwachen Zeiten von Kostenbelastungenund Sozialversicherungsbeiträgen freistellen. Das wollenwir aber nicht der Allgemeinheit aufdrücken, sondernwir wollen, daß das über die Winterbauumlage gemein-sam finanziert wird.Wir erreichen ferner, daß diejenigen, die dennochkündigen – obwohl Kündigungen in diesem Zeitraumverboten sind –, für den Schaden, den sie der Allge-meinheit zufügen, zur Kasse gebeten werden, und wirholen uns das Geld von ihnen zurück. Wahrscheinlichwird das dazu führen, daß wir in einem Gewerbe, indem vieles auf Grund Ihrer Politik zugrunde gegangenist, die Zahl der Kündigungen erheblich zurückführenkönnen.Ich habe in den letzten Wochen öfters einen Vorwurfgehört, der mich geärgert hat, nämlich den Vorwurf, dieArbeitgeber des Baugewerbes seien erpreßt worden. Ichweiß nicht, wer einen solchen Blödsinn erzählt hat. Ichhabe es aus den Unterschriften ersehen und zum Teilauch im Protokoll lesen können. Lassen Sie mich einpaar Arbeitgeber zitieren.
– Hören Sie doch damit auf. Andere sind auch in Ver-bänden. Herrn Göhner haben Sie in Ihren Reihen immerwillkommen geheißen. Veranstalten Sie bei mir alsonicht immer ein solches Trara und tun nicht so, als obdas etwas Besonderes wäre. Ich bin Abgeordneter desDeutschen Bundestages. Lassen Sie diese Bemerkungensein.
Herr Walter, Präsident des Hauptverbandes der Bau-industrie, sagt, daß er den Kompromiß als Erfolg für dieArbeitgeber wertet. Das können Sie in der „FAZ“ vom10. Juni nachlesen. Herr Huber, Vizepräsident des ZDB,bewertet das als Erfolg für die Branche, weil die Lohn-zusatzkosten nicht steigen, weil Flexibilität erhaltenbleibt und auch die Winterbauumlage kostenneutralbleibt. Auch er äußert die berechtigte Hoffnung, daß imnächsten Winter hunderttausend Bauarbeiter weniger aufder Straße stehen. Der ZDB, der Zentralverband desDeutschen Baugewerbes – Ihre Freunde! –, hat alleFraktionen aufgefordert, den gefundenen Kompromißzum Schlechtwettergeld zu unterstützen. Hören Sie dar-auf, was Ihnen empfohlen wird!Ich frage Sie: Redet so jemand, der erpreßt wordenist? Ich kann hier keine Erpressung erkennen. Die Tarif-vertragsparteien haben die Regelung gemeinschaftlichbegrüßt. Das neue Schlechtwettergeld wird ein Erfolgund untermauert den Anspruch der neuen Regierung, fürOrdnung auf dem Arbeitsmarkt zu sorgen. Wir haltenWort, wir lassen sie nicht im Regen stehen.
Bestandteil dieser Debatte ist auch die Behandlungdes Gesetzentwurfs der Fraktion der PDS mit Drucksa-che 14/39. Dieser Entwurf muß aus zwei Gründen ab-gelehnt werden. Erstens. Die von der Bundesregierungund den Tarifvertragsparteien geschlossene Vereinba-rung vom Juni 1999, die ich gerade erläutert habe, ent-hält mehrere Punkte, die arbeitsmarktpolitisch eine hoheWirkung erzielen. Diese Punkte fehlen in Ihrem Antragvöllig. Zweitens. Der Gesetzentwurf der PDS ist fehler-haft, so daß mit Annahme Ihres Gesetzentwurfes dieProbleme der Arbeitnehmer in der Bauwirtschaft ver-schärft und nicht verbessert würden. Falsch ist schon dieProblembeschreibung. Sie schreiben, die Bundesregie-rung trete ab der 151. Stunde ein. Nach der jetzigen Ge-setzeslage ist dies nach der 121. Stunde der Fall. Nichtganz sorgfältig gearbeitet!Zum Wintergeld, § 210 SGB – ich muß es kurz ma-chen, weil meine Redezeit gleich abgelaufen ist –: War-um in aller Welt wollen Sie den Bauarbeitern das Win-tergeld in der Zeit vom 25. Dezember bis zum 1. Januarnicht gewähren? Das nämlich ist der Vorschlag IhresGesetzentwurfes. Wußten Sie nicht, daß die Bauarbeiterdie Tarifregelungen zur Vermeidung von noch größererArbeitslosigkeit mit dem Verzicht auf die Freistellungzwischen Weihnachten und Neujahr bezahlen mußten?Vom 26. Dezember bis zum 30. Dezember ist normaleArbeitszeit, mit Anspruch auf Wintergeld, schon jetzt,nach geltendem Gesetz. Sind Sie wirklich so naiv, zuglauben, mit der Verabschiedung Ihres Gesetzes würdendie alten Tarifverträge automatisch wieder in Kraft tre-ten?Zum § 212 SGB: Sie machen den Bezug vonSchlechtwettergeld von genau diesem Lohnausgleichs-zeitraum abhängig. Die Arbeitgeber haben am Montagder IG BAU eine Kündigung auch des restlichen Lohn-ausgleichszeitraums ins Haus geschickt. Wenn es denenbei der IG BAU nicht gelingen sollte, Heiligabend undKlaus Wiesehügel
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Silvester erneut in einen Lohnausgleichstarifvertrag ein-zubeziehen, hätte nach Ihrem Gesetzentwurf überhauptniemand mehr Anspruch auf Schlechtwettergeld, weilSie die Verbindung von Lohnausgleichstarifvertrag undSchlechtwettergeld nach wie vor aufrechterhalten, wobeidieser Lohnausgleichstarifvertrag nicht mehr in vollemUmfang wirkt, vielleicht bald gar nicht mehr.Mit Art. 2 wollen Sie das Einkommensteuergesetzändern. Damit würde Ihr Gesetz, Frau Knake-Werner,im Bundesrat zustimmungspflichtig. Das ist nun einmalso. Ich habe wirklich keine Lust, die Zustimmung zueiner neuen Schlechtwettergeldregelung noch einmalvon den Damen und Herren auf der rechten Seite desHauses abhängig zu machen.
Frau Knake-Werner, ich weiß, daß Sie das alte Gesetzeinfach abgeschrieben haben. Überhaupt bestehen IhreGesetzesinitiativen oftmals nur aus Abgeschriebenem.Ich hätte ja nicht so hart geantwortet, wenn Sie nicht et-was tun, mit dem ich absolut nicht einverstanden seinkann: Auf meine Bereitschaft hin, im Sinne der Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer Kompromisse einzuge-hen, betreiben Sie jetzt billigen Populismus mit den Be-schäftigten der Bauwirtschaft im Osten und gehen damitauf Stimmenfang. Das ist nicht in Ordnung, schon garnicht, wo Sie einen so unsoliden Gesetzentwurf vorge-legt haben.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Heinz
Schemken von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir hätten die-se Rede eigentlich nicht nötig gehabt. Der „SWG-Express“ schreibt:Donnerwetter: Die IG BAU hat es geschafft. DasSchlechtwettergeld, für das die Bauarbeiter undihre Gewerkschaft seit sechs Jahren gekämpft ha-ben, ist wieder da.
Tolle Sache! Hier wird ein Hochamt zelebriert, von dem– ich sage es Ihnen ganz offen – nicht einmal der Ab-schied in der Sakristei übrigbleibt.
Ich sage Ihnen auch, warum. Hier wird etwas zelebriert,das sich von der Grundlage her nicht mit Substanz füllenläßt. Die Betriebsräte haben am 31. Mai getagt. Das istnachlesbar und nachvollziehbar. Ich zitiere aus diesemBericht: „Kühle Nebelschwaden umziehen die Stadthal-le.“ Die Stadthalle von Bad Godesberg ist gemeint.Das, was Sie hier vortragen, Herr Wiesehügel, ist derNebel, der weiter verbreitet wird. Ich bedauere, daß hiereine große Schar von Bauarbeitern am Ende so hintersLicht geführt wird; denn es bleibt im Grunde genommenbei der gefundenen Regelung.
Es bleibt – da beißt keine Maus den Faden ab – beider Regelung der Gravenbrucher Erklärung zwischendem Zentralverband des Deutschen Baugewerbes, derBauindustrie und der Industriegewerkschaft BAU. Sie,verehrter Herr Kollege Wiesehügel, haben das seinerzeitunterschrieben.Ich habe mich nie einem Interessenverband ver-pflichtet gefühlt. Im Gegenteil: Ich habe seinerzeit sogarmit Ihren Kolleginnen und Kollegen wiederholt Gesprä-che geführt. Ich bedauere sehr, daß Sie uns global ab-stempeln. Ich bin guten Glaubens – ich bleibe nach wievor dabei – für die Beitragszahler eingetreten, die entla-stet werden sollten.
Insofern ist die Adenauer-Story gut. Es wäre schön,wenn Sie darauf Rücksicht nehmen würden. Aber es wareine andere Zeit, und wir müssen sie fortschreiben. Sieselbst haben davon gesprochen, daß die bautechnischenVorbereitungen in der Bundesrepublik Deutschland be-züglich der Winterbausituation unterentwickelt sind. Al-so hätte man dies vor diesem Hintergrund sicherlich tunkönnen.Falls die Unternehmen so handeln, bedauern wir dasallemal. Es kann aber nicht angehen, daß wir dann,wenn schlecht gehandelt wird, mit einem Gesetz nach-bessern. Die neue Regelung kann sich nur von dem ab-wenden, was wir noch miteinander – das ist belegt – ge-schafft haben.Durch die neue Regelung wurde die Arbeitszeit flexi-bilisiert, und der Nutzen von Arbeitskonten am Bauwurde zur Selbstverständlichkeit. Das Ziel der Neu-regelung bestand auch darin, die Tarifparteien zu unter-stützen, statt Vergütung von Überstunden ein ganzjähri-ges gleichmäßiges Einkommen, das Sie immer wollenund das auf dem Bau sehr wichtig ist, zu schaffen.Nun komme ich zu den Fakten: Laut amtlicher Stati-stik ist die Winterarbeitslosigkeit in diesem Jahr enormzurückgegangen, und zwar im Februar im Vergleichzum Vorjahresmonat sogar um 9,4 Prozent. Das, was Siesagen, ist also nicht richtig. Sie türmt sich nicht weiterauf. Im Gegenteil: Sie geht zurück.Die Arbeitnehmer können durch Vor- und Nachar-beiten für witterungsbedingten Arbeitsausfall ein höhe-res Bruttojahreseinkommen als bei der Gewährung vonSchlechtwettergeld erzielen. Damit haben sie eine siche-re Lohnbasis. Es wäre den Schweiß der Edlen, auch derTarifpartner, wert, sich darauf zu einigen.Die Arbeitgeber und Handwerker könnten von Ko-sten für witterungsbedingten Arbeitsausfall entlastetwerden. Die jetzige Winterbauumlage von 1,7 Prozentkönnte ohne diese Neuregelung gesenkt werden. DieKlaus Wiesehügel
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Lohnzusatzkosten könnten ebenfalls gesenkt werden,und zwar um 1 Prozent bis 1,2 Prozent. Das muß dochunser gemeinsames Anliegen sein, schließlich wollenwir Arbeitsplätze schaffen.Die Wintergeldkasse ist mit 600 Millionen DM ge-füllt, da viele Betriebe wegen der Flexibilisierung derArbeitszeiten die Wintergeldkasse nicht so sehr in An-spruch genommen haben und nehmen mußten. Die Ar-beitslosenversicherung ist durch den Abbau der Winter-arbeitslosigkeit der Bauarbeiter und die ganzjährige Be-schäftigung im Baugewerbe entlastet worden.Daß die Kündigungen stattgefunden haben, bedauereich sehr.
Das liegt aber am Verhalten von Arbeitgebern undArbeitnehmern. Die von der alten Koalition einge-brachte Gesetzesinitiative
hat am 25. September 1997 die Stimmen der CDU/CSU,der F.D.P. und der SPD in zweiter und dritter Lesung er-halten und ist auch im Bundesrat verabschiedet worden.Tun Sie doch nicht so, als sei außer ein paar Lobby-isten keiner beteiligt worden.
Das ist eine völlig falsche Ausgangslage. So könnenwir nicht miteinander umgehen, insbesondere dannnicht, wenn es demnächst ans Eingemachte geht. Dannwerden wir noch so manches miteinander regeln müs-sen. Ich möchte Sie doch wirklich bitten, bei der Wahr-heit zu bleiben.Ohne Not wird jetzt auch durch den Bundeskanzler– man kann das sicher nachvollziehen: man hätte sichdiese Stunde eigentlich sparen können, hätte jedem dasBlättchen gegeben, mit der Bitte, es gründlich durchzu-lesen – Druck auf die Tarifparteien des Baugewerbesausgeübt, weil die Ankündigung, die im Wahlkampf ge-geben wurde, umgesetzt werden muß. Man kann vonSeptember bis April und spätestens bis zum nächstenSeptember – den haben wir schon bald – ja auch klügerwerden.Ich sage nur eines: Die nun gefundene Lösung gehtan der Zusage, die damals gegeben wurde, glatt vorbei.
Sie bestätigt im wesentlichen, daß die von der altenKoalition in dieser Regelung gefaßte Konzeption dierichtige war. Daß dies ein fauler Kompromiß ist, wissenwir; daß das Neue an dem Kompromiß lediglich dieAufteilung der Lasten ist, wissen wir auch. Wir sindaber nicht bereit, dem Beitragszahler weitere Lasten zu-zumuten.
Sie machen um 20 Stunden einen so großen Aufwand.Damit konterkarieren Sie eine Situation, die nicht mehrso dramatisch ist, wie Sie sie hier aufbauen, weil daseine Zusage im Wahlkampf war.Wir sollten uns lieber einer anderen Sache zuwenden:Sozial ist auch auf dem Bau das, was Arbeit schafft. Inder „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ vom 29. Juni1999 steht: Die Bauwirtschaft verlor über 100 000 Ar-beitsplätze. Das wird in diesem Artikel auch begründet:Der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes fordertdie Bundesregierung auf, die Bauwirtschaft nicht längerdurch verschiedenste steuerliche „Grausamkeiten“ zubelasten. Der Präsident Fritz Eichbauer – auch Sie habenihn eben zitiert –
warf unter anderem der Regierung vor, mit ihrer Woh-nungspolitik die Eigentumsbildung zu hemmen und denMietwohnungsbau systematisch zurückzudrängen. FürWohnbauten sei das Volumen der Bauinvestitionen imersten Quartal um 3,1 Prozent geringer ausgefallen alsim vergangenen Jahr. Das sind Fakten. Bei den Wirt-schaftsbau-Investitionen – darauf kommt es an; dadurchentstehen Arbeitsplätze – ist im ersten Quartal ein dra-matischer Einbruch mit 10,7 Prozent unter dem Vorjah-resniveau zu verzeichnen. Hier hätte die Regierung – someinen ich und die anderen auch – allen Grund, einwirksameres Feld der Betätigung ins Auge zu fassen.Das bringt mehr Arbeitsplätze und mehr Beschäftigungin der Bauwirtschaft. Darum geht es uns.
Der Gesetzentwurf der PDS – darüber werde ich nichtviele Worte verlieren; wir haben ihn schon im Ausschußbesprochen – kann deshalb unsere Zustimmung nichtfinden, weil er vollends das Rad der Geschichte zurück-dreht: So kann man in Zukunft keine Arbeitsplätzeschaffen; so kann man Investitionen nicht sichern; erträgt zur Verunsicherung der Wirtschaft bei. Dies be-trifft insbesondere die Bauwirtschaft, die sehr sensibelist, weil dort die Konjunktur unmittelbar greift und weildort die Menschen unmittelbar von Arbeitslosigkeit be-troffen sind.Wir werden uns im Ausschuß über eine Gesetzge-bung noch unterhalten. Bis jetzt liegen uns ja nur Stich-worte vor. Wie wir das kennen, kommt noch so mancheshinzu, was noch nicht drinsteht. Ich darf nur wünschen,daß es nicht gegen die Bauhandwerker geht, sonderndarum, daß wir mehr Arbeitsplätze schaffen und daß wir– das sage ich ganz offen – insbesondere in der Kon-kurrenzfähigkeit im internationalen Wettbewerb mit-halten – der Arbeitsplatz am Bau ist flexibel und mobil –,damit wir nicht so viele deutsche Arbeitslose im Bau-gewerbe haben.Schönen Dank.
Alsnächste Rednerin hat die Kollegin Annelie Buntenbachvom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.Heinz Schemken
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Ich glaube, daß wir mit dem Tarifvertrag der Bau-branche und mit dem Antrag, der heute vorliegt, demGesetzentwurf, der im Herbst durch das Parlament ge-hen wird, und somit der Bekämpfung der Winter-arbeitslosigkeit am Bau einen großen Schritt näher-kommen.Diese hat in den letzten Jahren unerträgliche Ausma-ße angenommen. Die Zahl der arbeitslosen Bauarbeiterlag in den Wintermonaten nicht selten bei 400 000; indiesem Jahr betrug sie im Februar noch immer ungefähr350 000. Das ist viel zuviel. Dagegen müssen wir miteiner Neuregelung des Schlechtwettergeldes angehen.
Sie muß vor der nächsten Schlechtwetterperiode unterDach und Fach sein. Das klare Versprechen der Regie-rung ist: Das wird sie auch.Worum geht es dabei? Die Situation im Baugewerbeist geprägt von Spitzenbelastungen im Sommer undwitterungsbedingten Beschäftigungseinbrüchen im Win-ter. Die Wintererwerbslosigkeit am Bau hatte vor derEinführung des Schlechtwettergeldes im Jahre 1959einen riesigen Umfang: Im Winter 1956/57 betraf siefast jeden zweiten am Bau Beschäftigten. Eine solcheerzwungene Saisonarbeit – das müssen wir uns hierauch klarmachen – belastet die Betroffenen und ihreFamilien in unzumutbarer Weise. Außerdem bringt sieimmense gesellschaftliche Folgekosten mit sich: in er-ster Linie in der Arbeitslosenversicherung, aber auchdarüber hinaus.Das Schlechtwettergeld wurde 1959 von einer CDU-Regierung eingeführt, um die Beschäftigungslage aufdem Bau zu stabilisieren. Es ist in seiner bewährtenForm von einer CDU-geführten Regierung zum Januar1996 abgeschafft worden, was sofort wieder zu einer er-heblichen Zunahme der Winterarbeitslosigkeit geführthat. Herr Schemken, machen wir uns doch nichts vor:Die Ersatzregelungen waren halbherzig und reichtennicht aus. Sie können die sozialpolitische Flankierungdoch nicht ohne heftige soziale Folgen so weit zurück-drehen, wie Sie es getan haben und noch tun wollten.
Sie haben uns als Opposition das nicht geglaubt,später aber selbst nachgebessert. Auch das Ergebnis die-ser Nachbesserung war nicht tragfähig, obwohl Sie dasdann zum Vorbild für den neuen Sozialstaat überhöhthaben, der nichts kosten darf. Frau Babel und Herr Blümhaben hier anrührende Grundsatzreden über dieses ge-scheiterte Projekt gehalten.
Herr Schemken, wenn Sie dieser Regelung nur zu-stimmen können und so tun, als würden wir damit nichtsändern, dann machen Sie das in Gottes Namen. Aber esstimmt nicht; denn hier ist unser Handeln eindeutig ge-fordert. Leider kann man die alte Regelung nicht ohneweiteres wieder einführen, denn dafür ist in der Bau-branche in den letzten Jahren viel zuviel passiert, auchwas die Tarifverträge angeht. Wir müssen nämlich da-von ausgehen, daß sich die Arbeitgeber bei der Wieder-einführung der alten Regelung – das jedenfalls sind diePrognosen – aus der Verantwortung stehlen würden.Jetzt ist vorgesehen, daß die Bundesanstalt für Ar-beit in die sozialpolitische Flankierung erheblich frühereinsteigt, daß die Zahlung von Winterausfallgeld zwi-schen der 31. und der 100. Stunde aus der Winterbau-umlage erfolgt und daß die Sozialversicherungsbeiträ-ge den Arbeitgebern nicht mehr hälftig, sondern ganzerstattet werden. Das sind Versuche, keine Anreize fürwitterungsbedingte Kündigungen zu bieten; daraus darfdem Arbeitgeber kein Vorteil entstehen. Wenn er dastarifvertraglich vereinbarte Verbot witterungsbedingterKündigungen trotzdem mißachtet, muß er künftig derBundesanstalt für Arbeit die gezahlten Leistungenerstatten. Das zu prüfen wird natürlich nicht einfachsein; aber der Ansatz ist schlicht und ergreifend ver-nünftig.Sie kritisieren, daß wir uns mit dieser tarifvertragli-chen Regelung, die noch die entsprechende gesetzlicheund sozialpolitische Absicherung braucht, einen teurenLuxus für die Sozialkassen leisteten, daß wir die Lohn-nebenkosten erhöhten und die Sozialversicherung er-heblich belasteten. Herr Schemken, das Gegenteil istrichtig. Die Saisonarbeitslosigkeit wird doch schließlichauch von der Arbeitslosenversicherung bezahlt, und dieKosten für die 400 000 arbeitslosen Bauarbeiter sindzwar nicht einzeln ausgewiesen, aber durch die Bundes-anstalt für Arbeit aufgebracht worden;
das wissen Sie doch genauso gut wie wir. Dies hat sichin den Lohnnebenkosten niedergeschlagen. Wenn wirjetzt eine Regelung finden, die Saisonarbeitslosigkeitwirklich vermeidet, sind die Kosten, die auf die Bei-tragszahler zukommen, natürlich erheblich geringer,
denn es ist einfach sinnvoller, Arbeitslosigkeit zu be-kämpfen, als an dieser Stelle die Flankierung einer ver-nünftigen Regelung zu unterlassen. Wenn man Saison-arbeitslosigkeit vermeiden will, dann braucht man Re-gelungen, die dies leisten können, und zwar angepaßt andie jeweilige Branche, die mit diesem Problem konfron-tiert ist. Für die Kollegen am Bau wird die Bundesregie-rung eine solche Regelung im Herbst vorlegen.
Alsnächster Redner hat der Kollege Dirk Niebel von derF.D.P.-Fraktion das Wort.
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4278 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich erlaube mir, mit ei-
nem Zitat aus dem Kampfblatt der Industriegewerk-
schaft Bauen-Agrar-Umwelt, „SWG-Express“, zu be-
ginnen.
Hier spricht der Bundesvorsitzende der IG Bauen-Agrar-
Umwelt:
Beharrlichkeit bei der eigenen Interessenvertretung
zahlt sich aus.
Herr Kollege Wiesehügel, Sie haben in diesem Kampf-
blatt als Vorsitzender Ihrer Gewerkschaft gesprochen,
heute in diesem Haus als Abgeordneter des Deutschen
Bundestages. Ich stimme Ihnen dennoch zu; denn es
handelt sich bei dieser Regelung tatsächlich um die
Verteidigung der Partikularinteressen der Mitglieder der
IG Bauen-Agrar-Umwelt.
Sie verlagern die Verantwortung und die Kosten beim
Bau auf die Allgemeinheit. Die seit November 1997
geltende Regelung zur Arbeitszeitflexibilisierung ist mit
den Stimmen Ihrer Partei hier in diesem Hause und im
Bundesrat gebilligt worden. Die neue Regelung sieht
vor, daß nur noch 30 statt 50 Stunden vorgearbeitet wer-
den darf. Ab der 31. bis zur 100. Stunde greift die Um-
lage, ab der 101. statt der 120. springt die Bundesanstalt
für Arbeit ein.
Anstatt daß wir uns hier über eine Fortentwicklung
der Flexibilisierung unterhalten, die ja der Weg in die
richtige Richtung war, anstatt daß wir hier über Jah-
resarbeitszeitkonten diskutieren, machen Sie die Rolle
rückwärts, und wir reden über gewerkschaftliche Ideo-
logien und sozialdemokratische Umverteilungspolitik.
Der Abgeordnete Wiesehügel hat in Ihren Reihen
Unterschriften gesammelt, um die Allgemeinheit bereits
wieder ab der ersten Ausfallstunde am Bau belasten zu
können. Es sind etliche Unterschriften zusammenge-
kommen. Der Fraktionsvorsitzende Struck hat Sie zu-
rückgepfiffen,
wohl deshalb, weil auch Teile der SPD erkannt haben,
daß es Veränderungen in der Arbeitswelt gegeben hat.
Der Durchbruch der 97er Regelung bestand nämlich nicht
darin, daß irgend etwas gezahlt wurde. Der Durchbruch
war das tarifliche Drei-Säulen-Modell, das Sie im Grund-
satz beibehalten haben: erstens die Vorarbeit, zweitens die
Umlage und drittens die Bundesanstalt für Arbeit.
Sie haben den Grundsatz unverändert gelassen, kommen
bloß zu einer Verteuerung von mindestens 51 Millionen
DM für die Bundesanstalt für Arbeit. Und was das
Größte ist: Sie verkaufen diese Verschlimmbesserung in
der Öffentlichkeit auch noch als den großen Hit, stellen
sich hin und reden von einem kleinen Bündnis für Ar-
beit. Das ist geradezu lächerlich.
Stellen Sie sich vor Ihre Bauarbeiter. Sagen Sie ihnen:
Wir sind im System geblieben; die andere Regelung war
gar nicht möglich, weil es heutzutage einfach sinnvoll
ist, daß man flexibler arbeitet. Seien Sie doch einmal
ehrlich!
Die Bundesanstalt wird mit mindestens 51 Millionen
DM mehr belastet.
– Herr Andres hat im Ausschuß schon von 55 Millionen
gesprochen. – Kollege Rauen hat uns in der Aktuellen
Stunde sehr plastisch vorgerechnet, daß die alte Rege-
lung zu einer Senkung der Lohnnebenkosten um 20 Pro-
zent geführt hat. Die Erhöhung der Lohnnebenkosten
gefährdet Arbeitsplätze. Es gibt zudem keinerlei Veran-
lassung mehr, über diese 30 Stunden hinaus vorzuarbei-
ten. Man kommt weiter weg von den flexiblen Arbeits-
zeiten, die wir in Zukunft brauchen werden. Die tech-
nische Weiterentwicklung im Winterbau wird ohne
Deutschland stattfinden.
Das verhindert und verschlechtert die Arbeitschancen
deutscher Bauarbeiter in der internationalen Baubranche.
Sie haben aus dem Schröder/Blair-Papier nichts gelernt.
Herr Schröder kann mit Herrn Blair Papiere schreiben,
soviel er will. Sie, der Gewerkschaftsflügel mit 244 von
298 Abgeordneten – über 80 Prozent der SPD-Frak-
tion –, bestimmen die Richtlinien der Politik am Ar-
beitsmarkt, nicht der Herr Bundeskanzler. Das ist der
falsche Weg.
Vielen Dank.
Als
letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die
Kollegin Dr. Heidi Knake-Werner von der PDS-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Wie-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4279
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sehügel, Sie haben hier kräftig vom Leder gezogen.Aber Sie müssen mir schon eine Frage gestatten: Waskann denn an einer Regelung heute so falsch sein, dieSie noch vor wenigen Monaten selbst gefordert haben?Kann es vielleicht doch etwas damit zu tun haben, daßSie heute an der Regierung sind?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Antrag, den dieKoalition heute zum Schlechtwettergeld eingebracht hat,ist eigentlich völlig überflüssig. Er ist deshalb überflüs-sig, weil sein Inhalt – das hat Kollege Wiesehügel dar-gestellt – längst schon außerhalb dieses Hauses be-schlossen wurde, und zwar, wie der Kanzler stolz ver-kündet, in einem kleinen Bündnis für Arbeit. So etwasbindet natürlich ein, lieber Kollege Wiesehügel.Wenn Sie heute Ihren Antrag dennoch stellen, sokann dies eigentlich nur eines bedeuten: Sie trauen Ihrereigenen Regierung nicht, und Sie befürchten, daß derKompromiß, der ausgehandelt wurde, nun auf dem We-ge der bekannten Nachbesserungen weichgespült wirdoder ganz dem Spardiktat zum Opfer fällt.Solche Bedenken finde ich überhaupt nicht grundlos,wenn ich mir anschaue, in welch kurzer Zeit Sie IhrePosition zum Schlechtwettergeld verändert haben. Icherinnere an Ihren Kollegen Dreßler, der neulich in der„Frankfurter Rundschau“ sagte: Das Sein bestimmt dasBewußtsein.Sie mögen es völlig unmodern finden; wir als PDSaber sind bei unserer Position geblieben, und zwar ausgutem Grund: Wir halten es für falsch, das Schlecht-wetterrisiko allein den ohnehin krisengeschüttelten Bau-betrieben und vor allen Dingen den dort Beschäftigtenzu überlassen. Wir alle haben doch ein Interesse daran,daß ganzjährig gebaut wird. Deshalb macht es durchausSinn, das Schlechtwettergeld von der Bundesanstalt fürArbeit bezahlen zu lassen. Das schafft zudem viel mehrSicherheit für die Beschäftigten.Nun haben wir halt diesen Kompromiß auf demTisch, nachdem der Kollege Wiesehügel in seiner Frak-tion lange vergeblich Druck für eine Lösung gemachthat und mit eigenen Vorschlägen nicht durchgekommenist. Dabei können Sie doch so wunderschön analysieren.Sie haben sich leider nicht durchgesetzt.
Ein Kompromiß, na gut, ist besser als nichts.
Allerdings – dies sage ich Ihnen auch – trägt er deutlichdie Handschrift der Arbeitgeber, wie ich ohnehin derMeinung bin, daß Arbeitgeber zunehmend das Schritt-maß Ihrer Sozialpolitik bestimmen. Wo sie nicht mitge-hen, geht gar nichts mehr. Das ist in der Tat nicht unserKonzept.So ist es denn auch gekommen, verehrter KollegeWiesehügel, daß die Flexibilisierungslösung, die Sie sovehement bekämpft haben, in diesem Kompromiß drin-geblieben ist. Das finde ich einfach schlecht, weil damitMißbrauch nach wie vor nicht ausgeschlossen ist.Was passiert denn zum Beispiel mit den Kolleginnenund Kollegen vom Bau, die während des SommersÜberstunden über Überstunden zusammengeschuftethaben, wenn der kleine Baubetrieb, bei dem sie beschäf-tigt sind, wegen Auftragsmangels, nicht wegen Witte-rungsbedingungen, pleite geht? Wenn Sie jetzt die Mit-tel für den sozialen Wohnungsbau noch in dreistelligerMillionenhöhe kürzen, bereiten Sie dafür geradezu denWeg.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was glauben Siewohl, was mit den 1,7 Prozent, die die Arbeitgeber indie Umlage zahlen, passiert? Die liegen doch bei jederLohnrunde – das wissen Sie viel besser als ich – auf demTisch und drücken auf die Lohnerhöhung, auf das Ur-laubsgeld und das Weihnachtsgeld. In der Konsequenzheißt das – ganz zugespitzt –: Die Bauarbeiter zahlen biszur 100. Stunde das Schlechtwettergeld selbst.
Frau
Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluß.
Wir aber – ich
komme zum Schluß – wollen ihre solidarische Siche-
rung und legen deshalb unseren Gesetzentwurf vor. Sie
wollen mit Ihrem Kompromiß für ein bißchen Gutwetter
auf den Baustellen sorgen. Aber die Gewitter werden Sie
damit nicht verhindern können.
Vielen Dank.
Ichschließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/1215 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-wurf der Fraktion der PDS zur Wiedereinführung desSchlechtwettergeldes auf Drucksache 14/39. Der Aus-schuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt aufDrucksache 14/1230, den Gesetzentwurf abzulehnen.Ich lasse über den Gesetzentwurf der PDS abstimmen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratunggegen die Stimmen der PDS mit den Stimmen aller an-deren Fraktionen abgelehnt worden. Nach der Ge-schäftsordnung entfällt eine weitere Beratung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Tagesord-nungspunkte 7, 8 sowie 10 und 11 sind innerhalb derFraktionen so vorbereitet, daß die Reden zu ProtokollDr. Heidi Knake-Werner
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4280 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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gegeben werden sollen. Sind Sie damit einverstanden? –Das ist der Fall.Dann haben wir noch den Tagesordnungspunkt 9 zuberaten:Erste Beratung des von den Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Ächtung der Gewaltin der Erziehung– Drucksache 14/1247 –Überweisungsvorschlag:
Seit der Kindschaftsrechtsreform, die wir in, wie ichfinde, wirklich hervorragender Kooperation entwickeltund verabschiedet haben, dürfen Eltern nicht mehr sagen– manche tun es bis heute, weil sie es offensichtlichnicht verstanden haben –, daß es noch niemals jeman-dem geschadet habe, wenn er einmal eine ordentlicheTracht Prügel bekommen habe. Ja, sogar die elterlicheOhrfeige, Herr Funke, ist strafbar.
Viele wissen es nicht, aber es ist schon jetzt so. Jenseitsdessen, was heute schon nach Strafgesetzbuch strafbarist, können und wollen wir nichts strafbarer machen, alses schon ist.Zweite Botschaft. Wir wollen mit unserem Gesetz-entwurf sicherstellen, daß auf elterliche Gewaltanwen-dung, auch wenn sie noch unterhalb der Ebene derStrafbarkeit liegt, reagiert werden kann. Denn – jederJurist weiß das – das Strafrecht ist ein sehr scharfes unddarum auch sehr uneffektives Recht. Welcher Familien-richter wird denn schon, wenn die Ehegatten sich ineinem Ehescheidungsverfahren gegenseitig vorwerfen,ihre Kinder geohrfeigt zu haben, oder wenn die ehema-ligen Schwiegereltern diesen Vorwurf erheben – dortoder in Sorgerechtsverfahren ist eigentlich der Punkt,wo so etwas ans Licht kommt –, das der Staatsanwalt-schaft übersenden, und welcher Staatsanwalt wird dar-aufhin schon ein Ermittlungsverfahren eröffnen? DasErgebnis der ausschließlichen Ahndung von elterlicherGewaltanwendung als Straftat kann sein, daß geradenichts passiert.Meine Damen und Herren, es ist für das Aufwachsenvon Kindern ungeheuer gefährlich, wenn sie nicht nurZeugen, sondern auch Opfer erfolgreicher, ungeahndeterGewalt werden. Das ist das Schlimmste, was man her-anwachsenden Kindern antun kann.
Angemessene Antworten sind aber gerade in diesemBereich vielfach nicht auf der Anklagebank zu finden.Deswegen brauchen wir viel mehr Hilfe, mitunter auchGrenzziehung für Eltern. Das wollen wir nicht bestrei-ten: Auch Eltern müssen manchmal vom hohen Roß ge-holt werden, auf dem sie kraft körperlicher und sozialerÜberlegenheit ihren Kindern gegenüber zu sitzen pfle-gen. Auch das gibt es: Das darf ich doch; wer kann michdaran hindern? – Jawohl, es kann daran gehindert wer-den. Aber statt auf die Anklagebank gehören vieleEltern, die ihre Kinder ja lieben, in die Erziehungsbera-tung. Manchmal genügt auch eine größere Wohnung.Dritte Botschaft. Wir wollen die elterliche Gewalt-anwendung sanktionieren und helfen, daß sie nicht mehrgeschehen muß. Aber wir wollen, billigen und wün-schen, daß Eltern ihren Kindern in der Erziehung Gren-zen setzen und diese Grenzen durchsetzen. Die elterli-che Gewaltanwendung ist nicht das einzige Mittel derErziehung; das ist der häufig anzutreffende Irrtum, demes entgegenzutreten gilt. Erziehung bedeutet vielmehrdie Internalisierung, das In-sich-Aufnehmen von Wert-setzungen, die für das weitere Leben von Kindern undihre Umgebung von großem Gewicht sind. Das gelingtam besten, wenn Grenzen von Menschen gesetzt wer-den, denen die Kinder vertrauen und die sie lieben. Dieswollen wir, und dazu gehören mitunter auch Strafen– das sage ich klar und deutlich –, aber eben nicht dasAusspielen körperlicher und sozialer Überlegenheit,durch die den Kindern Wertsetzungen unter gleichzeiti-ger Demütigung vermittelt werden. Wenn das geschieht,gehen diese Wertsetzungen nicht ins Innere.
Vierte Botschaft. Wir sind für elterliche Spontanei-tät. Ich möchte keine Eltern, die Dienst nach VorschriftVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4281
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machen. Die schlimmste Zeit in meinem Leben undwahrscheinlich auch im Leben meiner Kinder war, alsich glaubte, ich müßte mich durch einen halben Kilo-meter Erziehungsliteratur fressen, bevor ich meinenKindern überhaupt gegenübertreten dürfte. Spontaneitätvon Eltern, die ihre Kinder lieben, schließt elterlichesVersagen nicht aus, ja ich fürchte, sie schließt es ein. Ichbekenne mich in kollegialer Mitschuld zu dem, was mit-unter auch meinen Kindern durch mich widerfahren ist.Aber es muß möglich sein, daß Eltern wissen, was gutund erlaubt ist. Es muß möglich sein, daß auch Eltern ih-re Kinder um Verzeihung bitten, wenn sie – das ist nichtauszuschließen; das widerfährt uns immer wieder – aufGrund von Überforderung in einer Situation zu einemfalschen Mittel greifen. Es ist nötig, daß die Eltern indiesen Fällen die Würde ihrer Kinder wiederherstellen.Eltern müssen mehr tun als das, was im Gesetz steht.Wir können gar nicht alles, was Eltern für ihre Kindertun sollten, in die Gesetze hineinschreiben. Aber darumdürfen wir elterliches Versagen nicht immer mit denMitteln des Verbotes oder der Bestrafung ahnden. Viel-fach reicht Hilfe aus; denn es gibt selten Eltern, die ihrenKindern feindlich gesonnen sind.Meine Damen und Herren von der Opposition, ichfreue mich, mit Ihnen gemeinsam eine weitere Rundeder Kindschaftrechtsreform zu bestreiten. Es war mir einVergnügen in der letzten Legislaturperiode. Lassen Sieuns wieder über Formulierungen streiten! Ich denke, inunseren Absichten werden wir uns einig sein.
Das
Wort hat jetzt die Kollegin Ingrid Fischbach von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Frau von Renesse, wir kön-nen das, was Sie gerade gesagt haben, wirklich nur un-terstreichen und unterschreiben. Inhaltlich sind wir einerMeinung. Aber es gibt noch einige Fragen zum techni-schen Verfahren, wenn das Gesetz zur Ächtung der Ge-walt in der Erziehung umgesetzt wird.Wir beraten heute zum erstenmal über das Gesetz zurÄchtung der Gewalt in der Erziehung. Es geht um Ge-walt gegen Kinder und auch um das Wohl der Kinder.Zum Wohl des Kindes gehören seine körperliche undauch seine seelische Unversehrtheit. Jede Form der Kör-perverletzung und der Mißhandlung ist ein unverzeihli-cher Eingriff in die Personalität und Würde des Kindes.Körperverletzungen gegenüber Kindern mit dem el-terlichen Züchtigungsrecht zu rechtfertigen ist nach demvon uns in der letzten Legislaturperiode verabschiede-ten Kindschaftrechtsreformgesetz nicht mehr möglich.Durch die Verabschiedung dieses Gesetzes in der Bun-destagssitzung vom 25. September 1997 hat es bereitseine entscheidende Veränderung des § 1631 Abs. 2 BGBgegeben. Die damals geltende Regelung, daß entwürdi-gende Erziehungsmaßnahmen unzulässig sind, wurdekonkretisiert und dadurch ergänzt, daß unter „entwürdi-genden Erziehungsmaßnahmen“ besonders körperlicheund seelische Mißhandlungen fallen. Damit wurde eineentscheidende Veränderung des bis dahin geltenden Er-ziehungsrechts der Eltern vorgenommen, obwohl – dasgebe ich auch zu – in dem über 500 Seiten starken Ge-setzentwurf zum Kindschaftrechtsreformgesetz eine Än-derung des § 1631 ursprünglich nicht vorgesehen war.Eine in der Politik seit Jahren umstrittene, aber von Kin-desrechtlern lange geforderte Präzisierung wurde mit derVerabschiedung dieses Gesetzes verwirklicht und fanddamit Eingang in das deutsche Recht.Gleichwohl wurden auch bei der dann gefundenenLösung, dem jetzt geltenden Recht, Bedenken an der be-fürchteten Kriminalisierung von „Klapsen“ und damitauch der Eltern als Täter angemeldet. Der bloße „Klaps“dürfte nicht den Tatbestand der Körperverletzung erfül-len, wenn er wirklich nicht mehr als ein einfacher„Klaps“ ist. Insoweit fehlt die Definition für die in § 223StGB vorausgesetzten üblen, unangemessenen Behand-lungen. Aber alles, was darüber hinaus geht, soll nun-mehr ganz bewußt unzulässig und damit gegebenenfallsauch strafrechtlich sanktionsfähig sein.In Ihrem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf verweisenSie, meine Damen und Herren der Regierungskoalition,allerdings selber darauf, daß Eltern bereits heute aufGrund der bestehenden gesetzlichen Regelung in Fällenvon Körperverletzungen gegen ihre Kinder strafrechtlichzur Verantwortung gezogen werden können. Eine Aus-weitung der Strafbarkeit soll es nicht geben. Ich zitiere:Nicht die Strafverfolgung oder der Entzug derelterlichen Sorge dürfen deshalb in Konfliktlagenim Vordergrund stehen, sondern Hilfen für die be-troffenen Kinder, Jugendlichen und Eltern.
Einige Personen werfen die Frage auf, warum dieRegelung bereits zum jetzigen Zeitpunkt eine weitereÄnderung erfahren soll, nachdem die Regelung erst zum1. Juli 1998 in Kraft getreten ist und damit gerade ein-mal ein Jahr lang Geltung erlangt hat. Ich persönlichhalte diese Fragestellung allerdings deshalb nicht für be-rechtigt, weil mit ihr verkannt wird, daß es auch bereitsanläßlich der Beratungen zum Kindschaftsrechtsreform-gesetz im Rahmen der Berichterstattergespräche meh-rere Dutzend Vorschläge für Formulierungen des § 1631Abs. 2 gegeben hat. Wir haben uns nicht leicht getan.Somit war nicht nur eine Lösung richtig, sondern meh-rere. Wir haben uns auf eine geeinigt, von der wirglaubten, sie sei die beste.Daß dieses Suchen nach einer richtigen Formulierungauch die SPD-Bundestagsfraktion erfaßt hat, kann mandem Umstand entnehmen, daß die SPD noch im Sep-tember 1997 im Plenum des Deutschen Bundestages be-antragte, eine Formulierung in § 1631 aufzunehmen, dielautete: „Kinder sind gewaltfrei zu erziehen“. Gegendiese Formulierung, daß Kinder gewaltfrei zu erziehensind, wurde damals von unserer Seite der Einwand derUnbestimmtheit entgegengehalten. Der Begriff der ge-waltfreien Erziehung ist mißverständlich, er schafft Un-Margot von Renesse
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4282 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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klarheit und hilft damit den Eltern und vor allen Dingenden Kindern in der Tat nicht.
Die jetzt von der Koalition eingebrachte Formulierung„Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung.“weicht daher deutlich von der ursprünglich von der SPDbeantragten Formulierung aus dem Jahr 1997 ab.Aber genau diese neue Formulierung des § 1631Abs. 2 Satz 1 BGB, daß Kinder ein Recht auf gewalt-freie Erziehung haben, wirft eine Reihe von Fragen auf.Wie soll denn im Konkreten das Recht der Kinder aufgewaltfreie Erziehung im Streitfalle rechtlich durchge-setzt werden? Von wem soll im Namen des Kindes dasRecht auf gewaltfreie Erziehung wahrgenommen wer-den? Droht hier nicht möglicherweise ein neues Kon-fliktpotential im Verhältnis zwischen Kindern und El-tern, obwohl konfliktschonendere Modelle der Media-tion einen besseren Erfolg bringen könnten? Wird durchden Rechtsanspruch auf gewaltfreie Erziehung durch zu-sätzliche Prozesse der Konfliktstoff zwischen Eltern undKindern auf eine neue, nicht vertretbare „Qualitätsstufe“verlagert? All diese berechtigten Fragen müssen imRahmen der Beratungen zu dem Entwurf eines Gesetzeszur Ächtung der Gewalt in der Erziehung geprüft undabgewogen werden. Diesbezüglich ist es sicher sinnvoll,im Rahmen einer eigenen Anhörung Vertreter der Pra-xis zu diesem Komplex anzuhören.Die jetzt geltende Formulierung in § 1631 Abs. 2BGB, daß entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, ins-besondere körperliche und seelische Mißhandlungen,unzulässig sind, soll auf Grund der vorliegenden Geset-zesinitiative nunmehr durch die Formulierung ersetztwerden, daß körperliche Bestrafungen, seelische Verlet-zungen und andere entwürdigende Maßnahmen unzuläs-sig sind. Materiell-rechtlich bedeutet diese beabsichtigteneue Formulierung nach meiner festen Überzeugungkeine Veränderung gegenüber der jetzt bestehendenRechtslage. Dies wird auch in der Begründung zu demGesetzentwurf von den Koalitionsfraktionen selber ein-gestanden.Ich räume jedoch ein, daß die Formulierung „Körper-liche Bestrafungen … sind unzulässig.“ ein deutlicheresSignal als die zur Zeit geltende Formulierung gegenübererziehungsberechtigten Eltern darstellt. Insofern hat diediesbezüglich beabsichtigte Änderung auf den erstenBlick einen gewissen Charme, den ich nicht verkennenwill. Wie jedoch der Begriff der „seelischen Verletzun-gen“ terminologisch auszulegen ist, muß im Rahmen dersicher notwendigen Anhörung mit Fachleuten erörtertwerden.Schließlich ist in den Gesprächen mit den Fachleutendes weiteren zu prüfen, ob die beabsichtigte Änderungdes Achten Buches Sozialgesetzbuch ausreichend ist,um den Inhalt der neuen Formulierung hinsichtlich desErziehungsrechts der Eltern ausfüllen zu können. ImHinblick auf die Zielsetzung des Entwurfs ist es sichersinnvoll, die allgemeine Förderung der Erziehung in derFamilie ausdrücklich um solche Beratungsangebote zuergänzen, die Eltern den Weg zu einem gewaltfreienUmgang mit ihren Kindern in Konflikt- und Krisen-situationen aufzeigen.
Ob die gefundene Formulierung Ihres Gesetzentwurfsdieses Ziel erreicht, muß jedoch bezweifelt werden.Durch die beabsichtigte flankierende Ergänzung desKinder- und Jugendhilfegesetzes um Angebote zur För-derung der gewaltfreien Erziehung fallen aber am Endevermehrte Kosten bei den Jugendämtern an. DieseMehrkosten sind unabwendbar, da anfallende Bera-tungsgespräche sicher auch einen vermehrten Personal-aufwand zur Folge haben. Die damit verbundenen Ko-sten müßten vor allen Dingen die Kommunen und Krei-se tragen. Hier bedarf es noch einer Erörterung mit denkommunalen Spitzenverbänden über die Frage, wie hochim einzelnen dieser Mehraufwand beziffert wird und wieer finanziert werden soll.Aus all meinen Ausführungen können Sie entnehmen,daß die CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine Reihe vonFragen geklärt wissen will, die ich im Rahmen meinerkurzen Ausführungen aufgezeigt habe. Das Recht aufgewaltfreie Erziehung im BGB gewährleistet ja nicht,daß jedes Kind vor Prügel bewahrt wird. Dies stellte be-reits Rita Grießhaber am 25. September 1997 fest. Ge-walt muß schon frühzeitig aus dem Kinderzimmer ver-bannt werden. Deshalb muß in Deutschland ein Diskus-sions- und Bewußtseinsbildungsprozeß in Gang ge-setzt werden, durch den klar wird, daß Gewalt, sowohlkörperliche als auch seelische, nicht Gegenstand vonund vor allen Dingen auch kein Mittel der Erziehungsein kann. Ein Rechtsanspruch allein hilft leider auchnicht weiter.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Ekin Deligöz von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
HerrPräsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ge-walt gegen Kinder ist ein ernstes Thema, das niemandenvon uns kalt läßt. Bei Gewalt von Kindern ist das aberähnlich. Ich denke an Jugendliche, die auf der Straßeältere Menschen überfallen, und an Kinder, die aufKlassenkameraden und sogar auf Lehrer losgehen. Unsallen steckt noch der Fall Mehmet mit seinen60 Straftaten tief in den Knochen. Ein Kind, das schwereStraftaten zu verantworten hat, erschreckt, schockiertund lähmt. Viele, auch viele Politikerinnen und Politi-ker, überspielen die bei ihnen enstandene Verunsiche-rung dadurch, daß sie nach harten Maßnahmen rufen:nach Sanktionsmitteln, nach Recht und Gerechtigkeitund nach Mitteln, die zur Kriminalisierung dieser Kin-der und ihrer Eltern führen.Sie verdrängen dabei aber die Ursachen dafür, warumein Kind so wird. Es ist nämlich längst erwiesen: Kör-perliche und seelische Gewalt gegen Kinder ist nicht nurIngrid Fischbach
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4283
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inhuman, sondern sie schlägt auch direkt in unsere Ge-sellschaft zurück.
Die meisten Gewalt- und Sexualverbrecher waren inihrer Kindheit oft, sehr oft Opfer brutalster Gewalt di-rekt zu Hause. Wenn wir Kinder besser vor Gewaltschützen, tun wir das nicht nur für unsere Kinder, son-dern auch für uns, die wir in dieser Gesellschaft zusam-menleben wollen. Daß Täter oft auch Opfer waren undspäter andere zu Opfern machen, ist ein schrecklicherKreislauf, den wir mit diesem Gesetz durchbrechenwollen.
Das Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung istdabei ein wichtiges rechtspolitisches Instrument. AndereLänder, vor allem die skandinavischen Staaten, habenuns dabei schon eine ganze Menge vorgemacht, worauswir Erfahrungen sammeln können. Gewalt gegen Kinderist dort ganz erheblich dadurch zurückgegangen, daß dieStellung der Kinder aufgewertet wurde, eine massiveöffentliche Kampagne durchgeführt wurde und Aufklä-rung stattgefunden hat. Dort hat man außerdem auf dieKriminalisierung der Eltern bewußt verzichtet.Die rotgrüne Koalition setzt mit ihrer Initiative denSchlußpunkt unter eine Debatte, welche die bundesdeut-sche Öffentlichkeit schon seit einem Vierteljahrhundertbewegt. Mit dem Gesetz werden zahlreiche praktischeProbleme gelöst, die mit der gegenwärtigen Rechtslageverbunden sind.Schwere Gewalttaten waren schon bisher strafbar– das haben Sie bereits verdeutlicht –, aber bei unre-gelmäßiger Gewaltanwendung, die nicht gleich zuschwerer Körperverletzung führte, kam das differen-zierte Instrument der Jugendhilfe oft nicht richtig zurGeltung. Wenn strafrechtliche Sanktionen aus Kindes-wohlerwägungen unterlassen wurden, blieb oft nur dasebenfalls fatale Nichtstun, das Zuschauen oder – nochschlimmer – das Wegschauen übrig.
Das neue Gesetz weitet die Strafbarkeit nicht aus. Eskriminalisiert die Familien nicht. Aber es stellt ganzdeutlich klar: Prügeln von Kindern ist immer ein Un-recht, immer eine Verletzung der Würde dieser Kin-der. Es gibt keine Rechtfertigung für Gewalt gegen Kin-der; es gibt auch keine erzieherische Rechtfertigung da-für.
Das neue Gesetz füllt hier eine riesige Lücke im Kin-derschutz aus. Das Recht auf gewaltfreie Erziehung sollfrühzeitig sensibilisieren und eröffnet Eltern wie Kinderndas Recht auf ein breites Hilfeangebot. Die Zielrichtungvon Beratung wird auch um das Aufzeigen von gewalt-freien Konfliktlösungen erweitert. Da Gewalt immer zu-nächst im kleinen beginnt, können Kinder so früher unddamit effektiver vor Gewalt geschützt werden.Wichtig auch: Die Träger des Rechts auf gewaltfreieErziehung sind die Kinder. Sie werden also rechtlichnicht mehr als Objekte von Erziehungsmaßnahmen,sondern als Träger von Grundrechten definiert.
Nun ist es unsere Aufgabe, uns trotz der schwierigenHaushaltslage dafür einzusetzen, daß genügend Mitteldafür zur Verfügung gestellt werden, damit wir eine öf-fentliche Kampagne starten können, damit wir in derAufklärung der Gesellschaft fortschreiten können unddamit wir Prävention und Beratung den Vorrang ge-ben. Das müssen uns unsere Kinder wert sein; das sindwir ihnen schuldig.Nicht nur eine öffentlich wirksame Kampagne, son-dern auch die konstruktive Zusammenarbeit in der Kin-derkommission, in den Ausschüssen und in den Anhö-rungen sind hier angesagt. Ich finde es sehr gut, FrauKollegin Fischbach, daß gerade Sie die Bereitschaft da-zu signalisiert haben.
Als
nächster Redner hat der Kollege Rainer Funke von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Frau von Renesse hat ja schon darge-stellt, daß wir in der letzten Legislaturperiode wesent-liche Verbesserungen im Kindschaftsrecht eingeführthaben. Trotzdem ist in der Tat das Thema Gewalt in derFamilie und vor allem Gewalt gegen Kinder ein viru-lentes Problem, wie auch die Untersuchungen von Pfei-fer und anderen bezeugen.Sosehr ich den Ansatz des Gesetzentwurfs der Koali-tionsfraktionen teile, sosehr ist mir aber auch bewußt,daß durch gesetzliche Maßnahmen allein die Gewalt inder Familie nicht beseitigt werden kann. Vielmehr be-darf es gesellschaftlicher Aufklärung und Hilfe vorallem bei schwierigen Familienverhältnissen.Ob der Ruf nach dem Staat, der ein wenig in IhremGesetzentwurf anklingt, der Ruf nach Sozialarbeiternund dem Hineinwirken des Staates in die Familie derrichtige Weg ist, kann sehr wohl bestritten werden.Vielmehr sollten Ärzte und Lehrer, aber auch Sport-funktionäre und Trainer – also das gesamte soziale Um-feld der Kinder – darauf geschult werden, daß sie einwachsames Auge auf schwierige soziale und familiäreSituationen werfen.
Ekin Deligöz
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4284 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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Dabei sind wir uns sicherlich in diesem Hause alleeinig, daß Kinder gewaltfrei zu erziehen sind und daßsie einen Anspruch darauf haben. Diesen Anspruch ha-ben Sie ja in Ihrem Gesetzentwurf formuliert. Der Teu-felskreis muß durchbrochen werden, der heißt: Kinder,die körperlich und seelisch gezüchtigt worden sind,werden in Zukunft ihre eigenen Kinder körperlich undseelisch züchtigen. Auch diese Tatsache ist empirischfestgestellt und wurde von Ihnen, Frau Kollegin De-ligöz, sehr richtig ausgeführt. Unsere Gesellschaft mußgewaltfrei erzogen werden, denn nur so kann auch eineinnergesellschaftliche Befriedung erfolgen.Deswegen stimmt die F.D.P. diesem Gesetzentwurfgrundsätzlich zu. Wir werden uns an den Beratungenintensiv beteiligen. Insbesondere muß der Begriff „Ge-walt in der Familie“ klarer definiert werden, zumindestdurch ausführliche Begründungen und durch entspre-chende Beispiele, damit auch bei den Auseinanderset-zungen, die später zweifellos vor Gericht ausgefochtenwerden und ausgefochten werden müssen, klare Defini-tionen und Beispiele vorhanden sind.Dabei sollten auch die internationalen Entwicklun-gen, zum Beispiel in den skandinavischen Ländern, aberauch in Österreich, untersucht und genutzt werden, ge-nauso wie die möglicherweise vorhandenen Erfolge derUN-Kinderkonvention, die der damalige AußenministerDr. Kinkel hier im Bundestag mit umgesetzt hat. Er hatdafür gekämpft, daß sie nicht nur in der UNO, sondernauch in diesem Hohen Hause durchgesetzt und beschlos-sen worden ist.
Ich glaube, daß wir da auf dem richtigen Wege sind.Vielen Dank.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Rosel Neu-
häuser von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die UN-Kinderkonventionverpflichtet die Vertragsstaaten, das Kind vor jederForm körperlicher und geistiger Gewaltanwendung zuschützen. Der vorliegende Gesetzentwurf versucht, dieseVorgabe in geltendes nationales Recht umzusetzen.Wichtig und aus meiner Sicht auch gut ist, daß das Ge-setz eindeutig festlegt, daß das Kind als eigenständigePerson die Achtung seiner Würde auch von den Elternverlangen kann.
Dieser Blick auf das Kind als Subjekt und Träger vonRechten und Pflichten ist in Deutschland leider nochnicht die Regel. Wer in seiner Kindheit selber Gewaltund Kränkung durch seine Eltern erfährt, und sei es zumZwecke der Vermittlung von Gut und Böse, wird esspäter als Erziehender schwer finden, auf die Anwen-dung solcher Methoden zu verzichten.Dieser Kreislauf von Gewalt muß aus unserer Sichtunterbrochen werden. Erfahrungen aus anderen euro-päischen Ländern – das ist eben schon angeklungen –haben gezeigt, daß entsprechende gesetzliche Regelun-gen, verbunden mit intensiver Aufklärungs- und Infor-mationsarbeit, die auch zu diesem Gesetz noch notwen-dig ist, durchaus Erfolg haben können. Die Intention derAutoren, durch eine gesetzliche Vorgabe gesellschaftli-che Normen und letztendlich Bewußtsein zu verändern,findet unsere Unterstützung.Allerdings dürfen wir bei allem guten Willen nichtaus dem Blick verlieren, daß es mit dem Verbot vonGewalt allein nicht getan ist. Vor allem sollten wir dieUrsachen von Gewalt hinterfragen. Sicher spielen dieeigenen Erfahrungen und tradierte Anschauungen einewichtige Rolle. Aber wie oft sind in der Gegenwartauch Hilflosigkeit, Angst und Ratlosigkeit Auslöserfür ein Erziehungsverhalten, das die Eltern letzten En-des so nicht wollen? Wieviel von dem Druck, den un-sere Gesellschaft gerade auf Mütter und Väter ausübt,die sich zum Beispiel an den strukturellen Rücksichts-losigkeiten aufreiben, landet letztendlich bei den Kin-dern, die sich als schwächstes und am meisten abhän-giges Glied in der Kette am wenigsten wehren können?Ich meine, wenn wir von gewaltfreier Erziehung spre-chen, sollten wir nicht aus dem Blick verlieren, wievielstrukturelle und materielle Gewalt unsere Gesellschaftselbst ausübt.In unserem Antrag zur Verankerung von Kinder-rechten im Grundgesetz hatten wir in der letzten Le-gislaturperiode die Forderung nach einem Recht derKinder auf ein gewaltfreies Leben formuliert.
Das ist letztendlich das Ziel, auf das wir zusteuern soll-ten, und ich denke, es gibt keinen Grund, darüber zu la-chen. Ein Schritt auf diesem Weg ist der Versuch, Kin-dern das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung zu geben.Gleichzeitig sollte aber auch alles unternommen werden,um das Leben mit Kindern zu fördern und zu erleich-tern. Dabei stehen zum Beispiel eine sozial gerechteUmgestaltung der Familienbesteuerung, innovative Re-gelungen für die bessere Vereinbarkeit von Berufstätig-keit und Kindererziehung und verbesserte öffentlich ge-förderte Betreuungsmöglichkeiten für Kinder ganz obenauf der Dringlichkeitsliste.Wir werden über den vorliegenden Gesetzentwurf inden Ausschüssen auch mit Experten weiter beraten. Ichhoffe, daß uns am Ende ein Gesetz gelingt, das Kinder-rechte stärkt und einen Beitrag zu weniger Gewalt in un-serer Gesellschaft leistet.Ich möchte noch einen Satz zu den Fragen der Erzie-hung, die vorhin angesprochen worden sind, sagen. Ma-karenko hat einmal gesagt: Erziehung ist Vorbild.
Rainer Funke
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999 4285
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– Ja, Liebe und Vorbild. Ich denke, das sollte in derweiteren inhaltlichen Arbeit zu diesem Gesetzentwurfim Mittelpunkt stehen.Danke.
Ich gebe
jetzt dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Eckhart
Pick das Wort.
D
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Die Ächtung und Bekämpfung der Gewalt
in der Erziehung hat sich die Regierung bereits in ihrem
Regierungsprogramm und in der Koalitionsvereinbarung
zum Ziel gesetzt. Der heute zu beratende Gesetzentwurf
will dieses Projekt umsetzen. Im BGB soll das Recht der
Kinder auf gewaltfreie Erziehung verankert werden.
Die Forderung nach gewaltfreier Erziehung ist übri-
gens alt. Wir haben über sie bereits im Zusammenhang
mit der ersten Reform des Familien- und Kindschafts-
rechts in den 70er Jahren
sowie im Rahmen der Kindschaftsrechtsreform im ver-
gangenen Jahr diskutiert.
Aus wissenschaftlichen Untersuchungen der letzten
Jahre ist bekannt, daß körperliche Gewalt in Familien
weit verbreitet ist. Gewalt bedeutet dabei nicht der klei-
ne Klaps, sondern Prügel und echte Mißhandlungen. Es
kommt hinzu: Die Gewalt in den Familien nimmt nicht
ab. Sie ist bei Familien, in denen Streß und Spannungen
vorhanden sind, sehr viel größer als bei Familien, in de-
nen sich Probleme mit Alkohol, Drogen, der Ehe oder
den wirtschaftlichen Verhältnissen nicht oder nicht so
deutlich zeigen.
Zugleich – das ist mehrfach angesprochen worden –
ist wissenschaftlich belegt, daß Kinder, die in ihrer
Familie schwer geschlagen oder mißhandelt worden
sind, später vermehrt selbst gewalttätig werden, und
zwar zwei- bis dreimal so häufig wie Kinder, die ohne
Gewalt erzogen worden sind. Um diesen Kreislauf der
Gewalt zu unterbrechen, müssen wir gesetzgeberisch
eingreifen.
Wer sich die neueste Beilage der Wochenzeitung
„Das Parlament“ anschaut, der findet dort eine Zusam-
menfassung der Ergebnisse wissenschaftlicher Untersu-
chungen zu diesem Thema. Man kann sie jedem von uns
zur Lektüre empfehlen.
Der bisherige § 1631 Abs. 2 des Bürgerlichen
Gesetzbuchs verhindert nicht die Anwendung von Ge-
walt als Erziehungsmittel. Er erklärt entwürdigende Er-
ziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seeli-
sche Mißhandlungen, für unzulässig. Dabei ist der dem
Strafrecht entlehnte Begriff der „körperlichen Miß-
handlung“ weit auszulegen, so daß schon eine einzelne
Ohrfeige ausreichen kann. Allerdings werden körperliche
Erziehungsmaßnahmen nach wie vor als „pädagogisch
mögliche Erziehungsreaktionen“ angesehen. Auch wird
der Mißhandlungsbegriff in der Alltagssprache sehr viel
enger aufgefaßt als in der Rechtssprache. Ein „Mißhand-
lungsverbot“, wie es das geltende Recht enthält, ist des-
halb nicht geeignet, in der Öffentlichkeit zu verdeutlichen,
daß die Ohrfeige oder eine Tracht Prügel unzulässig sind.
Der Gesetzentwurf schafft hier Klarheit. Er verbrieft
das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung und be-
schreibt beispielhaft die verbotenen Handlungen.
Eines ist mir in diesem Zusammenhang wichtig: Mit
diesem Entwurf soll die Familie nicht kriminalisiert
werden. Zwar ist die körperliche Mißhandlung eines
Kindes durch seine Eltern eine Straftat, die nicht mehr
durch das früher anerkannte Züchtigungsrecht der Eltern
gerechtfertigt wird. In Konfliktlagen dürfen allerdings
nicht Strafverfolgung oder Entzug der elterlichen Sorge
im Vordergrund stehen, sondern Hilfen für die betroffe-
nen Kinder, Jugendlichen und Eltern. Aus diesem Grund
sieht der Gesetzentwurf eine flankierende Regelung im
Kinder- und Jugendhilferecht vor. Jugendhilfe soll den
Eltern künftig Wege aufzeigen, wie Konfliktsituationen
in der Familie gewaltfrei gelöst werden können.
Meine Damen und Herren, eine Gesetzesänderung,
die nicht im Bewußtsein der Bevölkerung verankert ist,
wird den angestrebten Erfolg nicht erreichen.
Es wäre sinnvoll, das Vorhaben trotz der Sparzwän-
ge mit einer breitangelegten Informationskampagne
zu begleiten; dies ist schon ausgeführt worden. Schwe-
den hat damit gute Erfahrungen gemacht. Dort wurde
schon im Jahr 1979 die Gewalt gegen Kinder verboten.
Eine Kampagne hat diese Regelung in weiten Teilen
der Bevölkerung bekanntgemacht, so daß im Jahre
1981 etwa 99 Prozent der Schweden die Neuregelung
kannten. Seitdem ist der Gewaltpegel dort insgesamt
gesunken; er liegt heute weit unter dem Niveau in
Deutschland.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, daß es auch in
Deutschland zu einer Bewußtseinsänderung kommen
wird. Gewalt darf kein Erziehungsmittel sein. Es ist für
unsere Gesellschaft von großer Bedeutung, schon in der
Familie mit dem Leitbild der gewaltfreien Erziehung
Ernst zu machen.
Vielen Dank.
Ichschließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 14/1247 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esanderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dannist die Überweisung so beschlossen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie um et-was Geduld. Wir müssen noch zu den Tagesordnungs-Rosel Neuhäuser
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4286 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1999
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punkten, zu denen die Reden zu Protokoll gegeben wor-den sind, die Überweisungen beschließen.Wir kommen zunächst einmal zu Tagesordnungs-punkt 7:Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. PaulLaufs, Dr. Christian Ruck, Dr. Klaus W. Lippold
, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSUReaktor-Sicherheitskommission mit unabhän-gigen, fachlich hoch qualifizierten Expertenbesetzen– Drucksache 14/1010 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit(federführend)Ausschuß für Wirtschaft und TechnologieAusschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zungHaushaltsausschußHier wird interfraktionell die Überweisung der Vor-lage auf Drucksache 14/1010 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Siedamit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.*)Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 8:Beratung des Antrags der Abgeordneten UlrikeFlach, Birgit Homburger, Hildebrecht Braun
, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.Erarbeitung einer internationalen Boden-schutzkonvention– Drucksache 14/983 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit(federführend)Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuß für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lungAuch hier wird die Überweisung der Vorlage – aufDrucksache 14/983 – an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.**)––––––*) Zu Protokoll gegebene Reden siehe Anlage 5**) Zu Protokoll gegebene Reden siehe Anlage 6Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 10:Erste Beratung des von den Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Beschleunigungfälliger Zahlungen– Drucksache 14/1246 –Überweisungsvorschlag:
Wir kommen schließlich zu Tagesordnungspunkt 11:Erste Beratung des von den Abgeordneten Man-fred Grund, Dr. Michael Luther, Hartmut Büttner
, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfseines Ersten Gesetzes zur Änderung des
– Drucksache 14/1009 –Überweisungsvorschlag:
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages-ordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages ein auf morgen, Donnerstag, den 1. Juli 1999,9 Uhr.Die Sitzung ist geschlossen.