Gesamtes Protokol
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Sitzung ist eröff-
net.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir in die
Tagesordnung eintreten, möchte ich der Kollegin Sie-
grun Klemmer, die am 13. Juni ihren 60. Geburtstag
feierte, nachträglich im Namen des Hauses sehr herzlich
gratulieren.
Sodann müssen einige Änderungen bei der Beset-
zung von Gremien vorgenommen werden.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen teilt mit, daß
die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk und der Kollege
Christian Simmert ihr Amt als Schriftführerin bzw.
Schriftführer niedergelegt haben. Als Nachfolgerin bzw.
Nachfolger werden die Kollegin Antje Hermenau und
der Kollege Hans-Josef Fell vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch.
Damit sind die beiden genannten Abgeordneten als
Schriftführerin bzw. Schriftführer gewählt.
Die Fraktion der SPD teilt mit, daß die Kollegin Ing-
rid Matthäus-Maier aus dem Gemeinsamen Ausschuß
nach Art. 53 a des Grundgesetzes und aus dem Ver-
mittlungsausschuß als ordentliches Mitglied ausscheidet.
Für beide Gremien wird als Nachfolger der Kollege
Joachim Poß vorgeschlagen, der bisher stellvertreten-
des Mitglied war. Neues stellvertretendes Mitglied soll
in beiden Fällen der Kollege Jörg-Otto Spiller werden.
Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre auch hierzu
keinen Widerspruch. Damit sind die genannten Kollegen
wie vorgeschlagen als Mitglieder bzw. stellvertretende
Mitglieder in den genannten Gremien bestimmt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 1a bis 1c auf:
a) Abgabe einer Regierungserklärung des Bun-
deskanzlers „Globalisierung gemeinsam ge-
stalten“
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Lötzer, Rolf Kutzmutz, Dr. Uwe-Jens Rössel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Soziale und demokratische Weltwirtschafts-
ordnung statt neoliberale Globalisierung
– Drucksache 14/954 –
Brüderle, Ernst Burgbacher, Jörg van Essen,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
F.D.P.
Globalisierung als Chance:
Der Weg nach vorne für Europa
– Drucksache 14/1132 –
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und die notwendige Resolution des Weltsicherheitsratesauf den Weg zu bringen. Dies ist ein nicht zu verachten-der Erfolg des G-8-Prozesses.Lassen Sie mich an dieser Stelle gleich einige Wortezur Entwicklung im Kosovo sagen. Seit dem Beginn derStationierung der Friedenstruppen können wir optimisti-scher auf die Entwicklung im Kosovo blicken. Schonder enthusiastische Empfang der einrückenden Soldatendurch die verbliebene kosovo-albanische Bevölkerungzeigt: Die Menschen haben jetzt wieder eine Perspekti-ve, und sie begreifen das auch als solche. KFOR und dieinternationale Übergangsverwaltung müssen nun sichereund demokratische Bedingungen für alle Bewohner desKosovo schaffen. Eine Massenflucht der serbischen Be-völkerung ist für uns genausowenig hinnehmbar, wie esdie Vertreibung der albanischen Kosovaren war.
Wir haben von Anfang an gewußt – es ist im Deut-schen Bundestag auch vielfach ausgesprochen worden –,daß die Durchsetzung des Friedens mit Opfern verbun-den sein kann. Dies ist uns durch die tragischen Zwi-schenfälle am vergangenen Wochenende, bei denenzwei deutsche Journalisten ermordet worden sind undein deutscher Soldat verletzt wurde, besonders tragischvor Augen geführt worden. Ich will im Namen der Bun-desregierung und sicher auch im Namen des gesamtenHauses hier den Angehörigen unser tiefempfundenesMitgefühl aussprechen.Die Staatengemeinschaft wird erhebliche Anstren-gungen für den Wiederaufbau des Kosovo und des ge-samten Balkans unternehmen müssen. Im Augenblickbereiten die Europäische Kommission und die Weltbankintensiv eine internationale – ich betone: internationale –Geberkonferenz vor. Die langfristige Stabilisierung desBalkans wird auch beim bevorstehenden G-8-Gipfel inKöln ein wichtiges Thema sein. Alle beteiligten Staatensind sich darin einig, daß für Stabilität und für denSchutz der Menschenrechte Ausgaben notwendig wer-den. Aber wir sind uns ebenso einig, daß die Finanzie-rung von Frieden und Wiederaufbau eine notwendige,eine lohnende und also gute Investition ist.
Meine Damen und Herren, die gemeinsame Bewer-tung der wirtschaftlichen Entwicklung, die gemeinsameEinschätzung der ökonomischen Perspektiven, aber auchihrer Risiken bilden die Grundlage für die Gestaltungder Wirtschaftspolitik. Die gemeinsame Analyse dessen,was ist, muß und wird am Anfang dessen stehen, was inKöln zu besprechen sein wird.Die im Zuge der Finanzkrisen nicht nur in denSchwellenländern, sondern auch in einigen großen Indu-strieländern zu verzeichnende konjunkturelle Schwä-chephase scheint – jedenfalls weisen die Daten das aus –weitgehend überwunden zu sein. Vieles spricht dafür,daß der Kölner Wirtschaftsgipfel den Anfang einesneuen Aufschwungs markiert. Europa und mit Einschrän-kungen auch Asien werden und müssen die Wachstums-kräfte der Weltwirtschaft wieder beleben. Zwar ist in die-sem Jahr noch nicht mit einem kräftigen Wachstum zurechen. Der IWF erwartet für 1999 nur ein Produktions-wachstum von 2,3 Prozent weltweit. Nächstes Jahr indes-sen dürfte weltweit wieder ein Wachstum – so alle Pro-gnosen – in Höhe von 3,4 Prozent erreicht werden.Für Westeuropa und damit auch für Deutschlandheißt das: Die augenblickliche Schwächephase wird al-ler Voraussicht nach noch in diesem, in jedem Fall aberim nächsten Jahr von einer deutlichen Wiederbelebungder wirtschaftlichen Aktivität abgelöst werden.
Für das Euro-Währungsgebiet wird ein Anstieg der Pro-duktion um 2,9 Prozent erwartet. Der wirtschaftlicheAufschwung wird dabei durch die Zinsentwicklung inEuropa nachdrücklich gestützt. Mit der Senkung des Re-finanzierungssatzes auf 2,5 Prozent hat die EuropäischeZentralbank die Weichen eindeutig auf Wachstum ge-stellt, ohne damit inflationäre Tendenzen auszulösen.Die Inflation bleibt auch weiterhin unter Kontrolle.In Japan hat die Regierung die Sanierung des Ban-kensystems in Angriff genommen und finanzpolitischeMaßnahmen zur Überwindung der Schwächephase er-griffen. Es ist zu hoffen, daß Japan auch von der bereitsin anderen asiatischen Ländern deutlich erkennbarenWiederbelebung der wirtschaftlichen Aktivität profitie-ren wird, weil das natürlich auch positive Impulse fürunsere Konjunktur haben wird.Einige Schwellenländer haben erfreulicherweise wie-der Zugang zum internationalen Kapitalmarkt gefunden.Die Wechselkurse der Währungen der großen Indu-strieländer waren im vergangenen Jahr jedoch erhebli-chen Schwankungen unterworfen. Solche Schwankun-gen sollten uns dann keine Sorgen machen, wenn sie nurdie unterschiedlichen konjunkturellen Entwicklungenund Zinssätze widerspiegeln.Die deutsche Bundesregierung wird durch eine ent-schiedene Konsolidierung des Bundeshaushaltes inVerbindung mit einer Reform der Unternehmensteuernihren Beitrag dazu leisten, um Wachstum und damit Be-schäftigung zu fördern und die Stabilität des Euros zusichern.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nicht erstdie Bemühungen zur Beendigung des Krieges im Koso-vo haben gezeigt, wie sehr wir in Europa auf ein ver-trauensvolles Miteinander und ein kooperatives Verhält-nis zu Rußland angewiesen sind. Niemand – ich betone:niemand – kann daran gelegen sein, Rußland politischoder auch wirtschaftlich auszumanövrieren oder denBundeskanzler Gerhard Schröder
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dortigen Reformprozeß nicht zu unterstützen. Es istdeswegen immer betonen: Fortschritte im russischen Re-formprozeß liegen nicht nur im Interesse Rußlands, son-dern auch im unmittelbaren nationalen InteresseDeutschlands und im Interesse ganz Europas.
Aber auch die russische Seite hat kein Interesse undkann kein Interesse daran haben, einen Sonderweg zugehen. Auch das ist bei der Bewältigung der Kosovo-Krise deutlich geworden. Wir werden deshalb auf demKölner Gipfel Rußland ermuntern, seine wirtschaftli-chen Reformen mit neuem Schwung zu beleben. Wirsollten uns darüber einigen, was wir über die Program-me der internationalen Finanzinstitutionen hinaus tunkönnen, sofern Rußland wirklich bereit ist, seinerseitsdie notwendigen Strukturreformen in der Wirtschaft, imStaat und in der Gesellschaft voranzutreiben und umzu-setzen. Die russische Öffentlichkeit kann und soll wis-sen, daß wir uns ein stabiles, demokratisches und pro-sperierendes Rußland als einen unverzichtbaren Partnerfür Deutschland wünschen.
Wir sind bereit, Rußland auch materiell zu helfen, wennRußland bereit ist, sich selbst zu helfen.Die notwendige Bereitschaft zur Selbsthilfe stößt na-türlich in Rußland nicht immer auf Gegenliebe. Die in-ternen Konflikte weisen das aus. Der Glaube, daß Ver-änderungen nicht nur der Gemeinschaft, sondern auflängere Sicht auch jedem einzelnen nutzen, muß wie-dergewonnen werden. Rußland braucht deshalb ein kla-res Signal unserer Kooperationsbereitschaft. Dieses mußvom Kölner Gipfel ausgehen. Dabei erscheint mir weni-ger der große wirtschaftspolitische Entwurf erforderlich,sondern eher eine Politik der kleinen Schritte mit demZiel einer dauerhaften Partnerschaft, kleine Schritte be-zogen auf konkrete Projekte in den autonomen Provin-zen und Gebieten der Russischen Föderation. Daraufsollten wir in den bilateralen Beziehungen zu Rußlandunser Hauptaugenmerk richten. Darüber hinaus ist eswichtig, das Angebot einer Mitgliedschaft Rußlands inder WTO und der OSZE aufrechtzuerhalten. Langfristigsollte es das gemeinsame Ziel sein, das zu realisieren.In Köln werden wir sicher auch über kurzfristigewirtschaftspolitische Maßnahmen in Rußland sprechen.Das mit dem IWF vereinbarte Programm hat dabei unse-re volle Unterstützung. Dies gilt vor allen Dingen dann,wenn es der russischen Regierung gelingt, die notwen-digen Voraussetzungen für die Realisierung dieses Pro-gramms zu Hause zu schaffen. Wir sind fest davonüberzeugt, daß die neue Regierung unter Stepaschin dastun will und daß sie dabei Erfolg haben wird.Aber genauso klar muß gesagt werden, was wir nichtkönnen: Immer wieder ist die Rede von einem umfas-senden Schuldenerlaß. Diesen können wir nicht leisten.Dazu gibt es in Deutschland gegenwärtig keine Mög-lichkeiten.In den 90er Jahren ist der Welthandel mit Raten von6 bis 10 Prozent gewachsen. Die damit verbundenenMarktchancen müssen wir nutzen, wenn wir Wachs-tumspotentiale mobilisieren wollen, um Arbeitsplätze zuschaffen und sie langfristig zu sichern.Im Bereich des Welthandels sind einzelne dunkleWolken aufgezogen. Ein neuer Protektionismus ist er-kennbar. Genau den müssen wir überwinden. Dies isteiner der wichtigen Punkte des Treffens in Köln.
Hierin liegt der Grund dafür, warum die Bundesregie-rung gemeinsam mit den Partnerländern eine neue Welt-handelsrunde anstoßen will. Von besonderer Bedeutungdabei ist für uns – wir haben das immer wieder betont –der Beitritt der Volksrepublik China zur Welthandels-organisation. Dieser ist aus handelspolitischer Sicht ge-boten und nach unserer Auffassung auch aus politischerSicht völlig unumgänglich.
Ich bin froh darüber, daß unsere Partner – zum BeispielFrankreich – das ähnlich sehen, wie die gemeinsame Er-klärung, die ich dazu mit Präsident Chirac abgegebenhabe, deutlich zeigt. Wir wollen, daß die WTO eine Or-ganisation mit wirklich universeller Mitgliedschaft ist.Deswegen stehen wir dem Beitritt auch weiterer Staatenzur WTO positiv gegenüber. Voraussetzung dafür istallerdings, daß auch die neu hinzukommenden Länderbereit sind, eine offene, eine nicht protektionistischeHandelspolitik zu betreiben.Rund 1,5 Billionen Dollar werden momentan täglichauf den internationalen Finanzmärkten bewegt. Diesekaum noch nachvollziehbare Mobilität des Kapitals ver-schärft nicht nur den Wettbewerb der Wirtschaftsstand-orte. Sie ist – wir haben das erlebt – in der Lage, auchganze Volkswirtschaften und deren Währungen anfälligfür Spekulationen und damit für Instabilitäten zu ma-chen. Das gilt natürlich insbesondere für die besondersgefährdeten Schwellenländer.Gewiß, gut funktionierende Finanzmärkte sind einewichtige Voraussetzung für Wachstum und Entwick-lung. Deshalb werden wir in Köln darüber beraten, wiedas Zusammenspiel der Finanzmärkte in den Industrie-ländern, aber auch in den neuen Märkten Asiens undLateinamerikas stabiler und damit für die Menschen si-cherer gestaltet werden kann. Eines müssen wir uns da-bei vor Augen halten: Wenn Indonesien, Thailand oderBrasilien durch Währungsspekulationen Privater in dieKrise geraten, dann geht es dabei nicht nur um nackteZahlen, die in Ordnung zu bringen sind. Es geht um dieSchicksale Tausender und Abertausender Menschen, dieihrer Lebensgrundlagen beraubt und in ihren Hoffnun-gen bitter enttäuscht werden. Hierin liegt der Grund,warum wir eine neue international vereinbarte Finanzar-chitektur brauchen.
In vielen dieser Länder haben die Finanzkrisen denMittelstand, der sich gerade herauszubilden begann, inBundeskanzler Gerhard Schröder
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seinen Existenzgrundlagen zerstört. Damit lastet auf die-sen Volkswirtschaften auch eine schwere Hypothek fürdie Zukunft; denn gerade die aktiven Mittelschichtensind die Träger des wirtschaftlichen, aber auch des so-zialen Fortschrittes in diesen Ländern. Um so mehr ist esunsere Aufgabe, Krisen möglichst frühzeitig zu erken-nen und die erkannten möglichst schon im Keim zu er-sticken. Die Finanzminister haben deshalb bei der Vor-bereitung des Weltwirtschaftsgipfels bereits einen wich-tigen Beitrag zur Stabilität des internationalen Finanzsy-stems geleistet. Anknüpfend an die Ergebnisse desletztjährigen Wirtschaftsgipfels in Birmingham und ihrerTreffen im Herbst 1998 und im Frühjahr 1999 haben siesich intensiv um die Stärkung der Finanzstabilität imAufsichtsbereich bemüht. Mit der Errichtung des Stabi-litätsforums im Frühjahr 1999 – ein Vorschlag von Bun-desbankpräsident Tietmeyer – sind wir ein gutes Stückvorangekommen. Darüber hinaus bin ich der Auffas-sung, daß eine frühzeitige Einbindung auch und geradedes privaten Sektors bei der Krisenverhütung und beimKrisenmanagement wichtige Impulse für neue Stabilitätauf den Finanzmärkten setzen kann.Eine offene Weltwirtschaft könnte weder moralischnoch politisch Legitimität beanspruchen, wenn sie dieEntwicklungsländer aus den Augen verlöre.
Ich habe mich daher, wie Sie wissen, frühzeitig dafüreingesetzt, den ärmsten Entwicklungsländern die Mög-lichkeit einer weitergehenden Entschuldung als bisherzu bieten. Übrigens muß in diesem Zusammenhang ge-rade auch unserer Bevölkerung gesagt werden: Das istnicht nur ein Gebot, das moralisch-ethisch abzuleiten istund sich daher rechtfertigt. Nein, diesen Entwicklungs-ländern die Integration oder Reintegration in die inter-nationalen Märkte zu ermöglichen ist auch ein Gebotdes schlichten ökonomischen Interesses, das die Deut-schen haben.
Eine deutliche Schuldenerleichterung – und nur diese –eröffnet den Ländern, die eine verantwortliche Wirt-schaftspolitik betreiben, die Aussicht, ihr Entwicklungs-potential wieder auszuschöpfen. Davon müssen undwerden die Ärmsten in der Gesellschaft etwas haben.Deswegen ist Transparenz, deswegen sind demokrati-sche Strukturen im Verfolg unserer Hilfe außerordent-lich wichtig und müssen Gelder, die frei werden, dafürgenutzt werden, um zum Beispiel die Bildungsvoraus-setzungen der Ärmsten zu verbessern, um zum Beispieldafür zu sorgen, daß medizinische Grundversorgung,daß Hunger und Elend in diesen Ländern wirksam be-kämpft werden können. Wenn wir helfen, muß das eineHilfe sein, die dort ankommt, wo sie wirklich benötigtwird. Das werden wir sicherstellen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hatmit der Kölner Schuldeninitiative, die sie im Januar die-ses Jahres vorgelegt hat, konkrete Vorschläge unter-breitet, um die Schuldenlast der ärmsten Länder deutlichabzusenken. Diese Bundesregierung tritt nicht als Brem-ser beim Schuldenerlaß auf, vielmehr hat sie mit ihrerInitiative eine intensive internationale Diskussion ange-stoßen, an der sich unsere Partner, die internationalenFinanzinstitutionen und zahlreiche Nichtregierungsorga-nisationen sehr engagiert beteiligt haben. Ich habe dasselber erfahren können, zum Beispiel in den Gesprächenmit jenen katholischen Bischöfen und Erzbischöfen, diesich dieser Frage in ganz besonderer und begrüßens-werter Weise annehmen. Es geht um eine Beschleuni-gung des Verfahrens der Entschuldung und um einedeutliche Ausweitung des Volumens der Schuldener-leichterungen. Zugleich sollen Schuldenerleichterungenstärker als bisher in eine verbesserte Strategie der Ar-mutsbekämpfung und der nachhaltigen – also auchökologisch nachhaltigen – Entwicklung eingesetzt wer-den.Ich bin, meine Damen und Herren, zuversichtlich,daß auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Köln eine umfas-sende Schuldeninitiative für die ärmsten Länder verein-bart werden kann. Damit setzen wir ein deutliches Zei-chen der Solidarität der größten Industrienationen mitden Entwicklungsländern, und dieses Zeichen ist not-wendig.
Es geht aber nicht nur um die Schuldenlast der Ent-wicklungsländer. Die ärmeren Staaten brauchen Infra-struktur und Schutzsysteme, die wirksam sind. Dazu istwesentlich mehr Hilfestellung als bisher seitens der in-ternationalen Finanzinstitutionen notwendig. Die Bereit-schaft hierzu bei der Weltbank und beim InternationalenWährungsfonds hat deutlich zugenommen.Wichtig ist auch, daß die 1998 verabschiedete Erklä-rung der Internationalen Arbeitsorganisation übergrundlegende Prinzipien und Rechte in der Arbeitsweltumgesetzt werden, daß also Lohndumping aufhört unddaß bestimmte Formen von Arbeit, zum Beispiel Kin-derarbeit, wirksam diskreditiert und abgeschafft werden.Alles das sind Aufgaben, die sich dem Gipfel stellen.
Wir sollten aber auch sagen, daß das bei uns bewährtePrinzip der gesellschaftlichen Teilhabe in allen seinenFormen auch in den Entwicklungsländern ein Modelleiner nachhaltigen und sozial gerechten Entwicklungsein kann und sein wird. Die Einhaltung der internatio-nal anerkannten Standards, also Koalitions- und Tarif-vertragsfreiheit, Beseitigung von Zwangsarbeit undKinderarbeit, Nichtdiskriminierung in Beschäftigungund Beruf, sind entscheidende Bedingungen nicht nurökonomischer, sondern vor allem auch sozialer Stabili-tät. Es sind auch Bedingungen nachhaltigen Wachstums.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Globalisie-rung ist ein Prozeß, der tiefgreifende Veränderungen inunseren Arbeitsbedingungen und in unserer Lebenswei-Bundeskanzler Gerhard Schröder
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se mit sich bringt. Dieser Prozeß wird wesentlich getra-gen vom Einsatz und von der ständig beschleunigtenWeiterentwicklung der Informations- und Kommuni-kationstechnologien. Ich habe zu Beginn der deutschenG-8-Präsidentschaft den Vorschlag gemacht, über dieBedeutung von Bildung, Ausbildung und Fortbildung indiesem Prozeß auf den Gipfeln zu reden. Diese Überle-gung ist von den Partnern engagiert aufgegriffen wor-den. Wir werden insbesondere die jungen Menschen– und dies eben nicht nur im nationalen Maßstab – dar-auf vorbereiten müssen, daß für jeden und für jede vonihnen mit der Globalisierung des Wissens eben auchHerausforderungen, zum Beispiel die, sich weiterzubil-den, verbunden sind.Soweit wir in Politik und Wirtschaft Verantwortungtragen, müssen wir diesem Prozeß einen Rahmen geben,der allen – ich betone: allen – eine Chance bietet. Chan-cengerechtigkeit unter den Bedingungen der Globalisie-rung bedeutet vor allem, daß wir es den jungen Men-schen ermöglichen und sie sich selbst befähigen, dasweltweit verfügbare Wissen für sich und damit für diegesamte Gesellschaft zu nutzen. Aus dieser Überzeu-gung heraus hat die Bundesregierung der Bildungs-,Forschungs- und Innovationspolitik einen herausgeho-benen Stellenwert eingeräumt. Sie wird dies verteidigen,meine Damen und Herren.
Wenn die Staats- und Regierungschefs dieses Themaauf dem Gipfel aufgreifen, so ist dies auch deshalb be-merkenswert, weil die Bildungspolitik bislang, zumin-dest meistens, an den jeweiligen Grenzzäunen haltge-macht hat. Insbesondere die berufliche Aus- und Wei-terbildung zählt noch immer zu den spezifisch nationalund häufig auch traditionell bestimmten Domänen derPolitik. Wenn sich die nun allenthalben geforderte Fle-xibilität der Bildungssysteme mit einer gemeinsamenOrientierung verbindet und dies auf diesem Gipfel eben-so deutlich wird wie die anderen Themen, dann so denkeich, sind wir auf dem richtigen Weg.Die Globalisierung der internationalen Wirtschaftsbe-ziehungen stellt auch die Umweltpolitik vor beträchtli-che Herausforderungen. Gleichzeitig bietet sie neueChancen für eine weltweite Stärkung des Umweltschut-zes. Eine verstärkte internationale Umwelt- und Ent-wicklungspartnerschaft zur Prävention ökologischer,ökonomischer und sozialer Krisen ist unabdingbar. DerKölner Gipfel soll einen Beitrag dazu leisten, einen glo-balen ökologischen Ordnungsrahmen zu schaffen. Die-ser soll die nachhaltige Entwicklung fördern, das Niveauder erforderlichen internationalen Harmonisierung erhö-hen und jegliche Form von Umweltdumping vermeidenhelfen.
Verstärkte Kooperation bei Umweltstandards kann zumehr Effizienz und damit zu Kostenvorteilen führen.Wir müssen uns daher national und international bemü-hen, eine ökologische Modernisierung unserer Volks-wirtschaften zu betreiben. Die Entwicklung, Einführungund Verbreitung neuer Technologien und umwelt-freundlicher Produktionsverfahren sowie innovativerProdukte und Dienstleistungen bieten Chancen nicht nurfür den Umweltschutz. Sie bieten Chancen auch für denErhalt alter und die Schaffung neuer Arbeitsplätze.Die Bedrohung des Klimas – wir wissen dies – ist zueiner großen umweltpolitischen Herausforderung ge-worden. Ich habe daher vor einigen Tagen zusammenmit meinen EU-Kollegen betont, daß Klimapolitik dasbedeutendste Beispiel für die Notwendigkeit der Einbe-ziehungen der Umweltbelange in andere Politikbereicheist.
Man muß mit großer Sorge zur Kenntnis nehmen, daßdie Schadstoffemissionen heute in vielen Industrielän-dern erheblich höher sind als 1990 und weiter ansteigen.Die führenden Industriestaaten müssen sich in Köln zueiner Verstärkung der Anstrengungen gerade auf diesemGebiet verpflichten.
Nur dann, wenn die Industrieländer, die reichen Länderalso, eine Führungsrolle auf diesem Sektor übernehmen,wenn wir den Emissionstrend in den eigenen Ländernumkehren und die Energieeffizienz deutlich steigern,können wir erwarten, daß auch die Entwicklungsländerihre Treibhausgasemissionen begrenzen und schließlichreduzieren.
Mit der Verabschiedung des Protokolls von Kioto istein bedeutender Schritt getan worden, um wirksam Kli-maschutz zu betreiben. Jetzt müssen und werden wir da-für sorgen, daß dieses Protokoll möglichst früh in Krafttritt. Der Kölner Gipfel wird sich auch damit befassenmüssen, den entsprechenden Aktionsplan von BuenosAires zügig umzusetzen.Meine Damen und Herren, politische Krisen, gewalt-tätige Konflikte oder ökologische Katastrophen könnenin kurzer Zeit zerstören, was Menschen über Jahrzehnteaufgebaut haben. Ursache solcher Konflikte sind häufigwirtschaftliche und soziale Spannungen sowie schwin-dende Lebensgrundlagen. Unkontrolliertes Bevölke-rungswachstum bedroht Frieden und Stabilität genausowie die Mißachtung der Menschenrechte. Wir habengelernt: Wo es an Demokratie fehlt, entsteht Gewalt, diegroßes menschliches Leid zur Folge hat. Wir werdendeshalb auch unsere Bemühungen verstärken, die In-strumente unserer Entwicklungspolitik gezielt zur Ver-meidung gewaltsamer gesellschaftlicher Konflikte ein-zusetzen.Entwicklungspolitik kann einerseits dazu beitragen,strukturelle Krisenursachen zu mindern; andererseits sollsie aber auch diejenigen gesellschaftlichen Mechanis-men stützen und unterstützen, die zu einer friedlichenKonfliktlösung notwendig sind, etwa ein funktionieren-des Rechtssystem oder die Teilhabe der gesamten Be-völkerung am demokratischen Prozeß. Ich kann hier nurBundeskanzler Gerhard Schröder
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wiederholen, was ich bereits in der Regierungserklärungim November 1998 gesagt habe:Wir wissen, daß es der Welt nicht gutgehen kann,wenn es wenigen immer besser und vielen immerschlechter geht.– Das, meine Damen und Herren, muß auch die interna-tionalen Beziehungen bestimmen. –Die Überwindung der Kluft zwischen armen undreichen Weltregionen bleibt die größte internatio-nale Herausforderung an der Schwelle zum 21.Jahrhundert.
Wir wollen als Gastgeber des Kölner Gipfels der G 8dafür Sorge tragen, daß Entwicklungs- und Übergangs-länder an den Chancen der Globalisierung teilhaben.Dazu können sie selbst am besten beitragen, indem sieeine verantwortliche Politik betreiben, Rechtsstaatlich-keit und Rechtssicherheit gewähren und fortfahren, ihrewirtschaftlichen Strukturen unter Beachtung der sozialenVerträglichkeit und der ökologischen Nachhaltigkeit zuverbessern. Ihnen bei diesen Anstrengungen wirksam zuhelfen, das ist der Auftrag, den der Kölner Gipfel hat.Meine Damen und Herren, die Globalisierung berührtdie Fundamente unserer Kultur und unseres Zusam-menlebens insgesamt. Es muß also künftig darum gehen,vier gleichrangige strategische Ziele zu verfolgen: wirt-schaftliche Wettbewerbsfähigkeit, soziale Gerechtigkeit,ökologische Nachhaltigkeit und rechtsstaatliche Demo-kratie. Diese vier Ziele bilden nach unserer Auffassungdas magische Viereck der Modernisierung im nächstenJahrhundert, und sie gehören untrennbar zusammen.
Die Globalisierung bedeutet nicht das Ende der staat-lichen Handlungsfähigkeit. Wichtig ist, daß wir unserenationale Politik den Bedingungen der Globalisierunganpassen. Unser außenpolitisches Handeln muß auf in-ternationale Stabilität und die Förderung von Demo-kratie und Menschenrechten gerichtet sein. Wir wol-len überall auf der Welt politisch und wirtschaftlich of-fene Gesellschaftsordnungen. Nur zwischen Staaten, diedemokratisch strukturiert und einem friedlichen Interes-senausgleich verpflichtet sind, können Absprachen ver-einbart werden, die wir gleichsam als Leitplanken zurSteuerung der Globalisierung brauchen.Gerade von den G-8-Staaten wird eine Führungsrollebei der Koordinierung der internationalen politischen,aber auch wirtschaftlichen Zusammenarbeit erwartet.Der Kölner Weltwirtschaftsgipfel wird unter Beweisstellen, daß die G 8 unter deutscher Präsidentschaft ihrerVerantwortung nachkommen: bei der Stabilisierung desinternationalen Finanz- und Währungssystems, bei derpolitischen Gestaltung der Globalisierung und bei derSicherung des Friedens in der Welt.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat jetzt
der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Dr. Wolfgang
Schäuble.
Frau Präsi-dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wirhatten, Herr Bundeskanzler, in den zurückliegendenMonaten vor den Europäischen Räten, also vor demBerliner und dem Kölner Gipfel, nicht das Glück, daßSie vor diesen Gipfeltreffen der Europäischen Uniondem Deutschen Bundestag Rede und Antwort stehenkonnten. Um so mehr begrüßen wir, daß es vor demKölner Gipfel der G-8-Gruppe am kommenden Wo-chenende Ihnen heute möglich war, eine Regierungser-klärung dazu abzugeben. Vieles von dem, was Sie zu derAgenda, zu der Tagesordnung des Kölner Gipfels gesagthaben, findet unsere Zustimmung und ist im wesentli-chen nicht umstritten. Allerdings haben wir manchesvermißt, auf das der deutsche Bundeskanzler heute hätteeingehen müssen.
Wir unterstützen ausdrücklich die Initiativen und dieBemühungen, um für die ärmsten Entwicklungsländerzu einem schnelleren und wirksameren Schuldenerlaßzu kommen. Ich will hinzufügen, daß es BundeskanzlerHelmut Kohl gewesen war, der die Problematik der Ver-schuldung der dritten Welt und der am stärksten ver-schuldeten Länder schon auf dem G-7-Gipfel 1988 inToronto angesprochen hat. Es besteht also eine Gemein-samkeit auch nach dem Wechsel von Regierung undOpposition. Ich will im übrigen als Protestant hinzufü-gen: Es sind nicht nur die katholischen Bischöfe, diesich für dieses Ziel einsetzen, sondern auch die evange-lische Kirche unterstützt dieses Vorhaben nachdrück-lich. Wir sind dankbar für dieses Engagement und unter-stützen es.
Es ist wichtig, daß wir diese Debatte dazu nutzen, un-sere Mitbürgerinnen und Mitbürger immer wieder dar-auf hinzuweisen, den Prozeß der Globalisierung – diesist ein schreckliches Wort; es beschreibt die Tatsache,daß wir viel stärker und viel unmittelbarer von Ent-wicklungen in allen Teilen der Welt berührt werden, sieaber auch beeinflussen, und daß Grenzen weniger tren-nen und Entfernungen schrumpfen – nicht als eine Be-drohung, sondern als eine Chance und Herausforderungzugleich für Deutschland und für Europa zu verstehen.So müssen wir den Prozeß gestalten.
Aber natürlich ist es genauso wichtig, daß wir uns mitdem Ziel auseinandersetzen – dies ist schwierig –, diePrinzipien der sozialen Marktwirtschaft nicht nur na-tional und in Europa, sondern schrittweise auch in diesereinen Welt zu verwirklichen. Unser Ziel ist eine globaleund soziale Marktwirtschaft.
Die Globalisierung darf nicht dazu führen und darfvon niemandem dazu mißbraucht werden, daß dieBundeskanzler Gerhard Schröder
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grundlegenden Errungenschaften der sozialen Markt-wirtschaft – dies sind neben wirtschaftlicher Effizienzsozialer Ausgleich und soziale Gerechtigkeit, Chancen-gleichheit und Vorsorge für die Schwächeren – verlo-rengehen. Manche meinen nämlich, sie könnten dieGlobalisierung nutzen, um sich aus ihrer sozialen Ver-antwortung davonzuschleichen. Dieser Punkt muß deut-lich herausgestellt werden.
Natürlich bleibt die Frage, wie wir dieses Ziel errei-chen können. Wir haben nicht mehr das Glück, durchnationale Gesetzgebung und nationale Politik den Rah-men für die soziale Marktwirtschaft gestalten zu können,wie das zu Zeiten von Ludwig Erhard der Fall war.Deswegen brauchen wir mehr internationale Kooperati-on. All die Bemühungen sind richtig und notwendig,dies mit Hilfe der Welthandelsorganisation, der G-7-oder der G-8-Länder und einer stärkeren Krisenpräven-tion an den internationalen Finanzmärkten zu erreichen,indem die internationale Bankenaufsicht effizienter ge-staltet wird und indem die Rolle des IWF, die Finanzkri-sen an den Finanzmärkten zu verhindern und zu be-kämpfen, gestärkt wird. Ich will hinzufügen: Der wich-tigste und konkreteste Beitrag, um unsere Vorstellungenvon wirtschaftlicher Effizienz und sozialer Gerechtigkeitin dieser Welt zu verwirklichen, ist, Fortschritte in dereuropäischen Integration zu erreichen. Auch dieserPunkt muß im Kontext der Globalisierung genannt wer-den.
Soziale Marktwirtschaft sichert soziale Gerechtigkeitdurch Wettbewerb, durch Chancengleichheit, durchVorsorge für die Schwächeren und durch sozialen Aus-gleich. Deswegen muß eine Vorsorge auf institutionel-lem Gebiet getroffen werden. Aber Chancengleichheitund Wettbewerb gehören dazu.Herr Bundeskanzler, in Ihrer Regierungserklärung –jedenfalls im vorab verbreiteten Pressetext – steht derSatz, den ich ausdrücklich unterstreichen will: Die Glo-balisierung begrenzt nationale Handlungsspielräume.Aber sie tut dies asymmetrisch, indem sie schlechtePolitik bestraft und gute Politik belohnt. Davon spürenwir zur Zeit etwas in Deutschland: Ihre schlechte Politikwird bestraft.
Im übrigen darf die Globalisierung – ebenso wie dieeuropäische Einigung oder das Kosovo – nicht zur Aus-rede oder zum Fluchtweg für die innen-, wirtschafts-und sozialpolitischen Probleme in diesem Lande wer-den. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.Sie haben am vergangenen Sonntag abend gesagt, Siehätten verstanden. Sie haben dazugesagt, Sie müßtenjetzt auch die Wirtschaftspolitik richtig machen. Damithaben Sie eingeräumt, daß Sie sie bisher falsch gemachthaben. Darin ist Ihnen zuzustimmen.
Aber Sie werden die Probleme weder in Europa nochin der einen globalisierten Welt gut lösen, wenn nichtdas Prinzip besteht – das heißt Wettbewerb und Chan-cengleichheit eben auch –, daß jeder zunächst einmal zuHause eine vernünftige, richtige und erfolgreiche Politikmacht. Das ist das Problem.
Die Schwäche im Wechselkurs der europäischen Wäh-rung ist ein Symptom dafür, daß die Mängel in der deut-schen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik der zurück-liegenden acht Monate Europa insgesamt schwächen.
– Aber natürlich ist es so. Da hilft das ganze Gerede voneuropäischen Regelungen, von Globalisierung und allden unverbindlichen Vorhaben nicht. Daß man auf demKölner Gipfel über neue Medien redet, ist sehr zu be-grüßen. Aber Sie sollten sich einmal damit beschäftigen,daß der „Economist“, immerhin die angesehenste Wirt-schaftszeitung im englischsprachigen Raum, in der ver-gangenen Woche geschrieben hat: The sick man of theEuro. Er hat Sie gemeint; er hat die deutsche Regierunggemeint, die schlechte Politik der BundesrepublikDeutschland. Wir stehen beim Wachstum im Vergleichzu allen anderen europäischen Ländern am Ende der Ta-belle. Das ist die entscheidende Ursache dafür, daß derEuro auf den Finanzmärkten der Welt schwächer einge-schätzt wird, als wir es alle miteinander wünschen.
Wenn wir uns die Entwicklung am Arbeitsmarkt an-schauen, so ist festzustellen: Natürlich muß man welt-weit für mehr Beschäftigung sorgen, auch in Europa.Aber wir müssen vor allem auch für mehr Beschäftigungin Deutschland sorgen.
– Ich weiß, daß Sie das nicht gerne hören. Wer soschamlos die eigenen Wahlversprechen gebrochen hat,wie Sie von SPD und Grünen es getan haben, der willdaran natürlich nicht erinnert werden.
Das kann ich Ihnen nicht ersparen.
Sie haben noch in der letzten Debatte von diesem Pultaus gesagt, im März sei die Arbeitslosenzahl um400 000 niedriger gewesen als vor einem Jahr. Ich habeSie daran erinnert: Das war das Ergebnis der Politik derVorgängerregierung; denn im vergangenen Jahr ist dieZahl der Arbeitslosen saisonbereinigt um 400 000 zu-rückgegangen. Seit Oktober, seit Ihrem Amtsantritt sta-gniert sie. Im April und im Mai ist die Arbeitslosigkeitin Deutschland saisonbereinigt wieder gestiegen. Das istdie Wahrheit. Sie darf nicht verschwiegen werden.
Dr. Wolfgang Schäuble
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3612 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999
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Die Rezepte Ihrer Politik taugen nichts. Eigentlichhaben wir damit gerechnet, daß Sie heute noch einmalan Ihre gemeinsam mit dem britischen PremierministerTony Blair verfaßte Veröffentlichung erinnern. LetzteWoche war es noch eine ungeheure Medieninszenie-rung, sogar in englischsprachigen Zeitungen, und einAppell an Sie selber, an die sozialdemokratischen Re-gierungschefs. Wir wissen nicht mehr genau, was eswar: War es ein Regierungsdokument? Es war immervon den beiden Regierungen die Rede. Herr Trittin hatallerdings gesagt, das sei überhaupt kein auch nur alsGesprächsgrundlage geeignetes Papier. Sie haben einemerkwürdige Regierung.Im übrigen fällt mir bei Trittin eines ein – auch das istmerkwürdig bei Ihrer Regierung –: Sie reden zur Zeitfurchtbar viel von Globalisierung, von europäischen Lö-sungsansätzen usw., und zwar immer in den Bereichen,in denen Sie national versagen. Aber dort, wo europäi-sches Handeln geboten wäre, zum Beispiel in der Ener-giepolitik, machen Sie nationale Alleingänge und zer-stören jede Zusammenarbeit in Europa.
Jetzt würgen Sie sich in Ihrer Koalition wegen derKredite an die Ukraine. Man kann Sie fast schon bemit-leiden. Sie haben heute kein Wort dazu gesagt, und dashabe ich auch verstanden. Ich will es Ihnen ebenfalls er-sparen. Ich sage Ihnen nur: Eine Energiepolitik, die glo-balen Maßstäben und Herausforderungen gerecht wer-den will, muß global gedacht werden. Die friedlicheNutzung der Kernenergie wird weltweit nicht sicherer,wenn Deutschland nach der Methode von Trittin im na-tionalen Alleingang aussteigt. Sie können Energiebe-steuerung in Europa nicht sinnvoll betreiben, wenn Sienationale Alleingänge machen, sondern Sie müssen sieeuropäisch koordinieren. Da hat Ihre Präsidentschaft indiesem Halbjahr übrigens kläglich versagt. Auch dasgehört zu der mangelhaften Bilanz Ihrer Präsidentschaft.
Offenbar wollen Sie inzwischen nicht mehr an Ihreigenes Papier von letzter Woche erinnert werden; abervielleicht ist es nächste Woche auch wieder anders. Daswechselt ein bißchen, je nachdem, welcher Medienbe-rater bei der Vorbereitung der nächsten Inszenierung ge-rade die Dominanz gewonnen hat.
Eines ist klar: Dieses Papier ist, wenn man es ernstnimmt, eine vernichtende Kritik an der Politik, die dieRegierung Schröder seit ihrem Amtsantritt in Deutsch-land betrieben hat. Daran besteht kein Zweifel.
Das eigentliche Dilemma ist: Sie haben den Menschenvor der Wahl versprochen – das war der Grund, warumSie gewählt worden sind, und wir haben kein richtigesGegenmittel gefunden –, daß man die Modernisierung,die notwendig ist – dafür stehen Sie jetzt auch, das ist IhrImage, und das betonen auch wir immer –, ohne Anstren-gung schaffen kann, daß es ein bißchen weniger kostetund ein bißchen bequemer, leichter, einfacher, „easygoing“ ist. So war die Botschaft der Modernisierung. Nunsind Sie gewählt worden, und jetzt ist alles, was Sie ver-sprochen haben, ins Gegenteil verkehrt, und Sie sind derGefangene Ihrer eigenen, nicht erfüllbaren Wahlverspre-chen.
Vergangene Woche haben Sie versucht, das Gegen-teil von dem zu verkünden, was Sie bisher gemacht ha-ben. Sie haben jetzt wohl so viel Ärger im eigenen La-den, daß Sie das Ganze aufgeben. Im übrigen will ichIhnen sagen: Es fehlt jegliches Konzept. Damit auch dasklar ist – auch wenn mancher das in diesem Hause an-ders sehen mag –: Das, was in diesem Papier formuliertist, sind nicht die Prinzipien der sozialen Marktwirt-schaft, wie CDU und CSU sie verstehen. Was Sie da mitHerrn Blair veröffentlicht haben, klingt mir mehr nachShareholder Value. Wir sind mehr für Arbeit für alleund soziale Gerechtigkeit.
– Es ist so; Sie können das drehen und wenden, wie Siewollen.Ich wollte Ihnen das eigentlich ersparen, aber ich sa-ge den Satz jetzt trotzdem: Jede Regierung läuft Gefahr,daß sie, weil Entscheidungen immer schwierig sind, imLaufe einer langen Regierungszeit das Vertrauen derMenschen manchmal ein Stück weit verliert. Aber in sokurzer Zeit hat noch niemals eine Regierung so grausamdas ihr gewährte Vertrauen verspielt und verloren, wieSie das in diesen wenigen Wochen gemacht haben.
Die Ergebnisse Ihrer Politik sind ein Schlag ins Ge-sicht der kleinen Leute. Das ist das eigentliche Elend inDeutschland.
Mehr Arbeitslosigkeit, weniger Wachstum, höhere Ben-zin- und Strompreise, Hunderttausende von Jobs fürkleine Leute durch die Regelungen der 630-Mark-Jobsund der Scheinselbständigkeit weggefallen. Das ist einePolitik gegen die kleinen Leute.
Herr Bundeskanzler Schröder, man konnte es heutespüren, und man kann fast Mitleid mit Ihnen haben, ob-wohl Sie eigentlich ungeeignet sind, solche Gefühle all-zu stark auszulösen. Ich gebe Ihnen den Rat: Seien Sievorsichtig. Sie sind gewählt worden, Sie sind von IhrerPartei auf den Schild gehoben worden wegen der Fähig-keit, Wahlen zu gewinnen. Das war der einzige Grund,warum Ihre Partei Sie auf den Schild gehoben hat.
Im Augenblick ist diese Fähigkeit beeinträchtigt. Siestehen da wie der Kaiser in seinen neuen Kleidern, undwenn man genau hinschaut, stellt man fest, daß nichtsmehr dran ist.
Dr. Wolfgang Schäuble
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Ich will Ihnen in der gebotenen Kürze sagen, wie wirnach Vorstellung der CDU/CSU die Probleme lösenkönnen. Vielleicht hilft das auch noch ein wenig beimG-8-Gipfel. Das entscheidende Ziel in Deutschland, dieentscheidende Herausforderung unter sozialen Gesichts-punkten ist, mehr Beschäftigung, Arbeit für alle zuschaffen. Die soziale Frage, die sich am Ende diesesJahrhunderts in den Wohlstandsgesellschaften West-und Mitteleuropas und der nördlichen Hemisphäre stellt,ist die Frage der Beteiligung aller Menschen, so daß sichnicht Millionen ausgegrenzt fühlen – unabhängig vonder Frage, ob und wie sie materiell versorgt sind –, weilsie meinen, daß sie nicht gebraucht werden. Das ist dieeigentliche soziale Herausforderung. Deswegen bleibtArbeit für alle und mehr Beschäftigung die große Auf-gabe deutscher, europäischer und weltweiter Politik.
Wenn Sie sich den internationalen Vergleich ein we-nig genauer anschauen – daran scheitert übrigens IhrPapier mit Herrn Blair –, dann werden Sie finden, daßdas eigentliche Problem, warum wir in Deutschland imVergleich zu anderen westlichen Ländern, die mehr Be-schäftigung haben, so viel Arbeitslosigkeit haben, darinliegt, daß wir im Bereich der Dienstleistungen – undzwar bei Dienstleistungen aller Art, hochqualifiziertenwie sehr einfachen – ein deutliches Defizit haben. Wennwir im Dienstleistungsbereich eine Beschäftigungsquotehätten, die der anderer westlicher Länder vergleichbarwäre, hätten wir das Arbeitsmarktproblem in Deutsch-land im wesentlichen gelöst.
– Der Bundeskanzler fragt gerade, ob die Lücke in denletzten acht Monaten entstanden ist. Ich will Sie undauch die Zuhörer und Zuschauer in Deutschland an fol-gendes erinnern.
– Ich antworte auf eine Zwischenfrage des Bundes-kanzlers von der Regierungsbank. Das werden Sie mirerlauben; Sie werden mich jedenfalls nicht daran hin-dern. – Ich sage Ihnen, was in den letzten acht Monatenentstanden ist – noch einmal, als Wiederholung. Wir ha-ben schwierige Probleme; die haben Sie nicht alle verur-sacht. Ich habe Ihnen ja in vielen Fragen zur Globalisie-rung und zu den europäischen Problemen auch zuge-stimmt. Wir wollen ja nicht behaupten, Sie hätten alleProbleme dieser Welt verursacht.
So wichtig sind Sie auch wieder nicht.Der Punkt ist doch ein anderer: Wir waren aufeinem guten Weg. Wir haben im vergangenen Jahr sai-sonbereinigt einen Rückgang der Arbeitslosigkeit um400 000 gehabt. Wir hatten Überschüsse im Bundes-haushalt. Wir hätten eine Steuerentlastung in einerGrößenordnung – –
– Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich finde, wer ineiner solch unglaublichen Weise die kleinen Leute inunserem Lande mit den eigenen Wahlversprechen be-trogen hat, der sollte hier nicht lachen, sondern der solltein sich gehen und sich schämen.
Die Deutsche Bundesbank und die finanz- und wirt-schaftswissenschaftlichen Institute – ich kann es Ihnenvorlesen, wenn Sie wollen; ich habe die Zitate dabei –haben noch im Oktober gesagt: Wir haben für denHaushalt 1999 einen Steuersenkungsspielraum von netto15 bis 20 Milliarden DM. So der Sachverständigenrat imOktober,
und so stand es im Gemeinschaftsgutachten der wirt-schaftswissenschaftlichen Institute. Diesen Spielraumhaben Sie verwirtschaftet.Wir hatten beim Wachstum für das Jahr 1999 einePerspektive von 2,8 bis 3 Prozent; jetzt haben wir im er-sten Quartal 0,7 Prozent. Sagen Sie jetzt nicht, das seidie Folge von Rußland oder Brasilien. Wir sind am Ta-bellenende in Europa, und die Schuldigen sitzen hier aufder Regierungsbank, nirgends sonst.
Wenn wir mehr Arbeitsplätze bei Dienstleistungenaller Art brauchen, dann brauchen wir mehr Existenz-gründer, dann brauchen wir mehr Selbständige, dannbrauchen wir eine Stärkung von Handwerk, Handel undMittelstand. Für eine solche Entwicklung ist es Unfug,was Sie mit den Gesetzen zur Bekämpfung der Schein-selbständigkeit, hinsichtlich der 630-Mark-Arbeits-plätze, des Kündigungsschutzes, der Neuregelung desSchlechtwettergeldes anrichten: immer noch mehr Re-gulierung, noch mehr Bürokratie, weniger Flexibilisie-rung. Das ist Gift, wenn es darum geht, mehr Arbeits-plätze in Deutschland zu schaffen.
Der Herr Riester – er ist nicht da – kann einem fastleid tun. Jeden Tag wird zur Verunsicherung der Rentnereine neue Sau durchs Dorf getrieben. Wir warten hier imBundestag zwei Stunden, bis er hier ist, dann ergreift erdas Wort – und sagt nichts. In Wahrheit ist es ein Skan-dal ohnegleichen, daß Sie die demographische Kompo-nente in der Rentenformel zurückgenommen haben. Siemachen jetzt Rente nach Kassenlage.
Die Gesundheitspolitik ist weiß Gott ein schwierigesFeld. Alles das, was von vielen Menschen als lästigempfunden worden ist, sollte zurückgenommen werden.Die Verheißung war, es gehe alles ein bißchen billigerDr. Wolfgang Schäuble
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– zum Nulltarif! –, aber jetzt schlägt man mit einem bü-rokratischen Dirigismus ohnegleichen einen Weg ein,der dazu führt, daß die Gesundheitsleistungen rationiertwerden. So hat doch niemand in Deutschland gewettet.Das ist das Gegenteil von dem, was die Menschen er-warten, und das ist das Gegenteil von dem, was wirbrauchen, wenn wir mehr Beschäftigung wollen.
Sie erhöhen die Steuern für Wirtschaft und Mittel-stand; von Steuersenkung ist schon gar keine Redemehr. Ich höre es jetzt schon wieder: Es wird noch ein-mal die Debatte geben mit der Verheißung, daß irgend-wann – es war schon alles versprochen –, im Jahre 2070,doch noch die Steuern für den Mittelstand gesenkt wer-den.
Wir werden es ja am 30. Juni erleben und es alsbald indiesem Hause debattieren: Alles, was Sie vorschlagen,läuft im Ergebnis auf höhere Belastungen von Wirt-schaft, Mittelstand, Handwerk, Handel hinaus und wirdzu weniger Arbeitsplätzen führen und nicht zu mehr.
Sie werden die Sozialversicherungsbeiträge trotzder Benzinpreiserhöhung nicht senken können. Sie wer-den steigen; das sagen Ihnen die Rentenversicherungs-träger ebenso voraus wie die, die sich im Gesundheits-wesen auskennen.
Deshalb: Ihre Politik führt genau in die falsche Rich-tung. Das, was Sie jetzt vorhaben, macht es nicht besser.Sie müssen die Investitionen stärken, die öffentlichenwie die privaten. Ich habe ja vor einiger Zeit einmal ge-fragt, wer in Deutschland eigentlich für den Straßenbauzuständig sei. Herr Müntefering versteckt sich hinter desKanzlers neuen Kleidern. Hinter dem Kosovo kann maninzwischen alles verschwinden lassen. Wenn Sie die In-vestitionen im Bundeshaushalt weiter zurückfahren,werden wir nicht mehr Wachstum, sondern mehr Ar-beitslosigkeit bekommen. Und was muten Sie den neuenLändern zu? Die Ankündigung, der Aufbau Ost sei„Chefsache“, kann – ich habe es schon früher gesagt –nur eine Bedrohung sein. So ist es für die Menschen inden neuen Ländern geworden.
Natürlich müssen Bildung und Ausbildung gestärktwerden. Aber dann müssen wir Wettbewerb zulassen.Verehrter Herr Parteivorsitzender, Kollege Schröder, ichwill Ihnen noch einmal sagen: Eine bessere Bildungs-politik – eine Verbesserung von Schule, Hochschule, be-ruflicher Bildung – in Deutschland wird sich nicht durchnoch so tiefschürfende Gespräche auf dem Kölner Gip-fel der G-8-Staaten erreichen lassen. Vielmehr müssendie für die Bildungspolitik Verantwortlichen in allenLändern – ganz gleich, ob es sich um CDU-, CSU-,SPD-, rotgrün- oder SPD/PDS-regierte Länder handelt –übereinkommen: Mehr anstrengen, mehr Leistung, mehrInnovation, mehr fordern von den jungen Leuten – dasist die Voraussetzung für die Zukunft, und genau da ver-sagt die sozialdemokratische Bildungspolitik.
Deswegen wollen wir auch auf diesem Feld mehrWettbewerb zwischen den Bundesländern. Daher ap-pelliere ich an Sie als Parteivorsitzender: Schreiben Sienicht nur mit Tony Blair in die englischen Papiere„Benchmarking“ hinein, sondern sorgen Sie dafür, daßdie sozialdemokratisch regierten Bundesländer in derKultusministerkonferenz die Blockade aufgeben, dieCDU- und CSU-regierte Länder daran hindert, in Schuleund Hochschule für mehr Effizienz zu sorgen. Sie blok-kieren doch jede stärkere Innovation im Bildungssystem.
Auch das will ich Ihnen dann noch sagen: GlaubenSie nicht, daß Sie das Problem ohne die jungen Men-schen lösen können! Glauben Sie nicht, daß Sie das Pro-blem lösen können, indem Sie den jungen Menscheneinreden: Ihr seid in großen Schwierigkeiten, und derStaat ist schuld. – Lassen Sie uns den jungen Menschenvielmehr sagen: Ihr habt Chancen, aber ihr müßt euchauch anstrengen. Ihr werdet gebraucht, ihr werdet geför-dert, aber ihr werdet auch gefordert.Vor einiger Zeit haben Sie mir die Kritik an dem2-Milliarden-Sonderprogramm zur angeblichen Be-kämpfung von Jugendarbeitslosigkeit sehr übelge-nommen. Sie feiern es immer noch; offenbar haben Siesonst nichts.Ich habe eine Kopie eines Beitrags aus dem „Stern“– Herr Bundeskanzler außer Dienst, verzeihen Sie mir;aber Ihr Nachfolger liest gern den „Stern“ und ist darinimmer schön abgebildet – von Anfang Juni:Neue Stellen hat es jedoch – anders als es der groß-spurige Titel „100 000 Jobs für Junge“ suggeriert –kaum gegeben: Die meisten Teilnehmer wurden inöffentlich finanzierten Trainingsprogrammen, Um-schulungskursen und ABM-Projekten geparkt. Nur3 100 Jugendliche konnten bisher auf einen Ar-beitsplatz in der freien Wirtschaft vermittelt wer-den, gerade mal 935 erhielten einen Ausbildungs-platz.Das ist der Erfolg des 2-Milliarden-DM-Programms.Mit so viel Geld ist selten weniger Ergebnis für die jun-gen Menschen erzielt worden. Das ist genau der falscheWeg.
Sie messen Erfolg von Politik an der Höhe der Aus-gaben. Das ist falsch. Natürlich geben Sie viel Geld aus,darin sind Sie Weltmeister. Sie haben die Ausgaben imBundeshaushalt 1999 – Herr Eichel redet zwar von Spa-ren, Sparen – entgegen unserer Politik um über 6 Pro-zent gesteigert. Das sind die 30 Milliarden DM, die Sieim nächsten Jahr einsparen wollen. Hätten Sie die Aus-gaben dieses Jahr nicht um 30 Milliarden DM erhöht,bräuchten Sie sich gar nicht so viel Mühe zu geben.Vielleicht bekämen Sie in den nächsten Sitzungen derDr. Wolfgang Schäuble
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SPD-Fraktion sogar mehr Beifall, als Sie heute von derSPD-Fraktion im Plenum bekommen haben. Wie auchimmer.
Wir streiten darüber, was der richtige Weg für mehrWachstum, für mehr Wohlstand und mehr sozialeSicherheit in Deutschland und in Europa ist. Wir stellenuns unserer europäischen wie auch unserer internatio-nalen Verantwortung. Ihre Regierung hat sich in denschwierigen Zeiten, insbesondere was den Kosovo be-trifft, mehr auf die Unterstützung der Opposition als aufdie Unterstützung aus den eigenen Reihen verlassenkönnen. Auch das muß gesagt werden. Das ist dieWahrheit, und die gefällt Ihnen nicht.
Deswegen sage ich Ihnen nach dem Ergebnis desvergangenen Sonntags, das für uns nicht Anlaß zu gro-ßen Triumphen, aber Bestätigung unserer Arbeit ist, inaller Ruhe: Wir stellen uns auf allen Ebenen – in derKommunal- und der Landespolitik sowie im DeutschenBundestag – dem Wettbewerb. Wir stellen uns ebensounserer Verantwortung.Ich weiß es – deshalb ist meine Schadenfreude be-grenzt –, und Sie erfahren es in dieser Zeit: Der Wider-stand gegen Veränderungen ist in unserer gesellschaftli-chen Wirklichkeit ungeheuer groß. Aber Innovationenbleiben um unserer Zukunft willen notwendig. Deswe-gen muß man es richtig machen, dann gewinnt man auchdie Bevölkerung dafür. Dabei haben Sie schwere Fehlergemacht.Was mich am meisten an den Folgen Ihrer Politikstört, ist, daß Sie, wie Sie es beispielsweise bei den 630-DM-Jobs getan haben, die Bereitschaft zu Reformen inunserer Bevölkerung geradezu systematisch kaputtma-chen. Das ist das Schlimmste für die Zukunftsfähigkeitunseres Landes.
Wer verändern will, braucht Substanz, braucht eineGrundlage, Werte und Nähe. Er braucht die Nähe zu denMenschen, damit er die Menschen mitnehmen kann. Ichsage noch einmal das, was ich bereits am Anfang gesagthabe: Die Globalisierung ist kein Grund für die Men-schen, Angst vor der Zukunft zu haben. Die Globalisie-rung ist vielmehr eine Chance. Wir können die Zukunftfür uns und für die Ärmeren auf dieser Welt gestalten.Die Möglichkeiten, in Europa und auf allen Konti-nenten der Welt unserer Verantwortung gerecht zu wer-den und an der Schaffung einer besseren Zukunft mit-zuwirken, sind größer als jemals zuvor in der Geschich-te. Die Zukunft ist offen, und die Globalisierung ist eineChance. Wir können einen Beitrag zur Lösung der Pro-bleme dieser einen Welt leisten. Wir können unserenBeitrag für eine bessere Zukunft für uns und unsereKinder leisten. Die Chancen für unser Land sind groß,aber eine bessere Politik und eine bessere Regierung wä-ren dafür nicht schlecht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Ernst Schwanhold.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Herr Dr. Schäublehat sich nur in wenigen Passagen seiner Rede mit dembevorstehenden Gipfel in Köln auseinandergesetzt. Indiesen wenigen Passagen hat er der Bundesregierung inihren Verhandlungszielen ausdrücklich recht gegeben.Das werden auch die Koalitionsfraktionen, besondersdie sozialdemokratische Bundestagsfraktion, machen.Sie werden den Bundeskanzler und die Bundesregierungin der Umsetzung ihrer Ziele auf dem Kölner Gipfelunterstützen. Insoweit gibt es Übereinstimmung. Dafürsind wir dankbar.
Ansonsten haben Sie, Herr Schäuble, bemerkenswertwenig zu den sich andeutenden Ergebnissen von Kölngesagt; vielmehr haben Sie sich ausschließlich mit denErgebnissen Ihrer Politik auseinandergesetzt. Dazumöchte ich schon ein paar Anmerkungen machen. Siehaben von dem Ziel „Arbeit für alle“ gesprochen. DieErgebnisse Ihrer Politik, Herr Dr. Schäuble, bestandendarin, daß im Januar des Jahres 1998 fast 400 000 Men-schen mehr von Arbeitslosigkeit betroffen waren als imJanuar 1999. Im Februar des Jahres 1998 gab es 360 000Arbeitslose mehr als im Februar 1999. Im Mai 1998 wa-ren immerhin noch über 200 000 Menschen mehr ar-beitslos als im gleichen Monat des Jahres 1999. Dies istein deutlicher Erfolg auch der Politik dieser Regierung.Die hohe Arbeitslosigkeit ist der Mißerfolg Ihrer Politikin der Vergangenheit.
Man kann Ihnen nur zu Ihrem kurzen Gedächtnisgratulieren, weil Sie offenbar die Ergebnisse Ihrer16jährigen Regierungsarbeit vergessen haben. Sie redenhier von einem Überschuß im Haushalt. Tatsächlich ha-ben Sie einen Schuldenberg von 1,5 Billionen DMhinterlassen. Für die Tilgung der Zinsen müssen jedesJahr 82 Milliarden DM aufgewendet werden.
Sie haben in Ihrer Rede die Nettoneuverschuldungüberhaupt nicht angesprochen, die in der Vergangenheitimmer weiter gestiegen ist, und zwar auch noch 1998,genauso wie sie im Jahr 1999 nach Ihren Planungen ge-stiegen wäre. Es gab noch keinen Finanzminister, der30 Milliarden DM in einem Haushalt eingespart hat, sowie es im Sparpaket des jetzigen Finanzministers, dasDr. Wolfgang Schäuble
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am 30. Juni dieses Jahres verkündet wird, vorgesehenist.
Wir räumen also den Schutt Ihrer Arbeit weg. ZuIhrem Schutt sollten Sie sich bekennen, oder Sie sollten– wenn Sie sich nicht mehr daran erinnern können –wenigstens eingestehen, ein schlechtes Gedächtnis zuhaben.
– Natürlich nehme ich das nicht zurück. Das ist derSchutt auch Ihrer Arbeit, Herr Waigel.Jeder fünfte Arbeitsplatz in Deutschland hängt vomExport ab. In der Industrie ist es sogar jeder vierteArbeitsplatz. Unsere internationalen Wirtschaftsbezie-hungen machen uns zur zweitgrößten Handelsnation.Deutschland ist tief in weltwirtschaftliche Verflechtun-gen eingebunden. Die Bundesrepublik Deutschland mußalles unternehmen, um diese Position zu halten. Nurwenn uns das gelingt, können wir das hohe Lohnniveauund den guten Sozialstandard erhalten. Darauf richtetsich die Politik der SPD-geführten Koalition.Das, was für unsere Unternehmen gegenwärtig zu ei-ner Selbstverständlichkeit geworden ist, wird für dieBürger erst langsam, aber immer stärker erfahrbar, sei esals Fernreisender, oder sei es, weil man inzwischen Mu-sik aus den USA im Internet bestellen kann, oder sei es,weil ein in Norddeutschland produziertes Auto einenausländischen Wertschöpfungsanteil von über 40 Pro-zent hat.Im Zeichen der Globalisierung orientieren sich durchdie gewachsene internationale Mobilität die Produk-tionsfaktoren Kapital, Wissen und auch Arbeit hin zuden Standorten mit den attraktivsten Produktionsbedin-gungen. Fest steht, daß der technologische Fortschrittzum Beispiel durch die neuen Informations- und Kom-munikationstechnologien die internationale Arbeitstei-lung und die Produktionszyklen erheblich beschleunigt.Fest steht, daß mit der Einführung des Euro im großenWirtschaftsraum der Europäischen Gemeinschaft eineTransparenz bezüglich Waren und Dienstleistungen ent-standen ist, von der wir alle profitieren können. UnsereAntwort darauf kann nicht Protektionismus sein.Die zweite Seite der Medaille „Globalisierung“ be-deutet, globale Entscheidungen müssen durch regionaleEntscheidungen ergänzt werden. Genau darin bestehendie Arbeit und das Ziel dieser Bundesregierung.
Wenn wir zurückschauen, stellen wir fest, daßDeutschland immer vom internationalen Leistungsaus-tausch profitiert hat. Wenn wir nach vorne schauen,stellen wir fest, daß eine offene deutsche Volkswirt-schaft alle Chancen hat, zugunsten ihrer Bürger und ih-rer Unternehmen vom globalen Austausch zu profitie-ren.Globalisierung ist aber von Ihnen als Drohkulisse be-nutzt und zum Argument dafür gemacht worden, warumsoziale Leistungen gekürzt werden müssen und warumArbeitsplätze wegrationalisiert werden, statt daß Sie inder Vergangenheit bereits die Chancen der Globalisie-rung in den Vordergrund gestellt hätten. Daß Sie hiernichts unternommen haben, war Ihr Fehler. Warum ha-ben denn kleine und mittlere Unternehmen Angst vorder Globalisierung? Warum empfinden sie sie als etwasNegatives? Ich gebe Ihnen die Antwort: weil der Re-formstau der letzten 16 Jahre unter dem Kanzler Kohlund der letzten fünf F.D.P.-Wirtschaftsminister ihnenvermittelt hat, daß sich die Politik nicht darum bemüht,ihnen im nationalen Maßstab jene Chancen zu eröffnen,die sie dringend benötigen. Das ist jetzt anders gewor-den – dies wurde von Ihnen auch ausdrücklich bestä-tigt –; dies zeigen die Ziele des Kölner Gipfels.
Anstatt eines engagierten Anpackens der Zukunfts-aufgaben haben Sie die Globalisierung als Begründungfür Sozialabbau und Untätigkeit herangezogen. Nur inoffenen Volkswirtschaften kann von der Globalisierungprofitiert werden. Nur wer sich an der internationalenArbeitsteilung beteiligt, kann von ihrem Wohlfahrtsge-winn profitieren. Das heißt, Deutschland muß die Stär-ken mehr als bisher in den Vordergrund stellen und sieweiterentwickeln.Dabei bestanden und bestehen Handlungsspielräume.Diese Regierung, unterstützt von den sie tragendenFraktionen des Deutschen Bundestages, wird sie nutzen.Ich möchte Ihnen dazu einige Stichworte nennen, dieübrigens gar nicht so neu sind.Das Wissen der Menschen ist die entscheidende Vor-aussetzung für den Erfolg unserer Produkte und Dienst-leistungen auf dem Weltmarkt. Wir müssen besser alsunsere Wettbewerber sein. Wachstumslücken durch Per-sonalmangel darf es bei 4 Millionen Arbeitslosen nichtgeben. Nicht zuletzt deswegen spielt Bildung auch imBündnis für Arbeit eine so wesentliche Rolle. Ich freuemich daher besonders, daß es gelungen ist, im Rahmendes Bündnisses für Arbeit zwischen Regierung und So-zialpartnern eine Verdreifachung der Ausbildungsplätzein der Informations- und Kommunikationstechnologiezu verabreden. Ich freue mich, daß die Zahl der Ausbil-dungsplätze gestiegen ist und die Zahl der jungen Men-schen, die arbeitslos sind oder keinen Ausbildungsplatzbekommen haben, deutlich zurückgegangen ist.
Die neue Bundesregierung hat bereits heute der Bil-dungs-, Forschungs- und Technologiepolitik in Deutsch-land einen herausragenden Stellenwert gegeben. ImHaushalt 1999 sind die Zukunftsinvestitionen deutlichverstärkt
und die Strukturen in den Ministerien für eine effizienteForschungsförderung entschieden verbessert worden.Das ist anders als in der Vergangenheit.Ernst Schwanhold
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Deutschland verfügt nach wie vor über eine exzel-lente Infrastruktur. Auch hier haben wir das Potential,uns künftig stärker in die internationale Arbeitsteilungeinzubringen: durch intelligente Verkehrslösungen, dieauch umweltverträglich sind, durch überzeugende Kon-zepte dezentraler Energieversorgung, durch leistungsfä-hige Telekommunikationsnetze, um die uns der Rest derWelt beneidet. Zur Infrastruktur im weitesten Sinne ge-hört auch, durch ein viertes Finanzmarktförderungsge-setz den Finanzplatz Bundesrepublik Deutschland nachvorne zu bringen. Dort haben wir auch für den Arbeits-markt Chancen, die wir zukünftig nutzen müssen. Vondort muß der Kapitalzufluß für die Investitionen in derBundesrepublik Deutschland kommen.Zu unseren Aufgaben gehört es, über eine entspre-chende Steuerpolitik die Investitionskraft der Unterneh-men – auch der ausländischen Unternehmen – in derBundesrepublik Deutschland zu stärken. Dies wird ge-schehen; aber wir werden keinen Wettlauf hinsichtlichder Infrastruktur sowie der Löhne und Sozialstandardsum einen Billigstandort gewinnen. Deswegen werdenwir uns in diesen Wettlauf nicht hineinbegeben, sonderndie Angebotsbedingungen für zusätzliche Arbeitsplätzeund zusätzliche Investitionen bei uns verbessern.
In diesem Zusammenhang mache ich darauf aufmerk-sam, daß unsere sozialen Sicherungssysteme auch imZeichen der Globalisierung kein Luxus, sondern ent-scheidende Nebenbedingung sind, um die deutschenStärken entfalten zu können. Niemand will sie durcheinen Kahlschlag bei den sozialen Leistungen ablösen.Wenn Sie uns in diesem Bemühen unterstützen, sind wirdafür ausgesprochen dankbar. In der Vergangenheit je-doch war nicht zu erkennen, daß Sie dasselbe Ziel wiewir verfolgen.
Die aktuelle weltwirtschaftliche Lage ist derzeitdurch Verlangsamung des Wirtschaftswachstums insge-samt gekennzeichnet. Wir haben noch Risikofaktoren inunterschiedlichen Regionen. Einen besonderen Risiko-faktor stellt der transatlantische Handel, der Handel zwi-schen Europa und Amerika, dar. Dort gibt es erheblicheProbleme und Irritationen, die dringend beseitigt werdenmüssen. Ich nenne die Auseinandersetzung um die Ba-nanen genauso wie die um Hormonrindfleisch. Die deut-sche Bundesregierung ist sehr darum bemüht, dieseIrritationen zu beseitigen, denn Störungen des Handelszwischen Amerika und der EU, den beiden Stabilitäts-ankern, können wir uns zum gegenwärtigen Zeitpunktnicht erlauben. Wir müssen alles daransetzen, diese zuvermeiden.
Die Globalisierung erhöht wesentlich die wirtschaft-lichen Interdependenzen, was einerseits potentielle Ge-fahren für das gegenseitige Herabziehen in Abwärtsstru-del beinhaltet, andererseits aber auch große Chancenbietet, durch globale wirtschaftspolitische Kooperatio-nen die unbestreitbar vorhandenen Vorteile der globalenArbeitsteilung zu nutzen und die Weltwirtschaft zu sta-bilisieren.Neben den Aufgaben vor unserer Haustür müssen wirInitiativen zur Weiterentwicklung des weltwirtschaftli-chen Ordnungsrahmens und eine verstärkte internatio-nale Zusammenarbeit im Bereich Prozeßpolitik vorneh-men. Wir dürfen uns nicht mit den Wachstumsprogno-sen der OECD und des IWF zufriedengeben; vielmehrmüssen wir durch mehr Wachstum und durch mehrHandel diese Wachstumsprognosen in Realität und inArbeitsplätze umsetzen. Um genau diese Bemühungengeht es uns.
– Herr Hirche, wir sind auf gutem Wege. Ich würde miran Ihrer Stelle – Ihre Partei hat die letzten fünf Wirt-schaftsminister gestellt – solch einen Zwischenruf nichterlauben. Es ist das Ergebnis Ihrer Politik, mit dem wirzu kämpfen haben.
Erstens. Wir sollten zu vorsorglichen und nachhalti-gen Absicherungen vor zukünftigen internationalen Fi-nanzkrisen kommen, und angesichts der nach wie vornicht ausgeräumten weltwirtschaftlichen Bedrohungendurch die Nachwirkungen der Krisen in Asien, Rußlandund Lateinamerika sollten wir ein Maßnahmenpaket, dasfolgendes enthält, beschließen: Einrichtung eines funk-tionierenden Frühwarnsystems für Turbulenzen auf deninternationalen Finanz- und Währungsmärkten, Ent-wicklung und Verabschiedung international verbindli-cher und auflagenbewährter Vereinbarungen, zügige undunvoreingenommene Prüfung, wie Währungs- und De-visenspekulationen mit möglichst marktkongruentenMitteln wirksam eingeschränkt werden können.Zweitens. Neben der Weiterentwicklung der klassi-schen Handelspolitik im Rahmen von GATT gilt es,Antworten auf die wirtschaftliche Globalisierung imSinne eines marktwirtschaftlich ausgerichteten interna-tionalen Ordnungsrahmens zu entwickeln. Es gilt,Rechtssicherheit im Alltag von Bürgern und von kleinenund mittleren Unternehmen zu schaffen. Wir sollten indiesem Sinne zusammen mit unseren europäischen Part-nern auf internationaler Ebene, insbesondere mit denStaaten Nordamerikas und Ostasiens, zügige, ausgewo-gene und verbindliche Vereinbarungen zu internationa-len Wettbewerbsinvestitionen, zu Steuer-, Arbeits- undUmweltregeln anstoßen und entwickeln. Dies wird einlanger Weg sein.Multilateral kommen wir allerdings nur dann weiter,wenn wir zuvor oder zumindest parallel in den entschei-denden Beziehungen des Welthandels, den transatlanti-schen Beziehungen, für Ruhe sorgen, damit die Zölleauch von seiten Amerikas abgebaut werden. Für diedeutsche Wirtschaftspolitik heißt dies, unser Wachs-tumspotential durch Stärkung auch der Binnennachfragebei gleichzeitiger Verbesserung der Angebotsbedingun-gen für unsere Unternehmen fortzuführen. Das heißtauch, daß wir mehr Selbständige benötigen und daß wirin der Gesetzgebung zur Scheinselbständigkeit jenemöglicherweise dadurch aufgebauten Hemmnisse fürErnst Schwanhold
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Existenzgründungen abbauen. Dies wird schnell gesche-hen. Dazu ist eine Kommission eingesetzt, die schon inkurzer Zeit Vorschläge unterbreiten wird.
– Diese Kommission tagt unter Beteiligung des Arbeits-und Sozialministeriums und mit seinem vollen Einver-nehmen. Folgendes Ziel eint uns: mehr Selbständigkeitinsbesondere in den Bereichen der Informations- undKommunikationstechnologie sowie der Medien. Genaudies geschieht.
– Ich will Ihnen sagen, worin der Widerspruch besteht:Ihnen ist es völlig egal, ob ein Kellner als Selbständigerangestellt wird und 20 Tische bedienen muß, um dasBier an der Theke zu kaufen und als Selbständiger zuverkaufen. Sie sind es gewesen, die die Beseitigung desMißbrauchs von 630-Mark-Arbeitsplätzen blockiert undverhindert haben. Ich kann Ihnen ein Unternehmen desdezentralen Handels mit 900 Filialen in der Bundesre-publik Deutschland nennen, das für unser 630-Mark-Gesetz ausgesprochen dankbar ist, weil die Wettbe-werbsverzerrungen gegenüber denjenigen, die Miß-brauch betrieben haben, endlich aufgehoben sind und esnunmehr Chancen am Markt hat.
Ich kann Ihnen dieses Unternehmen zeigen. Der Besitzerdieses Unternehmens ist übrigens Mitglied Ihrer Partei. Erbedankt sich ausdrücklich für dieses Gesetz. Herr Hirche,vielleicht kann ich Ihnen ein bißchen Nachhilfe geben.Die Rahmenbedingungen in der BundesrepublikDeutschland müssen auch im internationalen Wettbe-werb bestehen können. Dazu gehören Flexibilität amArbeitsmarkt, im Steuerrecht mit international ver-gleichbaren Steuersätzen, schnelle Genehmigungsver-fahren und Lohnnebenkosten, die den Faktor Arbeitnicht belasten, sondern in Zukunft stärker entlasten. Ge-nau diese Chancen sind es, die wir national nutzen müs-sen, um jene Verabredungen, die in Köln beim interna-tionalen Gipfel getroffen werden, mit den Maßnahmenzu kombinieren, die dafür sorgen, daß wir in der Zukunftmehr Beschäftigung und insbesondere mehr Investitio-nen aus dem Ausland in die Bundesrepublik Deutsch-land holen können.Es gilt, unsere Wettbewerbsposition durch ein abge-stimmtes Bündel von internationalen Verabredungenund nationalen Maßnahmen zu verbessern, und genaudies ist die Politik der Regierung. Dabei werden wir sieunterstützen, und Sie können sicher sein, dies geschiehteinmütig und deutlich.
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Für die F.D.P.-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Rainer Brüderle.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Herr Bundeskanzler, Ihrer über denProblemen schwebenden Regierungserklärung ist inihrer Allgemeinheit wenig zu widersprechen. Das waralles nett; für Freiheit, Demokratie und Fortschritt sindwir auch. Nur haben Sie dabei negiert, daß es – wennman da den Olymp Gipfeltreffen vorführt – im Großennur stimmen kann, wenn es im Kleinen stimmt. Mankann nicht Weltökonom sein, wenn man zu Hause einefalsche Wirtschaftspolitik macht. Beides paßt nicht zu-sammen.
Man kann schlecht eine Umweltpolitik, Koordinationund Zusammenarbeit propagieren, und zu Hause machtman einen Etikettenschwindel mit einer Ökosteuer, diegar keine ist. So werden Sie die Probleme nicht lösenkönnen.Ich will zitieren:Neue Bedingungen und neue Realitäten erforderneine Neubewertung alter Vorstellungen und dieEntwicklung neuer Konzepte.Herr Bundeskanzler, so schrieben Sie es im gemeinsa-men Papier mit Tony Blair. Mir fällt übrigens auf, daß inder Regierungserklärung nur noch Sie als Autor genanntsind. Vielleicht haben Sie es auch allein geschrieben.Ebenso fällt mir auf, daß die Herren Dreßler und Riesteroffenbar demonstrativ nicht anwesend sind.
Ich gratuliere Ihnen, Herr Bundeskanzler, zu dieserEinsicht, wünsche mir aber für unser Land, daß Sie dieseErkenntnis auch umsetzen oder umsetzen können.
Zumindest auf dem Papier haben Sie eine Poli-tikrichtung aufgezeigt, die mir als Liberalem durchausnicht unbekannt ist, sondern sehr vertraut vorkommt.Offensichtlich haben die Autoren dieses 18seitigen Pa-piers Anleihen aus dem modernsten und fortschrittlich-sten Parteiprogramm Deutschlands, nämlich den Wies-badener Grundsätzen der Freien Demokratischen Partei,übernommen.
Deswegen kann man Sie nicht tadeln. Gutes zu über-nehmen ist nichts Schlechtes, aber Sie haben eine be-merkenswerte Arbeitsaufteilung. Sie schreiben schönePapiere, aber die Politik in diesem Lande machen ebenRiester und Co. „Heiße Luft steigt bekanntlich nachoben“, so schreibt das „Handelsblatt“. Auch Sie schwe-ben offensichtlich über dem Boden der Realität Ihrereigenen Politik.
Ernst Schwanhold
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– Herr Schwanhold, ich kann doch nichts dafür, daß beiIhnen keiner Wirtschaftsminister werden konnte, weilSchröder das keinem zutraute und einen Parteilosenholte. Dafür kann doch keiner etwas, wenn Sie keinenguten Kandidaten haben.Natürlich ist Ihnen zuzustimmen, wenn es heißt – ichzitiere –:Der größte Teil des Einkommens muß in den Ta-schen derer bleiben, die dafür gearbeitet haben.Damit haben Sie völlig recht.
Nur: Die SPD hat den Bundesrat torpediert und hatverhindert, daß eine umfassende Steuerreform durchge-setzt wurde. Genau das Gegenteil von dem, was Sieschreiben, haben Sie gemacht.
Statt Entlastungen vorzunehmen, führen Sie eine Öko-steuer ein, wodurch abermals die Steuerzahler zur Kassegebeten werden.Natürlich unterschreiben wir auch Ihre Aussage: DenMenschen, die sich selbständig machen wollen, „mußman den Spielraum lassen, wirtschaftliche Initiative zuentwickeln und neue Geschäftsideen zu kreieren.“Aber was machen Sie denn mit der jungen Frau, dieden Mut hat, sich aus einer Firma heraus als Software-spezialistin selbständig zu machen? Sie strafen sie abmit 19,5 Prozent Abführung an die Sozialkassen, so daßsie den Auftrag nicht bekommen kann, um den Weg zurSelbständigkeit zu beschreiten. Lieschen Müller kanndies nicht tun, weil Sie sie nicht lassen.Was noch schlimmer ist: Durch den Begriff derScheinselbständigkeit, durch diese Stigmatisierung, dis-kriminieren Sie diejenigen Menschen, die nichts andereswollen, als durch Leistung bzw. Arbeit voranzukommen,um dann Menschen einstellen zu können. Die dahinter-stehende Haltung ist das Schlimme.
Die ASU schreibt, hier würden potentielle Existenz-gründerinnen und -gründer „weggeriestert“. Sie schreibtweiter, daß „die Unternehmen nicht durch Regulierun-gen und Paragraphen erstickt werden dürfen“.Auch das ist richtig. Nur, Sie tun genau das Gegen-teil. Lassen Sie sich einmal von jemandem, der einen630-Mark-Vertrag auf die neue Rechtslage umstellenwollte, erzählen, wie die Situation war: Keiner hat daszum 15. April dieses Jahres geschafft. In Anrufen beider Krankenkasse, der Rentenversicherung, dem Finanz-amt und beim Steuerberater konnte man etwas andereserfahren. Es besteht eine totale Verunsicherung. Verun-sicherung ist das Schlimmste, was man in die Wirtschafthineintragen kann, weil man dort dann nicht rechnenund nicht investieren kann und keine klaren Vorstellun-gen hat.
Im Grunde ist das Schröder/Blair-Papier eine Gene-ralabrechnung mit acht Monaten grünroter Regierungs-politik. Es beschreibt die Minderheitsposition einesdeutschen Kanzlers in seiner eigenen Partei. Es ist eineOhrfeige für die Traditionalisten und Strukturkonserva-tiven wie Dreßler, Riester und andere. Es ist der erhobe-ne Zeigefinger des SPD-Vorsitzenden für den Bundes-kanzler selbst.Was Sie präsentieren, ist Verhüllungslyrik. Ich zitiereden „Spiegel“ der nicht im Verdacht steht, eine Haus-postille der F.D.P. zu sein.
Der „Spiegel“ schreibt Ihnen in Ihr Stammbuch:Noch in der vergangenen Woche verstärkte sich derEindruck, daß zwischen Absichtserklärungen – desKanzlers – und realem Handeln ein Canyon klafft.So weit der „Spiegel“.Gemeint ist Ihr persönlicher Einsatz bei der Neure-gelung des Schlechtwettergeldes. Hier haben Sie nichtnur den Sozialkassen weitere 50 Millionen DM aufge-bürdet. Vielmehr haben Sie mitgewirkt, daß wieder ein-mal beschäftigungspolitische Verantwortung auf dieAllgemeinheit abgewälzt wird und daß Ansätze zu mehrFlexibilisierung und Individualisierung schon im Ansatzim Keim erstickt werden.
Mit Ihrem persönlichen Einsatz bei der Wiedereinfüh-rung des Schlechtwettergeldes verstoßen Sie frontal ge-gen den Geist Ihres eigenen Papiers. Man hat den Ein-druck, Sie hätten es vor der Europawahl nur deshalb ge-schrieben,
um das Wahlergebnis zu verbessern. Sie reden – ich zi-tiere erneut den „Spiegel“ – wie ein Reformer; Sie han-deln wie ein Traditionalist.Trotzdem begrüßen wir es, wenn Sie jetzt dem briti-schen Premierminister nacheifern wollen. Hätten wir voreinigen Wochen auf die Situation in Großbritannien hin-gewiesen, dann hätte Grünrot – von Schlauch bis Struck –im Chor geschrien: Wir wollen keine englischen Verhält-nisse! Jetzt sieht die Welt anders aus – zumindest nachIhrem Papier.Herr Bundeskanzler, natürlich sind die modernerenbritischen Strukturen erstrebenswert. Aber Ihre Politik istmeilenweit davon entfernt. Während Großbritannien ge-genwärtig eine Arbeitslosigkeit in Höhe von 6,2 Prozentaufweist, liegen wir in Deutschland bei knapp 11 Prozent.
Während in Großbritannien Tarifpolitik auf betrieblicherEbene stattfindet, tut Herr Riester das Gegenteil: DerFlächentarifvertrag wird verfestigt, und Allgemeinver-bindlichkeitserklärungen werden verschärft. Die Ent-Rainer Brüderle
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kartellierung auf dem Arbeitsmarkt findet nicht statt unddeshalb auch der Abbau der Arbeitslosigkeit inDeutschland nicht.
Während in Großbritannien die Geschäfte sonn-abends und oft auch sonntags geöffnet haben, wird inDeutschland die zusätzliche Einkaufszeit von 90 Minu-ten von Teilen Ihrer Regierungskoalition immer noch alsrevolutionärer Umsturz angesehen. Dabei gilt uneinge-schränkt die Feststellung Ihres Papiers – ich zitiere –:Sozialdemokraten müssen aber auch anerkennen,daß sich die Grundvoraussetzungen für wirtschaft-lichen Erfolg verändert haben. Dienstleistungenkann man nicht auf Lager halten: Der Kunde nutztsie, wie und wann er sie braucht – zu unterschiedli-chen Tageszeiten, auch außerhalb der heute als üb-lich geltenden Arbeitszeit.Sie haben ja so recht. Nur, Sie setzen es nicht um. Siesollten Ihre Politik vom Kopf auf die Füße stellen. Vondiesem wortgewaltigen Papier sind Sie noch sehr weitentfernt.Die Globalisierung ist in der Tat eine Herausforde-rung, aber auch eine Chance, die man offensiv anneh-men muß. Wenn Sie in Ihrem Papier die Politik der ver-gangenen Jahre als neoliberales Laisser-faire verteufeln,haben Sie sich in der Wortwahl gründlich vergriffen.Neoliberale Wirtschaftspolitik ist soziale Marktwirt-schaft. Das ist identisch.
Das sind die Ideen von Erhard, Müller-Armack, Röpkeund anderen. Das sind neoliberale Gedanken, die zur so-zialen Marktwirtschaft geführt haben, die das erfolg-reichste Wirtschaftsmodell ist, das es gibt und das zumExportschlager Deutschlands geworden ist. Andere ver-suchen, dieses Modell nachzuahmen. Bei uns wird ver-hindert, daß es seine Leistungsfähigkeit voll einbringenkann. Dazu gehören Eigenverantwortung und Lei-stungsbereitschaft. Dazu gehört auch soziale Verant-wortung, aber so, daß sie denen, die im Schatten desLebens stehen, hilft, aber nicht denen, die leisten können– das würde den Leistungswillen behindern. Wer leistenkann und nicht leistet, verhält sich unsozial, weil er sei-nen Leistungsbeitrag nicht mit einbringt.Sie flüchten in Ihrem Papier dann in Formulierungenwie „dritter Weg“. Das ist immer so: Wenn man einKonzept nicht konsequent durchsetzen will, versuchtman es mit Wischiwaschi: über einen dritten Weg, überetwas dazwischen. Das gab es schon in meiner Studien-zeit: Da ging es um einen dritten Weg – Stichworte:Garaudy, Jugoslawien –, wo man sich zwischen den Sy-stemen nicht entscheiden wollte und dann – „Waschmich, aber mach mich nicht naß“ – einen dritten Wegsuchte. Was wir brauchen, ist eine Renaissance der so-zialen Marktwirtschaft. Wir brauchen keinen nebulösendritten Weg, der an dem Problem vorbeiführt.
Wir werden nur dann die Chancen nutzen, wenn wirkeine Angst vor Veränderungen haben, sondern offensivden Aufbruch in größere Märkte mit neuen Marktchan-cen und neuen Produktideen anpacken. Es ist aber nichtsvon Aufbruch zu sehen. Im Gegenteil: Wir sind dasschwache Schiff im europäischen Geleitzug; ich verwei-se auf die 0,7 Prozent Wachstum. „Economist“ und an-dere ausländische Zeitungen sprechen von uns als dem,,kranken Mann von Euroland“. Wir waren früher immerdie Lokomotive. Sie schreiben in Ihrer Regierungserklä-rung etwas von Benchmarking: Wir wollen gucken, obdie anderen besser sind. Früher hat man nach Deutsch-land geschaut, wenn man Benchmarking machen wollte.Man wollte von Deutschland lernen, weil wir vorn wa-ren. Heute sind wir hinten und müssen bei anderen guk-ken, wie man es besser macht. So sind die Maßstäbe beiuns inzwischen verkommen.
– Schreien, Herr Schwanhold, ist immer ein schlechtesArgument. Wer unrecht und keine guten Argumente hat,der schreit. Schreien Sie doch zu Hause, das ist ange-nehmer als hier.Ich empfehle Ihnen, bei den G-8-Runden und bei denDebatten auf Europaebene etwa die Fragen eines euro-päischen Kartellamtes anzupacken. Ich als Liberalerbekomme schon ein bißchen Gänsehaut, wenn ich dieMegafusionen überall sehe. Größe an sich ist nichtschon gut. Es hat seinen Grund, daß die Dinosaurier –das sind diese Viecher mit dem kleinen Kopf und demgroßen Hinterteil – ausgestorben sind. Wir brauchen vielHirn und wenig Hinterteil. Deshalb brauchen wir vielMittelstand, viele kleine und mittlere Unternehmen.
Auf der WTO-Ebene ist es dringend notwendig, Pro-duktabsprachen, Marktaufteilungen und Exportkartelleschon im Vorfeld zu verhindern und dazu auch die ent-sprechenden Schritte einzuleiten. Das Zurückdrehen vonin der Vergangenheit zum Teil vielleicht zu zaghaftenoder zu spät eingeleiteten Reformschritten ist genau derfalsche Schritt.Sie schreiben – auch da ist Ihnen zuzustimmen –: Eingroßer Teil der Arbeitslosigkeit ist strukturell bedingt.Das stimmt ja. Strukturprobleme löse ich aber nichtmit europäischen Beschäftigungsgipfeln.
Die löse ich nicht auf dem Olymp. Die löse ich auchnicht auf Wolke neun. Vielmehr löse ich sie vor Ort, in-dem ich die Strukturen in Ordnung bringe, indem ichetwas verändere, damit die Strukturen stimmen, und in-dem ich die Wirtschaft nicht behindere, sondern ihr Frei-raum lasse. Lassen Sie doch die Tüchtigen und Anstän-digen in Deutschland ihre Leistungen einbringen, undbehindern Sie sie nicht durch Unsicherheit, durch mehrBürokratie und durch zusätzliche Belastungen! LassenSie den Leuten endlich den nötigen Spielraum, damit sieauch erfolgreich sind!
Rainer Brüderle
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Globalisierung entmachtet nicht nationale Wirt-schaftspolitik. Es sind andere Herausforderungen, ande-re Aufgabenstellungen; deshalb brauchen wir andereAntworten, weil die Zeit sich geändert hat. Dazu gehörteben, daß man zu Hause die Dinge in Ordnung bringt.Es kann auf Dauer nicht erträglich sein, daß wir inDeutschland 45 Prozent Abgabenlast und 50 ProzentStaatsanteil haben und daß bis zu 34 Prozent des Sozi-alprodukts Sozialleistungen sind. Da ersticken Sie na-türlich Bewegung und Dynamik. Sie müssen endlich ei-ne umfassende steuerliche Entlastung herbeiführen.Schreiben Sie doch von der F.D.P. ab, wir haben einganz einfaches Modell: 15, 25 und 35 Prozent einheit-lich über alle Steuerarten, ohne viel Bürokratie. Dasführt zu Handlungsfähigkeit. Damit kommen wir in etwain die Größenordnung, die andere Länder schon vor unsgeschafft haben.Es ist gut, wenn man viele Treffen hat. Wenn man mit-einander redet, ist das immer gut. Aber wichtig ist die Tat.„Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ Das ist nicht vonmir, sondern von Kästner, aber es ist völlig richtig.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Rezzo
Schlauch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Brü-derle, wenn ich Sie so höre: Die „Renaissance der so-zialen Marktwirtschaft“ klingt gut,
– ist auch gut –, traue ich Ihnen aber nicht zu, wenn Siees in Ihrer Partei auf dem so blamablen Parteitag inBremen noch nicht einmal geschafft haben, einen An-trag zur Sozialpolitik überhaupt über die Bühne zu brin-gen und zu beschließen. Das zeigt für mich, daß Sie mitdem Begriff der sozialen Marktwirtschaft – die Beto-nung liegt auf „sozial“ – überhaupt nichts am Hut habenund im Grunde genommen in der Globalisierungsdebattenichts anderes tun, als darauf zu hoffen, daß mit derGlobalisierung endlich Ihr Traum vom Kapitalismus purverwirklicht wird.
Ich kann nur sagen: Das freie Spiel der Marktkräfte,die invisible hand, die unsichtbare Hand des Marktes,braucht keinen verlängerten Arm in der Politik, den Sieimmer verkörpern wollen. Wer es trotzdem versucht,wer meint, er müßte sich als politischer Vollstreckeroder als Pseudounternehmer in der Politik gerieren, der,meine Damen und Herren, wird bald selbst invisible,wird bald selbst unsichtbar, wie wir es bei der F.D.P. inder letzten Wahl auch sehr schön beobachten konnten.
Meine Damen und Herren von der F.D.P., es mag Ih-nen ja wohl ziemlich pfiffig vorkommen, es mag viel-leicht auch putzmuntere Opposition sein, wenn ein ge-meinsames Papier von Schröder und Blair, als Antragumformuliert, in den Bundestag eingebracht wird. AberSie haben in dem Papier offenbar völlig übersehen – andem Punkt waren Sie blind –, daß dieses Papier sichauch über lange Strecken mit Ihrer 30jährigen Regie-rungspolitik auseinandersetzt. Das haben Sie einfachausgeblendet.
– Ja. In Ihrem Antrag lese ich – wie in dem PapierSchröder – beispielsweise: „Armut, insbesondere unterFamilien, bleibt ein zentrales Problem.“ Welch eine fun-damentale Erkenntnis für eine Partei, die 30 Jahre Zeithatte, das zu ändern!
Welch eine fundamentale Erkenntnis für eine Partei, dievom Verfassungsgericht ins Stammbuch geschriebenbekommen hat, daß ihre Besteuerung von Familien ver-fassungswidrig hoch war! Da kann ich nur sagen, Sienehmen den Mund hier doch arg, arg voll. Es ist schön,ich finde es toll, daß Sie es nach 30 Jahren endlich bes-ser wissen. Aber unserem Land wäre viel mehr geholfengewesen, wenn Sie in der Zeit, in der Sie es wirklichhätten tun können, es auch tatsächlich besser gemachthätten. Das haben Sie nicht getan.
Herr Kollege Schäuble, ich kann es selbstverständlichgut nachvollziehen und würde mich an Ihrer Stelle auchüber den Sieg in der Europawahl freuen. Das ist okay.Aber was mir auffällt, ist, daß Sie den Sieg in der Euro-pawahl zu Recht feiern, daß Sie aber, wenn es um IhreWahlniederlage im September geht, immer larmoyantwerden und sagen: Wir waren doch auf einem gutenWeg! Ich kann nur sagen: Der Wähler und die Wählerinhaben es nicht so gesehen, daß Sie auf einem guten Wegwaren. Das müssen Sie endlich akzeptieren.
An diesem Punkt noch eine Replik, Herr KollegeSchäuble: Ich verstehe nicht, warum Sie immer wiederan unserem Programm zur Schaffung von 100 000 Ar-beitsplätzen für Jugendliche herumkritteln.
Ich lese Ihnen einmal einige Zahlen aus der letztenStatistik vor: Bis Ende Mai haben 141 000 Jugendlichean den Maßnahmen dieses Sofortprogramms teilge-nommen.
Rainer Brüderle
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3622 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999
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Davon haben 19,3 Prozent einen Ausbildungsplatzerhalten; knapp 10 Prozent haben einen Arbeitsplatz imersten – und nicht im zweiten – Arbeitsmarkt bekom-men.Vor dem Hintergrund dieser Zahlen halte ich IhreKritik für zutiefst ungerecht.
Sie haben doch die Perspektiven für diese Jugendli-chen über Jahre hinweg blockiert und sie auf der Straßestehenlassen. So haben Sie dazu beigetragen, daß sieentsozialisiert wurden.
Was mich bei der Opposition ebenfalls wundert, ist,daß sie die heutige Globalisierungsdebatte in erster Liniemit nationalen Themen bestreitet. Ist es eine neue Ent-wicklung innerhalb der CDU/CSU, daß man sich wiederim nationalen Bereich heimelig kuschelt und die Heraus-forderung der Globalisierung überhaupt nicht mehr er-kennt?
– Warum lachen Sie denn?
Sie haben dies ausgeblendet. Sie haben heute nichtsüber die Herausforderungen, die sich aus der Globalisie-rung ergeben, gesagt. Sie haben nicht gesagt, daß völligneue Arbeitsmärkte, völlig neue Arbeitsplätze und Pro-duktionsverlagerungen in der Wirtschaft entstehen wer-den, auf die wir reagieren müssen.Man kann das Rad der Geschichte nicht zurückdre-hen. Man kann eben nicht das wirtschaftliche Zusam-menwachsen der Welt stoppen oder sich so verhalten,wie Sie es tun. Die Herausforderung, der wir uns stel-len müssen, lautet, unter den Bedingungen einer globali-sierten Weltwirtschaft ökologische Vernunft, ökonomi-sches Wachstum und demokratische Grundregeln inEinklang zu bringen.
Dem müssen wir uns jeden Tag neu, und zwar nichtnur national, sondern auch international, stellen. Dafürist der G-8-Gipfel das richtige Podium.Es wird gesagt, die Globalisierung zeichne sich da-durch aus, daß die Welt zum „global village“ wird. Abernicht nur die Welt wird zum Dorf, auch das Dorf wirdzur Welt. Das müssen Sie endlich begreifen, Herr Kol-lege Schäuble. Wer nämlich internationale Unternehmenwillkommen heißt, ihren langjährigen internationalenMitarbeitern und deren hier geborenen Kindern aber dendeutschen Paß verweigert, der hat nicht begriffen, wasGlobalisierung bedeutet,
und ist für meine Begriffe von Provinzialität imschlechten Sinne geprägt, ist vernagelt.Ich sage: Globalisierung heißt nicht nur „Wir schauenin die Welt“, sondern auch „Die Welt schaut auf uns“.Schon seit einigen Jahren – nicht erst seitdem wir in derRegierung sind, sondern bereits weit in Ihrer Regie-rungszeit – sind die Blicke der Welt auf uns, auf Sie undden Ex-Kanzler Kohl, in der Frage der Strukturreformenin den Bereichen Wirtschaft und Steuern eher mitleidi-ger Art.
Sie nämlich haben diese Reformen, die Sie einklagen,über Jahre hinweg nicht in Angriff genommen. Sie ha-ben sie verschlafen.
Wenn Sie jetzt von einer Regierung, die gerade einmalacht Monate im Amt ist, verlangen, das aufgeräumt zuhaben, was Sie in 16 Jahren angesammelt haben, dannkann ich nur sagen: Das hätten selbst Sie, wären SieKanzler geworden, nicht geschafft.
Ich bin gespannt, wie Sie auf die Reformen, die an-stehen und die wir in den nächsten 14 Tagen hier disku-tieren werden, reagieren werden, wenn der Sozialstaatreformiert wird, wenn er neu gegründet wird.
Die junge Generation sieht die Renten trotz aller ge-genteiligen Bekundungen aus der Politik nicht mehr alssicher an, wie es Ihr Ex-Minister jahrelang gepredigthat. Es ist keine Sicherheit im Rentensystem, sondernUnsicherheit. Das haben Sie angesammelt, und das wer-den wir reformieren.Eine Arbeitsmarktpolitik, die mehr in den zweiten alsin den ersten Arbeitsmarkt vermittelt, muß erneuertwerden.Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Kollege Schäuble, hal-ten wir ein Gesundheitssystem, das alle, nur nicht denPatienten in den Mittelpunkt stellt, für krank. Die Re-form unserer Bundesgesundheitsministerin Fischer wirddas ändern. Sie ist im Gegensatz dazu, wie Sie es ausge-drückt haben, ein gelungenes Beispiel
für den Unterschied zwischen Umbau und Abbau desSozialstaates. Wir bauen das Gesundheitssystem um; Siehaben abgebaut.
Globalisierung ist nichts Abstraktes. Globalisierunghat unmittelbare Auswirkungen auf die Menschen, undzwar egal, wo sie auf dieser Erde leben. 61 Prozent derRezzo Schlauch
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Bundesbürger sagen, die Globalisierung erhöhe die Ab-satzchancen deutscher Produkte und führe zu sinkendenPreisen. Aber 54 Prozent sind auch der Meinung, Glo-balisierung führe zu mehr Arbeitslosigkeit in Deutsch-land.Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, KofiAnnan, hat recht, wenn er meint, die Erweiterung derMärkte übersteige bei weitem die Fähigkeit der Gesell-schaften, ihre politischen Systeme daran anzupassen, ge-schweige denn ihren Kurs zu bestimmen. Die Ge-schichte lehre, daß ein Ungleichgewicht zwischen Öko-nomie, Sozialwesen und Politik nie lange Bestand habenkönne. Das hat man sich nun eindrucksvoll bei der Asi-enkrise anschauen können.Meine Damen und Herren, der Opposition sei gesagt:
Menschenrechte und Demokratie, soziale Sicherheit undein handlungsfähiger Staat sind die Voraussetzungen füreine florierende Weltwirtschaft und nicht nur das Sah-nehäubchen auf ihr.
Diese Koalition wird nicht im 21. Jahrhundert unter demDeckmantel der Globalisierung zum Laisser-faire-Kapi-talismus des 19. Jahrhunderts zurückkehren.
Wir werden so viele persönliche Freiheiten wie möglichgewähren und soviel soziale Sicherheit wie nötig schaf-fen.Ich bedanke mich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat jetzt
der Fraktionsvorsitzende der PDS, Dr. Gregor Gysi.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Im Rahmen der bipolaren Welt derSystemauseinandersetzung zwischen Ost und West inEuropa hatten wir eine Entwicklung der konservativenParteien, die dazu geführt hat, daß sie durchaus sozial-demokratische Anstriche angenommen haben. NachWegfall dieser Systemauseinandersetzung sind dieseAnstriche bei den Konservativen Schritt für Schritt ab-gebaut worden, am radikalsten bei der F.D.P.
In ihrer Not haben sich daraufhin die europäischenVölker entschlossen, dann doch lieber gleich die Sozial-demokratie zu wählen, damit die Globalisierung miteiner bestimmten sozialen Absicherung verbunden wird.Wenn ich aber das Papier des SPD-VorsitzendenSchröder lese, das er zusammen mit Herrn Blair verfaßthat, dann stelle ich fest, daß er plötzlich auf die Rezepteder Konservativen und der F.D.P. zurückgreift, um dieGesellschaft zu modernisieren. Im Grunde genommenist das nichts anderes als der Vorschlag zur Entsozial-demokratisierung der Sozialdemokratie in Europa.
Ich glaube, daß es sich in diesem Zusammenhangschon lohnt, einmal einen Blick auf das Wahlergebnisvon Blair zu werfen, der diese Politik seit Jahren betreibtund dessen Politik in der Bevölkerung nicht gut ange-kommen zu sein scheint. Wenn man sieht, daß geradeJospin diese Richtung deutlich kritisiert und daß er alseinziger aus dem sozialdemokratischen Lager die Euro-pawahl gewonnen hat, dann sollte man daraus vielleichtSchlußfolgerungen ziehen.
Wenn man sich dann noch das Wahlergebnis der F.D.P.ansieht, dann kommt man zu dem Schluß, daß man be-sonders vorsichtig beim Abschreiben von F.D.P.-Programmen sein sollte, weil man sich dann ausrechnenkann, wo man einmal landet.
Das eigentlich Neue an dem Papier ist, daß Sie eineArt Kooperatismus vorschlagen. Das heißt: WasKanzler Kohl in Auseinandersetzung mit den Gewerk-schaften versucht hat, wollen Sie unter Einbindung derGewerkschaften erreichen. Das hieße sozusagen, denWiderstand gegen Sozialabbau zu reduzieren. Ich glau-be, daß dies ein verhängnisvoller Weg wäre. Die Bevöl-kerung und auch wir können das von Ihnen aufgestellteMotto nicht akzeptieren. Dieses Motto lautet: Sozialab-bau durch CDU/CSU und F.D.P. ist Ausdruck sozialerKälte; Sozialabbau durch SPD und Grüne ist dagegenAusdruck von Modernität und sozialer Verantwortung.Dieses Motto ist nicht hinnehmbar. Sozialabbau ist So-zialabbau und nichts anderes.
Zur Sparpolitik: In den Medien wird die feste Größevon 30 Milliarden DM genannt, die gespart werdenmüssen. Wieso eigentlich nicht 20 oder 40 Milliarden?Diese Zahl scheint mir ziemlich willkürlich zu sein. Üb-rigens ist es in einer konjunkturell schwachen Phase sehrproblematisch, zusätzlich zu sparen, weil dies in der Re-gel einen weiteren Wirtschaftsabschwung und aucheinen Abbau von Arbeitsplätzen zur Folge hat.
Wenn man spart, meine Damen und Herren von derF.D.P., dann könnte man vielleicht einmal an jene den-ken, die besonders viel besitzen. In dieser Gesellschaftgibt es eine Menge Geld. Dieses Geld wird aber höchstungerecht eingenommen und dann noch ungerecht ver-teilt. Das ist das Problem.
Man kann daher im Zusammenhang mit dem Sparennicht gleich an die Arbeitslosen und an die Rentner den-ken. Sie denken nie an die Spitzenverdiener und an dieBürger mit großem Vermögen. SPD und Grüne habenRezzo Schlauch
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3624 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999
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die Wiedereinführung der Vermögensteuer verspro-chen. Wo bleibt sie denn? Zu einer gerechten Politik ge-hört eben auch eine gerechte Einnahmepolitik.
In diesem Zusammenhang sprechen Sie jetzt vonKürzungen bei Rentnern und Arbeitslosen. Ich muß Ihnen ehrlich sagen: Die vorgesehenen Regelungen fin-de ich dramatisch. CDU/CSU und F.D.P. hatten dieSenkung des Rentenniveaus um einen halben Prozent-punkt pro Jahr vorgesehen, um schrittweise das Renten-niveau auf 64 Prozent des durchschnittlichen Nettoloh-nes zu senken. Dieses Vorgehen haben damals alle inder Opposition scharf kritisiert. Das entsprechende Ge-setz ist im Dezember aufgehoben worden. Aber die vor-gesehene Senkung war immerhin berechenbar. DieRentnerinnen und Rentner hätten sich darauf einstellenkönnen.Was Sie an die Stelle der alten Regelung setzen, istdie blanke Willkür. Sie wollen einfach jedes Jahr die er-forderlichen Rentenerhöhungen nicht vornehmen, umdas Rentenniveau von 70 Prozent zu halten. Faktischaber kommen Sie zu einer viel größeren Senkung desRentenniveaus und geben das Ziel der Angleichung derRenten in Ost und West auf. Im Osten hätte diese Aus-einanderentwicklung der Renten eine verheerende Wir-kung. Es ist tragisch, zugeben zu müssen, daß wir diealte Regelung zwar für falsch hielten, aber sie war im-mer noch besser als jene, die jetzt kommt. Das ist leiderdie Wahrheit.
Im Zusammenhang mit der Diskussion über aktuelleFragen ist es keine moderne Antwort, trotz Produktivi-tätssteigerungen die Arbeitszeit immer weiter zu ver-längern. Wir haben die Situation, daß bei den einen derLeistungsdruck und die Zahl der Überstunden ständigwachsen, während die anderen auf der Straße stehen unddarauf hoffen, irgendwann einmal Überstunden leistenzu können. Wer hindert uns eigentlich daran, europaweitüber eine gerechtere Verteilung von Arbeit, über einenAbbau von Überstunden und über die Kürzung von Ar-beitszeit nachzudenken?
Wir haben in Deutschland selbst den Nachweis, daßdie vorgesehenen Regelungen nichts bringen. In denneuen Bundesländern sind die Arbeitszeit und dieLohnnebenkosten niedriger und die Löhne wesentlichgeringer. Hat sich das erhoffte neoliberale Ergebnis ein-gestellt? Haben wir einen Arbeitsplatzboom? Ganz imGegenteil: Die Arbeitslosigkeit ist doppelt so hoch wiein den alten Bundesländern.Dieser neoliberale Weg hat versagt. Wenn Schröderihn jetzt aufnimmt, dann wird er damit genauso versagenund noch deutlicher auch linke Opposition kennenlernen.
Auch die Theorie, daß es eine moderne linke Ange-botspolitik geben muß, ist doch im Grunde Quark. In derWirtschaft muß es immer Angebot und Nachfrage ge-ben. Man kann nicht nur eine Seite betrachten und aufdiese Art und Weise Wirtschaftspolitik machen. DasVerhältnis muß stimmen. Seit Jahren haben die Konser-vativen die Nachfrage vernachlässigt. Die Kaufkraftging immer weiter zurück, was erhebliche Auswirkun-gen auf Dienstleistungen, Produktion, Arbeitsplätze etc.hat. Fragen Sie einmal die Wirte, fragen Sie den gesam-ten Dienstleistungsbereich; da werden Sie das bestätigtbekommen.Jetzt kommt Schröder und schlägt dasselbe vor, waswir 16 Jahre lang hatten. Nein, wir brauchen auch wie-der eine Stärkung der Kaufkraft. Anders wird es einepositive Entwicklung der Wirtschaft nicht geben.In seiner Rede hat der Bundeskanzler über den inter-nationalen Kapitaltransfer gesprochen und gesagt, ermache heute 1,5 Billionen Dollar täglich aus. Das istwahr. Aber wo bleibt denn nun die moderne Antwort,eine Steuerreform, durch die wir endlich einmal dafürsorgen, daß Gewinne aus Spekulationen höher besteu-ert werden als Gewinne aus Produktion und Dienstlei-stungen?
Solange Gewinne aus Spekulationen im wesentlichenvon der Steuer freigestellt sind, können Sie die Unter-nehmensteuer senken, solange Sie wollen: Die Spekula-tionsgewinne werden immer günstiger als die Gewinneaus Produktion und Dienstleistungen sein. Es geht dar-um, Spekulationsgewinne höher zu besteuern als Ge-winne aus Produktion und Dienstleistungen, damit dasGeld wieder in Produktion und Dienstleistungen unddamit in Arbeitskräfte und nicht in Spekulationen inve-stiert wird.
Es kann nicht dabei bleiben, daß es sich mehr lohnt,Geld aus Geld zu machen als Geld aus Arbeit. Aber dasist genau die Situation, die wir in Deutschland und ganzEuropa haben. Da muß die Reform einsetzen. Irgend-welche Phrasen über linke Angebotsorientierung helfenda nicht weiter.
Da könnte zum Beispiel die Tobinsteuer helfen, diewir vorgeschlagen haben. Wir werden sehen, wie Siesich dazu verhalten.Alle Parteien, auch wir, reden immer von kleinenund mittelständischen Unternehmen. Aber wenn mansich die Gesetze ansieht, dann stellt man fest, daß immereine zusätzliche Belastung der kleinen und mittelständi-schen Unternehmen herauskommt. Nehmen Sie, meineDamen und Herren von der Regierung, doch einmal Ihreökologische Steuerreform und erklären Sie mir einmal,warum der kleine Eisenwarenhändler genau dieselbeBelastung in Höhe von 1 000 DM hinzunehmen hat wieSiemens. Wer Siemens und den kleinen Eisenwaren-händler mit einem absoluten Betrag gleichbehandelt,kann nicht mehr im Ernst davon reden, daß er für kleineund mittelständische Unternehmen etwas tut.
Dr. Gregor Gysi
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Wenn Sie die eine Gruppe der Unternehmen fast frei-stellen und die anderen kleinen und mittelständischenUnternehmen voll zur Kasse bitten, dann verzerren Sieauch noch sämtliche Wettbewerbsbedingungen inner-halb der Wirtschaft. Nein, es war höchst unwirtschaft-lich, was Sie dort gemacht haben. Abgesehen davon wares auch noch extrem unsozial.Was die Förderung von Existenzgründungen angeht,so schauen Sie sich das einmal in den neuen Ländern an.Es war doch nicht so, daß die Leute nicht den Mut dazuhatten. Es gab Hunderttausende, die es versucht haben.Aber es gab eben auch Hunderttausende, die mangelsEigenkapital und wegen extremer Bedingungen derBanken daran gescheitert sind. Wo haben wir denn hiereinmal eine Reform, durch die auch die Banken sozusa-gen etwas an die Leine gelegt werden, was die Kredit-bedingungen betrifft, damit es überhaupt eine Chancefür Existenzgründungen gibt, und zwar in Ost und inWest? Im Osten sind die Bedingungen noch extrem vielschlechter als in den alten Bundesländern.
Nehmen wir die Lohnnebenkosten, über die so lei-denschaftlich diskutiert wird. Da gibt es immer nurFlickschusterei. Es geht mal einen kleinen Prozentpunktrunter, dann wieder hoch. Man spart im Gesundheitswe-sen und in vielen anderen Bereichen, um die Lohnne-benkosten nicht zu erhöhen. Wo bleibt denn die wichtigeReform, wonach auch diejenigen, die gut verdienen undheute befreit sind – beispielsweise wir –, endlich Beiträ-ge in die Versicherungssysteme zahlen müssen, damitdie Belastung für alle gesenkt werden kann?
Wo bleibt bei den Unternehmen die Reform, daß wirdie Lohnnebenkosten endlich von dem wirtschaftlichenErgebnis eines Unternehmens abhängig machen undnicht länger von der Zahl der Beschäftigten und der Hö-he der Bruttolöhne? Es ginge doch darum, zu sagen:Wenn die Wertschöpfung steigt, muß ein Unternehmenmehr bezahlen. Sinkt sie, dann muß es weniger bezah-len. Unterschreitet sie eine bestimmte Grenze, dann sindgar keine Abgaben zu zahlen. Das wäre höchst flexibel.Dadurch würden Sie Entlassungen nicht mehr so beloh-nen wie heute und Einstellungen nicht mehr so bestrafenwie heute. Seit Jahren schlagen wir das vor, ohne daßdarüber auch nur ernsthaft diskutiert wird.Nehmen Sie die Kommunen. Wenn wir wollen, daßdie Kommunen in Ost und West wieder eigene Wirt-schaftsauftraggeber werden, dann brauchen wir zumBeispiel kleine Lose. Es ist nicht hinzunehmen, daß je-der größere Auftrag bundes- oder europaweit ausge-schrieben werden muß – mit dem Ergebnis millionenfa-cher sinnloser Transporte. Wir könnten den Verkehrdeutlich entlasten, wenn wir zum Beispiel kleine Loseeinführen würden. Zusätzlich hätten die Kommunenendlich die Chance, eigene regionale Wirtschaftskreis-läufe zu entwickeln und Arbeitsplätze zu sichern bzw.zu schaffen.
Wir könnten Fördertöpfe auflösen und die Gelder nacheinem bestimmten Schlüssel pauschal an die Kommunenüberweisen, damit sie als ein Träger der Wirtschaft wie-der selber zur Sicherung von Arbeitsplätzen aktiv wer-den können.
Wenn ich an die neuen Bundesländer denke, HerrBundeskanzler, fällt mir auf, daß Sie in all Ihren Erklä-rungen eine Sache noch nie erklärt haben, die aberhöchst wichtig ist: Wie sieht eigentlich der Fahrplan derBundesregierung zur Angleichung der Löhne und So-zialleistungen im Osten an das Westniveau aus? UnsereLöhne liegen bei etwa 80 Prozent des Netto- und knappüber 70 Prozent des Bruttolohns, und zwar bei längererArbeitszeit und bei inzwischen gleichen Preisen. Ich sa-ge Ihnen: Das ist auf Dauer nicht hinzunehmen. Dasmindeste, was man doch erwarten kann, ist ein Fahrplan,in welchen Stufen und bis wann das überwunden werdensoll. Denn die Schwäche der Kaufkraft im Osten ist aucheine Ursache für die dort existierende Arbeitslosigkeit.
Letztlich bleibt die Feststellung: Wenn man Armutwirksam bekämpfen will, muß man bereit sein, Reich-tum zu begrenzen. Die letzte Regierung wollte das nicht,die neue traut es sich zumindest nicht. Im Ergebnisbleibt es dann aber dasselbe. Deshalb sage ich: DieseRegierung wird scheitern, wenn sie CDU/CSU undF.D.P. perfekt zu kopieren versucht. Wenn es keinenwirklichen Politikwechsel in Richtung auf mehr sozialeGerechtigkeit gibt und Sozialabbau als Modernität ver-kauft wird, dann werden die Leute meinen, sie hättenkeine Alternative. Dann können sie natürlich auch gleichdas Original wählen, bevor sie die schlechte Kopiewählen.Deshalb rate ich Ihnen: Steuern Sie um, machen Siewirklich eine Politik der sozialen Gerechtigkeit! Dannmuß Ihnen auch um die Sozialdemokratie nicht bangesein. Wenn Sie aber bei der Schröder/Blair-Linie blei-ben, dann – das verspreche ich Ihnen – werden dieRechten Stimmen gewinnen und wird die PDS auchstärker. Das ist aber offensichtlich nicht in Ihrem Inter-esse.
Sie sollten also sehr gründlich darüber nachdenken.
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat die Kollegin Skarpelis-Sperk.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Ich möchte jetzt etwas tun,was für die Opposition, wenigstens für die CDU/CSU,heute ungewöhnlich ist, nämlich vom Thema reden, vonder Globalisierung und den Herausforderungen, wie wirsie gemeinsam angehen.Dr. Gregor Gysi
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3626 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999
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Eine der größten Herausforderungen und Umwälzun-gen, die die Globalisierung mit sich brachte, war ohneZweifel die Öffnung der Finanzmärkte gegenüber derWeltwirtschaft. Sie hat viele Konditionen erleichtert,Zinskartelle aufgebrochen und geholfen, in vielen Län-dern eine raschere wirtschaftliche Entwicklung und hö-here Lebensstandards zu finanzieren. Sie hat auch deninternationalen Handel stark erleichtert. Die Verzehnfa-chung der Umsätze im internationalen Devisenhandelund Wertpapierhandel war nur ein Teil dieses Prozesses,zeigt aber dessen Dimension. Dies wurde nicht zuletztdurch die seit 1989 weitgehend deregulierten Finanz-märkte der großen Industrieländer möglich, denen dieSchwellenländer eifrig nachstrebten.Leider haben sich die Hoffnungen nicht erfüllt, dieDeregulierung, das heißt das immer freiere Wirkenimmer größerer Kapitalmärkte, habe quasi im Selbstlaufweniger Währungs- und Finanzkrisen und geringereWechselkursschwankungen zur Folge. Im Gegenteil, dieSchuldenkrisen in Mexiko und Lateinamerika 1982, derNew Yorker Börsenkrach 1987, die EWS-Krise von1992/93, die zweite Mexikokrise Mitte der 90er Jahre,der Asien-Crash von 1997/98, die Krisen in Rußland1998 und in Brasilien 1999 zeigen: Das Tempo der Kri-senabfolgen wird immer schneller, die Schulden-, Ban-ken-, Börsen- und Währungskrisen verflechten sich im-mer stärker, und die in Frage stehenden Summen werdenimmer höher. Allein in den Schwellenländern Asienshaben die größten Banken der OECD 2 500 MilliardenUS-Dollar Kredite ausstehen, und das bei einer jährli-chen Wirtschaftsleistung dieser Länder von 2 900 Mil-liarden US-Dollar.Das heißt also: Die nächste Krise kommt bestimmt,wenn wir es im Prinzip so lassen, wie es war.
Deswegen ist es eine ganz große Leistung der Bundes-regierung und der EU-Länder, diese Probleme endlichgezielt anzugehen und auf Stabilisierung und Krisenvor-beugung zu drängen.
Herr Schäuble, Sie haben von all diesen Problemenheute überhaupt nicht gesprochen. Sie haben kurz ge-sagt: Dem, was die Bundesregierung da beim G-8-Gipfel macht, stimmen wir zu. Ehrlicherweise hätten Siesagen müssen: Wir haben in den vergangenen 15 Jahrenvieles verschlafen und vieles verschlampt, aber Sie pak-ken es endlich an.
Denn es ist doch zu bedenken, daß solche Krisen nichtnur große finanzielle Schäden bei Banken und Unter-nehmen auslösen, sondern von heute auf morgen hun-dert Millionen Menschen in Armut und Elend stürzen. InIndonesien, Thailand und Korea hat sich laut Internatio-nalem Währungsfonds allein durch die jüngste Finanz-krise die Zahl der Menschen, die unter der dortigen Ar-mutsgrenze leben, auf ein Viertel der Bevölkerung ver-doppelt. – Ich freue mich, daß Sie bei der CDU/CSU danoch lachen können.
Zu Recht gibt es deswegen eine breite Diskussionüber die Funktionsweise der internationalen Finanz-märkte, und zu Recht haben deswegen die neue Bundes-regierung und unter ihrer Präsidentschaft die Europäi-sche Union wichtige, grundlegende Reformvorschlägeeingebracht; im Gegensatz zu früher auch mit großemGewicht und mit Priorität.
Mit der gewachsenen Bedeutung des Euro ist es nichtmehr allein Sache der USA, sondern auch unsere ge-meinsame europäische Verantwortung, zur Stabilisie-rung der internationalen Finanzsysteme beizutragen,Krisen vorzubeugen und Dämme gegen verantwor-tungsloses Verhalten zu errichten gegenüber Staaten,den Off-shore-Zentren und dem Privatsektor.
– Ja, genau das wird auf dem G-8-Gipfel jetzt konkret inAngriff genommen, und es wird nicht nur darüber gere-det.
Weiter ist es notwendig, eine Koordinierung dermakroökonomischen Politiken herbeizuführen, die Fi-nanzkrisen auslösen könnten, und regionale Finanz-zusammenschlüsse und regionale Kooperationen zu för-dern, damit wir stabilere Verhältnisse ermöglichen kön-nen.Die Europäische Union unter der deutschen Präsi-dentschaft hat sich zu diesem Zweck auf ein ganzesBündel von Maßnahmen verständigt, von dem wir hof-fen, daß es von den anderen wichtigen Industrienationenauf dem G-8-Gipfel schnell akzeptiert und dann auchumgesetzt wird. Denn was nützt der schönste Plan, wenner im Archiv des Internationalen Währungsfonds ver-staubt?Ich will nur einige wenige Punkte nennen, ohne dieeine Reform des Weltfinanzsystems illusorisch wäre.Wir brauchen erstens eine verbesserte Transparenz inder Privatwirtschaft, zweitens eine verbesserte Transpa-renz der Wirtschaftspolitiken der Regierungen und drit-tens der internationalen Finanzinstitutionen.Kommen wir zur verbesserten Transparenz in derPrivatwirtschaft: Ohne die Einhaltung von Mindeststan-dards für Transparenz, Rechnungslegung, Beschlußfas-sung und Risikomanagement ist Schuldnern wie Gläubi-gern eine vernünftige Risikobewertung und -verwaltungnicht möglich. Kodizes über Grundsätze solider Unter-nehmensführung und -struktur sind notwendig und hilf-reich.Eine verbesserte Transparenz der Wirtschaftspoliti-ken der Regierung muß es ebenfalls geben. Denn eineTransparenz auf dem Gebiet der Steuern und bei derWährungs- und Finanzpolitik stellt eben keine Bürokra-Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
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tie dar, sondern bietet unerläßliche Kennziffern für dieBeurteilung, ob das jeweilige Handeln verantwortungs-voll ist oder nicht und ob es weltweites Vertrauen gebenkann.
Aber das Prinzip der Transparenz muß auch für dieinternationalen Finanzinstitutionen wie den Internatio-nalen Währungsfonds gelten: Auch er ist kein Hütereines Heiligen Grals und sollte seine Fondspolitik undseine „Staff-Reports“ offenlegen und auch öffentlichrechtfertigen.
Aber Transparenz allein reicht nicht aus, um Krisenzu vermeiden. Eine Überwachung muß hinzukommen.Die unzureichende Überwachung des Finanzsektors– nicht nur in einer Reihe von Schwellenländern – hatohne Zweifel zu den jüngsten Finanzkrisen beigetragen.Alle Appelle, doch bitte solide Grundsätze und Politikenauszuarbeiten, einen angemessenen institutionellenRahmen zu entwickeln, eine ordentliche Finanzinfra-struktur und ein stabiles Zahlungssystem zu schaffen,reichten in der Vergangenheit nicht aus. Kaum war dieKrise vorbei, die Bürgschaften geleistet, waren die mei-sten guten Ratschläge und Vorsätze vergessen.Deswegen muß auch das gesagt sein: Wer nicht ein-sieht, daß all die genannten Regeln und Sanktionen fürFehlverhalten unerläßliche Bestandteile verläßlicherFinanzmärkte sind, hat auf diesen Finanzmärkten alsAkteur nichts zu suchen. Man läßt auch kein Auto ohneTÜV und keinen Fahrer ohne Führerschein auf die Stra-ßen.Deswegen finde ich es einen ersten Schritt in dierichtige Richtung, daß der Internationale Währungs-fonds bei der Einrichtung der neuen Kreditfazilitäten dieFortschritte eines Landes bei der Einhaltung der ein-schlägigen Normen berücksichtigt. Das ist ein richtigerBonus für Leute, die auf dem richtigen Weg sind. Aberwas machen wir eigentlich mit jenen, denen all dieseRegeln Wurscht sind, die sich, um sich der Bankenauf-sicht zu entziehen, auf Bankenplätze mit lockersterFinanzmoral wie Off-Shore-Bankenplätze ausweichen,ihre risikoreichen Geschäfte abwickeln und Finanz-institutionen mit dünnster Eigenkapitaldecke ihr Geldanvertrauen? Wenn es dann schiefgeht, laufen dieseInstitutionen zu den Finanzministern und zu den inter-nationalen Finanzinstitutionen und fordern die Finanz-feuerwehr an, selbstverständlich auf Risiko und zu La-sten der Steuerzahler und Zentralbanken.Wenn wir die Belastung der öffentlichen Kassen beider Lösung von Finanzkrisen wirklich senken, systema-tisches Fehlverhalten mindern und Anreize zur Krisen-vermeidung erhöhen wollen, kommen wir nicht umhin,uns Gedanken darüber zu machen, wie private Gläubigerbesser in die Vorbeugung und Bewältigung von Finanz-krisen eingebunden werden können.
Dabei sollte sich der Privatsektor so organisieren, daßein geeigneter Ansprechpartner den internationalenFinanzinstitutionen und den Schuldnerländern auch inKrisensituationen zur Verfügung steht.
Der Bericht der G 22 über die internationalen Finanz-krisen hat eine Reihe von Möglichkeiten aufgelistet, undauch die EU hat im Rahmen der G 8 einige dieserOptionen verlangt. Wir können hier im Plenum sichernicht alle Vorschläge diskutieren – die Sammelklauselnin Anleiheverträgen, die Sammelvertretungen von Gläu-bigern bis hin zum Mehrheitsprinzip –, aber die Ziel-richtung dieser Regelungen muß sein, daß in Krisenzei-ten die alleinige Last nicht auf den öffentlichen Institu-tionen abgeladen wird, daß ein Herausbürgen, das„Bailing out“, des Privatsektors künftig vermieden undmittelfristig eine solidere Kreditvergabepraxis durchge-setzt wird.
Lassen Sie uns da deutlich reden: Wer risikoreicheGeschäfte eingeht, zum Beispiel Staatsanleihen mit einerVerzinsung von 18 Prozent zeichnet und Kreditzinsenvon mehr als 50, zeitweise sogar 100 Prozent bekommt– wie im Falle Mexikos und Rußlands –, sollte schluß-endlich nicht nur die Gewinne einstreichen, sondernbitte auch für die Verluste einstehen müssen, wenn siedenn eintreten.
Es ist deswegen auch überfällig, daß Finanzinstitutemit hohem Fremdkapitalanteil weltweit die Mindestfor-derungen wie Transparenz, Offenlegung und Regulie-rungen einhalten. Auch hier erwarten wir von unsererBundesregierung als Ratspräsidentin eine feste Gangartauf dem G-8-Gipfel und konkrete Verfahrensvorschläge,wie höhere Eigenkapitalquoten und verstärkte Transpa-renzverpflichtungen implementiert werden können, umein allmähliches Eindeichen dieser Inseln der Verant-wortungslosigkeit zu erreichen. Denn bisher wurden die-se Inseln der Verantwortungslosigkeit ganz munter an-gelaufen; die Leute haben dort Finanzfestivals abgehal-ten. Und was haben die früheren Regierungen gemacht?Sie haben gesagt, das sei aber schlimm. Und wenn etwaspassiert ist, sind sie den Jachten zu Hilfe geeilt, habensie abgeschleppt.Die jüngsten Finanzkrisen machen auch deutlich, daßeine bessere Kooperation und Koordinierung zwischenden verschiedenen internationalen Finanz- und Regie-rungsgremien sowie den internationalen Finanzinstitu-tionen dringend erforderlich ist. Die Errichtung des „Fo-rums für Stabilität“ ist ein wichtiger erster Schritt. Aberneben der besseren Transparenz ist, wie ich betont habe,auch eine bessere Aufsicht in den einzelnen Ländernnotwendig.Meine Damen und Herren, leider erlaubt es meineZeit nicht, auf das Thema der Vermeidung von größerenWährungsschwankungen einzugehen,
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
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obwohl gerade diese den Schwellenländern großenSchaden zugefügt haben. Deswegen möchte ich zumSchluß noch begrüßen, daß in der Weltbank jetzt Grund-sätze für eine verantwortungsvolle Sozialpolitik ausge-arbeitet werden und daß diese nicht mehr, wie bisher,den Auflagen und dem Diktat des Internationalen Wäh-rungsfonds allein unterliegen.Wir haben sehen müssen, daß die Finanzkrisen dieärmsten Länder mit Abstand am härtesten treffen. Dar-auf hat der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärungdeutlich hingewiesen. Deswegen muß es Aufgabe vonInternationalem Währungsfonds und Weltbank sein, denärmsten Ländern durch eigene Instrumente, wie zumBeispiel die Initiative für verschuldete arme Länder,wirksam zu helfen. Das erfordert öffentliche Mittel, eineangemessene Lastenverteilung und einen deutschenBeitrag. Ich bin mir sicher, daß der Bundeskanzler dazuin Köln gute Lösungen vorschlagen und durchsetzenwird.
Als nächster Rednerspricht für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr.Theodor Waigel.Dr. Theodor Waigel (von der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Wir sollten und müssendie Globalisierung als Chance und Herausforderung be-greifen; denn Deutschland zählt zu den Hauptgewinnernder weltwirtschaftlichen Verflechtungen nach demzweiten Weltkrieg.
Wie hätten wir das geschafft, was wir in den 50er Jahrenerreicht haben, wenn uns damals nicht offene Märkte zurVerfügung gestanden hätten?
Und ein Zweites: Schon heute sind die Exporte in dieehemaligen Ostblockstaaten höher als in die VereinigtenStaaten.Die Globalisierung als Ausdruck der weltwirtschaft-lichen Verflechtungen hat übrigens heute wieder denGrad erreicht, den sie schon 1914 hatte und den sie indiesem Jahrhundert durch zwei schreckliche Weltkriegeverloren hat. Daran sollte man sich erinnern. Die Globa-lisierung ist nicht etwas Neues, sie ist durch zwei großeKatastrophen in Europa und dieser Welt zugrunde ge-gangen. Wir schicken uns jetzt an, das fortzuführen, wasschon unsere Vorgänger bis 1914 auf den Weg gebrachthatten. Die Globalisierung ist also nicht etwas, wovorman Angst haben muß, sondern etwas, was man alsChance und Herausforderung begreifen muß.
Ich begrüße es, Herr Bundeskanzler, daß Sie sich mitIhrer Regierungserklärung endlich der Globalisierungals Herausforderung stellen; denn jahrelang hat die SPDden Liberalen und uns vorgeworfen, die Globalisierungsei nur ein Feigenblatt für Wahlgeschenke an Unter-nehmer und – Entschuldigung – für den Abbau vonSozialleistungen. Nur, der Standortwettbewerb, auf denHelmut Kohl schon sehr früh, nämlich zu der Zeit, alsdie Wiedervereinigung anzupacken war, hingewiesenhat, ist keine Erfindung fehlgeleiteter Neoliberaler, son-dern eine harte Tatsache nach der weltweiten Öffnungder ökonomischen und politischen Grenzen.Wie sehen aber Anspruch und Wirklichkeit aus,Herr Bundeskanzler? Ihr Versprechen war: Wir moder-nisieren Staat und Gesellschaft, wir garantieren sozialeGerechtigkeit, und wir fördern Selbständigkeit undEigenverantwortung. Wie sehen die Taten der SPD aus?Wer alles, was wir unter großen Schwierigkeiten undgegen viele Widerstände, auch in den eigenen Reihen,an Strukturmaßnahmen durchgesetzt haben, gleich amAnfang seiner Regierungszeit zurücknimmt, betreibtkeine moderne Politik, sondern Modernisierungsverwei-gerung. Das holt Sie jetzt ein.
Herr Bundeskanzler, was Sie von Jospin und Blairneben anderem unterscheidet, ist, daß die beiden, nach-dem sie an die Macht gekommen waren, nichts von demzurückgenommen haben, was die Vorgängerregierungenan schwierigen Strukturmaßnahmen und Konsolidierungauf den Weg gebracht haben. Man muß doch wissen,daß eine vertretbare Einschränkung bei der Lohnfort-zahlung, wie wir sie beschlossen haben, zu einem Rück-gang der Fehlzeiten geführt hat. Es ist doch auch richtig,daß ein überzogener Kündigungsschutz ein Einstel-lungshindernis für das Handwerk und für Kleinunter-nehmen gewesen ist. Wir haben dies ohne Zweifel ver-bessert.
Es ist nicht meine Aufgabe, Ihnen einen Rat zu ge-ben. Aber wenn Sie gescheit gewesen wären, dann hät-ten Sie nach der gewonnenen Bundestagswahl gesagt:Kohl, Waigel und andere Minister der Bundesregierungsind ganz schreckliche Leute.
Das, was sie gemacht haben, kritisieren wir schärfstens,aber zurücknehmen können wir das nicht mehr. So ha-ben es die englischen und die französischen Sozialistengemacht. Daß Sie so dumm waren, dies nicht einmal austaktischen Gründen so zu machen, enttäuscht mich. Ichhätte von Ihnen in dieser Hinsicht mehr erwartet.
Inzwischen diskutiert man mehr über Nachbesserun-gen als über Zukunftsreformen. Sie setzen auf einenneuen Existenzgründerboom und konterkarieren ihngleichzeitig durch Ihr verfehltes Gesetz zur Bekämpfungder Scheinselbständigkeit. Sie versprechen neue Ar-beitsplätze im Dienstleistungssektor, aber gleichzeitigentwickelt sich das 630-Mark-Gesetz zum größten Ar-beitsplatzvernichtungsprogramm im Niedriglohnsektor,Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
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also genau dort, wo es notwendig wäre, Beschäftigungzu schaffen.
Sie stellen sinkende Lohnnebenkosten in Aussicht.Aber gleichzeitig belasten Sie mit der Neuregelung desSchlechtwettergeldes – darauf ist Wolfgang Schäubleschon das letztemal eingegangen – die Beitragszahler,die mit dieser Regelung eigentlich gar nichts zu tun ha-ben, aufs neue und erhöhen damit wieder die Lohnne-benkosten bzw. Lohnzusatzkosten. Das ist genau der fal-sche Weg.
Sie und Ihr früherer Finanzminister haben eine Kon-sumkonjunktur durch Entlastung breiter Einkommens-schichten versprochen. Aber der Schröder-Aufschwungist ausgeblieben. Die Senkung des Solidaritätszuschlags,die wir in der letzten Legislaturperiode beschlossen ha-ben, ist allen zugute gekommen. Das, was Sie vorschla-gen, kommt Mittelstand und Wirtschaft nicht zugute; imGegenteil: Es belastet sie noch stärker. Sie dürfen sichalso nicht wundern, daß Ihre Politik nicht zu mehr Ver-trauen und auch nicht zu mehr Beschäftigung beigetra-gen hat, weil Ihr Weg der falsche ist.
Herr Bundeskanzler, wenn Sie einmal zehn MinutenZeit haben, dann sollten Sie § 2 b des Einkommen-steuergesetzes lesen. Es ist nicht zu fassen, was hier an-gerichtet worden ist. Wir haben uns in den letzten Jahrenbemüht, im öffentlichen Bereich, zum Beispiel auch inder Finanzverwaltung und beim Zoll, Arbeitsplätze ab-zubauen. In bestimmten Bereichen gab es zwar neueHerausforderungen, aber insgesamt wurden Arbeitsplät-ze abgebaut. Unser Ziel war es, im Jahr 2000 im Bundso viele öffentliche Bedienstete wie vor der Wiederver-einigung zu haben, obwohl Deutschland nach der Wie-dervereinigung um 17 Millionen Menschen größer ge-worden ist. Jetzt sind allein für die Überwachung desneuen Ökosteuergesetzes über 500 neue Zollbeamte nö-tig.
So hatten wir uns die Beschäftigungszunahme eigentlichnicht vorgestellt.
Nun kann der Kollege Eichel – dafür habe ich Ver-ständnis, Herr Staatssekretär Diller – nicht immer hiersein. Ich möchte eine gewisse Solidarität zwischen denalten Kameraden – ich meine damit die früherenFinanzminister – nicht verschweigen.
– Ich habe Sie nicht verstanden. Aber Sie sollten michbei meiner Jungfernrede als Oppositionsabgeordneternicht stören.
Es gibt eine gewisse Solidarität der alten Kameraden.Ich gebe gern zu, daß mir die ehemaligen FinanzministerLahnstein, Apel, Matthöfer und – in Abstrichen – auchHelmut Schmidt mir mit Mitgefühl und auch Solidaritätbegegnet sind, wenn sie gefragt wurden. Ihre Betrachtun-gen waren differenziert, vernünftig und manchmal sogarwohltuend. Mit der Zeit – das kann der Kollege Eichelnoch nicht ahnen, weil er bisher Ministerpräsident war –wächst in jedem Finanzminister zwangsläufig die Sehn-sucht nach Ende seiner Dienstzeit. Ich gebe gern zu, daßmir vor zwei Jahren eine Unvorsichtigkeit unterlaufen ist,als ich erklärt habe, daß neun oder zehn Jahre im Amt desBundesfinanzministers genug seien. Nur, Herr Bundes-kanzler, ich habe doch nicht gesagt, 136 Tage seien ge-nug, sondern von neun bis zehn Jahren gesprochen.
Seitdem die Menschen in Deutschland und darüber hin-aus vergleichen können, was es heißt, dieses Amt 3 500Tage oder 136 Tage auszuüben, werde ich überall wie-der zunehmend freundlich gegrüßt.
– Von Edmund Stoiber jedenfalls freundlicher als vonIhnen.
Ich weiß, welchem täglichen nationalen und interna-tionalen Druck ein Finanzminister ausgesetzt ist. Ichwünsche Hans Eichel gute Stoßdämpfer und Knieschüt-zer. In den letzten Tagen hat sich die Fraktion hinter ihngestellt. Das tut eine Fraktion hauptsächlich dann, wenndie Schüsse von vorn kommen.
Er muß aufpassen, wenn die Fraktion vor ihm steht;dann kommen die Schüsse wahrscheinlich von hinten.Bei den beamteten Staatssekretären – das gilt nicht fürdie Parlamentarischen Staatssekretäre – hat er gute Ent-scheidungen getroffen; ich respektiere das ausdrücklich.Ein Finanzminister sollte unbedingt ein gutes Ge-dächtnis haben. Neulich habe ich in der Bundesbahneine BMF-Broschüre gelesen, in der Hans Eichel – eshandelt sich um seine hauseigene Postille – als „ausge-wiesener Experte in Haushalts-, Steuer- und Finanzfra-gen“ bezeichnet wird, weil er in den letzten zwei JahrenKoordinator der SPD gewesen sei. Ich kann mich nurdaran erinnern, daß er an der Seite von Lafontaine derHauptblockierer sowohl bei der Konsolidierung als auchbei der Steuerpolitik war.
Wissen Sie, was schön ist, Herr Bundeskanzler? Mitjeder neuen Steuerrunde bei Ihnen nähert sich Rotgründem Petersberger Modell an.
Ich denke etwa an den Abschied vom Kindergrundfrei-betrag und die Tarifspreizung. Was sind Sie über unshergezogen, als wir sagten, daß dann, wenn der Körper-schaftsteuersatz 35 Prozent betrage und die Steuern aufDr. Theodor Waigel
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3630 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999
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gewerbliche Einkommen nicht wesentlich höher seindürften, die Spreizung höchstens 3 bis 4 Prozent betra-gen dürfe. Heute sagt Ihnen der Bundesfinanzhof genaudasselbe, und Sie müssen auf unsere Linie einschwen-ken. Wie schrieb das „Handelsblatt“ am 3. Mai:Zeitgenossen mit gutem Gedächtnis werden erken-nen, wohin die Reise geht: zurück zu den Peters-berger Steuervorschlägen der Kohl-Regierung. Einesolche Reform wäre nicht nur steuergerechter alsdas jetzt Angedachte, sie wäre auch verfassungsge-richtsfest und hätte Signalwirkung für den Standort.Nun noch zu den haushaltspolitischen Ankündi-gungen des neuen Finanzministers: Er hat neulich mitungeheurer Emphase beklagt, der Bund habe in jedemJahr mehr ausgegeben als eingenommen. Ja, was hatdenn Hessen gemacht? Hessen hat doch zu einem Zeit-punkt, als wir unsere Ausgaben im Bundeshaushalt nurnoch um 3 Prozent gesteigert haben, eine Steigerung von6 Prozent gehabt.
Von 1993 bis 1995 stieg die Neuverschuldung in Hessenvon 300 auf knapp 400 DM je Einwohner. Ich sage dasnur, weil man ein bißchen vorsichtig sein muß, wennman in diesem Zusammenhang über einen anderenrichtet. Hätten Hessen und die anderen Länder – das sa-ge ich ganz offen – ein bißchen mehr zu den Kosten derWiedervereinigung beigetragen, dann hätten der Bundweniger Schulden und die Länder mehr. Aber wir habendie Hauptlast getragen, weil wir uns dieser nationalenHerausforderung gestellt haben.
Nun erfahren wir täglich tröpfchenweise, was da ge-schieht. Bisher habe ich nichts Neues entdeckt. EinStaatssekretär, den auch Sie kennen, hat das schon min-destens drei oder vier Finanzministern aufgeschrieben.Es sind also alles alte Hüte, die mir nicht unbekanntsind. Wenn Herr Eichel dies als großen Befreiungs-schlag bringen wird, dann werden wir einmal nachfra-gen, wie er als Ministerpräsident im Bundesrat zur Be-fristung der Arbeitslosenhilfe gestanden, was er zumWegfall der originären Arbeitslosenhilfe und zur Kon-zentration der Zuschüsse an die Bundesanstalt für Arbeitgesagt hat. Es wird noch interessant sein, zu beobachten,ob in diesem Jahr draufgelegt wird, ob im nächsten Jahrgekürzt wird und ob das dann im großen Programm alsKürzung dargestellt wird. Doch so dumm sind die Leutenicht. Sie wissen: Zum Abbau der Kohlesubventionen,zur Reform der Sozialpolitik und zu den Einschränkun-gen der Leistungen für Asylbewerber hätte Herr Eicheletwas beitragen können.Nur, in einem haben Sie Erfolg gehabt. Im Septemberdes vergangenen Jahres haben Sie mit Ihrer Blockade-politik Erfolg gehabt. Das erkennen wir neidlos an. Siehaben mit dieser Blockadepolitik die Wahl gewonnen,weil die Bürger glaubten, die Probleme ließen sich auchohne tiefgreifende Einschnitte im Sozialbereich lösen.Aber jetzt werden Sie von der Wirklichkeit eingeholt,und es wird für Sie ganz bitter; denn wahrscheinlichkommen Sie auch um Einschnitte bei der Arbeitslosen-hilfe nicht herum. Denken Sie einmal an das, was Sieuns dazu gesagt haben. Offensichtlich muß Ihr KollegeRiester das Rentenniveau kürzen. Herr Bundeskanzler,es wird Ihnen bekannt sein, was Sie versprochen haben.
Ich zitiere Ziffer 9:Mehr soziale Gerechtigkeit, Kohls Fehler korrigie-ren bei Renten, Kündigungsschutz und Lohnfort-zahlung im Krankheitsfall.Wenn Sie jetzt die Senkung des Rentenniveaus, diewir in einem Zeitraum von zehn Jahren vornehmenwollten, ohne daß ein einziger, der jetzt in Rente ist, da-von betroffen gewesen wäre, in ein oder zwei Jahrendurchführen wollen, obwohl Sie uns vor einem halbenJahr für unser Vorhaben beschimpft haben – Sie selbsthaben angekündigt, dieses Vorhaben rückgängig zu ma-chen –, dann ist dies eine gigantische Wählertäuschung,die Ihnen der Wähler bitter heimzahlen wird.
Herr Bundeskanzler, das Ganze ist eine Frage derpolitischen Glaubwürdigkeit. Was Sie vor zwei Jahrenals sozialen Kahlschlag, als Sozialabbau und als Ell-bogengesellschaft kritisiert haben, das versuchen Siejetzt als mutige Konsolidierungspolitik zu verkaufen.Das ist politische Doppelzüngigkeit. Übrigens, die viel-fache Wiederholung des Geredes von der Erblast bringtIhnen gar nichts. Wer großzügig Wahlgeschenke verteilt– Wolfgang Schäuble hat darauf hingewiesen –, der hatkein Recht, wenige Monate später über ein strukturellesDefizit zu lamentieren, wie Sie es getan haben.
Trotz eines West-Ost-Transfers in dreistelliger Mil-liardenhöhe haben wir 1997 das Maastricht-Kriteriumerreicht und 1998 sogar unterschritten. Der Anteil derAusgaben des Bundes am Bruttoinlandsprodukt hat mit11,8 Prozent einen neuen Tiefstand erreicht. Zum Ver-gleich will ich Ihnen einmal sagen, wie es 1983 ausge-sehen hat. Damals hatten wir eine Defizitquote von weitüber 3 Prozent, und der Anteil der Bundesausgaben amBruttoinlandsprodukt lag in den 70er Jahren teilweiseum die 15 Prozent. Das allein zeigt die Konsolidie-rungsleistung, die wir in den letzten Jahren erbracht ha-ben.
Ich möchte noch ein paar Bemerkungen zum interna-tionalen Finanzparkett machen. Herr Bundeskanzler, Ih-re Regierung und vor allen Dingen Ihr erster Finanzmi-nister haben da kaum ein Fettnäpfchen ausgelassen: einevöllig überflüssige und schädliche Diskussion über De-visenmarktkontrollen, ein Vorstoß zur Einführung vonWechselkurszielzonen, den niemand in der Welt begrif-fen hat und für den wir belächelt worden sind. Die ame-rikanischen und andere Freunde haben uns gefragt: Wasist denn mit den Deutschen los? Ich kann wirklich ver-stehen, daß diese Freunde mehrfach gesagt haben: Theo,we really miss you. Das hört man ganz gern. Ich hoffe,Dr. Theodor Waigel
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daß der Neue wenigstens diejenigen Fehler vermeidet,die in der Amtszeit des ersten Finanzministers passiertsind. – Sie, Herr Bundeskanzler, nicken. In dem Fall ha-ben Sie recht. Wahrscheinlich haben Sie das unbewußtgemacht; ich habe Sie aber genau beobachtet. Sie ent-kommen mir mit keiner Mimik. Ich kenne Sie.
Zu einem ganz ernsten Punkt, der auch in der Debatteheute eine Rolle gespielt hat: der furchtbare Unfall imKernkraftwerk Tschernobyl, der uns alle noch heutebetrifft, und die damit verbundene Abschaltung diesesKernkraftwerks. Wie sollten wir dieses Problem lösen?– Helmut Kohl, Klaus Kinkel und ich haben – wie ichmeine, zu Recht – eine Abwägung vorgenommen. Daswichtigste Ziel mußte sein, daß die Reaktoren inTschernobyl vom Netz gehen.
Dann mußten wir bereit sein, für die Energieversorgungdieses armen Landes etwas zu tun. Eine andere Mög-lichkeit gab es nicht, und darum war diese Entscheidungrichtig.Herr Bundeskanzler, Sie betreten einen gefährlichenIrrweg, wenn Sie uns hier wieder international isolierenund aus dem, was vereinbart wurde, ausscheren. AnTrittins Wesen wird die Welt nicht genesen, meine Da-men und Herren. Wir müssen international verläßlichsein.
Zum Beschäftigungspakt: Arbeitsplätze werden inden Betrieben geschaffen und nicht an den Schreibti-schen in Brüssel. Und makroökonomische Dialoge undBündnisse? Ja, worüber haben wir uns denn bisher un-terhalten? Natürlich haben wir uns im Ecofin auch übermakroökonomische Zusammenhänge verständigt.Nach dem Berliner EU-Gipfel standen Sie, HerrBundeskanzler, mit leeren Händen da. Wo blieb diegroßspurig versprochene Nettoentlastung Deutschlands?Der Eigenmittelbericht der EU-Kommission, erstmalsim Herbst auf unser ständiges Drängen vorgelegt, hätteeinen ausgezeichneten Anhaltspunkt geboten, nicht nurdie berechtigten deutschen Interessen, sondern auch dieder Niederländer, die der Österreicher und die derSchweden durchzusetzen. Viel zu früh haben Sie dieKofinanzierung geopfert.
Sie wären gut beraten gewesen, das von uns einge-brachte Kappungsmodell, das nicht nur für Deutschlandgilt, intensiv zu vertreten und dafür zu kämpfen. So istIhnen nichts geblieben. Frankreich hat seine Agrarinter-essen durchgesetzt, Großbritannien den Rabatt vertei-digt, und die Südländer erhalten weiter Geld aus demKohäsionsfonds.
Nun weiß ich sehr wohl, Herr Bundeskanzler, daßman in Europa zu Kompromissen fähig sein muß undnicht alles durchsetzen kann, was man als richtig er-kennt. Das gehört dazu; das ist manchmal sehr bitter, dasist manchmal sehr schwierig. Das akzeptiere ich. Abermit so wenig herauszukommen,
nachdem Sie mit so vielen Ankündigungen hineinge-gangen sind – das ist es, was wir Ihnen vorwerfen.
Bis ins letzte Jahr hinein haben Sie mich kritisiert,daß es nicht gelungen sei, vor vier Jahren eine europäi-sche Zinsbesteuerung zu erreichen. Es sei nicht gelun-gen, es sei an mir gescheitert, eine Harmonisierung beider Energiebesteuerung zu vereinbaren. Was haben Siedenn jetzt erreicht?
Ich mache es Ihnen nicht zum Vorwurf, wenn ein ande-rer Partner oder mehrere das grundsätzlich ablehnen,aber auch hier haben die Wahrheit und die WirklichkeitSie schnell eingeholt. Insofern sollten Sie mit der Kritikan früher vorsichtig sein.Nun zum Euro. Meine Damen und Herren, im Ge-gensatz zu vielen, die sich im Moment sehr negativauslassen, bin ich der Meinung, daß der Euro gerade inder Kosovo-Krise seine Bewährungsprobe glänzend be-standen hat, denn wenn es den Euro jetzt nicht gegebenhätte, dann wäre das EWS in der Mitte auseinanderge-brochen, mit verheerenden Auswirkungen für einigeWährungen in Europa, mit ganz großen Nachteilen füruns, für den Wirtschaftsstandort, für den Export, für dasWachstum und für die Arbeitsplätze in Deutschland.
Das sage ich als Prämisse, denn der Euro hatte dankeiner glänzenden Vorbereitung über ein Jahrzehnt einenausgezeichneten, gelungenen Start – mit Ausnahmeeiner Tatsache. Ich glaube schon, es wäre richtig gewe-sen, wenn der Bundesfinanzminister am 31. Dezember1998 dort gewesen wäre. Man ist an Silvester gern da-heim; das kann ich verstehen.
Das ist bei mir auch gelegentlich der Fall gewesen. Aberes gibt manchmal einen Moment, da hat der deutscheFinanzminister dort zu sein, wo seine Aufgabe ist, unddas wäre dort gewesen, wo der Euro endgültig einge-führt worden ist – aber gut.
Nur: Ein Kursrückgang von teilweise über 10 Prozentgibt auch Anlaß zur Sorge, und das müssen wir auchaussprechen. Niemand bestreitet die Auswirkungen derboomenden Wirtschaft in den Vereinigten Staaten undder höheren US-Zinsen. Mag auch der Kosovo-Konfliktzeitweilig eine Rolle gespielt haben, jetzt müßte sicheigentlich das Gegenteil tun. Nur, will der Euro zu einerinternationalen Anlagewährung werden, muß er seineStärke unter Beweis stellen.Herr Bundeskanzler, hier taucht ein Problem auf. Dieaktuelle Euro-Schwäche ist im Kern eine Folge desDr. Theodor Waigel
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politischen Glaubwürdigkeitsdefizits der führendenTeilnehmerstaaten, vor allem Deutschlands. Dafür tra-gen Sie die Verantwortung. Zwar haben Sie nach derEuropawahl die Einhaltung der Stabilitätsverpflichtungangekündigt. Aber Sie haben sich nicht gerührt, als Ihrerster Finanzminister die Unabhängigkeit der EZB undden Stabilitätspakt in Frage gestellt hat.Als wir in Dublin den Stabilitätspakt in einem hartenRingen gerade mit unseren französischen Freundendurchgesetzt haben, habe ich mir nie vorstellen können,daß Europa eines Tages durch den europäischen Stabi-litätspakt vor einem deutschen Finanzminister geschütztwerden muß.
Herr Bundeskanzler, es war für uns alle – auch fürmich in meiner eigenen Partei – nicht einfach, die Wirt-schafts- und Währungsunion, vor allen Dingen unterBeteiligung Italiens, durchzusetzen. Ich glaube, daßdies nach Abwägung aller Dinge und trotz des hohenSchuldenstands richtig und vertretbar war, wie dies auchdie Deutsche Bundesbank zum Ausdruck gebracht hat.Gerade weil ich mich für dieses europäische Land soeingesetzt habe, bin ich berechtigt zu sagen: Es warfalsch, auf dem letzten Ecofin-Rat eine erste Ausnahmezu genehmigen.
Hier geht es weniger um die ökonomische Wirkung. Esgeht vielmehr um das falsche Signal; denn die Finanz-märkte sind so der Meinung, daß beim nächsten Problemwieder eine Ausnahme gemacht wird. In diese Richtungdarf die Euro-Zone nicht abgleiten. Das ist das Ent-scheidende.
Vor der Bundestagswahl wäre es undenkbar gewesen,daß der Euro durch die Verweigerung der Hausaufgabenin Deutschland zur Schwäche neigen würde. Darum dür-fen Sie sich nicht wundern, daß Sie in der internationa-len Ökonomie, vor allen Dingen auch im internationalenPresseteil, mit dem bedacht werden, was heute schonmehrere Redner gesagt haben. Wir hatten im erstenQuartal das schwächste Wirtschaftswachstum seit dreiJahren sowie nachlassende Erweiterungsinvestitionenund im Jahre 1999 ein reales Wachstum von nur noch1,5 Prozent. Wir sind damit inzwischen das Schlußlichtder Euro-Länder.Herr Bundeskanzler, wir hatten im Vergleich mitFrankreich immer ein fast gleichbleibendes Wachstum.Es hat höchstens um 0,1 bzw. 0,2 Prozent differiert. Seitlängerer Zeit liegen die Franzosen mit 0,5 Prozent odernoch mehr ganz klar vor uns. Das muß doch zu denkengeben. Auf meine Frage an Jean-Claude Trichet undDominique Strauss-Kahn, woran dies liegt, sagen siemir: In Frankreich besteht bei Konsumenten und Inve-storen Vertrauen. Das heißt, die Regierung Jospin ge-nießt mehr Vertrauen als Ihre Bundesregierung. HerrBundeskanzler, das muß Ihnen zu denken geben. Diesist auch Ihre Schuld.
Auf dem bevorstehenden Gipfel stehen Sie mit derschwächsten Bilanz und der geringsten Wirtschaftsdy-namik da.Auch wir plädieren für eine behutsame Fortent-wicklung der internationalen Finanzarchitektur. FrauSkarpelis-Sperk, richtig ist, daß der Privatsektor stärkereinbezogen werden muß. Es geht nicht an, daß die pri-vaten Unternehmen in den Krisenländern Profite ma-chen und der öffentliche Bereich danach die Schuldenzu übernehmen hat. Früherkennung und Krisenpräven-tion sind in diesem Zusammenhang richtige Stichworte.Meine Damen und Herren, in Europa gibt es imMoment eine hochinteressante Diskussion unter den So-zialisten. Anfang des Jahres wurde eine neue philoso-phische Konvergenz in Europa propagiert. Die Soziali-sten Oskar Lafontaine und Dominique Strauss-Kahn ha-ben in ihrer Funktion als Finanzminister in einem ge-meinsamen Aufsatz ihre Vorstellung über die philoso-phische Konvergenz in Europa dargestellt. Ziel ist eineigenes Sozialmodell für Europa. Nur: Was gilt jetzt?Das Europa von Dominique Strauss-Kahn und OskarLafontaine oder Ihr Europa, Herr Bundeskanzler, wieSie es gemeinsam mit Tony Blair beschrieben haben?Der eine – Ihr erster Finanzminister und Ihr Parteivorsit-zender, dem Sie auch den Wahlsieg verdanken – ist mitseinem Rückgriff auf Keynes kläglich gescheitert. Nunversuchen Sie in aller Kürze einen Salto vorwärts. Ichglaube, Sie müssen gut achtgeben, ob Sie diesen Kurs-wechsel der Bevölkerung und vor allen Dingen Ihreneigenen Parteigenossen verkaufen können.Es gab heute neben einer matten Rede auch einematte Regierungsfraktion. Ich habe gehofft, daß Struckdas Ganze herausreißt; auch er hat es aber nicht ge-schafft. Herr Bundeskanzler, vielleicht noch eines – dassage ich jetzt nicht ironisch –: Passen Sie gut auf, daßsolche Aktionen – die Sie als Parteivorsitzender natür-lich machen können, ohne sie als Regierungschef ver-antworten zu müssen – das deutsch-französische Ver-hältnis nicht beschädigen.
Denn eines haben wir immer gemerkt: Auch wennwir viele Probleme gehabt haben – ich habe sie mit de-nen gehabt, und sie mit mir –, haben wir mit allen fran-zösischen Finanzministern, mit den konservativen undmit den sozialdemokratischen und sozialistischen, einhervorragendes menschliches Verhältnis gehabt undauch sonst hervorragend zusammengearbeitet. Aberimmer dann, wenn die französischen Kollegen den Ein-druck hatten, daß man etwas an ihnen vorbei macht,kann das das wichtige deutsch-französische Verhältnisbeschädigen. Das führt zu einem Knirschen des europäi-schen Motors. Geben Sie gut acht, daß Ihnen das nichtpassiert!
Nachdem es hier permanent rot leuchtet – was michaber nicht erschüttert –, komme ich zum Schluß. HerrBundeskanzler, es wird Ihnen nicht gelingen, Bebel,Blair und Brioni unter einem Hut zu versammeln.
Dr. Theodor Waigel
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Die Show ist vorbei. Der Ernst des Lebens beginnt.Vielen Dank.
Mein in langen Jah-
ren gewachsener Respekt vor dem früheren CSU-
Vorsitzenden hat mich veranlaßt, nur das Blinklicht ein-
zuschalten. Das geht jetzt natürlich zu Lasten der
CDU/CSU-Fraktion, das ist klar. Vielleicht hat der Kol-
lege Waigel auch daran gedacht, daß jetzt sieben Kolle-
ginnen ans Rednerpult kommen, und wollte daher als
Mann noch etwas länger reden.
Jetzt hat die Kollegin Dr. Uschi Eid vom Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
HerrPräsident! Sehr geehrte Damen und Herrn! Am kom-menden Wochenende treffen sich die acht mächtigstenRegierungen der Welt in Köln. Wir tun gut daran, diesesEreignis zum Anlaß zu nehmen, über den nationalen undeuropäischen Tellerrand hinauszuschauen und über un-sere Verantwortung gegenüber den Ländern des Sü-dens und des Ostens im Zeitalter der Globalisierungnachzudenken. Deswegen bin ich froh über die heutigeDebatte.Durch die Fortschritte der Informations- und Kom-munikationstechnologie rücken nicht nur die Volkswirt-schaften, sondern auch die Zivilgesellschaften immerenger zusammen. Entfernteste Räume werden überFernsehen oder Internet in Bruchteilen von Sekundenüberwunden. Produktionsmuster, Konsumverhalten undKultur aus weit entfernten Gesellschaften werden zumweltweiten Gemeingut. Im Zeitalter globaler Kommuni-kation ist die Welt ohne Zweifel kleiner geworden. An-gesichts zunehmender Konflikte von Interessen undWerten und um Ressourcen sind Weltoffenheit, Tole-ranz, Solidarität und Dialog zwischen den Völkerndieser Erde dringender denn je.
Genau in dieser Hinsicht setzt die Kampagne „Erlaß-jahr 2000“ als ein weltweites Dialogforum zur Schul-denfrage gerade im Vorfeld des Weltwirtschaftsgipfelsein nachahmenswertes Beispiel. Nach den Worten desBundeskanzlers zur Kölner Schuldeninitiative gehe ichdavon aus, daß die Menschen, die am kommendenSamstag für Schuldenerleichterungen für die ärmstenLänder mit einer Menschenkette in Köln demonstrierenwerden, mit einem zufriedenstellenden Ergebnis nachHause fahren können.Die Herausforderungen der Globalisierung haben zueinem intensiven internationalen Diskurs zu Umwelt-,Wirtschafts- und Finanzfragen geführt. Diese neueDimension der gemeinsamen Suche nach Problemlösun-gen hat sich dank der großen Weltkonferenzen derVereinten Nationen entwickeln können. Diese Konfe-renzen führten vor allem zu einer größeren Verständi-gung über gemeinsame globale Werte wie zum BeispielRespektierung der Menschenrechte, Gleichstellung vonMann und Frau oder nachhaltige Entwicklung – und dasist gut so.Der Prozeß der Globalisierung erfordert, daß wir dieinternationalen Regelwerke ausbauen und weiterent-wickeln. Angesichts gravierender Herausforderungen fürdie Sicherheit der menschlichen Zukunft wie Kriegenund Bürgerkriegen, Umweltkatastrophen, sozioökono-mischen Disparitäten, Konkurrenz um Ressourcen, De-mokratiedefiziten, Menschenrechtsvergehen und Unter-drückung von Minderheiten nimmt neben globalen Re-gelmechanismen die Bedeutung regionaler Kooperatio-nen und Zusammenschlüsse ebenfalls zu. Die regionaleIntegration ist einer der wichtigsten Ansatzpunkte zumBeispiel zur Förderung gewaltfreier Konfliktlösungen.Sie schafft grenzüberschreitend gemeinsame ökonomi-sche, politische und kulturelle Interessen, die auch dasInteresse an einem friedlichen Miteinander stärken.Deshalb ist es dringend erforderlich, daß solche Regio-nalorganisationen in Afrika, Asien und Lateinamerikavon uns unterstützt werden.Besondere Chancen, auf regionaler Ebene zu koope-rieren, eröffnen sich an Hand konkreter Problemstellun-gen: Durch zwischenstaatliche Verträge von Flußanrai-nerstaaten zum Beispiel und durch gemeinsame Fluß-kommissionen kann die Bewirtschaftung von Flußwas-ser mit zivilen Mitteln geregelt werden. Die 1997 ge-schaffene Weltkommission für Dämme bietet einensinnvollen Rahmen für eine Konsensfindung hinsichtlichWassernutzung, Umsiedlung von Menschen und Um-weltproblemen.Die Konvention der Vereinten Nationen zur Bekämp-fung der Wüstenbildung fördert die Erarbeitung vonregionalen Aktionsprogrammen zum Management vonNaturressourcen und hat konzeptionelle Leitbilder wiePartizipation der Zivilgesellschaft und partnerschaftlicheZusammenarbeit von Staaten bei der Bewältigung vonKonflikten um Landressourcen völkerrechtlich festge-schrieben.Im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit un-terstützt das Ministerium für wirtschaftliche Zusammen-arbeit und Entwicklung diese Institutionen und trägt da-durch erheblich zur notwendigen Konfliktpräventionbei, denn die Konkurrenz um Ressourcen ist eine derwichtigsten und häufigsten strukturellen Krisenursachen.Im Zuge der Globalisierung ist die Vernetzung derVolkswirtschaften erheblich enger geworden, was fol-gende Zahlen illustrieren: Das Welthandelsvolumen hatsich in den letzten 20 Jahren vervierfacht, ebenfalls dieAuslandsinvestitionen; internationale Produktionsnetz-werke spielen in der Weltwirtschaft eine immer wichti-gere Rolle.Aber nicht alle Gesellschaften konnten an dem da-durch geschaffenen Reichtum teilhaben. Der Anteil derärmsten 20 Prozent der Weltbevölkerung am globalenEinkommen ist in den letzten 30 Jahren von 2,3 Prozentauf 1,4 Prozent gesunken. Der Anteil des oberstenFünftels ist in dieser Zeit von 70 Prozent auf 85 ProzentDr. Theodor Waigel
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angestiegen. Es ist beschämend, daß immer noch über800 Millionen Menschen Hunger leiden, obwohl aufdem Welternährungsgipfel 1996 beschlossen wurde,massive Anstrengungen zum Kampf gegen den Hun-ger zu unternehmen.Diese wenigen Zahlen machen deutlich, daß die Glo-balisierung und das damit einhergehende liberale Han-delsregime nicht automatisch auch wirtschaftlichen Erfolgund Wohlstandsmehrung für die Menschen bedeuten.Vor diesem Hintergrund kommt der neuen Welthan-delsrunde der WTO eine wichtige Aufgabe zu. UnserZiel muß es sein, die Entwicklungsländer in den Standzu versetzen, am Welthandel erfolgreich zu partizipierenund gleichzeitig das Leitbild einer ökologisch nachhalti-gen und sozialverträglichen Weltwirtschaft zu verfolgen.Entwicklungszusammenarbeit soll einen Beitrag dazuleisten, die Entwicklungsländer in die Lage zu bringen,aus ihrer Teilhabe am Welthandel ein Maximum anChancen ziehen zu können – zum Vorteil der ärmstenBevölkerungsgruppen und zur Schaffung eines men-schenwürdigen Lebens.
Wichtig allerdings ist, daß die bestehenden interna-tionalen Umweltabkommen durch die Prinzipien desfreien Handels nicht unterminiert werden. Leider sinddie WTO-Verhandlungen zum Thema „Handel undUmwelt“ in den letzten Jahren kaum vorangekommen.Dies haben nicht zuletzt die Industrieländer zu verant-worten, die in der Vergangenheit nicht bereit waren, diespeziellen Interessen der Entwicklungsländer anzuer-kennen. Diese befürchten, daß Umweltstandards ihreWettbewerbsfähigkeit einschränken und neue Handels-barrieren errichten. Diese Bedenken müssen wir ernstnehmen. Wir sind heute bereit, die Interessen der Ent-wicklungsländer im Welthandelssystem stärker zu be-rücksichtigen.
Die Integration der Entwicklungsländer in denWeltmarkt muß in eine Gesamtstrategie eingebettetsein, damit sie zum Erfolg führen kann:Erstens ist in unseren Partnerländern im Süden undOsten eine verantwortliche Regierungsführung erfor-derlich. Sie muß Rahmenbedingungen für ein wirt-schaftliches und politisches Umfeld schaffen, das fürAuslandsinvestitionen attraktiv ist und diese zugleicham Ziel einer nachhaltigen Entwicklung orientiert.Zweitens kommt es darauf an, die Leistungsfähig-keit staatlicher Institutionen zu stärken. Wenn zumBeispiel Importzölle zur Finanzierung des Staatshaus-haltes wegfallen, müssen parallel neue Einnahmequellenerschlossen werden. Dazu bedarf es eines Steuersystemsund einer effizienten Steuerverwaltung. Dies ist notwen-dig, damit die Länder der Liberalisierung standhaltenund daraus für sich Nutzen ziehen können.Die Asienkrise hat gezeigt, wie wichtig ein staatlichesRegelwerk im Finanzsektor, eine funktionierende Ban-kenaufsicht und eine transparente, effiziente Finanzpoli-tik sind. Entwicklungszusammenarbeit leistet hier ganzwesentliche Beiträge.Diese Eigenanstrengungen unserer Partnerländer lau-fen aber ins Leere, wenn es nicht gleichzeitig in den in-ternationalen Rahmenbedingungen und in den westli-chen Industrieländern – das heißt: bei uns – zu Verände-rungen kommt, die den Völkern in allen Regionen derWelt eine erfolgreiche Teilhabe an der Weltgesellschaftermöglichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach dem Um- undAufbruch in Osteuropa hat die G 7 ihren Kreis um Ruß-land erweitert. Wäre es nicht eine reale Utopie, daß imnächsten Jahrhundert auch die EntwicklungsregionenAsiens, Lateinamerikas und Afrikas an diesem globalenVerhandlungstisch vertreten sind?Ich danke Ihnen.
Für die F.D.P. gebe
ich der Kollegin Gudrun Kopp das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrteHerren und Damen! Der Kanzler, derzeit unterwegs– wahrscheinlich muß er sich ein wenig regenerieren –,hat heute morgen eine für mich enttäuschend geschäfts-mäßige Rede zum Thema Globalisierung gehalten. Wahr-scheinlich ging ihm durch den Kopf, was er an Versäum-nissen im eigenen Land als Bilanz vorzuweisen hat.
Es könnte sein – wir wollen ja positiv denken, auch überandere –, daß ihn vollends der Frust gepackt hat ange-sichts dessen, was dort an realer Politik hätte geschehenmüssen, die von der seinerzeitigen Koalition auch schonin Angriff genommen worden war.
Anders kann ich mir das Schröder-Blair-Papier nicht er-klären, auf das er heute mit keinem einzigen Wort ein-gegangen ist.
Ich denke, wir sollten ihn nicht davonkommen lassen,ohne hier einige sehr markante Stellen aus diesemPapier vorzutragen. Wir sollten einmal die Sündenfälle,die es in kürzester Zeit gegeben hat, und die neuestenErkenntnisse nennen.Erkenntnis Nummer 1:Die Ausbildungsqualität auf allen Ebenen derschulischen Bildung und für jede Art der Begabungmuß gesteigert werden ...Dr. Uschi Eid
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Wie wahr! Dazu gehört aber nicht nur die Förderungvon Lernschwachen. Was fehlt, ist die Förderung vonHochbegabten, die in dieser Gesellschaft völlig ver-nachlässigt werden –
auf Grund ideologischer Gleichmacherei, die absolutnicht mehr zeitgemäß ist.Erkenntnis Nummer 2:Menschen unterschiedlichster Herkunft wollen sichselbständig machen ...Wie wahr!Ihnen muß man den Spielraum lassen, wirtschaftli-che Initiative zu entwickeln ...
Ihre Märkte und ihr Ehrgeiz dürfen nicht durchGrenzen behindert werden.Richtig! Deshalb, sehr geehrter Herr Bundeskanzler,sollten Sie schleunigst die bürokratischen Hürden beider sogenannten Scheinselbständigkeit abschaffen.
Erkenntnis Nummer 3:Wir sollten es Kleinunternehmen im besonderenerleichtern, neues Personal einzustellen ...Herr Bundeskanzler, auch wenn Sie außerhalb diesesRaumes sind, nehmen Sie doch die beschäftigungs-feindlichen Hürden im Kündigungsschutz zurück! Zei-gen Sie Rückgrat!
Erkenntnis Nummer 4:Teilzeitarbeit und geringfügige Arbeit sind besserals gar keine Arbeit ...Man höre und staune!
Ich kann nur sagen: Richtig! Stellen Sie sich deshalb denForderungen nach einem Niedriglohnsektor und lassenSie die Finger von den unseligen Veränderungen beim630-Mark-Gesetz.
Was wohl noch den schlimmsten Frust unseres Bun-deskanzlers hervorrufen wird, ist die Frage: Mit wem ausden eigenen Reihen will er diese Erkenntnisse in prakti-sche Politik umsetzen? Ich sehe, das Interesse ist auchheute hier im Haus gleich null. Vielleicht wird verschämtverschwiegen, welche Brisanz in diesem Papier steckt.Der Kanzler spricht von „modernen Sozialdemokra-ten“, mit denen er diese Politik, diese angeblichen Vi-sionen verwirklichen möchte. Diese „modernen Sozial-demokraten“ sehe ich nicht.
Da wird er ganz große Probleme haben. Alles Ideologievon gestern.Erlauben Sie mir einen letzten Hinweis. Tony Blairmacht in England keinerlei revolutionäre oder gar eigen-ständige Politik. Vielmehr führt er nur das fort, womit„Maggie“ Thatcher begonnen hat: Hindernisse aus demWeg zu räumen.
Es ist genau das gleiche wie hier: Wir, die seinerzeitigeKoalition, haben die politischen Notwendigkeiten ange-packt; jetzt, lieber Herr Schröder, liegt es an Ihnen, diesaufzugreifen.Welch ein Frust muß es sein, festzustellen, daß mannichts Neues zu bieten hat, daß man – im Gegenteil –nach langen Monaten erkennen muß: Politik zu machenist eine ernste Angelegenheit, das erfordert Arbeit; dakann man sich nicht nur von morgens bis abends ver-gnügen.
Durch diesen Frust muß der Bundeskanzler hindurch.Wir können Ihnen nur sagen: Wir werden Sie an denTaten messen und nicht an den schönen Worten, dieheute so und morgen wieder anders sind.Danke sehr.
Als nächste Redne-
rin spricht für die PDS die Kollegin Ulla Lötzer.
Herr Präsident! Kolleginnenund Kollegen! Seit der Asienkrise wird über eine Regu-lierung der Finanzmärkte diskutiert. Jahrzehnte raschenWirtschaftswachstums ließen die Tigerstaaten noch alsSymbol des Fortschritts durch neoliberale Globalisie-rungspolitik erscheinen. IWF und Weltbank priesen sienoch 1997 als Vorzeigemodelle. Diese Aussicht erstlockte die Anleger. Um so tiefer war dann der Fall, ver-ursacht durch massiven Kapitalabzug in Verbindung miteiner Spekulation von Finanzmagnaten gegen die jewei-lige Währung. Jetzt spricht die UNICEF von einer„verlorenen Generation“ Diese Krise wird völlig zuRecht als Waterloo der globalisierten Weltwirtschaft be-zeichnet.Diese Krise ist auch ein vernichtendes Urteil über dieVorgängerregierung. Zu ihrem Standardrepertoire ge-hörte die Deregulierung der Devisen- und Kapital-märkte. Sie betrieben die massive Umverteilungspoli-tik, die erst zu den Wachstumskrisen auf den jeweiligenBinnenmärkten und zu dem gewaltigen Überschußkapi-tal führte. Die Folge: Internationale Wirtschaft gründetsich nicht mehr auf den Austausch von Waren, sondernvorrangig auf kurzfristige Spekulation. Helmut Schmidtsprach von der „Globalisierung des Spekulationismus“als wichtigstem Kennzeichen der neuen Ära.Die uns hier von der SPD vorgestellten Maßnahmen,die auf dem G-7-Gipfel vereinbart werden sollen, rei-Gudrun Kopp
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chen unserer Meinung nach dagegen nicht aus. Erst dieEinführung einer Tobin-Steuer, Bardepoteinlagen undeine Verbesserung der Bankenaufsicht – vor allem beiden Gläubigerbanken und nicht nur bei den Banken derEntwicklungsländer – würden die Möglichkeit be-schränken, mit Spekulation ganze Volkswirtschaften indie Krise zu treiben. Sonst machen Sie sich von der Re-gierung zu den Schuldigen der nächsten Krise.Die G-7-Staaten müssen – das wurde heute morgenzu Recht betont – ihre Verantwortung gegenüber denEntwicklungsländern wahrnehmen. Wir begrüßen dieEntschuldungsinitiative, auch wenn sie nur ein ersterSchritt ist, da Strukturmaßnahmen ausgeklammert sind.Aber mit Entschuldung alleine ist es nicht getan. Über40 000 multinationale Konzerne mit 250 000 Töchterndominieren die globalisierte Wirtschaft. Entwicklungs-länder versuchen, mit Billigstlöhnen und schlechtestensozialen Bedingungen Kapital und Direktinvestitionenmultinationaler Konzerne anzulocken. Eine Sonderwirt-schaftszone nach der anderen entsteht. Es sind die Län-der des Südens, die gegeneinander konkurrieren.Die Spitze des Eisbergs stellt die Kinderarbeit dar.Kinder verdrängen Frauen aus den Arbeitsverhältnissen,weil sie noch billiger sind und sich kaum gewerkschaft-lich organisieren. Für 1999 prognostiziert die Studie derUNO 375 Millionen Kinderarbeiter und Kinderarbeite-rinnen. Der Bundestag hat sich vor einigen Wochen ein-stimmig für verstärkte Maßnahmen zum Schutz derKinder ausgesprochen. Doch wer das ernsthaft will, mußsich um den Schutz der Erwachsenen kümmern.Ihr Bekenntnis heute morgen zu den IAO-Rechten inallen Ehren: Aber Verhaltenskodizes für Unternehmenund IAO-Kernarbeitsrechte ohne Durchsetzungsmög-lichkeiten wirken, als würde man dem Wolf nahelegen,die Lämmer nicht zu fressen. Verbandsklagerecht undSanktionsfähigkeit der IAO sind nur zwei der dringendnotwendigen Schritte.Die G-7-Staaten haben es auf dem Gipfel tatsächlichin der Hand. Auch hier geht es um Menschenrechte.Deren Schutz erfordert allerdings Maßnahmen gegenmultinationale Konzerne und gegen die mächtigenFondsverwalter und Banken. Dies ist unserer Meinungnach unerläßlich, damit die heute morgen zitierteSchwelle zu einer sozialen und demokratischen Welt-wirtschaft überwunden werden kann.Danke.
Für die SPD spricht
nun die Kollegin Monika Griefahn.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Globalisierung hat jazwei Seiten. Dienstleistungen sind rund um die Uhr ver-fügbar. Zu jeder Tages- und Nachtzeit kann man zumBeispiel bei der Lufthansa anrufen und einen Flug bu-chen. Wenn man am späten Abend unter der 180erNummer anruft, dann sagt ein Mensch am anderen Endeder Leitung fröhlich „Guten Morgen!“. Wenn man fragt„Wo sitzen Sie denn?“, dann kann die Antwort lauten:Singapur, Adelaide – oder es ist der Name irgendeinesOrtes in Neuseeland.Die Globalisierung schafft also Arbeitsplätze imDienstleistungssektor in den Ländern, für die wir eineStabilisierung wollen. Auf der anderen Seite gibt es na-türlich Menschen, die dabei hier ihren Job verlieren. Indiesem Zusammenhang denke ich zum Beispiel an dieBuchhaltung, die im Falle der Lufthansa in Bangalo-re/Indien durchgeführt wird. Das heißt, wir haben in In-dien qualifizierte Programmierer und Buchhalter. Fürdiese Berufe gibt es gut ausgebildete Kräfte. Aber da-durch, daß die Softwareentwicklung und Buchhaltungdorthin verlagert wird, haben die Firmen, die diese Tä-tigkeiten hier machen wollen, keine Aufträge und dar-über hinaus Probleme, qualifizierte Arbeitskräfte in die-sem Bereich zu finden.Ein weiteres Beispiel für die beiden Seiten, die nega-tive und die positive: Wir wollen mit Krediten – das istvon der Europäischen Investitionsbank gemacht worden– afrikanischen Ländern helfen. Es ist ein Schlachthof inBotswana gebaut worden. Wo ein Schlachthof ist, müs-sen auch Rinder hin. Die Rinder brauchen eine Weide.Die Weiden werden auf den Savannenflächen in Bots-wana abgegrenzt. Es tritt dann die Situation ein, daß dieRinder die Savannen abgrasen und zertrampeln und da-mit der Versteppung und Verwüstung Vorschub leisten.Wir müssen dann eine Menge tun, um dort zum Beispieleine Wiederaufforstung oder Wiederfruchtbarmachungdieses Landes zu finanzieren.Der Vorteil davon ist, daß günstig Rindfleisch hier-herkommt und die Leute dort eine Arbeit haben. Aberdie Landwirte hier bei uns müssen ihr Fleisch preiswer-ter verkaufen und befinden sich in einer Konkurrenzsi-tuation, die durch die finanziellen Mittel der Europäi-schen Investitionsbank hervorgerufen worden ist.Insofern haben wir die große Aufgabe – nicht nur inder G 7 oder G 8, sondern auch innerhalb der internatio-nalen Gemeinschaft –, konkrete Projekte, Maßnahmenund Kooperationen zu entwickeln, durch die für dieVölker, mit denen wir zusammenarbeiten, nachhaltigeEntwicklungsmöglichkeiten geschaffen, aber existieren-de Möglichkeiten nicht verbaut werden.Globalisierung ist also kein natürliches Phänomen,sondern ein politisches Programm, das, wenn man esnicht richtig macht, wirtschaftlich zum Turbokapitalis-mus führen kann.
Wir haben in den letzten Jahren die Situation gehabt,daß 20 Prozent der Weltbevölkerung 80 Prozent derRessourcen verbraucht haben. Auf der anderen Seite hates eine Reregulation auf den internationalen Märktenzugunsten von globalisierten Unternehmungen gegeben,und die lokalen Märkte haben ihre Rolle verloren.All dem versucht der G-8-Gipfel in Köln entgegen-zuwirken. Das ist gut so. Die Umweltministerkonferenzder G-8-Staaten in Schwerin Ende März zum BeispielUrsula Lötzer
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hat sehr konkrete Maßnahmen auf den Weg gebracht mitdem Ziel, einen kohärenten globalen ökologischen Ord-nungsrahmen mit multilateralen Vereinbarungen und In-stitutionen zu schaffen.Das Ziel, die internationale Zusammenarbeit auch be-züglich der Umweltstandards und -normen zu beschleu-nigen, ist bei der letzten WTO-Verhandlungsrunde, beider Uruguay-Runde, leider unter den Tisch gefallen. So-zialstandards und Umweltstandards haben eben keineRolle gespielt. Im Gegenteil: Sie wurden als hinderlichbetrachtet. Es sollte statt dessen sogar ein Abkommengeschlossen werden, das solche Dinge praktisch aus-nimmt – MAI –.Daß wir selbst davon betroffen sind und genauso wiedie Arbeitnehmer, die in den jeweiligen Ländern dannfür uns arbeiten, darunter leiden, wenn dieses nicht ge-macht wird, sieht man an folgendem praktischen Bei-spiel: Eine Waschmaschine, die wir in Deutschland kau-fen und auf der „made in Germany“ steht, ist hier nurnoch zusammengebaut, konfektioniert worden. Sie istnicht vollständig hier produziert worden. Die Teile sindin aller Welt eingesammelt, eingekauft worden. DieProduktionsmethoden, die dort angewandt werden, ha-ben wir nicht unter Kontrolle. Wenn wir zum Beispieleinen Dichtungsring für die Waschmaschine, der hiereingebaut werden soll, in Taiwan kaufen, so ist zu be-achten, daß dort Benzol als Lösemittel benutzt wird, dashier aus Arbeitsschutzgründen, aus sozialen Gründenund natürlich auch aus Umweltschutzgründen überhauptnicht mehr benutzt werden darf. So passiert es, daß wirmit dem Kauf einer Waschmaschine „made in Ger-many“ auf einmal Benzol in der Küche oder im Kellerhaben.Daher ist es doch sinnvoll, zu sagen: Wir machengemeinsame Standards. Wir schaffen für den Schutz derMenschen dort und für unseren Schutz Abkommen, indenen diese Dinge tatsächlich geregelt sind. Das ist einganz wichtiges Ziel, das in Köln vereinbart werden soll.
Ein weiterer Punkt: Wenn ich mir anschaue, wie HerrSchäuble hier Gift und Galle gespuckt hat
und wieder einmal das Programm für arbeitslose Ju-gendliche kritisiert hat, muß ich ganz ehrlich sagen: Ichfinde es wirklich frivol, daß die Tatsache, daß die Ju-gendlichen in Arbeit sind, hier so diskreditiert wird. Wirhaben doch alle einen Vorteil davon, wenn zum Beispieldie Rechtsradikalen, wie bei der letzten Wahl, möglichstwenig Stimmen bekommen. Das ist doch gut für dieDemokratie. Wenn Menschen Arbeit haben, dann ist derDrang, sich zu radikalisieren, nicht so groß. Dies ist einwichtiger Punkt bei der Stabilisierung, die wir inDeutschland brauchen, die wir aber auch in anderenLändern voranbringen wollen.Der Bundeskanzler hat vom „magischen Viereck“der Modernisierung gesprochen: von wirtschaftlicherWettbewerbsfähigkeit, aber auch von sozialer Gerech-tigkeit – das heißt eben auch: Arbeit für alle –, vonökologischer Nachhaltigkeit in den Ländern, in denenproduziert wird, und hier sowie von rechtsstaatlicherDemokratie. Das gehört doch zusammen! Das ist einganz wichtiger Teil der Außenpolitik, die von dieserBundesregierung betrieben wird. Wir versuchen, auf derWelt insgesamt eine bessere Verteilung hinzubekom-men, damit die demokratische Entwicklung voran-schreitet und damit wir Krisenherde schon im Vorfeldvermeiden können.
Ein ganz wichtiger Faktor ist zum Beispiel die Fragedes Stabilitätspaktes im Balkan. Ich nehme einmal dasBeispiel Ruanda: Wir haben neulich mit dem UN-Generalsekretär Kofi Annan gesprochen. Er hat gesagt,er habe lange vorausgesehen, daß es in Ruanda einenKonflikt geben werde. Auf Grund dieses drohendenKonfliktes hat er gesagt: Wir müssen dort etwas unter-nehmen, wir müssen Länder dazu bewegen, etwas zutun. Das heißt, die UNO sollte als wichtiges Instrumenteingesetzt werden. Was hat er gemacht? Er hat telefo-niert, hat versucht, Länder zu mobilisieren, dort einzu-greifen, und zwar weit im Vorfeld, bevor der Konfliktrichtig hochgekommen ist. Was ist passiert? Die ange-sprochenen Länder haben keine Präventionsnotwen-digkeit gesehen.Auch die SPD-Fraktion hat lange vor Ausbruch desKonflikts bei der letzten Regierung 50 Millionen DMbeantragt, um in Ruanda im Vorfeld wirtschaftliche Hil-fe zu leisten und die Wirtschaft aufzubauen. Die 50Millionen DM sind nicht genehmigt worden. Aber hin-terher mußte man 380 Millionen DM für humanitäreHilfe aufwenden, um die Folgen dieses Krieges auszu-gleichen, der dann in Ruanda ausgebrochen ist, weil diePrävention und die wirtschaftliche Hilfe nicht funktio-niert haben. Das ist also viel teurer.Das heißt, die Krisenprävention, die Vorbeugung ge-gen Krieg muß auf dem G-8-Gipfel eine ganz wichtigeRolle spielen. Darauf müssen wir auch unsere Finanz-mittel konzentrieren; denn wenn wir jetzt sparen, habenwir in zwei oder fünf Jahren viel höhere Kosten zu tra-gen, als wenn wir jetzt zahlen. Das wird auch hinsicht-lich des Stabilitätspaktes gelten, der auf dem Gipfel inKöln ebenfalls ein ganz wichtiger Punkt sein wird.
– Indien und Pakistan, das ist ein gutes Beispiel. Ichdenke, daß dort eine Kooperation notwendig ist. Das istauch etwas, was die letzte Bundesregierung versäumthat.
Ich hatte die Freude, Herr Waigel, zusammen mit demAusschußvorsitzenden Klose und dem KollegenSchwalbe nach Indien und Pakistan zu reisen. Das wardie erste Reise seit langem, die Vertreter dieses Parla-ments in diese Länder gemacht haben. Die Inder habenimmer wieder deutlich gemacht, daß sich die westlichenMonika Griefahn
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Länder nur auf China konzentrieren und mit China dis-kutieren, aber Indien als gleich großes Land, als Land,das sogar eine Demokratie hat, vernachlässigen nachdem Motto: Die kommen schon alleine zurecht. Ich haltees für sehr wesentlich, daß wir, ähnlich wie in den ande-ren Ländern, mit Indien im Vorfeld sehr intensiv zu-sammenarbeiten
und gerade zum jetzigen Zeitpunkt ganz intensive Kon-takte mit Indien und auch mit Pakistan pflegen.
Gerade mit Blick auf das, was vorhin zum Zusam-menbruch der Finanzmärkte gesagt worden ist, daßnämlich – als eine Auswirkung der Globalisierung –manches zu schnell nur in Kapitalbewegungen umge-setzt worden ist, halte ich es für besonders notwendig,daß wir Energie in globale Partnerschaften investieren,daß wir zusammenarbeiten und daß wir auch dort ganzfrüh anfangen, zu kommunizieren. Vorhin ist bereits dieFrage aufgeworfen worden – Herr Waigel und HerrBrüderle haben das getan –: Wie können wir zukünftigvormachen, wie zum Beispiel Energiepolitik oder auchandere Formen der Wirtschaftspolitik zu leisten sind,und wie gehen wir hinterher seriös damit um? Da kannich nur sagen: Wir versuchen, mitzuhelfen, daß dieBundesregierung überhaupt die Möglichkeit hat, mit denanderen G-8-Ländern intensiv darüber zu diskutieren,daß wir weltweit eine neue Energiepolitik brauchen.Machen wir uns doch nichts vor: Die Kernreaktoren, dieim Osten überall am Netz sind, sind zum Teil marode,zum Teil nicht nachrüstbar. Für ihre Nachrüstung undTechnik binden wir Geld, das dann zum Beispiel bei derEinführung von Energieeinsparmethoden, beim Aufbaueiner dezentralen Energieversorgung und Wärmenut-zung fehlt. Man sieht das auch daran, daß sich die Welt-bank, der man ja nicht nachsagen kann, daß sie ideolo-gisch besonders fixiert ist, an der Nachrüstung von östli-chen Reaktoren nicht beteiligt. Vielmehr finanziert siestatt dessen ein Programm zur Energieeinsparung, das„Kiew 2000“ heißt und das Energieeinsparung und dieNutzung regenerativer Energien vorantreiben soll.
– Herr Waigel, das ist falsch. Die Ukraine hat 199753 Millionen Gigawatt produziert und hat 1997 27 Mil-lionen Gigawatt verbraucht.
Falsch ist auch die Behauptung, daß die Reaktorenschon zu 80 Prozent fertig sind. Ebensogut könnten Siesagen: Der Schürmann-Bau ist zu 80 Prozent fertig.
Denn dort stehen zwei Betonruinen, die man 1981/82 zubauen begonnen hat und die dann 1991 nicht weiterge-baut worden sind. Sie wissen selber, daß Gebäude, diezehn und mehr Jahre irgendwo herumstehen und dienicht weitergebaut werden, nicht in sinnvoller Weisefertiggebaut werden können, sondern daß es dann besserist, sie abzureißen und etwas Neues zu bauen. Dafür set-zen wir uns ein, darüber diskutieren wir auch mit Abge-ordneten in anderen Parlamenten und versuchen, mitihnen eine gemeinsame Position zu erarbeiten und einegemeinsame Bewegung hinzubekommen, auch mit derUkraine. Das ist unser Ziel.Ich komme zu den Rahmenbedingungen für den Ar-beitsschutz – auch das ist ein ganz wichtiger Punkt –:Umweltschutz und Arbeitsschutz hängen sehr eng mit-einander zusammen. Ich möchte das nicht immer nur aufetwas reduzieren, worüber man sich sehr schnell ver-ständigen kann, etwa auf das Beispiel Kinderarbeit. Dasist ein wichtiger Punkt; darin sind wir uns einig. Aller-dings muß ich hinzufügen, daß es in vielen Ländern eineDiskussion gibt: Bringt das nicht noch mehr Probleme,zum Beispiel den Anstieg der Kinderprostitution? Wennich mir vor Augen halte, daß in vielen Ländern das Zieldes Arbeitsschutzes dazu benutzt wird, Produktionenvon dort woandershin zu verlagern, so daß man sagenkann: „Wir sind hier sauberer geworden“, dann muß ichsagen, daß ich auch das nicht akzeptieren kann. Es darfnicht nach dem Motto „Aus den Augen, aus dem Sinn“verfahren werden. Manche Firmen lassen beispielsweiseLeute unter den schlechtesten ArbeitsbedingungenPhosphat abbauen – auch Kinder sind darunter –, wasnichts daran ändert, daß wir hier Dinge in den Müllschmeißen, die – Klärschlamm beispielsweise – einenhöheren Phosphatgehalt aufweisen als das, was in Chinaoder Marokko abgebaut wird. Über diese Punkte mußjetzt dringend im Rahmen der WTO verhandelt werden.Dieses Problem hängt auch sehr wesentlich mit demVerbraucherschutz zusammen. Insofern bin ich sehrdankbar dafür, daß sehr intensive Gespräche zum Bei-spiel über die Frage des Hormonfleisches und der Bana-nen geführt werden, um das alles zu klären, so daß wirnicht in die Lage kommen, daß ständig mit Hilfe derRegeln der WTO, wie sie einmal aufgestellt wordensind, der Verbraucherschutz, der Umweltschutz, der Ar-beitsschutz oder der Sozialschutz ausgehebelt werden.Ich will einen weiteren wichtigen Punkt nennen: dieGentechnik. In 40 Ländern gibt es dazu keine Gesetz-gebung; dort werden Experimente ohne Regelungendurchgeführt. Es wird Embryonenforschung betrieben;es wird das Klonen von Menschen erprobt. Für michstellt sich dabei die Frage: „Wo fängt dabei der Kanni-balismus an?“, wenn man zum Beispiel menschlicheGene in Tiere einpflanzt. Wenn diese Dinge frei gehan-delt werden können, ohne daß man sich darauf verstän-digt hat, daß es in anderen Ländern eine ähnliche Ge-setzgebung geben sollte wie bei uns, dann haben wirauch ein ethisches Problem. Ich denke, wir brauchenauch eine ethische Diskussion.Wir brauchen eine Stärkung der betreffenden In-strumente. Wir müssen im Rahmen der G 8 zusammen-arbeiten, aber wir müssen auch die UNO einbinden. DieUNO ist ja nach 1945 als das Instrument akzeptiert wor-den, in dessen Rahmen man gemeinsam Weltpolitik ma-chen kann. Wir werden auch im Deutschen Bundestag inder nächsten Zeit sehr intensiv über die UNO und ihreMonika Griefahn
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Funktion diskutieren. Ich hoffe, daß die Kooperationzwischen UNO, G 8 und der Europäischen Union inallen diesen Fragen konkret vorangeht. Denn nur sokönnen wir auf der Erde Gerechtigkeit, aber auch Si-cherheit und Stabilität für uns hinbekommen. Die egoi-stische Komponente spielt dabei immer eine Rolle. Das,so glaube ich, bewegt uns wahrscheinlich letztendlichdazu, die notwendigen Schritte zu gehen, auch wenn sieGeld kosten.Danke schön.
Als nächste Redne-rin spricht nun für die CDU/CSU-Fraktion Dr. MartinaKrogmann.Dr. Martina Krogmann (von Abgeord-neten der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Herr Präsi-dent! Meine Damen und Herren! Frau Griefahn hat mitder Beschwörung der Waschmaschine gerade versucht,die Regierungspolitik reinzuwaschen.
Dazu muß ich ganz klar sagen: Wir Jungen in Deutsch-land sind entsetzt über Ihre alte, rotgrüne Politik.
Sie reden von der Konsolidierung der Staatsfinanzen;aber Sie geben in diesem Jahr 29 Milliarden DM mehraus. Sie reden von der Flexibilisierung der Arbeits-märkte; aber Sie haben gerade erst alle Reformen zu-rückgedreht. Sie reden auch von der Notwendigkeiteiner Steuerreform; aber Sie verschieben sie auf dasübernächste Jahr. Und Sie reden davon, daß wir mehrUnternehmer brauchen; aber anstatt Selbständige zu för-dern, Unternehmertum zu fördern, beschließen Sie einGesetz, das Freiberufler und junge Existenzgründer alsScheinselbständige diffamiert.
Zwischen dem, was Sie sagen, und dem, was Sie tun,besteht ein riesiger Widerspruch. Ich kann dazu nur sa-gen: Mit dieser Politik werden Sie die Herausforderun-gen der Globalisierung nicht bewältigen können.
Bis weit in das rotgrüne Lager hinein besteht die Vor-stellung, Globalisierung sei der Kampf des Starken ge-gen den Schwachen: Der eine nimmt, dem anderen wirdgenommen. – Dies ist ökonomischer Unsinn. Die welt-weite Verflechtung der Wirtschaft führt zu Zugewinn füralle: bei den starken Ländern und großen Konzernenebenso wie bei den schwachen Ländern und Mittel-ständlern. Der weltweite Wohlstand steigt, und ein akti-ves Gestalten und Voranbringen des Prozesses der Glo-balisierung wird allen nutzen und wesentlich zur Besei-tigung der globalen Probleme beitragen.Wir in Europa haben alle Chancen dazu. Wir haben inden vergangenen Jahren mit dem Binnenmarkt, mit demCardiff-Prozeß und vor allem mit der Einführung desEuro wesentliche Fortschritte gemacht.
Damit haben wir die Grundlage dafür geschaffen, imweltweiten Wettbewerb mithalten zu können. Es ist eineinheitlicher Wirtschaftsraum mit einer einheitlichenWährung entstanden.Die Begrüßung des Euro an den internationalen De-visenmärkten war geradezu euphorisch; die Marktteil-nehmer glaubten an eine harte Währung. Sie vertrautenauf den Stabilitätspakt. Aber das Vertrauen haben Sieverspielt. Der Stabilitätspakt wurde unter Ihrer Ratsprä-sidentschaft durch die Ausnahmeregelung für Italienaufgeweicht.
Der Euro fällt! Es ist doch schlimm, wenn renommierteinternationale Zeitungen wie der „Economist“ vonDeutschland als dem „kranken Mann des Euro“ spre-chen.
Sie haben eine gesunde Volkswirtschaft in acht Monatenkrank gemacht. Ach, wenn wir doch wieder einen Wai-gel hätten!
Die soziale Marktwirtschaft war nie nur ein Wirt-schaftsmodell. Sie war, ist und bleibt auch immer einGesellschaftsmodell. Die soziale Marktwirtschaft spie-gelt unsere Vorstellung von Demokratie, von Freiheitund sozialer Sicherheit wider. Wissen Sie, was ichwirklich nicht verstehe?
Hiervon steht in dem kalten Schröder/Blair-Papier auchnicht nur ein einziges Wort.
Auf dieses Dokument sozialdemokratischer Ratlosigkeitkönnen wir dann wohl sehr gut verzichten!
Weil wir die soziale Marktwirtschaft haben, geht esbei den Herausforderungen der Globalisierung natürlichnicht nur um Börsenwerte, Shareholder Value oder Bi-lanzkennziffern. Betroffen von Ihrer Politik sind dieMenschen, die sich Sorgen um ihren Arbeitsplatz ma-chen. Betroffen sind auch die jungen Leute, deren Per-spektiven und künftige Bewegungsspielräume Sie durchdie Politik der Staatsverschuldung und der hohen Steu-ern einengen. Es geht um nichts weniger als um Zu-kunftschancen und Zukunftsgerechtigkeit.
Monika Griefahn
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Rotgrün ist weit davon entfernt, dafür die notwendi-gen Voraussetzungen zu schaffen. Die einen, die Tradi-tionalisten, lehnen den Modernisierungskurs grundsätz-lich ab, die anderen, die selbsternannten Modernisierer,bleiben bei ihrer unverbindlichen Wettbewerbsrhetorik,
ohne den Ankündigungen Taten folgen zu lassen. MitIhrer Politik werden wir die Herausforderungen derGlobalisierung nicht bestehen.
Die junge Generation erwartet nicht den alten Mief,sondern eine moderne, weltoffene Politik.Vielen Dank.
Es spricht nun fürdie Bundesregierung die Bundesministerin für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, FrauHeidemarie Wieczorek-Zeul.Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habegestern abend – die Vertreter der Kirche haben gesterngetagt und tagen heute – an einer Konferenz teilgenom-men, auf der sich sowohl die evangelische als auch diekatholische Kirche in ausführlichen Diskussionen mitden Themen, die den Weltwirtschaftsgipfel betreffen,beschäftigt hat. Sie haben ein Dokument, das sich „Glo-balisierung der Solidarität“ nennt, beschlossen.Angesichts der Ernsthaftigkeit, mit der solche Grup-pen in unserer Gesellschaft die Diskussion über die Pro-bleme der Globalisierung führen, finde ich es eineSchande für den Deutschen Bundestag, daß ein Teil die-ses Hauses den Versuch unternimmt, hier billigste par-teipolitische Münze auszuzahlen.
Es ist gegenüber den Themen, vor allen Dingen aber ge-genüber den gesellschaftlichen Gruppen, die darüberdiskutieren, unangemessen. Deshalb sollten manche vonIhnen, die hier solche Sprüche geklopft haben, im Do-kument „Globalisierung der Solidarität“ einmal nachle-sen, was darin zur internationalen Finanzordnung bis hinzur Welthandelsorganisation und ihren Reformen ausge-führt wird. Dann würden manche von Ihnen wirklichblaß und könnten einen Teil der Ausführungen in ihreArgumentation übernehmen.Meine Vorrednerin hat den Eindruck vermittelt,durch die Globalisierung gäbe es eigentlich nur Gewin-ner. Das ist ein Stück Nichtwahrnehmung von Reali-tät. Ich trage Ihnen einmal vor, was die Weltbank am7. Juni veröffentlicht hat. James Wolfensohn, der Präsi-dent, hat einen Bericht „Makroökonomische Krisen unddie Armut – Politische Antworten“ vorgelegt. Der Tenorder Berichterstattung ist: Armut in dritter Welt nimmtzu. Wolfensohn wird zitiert:Die asiatische Finanzkrise hat zu einer dramatischenTrendwende beim Abbau der Armut in der drittenWelt geführt. Die Weltbank registriert eine erhebli-che Zunahme der Armut, speziell in Asien, in Afrika,in Osteuropa und in den Entwicklungsländern.Im Bericht wird empfohlen – da mögen manche zuhö-ren, die sagen, etwas ganz anderes sei notwendig –: Dassoziale Sicherheitsnetz – Arbeitslosenversicherung, Sub-ventionierung von Schulgeld, Programme zur Arbeitsbe-schaffung und Subvention von Grundnahrungsmitteln –sei für die durchgreifende wirtschaftliche Erholung einesvon der Krise betroffenen Landes notwendig.Ich spreche das deshalb an, weil das eine der zentralenFragen ist, die uns heute beschäftigen muß. In zehn Län-dern Südostasiens ist das Volkseinkommen 1998 ange-sichts der Folgen der Finanzkrise um 7 Prozent gesunken.Die Globalisierung hat Auswirkungen nicht nur aufdas Nord-Süd-Verhältnis und auf das West-Ost-Ver-hältnis, sondern auch auf unsere Gesellschaften. Da gibtes Gewinner und Verlierer. Wir sollten im Rahmen un-serer Kräfte alles dazu beitragen, daß die wirtschaftlicheGlobalisierung auch mit einer Globalisierung der politi-schen Verantwortung beantwortet wird. Willy Brandthat das „global governance“ genannt. Wir brauchen– das haben auch die Kirchen gefordert – eine neueWeltordnungspolitik, damit die Globalisierung endlichauch politisch und sozial gestaltet werden kann und da-mit es so etwas wie soziale Marktwirtschaft überhauptnoch geben wird.
Wie kommen Finanzkrisen zustande, und welcheAuswirkungen haben sie? Sie sind doch das Ergebnisprivater Kapitalspekulationen. Wir können gar nicht soviel finanzielle Mittel für Entwicklungszusammenarbeitaufbringen, wie durch die letzten Finanzkrisen den Ent-wicklungsländern geschadet worden ist und wie die Le-bensverhältnisse der Menschen in den Entwicklungslän-dern durch diese Krisen verschlechtert worden sind.
Deshalb greife ich den Ansatz einer neuen internatio-nalen Finanzarchitektur auf, über die auch auf demWeltwirtschaftsgipfel beraten wird. Dies ist ein Element.Aber es gibt auch noch andere Elemente dieser neu zuschaffenden Weltordnungspolitik. Ich greife in diesemZusammenhang das auf, was Monika Griefahn hierzugesagt hat. Wir sollten gerade auch nach den Erfahrun-gen mit dem Jugoslawien-Kosovo-Konflikt eine Stär-kung der Vereinten Nationen fordern, um eine Weltord-nungspolitik zu etablieren. Wir brauchen einen UNO-Sicherheitsrat, in dem nicht nur nationale Sicherheitsin-teressen vertreten, sondern die Menschenrechte wirklichglobal und universell ausgelegt und entsprechend ver-wirklicht werden. Das wäre Weltordnungspolitik.
Dr. Martina Krogmann
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Es liegt eine Klimakonvention vor, die umgesetztwerden muß. Des weiteren müssen die Prinzipien derInternationalen Arbeitsorganisation praktisch umgesetztwerden. Ich halte es für einen hervorragenden Erfolg,daß sich die ILO endlich dazu durchgerungen hat, aus-beuterische Kinderarbeit nicht nur zu ächten, sondernauch dazu beizutragen, daß sie nicht mehr praktiziertwird.Wir müssen über viele dieser Rahmenbedingungendiskutieren, und wir müssen sie in der Praxis verbessern.Schon in der Vorbereitung des jetzigen Weltwirtschafts-gipfels gab es in dieser Beziehung gewisse Verbesse-rungen und Ergebnisse, die sich meines Erachtens sehenlassen können.Ich möchte in diesem Zusammenhang die Entschul-dungsinitiative ansprechen, die die Bundesregierungvorangebracht hat. Ich möchte hier auch einmal all denInitiativen danken, die sich im Rahmen der Kirchen undder Erlaßjahrkampagne engagieren, um ein Signal derHoffnung für Millionen von Menschen und für Millio-nen von Kindern zu setzen, daß sie nicht dem Hungertodgeweiht sind.
Sie engagieren sich, um ein Signal zu setzen, daß Men-schen am Ende dieses Jahrhunderts auch in ihrem eige-nen Land einen Anspruch auf Gesundheit und Bildunghaben. Ich bin stolz, daß unser Ministerium den Anstoßfür eine solche Entschuldungsinitiative gegeben hat unddaß ein wirklich substantieller Erlaß der Schulden undeine Entschuldung der ärmsten Entwicklungsländer aufdem Weltwirtschaftsgipfel beschlossen werden wird.Das wird ein ganz wichtiges Signal des Weltwirtschafts-gipfels sein.
Ich möchte hier aber auch darauf hinweisen, daß esdarum geht, daß die ärmsten Entwicklungsländer wiedereine Chance haben, in die weltwirtschaftlichen Bezie-hungen integriert zu werden. Aber Voraussetzung, daßder Schuldenerlaß für sie wirksam wird, ist, daß die be-troffenen Länder eine verantwortliche Regierungsfüh-rung praktizieren und sich die Programme, die dannanlaufen, auf Bekämpfung der Armut, Verwirklichungvon Basisgesundheit und Grundbildung konzentrieren.
– Selbstverständlich. – Es gibt also keinen unkonditio-nierten Erlaß. Dazu stehe ich auch.In dem Entwurf, den der Weltwirtschaftsgipfel be-schließen wird, fordern die G-7-Staaten den Internatio-nalen Währungsfonds und die Weltbank aber auch aus-drücklich auf, die Programme gemeinsam mit den betei-ligten Ländern so umzusetzen, daß soziale Ausgaben ge-schützt werden, die Armut bekämpft wird und daß dasBildungs- und Gesundheitswesen ausgebaut wird. Esgibt Länder, die solche Maßnahmen für ihre Bevölke-rung überhaupt nicht mehr alleine finanzieren können.Eine weitere Forderung ist die Beteiligung der Zivilge-sellschaft an dieser Entwicklung.Darauf – das verspreche ich all denjenigen, die ihreHoffnung darauf setzen – werden wir in unserer Eigen-schaft als Anteilseigner der Weltbank und als Mitglieddes IWF gemeinsam mit den anderen G-7-Ländern so-wie den dort vertretenen EU-Ländern sorgfältig achten.Wir wollen nämlich, daß der neugewonnene finanzielleSpielraum dieser ärmsten Entwicklungsländer den Men-schen und nicht irgendwelchen korrupten Potentaten zu-gute kommt. Wir wollen, daß die Mittel nicht in Militär-ausgaben fließen, sondern für die Befriedigung der Be-dürfnisse der Menschen ausgegeben werden und sowirklich einen Beitrag zur Entwicklung dieser Länderleisten.
Das ist auch im Interesse der Menschen hier, die ja vielHilfsbereitschaft beim Spenden gezeigt haben. Dabeihaben sie stets zur Voraussetzung gemacht, daß dieMittel auch dahin gelangen, wo sie ankommen sollen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die BundesrepublikDeutschland – diesen Punkt betone ich noch einmal –hat als exportierendes Industrieland ein Eigeninteressedaran, daß Stabilität in der Welt gesichert wird. Es istdoch besser, diese Mittel für die Befriedigung derGrundbedürfnisse von Menschen zu investieren, als mitMilliardenaufwand die Schäden von Krisen und Kriegenzu reparieren. Wir tun also etwas für die Stabilität in derWelt, wenn wir dazu beitragen, daß die ärmsten Ent-wicklungsländer entschuldet werden. Es nutzt ihnen; esnutzt auch den Industrieländern. Es ist ein Akt der Soli-darität im Rahmen der Globalisierung. So verstanden,sollte diese Debatte heute ein Signal an die vielen Mil-lionen Menschen sein, für deren Zukunft wir uns ge-meinsam mit Ihnen engagieren.Ich bedanke mich sehr.
Für die SPD-
Fraktion spricht nun die Kollegin Brigitte Adler.
Sehr geehrter Herr Präsident!Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Ergebnissedes Weltwirtschaftsgipfels in Köln werden von denhochverschuldeten Ländern mit Spannung erwartet.Katholische Bischöfe und Kardinäle aus Asien, Latein-amerika und Afrika unterstützten im Gespräch mit demHerrn Bundeskanzler am vergangenen Montag die Be-mühungen um spürbare Schuldenerleichterungen.Auch der Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenar-beit nutzte die Gelegenheit, sich mit den kirchlichenWürdenträgern über die Kampagne „Erlaßjahr 2000“auseinanderzusetzen. Die Schuldenproblematik waraußerdem bereits Gegenstand einer öffentlichen Anhö-rung. Es findet also eine breite öffentliche Debattestatt. Über die Notwendigkeit einer Entschuldung be-steht aber wohl Einigkeit.Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
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Nun mag der eine oder andere behaupten, die vorge-sehene Entschuldung bei Entwicklungshilfegeldern umbis zu 100 Prozent und bei Handelsschulden um etwa90 Prozent bedeute nicht so viel, in Köln gehe es nur umkleine Fische. In der Tat nimmt sich in Anbetracht allerVerbindlichkeiten der ärmsten Staaten von mehr als2 Billionen US-Dollar ein Entlastungseffekt von etwa70 Milliarden US-Dollar mickrig aus. Wir sprechen hiervon nicht einmal 3 Prozent der Gesamtschulden. Trotz-dem sind die Maßnahmen politisch mehr wert, als es dienackten Zahlen ausweisen. Persönlich verbinde ich ge-meinsam mit vielen entwicklungspolitischen Nichtregie-rungsorganisationen und interessierten Menschen, dieübrigens weltweit gesammelte Unterschriften dem HerrnBundeskanzler in Köln übergeben werden, die Hoffnungauf einen tatsächlichen Schritt in die Richtung eines fai-ren, völkerrechtlich verbindlichen Interessenausgleicheszwischen Gläubigern und Schuldern. Das hat es bishernoch nicht gegeben, und es war schon lange überfällig.Eines dürfte wohl auch klar sein: Ohne das entschie-dene Engagement von Ihnen, Frau Ministerin Wieczo-rek-Zeul, hätte sich im internationalen Schuldenmana-gement nicht so viel positiv entwickelt. Anerkennens-wert ist auch, daß der Bundeskanzler in seiner Redeheute der Entwicklungspolitik so viel Gewicht beige-messen hat. Deshalb gilt es, die Chance zu nutzen, nichtnur im vielzitierten „wohlverstandenen Eigeninteresse“,sondern auch um der Gerechtigkeit willen.Schuldenerlaß allein garantiert keine solidarischeWelt. Was nutzt ein Schuldenerlaß, wenn gleichzeitigdie Gläubigerländer einen fairen internationalen Handelverhindern? Im Herbst stehen in Seattle die WTO-II-Verhandlungen an. Die Handelsliberalisierung wirdweiter voranschreiten. Wichtige weichenstellende Ent-scheidungen stehen auf der Tagesordnung. Den Ent-wicklungsländern bleibt gar keine andere Wahl, alsRahmenbedingungen zu schaffen, um an den prognosti-zierten Wohlfahrtsgewinnen zu partizipieren. OhneSchuldenerleichterungen würden erst recht weiterhin je-ne die Zeche bezahlen, denen der Nutzen aus dem inter-nationalen Handel letztlich zugute kommen sollte, näm-lich den Millionen von Hungernden, den Marginalisier-ten und den Besitzlosen.Ohne die Mitwirkung der OECD-Staaten an einerpartnerschaftlichen Teilhabe der Entwicklungsländer amLiberalisierungsnutzen wird die globale Ungleichheitbeschleunigt zunehmen, wird die Schere zwischen Ar-men und Reichen weiter auseinanderdriften. Das, ver-ehrte Kolleginnen und Kollegen, ist kein Horrorszena-rio, sondern die traurige Wahrheit. Dem müssen wir et-was entgegensetzen.Wenn die Bundesregierung Entwicklungsländer alsodabei unterstützt, ihre WTO-Verhandlungskapazitätenauszubauen, wenn die Bundesregierung Hilfestellungenin der Nachbereitung der Ergebnisse der Uruguay- undder anstehenden WTO-Runde leistet und wenn die Bun-desregierung dies in ihrer eigenen und der europäischenEntwicklungszusammenarbeit berücksichtigt – ich erin-nere in diesem Zusammenhang an die Ergebnisse desEZ-Ministerrates vom 21. Mai dieses Jahres –, dann se-he ich uns auf dem richtigen Weg. Der neue Kurs in derdeutschen Entwicklungszusammenarbeit trägt Früch-te, und das ist ein Verdienst dieser Bundesregierung.Die Erwartungen und Hoffnungen in bezug auf dieWTO-II-Runde Ende des Jahres dürfen kein Kredo imSinne automatischer Lösungen für die drängenden Pro-bleme auf unserem Globus sein. Der Markt allein wirdin absehbarer Zukunft nicht in der Lage sein, Ressour-cen und Benefits effektiv, fair und gerecht zu verteilen.Der Markt allein wird es nicht schaffen, der Verwirkli-chung des Rechts auf Nahrung zum Durchbruch zu ver-helfen. Der Markt allein sorgt auch nicht für eine ge-rechte internationale Wettbewerbsordnung, die inter-nationale Kartelle und Preisabsprachen verhindert undeine weltweite Fusionskontrolle ausübt.Die im Herbst beginnende Verhandlungsrunde derWTO sollte deshalb nicht schnell erzielte Ergebnissehervorbringen. Es kommt entscheidend darauf an, in-wieweit demokratische Entscheidungsmechanismen dieVerhandlungen bestimmen. Insofern gilt es, für Transpa-renz und Klarheit in der Arbeitsweise der Welthandels-organisation zu sorgen, sich massiv für die gleichbe-rechtigte Teilnahme der Entwicklungsländer an den Ent-scheidungsprozessen einzusetzen, die Nichtregierungs-organisationen, die Zivilgesellschaft als solche stärkereinzubeziehen und in diesem Sinne eine kooperative Zu-sammenarbeit mit anderen multilateralen Organisatio-nen, wie der Weltbank und dem UNDP, anzustreben.Wir müssen und werden einen Beitrag leisten, dieWeichen für eine gerechte Welt zu stellen. Dazu gehörtauch die Nachbereitung und die Fortschrittskontrolle inbezug auf die Weltkonferenzen der Vereinten Nationen.Was wären all diese Aktionspläne wert, wenn sie imgroßen Liberalisierungs- und Globalisierungskonzeptunberücksichtigt blieben? Ohne unser ernsthaftes Be-mühen und ohne unser klares Bekenntnis in Worten undTaten zu den gefaßten Beschlüssen in Rio, in Kopenha-gen, in Kairo, in Peking oder in Rom würde das ganzeSystem seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen.Die Entschuldung der Entwicklungsländer ist ein be-deutender Schritt zu mehr Gerechtigkeit und bedeuteteine reale Chance für wirtschaftliche Entwicklung. DieBundesregierung hat mit ihrer Initiative das richtigeSignal gesetzt. Wenn wir nun dazu beitragen können,daß in gleichem Maße Investitionen in menschlichenFortschritt geleistet werden, dann haben wir meines Er-achtens einen positiven Beitrag geleistet – ich zitiere da-zu das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen–, „daß unsere Zukunft nicht bloß vom Schicksal gege-ben ist, sondern daß wir sie“ – unser aller Zukunft –„gestalten müssen“.Vielen Dank.
Als letzter Redner
in dieser Debatte spricht nunmehr der Kollege Bernd
Scheelen von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Ich ging davon aus, daß wir heuteBrigitte Adler
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über den Weltwirtschaftsgipfel reden, aber ich habefeststellen müssen, daß die Oppositionsparteien dieGelegenheit genutzt haben, über Innenpolitik zu reden.Deswegen will ich, bevor ich zum eigentlichen Themakomme, drei Dinge aufgreifen, die hier angesprochenworden sind.Ich möchte mit dem Kollegen Waigel beginnen, weiler freundlicherweise noch hier ist.
– Vielen Dank, ich anerkenne das außerordentlich.Herr Kollege Waigel, Sie haben vorhin dem Bun-deskanzler einen strategischen Fehler vorgeworfen: Erhätte nach der Wahl den Bürgern sagen müssen, derWaigel und der Kohl seien böse Buben, aber die SPDkönne deren Sozialkürzungen nicht zurücknehmen. Ichsage Ihnen, was wir gemacht haben. Wir haben das vorder Wahl gesagt. Damals sagten wir, der Kohl und derWaigel seien böse Buben und die SPD werde derenSozialkürzungen zurücknehmen. Genau das haben wirgetan, und deswegen haben die Menschen uns auchgewählt.
Der zweite Punkt betrifft die 630-Mark-Arbeits-verhältnisse.
Dazu darf ich feststellen, daß Sie uns die Wildwestme-thoden auf dem Arbeitsmarkt von vor der Wahl hinter-lassen haben.
Sie haben es jahrelang zugelassen, daß reguläre sozial-versicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse in unge-schützte Arbeitsverhältnisse umgewandelt werden. DieSchätzungen reichen von fünfeinhalb Millionen Arbeits-plätzen bis zu zehn Millionen Arbeitsplätzen. Ich sageIhnen ganz offen: Das, was wir auf diesem Gebiet be-schließen mußten, würden wir heute genauso wieder be-schließen,
auch wenn es in einzelnen Fällen weh tut. Die sozialeGerechtigkeit erfordert eine solche Regelung, wie wirsie gefunden haben.
Wir bekommen dafür mittlerweile auch Zustimmung,und ich werde Ihnen gleich eine Meinung dazu vorlesen.Wenn die Verleger feststellen, daß ihre Zeitungen mor-gens immer noch zugestellt werden, dann werden siediese Kampagnen gegen das Gesetz, die auch mit Un-wahrheiten geführt werden, einstellen.
Heute morgen war in meiner Zeitung zu Hause, in der„Rheinischen Post“ in Krefeld, im kommunalen Teil einArtikel – –
– Sie haben doch auch über Innenpolitik geredet; imMoment reden wir über 630-Mark-Jobs, und sie gibt esauch in Krefeld, nicht nur in Bonn oder in Bayern odersonstwo.Da hat der Obermeister der Gebäudereiniger eineMitteilung an die Presse gegeben. Ich lese Ihnen denentscheidenden Satz vor:Der „Richtung des neuen Gesetzes“, nämlich einerReduzierung der 630-Mark-Arbeitsverhältnisse,stimmt die Innung der Gebäudereiniger absolut zu.Deshalb bat Schmitz– das ist der Obermeister –darum, in keinem Fall wieder eine Nachbesserungbeziehungsweise Lockerung der jetzigen Gesetzevorzunehmen.
Die Überschrift des Artikels lautet: „Am besten kom-plett abschaffen.“
Der Herr Obermeister, der übrigens Mitglied Ihrer Parteiist, steht voll hinter dieser Regelung. Er sagt, er hättealle seine 600 Arbeitsverhältnisse, die er zwangsläufigauf der Basis der 630-DM-Regelung haben mußte, abge-schafft und dafür 200 sozialversicherungspflichtige Ar-beitsplätze geschaffen. Das ist genau das, was wir wol-len.
Die dritte Vorbemerkung, ein Satz noch zu dem Pa-pier von Bundeskanzler Schröder und dem britischenPremierminister Tony Blair. Ich empfehle allen, die hierwohlfeile Kritik vorbringen, nicht nur die Kommentareüber das Papier zu lesen, sondern es selbst einmal in dieHand zu nehmen und es durchzulesen.
– Diesen Text kann man sich über das Internet besorgen.An die Adresse des Kollegen Gysi gewandt – er istnicht mehr anwesend – sage ich: Er sollte einmal imSchröder/Blair-Papier den Absatz mit der Überschrift„Angebots- und Nachfragepolitik gehören zusammenund sind keine Alternativen“ lesen.
Das heißt, es wird eine Ausgewogenheit von Angebots-und Nachfragepolitik angestrebt, also nicht nur eine ein-seitige Angebotspolitik. Sie sollten das nachlesen. Mei-ne Damen und Herren, das Gipfeltreffen der Staats- undBernd Scheelen
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3644 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999
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Regierungschefs der G-7/G-8-Staaten am kommendenWochenende wird ein weiterer Schritt der erfolgreicheninternationalen Politik der Bundesregierung sein. Aufdiesem Gipfeltreffen werden Reformvorschläge zur in-ternationalen Finanzarchitektur eine wichtige Rollespielen. Denn den meisten wird immer klarer, daß dieenge internationale Vernetzung der Finanzmärkte, dieTatsache, daß man Milliardenbeträge innerhalb wenigerSekunden um den Globus herumlenken kann, eine bes-sere internationale Zusammenarbeit erfordern. Nichtzuletzt die vergangenen Finanzkrisen – ich nenne in die-sem Zusammenhang die Stichworte Asien und Latein-amerika – haben deutlich gemacht, daß hier Handlungs-bedarf besteht. Denn die internationalen Finanzmärktesind nicht immer effizient. Sie sind anfällig für Fehlent-wicklungen infolge mangelnder Transparenz, aber auchinfolge fehlenden Informationsaustauschs. Diese Fehl-entwicklungen müssen durch einen geeigneten Ord-nungsrahmen, der nicht national geregelt werden kann,verhindert werden.Im nationalen Bereich haben wir einen solchen Ord-nungsrahmen: Die soziale Marktwirtschaft vermeidet– zumindest größtenteils – Marktversagen und Fehlent-wicklungen. Aber auch die internationalen Märkte be-nötigen einen verbindlichen Ordnungsrahmen, um dieGefahren ungezügelter Märkte unter Kontrolle zu be-kommen.
Dafür brauchen wir internationale Vereinbarungen.Denn die Zeche für die gefährlichen Turbulenzen undenormen Schwankungen auf den Finanzmärkten zahlenimmer die Schwächsten in der Gesellschaft der betroffe-nen Länder, über Steuern letztlich aber auch unsere Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie diejenigenBetriebe, die noch ordnungsgemäße Arbeitsverhältnisseunterhalten.Ich sage mit Stolz, daß die SPD, Bündnis 90/DieGrünen und die Bundesregierung mit als erste auf dieNotwendigkeit internationaler Vereinbarungen für dieWeltfinanzmärkte hingewiesen haben, und zwar mit Er-folg. Denn mittlerweile sehen dies die Bundesbank, dieeuropäischen und internationalen Partner, die Weltbankund sogar die US-Notenbank genauso.In diesem Punkt haben die 16 Jahre Ihrer Regierungleider überhaupt nicht weitergeführt.
Sie mußten von den Partnern immer zu entsprechendenMaßnahmen gedrängt werden. Hier im Deutschen Bun-destag wurden solche Pläne von Ihnen als purer Diri-gismus abgetan. Sie waren der Meinung, daß nationaleMaßnahmen ausreichen. Dabei haben Sie übersehen, zuwelchen Folgen ein fehlender Ordnungsrahmen in derWelt führt und wieviel soziales Leid entsteht, wenn sol-che Turbulenzen, wie sie in Asien und Lateinamerikastattgefunden haben, die Menschen überraschen.Ein Punkt im Hinblick auf die Stärkung des Finanz-systems, den ich betonen möchte, betrifft die Finanz-marktaufsicht bezüglich der sogenannten Hedge Fundsund Off-shore-Finanzzentren. Bei den Hedge Funds– das wissen Sie – werden mit relativ kleinen Einsätzengewaltige Geldbeträge auf den internationalen Märktenbewegt. Die Arbeiten an der Stabilität des Finanz-systems müssen mit allem Nachdruck fortgesetzt wer-den. Wir sind auf die Zwischenbilanz gespannt, die aufdem Kölner Gipfel in bezug auf diesen Punkt vorgelegtwerden soll.
Wir Sozialdemokraten begrüßen, daß sich unsere Re-gierung der Stärkung der Architektur des internationalenFinanzsystems annimmt und daß sie – dies möchte ichbesonders hervorheben – für die ärmsten Länder mit derKölner Entschuldungsinitiative – ich übernehme hiergerne den Terminus, den die Ministerin eingeführt hat;denn ich glaube, daß der Begriff „Schuldeninitiative“falsch ist –
zusätzliche Schuldenerleichterungen vorgeschlagen hat.Wir sind sehr dankbar dafür, daß dieser Vorschlag ge-macht worden ist. Wir werden damit unserer internatio-nalen Vereinbarung gerecht.
Wenn ich jetzt noch Zeit hätte – leider ist meine Re-dezeit abgelaufen –, hätte ich Ihnen noch kurz etwas zurNotwendigkeit gesagt, Steuerschlupflöcher zu schließenund Möglichkeiten, Zinseinkünfte in andere Länder zuverlagern, abzubauen. Ich erwarte, daß sich der G-7/G-8-Gipfel mit dieser Thematik beschäftigt. Es gibt jaauch in unserem eigenen europäischen Bereich vieleMöglichkeiten für Unternehmer und Privatpersonen,steuerpflichtige Gewinne ins Ausland zu verlagern undVerluste hier bei uns anfallen zu lassen. Es ist dringendnotwendig, über den Kodex hinaus, den es mittlerweilegibt, auch hier zu verbindlichen Regelungen zu kom-men. Ich hoffe, daß vom Gipfel auch in diesem Punktein Signal ausgeht.Am Wochenende spielen in Köln im MüngersdorferStadion die „Rolling Stones“. Vielleicht ist das ein gutesOmen; denn ich gehe davon aus, daß vom G-7/G-8-Gipfel in Köln an diesem Wochenende einiges in Bewe-gung kommt, daß einige Steine ins Rollen kommen.Herzlichen Dank.
Ichschließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Über-weisung des Antrags der PDS auf Drucksache 14/954 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-geschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Wir kommen zum Antrag der F.D.P.-Fraktion aufDrucksache 14/1132. Die Fraktion der SPD und Bündnis90/Die Grünen haben beantragt, den Antrag an die in derTagesordnung genannten Ausschüsse zu überweisen.Bernd Scheelen
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Die Fraktion der F.D.P. verlangt hingegen sofortige Ab-stimmung. Nach ständiger Übung geht die Abstimmungüber den Überweisungsvorschlag vor. Ich bitte diejeni-gen, die dem Überweisungsvorschlag der Koalitions-fraktionen zuzustimmen wünschen, um das Handzei-chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dann ist derAntrag auf Überweisung mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen gegen die Stimmen von F.D.P. und PDSund einigen CDU/CSU-Abgeordneten bei Enthaltungeiner Reihe von weiteren CDU/CSU-Abgeordneten an-genommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:Befragung der BundesregierungDie Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-binettsitzung mitgeteilt: Bericht des Beauftragten derBundesregierung für die Koordinierung von deutschenHilfsmaßnahmen in Mazedonien.Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Berichthat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesmi-nister der Verteidigung Walter Kolbow. Herr Kolbow,bitte schön.W
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Ich trage aus der Sitzung des heu-tigen Bundeskabinetts vor. Ich darf Ihnen in Erinnerungrufen, daß wir als Aufgaben des Beauftragten festgelegthaben, die Bundesregierung zu beraten, die Unterstüt-zung der Regierung von Mazedonien vorzunehmen,Projekte zur Stabilisierung Mazedoniens in allen Polit-bereichen anzuregen, die deutschen Hilfsmaßnahmender Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen zukoordinieren und letztlich auch im ressortübergreifendenRahmen – das darf ich besonders herausstellen – desBundesministeriums des Auswärtigen, des Bundesmi-nisteriums des Innern, des Bundesministeriums für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und des Bundesministe-riums der Verteidigung tätig zu sein.Als Zwischenbilanz darf ich zum Ausdruck bringen,daß die Kontakte zur mazedonischen Regierung den ver-schiedenen Gruppierungen und Kräften sowie den na-tionalen wie internationalen Regierungs- und Nichtre-gierungsorganisationen entsprochen haben und daß wirdie Kontakte planmäßig auf- und ausgebaut haben. Ichmöchte – auch weil ich Herrn Schlee sehe – auf die Vor-arbeit in anderen Regionen, auch mit Herrn Koschnik,hinweisen, durch die wir auf Erfahrungen zurückgreifenkonnten, für die wir dankbar sind.Der Beauftragte der Bundesregierung ist in diesemZusammenhang als Partner der Regierung und der imLande tätigen Hilfsorganisationen positioniert und wirktim Rahmen seiner Möglichkeiten an der Stabilisierungdes Landes Mazedonien mit. Das Büro des Beauftragender Bundesregierung ist in Skopje von den nationalenund internationalen Hilfsorganisationen als Koordinie-rungsstelle, wie ausgeführt, mit ressortübergreifenderAufgabenstellung und Wirkung akzeptiert. Wir sinddankbar für die Besuche, die wir zum Beispiel auch vomAusschuß für Menschenrechte in Mazedonien und inAlbanien haben erleben dürfen und die uns in unsererAufgabe unterstützt haben. Herzlichen Dank, HerrSchwarz-Schilling.Die Lage in der Region ist so, daß die humanitäreSituation in Mazedonien vorerst zwar stabilisiert ist,aber weiterhin gemeinsame Anstrengungen erfordert.Erst wenn aufgrund politischer Vereinbarungen und derdarauf basierenden militärischen Implementierungsmaß-nahmen weitere Vertreibungen aus dem Kosovo nach-haltig auszuschließen sind und die Vertriebenen in we-sentlicher Anzahl in den Kosovo zurückgeführt werdenkönnen, ist die Flüchtlingslage wirklich gemeistert unddamit eine der wesentlichen Voraussetzungen für einegrundsätzliche politische Stabilisierung Mazedoniensgeschaffen.Die Größenordnung des Wiederaufbaus im Kosovowird nur mit zusätzlichen personellen und materiellenMitteln zu bewältigen sein. Ein bereits in Brüssel vor-liegender Vorschlag für ein mit einem überregionalenMandat ausgestattetes Büro der Kommission in Skopjeerscheint daher als die geeignete Lösung, das politischeund wirtschaftliche Gewicht der Europäischen Union imRahmen der Gesamtkoordinierung der Vereinten Natio-nen für den Wiederaufbau des Kosovo zur Geltung zubringen.Ich darf mich der weiteren Koordinierung der Hilfs-und Unterstützungsmaßnahmen zuwenden. Mazedonien,meine Damen und Herren, sollte auch weiterhin als Sta-bilitätsfaktor nach innen und nach außen gestärkt wer-den und einen besonderen Faktor deutscher Politik inder Region darstellen. In dem Maße, wie der Aufbaueiner internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo unddie Rückführung der Flüchtlinge Gestalt annehmen,können eine Entlastung Mazedoniens und die Entspan-nung der innenpolitischen und wirtschaftlichen Lage desLandes gelingen.Der Einsatz von Streitkräften im Kosovo wird zu-mindest in einer länger andauernden Anfangsphase zumgroßen Teil auch humanitäre Aufgaben beinhalten. Demwird in dem vom Deutschen Bundestag in der letztenWoche beschlossenen Bundeswehrkontingent durch ent-sprechende Kapazitäten zum humanitären Einsatz undzur zivil-militärischen Zusammenarbeit Rechnung ge-tragen.Die Herausforderungen, die sich beim Wiederaufbaudes Kosovo und der gesamten angrenzenden Regionstellen, machen nach wie vor eine ressortübergreifende,in multinationale Hilfsstrukturen eingebundene Netz-werkkapazität notwendig. In dieses Netzwerk sollte, sorege ich an, die in Skopje in Form des Büros des Beauf-tragten der Bundesregierung in Mazedonien aufgebauteStruktur eingebracht werden. Der kurzfristig gesetzteAuftrag, Mazedonien durch Maßnahmen der Soforthilfezu stabilisieren, ist – so kann ich dem Deutschen Bun-destag heute berichten – weitgehend erfüllt.Ob nun in Anbetracht des sich abzeichnenden Auf-baus eines mit einem überregionalen Auftrag oder Man-dat ausgestatteten Büros der Europäischen Union inSkopje auch mittelfristig ein Beauftragter der Bundesre-gierung zur Koordinierung der deutschen Hilfsmaßnah-Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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men in Mazedonien beizubehalten ist, sollte von derweiteren politischen Lagebeurteilung abhängig gemachtwerden.Unabhängig davon aber ist ein politisches Zeichengegenüber der mazedonischen Regierung wünschens-wert, um die deutsch-mazedonischen Beziehungen nichtnur auf hohem Niveau beizubehalten, sondern gegebe-nenfalls noch weiter ausbauen zu können, wie wir auchim Zusammenhang mit dem Besuch des mazedonischenStaatspräsidenten hier berichten und daran anknüpfenkönnen. In welcher Form dies geschehen könnte, sollteauch umgehend in den Ausschüssen des DeutschenBundestages und in den Ressorts geprüft werden. Bisdahin, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann die Unter-stützung der mazedonischen Regierung in der augen-blicklichen Organisationsform durch den jetzigen Be-auftragten der Bundesregierung in Mazedonien fortge-setzt werden.In Übereinstimmung mit dem gegebenen Mandat derBundesregierung wird dann jedoch neben den nahezuabgeschlossenen Maßnahmen der humanitären Sofort-hilfe zunehmend das Anregen und die Verwirklichungvon Projekten wirtschaftlicher, sozialer und gesell-schaftlicher Natur in den Mittelpunkt rücken. Wir habenhier nicht nur ein Projekt des Wiederaufbaus vor uns,sondern eines der größten Aussöhnungsprojekte der Ge-schichte.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen
Dank, Herr Staatssekretär.
Gibt es Fragen an die Bundesregierung? – Der Kolle-
ge Dietmar Schlee hat sich gemeldet. Herr Schlee, bitte
schön.
Herr Staatssekretär,
ich möchte sie etwas in bezug auf die Rückkehr der
Flüchtlinge fragen. Wir alle hören und sehen die Flücht-
linge in Mazedonien und Albanien, die sich auf den
Weg in Richtung Kosovo machen. Ich glaube, daß man
zwischen denen differenzieren muß, die in ihre zerstör-
ten Dörfern und Hofstellen zurückkehren, und denen,
die in größere Städte gehen. Ich will mich denen zuwen-
den, die in kleinere Dörfer zurückgehen.
Was würden Sie zu dem Vorschlag sagen, diesen
Leuten, also in erster Linie Bauern, eine Art Startpaket,
eine Grundausstattung – Baumaterial und Folien – mit
auf den Weg zu geben. Auf Grund unserer Erfahrungen
aus Bosnien wissen wir, daß dies Dinge sind, die den
Leuten in den ersten Wochen nach ihrer Rückkehr hel-
fen. Sie können dann einigermaßen in ihren Häusern le-
ben und mit Hilfe des Handwerkszeugs versuchen, das
eine oder andere zu reparieren.
Wir müßten diese Leute entweder schon in Mazedo-
nien oder in Albanien, spätestens aber im Kosovo mit
Baumaterial ausstatten; denn – das ist der zweite Punkt –
sie müssen ihre Häuser in den nächsten Wochen winter-
fest machen. Die Leute sind sehr erfinderisch. Wenn sie
aber zurückkehren und kein Baumaterial, auch kein
Handwerkszeug haben, können sie diese riesige Aufgabe
nicht bewältigen und werden vielleicht wieder fortge-
hen.
Herr Staatssekretär, ich möchte Sie fragen, ob Sie
nicht eine Art Sofortprogramm aufsetzen könnten. Ich
glaube, daß dies dazu beitragen würde, die Not dieser
Menschen zu lindern.
Herr
Staatssekretär, bitte.
W
Vielen Dank für diese Anre-
gung, Herr Kollege Schlee.
Sie wissen, daß wir im Rahmen der Bemühungen des
Technischen Hilfswerks und der Gesellschaft für Tech-
nische Zusammenarbeit dabei sind, solche Sets – wenn
ich es einmal so sagen darf – zur Verfügung zu stellen,
damit die Zurückkehrenden ihr Haus, wenn es irgendwie
möglich ist, in Eigeninitiative wiederherstellen und
winterfest machen können.
Ich will Ihre Frage an mich nutzen, um für Verständ-
nis dafür zu bitten, daß wir die Binnenflüchtlinge, die
„displaced persons“ im Kosovo, als vorrangige Ziel-
gruppe ansehen. Danach werden wir die Vertriebenen,
die sich in den Camps in Mazedonien und Albanien be-
finden, zurückführen. Wir werden dann insbesondere an
die Flüchtlinge, Vertriebenen und Deportierten denken,
die sich in den Gastfamilien in Mazedonien und Albani-
en aufhalten. Erst danach werden wir an diejenigen den-
ken, die wir aus humanitären Gründen nach Deutschland
evakuiert haben. Wir sollten deshalb auch mit den In-
nenministern der Länder eine entspanntere Diskussion
führen. Wir sind vorbereitet und haben spontan getan,
was notwendig ist, um eine Wiederaufbauhilfe zu lei-
sten. Die Sets stehen zur Verfügung.
– Natürlich auch Bauhöfe, Stichwort: THW.
Als
nächster hat der Kollege Eberhard Brecht von der SPD-
Fraktion eine Frage.
Herr Staatssekretär, ichhabe mit Freude vernommen, welche Aktivitäten dieBundesregierung unternimmt, um Mazedonien zu unter-stützen. Mazedonien ist ein Schlüsselland in dieser Re-gion; es ist ein Stabilitätsanker – damals im zerfallendenJugoslawien, aber auch heute noch. Ich glaube, daß dieBundesregierung deshalb gut daran tut, dieses Land inbesonderem Maße zu stabilisieren.Herr Staatssekretär, Sie haben davon gesprochen, daßwir nun in eine Phase der Flüchtlingsrückkehr eintreten.Sie haben auch eine Reihenfolge genannt. Zunächstsollen nämlich die sogenannten „displaced persons“,Parl. Staatssekretär Walter Kolbow
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also die Flüchtlinge, die noch im Lande selbst umher-irren, versorgt werden.Die Wirklichkeit sieht aber etwas anders aus. Wir ha-ben zur Zeit eine unkontrollierte Rückwanderung vonFlüchtlingen sowohl aus Albanien als auch aus Mazedo-nien. Deswegen stellt sich für mich nicht nur die Frage,die eben vom Kollegen Schlee aufgeworfen worden ist– wie man zu einer Winterfestmachung kommt –, son-dern auch die Frage: Was erwartet die Flüchtlinge jetztin ihren zerstörten Dörfern?Ich habe der Presse entnommen, daß zwei UNHCR-Konvois unterwegs sind, die zunächst einmal Trinkwas-ser und Lebensmittel in die Region bringen. Ich be-fürchte, daß dies zuwenig sein wird, da nahezu sämtli-che Lebensgrundlagen – Brunnen und Lebensmittelvor-räte – zerstört oder geplündert sind und so viele Rück-kehrer nicht versorgt werden können. Hat die Bundesre-gierung Vorstellungen, wie man eine solche Soforthilfeinternational organisieren kann?
Herr
Staatssekretär Kolbow, bitte.
W
Danke schön, Herr Präsident.
Herr Kollege Brecht, die Bundesregierung befindet
sich im Einvernehmen mit dem UNHCR, aber auch der
Europäischen Union, was die Möglichkeiten der Wie-
deraufnahme der Vertriebenen in ihrem Heimatland, im
Kosovo, angeht. Wir haben zum Beispiel in Zusammen-
arbeit mit der Nichtregierungsorganisation „Help“ sofort
ein „mine awareness programme“ zur Prävention der
Minengefahr gestartet. Wir haben 250 000 Flugblätter in
den Camps an die Flüchtlinge verteilt, um sie vor einer
spontanen, unkontrollierten Rückkehr nach dem Kosovo
zu warnen, damit sie nicht beim Überschreiten der grü-
nen Grenze in die Minenfelder laufen.
In Zusammenarbeit mit dem World Food Programme
der Vereinten Nationen haben wir dafür Sorge getragen,
daß die Wasserversorgung und die Lebensmittelversor-
gung, aber auch die Versorgung mit hygienischem Ma-
terial in Ordnung ist und daß die Flüchtlinge, wenn sie
auf dem geordneten, von der NATO vorbereiteten Weg
in ihre Heimat zurückkehren – das sind im Augenblick
schon einige tausend –, nicht Gefahr laufen, erstens auf
Minen zu treten und zweitens nicht versorgt zu werden.
Wir koordinieren auch die nationalen Anstrengungen
zum Beispiel der Bundeswehr, die Einmannpackungen
und Mittel zur Sofortversorgung in den Korridor von
Prizren mitgebracht hat. So ist sie in der Lage, die
spontanen Rückkehrer, deren Zahl wir im Augenblick so
gering wie möglich halten wollen, weil alles vorbereitet
werden soll, zu versorgen.
Bitte
schön.
Herr Staatssekretär,
auch wenn diese Frage möglicherweise nicht an die
richtige Adresse geht: Die Europäische Union hat be-
schlossen, in diesem Jahr 400 Millionen DM für huma-
nitäre Hilfe und Wiederaufbauhilfe und im nächsten
Jahr, wenn ich richtig informiert bin, 1,4 Milliarden DM
bereitzustellen. Aus welchen Mitteln wird die Winter-
festmachung von zerstörten Häusern finanziert? Wird
dies aus dem humanitären Topf oder aus dem Topf der
Wiederaufbauhilfe finanziert? Wir stehen doch schon in
diesem Jahr unter dem Druck, die Dinge zu finanzieren,
die der Kollege Schlee eben angesprochen hat.
W
Sie wissen, Herr Kollege
Brecht, daß der Haushaltsausschuß unseres Hauses
300 Millionen DM als Mittel für ein humanitäres So-
fortprogramm zur Verfügung gestellt hat, daß 100 Mil-
lionen DM ungesperrt waren und daß 200 Millionen
DM gesperrt waren. Trotz der gesperrten 200 Millio-
nen DM sind wir aber in der Lage, auf die Initiativen
der jeweiligen Häuser, also die des Auswärtigen Am-
tes, des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit, des Bundesministeriums des Innern und
auch des Verteidigungsministeriums, zu reagieren und
mit diesem Geld aktuell notwendige Vorhaben zu un-
terstützen.
Aus meiner persönlichen Erfahrung vor Ort räume
ich ein, daß die Flexibilität der Europäischen Union zu-
weilen
Probleme bereitet. Der Fairneß halber muß man aber sa-
gen – andere haben ähnliche Erfahrungen an anderer
Stelle gemacht –, daß die mangelnde Flexibilität auch
ein Problem der mazedonischen Regierung ist, die nicht
immer prüffähige Unterlagen zur Verfügung stellt, die
den europäischen haushaltsrechtlichen Bestimmungen
entsprechen.
Ich habe aber die berechtigte Hoffnung, daß wir diese
Probleme überwunden haben und daß wir die Mittel
schnell zur Verfügung stellen können, damit wir nicht
nur in den Lagern, sondern auch im Rahmen der Rück-
führung der Flüchtlinge helfen können.
Nächste
Frage von dem Kollegen Christian Schwarz-Schilling.
Herr Staatssekretär, ich darf zunächst einmal sagen, daßich zusammen mit den anderen Mitgliedern des Aus-schusses gerade vor einer Woche vor Ort gewesen bin.Ich möchte meine ungeteilte Anerkennung über das, wasdort geschieht, und auch über die Effizienz Ihres Bürosausdrücken. Ich kenne viele entsprechende Büros ausDeutschland und aus Europa und kann daher einschät-zen, daß Ihr Büro aus dem, was ich ansonsten dort bis-her gesehen habe, hervorsticht.Dr. Eberhard Brecht
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Es gibt ja mehrere Möglichkeiten zu helfen. Manweiß gar nicht, welche Prioritäten man setzen soll. Ichnenne zunächst die Entminung in Zusammenarbeit mit„Help“. Ob diese Organisation aber genügend Geldmit-tel hat, um zusammen mit der NATO wirklich zügig imKosovo die Entminung voranzutreiben, ist fraglich. Wirwissen ja aus Bosnien, daß die Lösung entsprechenderProbleme unvertretbarerweise aus Geldmangel heraus-gezögert wurde.Die andere Priorität ist die Hilfe hinsichtlich der pri-vaten Unterkünfte; davon ist fast die Hälfte aller Flücht-linge betroffen. Ich will hier einmal anmerken, um wel-che Größenordnung es sich handelt: 14 Prozent der dor-tigen Bevölkerung sind nunmehr innerhalb von einigenWochen hinzugekommen. Auf unser Land umgerechnet,wären das rund 11 Millionen Flüchtlinge in drei Mona-ten. In diesem Zusammenhang muß man sich die Worte„das Boot ist voll“ ins Gedächtnis rufen.Meine Frage: Ist es nicht angebracht, den Trend– Familien werden auseinandergerissen –, der sich imMoment zeigt, umzukehren? Die Familien sind nämlicham Ende, weil sie ihre letzten Vorräte aufgebraucht ha-ben. Es wird billiger sein, die Familien mittels Zuschüs-se zusammenzuhalten, anstatt die Menschen in Lagernzu ernähren. Sollte man bei der Verteilung der Hilfenicht auch an diesen Punkt denken? Angesichts des er-forderlichen überregionalen Ansatzes – ich habe ent-sprechende Erkenntnisse gerade aus Tirana mitgebracht– stellt sich die Frage, ob nicht wenigstens der Bundes-beauftragte wenn nicht gleich ein Büro, aber doch einMandat erhält, um in Tirana in einigen Punkten nachdem Rechten zu sehen. Das wäre sehr notwendig.
Herr
Staatssekretär Kolbow, bitte.
W
Ich bin Ihnen, Herr Kollege
Schwarz-Schilling, für die in Ihrer Frage zum Ausdruck
gebrachte Feststellung dankbar, daß gerade auf die Ver-
triebenen in den sogenannten host families ein besonde-
res Augenmerk gerichtet werden muß; denn gerade diese
Familien in Albanien, aber auch in Mazedonien sind an
der Grenze ihrer Solidarität angelangt. Wir müssen – das
haben wir bereits angeregt – im Rahmen der internatio-
nalen Hilfe mit direkten finanziellen Mitteln versuchen,
sie zu unterstützen. Sie können nämlich nicht mehr ihre
Miete, ihre Stromrechnung und die Bedürfnisse des täg-
lichen Lebens finanzieren. Insoweit ist hier eine direkte
Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft
notwendig, um soziale und wirtschaftliche Spannungen
herauszunehmen und damit auch der Stabilität, insbe-
sondere in Mazedonien, zu dienen.
Ich bin desgleichen der Auffassung – das habe ich in
meinem Bericht zum Ausdruck zu bringen versucht –,
daß wir – sicherlich unter Federführung des Auswärti-
gen Amtes und Integration aller beteiligten Ressorts –
eine regionale Lösung in dieser Region schaffen müs-
sen, damit wir den ungeheuren Herausforderungen an
humanitärer Hilfe gerecht werden können.
Vielen
Dank, Herr Staatssekretär. – Nächste Frage von der Frau
Kollegin Ursula Lietz.
Herr Staatssekretär, wir
erhalten Nachricht darüber, daß ziviles Personal aus den
Krankenhäusern, Ärzte und Pflegepersonal, zusammen
mit den jugoslawischen Truppen das Land verläßt. Es
steht zu befürchten, daß die Versorgung der Bevölke-
rung, wenn denn die Flüchtlinge zurückkehren, nicht
mehr zu gewährleisten ist.
Meine Frage ist: Sehen Sie die Möglichkeit, daß zu-
mindest eine vorläufige Versorgung durch NATO-
Personal oder durch deutsches Sanitätspersonal geleistet
wird, wenn die Flüchtlinge aus Mazedonien zurück-
kommen und man vielleicht mazedonische Ärzte und
Pfleger mit in den Kosovo hineinbringt?
W
Frau Kollegin, Ihre Frage
gibt mir Anlaß, darauf hinzuweisen, daß wir, was die
akuten Versorgungsfälle in Mazedonien und Albanien
angeht, mit der Bundeswehr immer rechtzeitig mit der
Einrichtung von medical points und mit der qualifizier-
ten Zurverfügungstellung unseres Sanitätspersonals vor
Ort geholfen haben.
Zum zweiten gibt mir Ihre Frage Anlaß, Ihnen mit-
zuteilen, daß wir das natürlich auch im Kosovo tun kön-
nen, daß das Sanitätspersonal eine ganz natürliche Be-
gleitung der normalen Truppe im Kosovo ist und wir je-
derzeit in der Lage sind, nicht nur in Notfällen zu helfen,
sondern auch begleitende medizinische Versorgung zu
leisten.
Zusatz-
frage, Frau Lietz.
Ich habe eine Zusatz-
frage. Ich weiß nicht, ob Sie mich richtig verstanden ha-
ben. Ich hoffe, daß unsere Soldaten durch unsere Sani-
tätskräfte entsprechend versorgt werden, auch wenn sie
ins Kosovo kommen. Meine Frage war, ob es zusätzlich
möglich ist, zumindest anfangs die zivile Bevölkerung,
also die Flüchtlinge, die zurückkehren, medizinisch zu
versorgen.
W
Wir haben bisher keinerlei
Hinweise darauf, daß eine unmittelbare und unverzügli-
che medizinische Versorgung von Zivilisten im Kosovo
notwendig sei. Wenn dies der Fall sein sollte, sind wir
jederzeit in der Lage, eine solche medizinische Versor-
gung nicht nur durch unsere Soldaten, sondern auch
durch die nachrückenden NGOs zu leisten. Wir sind
– ich sage das einmal ein bißchen flapsig – nirgendwo
so gut wie auf dem medizinischen Sektor.
VielenDank, Herr Staatssekretär. – Nächste Frage wird gestelltDr. Christian Schwarz-Schilling
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999 3649
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durch den Kollegen Dr. Klaus Grehn von der PDS-Fraktion.
Herr Staatssekretär, in einer
etwas ungewöhnlichen Aktion sind russische Truppen in
den Kosovo einmarschiert. Der militärische Fachbegriff
wäre vielleicht „Husarenstreich“. Es ist eine etwas un-
gewöhnliche Situation eingetreten. Ein Sektor ist bisher
nicht vorgesehen. Ich hätte von Ihnen gerne einmal ge-
wußt, wie die aktuellen Lösungsvorstellungen der Bun-
desregierung aussehen, um aus dieser ungewöhnlichen
Situation herauszukommen und das in eine geregelte
Bahn zu bringen.
W
Herr Abgeordneter, ich be-
danke mich für die Frage. Ich bin zuständig für die Ko-
ordinierung der humanitären Hilfsangelegenheiten der
Bundesregierung. Das ist eine eindeutig außenpolitische
Frage, die ich dem Herrn Staatsminister Verheugen, der
vor mir sitzt, gerne aufgeben möchte.
Herr
Staatsminister Verheugen, sind Sie bereit, die Frage zu
beantworten?
G
Aber ja.
Bitte
schön.
G
Herr Kollege, ich möchte den Vorgang, den Sie
beschrieben haben, von mir aus nicht qualifizieren. Es
ist ganz offensichtlich so gewesen, daß hier auf der rus-
sischen Seite die politische und militärische Führung
nicht vollständig koordiniert waren und daß versucht
werden sollte, zu verhindern, daß das russische Kontin-
gent vor irgendwelche vollendeten Tatsachen gestellt
wird. Zur Frage der Rolle der russischen Streitkräfte fin-
den im Rahmen der Friedenstruppe für den Kosovo zur
Zeit noch intensive Gespräche statt. Es gibt drei Pro-
bleme, die in diesem Zusammenhang geklärt werden
müssen.
Das erste ist die Frage der Berücksichtigung Ruß-
lands bei der Aufteilung der Sektoren. Sie wissen, daß
eine Reihe von Verbündeten und auch wir Sorge haben,
einen eigenen russischen Sektor zu schaffen. Das würde
Teilungstendenzen im Kosovo Vorschub leisten. Ein
Lösungsansatz besteht unserer Meinung nach darin,
einen gemischten Aufgaben- und Sektorenansatz zu
wählen.
Das zweite Problem ist die Frage der Komman-
dostruktur. Hier gibt es unserer Meinung nach ein sehr
brauchbares Modell, auf das wir uns hinbewegen sollten,
nämlich das Modell IFOR und SFOR, das in Bosnien er-
folgreich durchgeführt worden ist.
Drittens geht es um die Frage der politischen Kon-
trolle. Auch hier könnten wir unserer Meinung nach am
besten auf das bosnische Modell, IFOR und SFOR, zu-
rückgreifen. Das hieße eine weitestgehende Einbindung
Rußlands in die politische Kontrolle, aber unterhalb
eines eigenen Vetorechts, wie es in Bosnien seit einigen
Jahren funktioniert.
Hierüber wird zur Zeit intensiv gesprochen. In Hel-
sinki finden auf hoher politischer Ebene, der Ebene der
Außenminister und der Verteidigungsminister, Gesprä-
che zwischen den USA und Rußland statt. Wir werden
gut beraten sein, das Ergebnis abzuwarten.
Ihre Zu-
satzfrage, bitte schön.
Herr Staatsminister, nach
den Meldungen hat die 200 Mann starke Truppe den
Flughafen von Pristina unter Kontrolle genommen. Das
ist der Bereich, in dem sich auch die deutschen Truppen
befinden. In der Berichterstattung wird kaum darauf Be-
zug genommen,
wie das Zusammenspiel in diesen Fällen funktioniert.
Herr
Staatsminister, bitte.
G
Da muß ein Irrtum vorliegen, Herr Abgeordneter.
Es gibt keine deutschen Einheiten auf dem Flughafen
von Pristina oder auch nur in der Nähe. Der deutsche
Sektor ist in der Umgebung von Prizren. Das liegt, glau-
be ich, etwa 150 Kilometer in Richtung Albanien von
Pristina entfernt.
Eine
weitere Frage des Kollegen Dietmar Schlee. Bitte schön.
Herr Staatssekretär,Sie haben von einer notwendigen Prioritätensetzung,was die Hilfe angeht, gesprochen: zunächst Hilfe fürVertriebene, die sich noch im Kosovo aufhalten, dannfür Flüchtlinge in Gastfamilien, schließlich für Flücht-linge in den Lagern. Das ist grundsätzlich völlig richtig.Nur, die Flüchtlinge werden sich an diese Prioritätenset-zung – davon muß man ausgehen – wohl nicht halten.Das heißt, es werden sich Flüchtlinge, die in den Lagernin Mazedonien oder Albanien sind, auf den Weg genKosovo machen. Deshalb noch einmal – vielleicht habeich das auch akustisch nicht richtig mitbekommen –: DieAusstattung der Flüchtlinge, die sich jetzt aus den La-gern in Mazedonien und Albanien auf den Weg machen,und deren Unterstützung durch die Bauhöfe, damit sieihre Häuser winterfest machen können, laufen dochparallel und nicht erst nach denen der anderen Gruppen.Ist das so?Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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3650 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999
(C)
W
Die Hilfe wird vor Ort zur
Verfügung gestellt und nicht bei einem möglichen
spontanen Aufbruch in den Lagern, auch um einen sol-
chen spontanen Aufbruch nicht herbeizuführen. Denn
wir müssen – wem sage ich das, Herr Kollege Schlee? –
doch dafür Sorge tragen, daß wir die Rückführung mög-
lichst geordnet und überschaubar zustande bringen. Aber
wir sind mit den Materialien vor Ort in der Lage, den
Aufbauwilligen und Aufbaufähigen, die dort ankommen,
die Unterstützung zuteil werden zu lassen, die sie benö-
tigen, um ihre Häuser einigermaßen wieder instand zu
setzen, zunächst in bescheidenem Maße, möglicherweise
erst einmal nur für die Ausgestaltung des Parterres, dann
nach und nach, wenn es irgendwie geht, für die Her-
richtung des ganzen Hauses.
Die
letzte Frage zu diesem Themenbereich kommt von Frau
Kollegin Dr. Erika Schuchardt.
Ich danke Ihnen
für die Möglichkeit, noch einmal dazu etwas äußern zu
dürfen. Ich habe es Ihnen in schriftlicher Form schon
vorgelegt. Es ist mein Anliegen, unter dem Aspekt
„Lernen als Lebenshilfe“ denen, die dort in der Lethar-
gie des Flüchtlings-, des Vertriebenen-, des Lagerlebens
ihren Tagesrhythmus verloren haben, zu helfen. Wir
denken an die Kinder; wir wissen um die traumatisie-
renden Ereignisse, und wir wissen, daß das zentrale An-
liegen, daß diese Personen wieder Fuß fassen können
und daß man bei ihnen Zukunftshoffnungen weckt, we-
sentlich darin besteht, daß sie wieder zu einem Ta-
gesrhythmus finden.
Von daher hatte ich Ihrer Regierung vor vier Wochen
einen detaillierten Antrag unter dem Aspekt vorgelegt:
Lernen als Lebenshilfe – Sofortmaßnahmen am Kosovo.
Ich hatte in diesem Zusammenhang das Netzwerk
„DERA“, des Deutschen Volkshochschulverbandes und
seines Instituts für Internationale Zusammenarbeit ge-
nannt, das in allen Lagern dieses Projekt sofort durch-
führen könnte und hatte auch detailliert den Kostenvor-
anschlag dazu vorgetragen und die Personen genannt. Es
war das Glück, daß ich am 14. von Kollegen Verheugen
eine Antwort bekam, in der er schrieb – Sie haben das
Schreiben ja noch im Kopf –, er anerkenne diesen Pro-
jektvorschlag sehr und er bezeichne das, was ich dort
unter dem Aspekt „Lernen als Lebenshilfe“ vorgelegt
habe, als kleinen Marshallplan. Allein, die Regierung
habe kein Geld dafür, es müsse bei der EU beantragt
werden.
So nutze ich jetzt diese Chance, zu fragen, ob nicht
möglicherweise unter den zwischenzeitlich gottlob ver-
änderten Bedingungen dieses Projekt nicht als Teil eines
Wiederaufbauprogramms – und zwar von seiten unserer
Regierung – berücksichtigt werden könnte. Ich meine
nämlich, daß dadurch, daß die Ressourcen der Beteilig-
ten etwa bei der Frage „Wie baue ich ein Haus?“ oder
„Wie bekomme ich Hilfe zur Selbsthilfe?“ gezielt geför-
dert würden insbesondere dadurch auch psychosoziale
Hilfe geleistet würde.
Herr
Staatssekretär Kolbow.
W
Sie sprechen etwas an, was
im Zentrum unserer Arbeit liegt, der Arbeit der Nichtre-
gierungsorganisationen, aber auch im Zentrum der koor-
dinierten Hilfe aller Regierungen und natürlich auch im
Zentrum der Bemühungen des UNHCR und von
UNICEF. Wir haben das, was Sie ansprechen, jetzt auch
in die Grundschulprogramme in den Lagern und Camps
eingebaut. Das heißt, alle schulpflichtigen Kinder be-
kommen im Rahmen der Möglichkeiten in den Lagern
eine Ausbildung. Wir haben das große Problem, daß wir
den 15- bis 20jährigen, die in den Lagern sind, noch
nicht die Zuwendung angedeihen lassen können, die wir
ihnen eigentlich angedeihen lassen müßten. Hierfür
werden im Augenblick UNHCR-Programme entwickelt,
und wir versuchen, auch durch spontane Eigeninitiativen
in den Camps – wobei wir auf vertriebene Lehrerinnen
und Lehrer zurückgreifen – tätig zu werden.
Wir meinen, daß das, was wir machen, natürlich nicht
vollständig sein kann, daß es aber doch den Beginn einer
solchen Ausbildung und einer abwechslungsreicheren
Gestaltung des Tages darstellt. Das ist aber nach dem
Grundsatz „Nichts ist so gut, daß es nicht noch besser
sein könnte“ erheblich verbesserungsbedürftig. Die Pro-
gramme der internationalen Staatengemeinschaft bewe-
gen sich auch in dieser Richtung. Wir versuchen, nicht
nur durch UNICEF, sondern auch durch andere Mög-
lichkeiten dies zu leisten. Aber hier sind natürlich auch
nationale Gelder im Rahmen der internationalen Geber-
gemeinschaft gefragt. Der UNHCR und insbesondere
UNICEF versuchen, die Mittel für eine solche pädagogi-
sche Fortentwicklung in den Lagern vor der Zurückfüh-
rung zur Verfügung zu stellen.
Vielen
Dank, Herr Staatssekretär.
Ich danke Ihnen
herzlich. Ich habe nur die Bitte, daß der Nachdruck viel
stärker auf die Erwachsenen gelegt wird. Sie sind der
Schlüssel, wenn Zukunft, Hoffnung, Frieden gelingen
sollen. Ich würde der Arbeit mit ihnen die Priorität vor
der Arbeit mit Kindern und der Unterrichtung der Kin-
der geben. Darum meine Bitte, ob Sie sich das Konzept
„Lernen als Lebenshilfe“ noch einmal in die Hand legen
lassen würden. – Ich danke Ihnen.
W
Das sicherlich, Frau Kolle-
gin. Wir sind mit Toleranzprojekten, mit Demokratie-
projekten auch über die Stiftungen, die uns im nationa-
len Rahmen zur Verfügung stehen, schon aktiv gewor-
den und sind weiterhin tätig.
VielenDank. – Ich lasse jetzt noch eine Frage außerhalb diesesThemenbereiches zu. Das Wort hat der Kollege JürgenKoppelin von der F.D.P.-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999 3651
(C)
(D)
Nachdem es bisher hieß,
daß das Haushalts- und Steuerpaket von Bundesfinanz-
minister Eichel am 30. Juni im Kabinett verabschiedet
werden sollte, um dann anschließend im Haushaltsaus-
schuß bekanntgegeben zu werden, lese ich heute in der
„Süddeutschen Zeitung“, daß dies eventuell schon am
23. Juni der Fall sein soll. Herr Staatssekretär Diller hat
heute im Haushaltsausschuß gesagt, das Kabinett wolle
heute darüber beraten, wann über das Haushalts- und
Steuerpaket nun entschieden werden soll. Ich darf Sie
daher fragen: Hat das Kabinett festgelegt, wann es dar-
über entscheiden will?
Nach Agenturmeldungen von heute nachmittag, die
ich gelesen habe, gibt es erhebliche Unruhen in der
Koalition über die Informationspolitik des Bundes-
finanzministers. Ich zitiere:
Frau Kerstin Müller, die Fraktionsvorsitzende von
Bündnis 90/Die Grünen, hat deutlichen Unmut über
Bundesfinanzminister Hans Eichel und seine In-
formationspolitik geübt.
In einer anderen Agenturmeldung lese ich, es habe er-
heblichen Unmut in einer kleinen Führungsrunde mit
den Fraktionsvorsitzenden der Koalition und wenigen
Abgeordneten von Rotgrün gegeben.
Hat man sich mit diesem Unmut in der Koalition über
die Informationspolitik von Bundesfinanzminister Hans
Eichel beschäftigt?
Herr
Staatssekretär Diller, sind Sie in der Lage, die Frage zu
beantworten? – Bitte schön.
K
Herr Präsident! Herr Kollege Koppelin,
entgegen meiner Annahme von heute morgen höre ich
von Herrn Steinmeier, daß das Kabinett heute morgen
darüber nicht befunden hat.
Was den zweiten Teil Ihrer Frage angeht, so kann ich
Ihnen mitteilen, daß Frau Kerstin Müller zusammen mit
den Spitzen der beiden Koalitionsfraktionen in meiner An-
wesenheit gestern abend umfassend informiert worden ist.
Zusatz-
frage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, kön-
nen Sie mir dann erklären, warum die Fraktionsspitzen
der Koalition ihren Unmut über den Bundesfinanzmi-
nister äußern und sagen, daß sie bisher keinerlei Infor-
mationen über die Maßnahmen hätten, die der Herr
Bundesfinanzminister in seinem Haushalts- und Sparpa-
ket vorlegen will? Das ist ja erstaunlich, wenn man vor-
her in einer Runde zusammensaß.
– Man wundert sich ja schon, daß einige das Paket un-
terstützen, obwohl sie es anscheinend gar nicht kennen.
K
Herr Kollege Koppelin, ich weiß nicht, ob
aus der Ihnen vorliegenden Tickermeldung der Agentur
hervorgeht, wann Frau Kerstin Müller dies gegenüber
der Presse geäußert haben soll.
– Gut. Die Unterredung gestern fand in den späten
Abendstunden, zwischen 20.30 und 23 Uhr, statt.
Vielen
Dank, Herr Staatssekretär, für die Beantwortung. Wir
sind damit am Ende der Befragung.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf:
Fragestunde
– Drucksache 14/1134 –
Zunächst kommen wir zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Gesundheit. Zur Beantwortung
steht die Parlamentarische Staatssekretärin Christa Nik-
kels zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 des Kollegen Dr. Klaus Rose auf:
Setzt sich der zurückliegende gravierende Abbau von Kran-kenhausbetten fort, und ist dieser, bezogen auf die Bundeslän-der, gleichmäßig zu erwarten?
Frau Nickels.
C
Herr Kollege Rose, wir
beantworten Ihre Frage wie folgt: Zur bedarfsgerechten
Versorgung der Bevölkerung mit Krankenhäusern stel-
len die Bundesländer Krankenhauspläne auf. Die Kran-
kenhauspläne werden regelmäßig dem aktuellen Bedarf
angepaßt. Die Bundesregierung geht davon aus, daß die
Bundesländer auch in den kommenden Jahren die Bet-
tenkapazitäten weiter reduzieren werden. Der Tatsache
der verschiedenen Versorgungsbedarfe ist geschuldet,
daß ein gleichmäßiger Abbau von Betten in den 16 Bun-
desländern nicht zu erwarten ist. Entscheidend ist je-
weils, in welchem Umfang Überkapazitäten bestehen.
Im Jahr 1997 wurden beispielsweise im Freistaat
Bayern 70,2 Betten je 10 000 Einwohner vorgehalten,
während es in Schleswig-Holstein 59,7 Betten, in Thü-
ringen 75,7, in Nordrhein-Westfalen 78,7 und in Berlin,
Bremen und Hamburg 80,8 Betten – jeweils bezogen auf
10 000 Einwohner – waren. Die Dichte ist also sehr un-
terschiedlich, auch die Bedarfe sind unterschiedlich.
Danach wird sich der Abbau ausrichten, und er vollzieht
sich in Länderhoheit.
Herr Ro-
se, eine Zusatzfrage.
Können Sie, FrauStaatssekretärin, ausschließen, daß es zu weiteren Ab-
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3652 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999
(C)
baumaßnahmen im Krankenhausbereich auf Grund desvon Ihnen geplanten Globalbudgets – das sich sicherlichin ganz Deutschland auswirkt, auch wenn es sich jeweilsfür das Land bemißt – kommt?C
Entgegen der vielfach
kolportierten Meinung, daß das Globalbudget einen Ein-
schnitt in Leistungen zur Folge haben wird, sage ich: Es
wird nicht dazu kommen. Sie wissen, Herr Kollege Ro-
se, daß auch ein Globalbudget wächst, also zusätzliche
Mittel ins System kommen. Denn durch die Anbindung
der Einnahmen der Krankenkassen an die Löhne und
Gehälter der Versicherten gibt es automatisch Einnah-
mezuwächse. Ich will Ihnen das an Hand der Zahlen von
1998 verdeutlichen. Es standen bundesweit 3 Milliarden
DM mehr als im Vorjahr zur Verfügung. Ein Grund-
lohnzuwachs in Höhe von 2 Prozent bedeutet auch in
Zukunft jährlich 5 Milliarden DM mehr.
Diese Entwicklung ist in den letzten Jahren nicht ab-
geflacht. Sie selber haben in Ihrer Frage festgestellt, daß
wir einen Rückgang der Bettenzahl in der Bundesrepu-
blik zu verzeichnen haben. Gleichwohl ist es so, daß die
Ausgaben der Krankenkassen von 1991 bis 1998 für den
stationären Bereich von 59 Milliarden DM auf 85 Milli-
arden DM gestiegen sind. Wenn Sie das hinzurechnen,
was über die private Krankenversicherung gezahlt wor-
den ist, kommen Sie für das letzte Jahr auf einen Betrag
von 100 Milliarden DM.
Es sind also ausreichend Mittel vorhanden. Darum
gehen wir nicht davon aus, daß es bei einem Globalbud-
get, das geregelt wachsen kann, zu einem Rückgang der
Bettenzahlen kommen wird.
Herr Ro-
se, eine weitere Zusatzfrage.
Ich möchte hier noch
einmal im Zusammenhang mit der Schere, die zweifel-
los vorhanden ist, nachhaken. Ich gebe zu, daß die Bet-
tenzahl schon in der zurückliegenden Zeit gesenkt wur-
de, jetzt geht es aber um die Zukunft. Auf dem Protest-
tag in Berlin ist von Gewerkschaftsseite gesagt worden,
daß 105 000 Betten und 26 000 Stellen abgebaut wür-
den, obwohl die Zahl der behandelten Fälle von 13 auf
15,7 Millionen gestiegen ist. Die Schere zwischen der
Nachfrage, wenn ich das so nennen darf, und den Be-
handlungsmöglichkeiten ist also zweifellos groß. Hat
die Bundesregierung dazu bereits Überlegungen ange-
stellt?
C
Ich kann auf eine Anhö-
rung verweisen, die heute im Gesundheitsausschuß statt-
fand. Das war eine Anhörung zu einem Antrag der
F.D.P.-Fraktion, in dem genau diese Frage gestellt wor-
den ist. Der Vertreter des Deutschen Gewerkschaftsbun-
des, der Vertreter des VDA und der Vertreter der DAG
haben unisono gesagt, daß sie diese Zahlen für nicht
sachgerecht und überzogen halten. Sie gehen nicht von
diesen Zahlen aus. Diese Ansichten entsprechen der
Meinung der Bundesregierung.
Gibt es
weitere Fragen von anderen Kollegen zu diesem The-
menbereich? – Das ist nicht der Fall.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministe-
riums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns die Parla-
mentarische Staatssekretärin Simone Probst zur Verfü-
gung.
Ich rufe die Frage 2 des Abgeordneten Dehnel auf:
Hat die Bundesregierung darüber Kenntnis, ob die Zusagender tschechischen Regierung gegenüber der deutschen Bundes-regierung zur Abschaltung bzw. Emissionsbegrenzung derBraunkohlekraftwerke im Grenzbereich des Erzgebirges und desVogtlandes eingehalten worden sind?
Si
Herr Kollege, die Bundesregierung ist von der
tschechischen Regierung zuletzt regelmäßig im Rahmen
der hochrangigen Arbeitsgruppe Luftreinhaltung über
den Stand der Abschaltung bzw. der Sanierung der
Braunkohlekraftwerke in der betroffenen Region infor-
miert worden. Im Protokoll der letzten Arbeitsgruppen-
sitzung vom 19. August 1998 wurde festgehalten, daß
die letzten unsanierten Kraftwerksblöcke Ende 1998
stillgelegt werden.
Aktuelle Informationen werden in der nächsten Sit-
zung der hochrangigen Arbeitsgruppe im August bzw.
der gemeinsamen Umweltkommission im September
dieses Jahres erwartet. Der im Oktober letzten Jahres
gemeinsam von den Umweltministerien veröffentliche
Luftreinhaltungsbericht Erzgebirge enthält Daten unter
anderem zum Stand der Umsetzung des Kraftwerkspro-
gramms in Nordböhmen per 31. Dezember 1997.
Interessant ist die aktuelle Entwicklung. Deshalb ist
ein weiterer Bericht über die Luftsituation im Erzgebir-
ge, der die Entwicklung bis Ende 1999 berücksichtigt,
für das Jahr 2000 geplant.
In dem kürzlich vorgestellten Halbjahresbericht zur
SO2-Belastung in Sachsen im Winter 1998/99 wird fest-gestellt, daß die Sanierung von Kraftwerken in Nord-
böhmen bezüglich der Entschwefelung in den vergan-
genen Winterhalbjahren bereits zu einer deutlichen Ent-
lastung geführt hat. Dafür spricht, daß in den letzten
drei Winterhalbjahren gegenüber dem Winterhalbjahr
1994/95 trotz häufiger Südostlage an allen Meßstationen
niedrigere mittlere SO2-Belastungen festgestellt wordensind.
Ich weiß, daß Sie aus dieser Region kommen und dort
Ihren Wahlkreis haben. Daher ist Ihnen sicherlich be-
kannt, daß es am 11. Februar dieses Jahres eine Emis-
sionsspitze gegeben hat. Das sächsische Umweltministe-
rium bemüht sich um die Aufklärung der Ursachen. Es
gibt aber noch keine Ergebnisse.
HerrDehnel, eine Zusatzfrage?Dr. Klaus Rose
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999 3653
(C)
(D)
Darf ich davon aus-
gehen, daß uns die Bundesregierung über die Ergebnis-
se, die im August dieses Jahres bei dem Treffen der
Gruppe Luftreinhaltung erzielt werden, informiert?
Si
Selbstverständlich.
Vielen Dank.
Damit
kommen wir zur Frage 3 des Kollegen Dehnel:
Hat die Bundesregierung des weiteren Kenntnis darüber, obin der Region des Erzgebirges zur Vermeidung des sogenanntenKatzendreckgestankes positive Ergebnisse erzielt worden sind,und wenn ja, welcher Art sind diese?
Si
Die vom Bundesumweltministerium und vom
tschechischen Umweltministerium geleitete Arbeits-
gruppe „Geruch/Chemie“ hat seit ihrem Bestehen 1997
vielfältige Maßnahmen eingeleitet, um die Quellen der
Geruchsbelästigungen zu identifizieren. Das 1998/99 auf
beiden Seiten der Grenze erneut durchgeführte Geruchs-
erfassungsprogramm hat keine Hinweise mehr auf län-
ger andauernde Geruchsbelästigungen gebracht.
Da ich weiß, daß Sie, Herr Dehnel, selber von dem
sogenannten Katzendreckgestank in der Region des Erz-
gebirges betroffen sind, möchte ich darauf hinweisen,
daß es auch nach der Untersuchung von 1998/99 noch
weitere Geruchsbelästigungen gegeben hat. Diese waren
allerdings nicht so stark wie die im Jahre 1996. Der Ge-
stank war oftmals mit chemischen und anderen Gerü-
chen vermischt. Deshalb ist es uns besonders wichtig,
daß die Arbeitsgruppe, die die Analysen und die Befra-
gungen der von diesen Gerüchen betroffenen Menschen
durchgeführt hat, das Problem weiterhin beobachtet und
daß die Informationswege offengehalten werden, falls
dieses Problem wieder auftritt. Das heißt, daß dann,
wenn es wieder signifikante Beschwerden gibt, der Ur-
sache des Problems nochmals nachgegangen wird.
Eine Zu-
satzfrage.
Ihnen ist bekannt,
daß es in der Region des Erzgebirges eine große Um-
strukturierung gegeben hat und daß es dort ein wichtiges
Ziel ist, den Tourismus weiter auszubauen. Das Wort
„Katzendreckgestank“ mag zwar etwas komisch klin-
gen, aber dieser Gestank hat enorme Auswirkungen auf
die Zahl der Besucher dieser Region. Ich glaube, daß die
Lösung des Problems bei den dortigen Behörden weiter-
hin mit größter Priorität verfolgt wird. Wird auch die
Bundesregierung in dieser Richtung weiterarbeiten?
S
Die Geruchsbelästigung ist nicht nur für die Touristen,
sondern vor allen Dingen auch für die Bewohner ein gro-
ßes Problem. Wir werden an der Lösung dieses Problems
weiterarbeiten, vor allen Dingen auch deshalb, weil die
Ursachen sehr schwierig zu identifizieren sind. Sie ken-
nen die Diskussionen darüber, ob es sich um chemische
Emissionen handelt oder ob die Gerüche dadurch entste-
hen, daß sich bestimmte Substanzen vermischt haben. Ge-
rade weil das Problem so groß ist, muß weiterhin Ursa-
chenforschung betrieben werden. Messen kann man aller-
dings nur, wenn die Gerüche auftreten. Deshalb richten
wir unseren Appell an diejenigen, die davon belästigt
sind, weiterhin die Belästigungen öffentlich zu machen.
Zu Beginn der Diskussion über die Ursachen der Ge-
rüche ist der Eindruck entstanden, daß es nur auf deut-
scher Seite Gerüche gegeben hat. Im nachhinein ist
deutlich geworden, daß sie auch auf tschechischer Seite
aufgetreten sind. Aber dort lagen nicht so viele Be-
schwerden und Meldungen vor. Hier liegt ein weiterer
Arbeitsschwerpunkt.
Herr
Dehnel, eine Zusatzfrage.
Ist Ihnen bekannt,
ob die tschechischen Firmen bei der Lösung des Pro-
blems mit der Bundesregierung zusammenarbeiten?
Oder wehren sich die tschechischen Firmen gegen eine
solche Zusammenarbeit, indem sie zum Beispiel nie-
manden auf ihr Gelände lassen?
Si
Es gibt eine gute Kooperation. Die Vermutung,
daß die Chemiebetriebe auf tschechischer Seite allein für
die Geruchsentwicklung verantwortlich sind, konnte
durch die Arbeitsgruppe ausgeschlossen werden. Das ist
sicherlich ein wichtiges Ergebnis der Arbeitsgruppe.
Man muß weiterhin gemeinsam mit den tschechischen
Betrieben und den tschechischen Behörden nach den
Quellen der Geruchsemissionen forschen.
Gibt esweitere Fragen? – Das ist nicht der Fall.Die Frage 4 des Kollegen Hinsken wird schriftlichbeantwortet.Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bun-desministeriums des Innern. Zur Beantwortung steht derParlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper zurVerfügung.Die Fragen 5, 6 und 7 werden schriftlich beantwortet.Wir kommen jetzt zur Frage 8 des Kollegen DietmarSchlee:Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß sich in derheutigen und künftig erweiterten Europäischen Union als einRaum unbegrenzter Freizügigkeiten Sicherheitsdefizite in ein-zelnen Regionen auf die gesamte Staatengemeinschaft auswir-ken, und was unternimmt die Bundesregierung, um die innereSicherheit in der Europäischen Union auf einem hohen Niveaunach gemeinsamen Standards zu gewährleisten?Herr Staatssekretär Körper, bitte.
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3654 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999
(C)
F
Ich antworte auf diese Frage wie
folgt: Die Europäische Union ist bekanntlich sowohl ein
Raum der Freizügigkeit als auch der Sicherheit. Es gilt
der Grundsatz, daß der Wegfall der Kontrollen an den
Binnengrenzen durch Ausgleichsmaßnahmen kompen-
siert wird. Mit der Überführung der Schengener Koope-
ration in die EU zum 1. Mai 1999 hat sich das Gerüst
der Ersatzinstrumente durch eine Zusammenfassung der
EU- und Schengener Sicherheitserrungenschaften sogar
noch erweitert.
Sollten punktuelle Sicherheitsdefizite in Teilen der
Gemeinschaft auftreten, bieten die Mechanismen des
Regelwerkes ausreichend Möglichkeiten, auf rasche Be-
seitigung der Schwachstellen hinzuwirken oder gegebe-
nenfalls durch vorübergehende Wiedereinführung natio-
naler Grenzkontrollen Gefahren und Risiken auf der
Ebene der Mitgliedstaaten abzuwehren. Mit der Erweite-
rung der EU ist eine Absenkung des Sicherheitsniveaus
nach unserer Auffassung nicht zu befürchten. Die Bei-
trittskandidaten müssen den EU-Besitzstand vollständig
übernehmen; Sonderkonditionen können nicht ausge-
handelt werden.
Zum Acquit gehört unter anderem, daß die Bewerber-
staaten ihren Sicherheitsbeitrag nicht nur vertraglich zu
versprechen, sondern auch tatsächlich nachweisbar zu
erbringen haben. Werden bei Überprüfungen Mängel
festgestellt, darf das entsprechende Beitrittsüberein-
kommen erst gar nicht in Kraft gesetzt werden. Der je-
weilige Staat kann vorläufig an dem Regime der EU
– zum Beispiel an der grenzüberschreitenden Freizügig-
keit – nicht partizipieren.
Die deutsche EU-Präsidentschaft hat bei der Einglie-
derung Schengens in den Rahmen der Union mit Erfolg
darauf gedrungen, daß diese Grundprinzipien Bestand-
teil des EU-Besitzstandes werden. Sie hat ferner den
Evaluierungsprozeß vorangetrieben und in Berichten
oder Teilanalysen über Polen, Tschechien und Estland
eine Bewertung der derzeitigen Qualität der dortigen
Sicherheitssysteme vorgenommen.
Mit einer deutschen Initiative zur Fortentwicklung
des Sicherheitsregelwerkes werden überdies – auch für
die Beitrittskandidaten – weitere konkrete Anstrengun-
gen gefordert, um den Sicherheitsstandard in der EU
künftigen Herausforderungen anzupassen.
Herr
Schlee, Zusatzfrage?
Ja.
Bitte
schön.
Herr Staatssekretär,
ich habe den Eindruck, Sie haben das alles ein bißchen
positiv dargestellt. Das Sicherheitsgefälle ist ja nach wie
vor sehr groß, und es wird nicht ganz einfach sein, die
Beitrittskandidaten an unsere Standards heranzuführen.
Deshalb frage ich Sie, ob die Bundesregierung bereit ist,
ein sicherheitspolitisches Programm in der Europäischen
Union zu initiieren. Ein solches Programm könnte dieses
Sicherheitsgefälle abbauen und zugleich auf neue Her-
ausforderungen reagieren. Damit stellte es einen we-
sentlichen Beitrag zur Sicherheit in der EU dar.
F
Herr Kollege Schlee, Sie kennen
das Regelwerk, die Mechanismen und die Kriterien.
Dies alles war im Bereich von Schengen, der jetzt in den
Rahmen der EU übergegangen ist, so gewollt. Die Fra-
ge, ob ein solches Sicherheitsprogramm notwendig ist,
möchte ich derzeit nicht abschließend beantworten. Im
übrigen glaube ich nicht, daß meine Antwort übertrieben
positiv gewesen ist.
– Wir alle kennen die Problematik; wir kennen aber
auch das Regelwerk und die Mechanismen. Das haben
wir ausdrücklich gewollt.
Eine
weitere Zusatzfrage?
Ja.
Bitte
schön.
Herr Staatssekretär,
darf ich das, was Sie zu dem Sicherheitsprogramm ge-
sagt haben, so verstehen, daß die Bundesregierung über
diese Frage noch einmal vertieft nachdenken wird?
F
Lieber Herr Kollege Schlee,
Nachdenken ist immer gut. Aber Sie wissen auch, daß
bestimmte Initiativen gerade in diesem Bereich nicht
ausschließlich von der Bundesregierung abhängen.
Dann
kommen wir zur Frage 9 des Kollegen Schlee:
Hält die Bundesregierung es für sinnvoll, kriminellen Aus-ländern, die von europäischen Nachbarstaaten ausgewiesen oderabgeschoben wurden, die Einreise in die BundesrepublikDeutschland zu verweigern, und ist die Bundesregierung bereit,Informationen über solche Ausländer nicht nur mit den Schen-gen-Staaten, sondern auch mit der Schweiz auszutauschen, da-mit sie bei den Entscheidungen über ein Aufenthaltsrecht inDeutschland berücksichtigt werden können?
F
Herr Kollege Schlee, Ihre Fragebeantworte ich wie folgt: Es ist eines der wichtigsten
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(C)
(D)
Ziele der Schengener Kooperation, kriminelle Auslän-der, die von anderen Schengen-Staaten ausgewiesenoder abgeschoben worden sind, an der erneuten Einreisein den Schengen-Raum zu hindern. Aus Sicht der Bun-desregierung wäre deshalb eine Erweiterung des Kreisesder Schengen-Staaten um die Schweiz und ihre Beteili-gung am Schengener Informationssystem wünschens-wert.Die Daten von Drittausländern, die von deutschenAusländerbehörden ausgewiesen und zur Einreisever-weigerung ausgeschrieben worden sind, sollen derSchweiz nach Inkrafttreten des Vertrages zwischen derBundesrepublik Deutschland und der SchweizerischenEidgenossenschaft über die grenzüberschreitende poli-zeiliche und justitielle Zusammenarbeit zur Verfügunggestellt und von den dortigen Grenzpolizei- und Auslän-derbehörden letztendlich auch im deutschen Interessegenutzt werden.Vereinbarungen bezüglich einer Übermittlung ent-sprechender Schweizer Daten können wegen der von derBundesrepublik Deutschland im Rahmen von EU undSchengen übernommenen Verpflichtungen eben nichtbilateral mit der Schweiz getroffen werden; vielmehrmüssen sie zunächst mit den Partnern von EU undSchengen abgestimmt werden.
Die Fra-
ge 10 des Abgeordneten Koschyk, die Frage 11 des Ab-
geordneten Hinsken und die Frage 12 des Abgeordneten
Otto werden ebenfalls schriftlich beantwor-
tet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisteriums der Finanzen. Zur Beantwortung der Fragen
steht der Parlamentarische Staatssekretär Karl Diller be-
reit.
Ich rufe die Frage 13 des Kollegen Josef Hollerith
auf:
Aus welchem Grund soll das ehemalige Preußen-Vermögenim Umfang von ca. 420 000 ha Wald und ca. 80 000 ha Acker-fläche nicht privatisiert, sondern an die ostdeutschen Länderübertragen werden, und zu welchen Konditionen soll dies erfol-gen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
K
Herr Präsident, Herr Kollege Hollerith,
die seit dem Jahre 1994 zwischen dem Bund und den
neuen Ländern mit dem Ziel einer pragmatischen Lö-
sung für das ehemalige Preußen-Vermögen geführten
Verhandlungen haben bereits im Jahre 1998 zu Verein-
barungen mit Sachsen-Anhalt, mit Thüringen, mit Sach-
sen und am 2. Juni dieses Jahres zu einer Vereinbarung
mit Brandenburg geführt.
Die Vereinbarungen sehen die unentgeltliche Über-
tragung des land- und forstwirtschaftlichen Preußen-
Vermögens im Sinne der 3. Durchführungsverordnung
zum Treuhandgesetz auf die Länder vor. Damit wird vor
allem dem Aufwand Rechnung getragen, der den Län-
dern seit dem Jahre 1991 für die Bewirtschaftung des
Preußen-Waldes entstanden ist und der von diesen ge-
genüber dem Bund bei einer Privatisierung der Flächen
geltend gemacht werden könnte. Ferner werden die
agrarpolitischen Interessen der Länder an einem Staats-
waldanteil berücksichtigt.
Die Vereinbarungen sind für den Bund und die Län-
der haushaltsneutral und stellen eine wirtschaftliche Lö-
sung dar.
Zusatz-
frage, Herr Hollerith.
Sind die Kosten be-
kannt, denen die Länder in der Zeit der Bewirtschaftung
dieser Waldflächen ausgesetzt waren? Gibt es Erkennt-
nisse darüber, daß auch der Bund bzw. die BVVG oder
die TLG zu irgendeinem Zeitpunkt Zuschüsse geleistet
haben?
K
Letztere Frage kann ich Ihnen aus eigener
Kenntnis nicht beantworten.
Zu Ihrer ersten Frage: Es geht um gewaltige dreistel-
lige Millionenbeträge, möglicherweise in der Größen-
ordnung von Milliarden.
Herr
Hollerith.
Nachdem mir das
Thema aus der Arbeit des Treuhand-Ausschusses be-
kannt ist, bitte ich Sie, diese beiden von Ihnen jetzt nicht
beantworteten Fragen schriftlich zu beantworten. Herr
Präsident, ist das zulässig?
Herr Staatsse-
kretär, wäre das möglich?
K
Ja, das machen wir gern.
Wir
kommen zur Frage 14 des Kollegen Josef Hollerith:
Ist eine kostendeckende Waldbewirtschaftung durch dieEmpfängerländer gesichert?
K
Herr Kollege Hollerith, Ihre Frage, ob
eine kostendeckende Waldbewirtschaftung durch die
Empfängerländer gesichert ist, bitte ich an die entspre-
chenden Länder zu richten. Das vermögen wir nicht zu
beurteilen. Wir können nur davon ausgehen.
Herr Staatssekretär,erkennen nicht auch Sie insoweit einen Widerspruch zuIhrer Antwort auf Frage 13, als Sie – auf Nachfrage –Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper
Metadaten/Kopzeile:
3656 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999
(C)
argumentierten, es seien den Ländern Kosten in Milliar-denhöhe dadurch entstanden, daß dieser Wald bewirt-schaftet werden mußte? Für mich ist die Konsequenz lo-gisch, daß die Länder durch die, wenn auch kostenlose,Übertragung dieser Waldflächen weiterhin Milliarden-beträge an Bewirtschaftungskosten zu erwarten hätten.K
Herr Kollege Hollerith, ich komme gerade
aus einem Gespräch mit einem der Bundesländer, die
mit dem Bund einen solchen Vertrag noch nicht haben.
Die dort vertretenen Minister haben deutlich gemacht, in
welch großem Umfang in der Vergangenheit beispiels-
weise die Wirtschaftlichkeit gesteigert worden ist, leider
Gottes im wesentlichen auch durch Verschlankung des
Personalbestandes.
Meine Antwort von vorhin auf die Frage nach den
Kosten möchte ich folgendermaßen erläutern: Ich habe
von einem Betrag in dreistelliger Millionenhöhe gespro-
chen, möglicherweise bis zu einer Milliarde; ich habe
nicht von mehreren Milliarden gesprochen.
Zweite
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär,
ich bitte Sie, mir auch die Frage schriftlich zu beant-
worten, wie hoch die Bewirtschaftungskosten tatsächlich
sind. Herr Präsident, ist das möglich?
K
Herr Kollege Hollerith, ich würde vor-
schlagen, daß wir das auf ein Wirtschaftsjahr beschrän-
ken, damit Sie daraus Rückschlüsse ziehen können.
Einverstanden.
K
Die ganze Zahlenreihe seit 1991 aufzuli-
sten, das ist vielleicht ein bißchen zuviel verlangt.
Vielen Dank.
Dabei ist
es dann Sache der Länder, zu schauen, ob sie mit niedri-
geren Kosten zurechtkommen.
K
Ja, klar.
Die Fra-
gen 15 und 16 des Abgeordneten Straubinger sollen
schriftlich beantwortet werden.
Damit kommen wir zur Frage 17 des Kollegen Hans-
Peter Friedrich:
Hat die Bundesregierung in Umsetzung des Abschnitts derKoalitionsvereinbarung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen,wonach „der Ausverkauf von Schutzgebieten in den neuen Bun-desländern unverzüglich gestoppt und ein Konzept zur Siche-rung des nationalen Naturerbes erarbeitet“ werden soll, den mitPrivatisierung betrauten Gesellschaften bestimmte Weisungenerteilt, und wenn ja, welchen Inhalt haben diese Weisungen?
Herr Staatssekretär, bitte schön.
K
Herr Kollege Dr. Friedrich, das Bundes-
ministerium der Finanzen hat mit Schreiben vom 30.
Dezember 1998 an die BVVG – Bodenverwertungs- und
-verwaltungs-GmbH – sowohl den vergünstigten Flä-
chenerwerb nach dem Entschädigungs- und Aus-
gleichsleistungsgesetz als auch den Verkauf von land-
und forstwirtschaftlichen Flächen zum Verkehrswert
ausgesetzt, soweit es sich bei den Verkehrswertverkäu-
fen um bestimmte Naturschutzflächen handelt.
Als Naturschutzflächen gelten in diesem Zusammen-
hang rechtskräftig ausgewiesene, im Verfahren befindli-
che und einstweilig sichergestellte Nationalparke und
Naturschutzgebiete, Kerngebiete von Biosphärenreser-
vaten, ausgewiesene und beabsichtigte Natura-2000-
Gebiete.
Als Erwerber solcher Flächen kommen nur Trä-
ger von Naturschutzprojekten des Bundes, der Länder,
Träger von EU-LIFE-Naturschutzprojekten, aner-
kannte Naturschutzverbände oder sonstige Träger von
Naturschutzvorhaben sowie die Länder selbst in Be-
tracht.
Zusatz-
frage, Herr Kollege Dr. Friedrich.
Herr
Staatssekretär, können Sie in etwa den Umfang der in
Rede stehenden Flächen, für die in der Koalitionsver-
einbarung angesprochenen Naturschutzmaßnahmen be-
ziffern?
K
Ich schaue schnell in die Unterlagen,
ob dort Hektarzahlen genannt sind, an Hand deren ich
Ihre Frage beantworten könnte. – Das ist nicht der Fall.
Dann müßten wir die konkrete Antwort in bezug auf
den Umfang dieser Flächen nachreichen. Das machen
wir gern.
Zweite
Zusatzfrage.
Ichhabe keine weitere Frage.Josef Hollerith
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999 3657
(C)
(D)
Dann
kommen wir zur Frage 18, die ebenfalls von Herrn Kol-
legen Friedrich gestellt wurde:
In welchem Umfang wird durch derartige Weisungen derFlächenerwerb in den neuen Bundesländern nach dem EALG(Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz) verhindert,und welche Einnahmeverluste entstehen der BundesrepublikDeutschland dadurch?
Herr Staatssekretär, bitte.
K
Herr Präsident! Ihre Frage, in welchem
Umfang durch derartige Weisungen der Flächenerwerb
verhindert wird und welche Einnahmeverluste der Bun-
desrepublik Deutschland dadurch möglicherweise ent-
stehen könnten, möchte ich wie folgt beantworten: Da
die Verkäufe nach dem Entschädigungs- und Aus-
gleichsleistungsgesetz als Konsequenz aus der am 22.
Dezember 1998 vorab verkündeten Entscheidung der
Europäischen Kommission zum Flächenerwerb bis auf
weiteres ausgesetzt worden sind, wird der Flächener-
werb durch keine Weisung in dem von Ihnen angespro-
chenen Sinne verhindert. Das geht auf die Entscheidung
der Kommission zurück.
Gibt es
eine Zusatzfrage?
Ja. –
Herr Staatssekretär, Sie sagten, es sei eine Aussetzung
erfolgt. Ich unterstelle, daß die Bundesregierung weiß,
daß die nicht verkauften, jetzt zum Verkauf stehenden
Flächen natürlich eines erheblichen Pflegeaufwandes
bedürfen. Gibt es denn Schätzungen, welche Belastun-
gen durch die Aussetzung auf den Bundeshaushalt zu-
kommen, also dadurch, daß die Flächen jetzt weiter im
Eigentum der öffentlichen Hand bleiben?
K
Wir vereinbaren mit den Ländern, daß die
Flächen, die wegen der Entscheidung der Kommission
jetzt nicht weitergegeben werden können, die dann aber
dem Naturschutz zur Verfügung gestellt werden, nur
noch mit einem völlig anderen Betrag pro Hektar
– wenn ich es richtig weiß, 100 DM statt 227 DM – be-
rücksichtigt werden, so daß schon von daher eine erheb-
liche Kosteneinsparung für die Bundeskasse gegeben ist.
Zusatz-
frage des Kollegen Hacker.
Wird sich die Bun-
desregierung weiterhin an diesem fraktionsübergreifend
erreichten Kompromiß orientieren und daran festhalten,
daß bei dem Verkauf von landwirtschaftlichen Flächen
nach dem EALG alle Erwerbsberechtigten gleich be-
handelt werden sollen?
K
Dem ist so.
Wir
kommen nun zu den Fragen 19 und 20. Der Kollege
Michelbach scheint nicht anwesend zu sein. Es wird ver-
fahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisteriums für Wirtschaft und Technologie. Die Fragen
23 und 24 des Abgeordneten Dr. Ramsauer sind zurück-
gezogen worden. Die Fragen 25 und 26 des Abgeordne-
ten Dr. Ruck, die Frage 27 der Abgeordneten Flach so-
wie die Frage 28 des Abgeordneten Otto
sollen schriftlich beantwortet werden.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und For-
sten. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische
Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim zur Verfügung.
Die Fragen 29 und 30 der Abgeordneten Hartnagel
sollen schriftlich beantwortet werden.
Ich rufe die Frage 31 der Abgeordneten Annette
Widmann-Mauz auf:
Denkt die Bundesregierung darüber nach, nachdem entschie-den worden ist, daß die Bundesbehörde der Bundesforschungs-anstalt für Viruskrankheiten der Tiere ihren Hauptsitz in Riems(Ostseeinsel) haben soll, eine Außenstelle in Tübingen zu erhal-ten, um die flächendeckende Forschung und Versorgung zu ge-währleisten, um kein Nord-Süd-Gefälle entstehen zu lassen undum etwa 150 hochqualifizierte Arbeitsplätze zu erhalten?
Ich bitte um Beantwortung.
Dr
Frau Kollegin Widmann-Mauz, die Bundesregie-rung beantwortet Ihre Frage wie folgt: Das „Rahmen-konzept für die Bundesforschungsanstalten im Ge-schäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten“ vom 12. Juni 1996 siehtauf Grund von Stelleneinsparungen sowie vor dem Hin-tergrund rückläufiger Haushaltsmittel eine Konzentra-tion aller Anstaltsteile der Bundesforschungsanstalt fürViruskrankheiten der Tiere auf der Insel Riems vor.Dementsprechend wurde bereits 1997 der Hauptsitz derForschungsanstalt von Tübingen auf die Insel Riemsverlagert. Dies hatte insbesondere die Umsetzung vonPersonal der Hauptverwaltung zur Folge.Auch bei der zur Zeit noch laufenden Überprüfungdes Rahmenkonzepts steht eine Korrektur der Entschei-dung zum Standort Tübingen, die sich an wissenschaft-lich-fachlichen und haushaltsmäßigen Gesichtspunktenzu orientieren hat, nicht zur Diskussion.Im übrigen hat die Stadt Tübingen städtebaulichePlanungen mit dem Ziel der Errichtung eines Technolo-gieparkes vorgenommen. Dementsprechend sind bereitsTeile der Liegenschaft der Bundesforschungsanstalt andie Universität Tübingen abgegeben worden. Demge-mäß ist davon auszugehen, daß – nach Schaffung derbaulichen Voraussetzungen am Hauptsitz der Bundes-forschungsanstalt auf der Insel Riems – sämtliche zurZeit noch knapp 110 Planstellen von Tübingen auf die
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3658 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999
(C)
Insel verlagert werden. Der Erhalt der Außenstelle inTübingen ist vor diesem Hintergrund nicht möglich.
Frau
Kollegin Widmann-Mauz, Ihre Zusatzfrage, bitte.
Herr Staats-
sekretär, Sie haben soeben in der Beantwortung meiner
Frage auf die Überprüfung der Rahmenkonzeption hin-
gewiesen. Nach meinem Kenntnisstand hat Bundesmi-
nister Funke zur Überprüfung des Standortes eine Ar-
beitsgruppe aus Bundestagsabgeordneten der Koalitions-
fraktionen zu Hilfe gezogen. Mich würde interessieren,
auf wessen Initiative und Entscheidung Einsetzung und
Zusammensetzung dieser Arbeitsgruppe beruht, welche
Abgeordneten ihr angehören und ob es Ihrem Verständ-
nis von Parlamentarismus entspricht, eine Arbeitsgrup-
pe, die eine fachlich-inhaltliche Standortentscheidung
mittragen soll, ohne Vertreter der Opposition einzuberu-
fen.
Herr
Staatssekretär, bitte.
Dr
Frau Kollegin, in der Arbeitsgruppe, die informel-
len Charakter hat, wird insbesondere vor dem Hinter-
grund der Anträge der SPD-Fraktion aus der vergange-
nen Legislaturperiode über mit der Überarbeitung des
Rahmenkonzeptes in Zusammenhang stehende Fragen
diskutiert.
Wenn die Möglichkeit einer Außenstelle am Standort
Tübingen in die Überarbeitung des Rahmenkonzeptes
nicht einbezogen wurde, dann geschah dies aus den
Gründen, die ich bereits dargelegt habe. Wir sind der
Meinung, daß das noch zu Zeiten der früheren Regie-
rung verabschiedete Rahmenkonzept in diesem Punkt
keiner Überarbeitung bzw. Korrektur bedarf.
Im Gegenteil: In Ihrer Frage haben Sie darauf auf-
merksam gemacht, daß es in der Wissenschafts- und
Forschungsförderung zu einem Nord-Süd-Gefälle kom-
me. Sie sollten sich vergegenwärtigen, daß Baden-
Württemberg 14,9 Prozent der entsprechenden Bundes-
mittel erhält und daß nach Mecklenburg-Vorpommern
nur 1,2 Prozent der Mittel fließen. Dies verleiht der ge-
troffenen Entscheidung, die Forschungen im Bereich des
Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und
Forsten auf die Insel Riems zu verlagern, Nachdruck.
Eine
weitere Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Herr Staats-
sekretär, mir liegt aus Ihrem Hause die Information vor,
daß noch nicht abzusehen ist, ob sich aus dem Ergebnis
der fachlich-inhaltlichen Überprüfung der Arbeitsgruppe
eine Änderung der bestehenden Standortkonzeption er-
gibt. In diesem Zusammenhang frage ich Sie, ob die
Einsetzung und Zusammensetzung dieser Arbeitsgruppe
im Einvernehmen mit den von der Standortentscheidung
betroffenen örtlichen Wahlkreisabgeordneten erfolgte
und ob es in diesem Zusammenhang auch eine Rück-
sprache mit der Kollegin Däubler-Gmelin, die diesen
Wahlkreis betreut, gegeben hat.
Dr
Ich kann an dieser Stelle die klare Aussage wieder-
holen, daß eine Disposition über Tübingen zu keinem
Zeitpunkt erfolgt ist. Im übrigen hat die Arbeitsgruppe
das Ziel, die Inhalte der Koalitionsvereinbarung im For-
schungsbereich umzusetzen, also zum Beispiel eine
stärkere Akzentuierung im ökologischen Landbau vor-
zunehmen. Sie werden Verständnis haben, daß es hin-
sichtlich der Umsetzung der rotgrünen Koalitionsverein-
barung schwierig wäre, auch Abgeordnete aus den alten
Regierungsfraktionen mit einzubeziehen.
Zusatz-
frage des Kollegen Rose.
Herr Staatssekretär,
können Sie den offensichtlichen Widerspruch in der Be-
antwortung der Frage der geschätzten Kollegin Wid-
mann-Mauz aufklären, daß es auf der einen Seite eben
doch eine Gruppe gibt, die mitreden soll, daß Sie auf der
anderen Seite aber bereits feste Tatsachen geschaffen
haben – die schon in einer Erklärung der „Stuttgarter
Nachrichten“ vom 2. Juni 1998 verkündet wurden –, in-
dem Sie den Standort Tübingen eindeutig aufgelöst ha-
ben, so daß dort 140 Arbeitsplätze verlorengehen?
Dr
Herr Kollege Rose, zum einen gehen die Arbeits-plätze nicht verloren. Ich habe deutlich gemacht, daß essich um eine Verlagerung auf die Insel Riems, also nachMecklenburg-Vorpommern, handelt, und zwar aus ge-nau den Gründen, die ich dargelegt habe. Es ist einesachliche Erwägung, die Virusforschung auch wegen In-fektionsgefahren auf eine Insel zu konzentrieren. Das istin der Sache logisch. Außerdem soll das Land Mecklen-burg-Vorpommern, das bisher in sehr geringem Umfangan der Bundesforschung beteiligt ist, an der Stelle unter-stützt werden.Zum anderen wurde die klare Aussage gemacht, daßes sich bei der Diskussion in der Arbeitsgruppe erstensum eine inhaltliche Diskussion zur Ausrichtung derBundesforschungsanstalt – Stichwort: stärkere Ausbrei-tung des ökologischen Landbaus – handelt und daßzweitens von Anfang an klar war, daß es bei der Diskus-sion um drei Standorte geht, nämlich um Celle, umMünster und um Wusterhausen, daß also Tübingen inkeiner Veröffentlichung aus dem Haus jemals zur Dis-kussion gestanden hat.Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999 3659
(C)
(D)
Die Fra-
gen 32 und 33 des Abgeordneten Strebl und die Fragen
34 und 35 des Abgeordneten Fromme sollen schriftlich
beantwortet werden.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Zur Be-
antwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär
Gerd Andres zur Verfügung. Ich rufe die Frage 36 des
Kollegen Gerald Weiß auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung, bei der anstehenden No-velle zum Betriebsverfassungsgesetz den § 117 so zu ändern,daß das fliegende Personal künftig nicht mehr vom Gestaltungs-bereich des Betriebsverfassungsgesetzes ausgenommen wird?
G
Herr Präsident, lie-
ber Kollege Weiß, nach der Koalitionsvereinbarung
steht in dieser Legislaturperiode auch die Novellierung
des Betriebsverfassungsgesetzes an. Im Vordergrund
stehen wird dabei die Anpassung des organisatorischen
Teils des Betriebsverfassungsgesetzes an die vielfältigen
Formen der in den Unternehmen stattfindenden Um-
strukturierungsprozesse. Dies ist keine leichte Aufgabe
und bedarf einer gründlichen Vorbereitung, sollen sach-
gerechte und flexible Antworten auf die modernen
Unternehmens- und Produktionsstrukturen gegeben
werden.
Die Arbeiten hierzu haben begonnen. Sie werden da-
her sicherlich Verständnis dafür haben, daß ich Ihnen
nach dem derzeitigen Stand der Arbeiten Ihre konkret zu
§ 117 des Betriebsverfassungsgesetzes gestellte Frage
noch nicht beantworten kann. Im Rahmen der Novellie-
rung des Betriebsverfassungsgesetzes werden jedoch
alle Vorschriften auf ihren Änderungsbedarf hin geprüft.
Zusatz-
frage, bitte schön.
Gerald Weiß (CDU/CSU): Ist der
Bundesregierung bekannt, daß beispielsweise die Pilo-
tenvereinigung Cockpit die Einbeziehung in das Be-
triebsverfassungsgesetz für Ihre Klientel deshalb will,
weil sie sich verspricht, gewisse Interessen nicht nur
persönlicher Art, sondern auch Interessen, die mit der
Luftsicherheit zu tun haben, über die Instrumente des
Betriebsverfassungsgesetzes wirksamer und nachhaltiger
durchsetzen zu können?
G
Ja, das ist der Bun-
desregierung bekannt.
Weitere
Zusatzfrage, bitte schön.
Gerald Weiß (CDU/CSU): Ich gehe
davon aus, daß Sie diese Vorschläge bei der weiteren
Arbeit am Gesetz deshalb positiv würdigen werden.
G
Ich habe schon dar-
auf hingewiesen, Herr Kollege Weiß, daß wir momentan
sozusagen im Anfangsstadium sind. Sie wissen, daß die
Teile des Gesetzes, die mit Seefahrt, mit Luftfahrt, mit
Tendenzbetrieben oder mit kirchlichen Fragen zu tun
haben, außerordentlich komplizierte Fragestellungen
implizieren – deshalb sind sie im Betriebsverfassungs-
gesetz in eigenen Teilen verankert –, so daß ich noch
einmal um Verständnis dafür bitte, daß ich zum jetzigen
Zeitpunkt keine konkreten Aussagen zur Ausgestaltung
des § 117 machen kann.
Damit
kommen wir zur Frage 37 des Kollegen Dr. Klaus Rose:
Welche Gründe sieht die Bundesregierung für die Tatsache,daß im Bereich der Arbeitslosen, nach Berufsgruppen gegliedert,die Krankenschwestern gleich hinter den Bauarbeitern an zwei-ter Stelle stehen?
Herr Staatssekretär, bitte schön.
G
Herr Präsident, lie-ber Kollege Rose, der von Ihnen vorgenommene Ver-gleich zwischen den arbeitslosen Bauarbeitern und denarbeitslosen Krankenschwestern oder Krankenpflegernist so nicht möglich. Bei den Bauberufen werden ver-schiedene Berufsordnungen zusammengefaßt, währendes sich bei Krankenschwestern, Pflegern und Hebammennur um eine Berufsordnung, nämlich die mit der Kenn-ziffer 853 in der Statistik, handelt.Zu der Beschäftigungssituation ist darauf hinzuwei-sen, daß sich gemäß Beschäftigtenstatistik der Bundes-anstalt für Arbeit in den Jahren 1993 bis 1998 die Ge-samtzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigtenum 5,2 Prozent reduziert hat, während in der genanntenBerufsordnung 853 im gleichen Zeitraum eine Steige-rung der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäf-tigten um 14,3 Prozent zu beobachten war.Bei der Betrachtung der Entwicklung der Arbeitslo-sigkeit ist festzustellen, daß sich von 1993 auf 1998 derBestand an Arbeitslosen insgesamt um rund 15 Prozenterhöht hat. Gleichzeitig erhöhte sich die Arbeitslosigkeitin der Berufsordnung 853 um 17,7 Prozent. Wegen dergleichzeitig erfolgten Ausweitung der sozialversiche-rungspflichtigen Beschäftigung erhöhte sich die Ar-beitslosenquote in diesem Bereich bundesweit aber nurvon 3,1 auf 3,2 Prozent und liegt damit relativ niedrig.Die Zahl der offenen Stellen hat sich in den letztenJahren rückläufig entwickelt. Insgesamt deutet sich so-mit in den Krankenpflegeberufen eine Trendwende an,nachdem Anfang der 90er Jahre hier noch ein „Pflege-notstand“ bestand. Die Dienststellen der Bundesanstaltfür Arbeit berichten inzwischen oft von einem deutli-chen Bewerberüberhang in diesem Bereich. Der Kosten-druck in den Krankenhäusern sowie der Personalabbauin den Kurbetrieben werden als Hauptgründe dafür ge-nannt.Einmal freigesetzte Arbeitskräfte finden derzeit, fallssie nicht über Spezialkenntnisse bzw. besondere Quali-
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3660 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999
(C)
fikationen verfügen, nur sehr schwer wieder einen Ar-beitsplatz. Auch sucht ein relativ hoher Anteil der Ar-beitslosen in dieser Gruppe eine Teilzeitarbeit, die nichtin dem erforderlichen Umfang angeboten wird. Ein Teilvon arbeitslosen Krankenpflegekräften ist allerdingsauch in zusätzlich entstandenen Arbeitsplätzen im am-bulanten Pflegebereich untergekommen.Insgesamt kann man noch nicht von einem schwieri-gen Arbeitsmarkt für Krankenpflegefachkräfte sprechen.
Zusatz-
frage.
Herr Staatssekretär,
ich bin nicht überzeugt, daß es keine schwierige Situa-
tion für die Krankenschwestern und die Pflegeberufe
gibt. Wenn ich Ihre überzeugenden Zahlen in eine
schlichte Frage fassen darf: Was gedenkt die Bundesre-
gierung zu tun, um im Zusammenhang mit der vorhin
gestellten Frage eines weiteren Abbaus von Kranken-
hausbetten den Mißstand für diesen gefährdeten Berufs-
stand, der ja speziell Frauen betrifft, zu beseitigen?
G
Herr Dr. Rose, ich
habe ja darauf hingewiesen, daß, wenn man entspre-
chende Vergleiche zieht, unsere Arbeitslosenquote im
Schnitt bei knapp über 10 Prozent liegt, dagegen in die-
ser Berufsgruppe bei knapp über 3 Prozent. Es hat in der
letzten Zeit einen Anstieg gegeben; die Gründe dafür
habe ich genannt.
Sicherlich wird der Rationalisierungsdruck auch im
Gesundheitsbereich zunehmen. Auf der anderen Seite
muß man sehen, daß der Gesundheitsbereich nach wie
vor ein Wachstumsbereich ist und eines der Potentiale
darstellt, in denen gesellschaftlich relativ viel Beschäfti-
gung stattfindet. Ich habe Ihre Fragen an Frau Kollegin
Nickels verfolgt und kann mir auch denken, in welche
Zielrichtung sie gehen. Wenn ich in Erinnerung rufen
darf: Frau Nickels hat Ihnen auf Ihre Frage hinsichtlich
eines Globalbudgets oder der Bestätigung der Zahlen
zum Aktionstag für Gesundheit in Berlin die Antwort
gegeben, daß heute morgen in der Anhörung des Ge-
sundheitsausschusses die dargestellten Zahlen von den
Fachleuten nicht geteilt worden sind und daß natürlich
auch ein Globalbudget mit der Grundlohnsumme ent-
sprechend wächst und damit zusätzliche Mittel zur Ver-
fügung stehen.
Das soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß
insbesondere im Krankenhausbereich – das weiß jeder,
der sich mit dieser Sache etwas befaßt hat – einige Pro-
bleme auf uns zukommen. Damit muß entsprechend
umgegangen werden.
Damit
kommen wir zu den Fragen des Kollegen Wolfgang
Spanier. Ich rufe die Frage 38 des Kollegen auf:
Welche Schritte unternimmt die Bundesregierung, um diedeutsche Gebärdensprache vollständig anzuerkennen?
Herr Staatssekretär, bitte schön.
G
Herr Präsident, lieber
Kollege Spanier, ich bitte darum, beide Fragen gemein-
sam beantworten zu dürfen.
Mit
Ihrem Einverständnis, Herr Kollege Spanier, rufe ich
dann auch die Frage 39 auf:
Welche Schritte unternimmt die Bundesregierung, um denBeruf der Gebärdensprachdolmetscherin oder des Gebärden-sprachdolmetschers anzuerkennen?
G
Ich danke für dasEinverständnis.Zu Frage 38: Bisher gibt es in Deutschland keinebundesweite Norm zur Anerkennung der Gebärdenspra-che. Die Regierungskoalition hat das Anliegen der Ge-hörlosen in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen.Danach soll geprüft werden, wie die deutsche Gebärden-sprache anerkannt und gleichbehandelt werden kann.Konkrete Ergebnisse liegen noch nicht vor, da die Re-gelungskompetenz des Bundes auf diesem Gebiet engbegrenzt ist und Fortschritte nur im Zusammenhang mitden Ländern möglich sind.Die Regierungschefs der Länder befürworten grund-sätzlich die Anerkennung der Gebärdensprache. Aller-dings soll sie schrittweise im Rahmen der verfügbarenfachlichen und finanziellen Mittel erfolgen. Ich erinnerein diesem Zusammenhang an die Konferenz der Mini-sterpräsidenten der Länder vom März 1998, in derenVerlauf bekräftigt wurde, daß die Anerkennung undFörderung der Gebärdensprache in Deutschland imRahmen der fachlichen und finanziellen Möglichkeitenweiter umgesetzt wird.Für den Sommer dieses Jahres haben die Regierungs-chefs der Länder die zuständigen Ministerkonferenzenum weitere Berichte über die bis dahin getroffenenMaßnahmen gebeten. Von besonderem Interesse wirddabei der Bericht der Arbeits- und Sozialministerkonfe-renz sein, der im Entwurf vorliegt, aber noch der Bestä-tigung bedarf. Sobald der endgültige Bericht vorliegt,wird die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländernnach Möglichkeiten einer raschen Umsetzung der Ko-alitionsvereinbarung suchen.Ihre Frage 39 möchte ich wie folgt beantworten: DieAnerkennung des Berufs „Gebärdensprachdolmetscher“obliegt den Ländern. Hierbei handelt es sich um eineHochschul- bzw. Fachhochschulausbildung, für die dieLänder zuständig sind. An mehreren Hoch- und Fach-hochschulen sind Studiengänge in unterschiedlichemUmfang eingerichtet oder in Vorbereitung.Die Freie und Hansestadt Hamburg hat das Institutfür Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Ge-hörloser als Dauereinrichtung der Universität mit einemDiplomstudiengang für Gebärdensprachdolmetscheretabliert. Die Fachhochschule Magdeburg bietet im Be-reich Sozial- und Gesundheitswesen einen speziellenachtsemestrigen Diplomstudiengang „Gebärdensprach-dolmetscher“ an, der auch Teilnehmern aus anderenLändern zugängig ist.Parl. Staatssekretär Gerd Andres
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999 3661
(C)
(D)
Keine
Zusatzfrage, Herr Spanier? – Zusatzfrage des Kollegen
Niebel.
Herr Staatssekretär, unterstüt-
zen Sie die Forderung verschiedener Gehörlosenverbän-
de, zum Beispiel aktuelle politische Debatten wie die im
Deutschen Bundestag ebenso wie aktuelle politische
Sendungen, zum Beispiel „Brennpunkt“, weil sie nicht
untertitelt werden können, durch Gebärdensprachdol-
metscher simultan übersetzen zu lassen, um so Gehörlo-
sen die Möglichkeit zu verschaffen, am politischen All-
tagsleben teilzuhaben?
G
Ich unterstütze so
etwas. Wenn Sie sich umschauen, werden Sie feststel-
len, daß schon eine Reihe von Sendern im Fernsehbe-
reich dazu übergegangen sind, die Übertragungen sol-
cher Veranstaltungen, die Sie angesprochen haben, in
die Gebärdensprache simultan übersetzen zu lassen.
Weitere
Zusatzfrage, Herr Niebel.
Herr Staatssekretär, darf ich
Ihre Antwort dahin gehend deuten, daß die Bundesregie-
rung darauf hinwirken wird, daß auch die Debatten des
Deutschen Bundestages simultan übersetzt werden?
G
Da, wo die Bundes-
regierung dazu in der Lage ist, wird sie es tun.
Zusatz-
frage des Kollegen Rose.
Darf ich insistieren
– unabhängig von dem Kompetenzproblem „Bund oder
Länder“ – und sagen, daß heute in einer öffentlichen
Anhörung des Sportausschusses zum Behindertensport
auf die Gehörlosenprobleme hingewiesen wurde, weil
man zwar gemeinsam Sport treiben kann, die Behinder-
tensportler im Gehörlosenbereich aber von der berühm-
ten Kommunikation nach dem Sport ausgeschlossen
bleiben. Ist die Bundesregierung deshalb bereit, alles zu
tun, um mit Hilfe von Gebärdensprachdolmetschern zu-
sätzliche Angebote für Gehörlose zu schaffen, bei-
spielsweise betreffend die Debatten des Deutschen Bun-
destages?
G
Herr Dr. Rose,
meiner Antwort von eben konnten Sie das entnehmen.
Sie lautete: Soweit die Bundesregierung das kann, wird
sie das tun. Es steht der Bundesregierung nicht zu, sich
beispielsweise in Angelegenheiten des Parlamentes ein-
zumischen.
Ich bedaure sehr, daß ich nicht darüber informiert bin,
wie die Anhörung des Sportausschusses heute morgen
inhaltlich verlaufen ist. Ich kann aber zusichern, daß ich
mich darüber informieren werde.
Ich will noch einmal unterstreichen: In unserer
Koalitionsvereinbarung ist niedergelegt, daß wir uns für
eine stärkere Nutzung der Gebärdensprache einsetzen
werden. Das wird nach den finanziellen und rechtlichen
Möglichkeiten Schritt für Schritt geschehen. Insofern
unterstützen wir auch diese Bemühungen.
Vielen
Dank.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums der Verteidigung. Zur Beantwortung
steht die Parlamentarische Staatssekretärin Brigitte
Schulte zur Verfügung.
Zunächst die Frage 40 des Kollegen Jürgen Koppelin:
Hat die Bundesregierung von der NATO Auskünfte darübererhalten, wie es zu der Bombardierung der chinesischen Bot-schaft in Belgrad kommen konnte, und, wenn ja, wie lautet dieAuskunft der NATO dazu?
B
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Der verehrte Kollege Kop-pelin hat danach gefragt, wie es zur Bombardierung derchinesischen Botschaft in Belgrad kommen konnte undwelche Auskunft ihm dazu die NATO gibt. Das will ichgern beantworten.Sehr geehrter Herr Kollege Koppelin, die Bundesre-gierung hat aus dem NATO-Hauptquartier in BrüsselAuskunft darüber erhalten, wie es zu dieser Bombardie-rung kommen konnte. Der Bericht des Hauptquartiersverweist auf detaillierte Befragungen der betroffenenLuftfahrzeugbesatzungen, des Kommandeurs und desStabspersonals des entsprechenden Hauptquartiers. Eswurde das Personal der Nation befragt, die die Zielin-formation geliefert hat, auf der der betreffende Luftan-griff basierte.Die Überprüfung hat ergeben, daß weder ein Piloten-noch ein technischer Fehler den Unfall hervorgerufenhat. Es wurde bereits öffentlich erklärt, daß die direkteUrsache des unbeabsichtigten Angriffs die Verwendungeiner falschen Information über die Position des Zieleswar. Dabei muß bedacht werden, daß die NATO vonnachrichtendienstlichen Informationen der Mitglied-staaten abhängig ist, da sie selbst keine Intelligence-Fähigkeiten besitzt.Diejenige NATO-Nation, welche die Originalinfor-mation über das Ziel zur Verfügung stellte, hat öffent-lich erklärt, daß die von ihrem Nachrichtendienst gelie-ferte Information falsch war. Das ursprüngliche Ziel seidas Staatliche Direktorat für Versorgung und Nach-schub, eine besonders wichtige militärische Einrichtungauf der genehmigten Zielliste, gewesen. Die chinesischeBotschaft hingegen befinde sich auf der genehmigten„no strike list“, das heißt auf der Liste der auf keinenFall zu bekämpfenden Objekte.
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3662 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999
(C)
Der Fehler passierte, weil die Position des StaatlichenDirektorats für Versorgung und Nachschub auf demKartenmaterial der liefernden Nation falsch angegebenwar. Dieses Direktorat befindet sich tatsächlich in un-mittelbarer Nähe der chinesischen Botschaft. Das Kar-tenmaterial, das aus dem Jahre 1992 stammt und 1997und 1998 jeweils aktualisiert wurde, zeigt jedoch diechinesische Botschaft irrtümlich an einer anderen Stellein Belgrad.Das NATO-Hauptquartier drückt in seinem Schreibensein tiefes Bedauern aus und verpflichtet sich, alleSchritte zu unternehmen, um das Risiko von ähnlichenFehlplanungen in der Zukunft zu vermeiden.Der Bundesregierung sind darüber hinaus keine Fak-ten über den irrtümlichen Beschuß der chinesischen Bot-schaft bekannt.
Eine Zu-
satzfrage, Herr Koppelin.
Frau Staatssekretärin,
wenn Sie sagen, daß diese Bombardierung auf Grund
von Fehlinformationen, die bei der NATO vorlagen, ge-
schehen konnte, teilen Sie dann meine Auffassung, daß
es vielleicht besser gewesen wäre, statt sich auf das
Kartenmaterial oder auf Informationen, die man von
irgendwelchen Geheimdiensten bekommt, zu berufen,
ins Telefonbuch von Belgrad zu schauen, um festzu-
stellen, wo sich die chinesische Botschaft befindet?
B
Herr Kollege, diese Mei-
nung teile ich natürlich nicht, obwohl man auf eine sol-
che Idee kommen kann, weil man fast nicht glauben
kann, daß so etwas passiert. Ich befürchte, das Telefon-
buch hätte nicht die Koordinaten angegeben.
Das war natürlich ein unverzeihlicher Fehler; das ist
unstrittig.
Wir
kommen dann zur Frage 41 des Kollegen Werner Sie-
mann:
Gibt es Fälle, daß sich Soldaten, die dem psychologischenDruck der offen oder versteckt drohenden Gefahren im Einsatz-gebiet auf dem Balkan nicht gewachsen sind, dem Dienst entzo-gen, die Waffen niedergelegt haben und daher aus dem Kom-mando herausgelöst und nach Deutschland zurückversetzt wer-den mußten?
B
Herr Kollege Siemann,
Sie fragen, ob es Fälle gibt, in denen der psychologische
Druck der offen und versteckt drohenden Gefahren im
Einsatzgebiet auf dem Balkan bei bestimmten Soldaten
eine Überforderung darstellt. Ich muß Ihnen mitteilen,
daß wir bis heute zum Glück keinen Soldaten haben, den
wir aus den von Ihnen genannten Gründen nach
Deutschland zurückkommandieren mußten. Die bisher
erfolgten Rückkommandierungen sind ausschließlich
aus Gründen der Fürsorge und der Gesundheit und leider
in dem einen oder anderen Fall aus disziplinarischen
Gründen vorgenommen worden.
Eine Zu-
satzfrage, Herr Siemann.
Frau Staatssekretä-
rin, hat es bisher Fälle von Wehrdienstverweigerung auf
Grund des Einsatzes auf dem Balkan gegeben?
B
Nein, mir sind keine ent-
sprechenden Fälle bekannt. Herr Siemann, ich weiß, daß
im Vorfeld sehr sorgfältig gefragt wird, für welche Sol-
daten es ernstzunehmende Gründe gibt, dort nicht einge-
setzt zu werden. Wir haben keinen Grund, davon auszu-
gehen, daß diese Informationen nicht stimmen.
Eine
weitere Zusatzfrage.
Hält es die Bundes-
regierung hinsichtlich unserer Soldaten für motivations-
fördernd, wenn sie beabsichtigt, die Dauer des Einsatzes
von vier auf sechs Monate zu erhöhen, auch unter der
Maßgabe, daß den Soldaten zugesichert wird, im Ver-
lauf der nächsten zwei Jahre nicht auf dem Balkan ein-
gesetzt zu werden?
B
Herr Siemann, ich bin Ih-
nen für diese Frage dankbar, weil sie viele Soldaten und
ihre Familien beschäftigt. Diese Frage kann man im
Moment nicht abschließend beantworten. Wir bemühen
uns darum, Soldaten, die schon in ähnlichen Einsätzen
gewesen sind, zum Beispiel in Bosnien-Herzegowina, in
einem Zeitraum von anderthalb bis zwei Jahren mög-
lichst nicht einzusetzen.
Sie wissen aber selbst genau, daß es im Bereich der
Pioniere, der Logistik und im Sanitätsbereich Kräfte
gibt, bei denen diese Regelung schon heute nicht durch-
führbar ist. Deswegen prüfen wir, inwieweit wir durch
eine Aufstockung der Krisenreaktionskräfte erreichen
können, daß nicht so viele Soldaten in kürzeren Abstän-
den in Spannungsgebieten eingesetzt werden. Zum heu-
tigen Zeitpunkt aber kann keiner diese Frage seriös be-
antworten, auch wenn der Wunsch nach einer Antwort
natürlich verständlich ist.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Niebel.
Frau Staatssekretärin, stimmenSie mir zu, daß die Verlängerung der Einsatzzeit aufsechs Monate mit einem dazwischenliegenden Urlaubvon zwei Wochen – das ist der Stand, über den hier dis-kutiert wird – insbesondere bei jungen Familien zu gro-Parl. Staatssekretärin Brigitte Schulte
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999 3663
(C)
(D)
ßen psychischen Belastungen führen kann? Es gibt jaden Abschiedsprozeß vor dem Einsatz, danach dieRückkehr im Rahmen des Urlaubs, das Sich-wieder-aneinander-Gewöhnen und die Verarbeitung der Ein-drücke des Einsatzes. Dann muß sich der Soldat wiedervon seiner Familie verabschieden, um den Resteinsatzabzuleisten. Stimmen Sie mir weiter darin zu, daß einederartige Situation die Motivation im Einsatzgebiet nichtsonderlich fördern würde?B
Herr Kollege Niebel, wir
sind mit diesen Fragen erst in den letzten Jahren kon-
frontiert worden. Wir sollten uns daher auf die Erfah-
rungen unserer Bündnispartner berufen. Sie wissen, daß
es gute Gründe gibt, die Einsatzzeit auf ein halbes Jahr
zu verlängern, weil natürlich die Erfahrung der Soldaten
und ihre Fähigkeiten, im Einsatzgebiet zu operieren,
hilfreich sein können.
Wir wollen diese Frage aber genau prüfen und haben
uns vorgenommen, daß wir dem Verteidigungsausschuß
und dem Parlament spätestens nach der Sommerpause
einen entsprechenden Vorschlag vorlegen werden. Die
Fachleute und auch die Vertreter des Heeres wünschen
sich einen längeren Einsatz, weil die Erfahrung der Sol-
daten von großem Wert ist.
Ich habe in den Gesprächen mit den Vertrauensleuten
der Soldaten sehr unterschiedliche Meinungen gehört.
Viele sagen: Wenn uns durch den Einsatz von einem
halben Jahr garantiert werden kann, daß der Zeitraum
bis zum nächsten Einsatz verlängert wird, nehmen wir
einen Einsatz von einem halben Jahr in Kauf, wenn wir
aber ein halbes Jahr später wieder zum Einsatz kommen
würden, dann wäre das ein Problem.
Ich kann Ihnen die Frage nicht abschließend beant-
worten, weil es für beide Positionen gute Gründe gibt.
Wir müssen uns als Parlament darüber Gedanken ma-
chen, wie wir die Erfordernisse hinsichtlich des Auftrags
und der Fürsorge in Einklang bringen.
Eine
weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Frau Staatssekretärin, wie viele
einsatzfähige KRK-Kräfte brauchen Sie, damit eine
Verlängerung des Einsatzes nicht notwendig ist?
B
Dazu gibt es bei unseren
Partnern ebenfalls sehr interessante Überlegungen, Herr
Kollege Niebel. Es gibt Fachleute, die sagen, man brau-
che zwischen einsatzfähigen Verbänden und denen, die
zu Hause ausgebildet werden, die sich gerade in einer
Weiterbildung oder in Ferien befinden, ein Verhältnis
von 1 zu 3. Es gibt aber auch Fachleute, die sagen, ein
Verhältnis von 1 zu 2 reiche aus. Auch in diesem Punkt
werden wir abwägen müssen. Wir sind uns aber auf je-
den Fall darin einig, daß wir allein für den Auftrag auf
dem Balkan zu wenig Krisenreaktionskräfte haben.
Damit
kommen wir zur Frage 42 des Kollegen Siemann.
Besteht zwischen der Bevölkerung im Einsatzgebiet unsererBundeswehr auf dem Balkan und unseren Soldaten ein Span-nungsverhältnis, und ist es schon zu Auseinandersetzungen ge-kommen?
B
Herr Kollege Siemann,
zwischen der Bevölkerung im Einsatzgebiet und unseren
Soldaten besteht durch den Auftrag der SFOR- und
KFOR-Verbände natürlich ein Spannungsverhältnis. Das
ist aber kein Spannungsverhältnis, das etwa die deut-
schen Soldaten in einen Unterschied zu denen in den
Partnerstaaten bringt.
Die Haltung der Bevölkerung gegenüber den deut-
schen Soldaten schwankt zwischen indifferent und herz-
lich, wobei wir die Erfahrung sowohl in Bosnien-
Herzegowina als auch jetzt im Kosovo gemacht haben,
daß die deutschen Soldaten teilweise sehr herzlich will-
kommen sind. Das trifft übrigens auch für serbische
Bürger in Bosnien-Herzegowina zu. Negative Erfahrun-
gen haben wir bislang noch nicht gemacht. Über Aus-
einandersetzungen zwischen der einheimischen Bevöl-
kerung und deutschen Soldaten liegen der Bundesregie-
rung bis heute keine Meldungen vor. Aber man muß
hinzufügen: Die Soldaten sind besonders sorgfältig auf
ihren Auftrag vorbereitet worden. Ich glaube, darauf ist
es zurückzuführen, daß wir keine unliebsamen Vorfälle
haben.
Eine Zu-
satzfrage, Herr Siemann.
Frau Staatssekretä-
rin, wann werden die Mitglieder des Deutschen Bun-
destags die Möglichkeit bekommen, sich vor Ort über
die Situation zu informieren und sich ein Bild von der
Situation zu verschaffen?
B
Sie haben völlig recht,Herr Siemann. Wir haben das besprochen. Wir wollenmindestens den Mitgliedern des Verteidigungsausschus-ses, und zwar nicht nur in einem Quotensystem, anbie-ten, noch im Juli, August eine Reise sowohl nach Bos-nien-Herzegowina wie auch nach Mazedonien und sogarschon in den Kosovo vorzunehmen.Schwierig ist es zur Zeit, all jenen Bundestagskolle-gen, die nicht Mitglieder des Verteidigungsausschussessind, die aber aus ihrem Wahlkreis ein Kontingent inBosnien-Herzegowina oder im Kosovo haben, eine sol-che Reise zu ermöglichen. Wir belasten damit einfach zustark die vor Ort befindlichen Soldaten. Das war derGrund dafür, daß wir im Mai den Besuch in Bosnien-Herzegowina ausgesetzt haben. Aber wir beabsichtigen,allen Mitgliedern des Verteidigungsausschusses für Juli,August – je nachdem, wie sich die Situation entwickelt –ein solches Angebot zu machen.Dirk Niebel
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3664 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999
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Eine Zu-
satzfrage.
Frau Staatssekretä-
rin, wir haben vor wenigen Tagen im Fernsehen Bilder
von der ersten Auseinandersetzung sehen können, in
welche deutsche Soldaten hineingezogen worden sind.
Es war also offensichtlich ein Filmteam dabei. Gelten
für Filmteams andere Regeln als für Bundestagsabge-
ordnete?
B
Nein. Sie reisen auf eige-
ne Kosten und auf eigenes Risiko dorthin und werden
von der Bundeswehr dort nicht betreut. Die Bundeswehr
gibt ihnen nur Empfehlungen dafür – das haben Sie
sicherlich auch gelesen, Herr Siemann –, wie sie sich zu
verhalten haben, um kein Risiko für die Bundeswehr
darzustellen, indem sie sie in der Arbeit behindern.
In unserer Informationsgesellschaft ist, wie Sie an
dem schrecklichen Tod der beiden Journalisten vom
„Stern“ gesehen haben, der Bedarf natürlich groß, mög-
lichst umfassend informiert zu werden. Die Bundeswehr
selbst hat kein Interesse daran, daß dort in großem Maße
Journalisten anwesend sind, weil sie sich natürlich auch
für die Leute verantwortlich fühlt.
Nein, das Parlament hat bei uns ausdrücklich Vor-
rang. Wir haben diese Reise nur deshalb nicht orga-
nisiert, weil die Soldaten unter starker Belastung ste-
hen.
Vielen Dank.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Niebel.
Frau Staatssekretärin, stimmen
Sie mir zu, daß die Äußerung, die General von Korff
heute im Fernsehen gemacht hat – es gebe keine rechtli-
che Grundlage zur Entwaffnung der UCK-Kämpfer –,
zu einem Spannungsverhältnis mit der örtlichen Bevöl-
kerung führen könnte, weil die Vereinten Nationen in ih-
rem Sicherheitsratsbeschluß exakt die Entwaffnung ge-
fordert haben?
B
Aber natürlich, Herr Kol-
lege Niebel. Wir werden das auch tun müssen, wobei
wir natürlich den Versuch unternehmen, daß dies auf
gütliche Weise geschieht. Wir haben auch schon die Be-
reitschaft von ersten UCK-Kräften festgestellt, mit den
ins Kosovo Hineinkommenden zusammenzuarbeiten.
Wir haben uns auch gegenüber der serbischen Bevölke-
rung verpflichtet, dafür zu sorgen, daß die UCK-Kräfte
wie alle anderen paramilitärischen Kräfte im Kosovo die
Waffen abgeben. Ich gehe davon aus, daß das eine Frage
der Zeit und auch eine Frage der Klugheit der Kosovo-
Albaner ist. Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir eine
Befriedung der Lage im Kosovo bekommen, wenn die
UCK-Kräfte weiterhin bewaffnet sind.
Herr
Kollege Niebel, normalerweise haben die Abgeordneten,
die die Frage nicht gestellt haben, nur eine Zusatzfrage.
Aber in Anbetracht des besonderen Interesses an diesem
Komplex lasse ich eine zweite Zusatzfrage zu.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Frau Staatssekretärin, habe ich Ihre Antwort richtig
dahin gehend interpretiert, daß Sie dafür Sorge tragen
werden, daß der Kommandierende General im Kosovo
darüber informiert wird, daß ein UN-Sicherheits-
ratsbeschluß durchaus eine hinreichende Rechtsgrundla-
ge ist?
B
Wir verhandeln noch dar-
über, wie Sie wissen. Wir wollen das möglichst gleich-
mäßig in allen Abschnitten des Kosovo durchführen, das
heißt nicht nur in den Kontingenten, in denen die Deut-
schen oder die Italiener verantwortlich sind, sondern auf
allen Ebenen. Deswegen wird auch eine Vereinbarung
mit den UCK-Kräften darüber herbeigeführt. Wir sind
verpflichtet, die Entwaffnung durchzuführen. Ich glaube
auch, daß uns das bei den UCK-Kräften gelingt. In dem
Moment, wo sie das Gefühl hat, Herr Kollege Niebel,
daß dort keine paramilitärischen serbischen Verbände
mehr sind – von denen wir alle nicht wissen, ob sie sich
nicht einfach in die Bevölkerung eingegliedert haben –,
wird auch die UCK weitgehend bereit sein, die Waffen
abzugeben, und zwar freiwillig. Davon bin ich fest über-
zeugt.
Damit
kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministe-
riums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen. Uns ste-
hen gleich drei Parlamentarische Staatssekretäre zur Be-
antwortung zur Verfügung; das sind die Herren Lothar
Ibrügger, Achim Großmann und Siegfried Scheffler.
Zunächst antwortet der Kollege Lothar Ibrügger.
Wir beginnen mit der Frage 43 der Kollegin Ulrike
Flach:
Plant die Bundesregierung, Vorschlägen der nordrhein-westfälischen Landesregierung zu folgen – die auf der Rechts-auffassung beruhen, ein Nachtflugverbot verstoße nicht gegenden Gleichheitsgrundsatz und das Recht auf freie Berufsaus-übung im Grundgesetz – und ein Nachtflugverbot für Passagier-und Frachtmaschinen zwischen 0 und 5 Uhr am FlughafenKöln/Bonn zu verhängen?
L
Sehrgeehrter Herr Präsident! Liebe Frau Kollegin Flach, eineeindeutige Antwort auf Ihre Frage ist der Bundesregie-rung erst möglich, wenn und nachdem das Land Nord-rhein-Westfalen einen förmlichen Antrag gestellt hat,die Genehmigung für den Flughafen Köln/Bonn zu än-dern. Ein solcher Antrag liegt nach meiner Kenntnis bis-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999 3665
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her nicht vor. Deswegen zunächst die Antwort, daß mirzu den beiden von Ihnen angesprochenen Punkten– Nachtflugverbot der Boeing 747-400 und Verbot vonPassagierflügen in der Zeit von 0 Uhr bis 5 Uhr mor-gens – neben dem vom Land in Auftrag gegebenen Gut-achten inzwischen auch ein Gutachten von Professor Dr.Sachs, das von dem Flughafen Köln/Bonn in Auftraggegeben wurde, vorliegt. Die rechtliche Prüfung beiderGutachten durch die entsprechenden Abteilungen imBundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungs-wesen ist noch nicht abgeschlossen, so daß eine Stel-lungnahme erst später erfolgen kann.
Eine Zu-
satzfrage.
Wie schätzen Sie die Auswir-
kungen auf den Arbeitsmarkt im Bereich des Köln/
Bonner Flughafens ein? Liegen Ihnen da zumindest grobe
Schätzungen vor?
L
Frau
Kollegin Flach, Betreiber des Flughafens – der Bund ist
zwar noch mit beteiligt – ist die Flughafen Köln/Bonn
GmbH. In der Region ist der wirtschaftliche Nutzen die-
ses Flughafens – das wissen wir aus der Verkehrspolitik
– ebenso wie der des Flughafens Frankfurt allgemein
bekannt. Aber quantifiziert kann ich Ihnen das im Rah-
men der Fragestunde nicht beantworten.
Eine
weitere Zusatzfrage, bitte schön, Frau Kollegin.
Wie kommt es aber vor dem
Hintergrund, daß Sie gesagt haben, es liege Ihnen keine
Anfrage der nordrhein-westfälischen Landesregierung
vor, zu Presseberichten vom 26. April, daß dies so sei,
und zu Presseberichten, daß das Kabinett am 5. Mai zu
diesem Thema getagt habe?
L
Ent-
scheidend ist doch, Frau Kollegin Flach, daß dem Bun-
desministerium für Verkehr ein förmlicher Änderungs-
antrag für die Genehmigung des Flughafens vorgelegt
wird. Das ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht der
Fall. Es gibt Absichtserklärungen, auf die Sie abheben.
Für die Bundesregierung stellt sich die Situation auf
Grund der Gutachten von zwei Rechtsprofessoren, die
bei der Bewertung des gleichen Sachverhaltes zu völlig
unterschiedlichen Auffassungen kommen, gegenwärtig
nicht sehr erhellend dar. Aus diesem Grunde müssen wir
das weitere Verfahren abwarten.
Ebenso hat die Landesregierung von Nordrhein-
Westfalen in ihrem Schriftverkehr in den vergangenen
Monaten – auch im Hinblick auf das vom Flughafen
Köln/Bonn in Auftrag gegebene Gutachten und das Er-
gebnis des Staats- und Verwaltungsrechtlers Professor
Dr. Sachs, darum gebeten, das noch einmal rechtlich zu
würdigen. Hier haben die Juristen also noch einiges mit
der Würdigung dieser Gutachten zu tun. Denn schließ-
lich geht es um eigentumsähnliche Rechte, in die man
eingreift, da eine Betriebsgenehmigung für den Flugha-
fen Köln/Bonn vorliegt. Im übrigen geht es um Betriebs-
regelungen, die allesamt eigentumsähnliche Rechte dar-
stellen und damit dem Flughafen das Klageverfahren er-
öffnen würden. Die Bundesregierung ist daran interes-
siert, daß es zu einem gerechten Ausgleich der Interes-
sen kommt und daß eine Würdigung stattfindet, die am
Ende auch bei einer richterlichen Überprüfung Bestand
hat.
Aus diesem Grunde heute nur die Antwort: Wir sind
in der Prüfung dieser Gutachten der Professoren.
Weitere
Zusatzfragen? – Das ist nicht der Fall.
Dann kommen wir jetzt zur Frage 44 des Kollegen
Warum wird die Bundesregierung das Höchstalter für Pilotenauf 65 Jahre festlegen – was das EU-Recht nicht zwingend for-dert –, während das Höchstalter für Piloten in den USA und inFrankreich bei 60 Jahren liegt und bei Lokomotivführern dasAusscheiden bereits mit 55 bis 57 Jahren üblich ist?
L
HerrKollege Weiß, im Rahmen der europäischen Harmoni-sierung der Lizenzierungsvorschriften für Piloten wurdedas Höchstalter für Piloten im gewerblichen Luftverkehrauf 65 Jahre festgelegt. Vom flugmedizinischen undvom flugbetrieblichen Standpunkt aus ist nach Auffas-sung der in der Arbeitsgemeinschaft der europäischenLuftfahrtverwaltungen vertretenen 19 europäischenLuftfahrtbehörden eine Altersgrenze von 65 Jahren imgewerblichen Luftverkehr sinnvoll und vertretbar.Frankreich hat als einziges Mitglied dieser Organisa-tion noch vor der Einführung der europäischen Vor-schriften eine allgemeine gesetzliche Altersgrenze von60 Jahren aus arbeitsmarktpolitischen Gründen einge-führt. In den USA wurde die Altersgrenze von 60 Jahrenbereits 1960 ohne vorangegangene umfangreiche flug-medizinische Untersuchungen eingeführt. Ebenfalls ausarbeitsmarktpolitischen Gründen hat man sie bis heutebeibehalten.Die 1970 von der Internationalen Zivilen Luftfahrt-organisation eingeführte Altersgrenze von 60 Jahren warimmer wieder Gegenstand von Diskussionen und ist derStandard, von dem nach Aussage der ICAO die meistenAbweichungen gemeldet werden. Für berufsmäßig tätigePiloten in Luftfahrtunternehmen gibt es derzeit keine ge-setzlich festgelegte Altersgrenze in Deutschland. DieFlugdienst- und Ruhezeiten des fliegenden Personalssind darüber hinaus auf der Grundlage flugmedizini-scher Erkenntnisse per Rechtsverordnung geregelt.Sie hatten auch nach Lokomotivführern gefragt.
Parl. Staatssekretär Lothar Ibrügger
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3666 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999
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Die Anforderungen der Eisenbahn-Bau- und Betriebs-ordnung an die körperliche Tauglichkeit des Personalsim Betriebsdienst – dazu gehören die Lokführer – sehenkeine Altersgrenze vor. Der jahrzehntelange Einsatz imAußendienst bei unregelmäßigen Wechselschichtenführt jedoch zu erhöhtem und dauerhaftem gesundheit-lichen Verschleiß, so daß wegen Eintritt der Dienstun-fähigkeit in den überwiegenden Fällen die gesetzlicheAltersgrenze nicht erreicht wird.Weiterhin konnten Beamte, die von Umstrukturie-rungsmaßnahmen der Deutschen Bahn AG betroffenwaren, auf eigenen Antrag in den Ruhestand versetztwerden.Das durchschnittliche Zurruhesetzungsalter bei denLokomotivführern lag in den letzten Jahren bei 56 bis 57Jahren.
Eine Zu-
satzfrage, Herr Weiß.
Gerald Weiß (CDU/CSU): Herr
Staatssekretär, wie bewerten Sie es denn, daß das Luft-
verkehrsland Nummer eins, die Vereinigten Staaten, die
Piloten ebenfalls mit 60 Jahren in den Ruhestand schik-
ken?
L
Herr
Kollege Weiß, ich habe die Frage ja schon beantwortet.
Offenkundig aus arbeitsmarktpolitischen Gründen ist
dies in den Vereinigten Staaten bereits 1960 eingeführt
worden, und die Vorschrift ist bis heute nicht geändert
worden. Die Diskussion über die Angemessenheit dieser
Altersgrenze ist ja in Europa noch im Gange. Die Ver-
bände waren beteiligt. Mir ist bekannt, daß es ein großes
Interesse auch von Berufspiloten daran gibt, daß sie ihre
Tätigkeit auch über das 60. Lebensjahr hinaus fortsetzen
können. Die entsprechenden Anträge liegen bei den
Luftfahrtbehörden vor. Deswegen möchte ich Sie
gleichzeitig auch noch darüber informieren, daß seitens
der Weltorganisation der Pilotenverbände sogar die For-
derung nach einer generellen Aufhebung jeglicher Al-
tersgrenze erhoben wurde. Das sage ich Ihnen, um Ihnen
die Breite der Vorschläge hinsichtlich der Festlegung
einer Altersgrenze für Piloten zu schildern.
Eine
weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Gerald Weiß (CDU/CSU): Darf ich
Ihnen, Herr Staatssekretär, dann entgegenhalten, daß der
Sprecher der Pilotenvereinigung „Cockpit“ gefordert
hat, daß man nicht bis zur Altershöchstgrenze von 65
Jahren gehen sollte, daß man vielmehr die Grenze we-
sentlich früher setzen müsse?
L
Herr
Kollege Weiß, ich habe das nicht als Entgegnung auf
meine Antwort, die ich im Namen der Bundesregierung
gegeben habe, aufgefaßt. Ich bin selbst im Gespräch mit
der Pilotenvereinigung „Cockpit“ und bin seit vielen
Jahren mit Fragen der Luftfahrt befaßt. Mir ist diese
Forderung bekannt. Nur muß eine entsprechende Rege-
lung – Sie haben ja eben auch das Bundesarbeitsministe-
rium danach gefragt – nach unserer Einschätzung mög-
lichst im Einvernehmen mit den Fachverbänden und den
Berufsverbänden in den Tarifverträgen getroffen wer-
den.
Ich rufe
jetzt die Frage 45 des Kollegen Harald Friese auf.
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung im Rahmendes geltenden Bundesverkehrswegeplanes, dem wachsendenVerkehr und dem ständig zunehmenden Lkw-Anteil auf derBAB 6 zwischen dem Weinsberger Kreuz und dem Autobahn-kreuz Feuchtwangen/Crailsheim gerecht zu werden?
Herr Staatssekretär, bitte.
L
Herr
Kollege Friese, die von der Bundesregierung angestrebte
stärkere Teilhabe von Schiene und Wasserstraße am
Güterverkehr kann man nur netzbezogen und nicht be-
zogen auf einen – wenn auch wichtigen, aber doch rela-
tiv kurzen – Autobahnabschnitt erreichen. Die Möglich-
keiten der Verlagerung werden im Rahmen der jetzt an-
stehenden Überarbeitung des Bundesverkehrswegepla-
nes untersucht.
Für den von Ihnen angesprochenen sechsstreifigen
Ausbau der Autobahn A 6 zwischen dem Autobahn-
kreuz Weinsberg und dem Autobahnkreuz Feuchtwan-
gen/Crailsheim wurde im Rahmen der Fortschreibung
des Bundesverkehrswegeplans 1992 kein anerkannter
Bedarf festgestellt. Der Deutsche Bundestag hat sich bei
seiner abschließenden Entscheidung über den Bedarfs-
plan für die Bundesfernstraßen am 30. Juni 1993 diesem
Votum angeschlossen. Damit fehlen die rechtlichen
Voraussetzungen für eine Aufnahme der Planungsar-
beiten.
Das Land Baden-Württemberg beabsichtigt – voraus-
sichtlich auf der Grundlage aktueller Struktur- und Ver-
kehrsdaten – das Projekt bei einer anstehenden Überar-
beitung des Bundesverkehrswegeplanes erneut zur Be-
wertung anzumelden. Die endgültige Entscheidung über
die Dringlichkeitseinstufung wird dann der Deutsche
Bundestag im Rahmen der parlamentarischen Beratung
der Novelle zum Fernstraßenausbaugesetz und zum da-
zugehörigen neuen Bedarfsplan für die Bundesfernstra-
ßen treffen.
Eine Zu-
satzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie ken-nen die Situation: Der Anteil der Lkws liegt bei rundeinem Viertel. Sieht die Bundesregierung die Möglich-Parl. Staatssekretär Lothar Ibrügger
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999 3667
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keit, durch verkehrslenkende Maßnahmen wie zum Bei-spiel ein durchgehendes Überholverbot für Lkws oderdurch bauliche Maßnahmen – Nutzung des Standstrei-fens als eine dritte Fahrspur – die optimale Ausnutzungder vorhandenen Kapazität zu gewährleisten?L
Herr
Kollege Friese, ich beziehe Ihre Frage nicht auf diesen
Autobahnabschnitt, sondern beantworte sie allgemein:
Soweit es um die Verlagerung von Lkw-Verkehr auf
Schiene und Wasserstraße geht, hat sich die Bundesre-
gierung eindeutig dazu bekannt, alles zu unternehmen
– auch im Rahmen des Bundesverkehrswegeplanes –,
mehr Anteile von der Straße auf diese Verkehrsträger zu
verlagern. Darüber hinaus sind die Straßenbauverwal-
tungen in den Ländern natürlich jederzeit gehalten – das
wird nicht von Bonn aus angeordnet –, in ihrem Ver-
antwortungsbereich die Effizienz des Autobahnnetzes
und der entsprechenden Teilabschnitte daraufhin zu
überprüfen, wie Lkw-Verkehr beschleunigt abgewickelt
werden kann, auch unter Nutzung von Standstreifen.
Diese Entscheidung wird aber nicht unmittelbar von uns
getroffen.
In den meisten Fällen hat sich herausgestellt, daß die
Standspuren der ständigen Belastung durch die immer
weiter wachsenden Achslasten der Lkws nicht stand-
halten und dies zu Verschleißschäden wie auf den
Hauptbahnen führen würde. Dies wird nur in den Fällen
gehen, in denen der Standstreifen schon vorsichtshalber
so gebaut wurde, daß er in Einzelfällen stärkere Lasten
zu tragen in der Lage ist. Diese Frage läßt sich von hier
aus aber nicht beantworten.
Eine
weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, ich teile
Ihre politische Absicht, Güterverkehre auf die Schiene
und auf die Wasserstraßen zu verlagern.
Zu dem in meiner Frage angesprochenen Autobahn-
abschnitt: Sehen Sie eine Chance, die generelle politi-
sche Aussage zu bekräftigen und mit der Fortschreibung
des Bundesverkehrswegeplanes die ehemals bedeutende
Ost-West-Verbindung zu entlasten, indem die Schiene
so gestärkt wird, daß sie ihre Funktion hinsichtlich des
Transportes von Gütern in Zukunft besser wahrnehmen
kann?
L
Herr
Kollege Friese, es wird von der Entscheidung des Par-
lamentes abhängen, ob die Dringlichkeit für die von Ih-
nen geschilderte Maßnahme dann auch in einem Gesetz
verankert wird. Wenn das der Fall ist – ich hatte Ihnen
geschildert: das Land Baden-Württemberg ist aufgefor-
dert, ein Antragsverfahren einzuleiten und dies in die
Bewertung einzubringen –, wird es Sache des Parla-
mentes sein, zu entscheiden, ob diese Maßnahme mit
höchster Dringlichkeit im Gesetz verankert wird. Für die
Bundesregierung würde dies bei entsprechender gesetz-
licher Änderung dazu führen, daß der Planungsauftrag
erfüllt und diese Maßnahme in Angriff genommen wird.
Dem kann ich jetzt aber nicht vorgreifen, da dies eine
Parlamentsentscheidung sein wird.
Damit
kommen wir zur Frage 46 des Kollegen Friese:
Sieht die Bundesregierung wegen der europäischen Bedeu-tung dieser Ost-West-Magistrale die Möglichkeit, europäischeFördermittel für den Ausbau von Straße oder Schiene zu erhal-ten?
L
Herr
Kollege Friese, sowohl die Bundesautobahn A 6 als
auch die Eisenbahnstrecke Stuttgart-Crailsheim-Nürn-
berg sind in den entsprechenden Leitschemata für die
Transeuropäischen Verkehrsnetze enthalten. Grundsätz-
lich besteht damit die Möglichkeit, für Ausbaumaßnah-
men eine Unterstützung aus dieser sogenannten TEN-
Haushaltslinie der EU zu beantragen.
Voraussetzung für eine Antragstellung ist, daß zu die-
sem Zeitpunkt die planungs- und haushaltsrechtlichen
Bedingungen für konkrete Maßnahmen gegeben sind.
Dies ist unverzichtbar, um den Abfluß der Fördermittel
zu gewährleisten.
Eine Zusatzfrage,
bitte sehr.
Das ist ein Hoffnungsschim-
mer, Herr Staatssekretär. Ich danke Ihnen für die Ant-
wort.
Aber ich habe noch eine weitere Zusatzfrage: Wie
steht die Bundesregierung zu den früheren Erwägungen
der baden-württembergischen Landesregierung, einen
Ausbau der A 6 über Mautgebühren zu finanzieren?
L
HerrKollege Friese, die Erwägungen der Landesregierungvon Baden-Württemberg sind mir so, wie Sie sie in derFragestellung zum Ausdruck gebracht haben, nicht un-mittelbar bekannt. Wir haben in der BundesrepublikDeutschland inzwischen ein ganzes Instrumentarium,Verkehrsmaßnahmen gegebenenfalls auch durch privateVorfinanzierung zu sichern. Wir haben im übrigen auchInstrumente, solche Maßnahmen gegebenenfalls auchdurch Mautgebühren oder sogenannte Betreibermodellezu finanzieren. Die Bundesregierung ist gegenwärtig of-fen für entsprechende Überprüfungen, die jedoch dieLänder in eigener Zuständigkeit vorzunehmen haben.Von deren Ergebnis wird es abhängen, ob eine solcheMaßnahme im Zuge von Bundesverkehrswegen ver-wirklicht werden kann.Die Bundesregierung ist gegen die Fortsetzung dersogenannten privaten Vorfinanzierung, die für die ein-Harald Friese
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3668 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999
(C)
zelnen Länder erhebliche finanzielle Zusatzlasten mitsich bringt. Diese gehen zu Lasten der Länderquote.Denn all das muß letzten Endes zu einem späteren Zeit-punkt, nach Fertigstellung der Maßnahme, teurer finan-ziert werden. Bundesminister Franz Müntefering hatsich deutlich dazu geäußert, daß wir eine Reihe solcherProjekte wegen der erheblichen Bindungswirkung fürden Bundeshaushalt nicht fortsetzen können.Mautregelungen sind ein anderes Modell der Finan-zierung, weil damit der Bundeshaushalt nicht unmittel-bar belastet würde. Insofern sind wir für Vorschläge of-fen, die auf diesem Felde zur Finanzierung der Ver-kehrsinfrastruktur beitragen.
Vielen Dank.
Es gibt keine weite-
ren Fragen. Ich rufe die Frage 47 des Abgeordneten Pe-
ter Weiß auf:
Trifft es zu, daß an der Bundesautobahn A 5 zwischen Of-fenburg und Basel Teilabschnitte mit einem differenziertenTempolimit von 60 km/h für Lkw und 120 km/h für Pkw verse-hen werden sollen, weil die notwendige Sanierung der Fahrbahnderzeit aus finanziellen Gründen nicht erfolgen kann, und wel-che Streckenabschnitte werden von solchen Maßnahmen derTemporeduzierung betroffen sein?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
L
Die
Antwort auf diese Frage lautet: Ja, es ist der Bundesre-
gierung bekannt. Nach Rückfrage bei der zuständigen
Verkehrsbehörde – Sie merken, hier sind wir vom Land
Baden-Württemberg abhängig – sind folgende Ab-
schnitte betroffen: in Fahrtrichtung Basel zwischen
Autobahnanschlußstelle Ettenheim und Autobahnan-
schlußstelle Riegel sowie zwischen Anschlußstelle
Teningen und Anschlußstelle Freiburg-Nord, in Fahrt-
richtung Karlsruhe zwischen den Autobahnanschluß-
stellen Freiburg-Nord und Riegel.
Eine Zusatzfrage,
bitte sehr, Herr Kollege.
Herr
Staatssekretär, wie wird sich das Tempolimit auf die
fortschreitende Zerstörung der mittlerweile 38 Jahre
alten Fahrbahn auswirken? Hat das keine Auswirkun-
gen, oder mit welcher zeitlichen Verzögerung in der
Zerstörung der Fahrbahn rechnen Sie bei Anordnung
dieses Tempolimits?
L
Ich
weiß nicht, ob erwogen wurde, die Geschwindigkeit
noch weiter zu verringern, aber der Ausgangspunkt ist,
daß die Geschwindigkeitsbeschränkung angeordnet
wurde, um die weitere Substanzzerstörung der Fahrbahn
verhindern oder zumindest abbremsen zu helfen. Anders
kann ich mir das nicht erklären. Weitere Maßnahmen
liegen in der alleinigen Zuständigkeit des Landes Baden-
Württemberg.
Was sich im Klartext dahinter verbirgt, ist die Frage,
in welcher Art und Weise wir das große materielle An-
lagevermögen, das wir in Form von Brücken und Stra-
ßen, in Bundesverkehrswegen besitzen – hier findet zu-
nehmender Substanzverzehr durch immer weiter stei-
gende Belastungen statt –, finanziell sinnvoll so nutzen
können, daß die Unterhaltung der Fahrwege in einem
zufriedenstellenden Zustand gewährleistet werden kann.
Dies bereitet uns zunehmend Schwierigkeiten, weil der
Abnutzungszustand von Brücken und Fahrbahnen durch
die hohen Belastungen viel schneller eingetreten ist, als
es bisher vorausgesehen worden ist.
Eine weitere Zusatz-
frage, bitte sehr.
Herr
Staatssekretär, da es sich hier um einen Autobahnab-
schnitt handelt, der sehr stark befahren wird, vor allen
Dingen jetzt in der Ferienzeit auf Grund des Urlaubs-
verkehrs, frage ich: Wie beurteilt die Bundesregierung
die Staugefahr, wenn Lkws nur noch mit einer Höchst-
geschwindigkeit von 60 km/h auf diesem Streckenab-
schnitt fahren können?
L
Herr
Kollege Weiß, ich bitte hier um Nachsicht. Ihre Frage
können nur die zuständige Straßenbauverwaltung und
die anordnende Straßenverkehrsbehörde sinnvollerweise
beantworten; denn sie wissen aus eigenen Erwägungen
und eigener Verantwortlichkeit, was vor Ort zu tun ist.
Die Auseinandersetzung um Staubildung durch ent-
sprechende Geschwindigkeitsbeschränkungen kann die
Bundesregierung von Bonn aus durch Anordnung nicht
ersetzen. Dies liegt einzig und allein in der Zuständig-
keit der Straßenverkehrsbehörden bzw. der dort für den
Straßenbau verantwortlichen Institutionen.
Dazu hat nun der
Kollege Wiese eine Zusatzfrage. Bitte sehr.
Herr Staatsse-kretär, würden Sie die Unterhaltungsmaßnahmen, dieauf Grund des hohen Verkehrsaufkommens notwendigsind – darauf hat der Kollege Weiß schon hingewiesen –,auch im Zusammenhang mit der Tatsache sehen, daßBaden-Württemberg als Transitland nicht nur für denTourismusverkehr, sondern auch für den Schwerverkehreine besondere Bedeutung in Deutschland und auch inEuropa hat? Nach Erkenntnissen der baden-württem-bergischen Landesregierung liegt die Verkehrsbelastungauf Grund dieser Tatsache auf den entsprechenden Ab-schnitten der A 5, A 6, A 7 und A 8 um über 20 Prozenthöher als der Bundesdurchschnitt. Glauben Sie nichtauch, daß das Land Baden-Württemberg einen höherenZuschuß vom Bund für seine Straßenunterhaltskosten,insbesondere auch für diese Autobahnen, benötigt, damitParl. Staatssekretär Lothar Ibrügger
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999 3669
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es auch in Zukunft seine Verkehrsinfrastruktur aufrecht-erhalten kann? Müßte der Bund nicht einen höheren Zu-schuß gewähren, um die Transitsituation in Baden-Württemberg besser zu berücksichtigen?L
Herr
Kollege, es ist überhaupt nicht zu verkennen, daß die
immer weiter ansteigende Belastung unseres Bundesau-
tobahnnetzes von etwa 12 000 Kilometern, insbesondere
durch den Lkw-Verkehr und durch die weiterhin stei-
genden Achslasten, zu ganz besonderen Schwierigkeiten
gerade in den Verkehrsbrennpunkten in den einzelnen
Bundesländern führt. Das gilt für Baden-Württemberg
wie für Nordrhein-Westfalen und auch für andere
Schwerpunktbereiche in unseren Ballungsräumen und
Wirtschaftsregionen.
Ihre Frage aber zielt im Grunde darauf ab, ob die bis-
her zwischen Bund und allen Ländern einvernehmlich
vereinbarte Aufteilung der Mittel, die dem Straßenbau-
lastträger Bund im Haushalt insgesamt zur Verfügung
stehen – die sogenannte Länderquote –, verändert wer-
den kann. Bisher hat die Landesregierung von Baden-
Württemberg nach meiner Kenntnis zu keinem Zeit-
punkt im Hinblick auch auf die von Ihnen geschilderte
Situation eine zusätzliche Förderung oder eine zusätzli-
che Zuschußgewährung beim Bund beantragt. Wenn die
Landesregierung von Baden-Württemberg einen solchen
Antrag stellen würde, bedeutete dies, daß von der ver-
einbarten Regelung, also der Länderquote, insgesamt
abgewichen werden sollte. Dies würde auf erheblichen
Widerstand der anderen Länder stoßen.
Das Land Baden-Württemberg hat in den 90er Jahren
in dankenswerter Weise von zurückfließenden Mitteln
für Verkehrsvorhaben in Ostdeutschland erheblich mehr
als andere Bundesländer profitieren können, weil eine
ganze Reihe ostdeutscher Länder kurz nach der deut-
schen Einheit nicht in der Lage waren, die ihnen zur
Verfügung stehenden Mittel zeitgerecht abzurufen. Die-
se sind dann dem Land Baden-Württemberg und auch
dem Freistaat Bayern in überdurchschnittlicher Weise
zugute gekommen. Das hilft ihnen bei den heutigen zu-
sätzlichen Unterhaltungslasten allerdings nichts mehr.
Aber es mag ein Beleg dafür sein, daß damals ein be-
sonderer Bedarf anerkannt worden ist. Nur sehe ich zum
gegenwärtigen Zeitpunkt keine Chance, daß der Kon-
sens über die Länderquote, die zwischen Bund und Län-
dern einvernehmlich vereinbart worden ist, aufgekündigt
wird. Aus diesem Grunde kann meine Antwort nur lau-
ten: Das Land Baden-Württemberg muß im Rahmen der
ihm zur Verfügung stehenden Mittel die Schwerpunkte
selbst setzen. Das tut das Land auch.
Nun rufe ich Frage
48 des Kollegen Peter Weiß auf:
Wann und in welchem Umfang können die finanziellen Mit-tel bereitgestellt werden, um die Fahrbahnbeläge auf der Auto-bahn A 5 zwischen Offenburg und Basel durchgehend zu sanie-ren und damit die möglicherweise vorgesehenen Tempolimitswieder aufzuheben?
Herr Staatssekretär, bitte sehr.
L
Herr
Kollege Weiß, die Instandsetzung der Autobahn A 5
zwischen Karlsruhe und Weil am Rhein wird vom Land
Baden-Württemberg seit 1992 systematisch als Schwer-
punktmaßnahme durchgeführt. Auf Grund der gravie-
renden Fahrbahnschäden in den nördlichen Abschnitten
wird die bauliche Erhaltung von Norden her betrieben.
Derzeit wird die Fahrbahn bei Riegel grundhaft erneuert.
Die dem Land jährlich zur Verfügung stehenden
Mittel für den Erhaltungsbedarf werden von dort – ich
wiederhole mich jetzt – in eigener Zuständigkeit auf die
dringlichsten Maßnahmen aufgeteilt. Nach Mitteilung
des Landes wird unter der Voraussetzung mindestens
gleichbleibender Haushaltsmittel für die Erhaltung der
Bereich Freiburg-Nord im Jahr 2000 mit der Sanierung
erreicht sein, so daß die Geschwindigkeitsbeschränkun-
gen in den oben genannten Abschnitten wieder aufgeho-
ben werden können.
Eine Zusatzfrage? –
Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr
Staatssekretär, wie wird sich denn die Finanzierung des
Unterhalts des Autobahnnetzes in Baden-Württemberg
entwickeln? 1998 hatten wir Ist-Ausgaben von 90 Mil-
lionen DM; in diesem Jahr ist vom Bund eine Zuwei-
sung in Höhe von 79 Millionen DM vorgesehen. Wie
wird die Zuweisung für das Land Baden-Württemberg
für den Unterhalt von Autobahnen aussehen, wenn die
von Ihrem Haus beim Bundesfinanzminister angemel-
deten Ansätze für die künftigen Haushalte realisiert
werden sollten?
L
Herr
Kollege Weiß, eine exakte Antwort werde ich Ihnen ge-
ben können, wenn das Bundeskabinett am 30. Juni oder
möglicherweise auch ein paar Tage zuvor seine Ent-
scheidung über den Haushaltsentwurf für das Jahr 2000
getroffen haben wird. Aus der dann vom Parlament zu
treffenden Entscheidung über den Bundeshaushalt 2000
leiten sich die Länderquoten ab, über die wir eben ge-
sprochen haben. Daraus lassen sich dann auch die An-
sätze ableiten, die für Erhaltung oder für Neubau oder
für Baumaßnahmen insgesamt vorgesehen sind. Ihre
Frage ist also am heutigen Tage nicht exakt zu beant-
worten, weil der Haushaltsentwurf 2000 noch nicht vor-
liegt.
Eine weitere Zusatz-
frage, bitte sehr.
HerrStaatssekretär, da Sie auf die Verantwortung des Landesbei der Setzung von Prioritäten hingewiesen haben,möchte ich wissen, ob bei einer Zuweisung des Bundesin Höhe von 79 Millionen DM abzüglich einer zu er-Heinz Wiese
Metadaten/Kopzeile:
3670 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999
(C)
wartenden Kürzung – für die von Ihnen angesprocheneMaßnahme werden allein schon 20 Millionen DM benö-tigt – aus Ihrer Sicht überhaupt in absehbarer Zeit damitgerechnet werden kann, daß ein solcher Streckenab-schnitt tatsächlich saniert werden kann?L
Herr
Kollege, ich wiederhole, daß die Einteilung der Dring-
lichkeit vor allen Dingen in der Verantwortlichkeit des
Landes Baden-Württemberg liegt. Angesichts der Situa-
tion, die Sie und Ihr Kollege eben geschildert haben, ha-
be ich den Eindruck gewonnen, daß das Land Baden-
Württemberg hier eine vordringliche Maßnahme sieht.
Aber die Einteilung der Dringlichkeiten wird vor Ort
entschieden. Dies ist im Sinne der Verteilung der Ver-
antwortlichkeiten dort nach unserer Auffassung auch am
besten aufgehoben. Sie wissen, die Länder planen nach
Art. 90 des Grundgesetzes zwar im Auftrag des Bundes,
aber in eigener Zuständigkeit, und sie verwalten auch in
eigener Zuständigkeit die ihnen zugewiesenen Mittel.
Wir werden nicht von hier aus in die Rechte des Landes
Baden-Württemberg unmittelbar eingreifen können.
Nun rufe ich die
Frage 49 des Kollegen Volker Kauder auf:
Wann rechnet die Bundesregierung mit dem Baubeginn derfür die Entlastung der Bevölkerung äußerst drängenden Ortsum-gehung „Kreuzstraßentunnel“ in Tuttlingen im Zuge der B 311?
Herr Staatssekretär Ibrügger!
L
Herr
Kollege Kauder, für das Projekt „Verlegung in Tuttlingen
“ im Zuge der Bundesstraße 311
liegt ein rechtskräftiger Planfeststellungsbeschluß vor.
Die Maßnahme ist jedoch im laufenden Fünfjahresplan
bis 2000 nicht enthalten. Auf Grund der angespannten
Haushaltslage ist derzeit ein Baubeginn nicht absehbar.
Zusatzfrage, Herr
Kollege? – Bitte sehr.
Herr Staatssekretär,
können Sie eine Aussage darüber machen, ob sich die
Bundesregierung mit dem Gedanken trägt, dieses Projekt
in den nächsten Finanzierungsplan hineinzunehmen?
L
Herr
Kollege, es ist gemeinsames Ziel von Bund und Land,
die Bundesstraße 311 leistungsfähig auszubauen und die
betroffenen Gemeinden weitestgehend mit Ortsumge-
hungen zu versehen. Das umfaßt viel mehr als nur die
Maßnahme in Tuttlingen. Dabei reden wir über ein Pro-
jekt von 2 km Länge, dessen Kosten sich auf 61 Millio-
nen DM belaufen. Angesichts dieser Größenordnung
kann ich Ihnen heute nicht mit Bestimmtheit sagen, ob
die Maßnahme in das Investitionsprogramm bis 2002
aufgenommen werden kann. Dem muß noch ein sehr
intensiver Dialog über die Frage der Prioritäten hin-
sichtlich der Baumaßnahmen, die dort insgesamt durch-
geführt werden, auch mit dem Land Baden-Württemberg
vorangehen.
Alles Weitere wird auch davon abhängen, inwieweit
der Haushaltsentwurf 2000 und die Finanzplanung bis
zum Jahre 2003, die noch vorgelegt werden muß, Mittel
für dieses Projekt vorsehen. Ob dies so sein wird, kann
ich zum heutigen Zeitpunkt nicht eindeutig beantworten.
Eine zweite Zusatz-
frage, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, bis
wann wird die Bundesregierung den Investitionsplan für
das Jahr 2000 und die Zeit danach vorlegen?
L
Die
Absicht ist, mit dem Kabinettsbeschluß Ende Juni dem
Parlament und dem Bundesrat den Entwurf des Haus-
haltsplans 2000 mit der Finanzplanung für die darauf-
folgenden Jahre zuzuleiten. Dies sind für das Bundesmi-
nisterium die entscheidenden Grundlagen, um das Inve-
stitionsprogramm vorzulegen. Weil etwa 2000 Projekte
betroffen sind, die in die Betrachtung einbezogen wer-
den müssen, rechnen wir jetzt damit, daß wir dem Par-
lament zum Herbst dieses Jahres das Investitionspro-
gramm vorlegen können.
Ich rufe die Frage 50
des Kollegen Volker Kauder auf:
Welche konkreten Maßnahmen will das Bundesministeriumfür Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ergreifen, damit derPlanfeststellungsbeschluß, der für den „Kreuzstraßentunnel“ imnächsten Jahr ausläuft, aufrechterhalten bleibt?
Herr Staatssekretär, bitte.
L
Herr
Kollege Kauder, es wird derzeit von der zuständigen
Auftragsverwaltung des Landes geprüft, ob durch die
rechtzeitige Realisierung einer Vorabmaßnahme die
Rechtskraft des ergangenen Planfeststellungsbeschlusses
sichergestellt werden kann. Diese Prüfung steht gegen-
wärtig noch an. Das Ergebnis durch das Land Baden-
Württemberg kann ich Ihnen heute nicht mitteilen. Wir
sind hierbei auf die Angaben des Landes angewiesen.
Wir kommen zurFrage 51 des Kollegen Manfred Grund:Wie erklärt die Bundesregierung, daß in den alten Bundes-ländern Verkehrsprojekte bis zur Baureife gebracht werdenkonnten, obwohl die Finanzierung von bis zu 4 Mrd. DM nichtgesichert werden konnte, zumal in den regelmäßig stattfinden-den Bund-Länder-Beratungen seit langem bekannt ist, daß derjährliche Verkehrsetat des Bundes zu gering bemessen ist?Herr Staatssekretär Ibrügger, bitte.Peter Weiß
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L
Herr
Kollege Grund, hinsichtlich der Maßnahmen des vor-
dringlichen Bedarfs im Bedarfsplan für die Bundesfern-
straßen besteht ein uneingeschränkter Planungsauftrag.
Gleichzeitig wird im Lichte der Finanzierungsmöglich-
keiten und des Zeitbedarfs bis zur Erlangung der Bau-
reife geprüft, zu welchem Zeitpunkt die jeweiligen Ver-
fahrensschritte im Planungsvollzug eingeleitet werden.
Unabhängig davon können jedoch die Länder im
Rahmen der Auftragsverwaltung nach vollzogener Pla-
nungsabstimmung mit dem Bund die Zeitabläufe der
Plandurchsetzung in eigener Verantwortung bis zur Bau-
reife bestimmen. Dabei sind gleichzeitig mit dem Ver-
kehrswegeplanungsvereinfachungsgesetz seit 1993 auch
für die alten Bundesländer die Planungszeiten erheblich
verkürzt worden.
Hinzu kommt, daß die mit der Bedarfsplanfortschrei-
bung 1991/1992 ausgerichteten Planungsziele von einem
damals um fast 2 Milliarden DM pro Jahr höheren
Finanzierungsansatz für den Bundesfernstraßenhaushalt
ausgingen und zwangsläufig entsprechende Planungs-
aktivitäten auslösten. Um den Aufbau Ost nicht zu be-
einträchtigen, erfolgten in der Vergangenheit Verände-
rungen der Finanzierungsansätze überwiegend zu Lasten
der alten Länder mit der Folge zunehmender Finanzie-
rungsschwierigkeiten.
Wir kommen zur
Frage 52 des Kollegen Manfred Grund:
Welche Anstrengungen unternimmt die Bundesregierung,um den Straßenbauhaushalt bedarfsgerecht auszustatten, d. h.,statt zu kürzen, die Investitionen zu erhöhen?
Herr Staatssekretär Ibrügger, bitte.
L
Herr
Kollege Grund, vor dem Hintergrund der äußerst
schwierigen und angespannten Haushaltssituation muß
auch der Bundesfernstraßenhaushalt einen Beitrag zur
Konsolidierung des Bundeshaushalts leisten. Der Bund
trägt dennoch im Bundesfernstraßenhaushalt 1999 mit
rund 10,2 Milliarden DM dem Finanzierungsbedarf für
die Bundesfernstraßen auf hohem Niveau Rechnung.
Darüber hinaus wird derzeit durch private Vorfinan-
zierung das Investitionsniveau verbessert und damit
vorgezogener volkswirtschaftlicher Nutzen erzielt.
Gleichzeitig sind mit dem Fernstraßenbauprivatfinanzie-
rungsgesetz die Voraussetzungen für eine privatwirt-
schaftliche Finanzierung ausgewählter Projekte gegeben.
Auch tragen Kostensenkungen durch Rationalisierun-
gen und Privatisierungen in spürbarer Weise zur Entla-
stung des Bundesfernstraßenhaushaltes und damit zur
verstärkten Investitionsumsetzung bei.
Eine Zusatzfrage,
Herr Kollege Grund, bitte.
Herr Staatssekretär,
können Sie ausschließen, daß es durch die Einsparungen,
die das Verkehrsministerium im Jahre 2000 und in den
folgenden Jahren wahrscheinlich zu erbringen hat, zu
Verzögerungen bei Investitionen kommt oder daß Inve-
stitionen, die schon Baureife besitzen, nicht stattfinden?
L
Herr
Kollege, das kann die Bundesregierung überhaupt nicht
ausschließen, weil zunächst einmal das Parlament Herr
des Verfahrens ist. Die Bundesregierung wird hinsicht-
lich der auszugebenden Mittel jedes Jahr aufs neue er-
mächtigt. Alle Ausgaben des Bundeshaushaltes stehen
unter dem Vorbehalt des Gesetzes. Dies galt auch schon
für die alte Bundesregierung. Ich hatte in meiner Ant-
wort schon darauf hingewiesen: In den Jahren 1991/92
ging das Parlament von viel höheren Finanzierungsan-
sätzen aus, als sie im Verlaufe der Jahre 1993 und fol-
gende tatsächlich vollzogen worden sind.
Hinzu kamen erhebliche Projektkostensteigerungen
bei einzelnen Projekten, die – zusammen mit den Aus-
wirkungen der Haushaltskonsolidierung, die auch von
der früheren Bundesregierung betrieben worden ist –
insgesamt dazu geführt haben, daß zur Umsetzung der
im Bundesverkehrswegeplan vorgesehenen Projekte
nach dem gegenwärtigen Stand etwa 80 bis 90 Milliar-
den DM fehlen. Deswegen kann ich Verzögerungen
nicht ausschließen, sondern nur darauf hinweisen, daß
wir bei jedem Projekt im einzelnen prüfen müssen, ob
und in welcher Weise die Finanzierung sichergestellt
werden kann.
Wir sind vor allem darum bemüht, zur Entlastung der
Bevölkerung in von Verkehrslärm betroffenen Regionen
weiterzukommen, insbesondere bei den Ortsdurchfahr-
ten. Dort liegt eine ganze Reihe von baureifen Maßnah-
men vor. Baden-Württemberg hat allein eine Fülle von
Maßnahmen, die rechtlich unanfechtbar und baureif
sind. Uns bereitet erhebliche Sorge, daß wir den Erwar-
tungen, die in den vergangenen Jahren geweckt worden
sind, mit dem Haushalt nicht gerecht werden können
und daß sich eine erhebliche Finanzierungslücke aufge-
tan hat, die uns beim Vollzug des Bundesausbauplanes
für die Bundesfernstraßen noch erhebliche Schwierig-
keiten bereiten wird.
Deshalb meine klare Aussage: Bei jedem Projekt sind
wir bemüht, es dem gesetzlichen Auftrag entsprechend
zu verwirklichen, aber immer nach Maßgabe der in den
einzelnen Ländern zur Verfügung stehenden Mittel.
Vielen Dank. Ich ru-
fe nun die Frage 53 des Kollegen Dr. Winfried Wolf auf.
Welche Absichten hat die Bundesregierung angesichts derHaushaltssituation für die Fortschreibung der Mittel nach demRegionalisierungsgesetz für den Schienenpersonennahverkehr,und gibt es Vorstellungen über die künftige Verteilung der Gel-der auf die Bundesländer?
L
HerrKollege Dr. Wolf, auf Wunsch der Länder wurde imRegionalisierungsgesetz festgelegt, den Mittelbedarf für
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die Aufrechterhaltung des Fahrplanangebots 1993/1994im Zeitraum 1998 bis 2001 zu überprüfen und entspre-chend anzupassen.Die Bundesregierung hat die Absicht, diesen gesetzli-chen Auftrag umzusetzen, und dies ist unabhängig vonder aktuellen Haushaltslage. Bei der anstehenden Ände-rung des Regionalisierungsgesetzes werden die Ergeb-nisse eines vom Bund im Einvernehmen mit den Län-dern vergebenen Gutachtens zu berücksichtigen sein.Danach sinkt der Finanzbedarf für das Fahrplanangebot1993/94 ab 1999, und die Verteilung zwischen den Län-dern ist zu korrigieren.
Zusatzfrage, Herr
Kollege Wolf. – Bitte sehr.
Entnehme ich Ihrer Ant-
wort, Herr Staatssekretär, daß Sie sich das Wibera-
Gutachten zu eigen machen und daß Sie damit von
einem in Zukunft geringeren Finanzbedarf ausgehen?
Daran anschließend frage ich Sie: Wie glauben Sie da-
mit das Ziel der Bundesregierung vereinbaren zu kön-
nen, mehr Verkehr auf die Schiene zu bekommen?
L
Herr
Kollege Dr. Wolf, die Bundesregierung handelt nach der
mit der Bahnreform einvernehmlich vollzogenen Ent-
scheidung, nämlich sich darauf zu verständigen, nach
einer gewissen Überprüfungsphase die Wirkung des Re-
gionalisierungsgesetzes zu kontrollieren. Das beruht
alles auf einem einvernehmlich von Bundesrat und Bun-
destag verabschiedeten Programm, und die Bundesregie-
rung handelt danach.
Die Zahlen des Wibera-Gutachtens werden im
Grundsatz von den Beteiligten auch nicht bestritten. Es
kommt nun darauf an, welche gesetzlichen Folgerungen
daraus gezogen werden müssen. Hier haben wir ja auch
in den Beratungen des Verkehrsausschusses – Herr Dr.
Wolf, Sie sind daran beteiligt –, davon Kenntnis erhal-
ten, daß das Land Niedersachsen vom Bundesrat beauf-
tragt worden ist, einen Gesetzentwurf vorzulegen, in
dem diese Überprüfung der Regionalisierung dann ihren
Niederschlag findet.
Sie wollten noch
Ihre zweite Zusatzfrage stellen? – Einverstanden.
Zweite Zusatzfrage: Be-
absichtigt die Bundesregierung im Rahmen der Aktuali-
sierung dieses Regionalisierungsgesetzes, die Schlupflö-
cher, die in diesem Gesetz bestehen, wonach nicht im-
mer 100 Prozent der Regionalisierungsmittel für Schie-
nenverkehr aufgewandt werden müssen, sondern auch
für andere Verkehre aufgewandt werden könnten, so zu
schließen, daß nach dieser Änderung wirklich 100 Pro-
zent der Mittel für schienengebundenen Verkehr einge-
setzt werden müssen?
L
Herr
Kollege Dr. Wolf, zum heutigen Zeitpunkt kann ich Ih-
nen darauf nur antworten, daß Bund und Länder ge-
meinsam die Verhandlungen über diesen Gesetzentwurf
vorbereiten. Sicherlich gehören auch Ihre Feststellungen
in den Katalog der Punkte, die darin dann ihren Nieder-
schlag finden müssen.
Wann aber mit dem Abschluß dieser Verhandlungen
zu rechnen ist – damit greife ich die Frage 54, Frau Prä-
sidentin, schon auf –, kann ich zum gegenwärtigen Zeit-
punkt noch nicht beantworten. Ich wiederhole: Im Bun-
desrat hat man sich darauf verständigt, daß das Land
Niedersachsen federführend für alle beteiligten Bundes-
länder einen entsprechenden Gesetzentwurf in den Deut-
schen Bundestag einbringt.
Damit kommen wir
zu der schon erwähnten Frage 54 des Abgeordneten Dr.
Winfried Wolf:
Wann ist nach Auffassung der Bundesregierung mit dem Ab-schluß der Verhandlungen zwischen Bund und Ländern über dasRegionalisierungsgesetz zu rechnen?
Ich denke, daß Sie, Herr Wolf, gleich Ihre Zusatzfra-
ge stellen sollten. Denn Ihre eigentliche Frage ist ja
schon beantwortet worden. – Bitte sehr, Herr Kollege.
Meine Zusatzfrage dazu
lautet: Teilen Sie die Befürchtungen der GdED und der
Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer und Anwär-
ter, wonach durch die Unsicherheit, wann eine Neube-
stimmung der Regionalisierungsgelder erfolgen wird,
weiterhin Schienenwege abgebaut werden, und sehen
Sie eine Möglichkeit, diese Unsicherheit schnell zu be-
enden?
L
DerVorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn AG hat in dervorletzten Sitzung des Verkehrsausschusses des Deut-schen Bundestages gesagt, daß die Deutsche Bahn AGkeine Gleise mehr abbaut. Selbst wenn der Betrieb aufbestimmten Strecken eingestellt wird, werden die Gleisenicht abgebaut werden.Dies ist eine veränderte Haltung, die die Bundesregie-rung sehr begrüßt. Denn wir setzen als Rückgrat der Be-dienung auch im ländlichen Bereich auf das Schienen-netz. Nur, die Bedienung auf diesem Netz obliegt natür-lich den betroffenen Regionen, die Nahverkehrsleistun-gen bei der Deutschen Bahn AG oder deren Wettbewer-bern einkaufen.Insofern habe ich keine Befürchtung, was die Höheder für die Regionalisierung bereitgestellten Gelder an-geht. Dies ist im Rahmen der Bahnreform eindeutig ver-abredet und festgelegt worden. Für alle Beteiligten be-steht dementsprechend Planungssicherheit.Es kommt vor allem darauf an, den Schienenverkehrdurch attraktivere Angebote und durch eine stärkereVerknüpfung des öffentlichen Personennahverkehrs mitParl. Staatssekretär Lothar Ibrügger
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999 3673
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den Angeboten auf der Schiene zu beleben. Für den Fall,daß dies – auch beim Einkauf dieser Leistungen durchdie jeweilige Region – realisiert wird, ist mir nicht ban-ge darum, daß die Zahlen der Zusteiger bzw. der Perso-nen, die mit der Bahn fahren, zunehmen werden.
Eine weitere Zusatz-
frage, Herr Kollege? – Bitte sehr.
Im Grunde wiederhole ich
meine Frage. Ich möchte vorwegschicken, daß Sie in
Ihrer Antwort gesagt haben, daß zwar keine Gleise mehr
herausgerissen bzw. abgebaut werden, aber Verkehre
faktisch weiter eingestellt werden. Meine Frage von
vorhin lautete: Glauben Sie denn nicht, daß durch Ihre
vorletzte Antwort, daß Sie keinen Zeitpunkt nennen
können, wann die Regionalisierungsgelder neu bestimmt
werden, neue Unsicherheit entsteht und dadurch die Ge-
fahr besteht, daß, obwohl keine Gleise mehr abgebaut
werden, weitere Verkehre eingestellt werden, wie es
beim letzten Fahrplanwechsel erneut flächendeckend,
vor allem in den neuen Bundesländern, passiert ist?
L
Herr
Dr. Wolf, diesen Zusammenhang sehe ich nicht. Denn in
der Bahnreform sind die Finanzierungsmittel für die Re-
gionalisierung für einen langen Zeitraum eindeutig fest-
gelegt worden. Sie werden weiter steigen.
Es geht um die Verteilung der Mittel auf die einzel-
nen Bundesländer. Die Ergebnisse des Wibera-
Gutachtens zwingen dazu, daß sich das Parlament und
auch der Bundesrat in Form eines Gesetzentwurfes über
eine gerechtere Verteilung der Mittel, einigen, die – das
wiederhole ich – weder gekürzt noch geschmälert wer-
den, sondern steigen.
Herr Dr. Wolf, Sie wissen, daß die Bedienungskon-
zepte nicht unmittelbar von der Bundesregierung beein-
flußt werden können. Durch die Bahnreform haben wir
diese Verantwortung aus gutem Grund auf die Länder
und die Regionen übertragen. Denn dort kann am besten
entschieden werden, wie das gesamte regionale Ver-
kehrsnetz organisiert wird.
Nun machen wir mit
diesem Thema Pause, weil ich nun die Frage 55 der Ab-
geordneten Christine Ostrowski aufrufe:
Wann wird die Bundesregierung den Gesetzentwurf zurNovellierung des Wohngeldgesetzes, den der ParlamentarischeStaatssekretär beim Bundesministerium für Verkehr, Bau- undWohnungswesen, Achim Großmann, in der Debatte des Deut-schen Bundestages am 19. Januar des Jahres noch vor der Som-merpause zugesagt hat, dem Deutschen Bundestag vorlegen?
Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staats-
sekretär Großmann zur Verfügung. – Bitte sehr.
A
Frau Ostrowski, wenn Sie damit einverstanden sind,
würde ich gerne Ihre beiden Fragen im Zusammenhang
beantworten.
Dann rufe ich auch
die Frage 56 der Abgeordneten Christine Ostrowski auf:
Wie soll nach den Vorstellungen der Bundesregierung deranerkannte Finanzbedarf von 1,5 Mrd. DM finanziert werden?
A
Über Umfang und Zeitpunkt einer Wohngeldnovelle
wird die Bundesregierung im Zusammenhang mit dem
Entwurf des Haushaltsplanes 2000 entscheiden.
Eine Zusatzfrage,
Frau Kollegin. – Wir dachten, jetzt käme es. Nun ist es
aber nicht gekommen. Bitte sehr, Sie haben eine Zusatz-
frage, Frau Kollegin.
Sie sagen es, Frau Prä-
sidentin.
Ich hatte fast vermutet, daß Herr Staatssekretär diese
diplomatische Antwort geben würde.
Ich muß jetzt aber nachfragen; denn man darf ja
nicht vergessen: Es war ein Wahlversprechen – und im
folgenden ein Versprechen von Herrn Bundesminister
und auch von Ihnen, mehrmals öffentlich gemacht –,
daß noch vor der Sommerpause der Gesetzentwurf
vorgelegt wird. Also frage ich jetzt schlicht und ergrei-
fend nach: Wann ist denn damit zu rechnen? Können
wir damit im August oder September – oder wann
sonst – rechnen?
– Richtig, das Jahr muß man dazunennen.
A
Frau Kollegin Ostrowski, Sie haben vielleicht mitver-
folgt, daß die Koalitionsfraktionen die Entscheidung
gefällt haben, den Gesetzentwurf einzubringen. Auf
Wunsch des Herrn Finanzministers Eichel wird im Zu-
sammenhang mit der Aufstellung des Haushaltsplanes
2000 über die Eckwerte gesprochen. Dann werden wir
als Ministerium in der Lage sein, diesen Gesetzentwurf
vorzulegen.
Eine weitere Zusatz-
frage.
Herr Großmann, ichfrage Sie jetzt einmal ganz persönlich als Mitglied dieserRegierung: Wie ist Ihnen denn ums Herz, wenn Sie mirParl. Staatssekretär Lothar Ibrügger
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3674 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 44. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1999
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und somit auch der Öffentlichkeit eine solche Antwortgeben?
A
Ich
glaube, daß ich hier Fragen für die Bundesregierung be-
antworte und nicht zu meinem persönlichen Wohlsein
oder Nichtwohlsein. Ich darf Sie aber beruhigen: Ich
halte es für ein ganz legitimes Verfahren, daß der
Finanzminister im Rahmen einer äußerst schwierigen
Haushaltssituation – schließlich müssen wir mit einer
horrenden Staatsverschuldung fertig werden – die Bitte
äußert, Gesetzesvorhaben mit einem Haushaltsplan als
Gesamtpaket zu beraten. Ich weiß nicht, was daran so
komisch ist.
Eine weitere Zusatz-
frage.
Eine Frage ist noch
unbeantwortet. Da die Eckwerte in Bälde in den Bun-
destag eingebracht werden sollen – ob am 23. oder
30. Juni, sei dahingestellt –, dürfte man doch davon aus-
gehen – wir haben darüber bereits heute vormittag im
Ausschuß gesprochen –, daß die Vorstellungen zur Fi-
nanzierung in einem fortgeschritteneren Stadium sind.
Ich möchte Sie also bitten, die Frage zu beantworten:
Welche Vorstellungen existieren zur Finanzierung des
Bedarfs von 1,5 Milliarden DM?
A
Auch über die Vorstellungen zur Gegenfinanzierung
wird derzeit zwischen den Ressorts beraten. Sie haben
sicherlich Verständnis dafür, daß es keinen Sinn macht,
über Zwischenstände der Beratungen Auskunft zu ge-
ben. Ich bitte Sie also auch in dieser Frage um ein wenig
Geduld. Wir sind ja bald mit diesen Beratungen am
Ende und werden dann in der Lage sein, Ihre Fragen
umfassend zu beantworten.
Nun kommt Ihre
letzte Zusatzfrage.
Sie hatten sich öffent-
lich für die Senkung der Einkommensgrenzen bei der
Eigenheimzulage ausgesprochen, um die dadurch frei
werdenden Mittel zu einem Teil für die Finanzierung
des Wohngelds zu verwenden. Ich frage Sie jetzt: Wie-
viel Mittel werden nach Schätzungen der Bundesregie-
rung durch die Senkung der Einkommensgrenzen frei?
Sie können das für das erste bis hin zum achten Jahr be-
antworten. Ich hätte gerne eine möglichst genaue Sum-
me genannt bekommen.
A
Auch hier haben Sie mich falsch zitiert, Frau Ostrowski.
Ich habe darüber referiert, daß in einer Arbeitsgruppe
der Koalitionsfraktionen Gegenvorschläge zur Finanzie-
rung gemacht worden sind. Diese Gegenvorschläge hat
sich die Bundesregierung nicht zu eigen gemacht; aber
sie sind ebenfalls Gegenstand der derzeitigen Beratun-
gen. Insofern kann ich Ihre Frage nach präzisen Zahlen
und Daten nicht beantworten. Ich war allerdings heute
morgen im Ausschuß in der Lage, auf die von Ihnen ge-
nannten Zahlen einzugehen. Die Zahlen, die Sie heute
im Ausschuß genannt haben – Sie haben als Quelle den
Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages
genannt –, konnte ich dort nicht bestätigen.
Eine Zusatzfrage des
Kollegen Koppelin. Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, wie
hätten Sie früher in der Opposition reagiert, wenn Sie
solche Antworten der Bundesregierung bekommen hät-
ten, wie wir sie heute bekommen?
A
Ich
hätte wahrscheinlich, Herr Koppelin, ähnliche Nachfra-
gen gestellt wie Sie und hätte dann von der amtierenden
Bundesregierung ähnliche Antworten bekommen, wie
ich sie Ihnen jetzt gegeben habe.
Wir danken Herrn
Staatssekretär Achim Großmann für die Beantwortung
dieser Fragen.
Nun rufe ich die Frage 57 des Abgeordneten Norbert
Otto auf:
Zu welchem Zeitpunkt wird die Bundesregierung die Ergeb-nisse der derzeit laufenden Prüfungen der als „VordringlicherBedarf“ im Bedarfsplan für die Bundesschienenwege eingestuften Neubauprojekte,insbesondere des Verkehrsprojekts Deutsche Einheit (VDE)Nr. 8, bekanntgeben, und wird durch die bis jetzt schon einge-tretene Verzögerung die bisherige Zielstellung der Inbetrieb-nahme der Neubaustrecke Erfurt – Ebensfeld bis zum Jahr2004/2005 mit der neuen ICE-Strecke Berlin – Halle/Leipzig –Erfurt – Nürnberg – München (VDE Nr. 8) gefährdet?
Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatsse-
kretär Scheffler zur Verfügung. Bitte sehr, Herr Staats-
sekretär.
S
Lieber Kollege Norbert Otto, wenn wir vom Verkehrs-projekt Deutsche Einheit Nr. 8 sprechen, dann müssenwir natürlich detaillieren: Es gibt die Teilprojekte VDE8.1 – Ausbau – Neubaustrecke Nürnberg – Erfurt –,VDE 8.2 – Neubau – Ausbaustrecke Erfurt – Leip-zig/Halle – und VDE 8.3 – Ausbaustrecke Halle/Leip-zig – Berlin –, wobei, wie bekannt, letztgenanntes VDE8.3 weitestgehend fertiggestellt ist. Ihnen ist aus denAusschußsitzungen bekannt, insbesondere aus den Aus-führungen vor 14 Tagen, daß die erwähnte Überprüfungsich daher nur auf die Teilprojekte 8.1 und 8.2 bezieht,Christine Ostrowski
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deren Realisierung sich im Anfangsstadium befindet.Entgegen der noch vor zirka drei Wochen genanntenErwartung – auch in der Beantwortung der Briefe ausdem Thüringer Raum, Briefe von Oberbürgermeistern,auch von Ihnen persönlich – müssen wir die Entschei-dung, die wir uns an sich für Ende Mai vorgenommenhatten, noch einige Wochen vertagen.Es ist heute mehrfach angesprochen worden, daß dasKabinett den Haushalt am 30. Juni beraten wird. Aberwenn das Kabinett einen Haushalt berät und entscheidet,hat noch lange nicht der Gesetzgeber hier entschieden.Doch wird auch die Kabinettsentscheidung Grundlageunserer Überprüfung sein. Sie haben natürlich Verständ-nis, daß hier dann letztendlich unter den Gesichtspunk-ten der Einsparung teilweise eine Neubewertung erfol-gen muß und deshalb mögliche Realisierungstermineheute hier nicht genannt werden können. Eine Entschei-dung fällt nach dem 30. Juni.
Die erste Zusatz-
frage, Herr Kollege, bitte.
Herr Staats-
sekretär, als Bundeskanzler Schröder Ende April dieses
Jahres zu einer gemeinsamen Kabinettssitzung in Erfurt
war, hat er vor laufender Kamera gesagt: Ende Mai ist
die Sache entschieden, Ende Mai wißt ihr Thüringer,
was mit der Strecke 8.1, also Nürnberg – Erfurt, läuft.
Das war ein Wort des Kanzlers. Darauf haben wir ge-
baut. Wie erklären Sie sich, daß der Kanzler dort eine
Aussage gemacht hat, die heute wieder völlig offen im
Raum steht? Wußte der Kanzler über die Finanzsituation
des Bundes nicht Bescheid, und hat er dort leichtfertig
eine Aussage gemacht?
S
Weder der Kanzler noch der Bundesminister für Ver-
kehr, Bau- und Wohnungswesen hat hier leichtfertig
eine Aussage gemacht. Aber, Herr Kollege Otto, liebe
Kolleginnen und Kollegen, es ist ja bekannt, daß die
Entwicklung der Verschuldung mehr als dramatisch ist.
Die hohe Verschuldung führt letztendlich – die Zinsen
machen fast 23 Prozent der Mittel des Bundeshaushalts
aus – dazu, daß fast jede vierte Mark für die Bedienung
der Zinsen ausgegeben werden muß. Die Möglichkeit
zur Kompensation durch den Verkauf von Tafelsilber,
die der Finanzminister der alten Bundesregierung noch
hatte, besteht nicht mehr. Das zeigt die Überprüfung, ob
denn Möglichkeiten bestehen, statt durch Einsparung,
durch Kompensation zu erreichen, daß wir gerade, was
die neuen Bundesländer betrifft, bei den Verkehrspro-
jekten Deutsche Einheit von Einsparungen verschont
bleiben. Insofern hat die Bundesregierung – das muß ich
zugeben – einen Zeitraum genannt, der nicht einzuhalten
war. Die Situation war und ist viel dramatischer, so daß
erst die Einsparungsrunde, die Abstimmung mit dem
Finanzminister und dann letztendlich die Entscheidung
im Kabinett abgewartet werden müssen. Denn die Bun-
desregierung hat zu entscheiden, ob es sinnvoller ist,
Projekte zu beginnen, Neubauvorhaben oder das Be-
standsnetz voranzutreiben, oder ob die in der Entschei-
dung, gerade was die Projekte 8.1 und 8.2 betrifft, ge-
nannten bzw. bekannten Alternativen – ich brauche sie
hier jetzt nicht vorzutragen –, nämlich Ausbau und Stär-
kung, eventuell sinnvoller sind. Diese Überprüfung un-
ter dem Finanzierungsvorbehalt – damit wir nach der
Sommerpause nicht noch einmal anders entscheiden
müssen – macht die Sache so schwierig.
Eine weitere Zusatz-
frage, Herr Kollege, bitte.
Ich stelle also
fest: Der Kanzler wußte im April nicht über die Finanz-
lage der Bundesrepublik Deutschland Bescheid.
Ich komme zu meiner Zusatzfrage: Der Europäische
Rat hat in Köln für die Transeuropäischen Netze zusätz-
lich 4,6 Milliarden DM bewilligt. Das Projekt 8.1 ist ein
Element der Transeuropäischen Netze, kann also von
heute auf morgen gebaut werden. Wie partizipiert dieses
Projekt an der Bereitstellung dieser Mittel, und wie be-
urteilt die Bundesregierung vor dem Hintergrund des
Willens des Europäischen Rates, die Transeuropäischen
Netze auszubauen, die Verschleppung durch die nun
schon lang andauernde Überprüfung?
S
Der Bundesregierung ist natürlich bekannt, daß dieses
Projekt Bestandteil der Transeuropäischen Netze ist.
Weder der Bundeskanzler noch der Bundesminister für
Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, noch ich selbst
bzw. die Koalitionsparteien haben zum Ausdruck ge-
bracht, daß die Transeuropäischen Netze auf Dauer oder
in einem bestimmten Zeitraum in Frage gestellt werden.
Ich danke Herrn
Staatssekretär Scheffler für die Beantwortung der Fra-
gen.
Wir sind am Ende unserer Fragestunde und damit
auch am Ende unserer Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages ein auf morgen, Donnerstag, den 17. Juni 1999,
9 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen.