Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Ta-
gesordnung um die erste Beratung des Entlassungsent-
schädigungs-Änderungsgesetzes auf Drucksache 14/394,
das zusammen mit dem Einzelplan Arbeit und Soziales
gelesen werden soll, sowie um die Beratung der Be-
schlußempfehlung zum Kosovo-Antrag der Bundesre-
gierung zu erweitern.
Von der Frist für den Beginn der Beratung der Be-
schlußempfehlung soll abgewichen werden. Sind Sie
damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist es so beschlossen.
Sodann müssen in das Kuratorium der Stiftung „Ar-
chiv der Parteien und Massenorganisationen der
DDR“ nachträglich noch zwei stellvertretende Mitglie-
der der CDU/CSU-Fraktion entsandt werden. Die Frak-
tion der CDU/CSU schlägt als jeweils stellvertretendes
Mitglied Herrn Professor Dr. Peter Maser und Herrn
Professor Dr. Manfred Wilke vor. Ich gehe davon aus,
daß Sie mit diesen Benennungen einverstanden sind? –
Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Die Fraktion der CDU/CSU hat fristgerecht bean-
tragt, die heutige Tagesordnung um die Beratung ihres
Antrages zur Agenda 2000 auf Drucksache 14/396 zu
erweitern. Wird zu diesem Geschäftsordnungsantrag
das Wort gewünscht? – Herr Kollege Repnik, Sie haben
das Wort.
Herr Präsident!Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Morgen findet un-ter deutscher Präsidentschaft ein Treffen der EU-Staats-und Regierungschefs in Bonn statt, um Entscheidungenüber die Agenda 2000 vorzubereiten. Diese Entschei-dungen, die morgen hier zur Debatte stehen, betreffenProbleme aus dem Bereich der Agrarpolitik, das zu-künftige Schicksal der Strukturfonds, den Finanzrahmender Europäischen Union in den Jahren 2000 bis 2006und die Erweiterung der Europäischen Union. Es gehtalso um nicht mehr und nicht weniger als um die Zu-kunftsfähigkeit der Europäischen Union.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion beantragt deshalbdie Aufsetzung eines entsprechenden Tagesordnungs-punktes auf die Tagesordnung der heutigen Plenarsit-zung, nachdem sich die Fraktionen von SPD und Bünd-nis 90/Die Grünen geweigert haben, einem entsprechen-den Tagesordnungspunkt zuzustimmen. Wir beantragen,den Antrag der CDU/CSU-Fraktion „Agenda 2000 –Europa voranbringen, einen fairen Interessenaus-gleich sichern“ heute auf die Tagesordnung zu setzen.Im Rahmen der Beratungen der Verfassungsreformzu Beginn dieses Jahrzehnts standen die Fragen im Mit-telpunkt: Wie gehen Bundestag und Bundesrat, also bei-de gesetzgebenden Kammern, mit der Entwicklung derEuropäischen Union und mit der Politik in der Europäi-schen Union um? Wie können sie teilhaben an der Poli-tikgestaltung und an der Rechtsetzung? Dies hat einebedeutende Rolle bei der Verfassungsreform gespielt.Dies hat sich auch in einem neuen Artikel des Grundge-setzes, unserer Verfassung, und in einem zusätzlich er-arbeiteten Gesetz niedergeschlagen. Es handelt sich so-mit um eines der jüngsten Rechte, das sich der DeutscheBundestag selbst gegeben hat.Daß auch die andere Kammer, der Bundesrat, diesesRecht ernst nimmt, ersehen Sie daran, daß in der laufen-den Woche genau dieses Thema auf seiner Tagesord-nung steht, weil sich der Bundesrat selbstverständlichmit dem vorbereitenden Gipfel auf dem Petersberg, derjetzt stattfindet, und mit den Inhalten auseinandersetzenmöchte. Daß sich das Europäische Parlament ebenfallsnoch in dieser Woche mit der morgigen Sitzung in Bonnauseinandersetzt, können Sie der Tagesordnung diesesParlaments entnehmen.Im Grundgesetz, unserer Verfassung, sind in Art. 23Rechte und Pflichten festgelegt worden. Ich möchte aufbeides hinweisen – ich zitiere Art. 23 Abs. 3 –:Die Bundesregierung gibt dem Bundestag Gele-genheit zur Stellungnahme vor ihrer Mitwirkung anRechtsetzungsakten der Europäischen Union. DieBundesregierung berücksichtigt die Stellungnah-men des Bundestages bei den Verhandlungen. DasNähere regelt ein Gesetz.Auch auf dieses Gesetz habe ich bereits hingewiesen.
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Darüber hinaus gibt es konkrete Pflichten. In Art. 23Abs. 2 unseres Grundgesetzes steht:In Angelegenheiten der Europäischen Union wir-ken der Bundestag und durch den Bundesrat dieLänder mit. Die Bundesregierung hat den Bundes-tag und den Bundesrat umfassend und zum frü-hestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten.Wenn in dieser Woche auf dem Petersberg im Rah-men eines EU-Gipfels unter deutscher Präsidentschaftdie Agenda 2000 beraten wird, dann hat die Bundesre-gierung für ihre Verhandlungsposition eine Stellung-nahme des Bundestages einzuholen. Dies ergibt sich ausdem Sinn und aus dem Geist von Art. 23 unseresGrundgesetzes.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen auf seiten derRegierungskoalition, es ist unstreitig, daß die Berück-sichtigungspflicht der Bundesregierung bereits zu demZeitpunkt eintritt, zu dem sie sich ihre Meinung bildetund die Verhandlungspositionen festlegt. Da die Bun-desregierung darüber hinaus noch die Präsidentschafthat und damit einen ganz entscheidenden Einfluß auf dieInhalte dieser Verhandlungen nimmt, muß sie sich be-reits im Vorfeld um die Meinung des Parlamentes küm-mern.Im Schlußbericht der Gemeinsamen Verfassungs-kommission von Bundestag und Bundesrat ist zu genaudiesem Thema in bezug auf den Moment der Entschei-dungsfindung folgendes festgehalten:Die Bundesregierung hat folglich die Argumentedes Bundestages – wie die des Bundesrates – zurKenntnis zu nehmen, sich mit ihnen auseinanderzu-setzen und sie in ihre Entscheidungsfindung einzu-beziehen.Dies ist der Geist und der Sinn des Berichts der Gemein-samen Verfassungskommission, den Bundestag undBundesrat gemeinsam beschlossen haben.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen aufseiten der Regierungskoalition, ich möchte Sie sehrherzlich bitten: Machen Sie es bei diesem wichtigenPunkt, bei dem die Verfassung tangiert ist, nicht so wiein einigen anderen Fragen im Laufe dieser Woche, woSie aus Hybris, aus einer Arroganz der Macht herausgegen die politische Klugheit und gegen den Geist derVerfassung verstoßen haben!
Stimmen Sie unserem Antrag zu! Setzen Sie den Antragauf die Tagesordnung! Lassen Sie uns gemeinsam dar-über diskutieren, was morgen hier in Bonn unter deut-scher Präsidentschaft zum Thema Agenda 2000 disku-tiert und vorbereitet wird! Ich bitte Sie sehr herzlichdarum, diesem Antrag zuzustimmen.
Das Wort hat Wil-
helm Schmidt, SPD-Fraktion.
Herr Präsi-dent! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen undKollegen, ich finde, Herr Repnik, Sie plustern sich inletzter Zeit mit Geschäftsordnungsdebatten in einer sounglaublichen Weise auf, daß es schon unerträglich ist.
Sie verschanzen sich in dieser Woche übrigens zumzweitenmal – Sie haben das auch in der Ältestenratssit-zung getan – hinter Vorschriften des Grundgesetzes, diean dieser Stelle überhaupt nicht Platz greifen. Sie sindeigentlich nur auf Klamauk programmiert und versuchendas krampfhaft mit Grundgesetzbestimmungen zu un-termauern.
Daß das so ist, werden wir im Laufe des Tages in einemanderen Zusammenhang noch einmal besprechen. Ichsage Ihnen das sehr deutlich.Ich will die Debatte auf den eigentlichen Kernpunktzurückführen.
– Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zuhören würden.
Der Gipfel, der am Freitag stattfindet, ist ein Ver-handlungsgipfel, der nur dazu dient, Verhandlungsposi-tionen zu eruieren. Der eigentliche Gipfel findet EndeMärz und der Abschlußgipfel im Juni statt.
Erstens kriegen Sie ja im Europaausschuß laufend dieInformationen, und zweitens – das will ich sehr deutlichunterstreichen – sind Sie auch von uns immer auf demlaufenden gehalten worden.
Sie können nicht sagen, daß Sie über den Gang der Din-ge nicht informiert sind.Im übrigen könnte es sich störend auf den Erfolg die-ses Gipfels auswirken, wenn man die Verhandlungszie-le, um die auf dem Gipfel gerungen wird, in diesemHause öffentlich diskutiert. Lassen Sie dem Kanzler dieRuhe,
mit den Vertretern der anderen Nationen über Europa zudiskutieren. Danach bekommen Sie Ihre Informationen.Es kann doch wohl nicht wahr sein, daß Sie ständig denHans-Peter Repnik
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Versuch unternehmen, den Gang der politischen Dingehier im Hause zu blockieren und zu boykottieren. Wirwerden das jedenfalls nicht mitmachen.
Unabhängig davon, daß Sie es irgendwann einmallernen sollten, hier Mehrheitsverhältnisse zu respektie-ren und zu akzeptieren,
will ich Sie darauf hinweisen, daß wir in diesem Landedie Möglichkeit haben, die Regierung bei ihrer Arbeitmit dem entsprechenden Material auszustatten. Daswerden wir dann auch tun. Aber lassen Sie die Regie-rung doch überhaupt erst einmal klären, welche Ver-handlungspositionen es geben wird. Das wird sich mor-gen auf dem Gipfel abzeichnen, und Ende März werdenauch für Sie die Informationen dasein. Wir werden bisEnde Juni häufig genug hier im Hause über Europa dis-kutieren.Der Bundesrat, den Sie angeführt haben, diskutiertübrigens morgen nicht über den Gipfel,
sondern er bereitet die Debatte über den Gipfel EndeMärz vor.
Das werden wir auch in diesem Hause tun.Sie sind überhaupt nicht außen vor, sondern ausrei-chend informiert. Art. 23 des Grundgesetzes wird nichtim entferntesten verletzt. Deshalb werden wir IhremAntrag nicht zustimmen.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Jörg van Essen, F.D.P.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Es ist ja doch schon merkwürdig,
was wir von dem Kollegen Schmidt hier gehört haben.
Das Begehren des Parlaments, über eine der zentralen
Fragen der Politik zu debattieren, nämlich über die
Europapolitik, wird von ihm in die Nähe von Klamauk
gerückt. Ich finde das unerträglich.
Es ist auch nicht die Aufgabe des Parlaments, Herr
Kollege Schmidt, dem Bundeskanzler Ruhe zu geben,
sondern die Aufgabe des Parlaments ist es, dem Bun-
deskanzler Feuer unter einem bestimmten Körperteil zu
machen.
Deswegen stimmen wir dem Antrag der CDU/CSU-
Fraktion zu.
Ich denke, daß es gerade im Vorfeld dieses Gipfels
Sinn macht, über Europapolitik zu diskutieren. Ich den-
ke, daß es auch deshalb Sinn macht, über Europapolitik
zu diskutieren, weil wir ja sehr bald Europawahlen ha-
ben und die Bürger Anspruch darauf haben, zu erfahren,
welche unterschiedlichen Konzeptionen die verschiede-
nen Fraktionen haben.
Wir stimmen zwar dem Antrag zu. Aber ich möchte
doch deutlich machen, daß wir in vielen Fragen anderer
Auffassung als die CDU/CSU sind.
Wir möchten zum Beispiel in der Frage der Osterweite-
rung bei der bewährten Linie der früheren Bundesregie-
rung bleiben und sie gerne fortsetzen.
Damit wir das deutlich machen können, brauchen wir
eine Debatte.
Wer sich einmal den Zeitplan der heutigen Plenarsit-
zung anschaut, wird feststellen, daß wir bisher vorgese-
hen haben, bis 20 Uhr zu tagen. Wir haben in den ver-
gangenen Tagen die Beratungen bis weit in den späten
Abend hinein durchgeführt. Deshalb gibt es auch von
der zeitlichen Seite her überhaupt keinen Anlaß, den
Antrag der CDU/CSU-Fraktion abzulehnen. Wir werden
ihm deshalb zustimmen.
Vielen Dank.
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht nun Kristin Heyne.
HerrPräsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Ich habe zu lange die Oppositions-bänke in verschiedenen Gremien gedrückt – und übri-gens aus der Opposition heraus auch eine ganze MengeDinge durchgesetzt –, um die Rechte der Opposition undvor allem des Parlaments jetzt nicht ernst nehmen zuwollen.Aber was wir in diesem Haus in den vergangenenMonaten und ganz besonders in dieser Woche an völligunnötigen und unsinnigen Debatten erlebt haben – raufWilhelm Schmidt
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und runter und immer noch einmal –, das ist allmählichein Fall für den Rechnungshof. Schließlich üben wir hiergutbezahlte Tätigkeiten aus.
Ich gebe dem Kollegen Repnik darin recht, daß dieAgenda 2000 ein sehr wichtiges und zentrales Thema ist.
– Wir können uns gerne im einzelnen darüber unterhal-ten, wie gerade Ihre Fraktionen in dieser Woche hierDestruktionspolitik betreiben.
– Ich glaube, die Diskussion führen wir heute in Ruheim Ältestenrat. Dort ist sie besser aufgehoben.
– Um den Stil gewisser Herren in diesem Hause deutlichzu machen,
möchte ich den Zwischenruf eines Kollegen wiederho-len. Er sagte: „freches Luder“. – Vielen Dank, wir wis-sen nun, mit wem wir es zu tun haben.
Ich komme zurück zum Thema. Herr Kollege Repnik,ich stimme Ihrer Einschätzung zu, daß die Agenda 2000ein wichtiges und zentrales Thema ist. Wie Sie sicherwissen, ist seit dem ersten Kommissionsentwurf im Juli1997 in allen Gremien dieses Hauses dieses Thema viel-fältig diskutiert worden.
– Selbstverständlich auch im Plenum.In dieser Woche – ich halte dies für ein notwendigesparlamentarisches Vorgehen – ist der EU-Ausschuß in-tern in einem erweiterten Obleutegespräch noch einmalausführlich informiert worden.
Das ist die angemessene Informationspolitik unmittelbarvor diesem informellen Gipfel am Wochenende. Beidiesem Gipfel geht es nicht darum, Entscheidungen zufällen. Deswegen greift der Art. 23 des Grundgesetzesan dieser Stelle nicht.
Die Ausgangslage in diesen Verhandlungen ist kom-pliziert. Das wissen Sie ganz genau. Daher ist es nichtan der Zeit, den Holzhammer zu schwingen, wie gewis-se Herren aus Bayern das gerne tun würden,
und vor diesem Gipfel Verhandlungspositionen in dieWelt zu posaunen. Es geht vielmehr darum, offen in dieentsprechenden Gespräche zu gehen. Herr Kohl weißdas ganz genau; denn er hat viele solcher Gespräche ge-führt und hat in der Vergangenheit genauso gehandelt,was ja vernünftig war.Es geht Ihnen um etwas ganz anderes. Gerade Sie ha-ben viel zu lange verschwiegen, daß sich mit der Agen-da 2000 in der Agrarpolitik etwas ändern wird.
Sie haben die Bauern in dem Glauben gelassen, daß siedas, was in Brüssel beredet wird, nichts angehe. Siewußten aber ganz genau, daß das nicht richtig war.
Sie versuchen jetzt, durch markige Sprüche und Forde-rungen, Ihre Versäumnisse zu überdecken. Eine Forde-rung von 14 Milliarden DM Beitragsentlastung ist dochreine Kraftmeierei und hat mit realer Politik nichts mehrzu tun.
Ihre Politik, die wir in den letzten Wochen erlebt ha-ben, ist ein Ausdruck des Kurswechsels innerhalb derCDU/CSU. Ihre innenpolitischen Absichten haben ein-deutig Vorrang vor der europäischen Integration. MeineHerren und Damen von der CDU/CSU, fragen Sie sicheinmal, wieviel Porzellan Sie denn noch zerschlagenwollen. Wann ist Ihr ungebremster Populismus endlichbeendet?
Die Gespräche an diesem Wochenende sollen einenoffenen und vertrauensvollen Gedankenaustausch er-möglichen. Wir sollten sie nicht mit völlig überzogenenForderungen belasten. Das Ziel der EU-Osterweiterungist ein sehr hoch gestecktes Ziel. Gerade deswegenbraucht es Behutsamkeit in den Verhandlungen.Vielen Dank.
Kristin Heyne
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Für die PDS-
Fraktion erteile ich das Wort dem Kollegen Roland
Claus.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Es wird Sie vielleicht inzwischen überra-
schen, aber wir stimmen dem Antrag der CDU/CSU-
Fraktion diesmal nicht zu.
Man muß sich dazu in der Tat einiges in Erinnerung
rufen. Damit meine ich nicht die Erinnerung an die
letzten 16 Jahre, sondern nur die an diese Legislatur-
periode. Erinnern wir uns doch einmal: Die CDU/CSU-
Fraktion hat bisher kaum eigene Themen ins Parlament
gebracht. Sie hat vielmehr die anderen Oppositionsfrak-
tionen, die F.D.P.-Fraktion und die PDS-Fraktion, die
Kartoffeln aus dem Feuer holen lassen. Dann naht eine
Haushaltsdebatte, und die CDU/CSU-Fraktion stimmt
im Ältestenrat der interfraktionellen Vereinbarung zu,
hier keine weiteren Themen aufzusetzen. Dann aber sagt
sie sich: Da war doch noch was. Was kümmert mich
mein Geschwätz von gestern? So erleben wir heute die
Auferstehung ihres parlamentarischen Interesses in der
wildentschlossenen Form dieses Geschäftsordnungsan-
trages.
Dazu können wir Ihnen nur sagen: Denken Sie, wir
merken nichts?
Die Hessen-Wahl, meine Damen und Herren von der
CDU/CSU, hat Sie offenbar etwas zu heftig aus dem
parlamentarischen Dornröschenschlaf gerissen. Ich will
Ihnen dazu nur sagen: Es war offenbar nicht der Mär-
chenprinz, der Sie wachgeküßt hat, sondern ein Elch, der
Sie geknutscht hat.
Sie schwingen hier die große Keule des Grundgeset-
zes. Sie sagen, die Regierung solle erklären, was sie mit
den anderen europäischen Regierungen verabreden
wolle. Das geht sehr in Ordnung; aber das ist auch kei-
neswegs in Frage gestellt. Wir haben bei diesem Thema
keine neue Lage. So schnell schießen die Preußen nicht,
auch der Niedersachse und der Hesse nicht, es sei denn,
Sie wollten hier beantragen, den Bundeshaushalt in Euro
umzustellen.
Wir meinen, daß Sie es mit Ihrem Hinweis auf das
Grundgesetz diesmal gründlich übertrieben haben.
Soviel für heute und zur Ablehnung dieses Unions-
antrages. Für den Fall, daß es morgen an gleicher Stelle
zum gleichen Thema um Tages- und Geschäftsordnung
geht, geloben wir schon jetzt ein wenig Besserung.
Vielen Dank.
Wir kommen zur
Abstimmung. Wer stimmt für den Aufsetzungsantrag?
– Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Aufset-
zungsantrag ist mit den Stimmen der SPD-Fraktion, der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der PDS-Fraktion
abgelehnt worden.
Wir setzen damit die Haushaltsberatungen fort:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für
das Haushaltsjahr 1999
– Drucksache 14/300 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Bericht über den Stand und die voraus-
sichtliche Entwicklung der Finanzwirt-
schaft
– Drucksache 14/350 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß Finanzausschuß
Ich erinnere daran, daß wir am Dienstag für die heu-
tige Aussprache insgesamt acht Stunden beschlossen
haben.
Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie.
Das Wort hat Bundesminister Werner Müller.
Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie: Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Oberstes Ziel dieser Bundesregierung ist der
Abbau der Arbeitslosigkeit. Wir setzen bei dieser Auf-
gabe keineswegs nur auf Wirtschaftswachstum, aber
eben auch auf Wirtschaftswachstum. Seit Ende letzten
Jahres hat sich der weltwirtschaftliche Rahmen anhal-
tender verschlechtert, als allgemein erwartet.
Liebe Kolleginnenund Kollegen, ich bitte doch, entweder hinauszugehenoder sich hinzusetzen und zuzuhören. Das gilt aus-drücklich auch für die SPD-Fraktion.Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie: Wir müssen die Wachstumserwartun-gen realistischerweise etwas zurücknehmen, und wirwollen das Wachstum haushaltspolitisch stärker stützen.Diese konjunkturpolitische Notwendigkeit wird auch imHaushalt des Wirtschaftsministers berücksichtigt. Mitanderen Worten: Eine meiner wirtschaftspolitischenGrundüberzeugungen, nämlich Senkung von Staatsaus-gaben und Staatsquote, wird mit dem aktuellen BMWi-Haushalt nur begrenzt verwirklicht.
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Zwei große Positionen sind im Haushalt des BMWizusätzlich vorgesehen bzw. neu. Einerseits wurden über800 Millionen DM Forschungsmittel vom Forschungs-ministerium übertragen; andererseits erfordert das Ein-halten der Vereinbarung mit dem Steinkohlebergbaurund 700 Millionen DM zusätzliche Kohlesubvention.Das sind also zusammen zusätzlich 1,5 Milliarden DM.Der BMWi-Haushalt steigt aber gegenüber dem Entwurfder alten Bundesregierung nur um 1,2 Milliarden DM.Es wurden also an vielen einzelnen Positionen insgesamt300 Millionen DM eingespart. Sparen heißt nicht blin-des Streichen. So sind genügend Mittel zum Beispielauch für die Luftfahrt eingestellt.Was die Luftfahrt anbelangt, so ist es mein Ziel, mitden eingestellten Hilfen ein möglichst großes Pro-grammvolumen zu realisieren, indem wir mit den zubegünstigenden Unternehmen und Bundesländern übereine stärkere Beteiligung verhandeln wollen. Ferner sollin diesem Bereich auch verstärkt das Instrument derBürgschaft eingesetzt werden. Die Perspektiven derdeutschen Luftfahrtindustrie sowohl hinsichtlich Tech-nologie als auch hinsichtlich globaler Wettbewerbschan-cen lohnen unsere Hilfe, namentlich wenn und solangewir uns um neue Produktionen in unserem Land bemü-hen.
Eine große Position im BMWi-Haushalt – fast dieHälfte – nehmen die Hilfen für die deutsche Steinkohlein Anspruch. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter derdeutschen Steinkohleförderung sollen wissen, daß sichdiese Bundesregierung an die vereinbarten Kohlehilfenfest gebunden fühlt.
Dieser Grundsatz muß auch angesichts europäischerRahmenbedingungen gelten, was noch manche Ver-handlungen erfordern wird. Ich will hinzufügen: Dasdauerhafte Verwirklichen der geplanten Kohlepolitik istnicht allein Aufgabe der Politik, sondern bedarf auch derMitwirkung des Bergbaus, seiner Mitarbeiter und seinerEigentümer.Neben den immens teuren Steinkohlehilfen enthältder BMWi-Haushalt Positionen zur Förderung regene-rativer Energien, namentlich der verschiedenen Formender Sonnenenergienutzung.
Es ist im Koalitionsvertrag verabredet worden – und ichhabe dafür gesorgt – daß das 100 000-Dächer-ProgrammAnfang des Jahres sofort gestartet werden konnte.
Dieses schnelle Handeln war auch notwendig, damit dieverbliebenen einheimischen Hersteller von photovol-taischen Zellen hier im Lande bleiben. Das Interesse andiesem Programm ist so groß, daß wir den Markterfolgim Startjahr möglicherweise unterschätzt haben.
Wenn das vereinbarte Programm voll ausgeschöpft ist,sind mit rund 1 Milliarde DM Hilfe 2,5 Milliarden DMan Investitionen ausgelöst worden.
Zur Förderung anderer Nutzungsarten der Sonnenener-gie ist ein weiteres Programm in Arbeit, das rechtzeitigmit der Bereitstellung der Mittel aus der Ökosteuer ge-startet wird.Bei aller Sympathie für regenerative Energien müssenwir uns zwei Dinge bewußt machen: Erstens wird sichihr Marktanteil nur allmählich vergrößern, und zweitensmüssen wir eine langfristig subventionsfreie Energie-struktur anstreben.
Gelegentlich lese oder höre ich gerade aus den Rei-hen der Energiewirtschaft selber die Meinung, der Aus-stieg aus der Kernenergie sei noch keine Energiepolitik.Meine Erfahrung der letzten 16 Jahre ist, daß das unbe-dachte „Weiter so“ gerade auch in Sachen Kernenergiejedwede zukunftsorientierte Energiepolitik verhinderthat.
Erst seitdem das politische Ziel dieser Bundesregierungund der beiden sie tragenden Parteien, nämlich die Nut-zung von Kernkraftwerken so schnell als möglich zu be-enden, in voller Breite gesellschaftlich diskutiert wird,werden die bestehenden energiepolitischen Defizite auchder breiten Öffentlichkeit deutlich. Jetzt weiß jeder-mann, daß zum verantwortlichen Betrieb von Kern-kraftwerken auch vernünftige Konzepte zu den Themen„Transport“, „Zwischenlagerung“ und „Endlagerung“gehören. Jetzt ist auch jedermann bewußt geworden, daßes diese Konzepte nach 16 Jahren CDU/CSU-und-F.D.P.-Regierung nicht gibt.
Das Ziel des geordneten Kernenergieausstiegs be-wirkt, daß alle bisher ungeordneten Einzelthemen desBereichs Kernenergie nun geordnet werden.Eines sollte dabei allen, auch den Kernkraftwerksbe-treibern, bewußt sein: Ohne Lösung der Entsorgungs-problematik ist ein unerwartet schnelles Ende der Kern-energienutzung keineswegs unwahrscheinlich. Alle Lö-sungen der Entsorgungsproblematik erfordern die Ak-zeptanz nicht nur der Politik, sondern auch der Gesell-schaft.
Man wird diese Akzeptanz nur gewinnen können, wenndie Nutzung der heutigen Kernkraftwerke einem Endezugeführt wird.
Bundesminister Dr. Werner Müller
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Das heißt nun nicht, daß demnächst sozusagen jedesJahr einige Kernkraftwerke stillgelegt würden, so daßwir in hohem Maße unter Zugzwang stünden, sofort Er-satzkapazitäten verfügbar zu haben. Aber wir müssenuns verstärkt um die Alternativen kümmern. Wir müssenmit einer Einstiegsdebatte beginnen. Ich lasse derzeithierfür einen organisatorischen Rahmen erarbeiten, derdie interessierten gesellschaftlichen Gruppen und derenSachverstand breit einbeziehen wird.
Zu den wichtigen, kurzfristigen energiepolitischenAufgaben gehört eine sorgfältige Analyse der Wirkun-gen der Einführung des Wettbewerbs auf dem Strom-markt. Eine ungewollte Wirkung sehe ich in der Ge-fahr, daß die Konzessionsabgabe als wichtige kommu-nale Finanzquelle austrocknen könnte. Als Konsequenzist eine baldige Novellierung der Konzessionsabgaben-verordnung notwendig, die wir deswegen zügig erarbei-ten und vorlegen werden.
Ferner sehe ich Defizite auf der Anbieterseite desWettbewerbs, namentlich was neue Marktteilnehmer,zum Beispiel auch die Erzeuger regenerativen Stromesoder Kraft-Wärme-Kopplung-Stromes, anbelangt. Ichhabe hierzu das Gespräch mit der Stromwirtschaft auf-genommen, in der Absicht, daß eine Neufassung derVerbändevereinbarung diese Probleme lösen hilft, damitwir nicht alternative Lösungsmöglichkeiten ins Augefassen müssen. Wer, gerade von der Unternehmensseite,in diesem Lande Energiepolitik vermißt, der kann alsozunächst selber einen Beitrag leisten und sollte sich fer-ner nicht überrascht zeigen, wenn und wie der staatlicheTräger der Energiepolitik seine möglichen Instrumentezum Einsatz bringt.
Schließlich bleibt der Strompreisunterschied zwischenOst und West eine zu lösende Aufgabe, einschließlich derSicherung der ostdeutschen Braunkohleförderung.
Das ist eine energiepolitische Aufgabe. Sie gehört aberauch zum Thema Aufbau Ost.Damit komme ich zu einer weiteren großen Positionim Haushalt des Wirtschaftsministeriums. Am AufbauOst wird nicht gespart.
Zentrales Instrument zur Förderung von gewerblichenInvestitionen und von wirtschaftsnaher Infrastruktur inden neuen Ländern ist die sogenannte Gemeinschafts-aufgabe. Sie wird auch 1999 auf hohem Niveau fortge-setzt. Zusammen mit den Mitteln der Länder und denendes europäischen Fonds für regionale Entwicklung ste-hen damit im laufenden Jahr für Ostdeutschland rund6 Milliarden DM für neue Bewilligungen bereit.
Hinzu kommt, daß die neuen Länder überdurch-schnittlich in den Programmen des BMWi zur Existenz-gründung, zur Förderung kleiner und mittlerer Unter-nehmen und zur Forschungs- und Innovationsförderung,die wir übrigens verstärkt in Richtung marktnahe Pro-dukte umgestalten werden, berücksichtigt werden. DasHandwerk sowie kleine und mittlere Unternehmen sindalso ein besonderer Schwerpunkt der Wirtschafts- undSteuerpolitik dieser Bundesregierung. Denn gezielteFörderung einerseits und steuerliche Entlastungen ande-rerseits lassen gerade in diesem Bereich der Wirtschaftnicht nur den Erhalt, sondern auch den Aufbau von Ar-beitsplätzen erwarten.
Auch unter diesem Aspekt bin ich übrigens – das istnicht die größte Position im Haushalt – für eine ver-stärkte Unterstützung des Tourismus.
Hierzu sind in den Haushalt etwa zehn Prozent mehrMittel eingestellt worden. Der Tourismus ist eine um-satzstarke und stetig wachsende Branche. Es muß unseraller Ziel sein, daß unser Land daran überproportionalpartizipiert.
Wir müssen mehr ausländische Urlauber für unser Landgewinnen, und vor allem sollten wir auch bei unserenBürgerinnen und Bürgern für mehr Urlaub in Deutsch-land werben.
So viel in der hier gebotenen Kürze zum vorgelegtenHaushaltsentwurf des Wirtschaftsministeriums.Wie einleitend gesagt, ist es weder ein expansiverHaushalt noch allerdings einer, der bereits merklich zumZiel der Rückführung der Staatsquote beitragen kann.Ich werde mich weiter dafür einsetzen, daß wir diesemnotwendigen Reformziel näher kommen können und nä-her kommen werden. Denn wir brauchen in unseremLand, gerade nach den letzten 16 Jahren, eine Revitali-sierung der privatwirtschaftlichen Kräfte.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht nun Kollege Wolfgang Börnsen.
HerrPräsident! Meine Damen und Herren! Verehrte Kolle-ginnen und Kollegen! Bei aller Redlichkeit, Herr Wirt-schaftsminister: Eine Revitalisierung erreichen Sienicht durch einen Haushalt der Unberechenbarkeit.Noch nie hat eine Bundesregierung in den letzten Jahr-Bundesminister Dr. Werner Müller
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zehnten eine so unberechenbare Wirtschaftspolitik be-gonnen wie diese.
Ludwig Erhard wurde zwar als Büste in das Kanzleramtgeholt, doch von der Idee, den Idealen, dem Konzept dersozialen Marktwirtschaft ist diese Regierung weiter ent-fernt als wohl je eine zuvor. Hinter einer Fassade vonSchlagworten verbirgt sich Konzeptwirrwarr, in denGrundtendenzen des Managements verbunden mit einerzentralistischen Ideologie. Diese Wirtschaftspolitik ver-unsichert die Betroffenen in noch nie dagewesenemMaße.Bereits während des Wahlkampfes wurden dieGrundlagen für diese Wirtschaftspolitik der Unbere-chenbarkeit gelegt. Jost Stollmann werde Wirtschafts-minister, so wurde verkündet – einer von euch, aus derNeuen Mitte, unabhängig, mit ökonomischem Sachver-stand. So mancher Mittelständler glaubte an das Wortdes Kanzlers im Wartestand. Sie wurden getäuscht undenttäuscht. Schon am Tag der Regierungserklärung wur-de das Kanzlerwort gebrochen. Ein kaltgestellter Stoll-mann trat zurück. Seine Begründung war bemerkenswert– und ist bis heute aktuell geblieben –: Mit dieser Regie-rung kann man nichts erreichen.
Der Mohr hatte seine Schuldigkeit getan. Das Wort vonder Stollmann-Lüge machte die Runde. Aber was störtdie Verantwortlichen die Frage nach der politischen Mo-ral, nach guten Sitten, wenn der Zweck die Mittel hei-ligt?Als Fehler, fragwürdig und falsch erwies sich auchder Glaube von so manchem Repräsentanten aus Handelund Industrie nach einer neuen marktwirtschaftlichenAusrichtung der Politik. Schröder werde Akzente mitAugenmaß setzen, der Wirtschaftspolitik einen neuenStellenwert geben, so wurde während des Wahlkampfessuggeriert. Das Gegenteil ist eingetroffen. Nicht eineangebotsorientierte Ordungspolitik bestimmt die öko-nomische Vernunft, sondern eine Politik konsumorien-tierter Nachfrage mit zentralistischen Zügen.Das Wirtschaftsministerium wurde dezimiert, dieGrundsatzabteilung vom Finanzminister okkupiert, derWirtschaftsminister von einem Gestalter zum Verwaltereines Restministeriums degradiert. Seit Ludwig Erhardhatte eine eigene Wirtschaftspolitik in Deutschland Prio-rität. Diese Ausrichtung hat unseren Wirtschaftsstandortstark und stabil gemacht. Für andere Länder wurde die-ses Modell Beispiel. Die Demontage des Wirtschaftsres-sorts ist mehr als eine Akzentverschiebung. Sie ist eineSystemveränderung, der Bruch mit einer erfolgreichenTradition.
Da ist es fast zweitrangig, wenn sich nicht nur Fach-leute fragen, wer eigentlich für diese Wirtschaftspolitikverantwortlich zeichnet: der Kanzler,
Kanzleramtschef Hombach
oder nicht doch Schattenkanzler Oskar Lafontaine?
Offensichtlich hat auch seine Frau, Frau Müller, einWort mitzureden.
Auf jeden Fall ist die Feststellung vieler Wirtschafts-journalisten beunruhigend, es sei nicht Herr Müllerselbst, der die Zügel in der Hand habe. Selbst ein kom-petenter Mann kann keinen Erfolg haben, Herr Müller,wenn ihm die Instrumente aus der Hand genommenwerden.
Eine berechenbare Wirtschaftspolitik benötigt Klar-heit, Konsequenz und ihren eigenen Rang.
Festzustellen ist eine breite Verunsicherung an allenFronten der Wirtschaft. Investitionen in unserem Landgehen drastisch zurück. Die Konjunktur, die im vergan-genen Jahr noch an Fahrt gewonnen hat, ist deutlich ab-geschwächt.
Das diesjährige Wirtschaftswachstum wurde nach untenkorrigiert. Das sind die Folgen von Führungsversäum-nissen.Auch der Arbeitsmarkt gibt da eine deutliche Ant-wort. 1998 sank die Zahl der Menschen ohne Beschäfti-gung unter die 4-Millionen-Grenze. Für Gerhard Schrö-der blieben es freilich Kohl-Arbeitslose, wie er in Fern-sehinterviews vielfach betonte: Kohl, Kanzler der Ar-beitslosigkeit. Im Oktober reduzierte sich die Zahl derArbeitslosen noch einmal um fast 80 000. Dann setztedie Politik der rotgrünen Koalition ein. Als die Reform-gesetze übereifrig gekippt wurden, stieg die Zahl derArbeitslosen in Deutschland: im November 1998 um55 000 auf 4 Millionen. Im Dezember 1998 waren esüber 4,2 Millionen Arbeitslose, im Januar 1999 über4,4 Millionen Arbeitslose. Für Februar schätzen seriöseInstitute mehr als 4,7 Millionen Arbeitslose bundesweit.Insgesamt ist die Arbeitslosigkeit mit Beginn derKanzlerschaft von Gerhard Schröder um mehr als einehalbe Million Menschen gestiegen. Daran muß sich dieRegierung messen lassen.
Ob das jetzt Schröder-Arbeitslose sind, um mich an derSchuldzuweisung des Kanzlers zu orientieren? Ist erjetzt Kanzler der Arbeitslosigkeit?Das Winterwetter wird als Begründung für die stei-genden Arbeitslosenzahlen angeführt. Natürlich sindsaisonale Einflußfaktoren bei Beschäftigungsverände-rungen zu berücksichtigen.
Wolfgang Börnsen
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Auch die Finanzkrise auf den asiatischen Märkten ist ei-ne Ursache. Doch der eigentlich Grund ist: Es fehlt einesolide, berechenbare marktwirtschaftliche Wirtschafts-politik, die zu mehr Einstellungen ermutigt.Der Abstieg kam mit der Änderung der Reformgeset-ze der Regierung Kohl/Waigel. Mehr Einstellungsmobi-lität, mehr Kostenentlastung wollte man erreichen. Dasist willkürlich gestoppt worden. Anstatt die Wirkung zumodifizieren – was eine Alternative gewesen wäre –, isteine breite Verunsicherung der Wirtschaft entstanden.Die Folge: Es fehlt Vertrauen für Investitionen. Wasbleibt, ist Unberechenbarkeit.
Wie die Wirtschaft auf eine solche Politik und Aus-gangslage reagiert, wird deutlich an den Worten des Prä-sidenten des Zentralverbandes des Deutschen Hand-werks, Dieter Philipp: Die Inhaber der deutschen Hand-werksbetriebe seien von den ersten vier Monaten rotgrü-ner Politik in höchstem Maße verunsichert. Von Neuein-stellungen im Jahre 1999 könne keine Rede mehr sein,im Gegenteil: Man müsse Entlassungen befürchten. Eswirkt wie Salz in der Wunde, wenn jetzt im Rahmen derneuen Steuergesetzgebung Verlustvortrag und Anspar-abschreibungen gestrichen und die Teilwertabschrei-bung in erheblichem Maße abgeschafft werden sollen.Dafür gibt es jetzt die Steuer auf Umwandlungsgewinne.Sie trifft Hunderttausende kleiner und mittelständischerBetriebe in ihrer Existenz. Altersversorgung und Be-triebsübergaben werden drastisch belastet. Besitzer mit-telständischer Betriebe werden damit um ihre Lebenslei-stung gebracht.
Pessimismus macht sich breit. Wie sollen da Arbeits-plätze entstehen? Auf jeden Fall nicht in der Landwirt-schaft. Diese wird von der Agenda 2000 bis zur Öko-steuer mit über 6 Milliarden DM zusätzlich belastet. AlsInvestor hat sie im letzten Jahr 12 Milliarden DM aus-gegeben. Diese Summe fällt in Zukunft weg. WenigerArbeit wird die Folge sein. Noch ist Zeit zur Umkehrdieser Politik. Die Menschen im ländlichen Raum wer-den entmutigt, und Arbeit wird vernichtet. Deutschlandhat jetzt die EU-Ratspräsidentschaft. Jetzt muß derKanzler handeln. Wann denn sonst?
Unter deutscher Ratspräsidentschaft kommt es wohlzum Ende der Duty-free-Regelung. Die norddeutschenGewerkschaften rechnen mit einem Wegfall von 5 700Arbeitsplätzen. Allein im Ostseebereich gehen die Be-triebsräte der Fährlinien von 20 000 Entlassungen imHerbst aus. Noch im Dezember verkündete KanzlerSchröder auf dem Wiener Gipfel vollmundig: Duty-freebleibe erhalten, Deutschland, Frankreich und Englandseien sich einig; das sei jetzt Chefsache. Kleinere Staa-ten wie Dänemark fühlten sich von diesem Diktat derdrei verärgert, mauerten um ihrer Selbstachtung willen.Die Uneinigkeit der 15 Regierungen in dieser Fragenutzte die EU-Kommission jetzt zum Schlußstrich, auchwenn damit europaweit 140 000 Arbeitsplätze zerstörtwerden. Noch kann der Ecofin-Rat am 15. März dasSteuer herumreißen. Sie, Herr Finanzminister, sind dabeientscheidend. Verhindern Sie weitere 6 000 Arbeitslosein Norddeutschland! Verhindern Sie weitere 140 000Arbeitslose in Europa! Jetzt ist die Zeit zum Handeln.
Um Rücksichtnahme auf nationale Interessen geht esauch beim strukturpolitischen Teil der Agenda 2000.Wenn der Plan Wirklichkeit wird, werden nur noch11 Regionen in Westdeutschland förderungswürdig sein.Für alle anderen gibt es kein Recht mehr auf Wirt-schaftsförderung; Brüssel schließt das aus. Das bedeutet,daß die Wahlkreise von mehr als 100 Kollegen in die-sem Haus betroffen sein werden. Einen solchen Kahl-schlag für die benachteiligten Gebiete von Flensburg bisPassau hat es noch nie gegeben. Jetzt ist zu handeln.Jetzt, unter deutscher Ratspräsidentschaft, hat man dasRuder herumzureißen. Es entsteht ein ganz großer Scha-den für unser Land, wenn jetzt nicht gehandelt wird.
Schwere Versäumnisse gibt es auch in der maritimenPolitik: In der Seeschiffahrt und bei den Werften, überallsetzt eine Krise ein, wenn jetzt nicht gehandelt wird. DerMangel an gezielter Initiative, der radikale Kurswechselin der Wirtschaftspolitik, das sprunghafte Wechseln derPrioritäten, das Fehlen operativer Konzepte und die Zu-nahme von Bürokratie auf allen Ebenen schaden demWirtschaftsstandort Deutschland. Ein radikaler Kurs-wechsel zu einer Politik der Berechenbarkeit ist das Ge-bot der Stunde.Danke schön.
Für die SPD-
Fraktion erteile ich dem Kollegen Ernst Schwanhold das
Wort.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon erstaun-lich, was wir in dieser Debatte von Herrn Börnsen vor-geführt bekommen. Er ignoriert die Änderungen in denSteuergesetzen, operiert ganz bewußt mit falschen Aus-sagen
und tut so, als ob dies die Zukunft für unser Land wäre.Nein, das Problem ist, daß Sie nicht wissen, wie Sie sichwirtschaftspolitisch orientieren sollen, daß Sie noch im-mer darunter leiden, daß der große Teil der Misere, diewir bei der Arbeitslosigkeit haben, durch Ihre falschePolitik der letzten Jahre begründet ist. Sie haben nochimmer nicht den Neuanfang gefunden.
Herr Börnsen, wenn man die Arbeitslosenzahlen inredlicher Weise miteinander vergleicht und nicht ganzbewußt falsche Zeichen setzen will, ist der Vergleich desWolfgang Börnsen
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Januars 1998 mit dem Januar 1999 die richtige Basis. ImJanuar 1999 sind es fast 370 000 Arbeitslose weniger.Im übrigen ist das gegenüber dem Vergleich Dezember1997 zu Dezember 1998 eine zusätzliche Abnahme um40 000. Das darf man nicht überbewerten. Aber so zutun, als ob es durch die Regierung Schröder einen An-stieg der Arbeitslosigkeit gäbe, ist eine bewußte Falsch-aussage.
Natürlich darf man sich damit nicht zufriedengeben.Ohne Frage sind die weltwirtschaftlichen Risiken vor-handen. Deshalb haben wir durch einen klaren Wachs-tumskurs mit wirtschaftspolitischer Flankierung dafür zusorgen, daß wir zu einer Belebung der wirtschaftlichenTätigkeit kommen, daß wir Arbeitslosigkeit abbauenund daß wir zu mehr Beschäftigung in den Wachstums-bereichen der deutschen Wirtschaft gelangen.Dazu gehört zunächst die Makropolitik. Dabei geht esim Kern um eine koordinierte und konsequente Aus-richtung der Finanz- und Wirtschaftspolitik auf Wachs-tum und Beschäftigung. Kauf- und Investitionskraft derUnternehmen müssen gleichermaßen gestärkt werden,damit insbesondere die mittelständische regionale Wirt-schaft wieder Perspektiven erhält.
Der Bereich der Finanzpolitik steht für nachfrage-schaffende Steuerentlastungen – besonders bei den unte-ren und mittleren Einkommen; da ist es dringend not-wendig –, aber auch für investitionsfördernde Unter-nehmensteuersenkungen. Genau die sind angekündigt;genau die sind eingeleitet und werden stattfinden. DieNettoentlastung für Unternehmen und private Steuer-zahler wird zunächst in der Größenordnung von 15 Mil-liarden DM liegen, was die Aufrechterhaltung soliderstaatlicher Funktionsfähigkeit ohne Überschreitung dereuropäischen Defizitkriterien noch gewährleistet. Genaudas war notwendig. Sie haben immer nur 30 MilliardenDM angekündigt, ohne sie gegenzufinanzieren.
Die wachstumsfördernde Nettoentlastung für dieWirtschaft wird bei Verabschiedung der vorstehendskizzierten grundsätzlichen Unternehmensteuerreformnoch höher liegen. Auf der Ausgabenseite muß zudem inden öffentlichen Haushalten durch Umschichtung mehrGeld für Investitionen und Innovationen zur Verfügunggestellt werden. Ich begrüße ausdrücklich, daß der Bun-deshaushalt 58 Milliarden DM für Investitionsausgabenvorsieht. Dies ist eine deutliche Stärkung.In diesem Zusammenhang geht es um innovativeKonzepte für eine Neuverteilung der öffentlichen Auf-gaben. Wir müssen den staatlichen Aufgabenkatalog imHinblick auf mehr Effizienz und mehr Modernität über-prüfen. Dabei ist sicherlich ein richtiger Weg, öffentli-che Entscheidungen und Aufgaben stärker an die Basiszu verlagern.Eine wesentliche Aufgabe beschäftigungsschaffenderWirtschaftspolitik ist, die viel zu hohen Lohnnebenko-sten deutlich zu senken. Sie sind übrigens bei uns zumersten mal nach unten gegangen, während sie bei Ihnenimmer nur gestiegen sind. Dies entlastet die mittelstän-dische Wirtschaft.
Überdies gilt es, als weitere Kernfelder einer innova-tiven Politik umgehend schnellere Investitionsgenehmi-gungsverfahren zu schaffen, die für neue Wirtschaftsdy-namik unerläßlich sind. Es geht darum, neue Märkte inden Bereichen neue Energien und Energieeinsparung,neue Werkstoffe, aber insbesondere auch im Dienstlei-stungssektor, in der Telekommunikation, im Bereich derLuft- und Raumfahrt und im Bereich der Bio- und Gen-technologie zügig für zusätzliche Arbeitsplätze auszu-schöpfen.Es geht schließlich darum, die Investitionsförderungim Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserungder regionalen Wirtschaftsstruktur“, die besonders denneuen Bundesländern zugute kommt und auch weiterhinzugute kommen muß, auf Dauer zu stabilisieren.Wir brauchen eine Politik für Innovationen. Unsereso geschaffenen allgemeinen Rahmenbedingungen, be-sonders auch für die mittelständische Wirtschaft, werdendazu führen, daß die mittelständische Wirtschaft in Zu-kunft in stärkerem Maße investiert und daß wir eine In-novationsoffensive bekommen.Hiervon ausgehend sind zunächst zielgerichtet ar-beitsplatzschaffende Offensiven für Prozesse, für Pro-dukte und für Strukturinnovation notwendig. Die Unter-nehmen müssen im Forschungsbereich ebenso stark in-vestieren wie der Staat. 1 Milliarde DM werden in denForschungsbereich investiert. Sie haben immer nur dar-über geredet. Wer heute nicht in Forschung investiert,verspielt die Arbeitsplätze in der Zukunft. Hier ist einSchwerpunkt gesetzt worden.
Es geht darum, daß wir im marktnahen Bereich derForschungsförderung noch deutlich besser werden. Sei-tens der Wirtschaft ist erfreulicherweise festzustellen,daß die dortigen Aufwendungen für Forschung undEntwicklung im letzten Jahr real gestiegen sind. DieAnkündigungen für dieses Jahr deuten eine weitere Stei-gerung an. Die Plandaten der Unternehmen für 1999sind im Bereich von Forschung und Entwicklung aufWachstum gestellt. Ich begrüße dies ausdrücklich. DieStellungnahme des Generalsekretärs des Stifterverban-des für die Deutsche Wissenschaft unterstreicht, daß derInnovationsmotor in der deutschen Wirtschaft wiederangesprungen ist und auf vollen Touren läuft.Der Mittelstand ist und bleibt in Deutschland Haupt-träger für Ausbildung und Beschäftigung. Die Innova-tions- und Wettbewerbsfähigkeit gerade im Bereich derkleinen und mittleren Unternehmen ist daher auch in dennächsten Jahren der wichtigste Motor für Arbeitsplätze.
Wir haben dies erkannt und im neuen Bundeshaushaltbeträchtliche Mittel zur Förderung innovativer Unter-nehmensgründungen, zur Beteiligung am Innovationsri-Ernst Schwanhold
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siko in Technologieunternehmen sowie zur allgemeinenStärkung der Innovationsfähigkeit kleinerer und mittle-rer Unternehmen bereitgestellt.Der Wissenschaftstransfer von Forschungseinrich-tungen in den Unternehmen, insbesondere im mittel-ständischen Bereich, muß wesentlich verbessert und diediesbezügliche Umsetzungsgeschwindigkeit deutlich er-höht werden. Dies gilt in besonderem Maße für die For-schungslandschaft in Ostdeutschland, in der wir nochgroße Defizite haben und die aufzubauen ist.
Dabei geht es um die zügige Schließung der Lückezwischen Forschung und Markteinführung. Deutschlandsitzt derzeit auf einem weitgehend ungehobenen Schatzvon Forschungsergebnissen und Technologien. Zur Zeiterblicken nur 30 bis 40 Prozent der Grundlagenfor-schung das Licht wirtschaftlicher Anwendung. Wir müs-sen daher mit abgestimmten Konzepten die Technolo-gietransfereinrichtungen und Innovationsberatungenausbauen und stärker vernetzen sowie die unterneh-mens- und praxisorientierte Aufbereitung von For-schungsergebnissen unterstützen, damit mittelständischeund kleine Unternehmen daran partizipieren können.
Neue Technologien bedürfen größerer gesellschaftli-cher Akzeptanz, damit sie zügiger um- und eingesetztwerden können. Wir brauchen in diesem Zusammen-hang auch sichtbare publikumswirksame Modellvorha-ben, die größere Technologie- und Innovationsoffenheitin der Bevölkerung erzeugen. Wir sollten alle daranmitwirken, daß diese zum Durchbruch kommen, undnicht immer nur über die Schwierigkeiten am Standortreden. Wer über die Schwierigkeiten redet, gibt denenrecht, die Innovation verhindern wollen. Deshalb ma-chen Sie sich durch Ihre Reden hier auch an der Ent-wicklung in diesem Land schuldig.
Zur Stärkung der mittelständischen Wirtschaft: Un-sere vorgenannten Konzepte für eine dynamische Wirt-schaftspolitik stärken die Binnenkräfte der Konjunktur.
– Herr Hirche, haben Sie eigentlich in den letzten vierJahren in der Regierung gesessen und dieses Ergebnismit zu verantworten? Wenn ich auf Ihrem Stuhl säße,abgewählt von der Bevölkerung und ohne in der Politikin den letzten vier Jahren einen Erfolg oder ein Ergebniserzielt zu haben, würde ich mir solche Zwischenrufe er-sparen.
Die mittelständische Wirtschaft hat Ihnen bei derletzten Wahl doch zu Recht eine Quittung erteilt; dennSie haben sie nicht in ausreichendem Maße berücksich-tigt und die Chancen der mittelständischen Wirtschaftnicht genutzt. Sie haben sie im Stich gelassen, und des-halb hat sie Ihnen bei der letzten Wahl ihre Stimmeverweigert.Die vorgenannten Konzepte für eine dynamischeWirtschaftspolitik stärken die Binnenkräfte der Kon-junktur. Das ist der Humusboden, auf dem besonders diekleinen und mittleren Unternehmen als Hauptträger derArbeits- und Ausbildungsplätze gedeihen. Richtigerwei-se unterstreicht deshalb das Bundeswirtschaftsministeri-um die zentrale Bedeutung des Mittelstands auch imHaushaltsplan. Zusammen mit den mittelstandsbezoge-nen Ausgaben aus dem Bereich Technologie- und Inno-vationspolitik stehen hierfür insgesamt 2,2 MilliardenDM zur Verfügung.Es bedarf hinsichtlich des Mittelstandes allerdingsspezieller Aufmerksamkeit seitens unserer Wirtschafts-politik durch verbesserte Rahmenbedingungen sowiedurch kohärente und übersichtliche Mittelstandsförde-rung. Wir müssen unser Ziel, die Projekte und Pro-gramme zusammenzufassen, in den nächsten Jahrenwirklich konzentriert angehen. Wir müssen die Förde-rung für kleine und mittlere Unternehmen und für Exi-stenzgründungen auf wenige aufeinander abgestimmteProgramme konzentrieren und vereinfachen. In diesemZusammenhang muß es auch zu einer tragfähigen undklaren Abgrenzung zwischen der Deutschen Aus-gleichsbank und der Kreditanstalt für Wiederaufbaukommen, damit diese beiden Bundesinstitute ihre volleKraft zugunsten des Mittelstandes einsetzen können.
Wir müssen die Eigenkapitalausstattung der kleinenund mittleren Unternehmen verbessern. Dabei geht eszum einen um die ungeminderte Fortführung des Eigen-kapitalhilfeprogramms. Zum anderen müssen wir die ge-setzlichen Rahmenbedingungen für die Mobilisierungvon Wagniskapital neu gestalten und im Zusammenwir-ken mit Kapitalgesellschaften, Banken und Versiche-rungen die Möglichkeiten für Wagniskapitalfonds aus-bilden. Das, was Sie mit dem dritten Kapitalmarktförde-rungsgesetz nicht geschafft haben, müssen wir in dieserLegislaturperiode im vierten Kapitalmarktförderungsge-setz lösen. Das ist eine Hinterlassenschaft von Ihnen ausder vergangenen Legislaturperiode.Wir müssen den Zugang zur selbständigen Tätigkeitim Handwerk erleichtern. Der große Befähigungs-nachweis bleibt allerdings Voraussetzung für die Selb-ständigkeit im Handwerk. Gleichwohl ist es ratsam, Fle-xibilität auf allen Seiten – auch bei den Kammerorgani-sationen – an den Tag zu legen, damit nicht unnötiger-weise Unternehmen in den Ruin getrieben werden, weilnicht der direkte Übergang von dem einen zum anderenMeister organisiert werden kann. An dieser Stelle brau-chen wir größere Flexibilität. Neue Betätigungsfelder,die sich parallel zwischen Handwerk und Industrie ent-wickeln, müssen auch parallel ohne Hürden von seitendes Handwerks ausgebaut werden können. Hier soll eseinen Wettbewerb und keine Hürden oder Mauerngeben.
Ernst Schwanhold
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Kollege Schwan-
hold, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Hinsken?
Ja, natürlich. Es war mir
klar, daß die kommt.
Sie wissen doch noch
gar nicht, was ich fragen möchte, Kollege Schwanhold.
Wollen wir wetten, Herr
Hinsken?
Oder sind Sie so hell-
seherisch wie der Bundeskanzler, der alles besser weiß?
Das stimmt.
Herr Kollege Schwan-
hold, welche Meinung gilt nun für die SPD-Fraktion,
was Meisterprüfungen und den großen Befähigungs-
nachweis anbelangt: die, die Herr Hombach vertritt, oder
die, die Sie vertreten? Wird die Meisterprüfung in Zu-
kunft berufsbegleitend zugelassen, oder möchte man am
bisherigen bewährten Prinzip festhalten? Welche Mei-
nung vertreten Sie hierzu? Sie saßen ja selbst in der
Kommission, die im vergangenen Jahr noch einen ver-
nünftigen Vorschlag erarbeitet hat. Oder haben Sie sich
in der Zwischenzeit auch schon gewandelt und bewegen
sich neuen Ufern zu?
Herr Hinsken, selbstver-ständlich ist erst durch meine Tätigkeit in der letztenWahlperiode etwas Vernünftiges bei der Beratung derHandwerksnovelle herausgekommen.
Insofern bitte ich Sie, meinen Anteil nicht herabzuwür-digen.Sie versuchen in Ihrer Frage, einen Widerspruch zwi-schen dem Bestand des Großen Befähigungsnachwei-ses und der Möglichkeit eines berufsbegleitenden Ab-schlusses, der Meisterprüfung, aufzubauen. Das gibt esdoch schon längst; das wissen Sie. In den Fällen, in de-nen es nicht möglich ist, am Anfang einen Großen Befä-higungsnachweis vorzulegen, aber eine Übernahme an-steht, kann das in den ersten Jahren nachgeholt werden.
– Natürlich gilt dies. Hier brauchen wir nicht die Aus-nahmeregelung, die von seiten der Kammern sehr re-striktiv gehandhabt wird, wodurch die Leute in den Ruingetrieben werden, wenn sie es nicht in den ersten zweiJahren schaffen, weil sie sich in der Zeit um das Unter-nehmen kümmern. Hier brauchen wir weitaus großzügi-gere Übergangsregelungen. Deshalb wird aber der Gro-ße Befähigungsnachweis nicht abgeschafft. Im Zusam-menhang mit der Debatte um die Handwerksnovellie-rung werden wir in den nächsten Jahren eine Flexibili-sierung vornehmen.Auch haben wir noch ein Urteil eines Gerichtes zurAnlage C zu gewärtigen. Dann wollen wir einmal sehen,welche Positionen Sie in der Union einnehmen. Ich kannmich ausgesprochen gut daran erinnern, daß sich derKollege Uldall als wirtschaftspolitischer Sprecher garnicht in die Debatte eingemischt hat, obwohl er völliganderer Meinung gewesen ist als Sie.
Aus- und Weiterbildung müssen gerade im Bereichder mittelständischen Wirtschaft verstärkt werden. Alsrohstoffarmes Land müssen wir uns immer wieder be-wußt machen, daß Know-how der treibende Faktor un-seres Wohlstandes ist. Wir dürfen keineswegs zulassen,daß etwaiger Mangel an geeignetem Personal in diesemLand eine Wachstumsgrenze darstellt. Zum gegenwärti-gen Zeitpunkt kommt es aber durchaus vor, daßWachstumsunternehmen nicht das geeignete Personalfinden. Deshalb gilt es, einen Schwerpunkt genau in je-nen Bereichen zu setzen, in denen die Nachfrage ist, unddurch Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen schleunigstdie Lücke zu schließen.Wir brauchen mehr Facharbeiter für das Handwerk,und wir brauchen insbesondere mehr Ingenieure in die-sem Land. Ich verbinde es ausdrücklich mit einem Ap-pell an junge Menschen, sich den Ingenieurwissen-schaften zuzuwenden, weil im Bereich der neuen Tech-nologien eine große Chance für den zukünftigen Ar-beitsmarkt liegt. Sie sollten also als Berufsziel nicht nurden Einstieg in den öffentlichen Dienst wählen, in demdie Einstellung inzwischen ohnehin außerordentlichschwer ist, sondern dazu beitragen, daß im ingenieur-wissenschaftlichen Bereich ausreichend Arbeitskräfte indiesem Land zur Verfügung stehen.Das vierte Handlungsfeld sind die erneuerbarenEnergien. Wir werden mit dem Programm für 100 000Dächer und mit dem Energiesparprogramm dem Hand-werk einen zusätzlichen Arbeitsmarkt eröffnen. Es wirdein Netzwerk von Dienstleistern im Handwerk geben,die dazu beitragen, daß mehr Beschäftigung und neueImpulse in der mittelständischen regionalen Wirtschaftentstehen. Nicht nur, aber auch bei den Photovol-taikanlagen geht es in besonderem Maße um dieDienstleistungen des Handwerks, die zur Ergänzungbeitragen. Wir brauchen nicht nur eine Ausstiegsdebatte,sondern vor allem eine Debatte um den Einstieg in alter-native Energien, in Energieeinsparung und am Endeauch über die Grundlastsicherung mittels anderer Ener-gieträger.
Das fünfte Handlungsfeld ist die Außenwirtschafts-politik. Die derzeit angespannte weltwirtschaftliche La-ge und die damit geminderten deutschen Exportaus-sichten erfordern eine Intensivierung und ein besseresStream-lining der deutschen Außenwirtschaftsförderungsowie stärkere internationale wirtschaftspolitische Zu-sammenarbeit. Für uns ist es deshalb wichtig, daß auch
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in diesem Haushalt die Mittelstandförderung auf denExportmärkten und die Messeförderung voran getriebensowie die Auslandsaktivitäten der Außenhandelskam-mern weiter gefördert und konzentriert werden. Hiersind unverändert neue Märkte zu erschließen.Wer diese fünf Bereiche miteinander verzahnt, demwird es in den nächsten Jahren gelingen, daß überWachstum zusätzliche Märkte und neue Beschäftigungerreicht werden. Genau dies ist das Ziel der Wirtschafts-politik der gegenwärtigen Bundesregierung, dem dieserHaushalt abgestimmt entgegenkommt.
Ich erteile dem Kol-
legen Paul Friedhoff, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wir Freien Demokraten waren noch nieder Ansicht, daß man die Qualität der Wirtschaftspolitikam Umfang von Förderprogrammen des Wirtschaftsmi-nisteriums bemessen kann.Herr Schwanhold, Sie haben gerade wieder einflammendes Bekenntnis zum Mittelstand abgelegt. An-schließend haben Sie erzählt, welche Förderpro-gramme Sie alle machen. Sie haben darauf hingewie-sen, was Sie an wie vielen Stellen fördern. Offensicht-lich läßt sich alles durch Programme regeln. Zumindestich und viele der Kollegen haben diesen Eindruck ge-habt. Was der Mittelstand allerdings braucht, haben Sieim Grunde genommen überhaupt nicht behandelt. DerMittelstand braucht, um höhere Eigenkapitalquotenzu haben, nicht ein zusätzliches Programm, er brauchtniedrigere Steuern. Damit bekommt man höhereEigenkapitalquoten.
Insofern hat mich das, was Sie gesagt haben, wenigerbeeindruckt. Beeindruckt hat mich allerdings das, wasMinister Müller hier gesagt hat. Er hat bekannt – ich ha-be mir das aufgeschrieben –, die Revitalisierung derprivatwirtschaftlichen Kräfte sei sein Ziel. Ich bin si-cher, da wird er die volle Unterstützung nicht nur derFreien Demokraten, sondern auch der früheren Koalitionbekommen, denn damals war das unser Ziel. Wir hatteneher das Gefühl, daß das auf der anderen Seite des Hau-ses bekämpft wurde.Wenn Sie das mit dem in Verbindung bringen, wasHerr Schwanhold gesagt hat, nämlich daß man für diesesoder jenes ein Programm habe und daß dieses oder jenesganz besonders wichtig sei, so hat das mit Revitalisie-rung der privatwirtschaftlichen Kräfte relativ wenig zutun. Das ist relativ weit davon entfernt. Auch hier gibtes, glaube ich, wie an vielen anderen Stellen in der Ko-alition Abstimmungsbedarf.Dabei steht das Wirtschaftsressort im Mittelpunkt.Was wir von dort manchmal an tollen Sachen hören,auch das, was wir von Herrn Minister Müller hören,steht im Widerspruch zu dem, was anschließend getanwird. Insofern ist dieser Haushalt ganz sicher keinHaushalt zur Revitalisierung der privatwirtschaftlichenKräfte in diesem Land.
Die Qualität der Wirtschaftspolitik bemißt sich letzt-lich an den Investitionsbedingungen, an den Rahmenbe-dingungen für unternehmerisches Engagement. Einegute Wirtschaftspolitik muß Vertrauen schaffen, damitinvestiert wird und damit dann auch neue Mitarbeitereingestellt werden. Verunsicherung hat gerade in kleinenund mittleren Betrieben unmittelbare Auswirkungen aufden Personalbestand. Nicht daß dann sofort alle Mitar-beiter automatisch entlassen werden, das wird kein mit-telständischer Unternehmer ohne große Not tun. Aber esgibt eben keine Neueinstellungen, wenn man zum Bei-spiel zu Beginn des Jahres noch nicht einmal weiß, wel-che Steuerlast in diesem Jahr auf einen zukommt. Diesist kontraproduktiv.
Eine unberechenbare Wirtschaftspolitik schädigt denArbeitsmarkt. So ist es auch keine Überraschung, daßder von der rotgrünen Bundesregierung versprochenenachhaltige Aufschwung am Arbeitsmarkt ausbleibt undso, wie jetzt verfahren wird, auch nicht kommen kann.Es gibt keine Besserung bei der Beschäftigungssituation.Ganz im Gegenteil, die vorläufigen Zahlen des Statisti-schen Bundesamtes deuten darauf hin, daß die Anzahlder Erwerbstätigen seit November letzten Jahres rück-läufig ist, nachdem es von Februar bis Oktober 1998noch merkliche Zuwächse gegeben hat.
Wenn ich den Jahreswirtschaftsbericht, vorgelegt vomFinanzminister, richtig verstehe, dann erwartet er auchein weniger großes Absenken der Arbeitslosenzahlendieses Jahres gegenüber den Zahlen des vergangenenJahres, obwohl vorher davon gesprochen worden ist, dassei zu wenig, und an diesen Kennzahlen müsse man sichmessen lassen.Was Sie als zuständiger Minister mitzuverantwortenhaben, Herr Minister Müller, ist ein eklatanter Vertrau-ensverlust in die deutsche Wirtschaftspolitik. Investiti-onssicherheit und politische Berechenbarkeit haben im-mer zu den ganz wichtigen Standortbedingungen unse-res Landes gezählt. Davon kann man nach hundertTagen rotgrüner Regentschaft nicht mehr viel sehen.Nach einer Untersuchung der Allensbacher Mei-nungsforscher ist es bisher noch keiner Bundesregierunggelungen, die Wirtschaft in ein ähnliches Maß an Ver-bitterung und Distanz gegenüber der Politik zu treibenwie der Regierung Schröder.
Die Kammervertretungen in unseren Nachbarländernverzeichnen nach Auskunft des DIHT einen regelrechtenAnsturm deutscher Unternehmen. Die Unternehmen imInland zeigen, so der DIHT weiter, eine erheblich gerin-Ernst Schwanhold
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1620 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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gere Investitionsbereitschaft als noch im September/Oktober 1998.Die Bundesbank teilt in diesen Tagen in ihrem neue-sten Monatsbericht mit, daß das Bruttoinlandsproduktim vierten Quartal 1998 gegenüber dem dritten Quartalreal gesunken ist, zum erstenmal seit drei Jahren. AlsUrsache für den Wachstumsrückgang benennt dieBundesbank zwei Gründe: den Nachfrageausfall in denWirtschaftskrisenregionen der Welt, der den deutschenExport beeinträchtigt, und – ich zitiere wörtlich –:Zum anderen haben sich aber auch die Unsicher-heiten über die wirtschaftlichen und wirtschafts-politischen Perspektiven im Inland verstärkt.Der Auftragseingang aus dem Inland geht bei denheimischen Investitionsgüterproduzenten zurück. Ichhalte das für ein alarmierendes Zeichen.Die Unternehmen stellen ihre Investitionen zurück– das ist eindeutig –, insbesondere im Osten, wo jetztdurch die Ökosteuern zusätzlich höhere Energiekostenauf sie zukommen. Die Bundesbank sieht dafür wieder-um zwei Gründe als ursächlich an. Ich zitiere erneut:Zum einen wird befürchtet, daß es nach einigenJahren der Lohnzurückhaltung nun zu überhöhtenLohnabschlüssen kommt. Zum anderen sehen vieleUnternehmen eine höhere Steuerbelastung auf sichzukommen.Wir reden nicht nur davon, Herr Schwanhold und HerrMinister, daß die Unternehmen dies so sehen. Sie lesendas, was Sie produzieren. Sie verfolgen die Diskussio-nen in Ihren Reihen, und sie kommen zu demselben Er-gebnis wie wir.Meine Damen und Herren, wir reden hier in der Tatnicht über die Auswirkungen der Asien- und Rußland-krise, sondern über die Auswirkungen der StandortkriseRotgrün.
Wir reden hier über hausgemachte katastrophale Fehlerin der deutschen Wirtschaftspolitik.Man muß Ihnen, Herr Minister Müller, zugute halten,daß Sie gelegentlich durchaus einiges versucht haben,etwa mit Ihren Äußerungen zur Lohnpolitik im Dezem-ber – diese fand ich ganz vernünftig – oder mit Ihremnur zu berechtigten Hinweis in diesem Monat, daß wirheute keine endgültige Aussage zur langfristigen Nut-zung der Kernenergie treffen können. Denn nur ver-blendete Ideologen können sich anmaßen, technologi-sche Entwicklungen für alle Zeiten auszuschließen.Warum aber haben Sie Ihre Überzeugungen nicht stand-haft vertreten, statt schon nach 48 Stunden wie wild zu-rückzurudern?Herr Minister Müller, Sie sind politisch nicht starkgenug, um sich mit solchen sachlichen Einwänden in derrotgrünen Koalition Gehör zu verschaffen.
Sie schaffen es nicht, eigene Akzente in konkrete Politikumzusetzen. Das zeigt auch der vorliegende Haushalt.Sie haben so dem Finanzminister das Feld überlassen,der weiterhin unbeirrbar mit seinen postkeynesianischenTrommlern durch die Lande zieht. Und die Melodie, sodissonant sie auch klingt, findet Beachtung.Oskar Lafontaine kündigt das Ende der Bescheiden-heit bei den Lohnabschlüssen an, und die Gewerk-schaften lassen sich nicht lange bitten. Eine auf dieLaufzeit des Tarifvertrages berechnete Lohnerhöhungvon 4,2 Prozent in der Metall- und Elektrobranche liegtweit außerhalb des gesamtwirtschaftlich Verantwortba-ren.Besonders verheerend ist, daß der Lohnzuwachs nichtabhängig von den einzelnen Betrieben gestaltet werdenkann. Der kleine mittelständische Betrieb mit einemhohen Arbeitskostenanteil wird also genauso behandeltwie Daimler-Chrysler als kapitalintensiv produzierendesGroßunternehmen. Die längst überfällige Öffnung derTarifpolitik hin zu den Betrieben ist wieder einmal ver-hindert worden. Die IG Metall stellt dies als größtenVerhandlungserfolg heraus, weil sie damit ihre eigeneMachtposition verteidigt hat.Das Resultat ist eindeutig: Die Tarifvertragsparteienhaben sich erneut auf eine Lösung zu Lasten der kleinenund mittleren Betriebe und zu Lasten der Arbeitsplätzeverständigt. Was schon als Gesamtlösung im Südwestenzu teuer ist, soll jetzt auch für die neuen Länder gelten.Dies kann nicht gutgehen. Das Ende der Bescheidenheitin der Lohnpolitik wird insbesondere den personalinten-siven Mittelstand treffen. Es wird genau die Betriebetreffen, die in den letzten Jahren neue Arbeitsplätze ge-schaffen haben. Die Bundesregierung trägt hierfür diepolitische Verantwortung. Was nützt also all das Fabu-lieren über das „Bündnis für Arbeit“, wenn niemand inder Bundesregierung für eine beschäftigungsorientierteLohnpolitik eintritt?
Herr Kollege Fried-
hoff, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Jens?
Natürlich.
Herr Kollege Friedhoff, um
Sie ein bißchen von Ihrem Manuskript abzubringen und
damit es hier ein wenig lustiger wird,
möchte ich Sie fragen: Können Sie bestätigen – wie es
das Ifo-Institut festgestellt hat –, daß die mittelständi-
schen Unternehmen im Rahmen der Steuerreform, die
wir heute mit diskutieren, um etwa 3 Milliarden DM
entlastet werden, während die großen deutlich stärker
belastet werden, so daß auf diese Weise das eintritt, was
Sie soeben gefordert haben: Chrysler zahlt mehr, und die
kleinen Unternehmen zahlen weniger?
Herr Kollege Jens, wennSie sich die Gesamtdaten ansehen, dann werden Sie zudem Ergebnis gelangen: Erstens. Die deutsche Wirt-Paul K. Friedhoff
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schaft wird stärker belastet. Zweitens. Wenn Sie etwasin der Steuerpolitik verändern, werden Sie immer an dereinen Stelle Verbesserungen – wenn Sie es aufkom-mensneutral gestalten – und an der anderen Stelle Ver-schlechterungen haben. Das, was Sie beklagen, nämlichdie hohen Lohnnebenkosten und die hohe Steuerlast fürden Mittelstand, die auch wir alle beklagen, werden Sienicht dadurch wettmachen, daß Sie punktuell einigeneine Kleinigkeit geben, während Sie unter dem Strichandere erheblich belasten.Ich möchte Ihnen – ich habe das im Wirtschaftsaus-schuß mehrfach getan – hier auch deutlich machen:Wenn Sie zum Beispiel die Ökosteuer und ihre Auswir-kungen ernsthaft betrachten, dann werden Sie feststel-len, daß es sehr viele Verlierer im Mittelstand gebenwird. Die Leute wissen das, weil sie es selber durchge-rechnet haben.
Daß Sie mit Ihren Maßnahmen andere möglicherwei-se streicheln, ist mir klar. Das war auch das Ziel der Ak-tionen, die Sie zu Beginn Ihrer Regentschaft letzten Jah-res durchgepeitscht haben und mit denen Sie alle Spar-maßnahmen rückgängig gemacht haben, die wir durch-geführt haben. Man kann es so machen, aber es ist gene-rell falsch.Ich will mit meiner Rede fortfahren: Herr Lafontaineläßt sich offenbar nicht beirren. Der anhaltende politi-sche Druck auf die Europäische Zentralbank trägtnach Überzeugung vieler Analysten zur aktuellenSchwäche des Euro bei. An den Finanzmärkten drohtder Euro an Vertrauen zu verlieren. An der Spitze dieserBewegung steht ausgerechnet die deutsche Bundesregie-rung, die international immer als standhafter Vertreterder Währungsstabilität galt.Herr Wirtschaftsminister Müller, fragen Sie docheinmal in Ihrem Hause nach, wer von Ihren Expertendiesen Vulgärkeynesianismus befürwortet? Was werdenIhnen Ihre Mitarbeiter, die zumindest zum Teil noch ausder alten Legislaturperiode stammen, auf diese Frageentgegenhalten? – Ich kann mir nicht vorstellen, daß ei-ne solche Politik Ihre Billigung und die Ihres Hausesfindet und Sie dagegen nicht stärker vorgehen. GehenSie doch auf den Bundeskanzler zu – Sie haben doch ei-nen guten Draht zu ihm –, damit er der verheerendenPolitik seines Finanzministers Einhalt gebietet. Es istschon zuviel Porzellan zerschlagen worden.
Ich komme zum Schluß. Die Wirtschaftspolitik derrotgrünen Bundesregierung fährt, wie ich finde, zwei-gleisig: Der Wirtschaftsminister will möglicherweise dasRichtige und traut sich leider nicht. Der Finanzministerwill mit Sicherheit das Falsche, aber er traut sich leideralles. Ich fürchte, die Resultate für den Wirtschafts-standort Deutschland und die Arbeitsplätze in unseremLand werden unsere Warnungen mehr als bestätigen.
Gestatten Sie noch
eine Zwischenfrage der Kollegin Skarpelis-Sperk?
Gerne.
Herr Kollege
Friedhoff, Sie haben eben für die leichte Schwäche des
Euro die gegenwärtige Bundesregierung schuldig ge-
sprochen. Heißt das, daß Sie für die massiven Wäh-
rungskrisen der Vergangenheit – so weit wäre ich nicht
gegangen – wie die Peso-Krise 1995, die Asienkrise
1997, die Rußlandkrise 1998 und jetzt die Brasilienkrise
auch die früheren Bundesregierungen haftbar machen?
Oder sind Sie der Überzeugung, daß Währungskrisen
ein bißchen komplexere Probleme darstellen?
Wenn Sie zugehört hätten,
dann hätten Sie vernommen, daß ich die Bundesregierung
und Aussagen von Herrn Lafontaine in dieser Richtung da-
für mit verantwortlich gemacht habe. Dabei bleibe ich. Ich
bin felsenfest davon überzeugt, daß Sie in der Zwischenzeit
allerdings eines mit in Ihre Überlegungen aufnehmen soll-
ten: Ich rede nicht von einer Veränderung des Verhältnisses
zwischen D-Mark und Dollar, sondern von der des Ver-
hältnisses zwischen Dollar und Euro. Der Euro ist mit dem
Ziel eingeführt worden, daß wir mit ihm stabilere Wechsel-
kurse erhalten, weil wir dann einen wesentlich größeren
Wirtschaftsraum haben, Wenn Sie die Ausschläge in die-
sem wesentlich größeren Wirtschaftsraum einmal auf eine
Situation übertragen würden, in der wir nur noch die DM
hätten, dann – das kann ich mir vorstellen – wäre das noch
viel kräftiger. Dafür sind diese Politik der Bundesregierung
und insbesondere die Äußerungen des Finanzministers mit
verantwortlich. Dabei bleibe ich.
Ich komme zum Schluß. Es ist höchste Zeit, zu einer
seriösen Wirtschafts- und Steuerpolitik zurückzukehren.
Nötig ist eine Steuerreform aus einem Guß mit einer
spürbaren Nettoentlastung für Betriebe und Arbeitneh-
mer, nötig ist die Flexibilisierung der Tarifpolitik, und
nötig sind Lohnabschlüsse unterhalb des Produktivitäts-
fortschritts. Nur wenn das geschieht, kann ein wirklich
nachhaltiger Aufschwung am Arbeitsmarkt erfolgen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun dieKollegin Margareta Wolf, Bündnis 90/Die Grünen.Margareta Wolf (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damenund Herren! Herr Friedhoff, ich halte Sie durchaus füreinen interessanten Gesprächspartner. Aber Sie wärennoch wesentlich interessanter, und Sie täten gut daran,wenn Sie einmal die Realitäten zur Kenntnis nehmenwürden. Es ist richtig, daß der Mittelstand niedrigereSteuern braucht.
Paul K. Friedhoff
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1622 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Wir sind vier Monate im Amt, während Sie 30 Jahre inder Regierung waren. Sie sind abgewählt worden, weilSie den Mittelstand zum Lastesel dieser Republik ge-macht haben und weil Sie eine Gerechtigkeitslücke indiesem Land aufgerissen haben.
Mit Verlaub, Herr Kollege, ich halte es für eine poli-tische Stilfrage, nach so langer Zeit bei der Einbringungdes ersten Haushaltes des neuen Wirtschaftsministersnichts dazu zu sagen, daß unter Ihrer Regierung die Ar-beitslosigkeit einen Höchststand erreicht hat, daß in derBevölkerung die Akzeptanz der sozialen Sicherungssy-steme abgenommen hat, daß auch die Belastbarkeit dersozialen Sicherungssysteme zurückgegangen ist und daßdie Arbeit noch nie so teuer wie unter Ihrer Regierungwar. Mit diesen Ergebnissen sind wir heute konfrontiert.Arbeit ist so teuer geworden, daß sie wegrationalisiertworden ist. Ich hätte mir gewünscht, daß Sie dazu undauch zu der immens hohen Staatsverschuldung, unterder wir jetzt leiden, etwas sagen. Verehrter Herr Kolle-ge, dies waren die Voraussetzungen, unter denen wirdiesen Haushalt aufgestellt haben.Ich möchte noch eine Bemerkung zu Ihrer Behaup-tung machen, der Mittelstand werde durch die Steuerre-form mehr belastet. Herr Friedhoff, welche Regierunghat schon einmal eine Unternehmensteuerreform miteinem Spitzensteuersatz, der einheitlich bei 35 Prozentinklusive der Gewerbesteuer liegt, andenken lassen undunterstützt? Wie lange haben Sie denn gebraucht, um dieGewerbekapitalsteuer zu streichen? Sie haben drei Jahregebraucht, während wir schon nach vier Monaten eineUnternehmensteuerreform vorlegen können, verehrterHerr Kollege.
Unsere Politik setzt auf Dialog, auf Kooperation, aufEigenverantwortung, auf Innovation und auf neue Un-ternehmenskultur. Dadurch werden wir neue Arbeits-plätze in diesem Lande schaffen. Sie sind abgewähltworden, weil Sie zu dieser Einsicht nicht fähig waren.Ich möchte noch eine Bemerkung zu Herrn Börnsenmachen. Herr Börnsen, Sie halten seit vier Monaten Re-den zu dem Thema „Angebot versus Nachfrage“. Auchdie Frau Gemahlin des Herrn Lafontaine wird in diesemZusammenhang gern bemüht. Der Sachverständigenrathat Ihnen schon vor zwei Jahren aufgeschrieben: Es gehtum Policy-Mix. Wenn Sie das begreifen, dann könnenwir in diesem Parlament gemeinsam über Strategienzum Abbau von Arbeitslosigkeit diskutieren.Der Haushalt des Herrn Wirtschaftsministers zielt aufdie Wettbewerbsfähigkeit kleiner und mittlerer Unter-nehmen. Kleine und mittlere Unternehmen müssen sichdem Wettbewerb auf den Weltmärkten zunehmend stel-len. Hierauf zielt dieser Haushalt.Ich finde im Einzelplan 09 das 100 000-Dächer-Programm ganz bemerkenswert.
– Das weiß ich wohl, Herr Kollege Austermann. Es istauf zehn Jahre angelegt.
– Hören Sie doch einmal zu! – Es ist das erste Pro-gramm, das unbürokratisch angelegt ist und das aufkontinuierliche Markterweiterung setzt.Ich finde wichtig, daß die KfW in diesem Programmdas Risiko übernimmt, so daß die üblichen Probleme be-züglich der Hausbanken, die wir aus allen Programmenkennen, vermieden werden. Das ist absolut beachtlich.
Weitere Haushaltstitel, die wir für begrüßenswerthalten, sind die Titel „Beteiligungskapital für Technolo-gieunternehmen“ und „Forschungskooperation und In-novationskompetenz stärken“. Sie wissen, daß wir inDeutschland nur durch Investitionen in Forschung undEntwicklung, durch Kooperation zwischen Forschungs-institutionen, durch Forschung und Entwicklung inGroß- und Kleinunternehmen tatsächlich auf ein Spit-zenniveau bei den Innovationen kommen. Wir sind beiden Innovationen doch zurückgefallen.
– Mein lieber Herr, Sie verstehen überhaupt nichts vonInnovationen. Brüllen Sie deshalb nicht so dazwischen!
Forschungskooperation ist für uns ein Instrument zurErhöhung des Innovationspotentials in diesem Land.Das brauchen wir dringend.Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Politikder weitreichenden unüberschaubaren Subventionenwurde in den letzten Jahren ungebremst fortgesetzt. Be-kannt ist, daß sich dadurch die Haushaltslage der öffent-lichen Haushalte immer weiter verschlechtert hat. Aus-gabenkürzungen fanden vornehmlich im sozialen Be-reich statt.Mit dem vorliegenden Haushaltsentwurf wird in derLuftfahrtforschung ein kleiner, aber wie ich finde, sehrnotwendiger Schritt hin zum Subventionsabbau getan.Man geht hier jetzt von „public private partnership“ aus.Wir begrüßen diesen Schritt ausdrücklich. Wir müssenaber genau diesen Weg des Subventionsabbaus konti-nuierlich fortsetzen. Wir brauchen endlich ein Subven-tionsvergabeverfahrengesetz, das Subventionen trans-parenter macht, das Vertrauen in den Staat wieder stärktund Subventionen verringert. Ich glaube, daß Subventi-onsabbau auch im Interesse der Zukunftsfähigkeit derUnternehmen und im Interesse des Gemeinwesens ist.Darüber hinaus führt er auch zu einer Senkung derStaatsquote. Der Minister hat es angesprochen.Margareta Wolf
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1623
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Ich möchte darauf hinweisen, daß die Eigenkapital-quote der Unternehmen trotz der zahlreichen Förder-programme – Kollege Schwanhold hat es gesagt – in denletzten Jahren dramatisch gesunken ist. Wir sollten unsdarüber Gedanken machen, ob nicht vielleicht für diesedramatische Eigenkapitalsituation sowie die kaum aus-geprägte Beteiligungs- und Wagniskapitalkultur inDeutschland die Tatsache verantwortlich ist, daß wirviel zu lange auf Fremdfinanzierung gesetzt haben.
Kollegin Wolf, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schauerte?
Margareta Wolf (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Ja, gerne.
Verehrte FrauKollegin, Sie haben gerade so begeistert davon gespro-chen, daß in diesem Haushalt Subventionsabbau wahrwerden sollte. Können Sie das wirklich ernsthaft vordem Hintergrund vertreten, daß Sie in dem Zukunftsbe-reich Raum- und Luftfahrt, in dem ja wirklich viele In-novationen stattfinden und der ganz bedeutend für unssein wird, deutlich kürzen und in einem Bereich, dereher der Vergangenheit angehört, dem CO2-ProduzentenKohle, die Subventionen um 700 Millionen DM erhö-hen? Halten Sie diese Art von Subventionsabbau wirk-lich für modern und zukunftsweisend?
Margareta Wolf (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Verehrter Herr Kollege, erstens erhöhen wirdie Subventionen für den Kohlebereich nicht, sondernführen das aus, was Sie nach dem Kohlekompromiß von1997 versäumt haben. Wir nehmen nämlich den Kohle-kompromiß ernst
– hören Sie doch einmal zu! – und stellen die Zahlen imHaushalt ein, die Sie, um die Maastricht-Kriterien zu er-füllen, nicht eingestellt haben.Zweitens ist eine 20prozentige Beteiligung an derLuftfahrtforschung angemessen. Ich halte den Megali-ner Airbus 3XX für ein Produkt, das tatsächlich markt-fähig ist und sich international verkaufen läßt. Ich den-ke, daß bei so einer innovativen Technologie – –
– Nein, dieses wird im Moment erforscht, Herr KollegeAustermann; es handelt sich aber auch um Luftfahrtfor-schungsgelder und nicht um Produktionsgelder.
– Er wird dann marktfähig sein, wenn sich das Konsor-tium auf europäischer Ebene endlich einmal zusammen-schließt. Ich halte eine Beteiligung bei der Entwicklungvon Produkten, bei denen es heute schon absehbar ist,daß sie marktfähig sein werden, in Höhe von 20 Prozentunter Hinzuziehung der Länder und der Industrie mitentsprechenden Anteilen für absolut angemessen.Abschließend möchte ich sagen: Sie haben in denletzten Jahren immer nur von Subventionsabbau geredet.Es steht in Ihren Programmen, allen voran im Programmder verehrten Partei ganz rechts. Sie haben aber nie ir-gendein Programm gekürzt oder herausgeschmissen. Siehaben immer nur draufgelegt. Die Konsequenz ist, daßwir jetzt die Programme zusammenfassen und transpa-renter machen müssen. Fragen Sie doch einmal denMittelstand, welche Fehlallokationen Sie durch Ihre ko-mischen Aufblähungen der Förderprogramme in denletzten Jahren tatsächlich produziert haben.
Ich glaube, daß eine Rückführung von Subventionen,eine zeitliche Begrenzung und eine außerordentlichdeutliche Zielorientierung von Förderprogrammen zueiner Stärkung der Aktienkultur und zu einer Stärkungder Beteiligungskultur in Deutschland führen können.Ich komme zu einem weiteren Punkt. Wir brauchendiese neue Aktienkultur auch zur Sicherung und Moder-nisierung unserer sozialen Sicherungssysteme. Die Poli-tik ist gefordert – dies sage ich, um an Ludwig Erhardanzuknüpfen –, die Rahmenbedingungen dafür zu set-zen, daß der Bevölkerung mehr Spielraum für die Bil-dung von Vermögen bleibt. Unter der Prämisse einernachhaltigen Haushaltspolitik ist es die Aufgabe desStaates, die Rahmenbedingungen für mehr Eigenver-antwortung aller gesellschaftlichen Akteure zu setzen.Zu diesem Kontext gehört die Rentenstrukturre-form. Wir als Wirtschaftspolitiker müssen eine Debattedarüber führen – auch in Erwartung des BVG-Urteils imHerbst –, wie Subventionen zugunsten der steuerlichenFreistellung aller Vorsorgeaufwendungen abgebaut wer-den können. Damit erzielen wir folgende Effekte: Wirversetzen die Bevölkerung in die Lage, mehr Vermögenfür die private Altersvorsorge aufzubauen. Wir erreichenden zweiten Effekt, daß es Anreize für die Beteiligungs-kultur in diesem Land gibt, weil mehr Vermögen in denHänden der Menschen verbleibt. Der dritte Effekt ist,daß viele Kleingewerbetreibende und Selbständige, diesich heute über ihre Belastung beklagen, weil sie sowohlden Arbeitgeber- als auch den Arbeitnehmeranteil an dieSozialversicherung abführen, nur noch einen Beitragzahlen und somit gegenüber Arbeitnehmern nicht mehrbenachteiligt sind.Ich halte diese Initiative für sehr vorwärtsweisend.Sie ist ein deutliches Zeichen der Wirtschaftspolitik fürdie Modernisierung und weist auf einen Strukturwandelunseres Sozialstaates hin.
– Nein, der Minister will nicht das Gegenteil. Ichmöchte mit Ihnen ernsthaft über dieses Thema diskutie-ren, und Sie können anscheinend nur Mätzchen nachMargareta Wolf
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dem Motto „Wir spalten die Koalition, und dann wird esrichtig lustig“ aufführen, auch wenn das Thema keinenAnlaß dazu bietet. Ich möchte Sie darauf hinweisen,Herr Hinsken, daß Ihre alte Koalition in den letzten dreiJahren in einem völligen Stillstand verharrt war, weil Siesich mit den Kollegen ganz rechts im Hause nicht eini-gen konnten. Hören Sie doch endlich mit diesen Mätz-chen auf!
Die Wirtschaftspolitik von Bündnis 90/Die Grünenorientiert sich ganz eng an den Fragen: Wie können wirendlich eine Kultur der Selbständigkeit in diesem Landevozieren? Was können wir tun, damit durch eine neueUnternehmenskultur neue Arbeitsplätze geschaffenwerden? Wie können wir es vermeiden – diesen Punkthat Gerhard Schröder gestern schon angesprochen –, daßneue Arbeitsplätze durch Überregulierung in diesemLand verhindert werden und Arbeitswillige deswegenbei ihrer Arbeitssuche scheitern? Über diese Fragenwerden wir nachdenken.In den nächsten Wochen und Monaten werden wir ineinen Dialog mit den Modernisierern der Unterneh-mensverbände, mit jungen Unternehmern, mit Mittel-ständlern, aber auch mit Vertreterinnen und Vertreternaus der zweiten Reihe der Gewerkschaften und der Wis-senschaft führen. Wir müssen über die Frage diskutie-ren, wie man Bürokratiekosten abbauen kann. Bürokra-tie bedeutet gerade für kleine und mittlere Unternehmenvor allen Dingen Kosten.
Bürokratie schreckt Existenzgründer ab. Unterhalten Siesich einmal mit Hochschulabsolventen, die sich selb-ständig machen wollen! Dann werden Sie feststellen,daß sie dann schon die Krise bekommen, wenn sie dasAntragskonvolut bewältigen müssen.Wir müssen uns zum zweiten darüber unterhalten –Herr Hinsken, ich werde Ihnen nicht den Gefallen tun,heute über die Handwerksordnung zu reden –, ob dasKammerwesen, so wie es zur Zeit gestrickt ist, nochzeitgemäß ist und ob es noch die Dienstleistungsfähig-keit und die Beratungskompetenz hat, um den Wettbe-werbsbedingungen in Europa und weltweit gerecht zuwerden.Wir müssen uns auch darüber Gedanken machen, obdie Verfaßtheit der Berufsgenossenschaften – keinWettbewerb, keine Wahlfreiheit – noch zeitgemäß ist.Zu diesem Punkt hören wir sehr viele Klagen. Ich neigedazu, zu sagen, daß man zwar versichert sein muß, daßes aber Wahlfreiheit geben muß. Es kann nicht sein, daßin den Unternehmen die Zahl der Unfälle um 50 Prozentsinkt, die Beiträge aber teilweise um 400 Prozent stei-gen. Das führt nicht zu einer neuen Unternehmenskulturund vor allen Dingen nicht zu mehr Selbständigkeit.
– Ich wollte doch nicht über die Handwerksordnung re-den, Herr Hinsken.Drittens. Um mehr Arbeitsplätze zu schaffen, brau-chen wir dringend die Kooperation zwischen Wirtschaftund Hochschulen, sowie zwischen Wirtschaft undSchulen. Wir haben in Deutschland ein Qualifikations-leck. In meiner Heimatstadt Frankfurt gibt es ein Defizitan Ingenieuren, die EDV-Kenntnisse haben. Leute mitsolchen Kenntnissen würden eingestellt. Es würden auchFinanzdienstleister eingestellt, wenn es dieses Potentialgäbe. Hier ist die Wirtschaft gefordert, Kooperationenmit der Wissenschaft einzugehen, um die Ausbildung inSchule und Hochschule etwas mehr an die Anforderun-gen unserer Gesellschaft anzupassen.
Auf der Tagesordnung steht ein Konzeptdialog zwi-schen Gesellschaft und Wirtschaft. Wir müssen denVertrauensverlust, den die Wirtschaft in den letzten Jah-ren erlitten hat, ausgleichen und Vertrauen wiederauf-bauen. Ich denke, der Haushalt setzt deutliche Zeichenin diese Richtung. Mit der Unternehmensteuerreformschaffen wir ein zentrales Instrument zur Entlastung derUnternehmen, das Investitionen klar planbar macht unddas die massive Investitionszurückhaltung mit den ar-beitsplatzpolitischen Effekten abbaut. Wir setzen aufamerikanisches Bilanzrecht. Wir verdoppeln die Freibe-träge bei der Gewerbesteuer, und wir setzen auf dieGleichbehandlung von Eigenkapital und Fremdkapital.Ich bin überzeugt: Wenn wir diesen Weg, wie ich ihnbeschrieben habe, mit weniger handwerklichen Fehlernweitergehen, zusammen mit dem Bundeswirtschaftsmi-nisterium, dann werden wir zu mehr Beschäftigung inDeutschland kommen, dann wird der Ruck durch dieseGesellschaft gehen, und dann werden wir auch neue, zu-kunftsfähige Arbeitsplätze in einer Größenordnung vonmehreren Hunderttausend in diesem Land schaffen. Siewerden sehen: Sie werden sich an diese Worte noch er-innern.Danke schön.
Das Wort hat nun
Kollege Rolf Kutzmutz, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Es versteht sich, daß sich Slogans undWerbetitel wie „Wir machen nicht alles anders, abervieles besser“ auch an Haushaltszahlen messen lassenmüssen. Diese Zahlen – das will ich gleich zu Beginnsagen – rechtfertigen weder die Aufregung beiCDU/CSU und F.D.P. noch die zum Teil deutlich ge-wordene Selbstzufriedenheit der Damen und Herren derneuen Koalition.
Das Zahlenwerk, vergleicht man die Waigelschen An-sätze mit den heute vorgelegten – das ist doch völlig le-Margareta Wolf
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1625
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gitim; man muß diese Zahlen miteinander vergleichen –,ist für beide Reaktionen keine ausreichende Erklärung.Deshalb bin ich der Auffassung, daß es gerade bei derHaushaltsdebatte um Redlichkeit sowohl bei der Kritikals auch bei den Vorschlägen geht. Wer also, wie Sievon der CDU/CSU und der F.D.P. es vorhin getan ha-ben, den Mangel an Konjunktur beklagt, muß sehen –bei aller Kritik, die ich an der neuen Regierung habe –:Das geht seit acht Monaten so, und die neue Regierungist erst seit vier Monaten im Amt. Das heißt, das hatschon zu Ihrer Zeit begonnen.
– Das kann man nachlesen.Ich leugne keinesfalls die durchaus positiven Verän-derungen, die im Haushalt festzustellen sind, so die Er-höhung bei der Gemeinschaftsforschung oder auch dieSicherung der Forschungskooperationen. Möglicherwei-se sind zu den positiven Ansätzen auch „Innonet“ unddie Fremdenverkehrsförderung zu zählen.Zu einer ganzen Reihe anderer Positionen – da gehtes um die wirtschaftspolitische Rahmensetzung, die er-folgen soll – muß ich aber sagen: Vieles erscheint neu,weniges anders, geschweige denn besser. Da versprichtdie Regierung in ihrem Arbeitsprogramm 1999, eine zu-kunftsfähige Energieversorgung ohne Atomkraft zugewährleisten. Und was kommt? Ein Leertitel für dieSuche nach neuen atomaren Endlagern. Statt der nochim Januar versprochenen dreistelligen Millionenbeträgeaus der Ökosteuer für die Markteinführung regenerativerEnergien gibt es ganze 2 Millionen DM mehr als beiHerrn Waigel.Hinzu kommt: Im Januar sind wir noch von 11,3Milliarden DM Einnahmen durch die Ökosteuer ausge-gangen. Gestern sind wir im Finanzausschuß bei 8,4Milliarden DM gelandet. Da frage ich mich schon: Wo-her soll denn da der Spielraum kommen, um Verände-rungen herbeizuführen, wie sie vorhin angekündigt wor-den sind?Die schon bisher läppischen Zuschüsse für die Bera-tung zu rationeller Energieverwendung kürzen Sie vonder neuen Koalition gegenüber der verflossenenschwarzgelben sogar um 7 Prozent. Das vielgepriesene1,1 Milliarden DM schwere Solarprogramm startet mit1 Million DM und gänzlich ungewissen Haushaltsrisi-ken nach 2005.Was Sie hier bei Kernkraft und ökologischem Umbauveranstalten, meine Damen und Herren von der Koaliti-on, ist kein Umstieg. Solange Sie hier nicht das Gegen-teil beweisen, sage ich: Es ist nichts anderes als ein Aus-stieg aus dem Ausstieg.Ähnlich enttäuschend ist die erste Bilanz der Finan-zen für den Aufbau Ost. Staatsminister Schwanitz ziehtzwar weiter durch die Lande und verkündet, daß andersals unter früheren Staatssekretären der Aufbau Ost aufhohem Niveau fortgesetzt werde. Aber betrachtet manden Wirtschaftsetat und sein Umfeld, so erweist sich derstrahlende Ministerehrentitel als hohles Blech.
Auch ein Staatsminister konnte nicht verhindern– oder er hat es nicht mitbekommen; beides wäre glei-chermaßen schlimm –, daß der oberste Kassenwart, HerrLafontaine, 550 Millionen DM Zinszuschüsse für dieFörderung kleiner und mittlerer Unternehmen der neuenLänder einspart. Die gesamte ERP-Förderung kommtdamit in finanziell gefährliches Fahrwasser. Darüberhinaus gibt es im Wirtschaftsministerium – anders alsnoch im letzten Jahr unter Waigel und Rexrodt – keinespezielle Förderung von ostdeutschen kleinen und mit-telständischen Unternehmen mehr –
und dies, ohne die allgemeine KMU-Förderung aufzu-stocken, obwohl doch niemand bestreiten kann, daß die-ser letzte Arbeitsplatzmotor in West und Ost stottert.Wenn Frau Wolf gesagt hat, daß der Haushalt darauf ab-zielt, die Position des Mittelstandes zu verbessern, dannmöchte ich entgegnen: Wir sollten bei künftigen Bera-tungen eine Flasche Zielwasser mitnehmen; denn sonstgeht es wirklich daneben.
Das gilt übrigens auch für die Absatzförderung Ost.Ich will Sie, meine Damen und Herren von der neuenRegierung, die hier sitzen, nur daran erinnern, wie wort-reich Sie in der Vergangenheit gerade für die Absatzför-derung ostdeutscher Produkte gekämpft haben. Nur zurErinnerung: 1995 gab es dafür noch über 51 MillionenDM. Diesmal sollen es – wie bei Herrn Waigel – nur20 Millionen DM sein.Denselben Widerspruch zwischen einstigen Wortenund heutigen Taten müssen wir bei der Gemeinschafts-aufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschafts-struktur“ in West wie Ost feststellen. Hier befinde ichmich im Gegensatz zu Herrn Minister Müller, der dasvorhin angesprochen hat. Denn im Westen verharren dieMittel für diese Gemeinschaftsaufgabe auf einem derartniedrigen Niveau, daß sich inzwischen die Frage nachAufwand und Nutzen stellt. Auch die Mittel für die Ost-GA wurden gegenüber dem Waigel-Entwurf um keineMark angehoben, obwohl die Bundesregierung dochweiß, daß beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommernzur Zeit bewilligungsreife Anträge in Höhe von etwa1,9 Milliarden DM vorliegen. Sie können aber wegenfehlender Finanzmittel nicht beschieden werden. Ichsehe die Gefahr, daß es auch niemals dazu kommenwird. Gab es 1997 für Mecklenburg-Vorpommern noch316 Millionen DM GA-Mittel, so sollen es in diesemJahr nur noch gut 248 Millionen DM sein. Zumindestfür das nordöstliche Bundesland können wir Demokrati-schen Sozialistinnen und Sozialisten aber versichern,daß eine Erhöhung der Bundesmittel nicht an fehlendenKomplementärmitteln des Landes scheitern wird. Alsohier ist Bewegung angesagt, meine Damen und Herrenvon der Koalition.
– Vielleicht ist das gar nicht so dumm, Herr Schwan-hold; Sie sollten das noch einmal ganz laut für das ganzeHaus sagen.Rolf Kutzmutz
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1626 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Was ich gesagt habe, muß auch für die Wismut-Sanierung gelten. Was Sie sich dort erlauben, istschlicht skandalös. Noch für den Haushalt 1998 bean-tragten die Sozialdemokraten – völlig zu Recht – eineErhöhung der Mittel um über 50 Millionen DM. Jetztreichen angeblich plötzlich 80 Millionen weniger, als fürdas letzte Jahr gefordert wurde. Sie planen damit, mit10 Millionen DM weniger auszukommen, als die Spar-kommissare Waigel und Rexrodt in diesem Jahr für un-bedingt erforderlich hielten. Sie haben deren Vorgehenim vergangenen Jahr kritisiert. Es besteht doch über-haupt keine Notwendigkeit, genau das Gegenteil vondem zu tun, was Sie bisher vertreten haben. Also auchhier ist Überlegung erforderlich.
Mit diesem Kurs gefährden Sie nicht nur das 1991durch den Bundestag verbriefte Recht der Menschenzwischen Ronneburg und Aue, in absehbarer Zeit nichtmehr unter den ökologischen Folgen des atomaren Rü-stungswettlaufes leiden zu müssen. Wo findet sicheigentlich die von Staatsminister Schwanitz gegebeneZusage im Etat wieder, 2 Millionen DM für die Gesell-schaften für Arbeitsförderung Wismut Ostthüringen undWismut Sachsen bereitzustellen? Mit diesem bescheide-nen Betrag könnten Sie über 1 000 Menschen in Lohnund Brot halten. Diese Arbeitsbeschaffungs- und Struk-turfördergesellschaften zu schließen, ja selbst sie einfachumzuwidmen würde eine Verschleuderung von beachtli-chem Know-how hinsichtlich modernster Technik be-deuten. Das müssen Sie, liebe Damen und Herren vonder Koalition, aber vor Ort erklären. Ich erinnere Sie nurganz vorsichtig daran: Auch dort sind in diesem JahrLandtagswahlen.Solche Beispiele haben wir im Sinn, wenn wir mei-nen, daß es darum geht, mit der kurzatmigen Beschäfti-gungspolitik der verflossenen Regierung Schluß zu ma-chen. Bei diesen Summen und ihren Arbeitsplatzeffek-ten kann auch niemand behaupten, hier würde das Geldmit vollen Händen aus dem Fenster geworfen.Ich könnte noch viele weitere Punkte aus dem Etatdes Wirtschaftsministeriums anführen; dazu fehlt miraber die Zeit. Sie dokumentieren eines: Entweder habenSie von der neuen Koalition im selbstorganisiertenDurcheinander die Übersicht verloren, oder aber Siewissen genau, was Sie tun. Dann jedoch sollten Sie auf-hören, der Öffentlichkeit einen Politikwechsel zu mehrsozialer Gerechtigkeit und zum ökologischen Umbauvorzugaukeln.Ein letztes Wort. Ich habe allerdings im Wirtschafts-ausschuß einen Wechsel feststellen müssen; ich meineden Wechsel hin zu einem Mißbrauch von Mehrheits-rechten, wie er – das will ich hier offen sagen – bei völ-lig unterschiedlicher Auffassung in der Sache in denletzten vier Jahren im Wirtschaftsausschuß nicht üblichwar.
Wer wie gestern der Kollege Bury durchdrückt, dieBeratung des Etats noch vor dem Berichterstatterge-spräch abzuschließen, der macht die parlamentarischeDemokratie zur Farce.
Sollte es dabei bleiben – auch das will ich hier sagen –,kündige ich für die PDS-Fraktion an, daß sie im mitbe-ratenden Wirtschaftsausschuß an der Beschlußfassungdes Einzelplans 09 nicht teilnehmen wird. Vielleichttrifft aber das Wort von Herrn Metzger zu, daß dieKoalition lernfähig ist. Das wurde zumindest beschwo-ren.Sie, meine Damen und Herren von der Koalition,können sicher sein, daß wir Demokratischen Sozialistin-nen und Sozialisten Sie in den nächsten zwei Monatenda, wo es um die Beratung des Haushalts geht, beimWort nehmen werden.Danke schön.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Max Straubinger, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Ich war vorhin schon etwasverwundert, als die Kollegin Wolf hier bemängelt hat,daß die steuerlichen Belastungen nicht so schnell zu-rückgeführt werden können, wie sie sich das persönlichvorgestellt hätte. Ich möchte daran erinnern, daß dievergangene Bundesregierung und die sie tragenden Par-teien hier im Bundestag zweimal eine große Steuerre-form verabschiedet haben, und zwar mit einer deutlichenNettoentlastung für die Bürgerinnen und Bürger, unddaß sie jeweils im Bundesrat mit der Mehrheit von SPDund Grünen verhindert wurde.
Es ist meines Erachtens noch weit schlimmer, wennFrau Wolf hier für Arbeitsplätze plädiert und man fest-stellen muß, daß auf Grund von IdeologievorstellungenArbeitsplätze nicht geschaffen werden, wenn ich nurdaran denke, daß die jetzt abgewählte hessische Landes-regierung nicht imstande war, den notwendigen Ausbaudes Frankfurter Flughafens voranzutreiben.
Denn auch dies wäre mit der Schaffung von Arbeitsplät-zen verbunden gewesen.
Ich bin auch verwundert, wenn die Kollegin Wolf be-klagt, daß die Ingenieure in Frankfurt zu wenig Wissenüber Computer und alles Moderne, was man für eine Be-rufsausübung benötigt, haben. Es könnte auch sein, daßdies in der Vergangenheit am hessischen Bildungssy-stem gelegen hat.
Rolf Kutzmutz
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1627
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Ich bin überzeugt, daß der neue Ministerpräsident vonHessen, Roland Koch, die nötigen Weichenstellungenvornehmen wird, um der Bildungspolitik in Hessen wie-der Zukunftsperspektiven zu eröffnen.
Verehrte Damen und Herren, um Zukunftsperspekti-ven geht es auch beim Bundeshaushalt für Wirtschaft.Wir müssen erkennen, daß hier keine Zukunftsperspek-tiven enthalten sind, daß die wirtschaftlichen Kräftenicht gestärkt werden und daß mit der Vorlage des ge-samten Bundeshaushaltes auch keine Arbeitsplätze ge-schaffen werden. Dies müssen wir zum Leidwesen derMenschen in unserem Land feststellen.
Wenn bis zum 27. September 1998 noch der Glaubean die Zukunft in der Wirtschaft bestanden hat, wennhier eine Aufbruchsstimmung erkennbar war und wennvor allen Dingen mehr Arbeitsplätze geschaffen wurden,so wurde dies mit dem Wahlergebnis zunichte gemacht.Denn durch die in den vergangenen 100 Tagen verwor-renen Diskussionen zum Beispiel über den Atomaus-stieg und dann über den Wiedereinstieg durch HerrnWirtschaftsminister Müller, darüber hinaus durch dieverworrenen Steuerdebatten dahin gehend – wir erlebenes ja ständig in den Ausschüssen, daß immer wiederneue Vorlagen nachgeschoben werden und letztendlichüberhaupt kein geordnetes parlamentarisches Verfahrenstattfinden kann –, daß eine Abkassiersteuer unter demDeckmantel der Ökologie eingeführt wird, und durchdas Hin und Her in bezug auf das 630-Mark-Gesetz imRahmen der geringfügigen Beschäftigungsmöglichkeit –man muß schon fast von der sechsten oder siebten Vor-lage ausgehen – ist eine großartige und grandiose Ver-unsicherung in der Wirtschaft eingetreten und hat letzt-endlich bei den Bürgerinnen und Bürgern eine Ernüchte-rung über die Politik der Neuen Mitte eingesetzt.
Ich möchte dies mit Beispielen untermauern. NachAuskunft von mehreren Industrie- und Handelskam-mern, aber auch von Handwerkskammern und anderenWirtschaftsverbänden muß man feststellen, daß Investi-tionsentscheidungen zurückgeschraubt werden. NachAuskunft der IHK Passau von gestern hat sich dieStimmung in der Wirtschaft deutlich verschlechtert. Inder Beurteilung der Geschäftslage der niederbayerischenIndustrie zeigt sich sehr deutlich, daß nicht nur das bau-stoffproduzierende Gewerbe, sondern auch der Maschi-nenbau sowie die elektrotechnische und elektronischeIndustrie die momentane Lage schlecht beurteilen.Dies drückt sich sehr deutlich auch in den Investi-tionsentscheidungen aus. Waren im September 1998noch bei 31,7 Prozent der Betriebe verstärkte wirt-schaftliche Investitionen vorgesehen, so sank dieserWert im Januar 1999 auf nur noch 18,6 Prozent. Diesbedeutet einen Arbeitsplatzabbau.
Es sei mir als jemand, der wie der Kollege Börnsenaus einem grenznahen Raum kommt – er ist aus demNorden, ich bin aus dem Süden –, gestattet, darauf hin-zuweisen, daß die Belastungen aus der Ökosteuer gera-de im grenznahen Gebiet zu Auslagerungen von Ar-beitsstellen nach Österreich, nach Tschechien führenwerden, damit die Betriebe auf den Weltmärkten kon-kurrenzfähig agieren können. Dies ist gegenüber denArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, aber vor allenDingen gegenüber den Arbeitslosen eine unsoziale Poli-tik.
Noch ein Wort zu den Gesprächen im Rahmen des,,Bündnisses für Arbeit“. Ich wünsche grundsätzlichviel Glück und hoffe, daß sie zum Erfolg führen.
Aber ich glaube, der Bundeskanzler und die Bundesre-gierung könnten sich ein Beispiel nehmen an demBündnis für Arbeit, das Ministerpräsident Edmund Stoi-ber in Bayern geschaffen hat.
Der DGB-Landesvorsitzende Fritz Schösser – er ist beiIhnen Mitglied – lobt tagtäglich, daß damit in BayernArbeitsplätze gesichert und darüber hinaus mehr als40 000 neue Arbeitsplätze geschaffen wurden. Aberauch dies kam nur zustande, weil der Ministerpräsidentund die Bayerische Staatsregierung willens sind, einendynamischen Prozeß in Gang zu setzen, damit in Bayerndie Wirtschaft angekurbelt werden kann und Arbeits-plätze entstehen können.
Ich glaube, es ist wichtig, darauf hinzuweisen, daßhier Gesetze im Schweinsgalopp verabschiedet werden.Dies bekamen wir – da muß ich dem Kollegen Kutzmutzrecht geben – auch bei den gestrigen Ausschußberatun-gen wieder sehr deutlich zu spüren. Es zählt letztendlichnicht die gute Begründung, sondern nur noch der Zeit-faktor. Man will sich hinüberretten, bis Herr Eichel amletzten Tag seine Zustimmung zu den Ökosteuerplänen,zu dieser Belastung für die Wirtschaft, gegeben hat.
Es ist schon bemerkenswert, wenn Parlamentarier derSPD und der Grünen über milliardenschwere Belastun-gen, die auf die deutsche Wirtschaft zukommen, so lok-ker hinweggehen. Die Versicherungswirtschaft hatmittlerweile festgestellt, daß die neuen steuerlichen Vor-stellungen 8 000 bis 10 000 Arbeitsplätze gefährden.Dasselbe gilt natürlich für den Energiewirtschaftsbe-reich, aber vor allen Dingen auch für die mittelständi-sche Wirtschaft.Die Kollegen der F.D.P. und der Kollege Börnsenhaben deutlich gemacht – auch Frau Wolf hat diesesThema angesprochen –: Die Bundesregierung unterMax Straubinger
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1628 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Helmut Kohl hat eine Kultur der Selbständigkeit ent-wickelt. Dies hat seinen Ausdruck darin gefunden, daßwir das Meister-BAföG eingeführt haben. Das Meister-BAföG ist ein großartiger Erfolg und wichtig für dieAusbildung der Menschen in unserem Lande. Daraufhinkonnten sich viele selbständig machen. Jeder, der sichselbständig macht, schafft zusätzliche Arbeitsplätze inunserem Land.Wir haben im Haushaltsentwurf von Theo Waigel167 Millionen DM für dieses Meister-BAföG einge-stellt. Jetzt muß man feststellen, daß im Bundeshaushaltnicht mehr 167 Millionen DM für das Meister-BAföGvorgesehen sind, sondern nur noch 100 Millionen DM.
Diese Senkung um 40 Prozent zeigt sehr deutlich, daßdie Kultur der Selbständigkeit, die in unserem Landwichtig ist für Arbeitsplätze, nicht gefördert wird.Ich bin leider Gottes am Ende meiner Redezeit. Ichhätte noch einige Dinge aufzuführen. Ich glaube, daß dieRegierung in der Technologie einen falschen Ansatz hat.Wenn ich die zusätzlichen 700 Millionen DM für dieFörderung des Steinkohlenbergbaus sehe, muß ich sa-gen: Die Regierung betreibt eine ideologiebehafteteFörderpolitik. Ich glaube, für Deutschland wäre es gut,wenn dieser rotgrüne Spuk bald zu Ende gehen würde.
Wir werden in den kommenden Jahren auch in den Aus-schußberatungen die notwendigen Anträge für Verbesse-rungen in unserem Land einbringen.Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Kolle-
ge Hans Martin Bury, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Herr Kollege Straubinger, Sie ha-
ben sich hier als bayerischer Hilfs-Koch der CDU ver-
sucht.
Aber die heutige Debatte hat ebenso wie die gestrige ge-
zeigt, daß viele Köche selbst den Unionsbrei verderben.
Meine Damen und Herren, die neue Bundesregie-
rung ist angetreten, Deutschland zu modernisieren. Wir
werden Innovationen fördern, den Strukturwandel be-
schleunigen und die sozialen Sicherungssysteme wie-
der auf eine solide, eine langfristig tragfähige Grund-
lage stellen.
Die Krisen in Südostasien, Rußland und Südamerika
machen deutlich – jedenfalls denjenigen, die über den
nationalen Tellerrand hinausblicken –, welche Risiken
sich aus der großen Exportabhängigkeit der deutschen
Wirtschaft ergeben. Deshalb war es dringend notwendig,
die Binnennachfrage als zweites Standbein der Kon-
junktur zu stärken. Parallel dazu werden wir die Ange-
botsbedingungen verbessern, um die Wettbewerbsposi-
tion der deutschen Unternehmen zu stärken und um In-
vestitionen ausländischer Unternehmen in Deutschland
zu fördern.
Zu den zentralen Reformprojekten gehört eine umfas-
sende Unternehmensteuerreform, in deren Rahmen
wir bis zum Jahr 2000 eine einheitliche Unternehmens-
besteuerung mit einem Höchstsatz von 35 Prozent ein-
führen werden. Sie haben jahrelang von Steuersenkun-
gen geredet.
Wir machen sie jetzt.
Kollege Bury, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schauerte?
Aber gern.
Herzlichen Dank,
Herr Kollege. Ich möchte auf Ihre Unternehmensteuer-
reform zu sprechen kommen. Die Zeit – dies gilt auch
im Hinblick auf die Schaffung von Arbeitsplätzen –
drängt. Können Sie mir sagen, welche steuerlichen Ent-
lastungen für die Wirtschaft Ihre steuerpolitischen Kon-
zepte für die Jahre 1999, 2000 und 2001 bringen sollen?
Es handelt sich um die nächsten drei Jahre, in denen wir
die Arbeitslosigkeit mit großem Erfolg bekämpfen wol-
len. Ich denke, Sie wollen das auch. Können Sie unge-
fähr sagen, zu welchen Entlastungen es für die mittel-
ständische Wirtschaft und die Wirtschaft insgesamt
durch die Steuerreform kommt?
Herr Kollege Schauerte,der Kollege Jens hat vorhin bereits die entsprechendenZahlen des Ifo-Instituts genannt, das zu dem Ergebniskommt, daß bereits das Steuerentlastungsgesetz, dasjetzt zur Verabschiedung ansteht, zu einer deutlichenEntlastung der mittelständischen Wirtschaft in der Grö-ßenordnung von rund 3 Milliarden DM führen wird.
Sie müssen darüber hinaus beachten, daß dies nur dererste Schritt in die richtige Richtung ist und daß er zu-sammen mit der Unternehmensteuerreform, die ich ge-rade skizziert habe, für die Wirtschaft insgesamt mit-tel- und langfristig eine deutliche Entlastung bedeutenwird.
Max Straubinger
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1629
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Herr Kollege Bury,
gestatten Sie zwei weitere Zwischenfragen, zunächst des
Kollegen Hirche und dann des Kollegen Rössel?
Aber bitte.
Herr Kollege Bury, wie er-
klären Sie sich die Begeisterung der deutschen Wirt-
schaft über die Unternehmensteuerreform, die dazu
führt, daß zum Beispiel in der heutigen Ausgabe der
„Financial Times“ auf Seite 1 steht: Die Allianz droht
damit, ihr Kerngeschäft aus Deutschland ins Ausland zu
bringen? Halten Sie das für einen Beitrag zur Stärkung
des Investitionsstandortes Deutschland und für ein Si-
gnal für ausländische Unternehmen, in Deutschland zu
investieren?
Herr Kollege Hirche, ich
kann mich daran erinnern, daß die gesamte deutsche
Versicherungswirtschaft zu Zeiten Ihrer Koalition in
allen deutschen Zeitungen ganzseitige Anzeigen gegen
die damalige Regierungspolitik geschaltet hat.
Wir haben jetzt im Zusammenhang mit dem Steuerentla-
stungsgesetz eine Diskussion über die realistischere Be-
wertung von Rückstellungen. Es ist verständlich, daß
diejenigen, die davon betroffen sind, nicht in Begeiste-
rung ausbrechen.
Aber man kann nicht einerseits immer niedrigere nomi-
nale Steuersätze fordern, die wir alle für richtig halten,
und andererseits gleichzeitig die Verbreiterung der Be-
messungsgrundlage, die dazugehört, ablehnen.
Noch eine Zwi-
schenfrage.
Darf ich eine Ergänzungs-
frage stellen, Herr Kollege Bury?
Bitte.
Sind Sie wirklich der Auf-
fassung, daß durch die Art von Steuerveränderung, die
Sie betreiben, Arbeitsplätze geschaffen werden? Sind
Sie nicht vielmehr der Meinung, daß damit Hundert-
tausende von Arbeitsplätzen in Deutschland verloren-
gehen?
Herr Kollege Hirche, ich
bin in der Tat der Überzeugung, daß durch unsere Wirt-
schafts- und Finanzpolitik mittelfristig die Arbeitslosig-
keit deutlich zurückgehen und die Beschäftigung steigen
wird.
Nun hat Herr Kol-
lege Rössel eine Zwischenfrage.
Bitte sehr.
Herr Kollege Bury,
ich möchte Sie fragen, welche Perspektive Sie der Ge-
werbesteuer, die bekanntlich nicht nur eine wichtige
Unternehmensteuer, sondern auch eine traditionell
wichtige Steuereinnahme der Gemeinden ist, bei der be-
vorstehenden Unternehmensteuerreform einräumen und
wie Sie mit der Forderung der kommunalen Spitzenver-
bände umgehen, die Hände von der Gewerbesteuerab-
schaffung zu lassen.
Ich bin wie die KolleginWolf der Auffassung, daß bei dem Höchstsatz von35 Prozent die Gewerbeertragsteuer berücksichtigt wer-den muß, aber daß die Kommunen selbstverständlichweiterhin eigenständige Möglichkeiten zur Finanzierungihrer Aufgaben behalten müssen. Wir diskutieren dasgerade und sind in dieser Hinsicht auf einem sehr gutenWeg.Ihr Interesse – ich sehe, daß es noch weitere Meldun-gen zu Zwischenfragen gibt; das wird bald eine Frage-stunde – ehrt mich, aber ich darf den Geschäftsführerin-nen und Geschäftsführern der anderen Fraktionen vor-schlagen, den Kollegen bei Gelegenheit eigene Redezeitzu gewähren.
Meine Damen und Herren, ein niedriger Grenz-steuersatz ist nicht nur im internationalen Standortver-gleich von Bedeutung, sondern auch ein wichtiger Moti-vationsfaktor und Leistungsanreiz für die Unternehmen.Deshalb muß das Konzept eine Mittelstandskompo-nente beinhalten, die kleine und mittlere Unternehmengezielt entlastet. Schon das aktuelle Steuerentlastungs-gesetz ist ein Schritt in die richtige Richtung. Wir sen-ken die Steuersätze, erhöhen den steuerfreien Grundfrei-betrag und entlasten insbesondere Arbeitnehmer, Fami-lien und – wie erwähnt – auch den Mittelstand. Zur Ge-genfinanzierung wird die Bemessungsgrundlage durchden Abbau steuerlicher Vergünstigungen und Sonderre-gelungen verbreitert.Die gesamte Steuerreform läßt einer durchschnittlichverdienenden Familie schon jetzt Monat für Monat100 DM mehr im Geldbeutel. Die jüngsten Urteile desBundesverfassungsgerichts bestätigen unseren Weg, dieFörderung der Familien schrittweise weiter zu verbes-sern.
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1630 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Das ist nicht nur ein Gebot der Gerechtigkeit, sondernzugleich ein wichtiger Beitrag zur Stärkung der Binnen-konjunktur.
Neben der Reduzierung der steuerlichen Belastunghaben wir uns in dieser Legislaturperiode die Senkungder gesetzlichen Lohnnebenkosten auf unter 40 Pro-zent zum Ziel gesetzt. Der Einstieg in die ökologischeSteuerreform ist der erste Schritt, Arbeit billiger zumachen und die Energieeffizienz zu erhöhen. Damit hatdie neue Regierungskoalition nicht nur den seit Jahrenallseits beklagten Anstieg der Lohnnebenkosten endlichgestoppt, sondern eine Trendwende eingeleitet. Zugleichflankieren wir den Einstieg in eine neue Energiepolitik.Wir stellen endlich die Weichen, um in der Zukunft beider Energieerzeugung, -versorgung und -nutzung tech-nologisch, ökonomisch und ökologisch weltweit eineführende Rolle einzunehmen. Damit erschließen wir Ex-portchancen im Ausland und Beschäftigungspotentialehier bei uns.
Die Schaffung zukunftsfähiger Arbeitsplätze und derAbbau der Arbeitslosigkeit sind Handlungsmaximen derneuen Bundesregierung. Den Abbau von Arbeitslosig-keit kann man weder verordnen noch vertraglich festle-gen. Aber wir können, wir müssen und wir werden imKonsens mit Unternehmen und Gewerkschaften Beiträ-ge aller Beteiligten zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeitvereinbaren.Der Start des „Bündnisses für Arbeit, Ausbildung undWettbewerbsfähigkeit“ war gut. An die Stelle vonShowveranstaltungen oder unverbindlichen Plauderrun-den der Vergangenheit sind konkrete Zielvereinbarun-gen und Arbeitsaufträge getreten.
Zu den Schwerpunkten des „Bündnisses für Arbeit“gehört das Regelwerk auf dem Arbeitsmarkt. Dabei gehtes um Fragen wie beschäftigungsfördernde Arbeitsver-teilung, flexible Arbeitszeiten, Abbau von Überstunden,Ausbau und Förderung der Teilzeitarbeit, flexible undverbesserte Möglichkeiten für das vorzeitige Ausschei-den im Alter und Anreize zur Arbeitsaufnahme.Dazu gehört auch der Einstieg junger Menschen insErwerbsleben. Als ersten Schritt zur Verbesserung desZugangs Jugendlicher zum Arbeitsmarkt hat die Bun-desregierung ein Sofortprogramm zur Bekämpfung derJugendarbeitslosigkeit beschlossen, mit dem 100 000Jugendliche so schnell wie möglich in Ausbildung undBeschäftigung gebracht werden sollen. Das Programmzeichnet sich durch Flexibilität und durch Orientierungan den Anforderungen vor Ort aus.Wer es in der Weise diskreditiert, wie es der Vorsit-zende der CDU/CSU-Fraktion in der gestrigen Debattegetan hat, wer davon redet, Jugendliche sollten durchArbeit „ruhiggestellt“ werden, hat jedes Gespür für dieSituation junger Menschen verloren, die in Ihrer Regie-rungszeit trotz Fleiß, trotz Qualifikation, trotz Initiativezunehmend die Chance verloren haben, ihre Fähigkeitenim Erwerbsleben einzubringen.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?
Ja.
Sie wissen, daß Ihre
Antwort nicht auf Ihre Redezeit angerechnet wird.
Herr Kollege Bury,
worauf führen Sie es zurück, daß es in einigen Bundes-
ländern fast dreimal soviel Ausbildungsplätze wie Nach-
frager gibt? Das muß doch irgendwie mit landespoliti-
schen Gegebenheiten zu tun haben. Oder können Sie mir
eine andere Erklärung liefern? Dies würde nämlich be-
inhalten, daß man ein solches Programm nicht auflegen
muß, das in Bereiche geht, wo seitens der Landesregie-
rung ein gewisses Versagen nicht beiseite gewischt wer-
den kann.
Kollege Hinsken, wir ha-
ben natürlich regionale, sektorale, strukturelle Unter-
schiede. Selbst in einem Wahlkreis wie meinem, in dem
die Arbeitslosigkeit glücklicherweise relativ gering ist,
gibt es Jugendliche, die aus den unterschiedlichsten
Gründen Schwierigkeiten haben, auf dem Arbeitsmarkt
Fuß zu fassen, einen Ausbildungsplatz zu finden. Wer
wie Sie versucht, sich aus der Verantwortung für diese
jungen Menschen zu stehlen, der begeht einen schweren
Fehler. Sie stehlen sich aus der Verantwortung, die Sie
politisch haben.
Ich meine, daß ein ordentliches, ein faires Angebot
zur Arbeitsaufnahme auch die Voraussetzung für eine
Diskussion über die Konsequenzen für diejenigen ist,
die ein solches Angebot leichtfertig ausschlagen.
Aber es muß zunächst ein ordentliches und ein faires
Angebot geben.
Nun möchte Herr
Kollege Hinsken noch eine Frage stellen.
Wir machen keine Frage-stunde, Herr Kollege Hinsken. Zum Handwerk nachhernoch einmal.Hans Martin Bury
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Wollen Sie eine
Frage zulassen oder nicht?
Nein.
Vielen Dank. – Herr
Kollege Hinsken, er möchte keine weitere Zwischenfra-
ge zulassen.
Meine sehr geehrten Da-
men und Herren, wir werden unsere sozialen Siche-
rungsysteme weiterentwickeln und modernisieren, das
heißt, die Zielgenauigkeit und Effizienz der eingesetzten
Mittel erhöhen. Als Grundsatz gilt, daß sich die Stärke
des Sozialstaates nicht an den Milliarden bemißt, die
ausgegeben werden, sondern an der Qualität und der so-
zialen Treffsicherheit der Leistungen.
Wir werden etwa in der Rentenversicherung zu
grundlegenden Reformen kommen, die angesichts der
demographischen Entwicklung und der gravierenden
Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt nach meiner
festen Überzeugung auch eine Ergänzung des Umlage-
verfahrens durch einen Kapitalstock beinhalten werden.
Wir werden darüber hinaus über eine neue Balance
zwischen Eigenverantwortung und sozialer Sicherung
diskutieren müssen. Dazu gehört, den Menschen mehr
Spielräume für Eigeninitiative und eigene Vorsorge zu
geben. Das heißt, wir werden auch die betriebliche und
private Altersvorsorge stärken, die künftig eine größere
Bedeutung im Gesamtsystem der Altersversorgung ein-
nehmen muß.
Die Arbeitsplätze der Zukunft werden in Unterneh-
men entstehen, die es heute größtenteils noch gar nicht
gibt. Wir werden deshalb die Eigeninitiative, Risikobe-
reitschaft und Leistungsfähigkeit Selbständiger, kleiner
und mittlerer Unternehmen gezielt fördern, strukturelle
Nachteile ausgleichen, den Marktzutritt erleichtern und
neue Betätigungsfelder eröffnen.
Eine Schlüsselrolle kommt der Verbesserung der
Finanzierungsmöglichkeiten insbesondere für Existenz-
gründer und mittelständische Unternehmen zu; denn sie
leiden heute nicht in erster Linie an angeblich zu hohen
Zinssätzen, sondern daran, daß es hier leider immer
noch schwerer ist als in vielen anderen Ländern, die
Umsetzung von Ideen zu finanzieren.
Wir schlagen Pfade in den Förderdschungel und wer-
den Chancenkapital mobilisieren, indem wir steuerli-
che Fehlanreize beseitigen und Incentives neu setzen.
Wir erleichtern das Going public und stärken den
Finanzplatz Deutschland. Der raschen Erarbeitung und
Verabschiedung eines 4. Finanzmarktförderungsgesetzes
kommt daher – Kollege Schwanhold hat darauf hinge-
wiesen – eine besondere Bedeutung zu.
In diesem Zusammenhang werden wir auch in
Deutschland gesetzliche Regelungen für Unterneh-
mensübernahmen schaffen müssen. Ich will diese nicht
grundsätzlich erschweren oder verhindern. Aber wir
brauchen transparentere Verfahren und einen wirksamen
Schutz von Minderheitsaktionären. Wir brauchen gene-
rell mehr Unternehmer, nicht nur Übernehmer.
Deshalb stärken wir die Innovationskraft und -fähig-
keit, unter anderem durch die Förderung marktnaher
Forschung und Forschungskooperation. Der Haushalt
setzt hierfür wichtige Akzente. Wir korrigieren die Feh-
ler, die die bereits abgewählte alte Bundesregierung in
den letzten Tagen ihrer Amtszeit auf diesem Feld noch
begangen hat.
Der Entwurf des Einzelplans 09 ist also eine gute
Grundlage für eine Neuorientierung der Wirtschafts-
und Technologiepolitik in Deutschland, um Innovatio-
nen, Investitionen und Arbeitsplätze zu fördern.
Das Wort hat nun
der Kollege Dankward Buwitt, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat ge-stern an uns appelliert, sich doch mehr mit den Tatsa-chen zu beschäftigen. Das ist eine gute Empfehlung.Aber sie sollte nicht nur an eine Seite gerichtet werden.Ich höre heute von der Koalition: Es steht auf der Ta-gesordnung, wir diskutieren, wir hoffen, wir glaubenusw. Meine Damen und Herren, vielleicht ist es Ihnennoch gar nicht aufgefallen: Sie stellen mittlerweile dieBundesregierung. Sie könnten also, wenn Sie wollten,auch handeln.
Herr Schwanhold, schönreden allein hilft nicht. DieFakten werden Sie alle wieder einholen, und über dieFakten werden wir uns hier auseinanderzusetzen haben.Arbeitsplätze kann man nicht verordnen; das ist völ-lig richtig. Aber welchen Beitrag hat die Wirtschafts-politik dazu zu leisten? Sie beschäftigt sich mit einemder wichtigsten Themen im Zusammenleben der Ge-meinschaft überhaupt, nämlich mit den Fragen: Waskann die Politik beitragen, um denjenigen, die Arbeithaben, diese Arbeit zu erhalten? Was kann die Politik
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1632 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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beitragen, denjenigen, die keine Arbeit haben, aber diesewollen, Arbeit zu beschaffen?Mit diesen Fragen muß sich ein Wirtschaftsministerauseinandersetzen. Es handelt sich um Fragen, an derenLösung – das ist heute schon gesagt worden – sich nichtnur die Koalition, sondern auch der Kanzler persönlichmessen lassen wollte. Durch Versprechungen sind in derBevölkerung große Erwartungen erzeugt worden, aller-dings durch Versprechungen vor der Wahl; das istselbstverständlich.Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, meine Damen undHerren. Aber ich habe das Gefühl, daß dem Wirt-schaftsminister gar nicht erlaubt wird, seinen Beitragdazu zu leisten. Eigentlich tut er mir so richtig leid. Erhat vielleicht die große Chance, Minister für die alterna-tive Energieversorgung zu werden. Aber es ist nicht zuerwarten, daß er einen Beitrag zum Abbau der Arbeits-losigkeit leisten darf. Über dieses Thema hat er heuteauch gar nicht gesprochen; davor steht wohl der Fi-nanzminister.Nun sind die Ergebnisse Ihrer Politik heute natürlichnoch nicht endgültig zu beurteilen. Sie stehen mit IhrerRegierungsarbeit am Anfang; das sei Ihnen zugestanden.Fest steht, daß die Wirtschaft – sie sollte doch die Ar-beitsplätze schaffen, wenn wir von Arbeit und nicht nurvon Beschäftigung reden – keinen Grund sieht, unterden neuen Bedingungen Arbeitsplätze zu schaffen. Ganzim Gegenteil: Bereits geplante Investitionen wurdengestoppt, und Verlagerungen ins Ausland werden im-mer stärker diskutiert.
Angesichts dessen muß man sich doch fragen, ob dieWirtschaft die Absichten der Bundesregierung nur miß-versteht oder ob es für ihr Handeln konkrete Gründegibt.Gut reden, Herr Schwanhold, reicht dazu nicht aus;Taten zählen. Dabei geht es nicht nur um Zahlen, son-dern auch um Psychologie. Wir brauchen Rahmenbe-dingungen, die Deutschland mit vergleichbaren Stand-orten konkurrenzfähig machen, ein wirtschafts- und un-ternehmensfreundliches Klima und möglichst wenig Bü-rokratie, die die Wirtschaft behindert. Schließlich müs-sen sich die öffentlichen Hände so sparsam wie möglichverhalten, um neue Freiräume zu schaffen. Mit IhremHaushalt haben Sie den Beweis dafür vorgelegt, daß Siedaran gar nicht denken. Von all diesen Themen ist über-haupt nicht die Rede.Auch ohne die von Ihnen verhinderte Steuerreform,die wir vor zwei Jahren vorgelegt haben – sie hätte dieBezeichnung Steuerreform durchaus verdient gehabt –,haben wir vieles in die Wege geleitet, was auch entspre-chend positive Ergebnisse gebracht hat, wie heute be-reits dargestellt wurde. Ich erinnere mich noch ganz ge-nau, daß Sie von den Koalitionsparteien Anfang letztenJahres gesagt haben, wir würden ja sehen, wann die fünfvor der Millionenzahl der Arbeitslosen steht. Am Endestand, wenn auch sehr knapp – das muß man zugeben –,eine drei vorne. Wenn Sie etwas hätten dazu beitragenkönnen, daß eine fünf vorne gestanden hätte, hätten Siedas wahrscheinlich aus parteipolitisch-taktischen Grün-den getan.
Der Beweis dafür ist eigentlich die Ablehnung derSteuerreform durch Sie, wodurch wir kostbare Zeit ver-loren haben.
Sie dagegen machen heute deutlich, daß Sie überhauptnicht in der Lage sind, eine solche Steuerreform durch-zusetzen.
Nun verkünden Sie stolz: „Versprochen, gehalten“,beschreiben also, was Sie sich in der Zwischenzeit allesgeleistet haben. Statt mehr Sicherheit und Verläßlichkeithaben Sie Unsicherheit, Unzuverlässigkeit und Unkal-kulierbarkeit in die Wirtschaft hineingetragen. Statt Fle-xibilität haben Sie mehr Bürokratie entwickelt. Wennich dann daran denke, was durch die Umsetzung derÖkosteuer usw. noch alles auf uns zukommt, kann ichnur sagen, daß wir am Anfang einer Bürokratisierungdes gesamten Systems stehen. Statt die Chancen fürneue Arbeitsplätze zu verbessern, haben Sie den Kündi-gungsschutz verschärft. Statt auf eine Erweiterung derEigenverantwortung setzen Sie auf die Festschreibungder hunderprozentigen Lohnfortzahlung. Statt Mut zuneuen Lösungen bei der Flexibilisierung der Arbeits-zeit etwa durch Jahresarbeitszeitkonten aufzubringen,sind Sie für die Wiedereinführung des Schlechtwetter-geldes. Statt steuerlicher Entlastung der Wirtschaft bela-sten Sie die Wirtschaft durch Umverteilung. Statt Exi-stenzgründungen zu fördern, kürzen Sie das Meister-BAföG. Statt sparsam zu wirtschaften, legen Sie denHaushalt mit den höchsten Ausgaben vor. Diese Listeließe sich x-beliebig fortsetzen; ich denke nur an die630-DM-Verträge, die Ökosteuer und vieles anderemehr.Meine Damen und Herren, wer eine Steuerreform mitder Bemerkung vorlegt, es gehe um Gerechtigkeit undnicht um neue Arbeitsplätze, muß deutlich machen, waser unter Gerechtigkeit versteht. Natürlich wäre es aucheine Möglichkeit, daß er unter Gerechtigkeit versteht,daß alle mehr bezahlen müssen. Für mich ist aber dieArbeitslosigkeit eine der größten Ungerechtigkeiten.
Wer Deutschland exportunabhängiger machen will,der muß den Menschen sagen, daß ein Teil unseresWohlstandes auf diesen Export gegründet ist. Wenn dieBedingungen im Ausland schlechter geworden sind,dann darf man nicht sagen, man konzentrierte sich aufetwas anderes, sondern dann muß man seine Anstren-gungen verstärken, um sich auf diesen Märkten zu be-haupten. Wer ehrlich ist, muß den Leuten sagen, daßweniger Export weniger Beschäftigung und damit weni-ger Wohlstand bedeutet.Eigene Konkurrenzunfähigkeit führt sicher zu weni-ger Export. Das ist unbestritten. Aber solange Geld inDankward Buwitt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1633
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Deutschland vorhanden ist, wird man auch importierenkönnen. Die Binnennachfrage ist in vielen Bereichenauch durch Importe abzudecken. Das sichert zwar Ar-beitsplätze in Japan – das kann der eine oder andereauch für vernünftig halten –, aber für die Arbeitsplätzein Deutschland ist dies Gift. Sie sorgen damit systema-tisch für den Arbeitsplatzabbau in Deutschland.Für diese Narreteien berufen Sie sich immer auf dasWahlergebnis. Richtig, Sie haben den Menschen vielversprochen, man muß dazusagen: sehr viel Unter-schiedliches. Aber das, was Sie jetzt machen, haben Sieihnen nicht versprochen, und die Leute haben es auchnicht erwartet.Meine Damen und Herren, das Wahlergebnis habenSie geschenkt bekommen. Sie müssen es sich jetzt ersterarbeiten. Dabei haben Sie bisher kläglich versagt.
– Es reicht mir aus, Herr Schwanhold, wenn Sie diesverstehen. Ich befürchte, daß das manchmal auch nichtso klappt.Das Ergebnis der Hessenwahl ist doch nicht nur des-halb so ausgefallen, weil Herr Koch besser ist als HerrEichel oder weil die CDU besser ist als die SPD; dasstimmt ja alles. Nein, natürlich haben die Menschenauch die Arbeit von Rotgrün auf Bundesebene gewür-digt und dies in ihre Entscheidung mit einbezogen.Gestern fand eine Haushaltsausschußsitzung statt, dieganz nebenbei – das ist heute auch aus anderen Aus-schüssen schon öfter berichtet worden – eine Zumutungfür alle Parlamentarier war, völlig unabhängig, welcherPartei sie angehören. Wir haben so etwas heute wiedererlebt, indem eine Vorlage 10 Minuten nach einer vonder SPD erzwungenen Abstimmung über diese Vorlageverteilt worden ist. Keiner wußte, worüber er eigentlichabstimmt. Aber das scheint der übliche Stil zu sein.Nach dieser Haushaltsausschußsitzung sagte ein SPD-Kollege: Wir machen nichts besser, aber wir machenalles anders. – Sicher, dies sollte, nehme ich an, einScherz sein. Aber die momentane Situation ist eigentlichgar nicht konkreter zu schildern.Sie wollen die Menschen mit Ihrer Politik mitneh-men. Nach meiner Meinung müssen Sie aber eine völligandere Politik machen, wenn Sie dies erreichen wollen.
Wenn Sie diese andere Politik machen, würden wir Sieim Interesse der Menschen unterstützen.Recht herzlichen Dank.
Weitere Wortmel-dungen liegen zu diesem Geschäftsbereich nicht vor.Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bun-desministeriums für Arbeit und Sozialordnung.Außerdem rufe ich den Zusatzpunkt 4 auf:Erste Beratung des von den Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Änderung der Berück-sichtigung von Entlassungsentschädigungen imArbeitsförderungsrecht
– Drucksache 14/394 –Überweisungsvorschlag:
Auch das hat gute Gründe. Wir übernehmen ein schlechtbestelltes Feld.
Wir haben im Durchschnitt des letzten Jahres rund4,3 Millionen Arbeitslose vorgefunden. Die hoheArbeitslosigkeit belastet unser Gesellschaftssystem, diesozialen Sicherungssysteme und den Bundeshaushaltganz erheblich. Anders, als die Debatten der letzten Jah-re es aufzeigten, machen wir dafür allerdings nicht dieArbeitslosen verantwortlich, sondern wir gehen an dieBehebung der verantwortlichen Strukturen heran.
Wir setzen auf eine aktive Arbeitsmarkt- und Beschäfti-gungspolitik. Dies spiegelt sich insbesondere in demAnsatz der Ausgaben für die aktive Arbeitsmarktpoli-tik wider, den wir um 6 Milliarden DM erhöht haben.
Das sind Zukunftsinvestitionen in mehr Beschäftigung.So entlasten wir mittelfristig aber auch die sozialenSicherungssysteme und den Bundeshaushalt.Dankward Buwitt
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1634 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Ebenfalls vorgefunden haben wir dramatisch hoheLohnnebenkosten. Die alte Bundesregierung hat unseinen Gesamtbeitrag zur Sozialversicherung in Höhevon 42,1 Prozent hinterlassen.
Ich erinnere Sie daran: 1996 haben Sie im Rahmendes von Ihnen niedergerittenen „Bündnisses für Arbeit“quergeschrieben, den Gesamtbeitrag dauerhaft auf40 Prozent zu senken; damals lag er bei 40,8 Prozent.Zwei Jahre später waren Sie schon bei 42,1 Prozent an-gekommen. Wären wir Ihnen nicht bei der Anhebungder Mehrwertsteuer zur Seite gesprungen, dann läge derBeitrag heute bei 43,1 Prozent.
Die Differenz beträgt 35 Milliarden DM. Mit diesemBetrag haben Sie die Beitragszahler, die Rentenversiche-rung, die Arbeitslosenversicherung und die Betriebemehr belastet.Sie haben nur angekündigt; wir aber machen jetzternst. Wir setzen heute Mittel ein, um diejenigen Bela-stungen der Sozialversicherung rückgängig zu machen,die zu tragen Aufgabe der Allgemeinheit ist. Dadurchgelingt es uns, den Beitragssatz zur Rentenversicherungin einem ersten Schritt um 0,8 Prozentpunkte zu senken.
Herr Minister, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Louven?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Ja, bitte.
Bitte sehr, Herr
Kollege Louven.
Herr Minister, war esdamals nicht so, daß in der Kanzlerrunde Gewerkschaf-ten, Arbeitgeber und Bundesregierung einvernehmlichbeschlossen haben, die Lohnzusatzkosten auf unter40 Prozent zu senken, und war es nicht darüber hinausso, daß sich Gewerkschaften und Arbeitgeber verpflich-tet haben, für die zweite Kanzlerrunde Vorschläge vor-zulegen, die dann ausgeblieben sind?Walter Riester, Bundesminister für Arbeit undSozialordnung: Sie haben völlig recht: Wir alle habengegengezeichnet. Bevor die Umsetzung in die Praxisbeginnen konnte, haben Sie auf Grund einer Zusage andie Wirtschaftsverbände zunächst die Lohnfortzahlungund dann den Kündigungsschutz gekippt und damit einKlima hergestellt, in dem eine praktische Zusammen-arbeit gar nicht mehr möglich war.
Herr Louven, darüber hinaus möchte ich Ihnen sagen:Ich möchte mich in bezug auf die Verantwortung in derRegierungspolitik im Zweifelsfall nicht darauf berufen,daß andere nicht mitgemacht haben.
Ich sagte, daß wir dies nun angehen. Erstens: DerBund zahlt in diesem Jahr 13,6 Milliarden DM für dieAnerkennung der Kindererziehungszeiten. Ab demJahr 2000 übernehmen wir die volle Verpflichtung inHöhe von 22,4 Milliarden DM.Zweites Beispiel: Ostrenten. Der Bund zahlt künftigrund 2,5 Milliarden DM für vereinigungsbedingte Lei-stungen im Rentenrecht. Damit übernehmen wir dieFinanzierungsverantwortung, die Sie den Rentenkassenauferlegt haben. Die Gemeinschaft der Beitragszahlermuß nicht länger Aufgaben übernehmen, für die zuRecht die Allgemeinheit geradestehen muß.
Damit stärken wir die Beitragsbezogenheit der Renten-versicherung. Wir geben ihr ein Stück des Vertrauenszurück, das sie über die Jahre verloren hat, aber drin-gend braucht.
Meine Damen, meine Herren, der Haushalt 1999 istein Haushalt zum Abbau der Arbeitslosigkeit. Die alteBundesregierung hat kurz vor der Wahl den Mittelein-satz für ABM und andere Instrumente drastisch erhöht.Das erschien populär und gut. Aber es ist nicht gut, Ar-beitsmarktpolitik in Abhängigkeit von Wahlterminenzu betreiben. Wie sah die Arbeitsmarktpolitik denn aus?– Es wurden überwiegend kurzfristige Maßnahmen ge-troffen. Nach der Wahl wären die Menschen wieder ausdiesen Maßnahmen herausgefallen. Wir werden undmüssen das Niveau halten, weil es uns um die Menschengeht.
Aber gleichzeitig kommt es darauf an, das Niveau auchzu verbessern; denn unser Ziel ist: Die Hilfen sollen di-rekt bei den Menschen ankommen, und dabei sollenmöglichst wenige Mitnahmeeffekte auftreten.Wir bauen mit unserer aktiven Arbeitsmarktpolitikvor allem Brücken in den ersten Arbeitsmarkt. Der Bundund die Bundesanstalt für Arbeit geben in diesem Jahrzusammen rund 45,3 Milliarden DM für die aktive Ar-beitsmarktpolitik aus. Das sind über 6 Milliarden DMmehr an Mitteln, als die alte Regierung vorgesehen hat-te. Allein der Eingliederungstitel, der die wichtigsten ar-beitsmarktpolitischen Instrumente umfaßt, wird um rund3 Milliarden DM auf 27,4 Milliarden DM angehoben.Die Arbeitsämter können damit die Ermessensleistungender aktiven Arbeitsmarktpolitik, insbesondere Arbeits-beschaffungsmaßnahmen und Maßnahmen für beruf-liche Weiterbildung, finanzieren. Sie können selbständigBundesminister Walter Riester
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1635
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die Mittel dorthin leiten, wo die Arbeitslosigkeit ambesten bekämpft werden kann.Als neues Instrument der aktiven Arbeitsmarktpolitikwurde das Sofortprogramm zum Abbau der Ju-gendarbeitslosigkeit in den Haushalt der Bundesanstaltfür Arbeit aufgenommen. Dieses Programm ist für einJahr ausgelegt und sieht vor, zusätzlich – ich betone: zu-sätzlich – 100 000 Jugendliche kurzfristig in Ausbildungund Beschäftigung zu bringen.
2 Milliarden DM gibt die Bundesanstalt für Arbeitfür dieses Programm aus. Dazu trägt der europäischeSozialfonds 0,6 Milliarden DM bei.
– Ich sage gleich, wie es angenommen wird. – Obwohldas Programm erst wenige Wochen angelaufen ist, be-richten die Arbeitsämter schon heute von großen Erfol-gen.
– Wenn ich den Zwischenruf höre, was sie sonst schonsagen sollten, kann ich nur feststellen: 181 Arbeitsämterreißen sich – den Ausdruck hätte ich in meiner früherenFunktion gebraucht – den Arsch auf und kämpfen. Dazusagt mir hier jemand: „Was sollen Sie sonst sagen!“
Bislang wurden eine halbe Million Arbeitslose unter25 Jahren angeschrieben. Danach nahmen die Arbeits-ämter mit 124 000 Jugendlichen direkt Kontakt auf.64 000 wurden konkrete Angebote unterbreitet. In denersten dreieinhalb Wochen sind rund 6 000 in Maßnah-men eingetreten. Davon sind 42 Prozent – darüber freueich mich besonders – Frauen.
Zu Ihrer Frage, Frau Schwaetzer, wie es angenom-men wird: 148 000 Anfragen von Jugendlichen sindzwischenzeitlich über die Hotline der Arbeitsämter ein-gegangen. Uns sagen die Arbeitsämter, daß sie es zumersten Mal mit einem großen Schub an hochmotiviertenJugendlichen zu tun hätten, die an diesem Programmteilnehmen möchten.
– Ich bedauere ein bißchen, daß der Fraktionsvorsitzen-de der CDU/CSU heute nicht da ist, der sich gestern zuder Aussage hinreißen ließ, daß hier Jugendliche ruhig-gestellt werden sollten.
Ich unterstelle, daß der Kollege Schäuble die Faktennicht kannte; denn nur so ist diese Aussage zu erklären.
Falls das nicht der Fall wäre, würde es die Menschen aufden Arbeitsämtern und die Jugendlichen, die aktiv einenArbeitsplatz suchen, in einer Weise demotivieren, dieich Ihnen gar nicht beschreiben kann.
Das ist doch unser gemeinsames Programm. Deshalb tra-gen Sie Mitverantwortung. Wir müssen doch dafür wer-ben und kämpfen. Der Satz von Herrn Schäuble ist überdie Medien in der ganzen Republik verbreitet worden.
– Auch darüber kann ich gerne sprechen. Ich habe michöffentlich dafür eingesetzt, daß wir in den Fällen, in de-nen überzeugende Angebote ohne Grund abgelehnt wer-den, auch Druck ausüben,
beispielsweise durch Sperrungen. Das ist auch schongemacht worden.
– 25 Prozent der Hilfe zum Lebensunterhalt – wenn sieüberhaupt gewährt wird – können gestrichen werden,wenn die Maßnahme abgelehnt wird.
Das steht im Gesetz.
Herr Minister, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fuchtel?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Ja, bitte.
Bitte sehr, Herr
Kollege.
Herr Bun-desminister, wieso kommt der rotgrünen Koalition erstjetzt der Gedanke, daß man hier kürzen könnte? Als mannoch in der Opposition war, hat man dies immer bis aufsMesser bekämpft.
Bundesminister Walter Riester
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1636 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Dieser Gedanke ist nicht bis aufs Messerbekämpft worden.Auch jetzt müssen wir mit dieser Frage richtig umge-hen. Ich sage Ihnen offen: Im Moment wird mir die De-batte um diese Sperrmaßnahmen zu breit geraten.
Ich habe mich bei den Arbeitsämtern kundig gemacht.Viele der Jugendlichen bekommen überhaupt keine Lei-stungen. Diesen Jugendlichen kann man also gar keineLeistungen streichen. Ich bin froh, wenn sich Jugendli-che, die nicht beim Arbeitsamt gemeldet sind, jetzt fürdiese Maßnahmen bewerben.Klar ist aber auch, daß die Kürzungen von Sozialhilfenicht auf die Familien durchschlagen darf; denn in derSozialhilfe für Familien ist der Anteil für die Kinder mitenthalten. Ich werbe also sehr dafür, diese Frage diffe-renziert zu behandeln. Ich bin dafür, dort, wo Druckgemacht werden muß, Druck auszuüben. Ich bin abernicht dafür, ein so gutes Programm jetzt mit Sperrzeitenund Sozialhilfekürzungen kaputtzureden.
Nun möchte der
Kollege Fuchtel noch mehr von Ihnen wissen. Gestatten
Sie noch eine Zwischenfrage?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Ich hoffe, es wird mir auf die Redezeit
nicht angerechnet. – Bitte schön.
Nein, es wird nicht
auf die Redezeit angerechnet.
Wie beurtei-
len Sie die Aussage von Herrn Zwickel zu diesem The-
ma? Wieso beantworten Sie mir die Frage, die ich vor-
her gestellt habe, nicht und reden statt dessen drum her-
um? Ich habe Sie konkret gefragt. In der Vergangenheit
hat die SPD Kürzungsmaßnahmen immer verhindert.
Jetzt sieht man das auf einmal anders.
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Ich habe Ihre Frage beantwortet, indem ich
das zurückgewiesen habe.
Zur Aussage von Klaus Zwickel: Recht und Gesetz
verbieten es, das Existenzminimum zu streichen. Wenn
wir als Parlamentarier unsere eigenen Gesetze noch
ernst nehmen, dann müssen wir diesen Standpunkt auch
vertreten.
Nun hat die Kollegin
Matthäus-Maier eine Zwischenfrage. Gestatten Sie das?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Bitte.
Herr Minister, da Siein diesem Hause neu sind, darf ich Sie darauf aufmerk-sam machen, daß sich diejenigen unter uns, die Mitgliedim Vermittlungsausschuß sind, sehr gut daran erinnern,daß die Regelung der Kürzung bzw. Streichung von So-zialhilfe im Vermittlungsausschuß mit den Stimmen derSPD beschlossen worden ist.
Herr Fuchtel, tun Sie nicht so, obwohl Sie das Gegenteilwissen. Es ist eine Frage der Anwendung vor Ort – vonSozialhilfeträgern und Arbeitsämtern –, ob überhauptund in welcher Form man das Ganze anwendet.
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Was Sie sagen, bestätigt das, was ich ge-sagt habe. Der entsprechende Zwischenruf ist damitnochmals erledigt.Neben den arbeitslosen Jugendlichen haben es dieLangzeitarbeitslosen besonders schwer.
Ein Drittel aller Arbeitslosen ist länger als 12 Monateohne Beschäftigung. Diesen Menschen helfen wir durchdas Langzeitarbeitslosenprogramm.
Bis zum Jahr 2001 stehen hierfür jährlich 750 Millio-nen DM zur Verfügung. So können voraussichtlich140 000 Langzeitarbeitslose in den Arbeitsmarkt inte-griert werden.
– Ich bin sehr dafür, daß Sie auch den neuen Haushaltmit beschließen.Auf die schwierige Arbeitsmarktsituation in denneuen Bundesländern zielen die Strukturanpassungs-maßnahmen. Für Strukturanpassungsmaßnahmen gibtdie Bundesanstalt in diesem Jahr voraussichtlich insge-samt rund 5,5 Milliarden DM aus. Mit den Mitteln kön-nen im Jahresdurchschnitt 1999 rund 200 000 Menschengefördert werden, davon rund 180 000 in den neuenBundesländern.Aktive Arbeitsmarktpolitik ist mehrdimensional. Wieauch in anderen Bereichen gibt es natürlich keinePatentrezepte. Wir haben ein zielgenaues, effizientesund flexibles Maßnahmenbündel auf den Weg gebracht.Aktive Arbeitsmarktpolitik läßt sich gut mit einem Bau-kastensystem vergleichen. Die einzelnen Elemente müs-sen zueinander passen, und sie müssen auch richtig
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zusammengebaut werden. Hinter der Arbeitslosigkeitstehen Tausende von Schicksalen und Abertausende vonGründen. Mit einem groben und starren Raster kommenwir nicht weiter. Das ist in der Vergangenheit deutlichgeworden. Manche Bausteine passen nicht mehr. Wirhaben uns daher vorgenommen, die Arbeitsmarktpolitikin Zukunft noch zielgenauer und personennäher zugestalten. Nur wenn dies gewährleistet ist, können wirRechte und Pflichten, so wie wir es gerade diskutierthaben, auch wieder in ein vernünftiges Lot bringen. Daswird das Ziel unserer SGB III-Reform sein. Wir wolleneine bessere Wiedereingliederung der Arbeitslosen.Ich habe eben gesagt, daß wir heute einen Haushaltvorlegen, mit dem wir wirksam die Arbeitslosigkeit be-kämpfen. Mit finanziellen Mitteln allein funktioniert dasnicht. Das ist richtig, denn es gibt keine Formel: mehrGeld gleich weniger Arbeitslosigkeit.
Nicht zuletzt deswegen setzen wir auch auf das Bündnisfür Arbeit, weil wir wissen, daß es mit Geld allein nichtzu machen ist.
Wir alle wissen: Es gibt weder einen Königsweg nochein Patentrezept, um Arbeitslosigkeit abzubauen. Esgeht nur mit einer gemeinsamen Anstrengung, bei derjeder in seinem Verantwortungsbereich seinen Beitragzur Lösung des Gesamtproblems einbringen muß. Wersich allerdings dem Konsens verweigert, kommt demgemeinsamen Ziel überhaupt keinen Schritt näher.
Herr Minister, es
liegt noch eine Wortmeldung zu einer Zwischenfrage
vor. Gestatten Sie sie?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und
Sozialordnung: Ja.
Bitte sehr, Herr
Kollege Seifert.
Herr Minister, auch Sie wer-
den sicher nicht bestreiten, daß die Arbeitslosigkeit un-
ter Schwerbehinderten besonders hoch ist. Sie haben
sich dazu ja gerade auch in Dresden geäußert. Das fand
ich sehr positiv und freue mich darüber. Hielten Sie es
unter diesen Umständen eigentlich nicht für sinnvoll,
daß am Bündnis für Arbeit auch Vertreter der Behin-
dertenorganisationen teilnehmen könnten, wie es von
diesen seit langem gefordert wird? Es würde mich inter-
essieren, ob Sie dazu eine Meinung haben und ob nicht
entsprechende Vertreter dazu eingeladen werden könn-
ten.
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Ich möchte Ihnen dazu differenziert ant-
worten, weil es mir wichtig erscheint. Wir befinden uns
da in einer ganz schwierigen Situation. Wir haben Wirt-
schaft und Gewerkschaften eingeladen. Bei den Vertre-
tern der Wirtschaft haben wir beispielsweise trotz nach-
drücklichen Nachfragens von seiten der Mittelstandsver-
einigungen irgendwo einen Schnitt setzen müssen. Uns
ist aber wichtig, daß wir die Belange von Arbeitslosen,
von Schwerbehinderten, von Kirchen und von Frauen in
die Problemstellungen einbringen und bei den Lösungen
berücksichtigen. Das ist uns wichtig. Ich darf Ihnen
versichern, daß sich im Zweifelsfall hier auch konkre-
tere Aufgaben stellen als die, an dem Kreis von 12 oder
14 Menschen teilzunehmen, die sich heute nachmittag
wieder treffen.
Sie dürfen davon ausgehen: Mir ist das Anliegen ge-
rade der behinderten Menschen sehr wichtig. Ich setze
mich gerade im Rahmen unserer Präsidentschaft in der
Europäischen Union dafür ein, das zu einem der drei
Themen zu machen, die wir in die beschäftigungspoliti-
schen Fragen einbringen.
Der Kollege Seifert
hat noch eine Zusatzfrage. – Bitte sehr.
Wäre es denn, Herr Minister,nicht sinnvoll, kurzfristig Vertreterinnen und Vertreterder Behindertenverbände einzuladen, die dann wenig-stens Sie beraten, damit Sie das Anliegen auf europäi-scher Ebene aus der Sicht der Betroffenen einbringenkönnen? Wir kennen ja unsere Situation am besten.Wäre es nicht eine Möglichkeit, ein paar von unserenVertretern einzuladen?Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Ich werde es machen.
Ich sagte, der Konsens darf nicht verweigert werden.Wer den Karren bewußt vor die Wand fahren will, ent-zieht sich seiner gesellschaftlichen Verantwortung, aberdie Gesellschaft wird es wahrnehmen. Ludwig Erhardhat gesagt, daß 50 Prozent des wirtschaftlichen Erfolgesauf Psychologie beruhen. Ich weiß nicht, ob es so ist,aber ein Teil Wahrheit wird darin liegen. Deswegenwarne ich vor dem permanenten Schlechtreden der Si-tuation.
So trüb, wie auch einige Vertreter der Wirtschaft unserLand sehen, stellt sich die Lage weiß Gott nicht dar. Ichplädiere auch hier für einen klaren Blick.
Bundesminister Walter Riester
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1638 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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– Vielleicht erinnern Sie sich an die Standortdebatte derletzten zehn Jahre. Wie katastrophal wurde unser Stand-ort heruntergemacht! Auch in dieser Zeit, in der IhrePartei den Wirtschaftsminister gestellt hat, habe ichmich gegen diese Art der Diskussion gewandt.
Ich plädiere in diesem Zusammenhang für einen kla-ren Blick. Deutschland besitzt immer noch eine guteSubstanz. Um sie wieder fruchtbar zu machen, brauchenwir Konsens statt Konflikte. Wir brauchen Menschen,die zum Kompromiß bereit sind, anstatt laufend dieKonfrontation zu suchen.
Alle am Bündnis Beteiligten müssen dabei mögli-cherweise über ihren Schatten springen. Daß dies geht,zeigen Erklärungen, die beispielsweise von DieterSchulte und heute früh von Hubertus Schmoldt abgege-ben wurden. Beide sagten: Wir sind nicht nur bereit, wirhalten es sogar für notwendig, auch über Tarifpolitik zusprechen. – Im übrigen: In jedem Bündnisgespräch ha-ben wir über Tarifpolitik gesprochen. In diesem Bereichgibt es Auflockerungen. Ich denke daher, daß wir heutenachmittag in einen sehr guten Dialog eintreten werden.Trotz mancher Querschläger möchte ich Ihnen einenweiteren Erfolg des Bündnisses kurz skizzieren: AlleBeteiligten waren sich einig, daß die von der alten Bun-desregierung geplante Anrechnung von Entlassungs-abfindungen auf das Arbeitslosengeld keinen Sinnmacht. Es war nämlich geplant, daß Abfindungen ineinem erheblichen Umfang auf das Arbeitslosengeldangerechnet werden sollen. Diese Regelung hätte dieArbeitnehmer schon ab dem 7. April dieses Jahres un-mittelbar und in vollem Umfang getroffen. Diese Rege-lung ist nicht nur sozial unausgewogen, sondern auchverfassungsrechtlich bedenklich. Sie wurde deshalbsowohl von den Arbeitgebern als auch von den Gewerk-schaften zu Recht kritisiert.Die Koalitionsfraktionen bringen deshalb heute denEntwurf eines Änderungsgesetzes ein. Wir schaffen da-mit eine neue, ausgewogene gesetzliche Regelung. Da-mit stellen wir sicher, daß den Arbeitnehmern der über-wiegende Teil der Abfindung verbleibt.
Gleichzeitig werden wir verhindern, daß sich die Unter-nehmen insbesondere von ihren älteren Arbeitnehmernauf Kosten der Allgemeinheit auf dem Weg der Frühver-rentung trennen. Es darf nicht sein, daß die finanzielleLast der Arbeitslosen- und Rentenversicherung aufge-bürdet wird.Ich kann mir sehr wohl Lösungen – etwa im Bereichder beruflichen Weiterbildung – vorstellen, mit denenArbeitslosigkeit vermieden werden kann und die denälteren Arbeitnehmern einen intelligenteren Übergangvom Erwerbsleben in den Ruhestand ermöglichen. Überdiesen Punkt waren sich die Bündnispartner einig. Des-halb werden wir an dieser Frage weiter arbeiten. Dafürbedarf es aber Zeit.In dem Fall der eben von mir angesprochenen Rege-lung standen wir aber unter erheblichem Zeitdruck. Dreimir bekannte Betriebsräte haben mich angerufen und ge-fragt, ob sie davon ausgehen können, daß am 7. Aprildas alte Gesetz nicht greift. Mir sagte beispielsweise derBetriebratsvorsitzende von Karmann: Wenn wir davonausgehen können, daß das Gesetz nicht greift, könnenwir sofort 140 Entlassungen, die vorbehaltlich ausge-sprochen worden sind, aufheben und rückgängigmachen. Diese Entlassungen wurden so terminiert,damit die Entlassungsabfindungen nicht auf das Ar-beitslosengeld angerechnet werden. Das sind die richti-gen Schritte, die wir angehen müssen.
Die Beteiligten am Bündnis für Arbeit haben sich da-her auf meinen Vorschlag hin darauf geeinigt, wegendes zeitlichen Drucks hinsichtlich des 1. April 1999 zu-nächst den Rechtszustand wiederherzustellen, der biszum 31. März 1997 bestanden hat. Künftig wird der An-spruch auf Arbeitslosengeld ruhen, wenn eine Abfin-dung gezahlt und die maßgebliche Kündigungsfrist nichteingehalten wird.
– Diese Regelung bestand vor Inkrafttreten des Geset-zes, welches wir jetzt korrigieren müssen. – Der Arbeit-geber ist verpflichtet, das Arbeitslosengeld für ältereArbeitnehmer unter bestimmten Voraussetzungen zu er-statten.Wir sind uns einig, daß wir die Gespräche im Bünd-nis für Arbeit über eine gesetzliche Neuregelung derEntlassungsabfindung fortsetzen müssen. Das zeigt: Dergemeinsame Wille, das gesamtgesellschaftliche ProblemArbeitslosigkeit Schritt für Schritt zu lösen, ist vorhan-den.Heute nachmittag werden wir uns im Bundeskanzler-amt zum zweiten Mal auf oberster Ebene zusammenset-zen, um erste Zwischenergebnisse zu besprechen undum weitere Umsetzungsschritte zu verabreden. An-schließend wird in insgesamt neun Arbeitsgruppen wei-ter gearbeitet. Das Bündnis ist Arbeit. Wer diese Arbeitnicht scheut, der legt das Fundament für mehr Arbeit,Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit.
Nun zum Thema Rente. In der Rentenpolitik ist er-neut eine Diskussion entstanden.
Das wäre zunächst als gut zu bezeichnen, denn die Vor-gängerregierung hat einen Berg von ungelösten Proble-men, Stückwerk und verfehlten Einschnitten in dasRentenrecht hinterlassen.
Bundesminister Walter Riester
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1639
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Wir brauchen eine Debatte, um nach vielen Jahren tieferVerunsicherung in der Bevölkerung über die Sicherheitder Renten wieder Klarheit herzustellen.
Die schlimmsten Auswirkungen des Rentenreformge-setzes 1999 haben wir zu Beginn des Jahres gestoppt.Das betrifft den Demographiefaktor und die Kürzungenbei den EU- und BU-Renten, die wir bis Ende 2000 aus-gesetzt haben.
Als weitere Hypothek hat uns die alte Bundesregie-rung das Familienurteil des Bundesverfassungsge-richts beschert.
Das Verfahren ist seit dem 15. Juli 1991 anhängig.
Sie hatten also sieben Jahre Zeit, die finanzielle Situa-tion der Familien zu korrigieren.
Ich sage Ihnen eines: Sie wußten ganz genau, was aufuns zukommt. In der Urteilsbegründung ist nachzulesen,daß Sie mehrfach eine Verbesserung der Familienbe-steuerung geprüft haben, diese jedoch immer wiederverworfen haben. Ihnen war die Problematik also be-kannt. Nur gehandelt haben Sie nicht.
Auch in der Frage der Rentenbesteuerung ist ein Ver-fahren beim Bundesverfassungsgericht anhängig. Auchhier werden wir, je nachdem, wie das Urteil lauten wird,die Suppe auslöffeln müssen, die Sie uns eingebrockthaben.
Die Rentenpolitik der alten Regierung läßt sich aufden Nenner bringen: Wegschauen, abwarten und aussit-zen.
Nun müssen wir handeln.
Wir werden handeln und für die Zukunft Sicherheit derRenten und stabile Beiträge herbeiführen.
Herr Minister, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Kues?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Ja.
Bitte sehr.
Herr Minister Rie-
ster, Sie haben eben gesagt, wir hätten in der Renten-
politik alles ausgesessen. Können Sie mir erklären, wes-
halb Sie dann etwas zurücknehmen mußten?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Ich habe gesagt, Sie haben nicht nur ausge-
sessen, sondern Sie haben auch falsche Entscheidungen
getroffen, und die mußten wir zurücknehmen.
Aber ich sage Ihnen: Mit dieser Regierung wird es
kein Stückwerk mehr geben.
Wir werden eine Reform erarbeiten, die das Gesamtsy-
stem der Alterssicherung umfaßt. Vorsorge für das Alter
soll wieder für jeden kalkulierbar werden.
Herr Minister, ge-
statten Sie auch eine Zwischenfrage der Kollegin
Schwaetzer?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Das ist Ihre erste heute. Bitte schön, Frau
Schwaetzer.
Herr Minister,bedeutet das, was Sie dem Kollegen Kues eben geant-wortet haben, daß Sie definitiv ausschließen, bei derRentenreform die demographische Entwicklung mit zuberücksichtigen? Denn das war doch wohl kurzgefaßtdas, was Sie gesagt haben, nämlich daß es eine falscheEntscheidung gewesen sei.
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Darauf kann ich Ihnen eine ganz klareAntwort geben, Frau Schwaetzer: Nur ein Tor würde diedemographische Entwicklung ausschließen.
Bundesminister Walter Riester
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1640 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Die entscheidende Frage ist, wie dieses Problem gelöstwird. Wir wollen es nicht so gelöst haben.
Die Zukunft der Rentenversicherung hängt im we-sentlichen von vier Faktoren ab:
erstens von der arbeitsmarktpolitischen Entwicklung,zweitens von der Veränderung der Erwerbsbiographien,drittens von der demographischen Entwicklung, viertensaber auch von strukturellen und steuerlichen Fragen.Die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt werden wiraktiv verbessern. Das läßt sich an unserem Etat für dieArbeitsmarktpolitik ablesen.Mit der Veränderung der Erwerbsbiographien einhergeht die Erosion sozialversicherungspflichtiger Be-schäftigungsverhältnisse.
– „Jetzt kommt's!“ Ich mache jetzt aber keine Ankündi-gung, sondern lege dar, was wir schon gemacht haben.Wir haben über die Fragen der Scheinselbständigkeitund der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse nichtnur geredet, sondern wir sind auch an deren Lösung her-angegangen.
Wenn wir die demographische Entwicklung und diesteuerrechtlichen Fragen in die Fortentwicklung derRentenversicherung einbeziehen, werden wir diese Re-gelung auch hinbekommen.In dieser Debatte wird es aus meiner Sicht keineDenkverbote geben. Das Folgende sage ich ebenfallssehr deutlich angesichts der Diskussion, die ich in denletzten Tagen erlebt habe: Zwei plus zwei muß auch vierbleiben. Die vier Grundrechenarten möchte ich bei derGeschichte nicht ausschalten.
Wenn sie ausgeschaltet werden und ich Begriffe wie„Rentenlüge“ höre,
dann hätte ich eigentlich erwartet – das muß ich Ihnensagen –, daß Ihr Fraktionsvorsitzender interveniert.
Wissen Sie, ich persönlich kann das ab. Aber die Millio-nen Rentner, die dadurch verunsichert werden, könnenes nicht ab.
Ich habe mir zum Ziel gesetzt, bis zum Ende diesesJahres Eckpunkte für eine Reform auszuarbeiten, die wirim nächsten Jahr auf den Weg der Gesetzgebung brin-gen werden. Ich fordere die Opposition ganz bewußtauf, dort mitzuarbeiten.
Ich möchte einen breiten Konsens; ich möchte, daß wirdiesen Ausrutscher und diesen Begriff möglichst schnellvergessen können. Mir geht es darum, daß wir nicht dieMenschen verunsichern.
Vielmehr sollten wir an diesem großen Projekt gemein-sam arbeiten.
Herr Minister, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckel-
burg?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Bitte.
Ich möchteSie, Herr Minister, angesichts dessen, was Sie eben übereine Intervention des Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion gesagt haben, fragen, ob Sie die Interventiondes Bundesgeschäftsführers der SPD, Ottmar Schreiner,bezüglich Ihrer Aussage zur Rente als Lob verstandenhaben.
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Zunächst einmal muß ich Ihnen sagen, daßich diese Frage intern und nicht im Deutschen Bundes-tag bespreche.
Aber die Aussagen von Ottmar Schreiner sind nicht aufdem üblen Niveau der Aussagen, die Sie gemacht haben.
Bundesminister Walter Riester
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1641
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Die Aussagen von Herrn Schreiner
haben nicht Millionen von Menschen verunsichert, wiedas bei den Aussagen, die getan wurden und die über diedeutschen Medien verbreitet wurden, der Fall war. Mirkann bis zum heutigen Tag in der politischen Debattekeiner Lügen nachsagen. Dabei möchte ich es auch be-lassen.
– Nun möchte ich ohne weitere Unterbrechung fortfah-ren. Ich habe sehr viele Zwischenfragen zugelassen.Aber nun möchte ich gern mit meinen Ausführungenzum Schluß kommen.
Ich wollte das ohne-
hin vorschlagen. Ich glaube, wir tun uns allen einen Ge-
fallen, wenn wir an dieser Stelle sagen: Keine weiteren
Zwischenfragen mehr. Wir wissen, daß sonst der zeitli-
che Plan der Debatte durcheinandergerät. Deswegen,
Herr Minister, fahren Sie bitte fort.
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Ziel unserer Reformbemühungen ist es, ei-
nen Ausgleich zwischen den berechtigten Ansprüchen
der heute älteren Generation und den Erwartungen und
Interessen künftiger Rentnergenerationen zu finden. Da-
bei muß es uns gelingen, den Beitragssatz über einen
möglichst langen Zeitraum stabil zu halten. Meine Da-
men und Herren, daran dürfen Sie mitarbeiten!
Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sind Vertrauenssa-
che. Nur wer Vertrauen bei den Menschen hat, kann eine
erfolgreiche Politik machen. Der von uns heute einge-
brachte Haushaltsentwurf 1999 ist ein Haushalt des
Vertrauens.
Die Menschen wissen, daß sie sich wieder auf die Poli-
tik verlassen können. Dieser Haushaltsentwurf läßt der
Sozialpolitik ihren angemessenen Stellenwert zukom-
men. Eine verläßliche Sozialpolitik ist auf Dauer auch
Voraussetzung für eine wettbewerbsfähige Wirtschaft.
In diesem Sinne appelliere ich an Sie, dem Haus-
haltsentwurf zuzustimmen.
Wenn ich es richtig
verstanden habe, möchte der Kollege Johannes Sing-
hammer nach § 27 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung das
Wort zu einer Zwischenbemerkung haben. Ist das richtig?
Bitte sehr.
Herr Mi-
nister, Sie haben von einer Verunsicherung der Rent-
nerinnen und Rentner gesprochen. Ich möchte einmal
auf den Sachverhalt hinweisen: Sie von der Koalition
waren es, die vor der Wahl den Eindruck erweckt haben,
als sei eine demographische Komponente in der Ren-
tenversicherung ein Übel.
Sie haben den Eindruck erweckt, als ob man ohne weite-
res ohne Abzüge mit 60 Jahren in Rente gehen könne.
Sie, Herr Riester, waren es, der am Rosenmontag im
Rahmen der Diskussion über die Renten – zu aller Über-
raschung und ohne irgendeinen Anlaß – die Entkoppe-
lung der Rente vom Nettolohn forderte. Später haben
Sie dann gesagt, dies sei nicht so, sondern anders gemeint
gewesen. Im Anschluß daran erklärt jetzt der Bundes-
kanzler, selbstverständlich müsse man über die Einfüh-
rung einer demographischen Komponente nachdenken.
Dieses Hin und Her haben nicht nur wir so empfun-
den. So hat beispielsweise der Präsident des VdK, Herr
Hirrlinger, das Wort „Wahlbetrug“ in den Mund ge-
nommen und dies in der Presse auch veröffentlicht. Jetzt
können Sie doch hier der Opposition nicht den Vorwurf
machen, wir hätten die Rentnerinnen und Rentner – das
sind 17 Millionen Menschen in unserem Land – verun-
sichert. Das waren doch Sie!
Ich hätte hier und heute erwartet, daß Sie klarstellen,
was nun gilt: Ihr Wort, das des Bundeskanzlers oder ir-
gendeines Dritten.
Herr Minister, Siekönnen darauf antworten. – Bitte sehr.
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Erster Punkt: Herr Singhammer, es ist mirsehr recht, daß gerade Sie diese Frage gestellt haben,weil Sie die unzulässige Aussage in die Öffentlichkeitgebracht haben, wir hätten den Rentnern das Paradiesversprochen. Das hat niemand getan.Ich darf für mich – das habe ich gerade dargestellt –in Anspruch nehmen, folgendes gesagt zu haben
– ich antworte gerade Herrn Singhammer –: Die demo-graphische Problematik ist groß. Dafür brauchen wirLösungen. Wir lehnen aber die Lösung der alten Regie-rung ab und müssen eine neue entwickeln.
Bundesminister Walter Riester
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1642 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Zweiter Punkt: Ich habe nicht gesagt: Wir gehen vomNettoanpassungsprinzip weg. Ich weise aber darauf hin,daß das, was Sie verschämt als Demographiefaktor be-zeichnen, ein Abweichen vom Nettoanpassungsprinzipist, weil es eine Minusformel ist.
Dritter Punkt: Ich habe öffentlich darauf hingewiesen– nur das habe ich getan –, daß aus der jetzt erfolgtenSteuerentlastung und insbesondere aus dem Verfas-sungsgerichtsurteil eine Wirkung hervorgeht, die bei ei-ner Umsetzung von 1 : 1 zwangsläufig dazu führen wür-de – jetzt nenne ich Ihnen die entsprechende Zahl –, daßder Rentenversicherungsbeitrag wieder um 1,1 Prozent-punkte angehoben wird. – Die Ehrlichkeit gebietet es,darauf hinzuweisen. – Das wäre im übrigen – ungeachtetdes Demographiefaktors – exakt die gleiche Wirkung,wie Ihre Petersberger Beschlüsse sie ausgelöst hätten.Ich bin interessiert daran – wir sollten zu einem ruhi-geren Ton übergehen –, daß wir diese Fragen zusammenund angemessen besprechen. Denn es ist unser gemein-sames Problem, zu einer sachgerechten Lösung zukommen. Dies ist – um es vorsichtig zu formulieren –sehr schwierig, wenn, wie hier geschehen, in einer sol-chen Form mit Begriffen Verunsicherung bei Menschenausgelöst wird, die die unmittelbaren Zusammenhängenicht so genau kennen, wie ich sie Ihnen gerade geschil-dert habe. Diese Form des Umgangs sollten wir in Zu-kunft unterlassen.
Nun hat das Wort
der Kollege Dr. Hermann Kues, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Riester,ich sage Ihnen ausdrücklich zu, daß wir in der Renten-frage zur Zusammenarbeit bereit sind.
– Sie können ruhig Beifall klatschen. Das ist tatsächlichder Fall.Das setzt allerdings voraus – Sie sind an der Regie-rung –, daß Sie ein in sich schlüssiges Konzept vorlegen.Vor allen Dingen aber müssen Sie Fakten zur Kenntnisnehmen, die es nun einmal gibt, zuallererst den Demo-graphiefaktor, von dem die ganze Zeit die Rede ist.Vielleicht weiß kaum einer, was damit gemeint ist: Da-mit ist der sich ändernde Altersaufbau der Bevölkerunggemeint. Sie müssen im Verlauf dieses Jahres Abbittetun, weil Sie mit den Gefühlen der Rentnerinnen undRentner im Wahlkampf Schindluder getrieben haben.
Auch die Art und Weise, wie Sie 100 000 Jugend-liche instrumentalisieren,
finde ich schäbig und unanständig.
Es geht nicht um die Frage, wie viele Jugendliche unter-gebracht werden. Mit einem Programm, bei dem pro Ju-gendlichem 20 000 DM eingesetzt werden, werden Sie– Gott sei Dank – viele Jugendliche unterbringen. Wirwerden aber genau darauf achten, aus welchen Pro-grammen diese Mittel abgezogen werden. Erst dannkönnen wir Bilanz ziehen.Sie unterliegen einem großen Irrtum – in Ihrer Redewar sehr oft davon zu hören, wieviel Geld Sie ausgebenwollen –: Die Probleme des Sozialstaates und des Ar-beitsmarktes lösen wir nicht mit immer mehr Geld.Vielmehr müssen wir an die Strukturen heran, wir müs-sen die Strukturen verändern. Deshalb sind Sie mit IhrerArgumentation auf dem Holzwege.
– Das Argument mit den 16 Jahren kommt sehr oft. Ichpflege darauf zu sagen: Dafür, daß Sie 16 Jahre Zeithatten, zu überlegen, wie Sie es machen wollen, ist das,was herausgekommen ist, mehr als dürftig.
Herr Minister Riester, ich fand es im übrigen sehrmutig, daß Sie sich eben zu den 630-Mark-Beschäftigungsverhältnissen geäußert haben. Denn derBundeskanzler ist ja nicht anwesend. Sie können über-haupt nicht sicher sein, ob er nicht draußen – vielleichtin irgendeiner Talkshow – einen ganz neuen Vorschlagunterbreitet. Das ist doch eines Ihrer Hauptprobleme:daß Sie um völlig unsinnige Vorgaben des Bundes-kanzlers herum Gesetze basteln müssen. Die könnennatürlich nicht passen. Das ist ein Teil Ihres Problems.Insofern tun Sie mir sogar leid.In den vergangenen Tagen, gestern und vorgestern,ist in den Reden des Bundesfinanzministers und desBundeskanzlers der Begriff „soziale Gerechtigkeit“ ingeradezu inflationärer Weise verwandt worden, gele-gentlich gebraucht in der Kombination „soziale Gerech-tigkeit und Modernität“ oder „soziale Gerechtigkeit undInnovationen“. Wer das so häufig wiederholt, der hatseine Gründe. Ich will sagen, welche Gründe ich sehe:Sie versuchen, Nebelkerzen zu werfen, damit keiner sorecht merkt, was Sie in den ersten drei, vier Monatennicht hinbekommen haben. Sie werfen die Nebelkerze„soziale Gerechtigkeit“, damit keiner an die wirklichenSachverhalte herangeht. Sie sind – das kann man amBeispiel der 630-Mark-Jobs festmachen, aber auch ananderen Feldern – mit Ihrem sozialpolitischen Latein amEnde.
In der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik haben Sie inallerkürzester Zeit einen Trümmerhaufen angerichtet.
Bundesminister Walter Riester
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Bei all den Schritten, die Sie angefangen haben, ist nichtzu erkennen, wie damit etwas für den Beschäftigungs-aufbau getan werden kann. Im Gegenteil: Es handeltsich um bürokratische Monster, arbeits- und sozialrecht-liche Ungetüme, Pfuscharbeit. Mit pathetischen Wortenwerfen Sie Nebelkerzen, damit keiner merkt, daß Sienicht so recht wissen – das ist doch eine der Kernfragen,über die wir diskutieren müßten –, wie eine zukunftsfä-hige Sozialpolitik unter veränderten wirtschaftlichen undgesellschaftlichen Bedingungen formuliert werden kann.Was heißt „gerecht“, wenn sich alles um uns herumwandelt?Innovative Strukturpolitik beschränkt sich mit Si-cherheit nicht auf noch so hohe Geldzahlungen. Sie zei-gen das typische Denken der Wohlstandsgesellschaft:Sie zahlen Geld; damit ist die Sache erledigt. Sie küm-mern sich nicht um die Menschen. Eine solche Politik istzum Scheitern verurteilt. Sie hemmt und blockiert denStrukturwandel, statt ihn im Sinne sozialer Gerechtigkeitund wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit zu gestalten.
Heute kommt es darauf an, Strukturen so zu verän-dern, daß Arbeitsmöglichkeiten entstehen und daß sichArbeit lohnt; Anreize so zu gestalten, daß der Ehrlichenicht das Gefühl hat, der Dumme zu sein.
Heute kommt es darauf an, Verantwortungsbereitschaftzu wecken und für den Grundsatz der Gegenseitigkeit zuwerben. Ich sage es etwas differenzierter als Herr Zwik-kel, Ihr ehemaliger Vorsitzender der IG Metall:
Wir müssen für den Grundsatz der Gegenseitigkeit wer-ben. Das heißt, wer vom Staat und von der staatlichenGemeinschaft etwas erhält, der hat die innere Ver-pflichtung, im Rahmen seiner Möglichkeiten zurückzu-geben.
Wer nimmt, der muß auch geben. Wir spüren – dassollte man ganz offen diskutieren – die Kehr- undSchattenseiten der Wohlstandsgesellschaft. Sie wollenein soziales Fernwärmesystem erhalten,
das die wirklich Bedürftigen kaum noch erreicht. Diesefallen durch den Rost.
Herr Minister Riester, ich sage ausdrücklich: Sie sindin gewisser Weise zu bedauern. Vielleicht sind Sie auchein Unglücksrabe. Die „Süddeutsche Zeitung“ schriebam 23. Februar: „Riester zwischen allen Stühlen“. „DieWelt“ schreibt: „Riester als Flickschuster“. Sie müssengesetzliche Regelungen um unsinnige Vorgaben desBundeskanzlers herumschaffen. In der Regel – hier be-zogen auf die 630-Mark-Arbeitsverhältnisse – sind dasNotoperationen, die lediglich neue Probleme aufwerfen,statt alte zu lösen. So sehen auch Ihre Gesetzentwürfeaus.
Aber vielleicht kann ich Sie trösten: Falls Herr SchröderSie jemals nach Hause schicken sollte, wird er Sie viel-leicht in seinem Dienstwagen dahin bringen.
Sie haben gemerkt, daß Sie mit den Rentenkorrektu-ren vor Weihnachten nicht bezahlbare Geschenke ver-teilt haben. Davon werden Sie noch im Verlauf diesesJahres eingeholt, wenn Sie Ihren Terminplan einhaltenund bis Ende des Jahres ein Konzept vorlegen.Darüber, was Sie sich gegenseitig – ich beziehe dasauf den Kanzler und sein Verhältnis zu Ihnen; von Ih-nen, Herrn Schreiner, will ich gar nicht reden; das, wasSie eben gesagt haben, war sehr aufschlußreich; Siesagten nämlich, das sei nicht das Niveau, auf dem wirhier diskutieren; in diesem Fall will ich Ihnen zustim-men – in sozialdemokratischer Verbundenheit antun,kann man nur schmunzeln. Nicht zum Schmunzeln istjedoch folgendes: Sie sind beim zentralen Ziel IhrerWirtschafts-, Gesellschafts- und Sozialpolitik, nämlichbei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, in den erstenvier Monaten Ihrer Regierungszeit keinen einzigenSchritt vorangekommen.
Im Gegenteil: Die Zahl der Arbeitslosen ist auf4,4 Millionen gestiegen; das ist eine halbe Million mehrals zu unserer Regierungszeit. Diese Arbeitslosen gehenauf Ihr Konto. Dafür tragen Sie und Ihr Bundeskanzlerdie Verantwortung.
Die Zahl der Arbeitslosen ist nur ein Aspekt. Da wirdmit allen möglichen statistischen Tricks gearbeitet. – Ichhabe dazu schon an anderer Stelle etwas gesagt. – Dasist vielleicht ein Nebenaspekt, den Sie bei der Art undWeise, wie Sie die geringfügigen Beschäftigungsver-hältnisse gestalten, im Auge haben. Eine andere Frageist, wie sich die Zahl der Erwerbstätigen entwickelt.Diese Zahl ist seit Ihrer Regierungsübernahme um150 000 gesunken. Die Bundesanstalt für Arbeit – sie istrelativ unverdächtig – sagt dazu: Die Erwerbstätigkeit istnicht mehr vorangekommen. – Das ist der Punkt.
– Schröder will sich daran messen lassen. Wir werdenihn daran messen. Ich bin ziemlich sicher, daß er vondieser Politik eingeholt wird.Wenn es stimmt – ich gebe zu, daß das mittlerweilefast eine Floskel geworden ist –, daß die Arbeitslosigkeitdie größte soziale Ungerechtigkeit ist, und wenn es zu-Dr. Hermann Kues
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trifft, daß sozial ist, was zu weniger Arbeitslosen und zumehr Beschäftigung führt, dann ist Ihre Politik nicht nurunausgegoren, sondern auch in hohem Maße unsozial.
Ich sage Ihnen auch, warum Ihre Politik zum Mißerfolgverdammt ist – ich habe noch einmal nachgelesen, wasich eingangs der Legislaturperiode, vielleicht etwas vor-schnell, gesagt habe; ich kann das aber gut wiederho-len –: Sie ist zum Mißerfolg verdammt, weil Sie nichtden Mut und die Kraft haben, eine zukunftsweisendeSozialpolitik und Arbeitsmarktpolitik mit strukturver-ändernden Maßnahmen zu formulieren und auchdurchzusetzen. Wir brauchen einen Arbeits- und So-zialminister mit Rückgrat, der die Kraft hat, im Kabinettdagegenzuhalten.
– Den haben Sie nicht.Sie müssen Strukturen schaffen, so wie wir es ange-fangen haben. Ich nenne Ihnen die Stichworte: Dezen-tralisierung, Nutzung der Phantasie der Regionen,Kombilohnmodelle und Beteiligungschancen im Nied-riglohnbereich. – Dazu hätten Sie jetzt schon die Mög-lichkeit gehabt. – Nur so haben Langzeitarbeitslose undGeringqualifizierte tatsächlich eine Chance.
Ich werde es Ihnen nicht durchgehen lassen, wenn Siedas Stichwort Langzeitarbeitslose in den Mund nehmen.Sie sollten zunächst Ihr Interview aus dem „Magazin“der „FAZ“ zurücknehmen, das ich Ihnen schon einmalvorgehalten habe und in dem Sie gesagt haben: Was ausdenen wird, die nicht so recht qualifizierbar sind, inter-essiere Sie im Moment nicht. – Damit stempeln Sie 1 bis2 Millionen Menschen ab.
Ich finde es ungeheuerlich, wie Sie mit diesen Menschenumgehen.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßen?
Bitte sehr.
Herr Kollege Kues, Sie haben
gerade die Dezentralisierung bei den Ämtern und die
Forderung angesprochen, daß man mehr in den Regio-
nen arbeiten solle. Ist Ihnen eigentlich bekannt, daß das
2-Milliarden-DM-Programm dezentral in den Verwal-
tungsräten der Arbeitsämter – und zwar ganz konkret,
jede Region für sich – ausgearbeitet wird, daß jedes Ar-
beitsamt eigene Ideen einbringen kann und daß sich
Bürgermeisterämter und karitative Einrichtungen beim
Arbeitsamt einbringen können? Wie weit wollen Sie mit
der Dezentralisierung eigentlich noch gehen? Oder ist
Ihnen das nicht bekannt?
Herr Kollege Dre-ßen, ich habe mehrere Arbeitsämter besucht; Sie sicherauch. Wenn Sie sich mit den Leuten unterhalten, dannwerden Sie eines feststellen: Jeder begrüßt, wenn mehrGeld zur Verfügung steht. Als Arbeitsamtsdirektor wür-de ich das auch tun. Ich freue mich über jeden Jugendli-chen, der auf diese Art und Weise in Ausbildung undBeschäftigung kommt. Sie müssen aber ein Konzept ha-ben – denn 20 000 DM pro Jugendlichen werden Sienicht durchhalten –, und ein Konzept erhalten Sie durchStrukturveränderungen. Den Leuten wird doch wiederetwas vorgemacht: Sie haben das Programm, wenn ichdas richtig in Erinnerung habe, doch auf ein Jahr be-grenzt. Dezentralisierung ist gut; was Sie aber an Illu-sionen wecken, indem Sie – ich sage das einmal ganz di-rekt – Geld rauswerfen, das halte ich für schäbig, weilSie den Jugendlichen nicht wirklich helfen.
Ich glaube, ein wichtiger Punkt ist – ich könnte dasauch auf die Tarifpolitik beziehen; wenn ich gleich nochZeit dazu habe, werde ich das auch noch tun –, daß Sie,Herr Minister Riester, und die gesamte Bundesregierungden Arbeitsmarkt viel zu sehr aus der Sicht derjenigensehen, die einen Arbeitsplatz haben, und viel zuwenigaus der Sicht derjenigen, die vor der Tür stehen.
– Herr Kollege Wagner, Hochmut kommt vor dem Fall.Vielleicht ist die Tatsache, daß Sie das so handhabenund daß Sie sich zuwenig um die kümmern, die draußenvor der Tür stehen, auch der Grund dafür, daß die jun-gen Leute in Hessen der Union das Vertrauen geschenkthaben.
Denn die erwarten von Ihnen im Grunde genommennichts mehr.Der Bundeskanzler sorgt schon vor: Er hat die Ver-antwortung, versucht aber, den Schwarzen Peter derEuropäischen Union zuzuschieben. Als er noch Mi-nisterpräsident in Niedersachsen war, hat er gesagt, derBund müsse das lösen. Sie müssen sich einmal die Si-tuation in Niedersachsen ansehen – ich komme aus die-sem Bundesland –: Seinem Nachfolger hat er verbrannteErde hinterlassen.
– Sie kennen sich da ja auch aus. Sie werden gleich nochetwas dazu sagen.Er beeinflußt jetzt die sogenannten makroökonomi-schen Daten, und in Niedersachsen geht es bergab. DasDr. Hermann Kues
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läßt sich mit Zahlen belegen. Inzwischen hat Nieder-sachsen bei der Arbeitslosenquote das Saarland bedau-erlicherweise überholt und liegt am Ende der westdeut-schen Flächenländer. Das ist das Ergebnis der Politikvon Bundeskanzler Schröder.
Angesichts der ersten Bilanz dieser Politik ist es mehrals zweifelhaft, ob Schröder auf Bundesebene bei derSchaffung von mehr Arbeitsplätzen Erfolg haben wird.Sie haben als zentrales Instrument das „Bündnis fürArbeit“ angesprochen. Ich will Ihnen ausdrücklich sa-gen: Es ist gut, daß Spitzengespräche stattfinden. Siewissen, daß Gespräche mit den Tarifparteien einen Bei-trag zu mehr Beschäftigung leisten können. Deswegenwerden wir als CDU/CSU-Fraktion alle Bemühungenernsthaft unterstützen, bei diesen Gesprächen zu ver-nünftigen Ergebnissen zu kommen.
Aber diese Treffen allein – nicht das Treffen als sol-ches ist das „Bündnis für Arbeit“ – holen noch keinenArbeitslosen von der Straße, sondern erst die Einigungüber Maßnahmen, die teilweise auch unpopulär seinwerden, macht dies möglich. Wir werden alle Bemü-hungen, alles, was Sie uns vorlegen, daran messen, obSie damit einen Beitrag zur Beseitigung der Arbeitslo-sigkeit leisten. Darüber hinaus werden wir genau schau-en, ob Sie bestimmte Gruppen außen vor lassen. Vonden Behinderten ist schon die Rede gewesen. Ich nennejetzt allgemein: Langzeitarbeitslose, Geringqualifizierte.Ob Sie sich für diese Gruppen etwas einfallen lassen,daran werden wir Sie letztlich messen.Wenn man berücksichtigt, daß schon allein aus de-mographischen Gründen das Erwerbspersonenpotentialin den nächsten vier Jahren – das sind die neuesten Be-rechnungen des IAB – um fast 1 Million zurückgehensoll – exakt weiß das keiner so recht –, muß der entspre-chende Rückgang der Arbeitslosenzahlen fast schon alsMinimalziel gelten. Eigentlich eröffnen sich für IhreRegierung sogar ungeahnte Möglichkeiten. Ich nehmean, daß das auch die Basis für das gewesen ist, was derBundeskanzler gesagt hat.Aber klappen wird es nur, wenn alles auf den Tischkommt, was zur Schaffung von mehr Arbeitsplätzengeeignet ist. Dazu gehören erstens eine an der Produkti-vität orientierte Tarifpolitik, zweitens eine Steuerpolitik,die zu einer drastischen Senkung der Steuer- und Abga-benlast führt, drittens eine Haushaltspolitik, die die Aus-gabendynamik bremst und mehr Freiräume schafft,viertens eine Deregulierung, die insbesondere Einstel-lungshemmnisse abbaut,
und fünftens eine Reform der sozialen Sicherungssyste-me – ich bitte Sie, jetzt aufzupassen –, die nicht mit Illu-sionen arbeitet, sondern die Sachverhalte zur Kenntnisnimmt und das Soziale zukunftsfähig macht.
Sie haben einen neuen Sachverständigen berufen,Herrn Professor Kromphardt. – Er soll den Gewerk-schaften nahestehen; aber wie auch immer. – Er hat inbezug auf den Punkt Deregulierung und die Frage, wodie Gewerkschaften nachgeben sollten, heute folgendesgesagt – ihm geht es wahrscheinlich auch um seineSachverständigenehre –:Man müßte die Unternehmen fragen, was für siedie größten Hemmnisse sind, neue Leute einzu-stellen. Wenn dies beispielsweise der Kündigungs-schutz ist, sollte man grundsätzlich bereit sein, die-se Hürde abzubauen.
Das sagt Ihr neuer Sachverständiger. So weit würde ichnie gehen. Ich sage: Wir müssen bei allem nüchtern prü-fen, ob damit mehr Beschäftigung entsteht.Aber an diesem Beispiel wird deutlich: Sie haben denMenschen in den vergangenen Monaten etwas vorge-macht. Sie haben ihnen etwas vorgegaukelt. Das ist derPunkt, den wir kritisieren.
Deswegen wird es für Sie um so bitterer, wenn Siejetzt zurückrudern müssen und Ihr Scheitern eingestehenmüssen. Ihre Politik hat auf dem Arbeitsmarkt in denvergangenen Monaten tiefe Spuren hinterlassen. Das istnicht das Ergebnis handwerklicher Fehler, wie Sie daserzählen. Das ist auch nicht das Ergebnis der Eile. Nein,es ist schlicht das Ergebnis Ihrer Ideologie.
Alle wurden mit kleinen Wahlgeschenken bedacht,deren Kosten quer durch alle Positionen des Sozialbud-gets verschleiert wurden. Allen wurde es recht gemacht,um Besitzstände zu wahren, um überall dort nachzubes-sern, wo Partikularinteressen nur laut genug artikuliertwurden. Aber eine Regierung, die zehnmal einknickt,wird beim elftenmal nicht standhaft bleiben.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, die gestatte
ich nicht mehr; denn jetzt kommt mein letzter Satz, und
Sie können das dann gleich ergänzen.
Die tiefen Spuren Ihrer Politik auf dem Arbeitsmarkt
sind nicht das Produkt handwerklicher Fehler. Das, was
Sie vorlegen, ist das Ergebnis einer rückwärtsgewandten
Politik, die sich auf einen Nenner bringen läßt: Struktur-
konservatismus.
Das Wort hat nundie Kollegin Ulla Schmidt, SPD-Fraktion.Dr. Hermann Kues
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1646 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich mag es am lieb-
sten, wenn sich diejenigen gegen Besitzstandswahrung
aussprechen, deren Besitzstände überhaupt noch nie in
Gefahr waren
und die damit immer nur die Ärmsten der Armen mei-
nen, denen man offensichtlich alles wegstreichen kann,
ohne daß man glaubt, es passierte etwas. Ich möchte
aber nun auf andere Dinge eingehen, die der Kollege
Kues hier gesagt hat.
Ich habe gestern, als Ihr Fraktionsvorsitzender hier
geredet hat, geglaubt, daß Ignoranz gegenüber den Pro-
blemen von mehr als einer halben Million jungen Men-
schen in diesem Land, die keine Arbeit haben, nicht
schlimmer zum Ausdruck gebracht werden kann als mit
der Bemerkung des Kollegen Schäuble, die Regierung
Schröder wolle mit dem Programm, mit dem sie 100 000
Arbeitsplätze für junge Frauen und Männer schaffen
will, Jugendliche nur ruhigstellen. Nun kommt der Kol-
lege Kues heute hierher und sagt, dies sei ein Programm,
um Jugendliche zu instrumentalisieren.
Ich habe gestern noch gedacht, vielleicht macht die
Fraktion das nicht mit. Ich frage Sie einmal: Wo leben
wir denn eigentlich? Seit 1992 hat die Zahl der arbeits-
losen jungen Frauen und Männer, und zwar der regi-
strierten, immer bei weit über 400 000 gelegen. Die Zahl
derjenigen, die nicht registriert waren, lasse ich jetzt
einmal beiseite. Sie aber haben nur tatenlos zugesehen
und immer nur große Worte gemacht, daß Sie Arbeits-
plätze bereitstellen wollten. Sie haben alle unsere Initia-
tiven, um jungen Menschen wieder eine Chance zu ge-
ben, um sie in die Beschäftigung zurückzuführen oder
sie überhaupt erst wieder beschäftigungsreif zu machen,
abgelehnt. Sie stellen sich jetzt – wenn die Regierung als
eine ihrer ersten Taten ein Programm auflegt, um diesen
jungen Menschen eine Chance zu geben – hier hin und
sagen, dies sei eine Beruhigungspille. Schämen Sie sich
denn überhaupt nicht?
Frau Kollegin
Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Meckelburg?
Ja.
Bitte sehr, Herr
Kollege.
Frau Kollegin,
könnten Sie mir bestätigen, daß die Bundesrepublik
Deutschland, was die Jugendarbeitslosenquote angeht,
im europäischen Vergleich seit vielen Jahren wesentlich
besser dasteht? Können Sie mir weiter bestätigen, daß
die süddeutschen Länder, wenn man die Situation inner-
halb Deutschlands vergleicht, wesentlich besser daste-
hen als beispielsweise Niedersachsen.
Und können Sie mir schließlich bestätigen, daß das von
Ihnen vorgesehene Sofortprogramm, 100 000 Arbeits-
plätze für Jugendliche zu schaffen, angesichts der Tatsa-
che, daß dieses nur für ein Jahr vorgesehen ist, in der Tat
nicht als Lösung oder als Brücke in die Zukunft, sondern
nur als Ruhigstellung bezeichnet werden kann? Sie ha-
ben das bisher Warteschleife genannt.
Kollege Meckelburg,mehr als 500 000 Jugendliche – das sind mehr als500 000 zu viel. Da interessiert mich überhaupt nicht, obes in anderen Ländern noch schlimmer aussieht. Es istschlimm genug, wenn eine Gesellschaft in Industrielän-dern jungen Menschen keine Chance mehr auf ein Le-ben in Selbstbestimmung gibt, so daß sie in der Lagesind, ihre eigene Existenz zu sichern, ein Stück Freiheitzu haben. Es ist schlimm genug, wenn ihnen die Chanceverwehrt wird, in sozial gesicherten Verhältnissen gutenGewissens eine Familie zu gründen und Kinder aufzu-ziehen. Das ist schlimm genug!
Es ist schlimm genug, weil Sie genauso gut wie ichwissen, daß diejenigen Jugendlichen, die nach derSchule oder nach einer abgebrochenen Ausbildung nichtwieder in den Arbeitsmarkt zurückkommen, dauerhaftvon Erwerbslosigkeit und Armut bedroht sind. Es sinddiejenigen, von denen wir morgen sagen, daß sie die so-zialen Kassen zu sehr belasten, obwohl wir ihnen nichtdie Chance gegeben haben, selbst für ihren Unterhalt zusorgen.Natürlich ist das 100 000-Job-Programm nur ein er-ster Schritt. Ich stimme mit Ihnen völlig überein, daßdieses Programm nicht das „Bündnis für Ausbildungund Arbeit“ ersetzt. Vielmehr müssen wir an die Pflichtder Unternehmen appellieren, Ausbildungs- und Ar-beitsplätze bereitzustellen.Viele von uns sind doch auch Mütter und Väter:Wenn ich mir eines für meine Tochter gewünscht habe,dann das, daß ihr eine gute Ausbildung garantiert wird,damit sie die Chance erhält, erwerbstätig zu werden. Sohalten Sie es doch auch mit Ihren Kindern. Dann lassenSie uns zumindest in diesem Punkt einig sein und diesesProgramm gemeinsam auf den Weg bringen. Geben wirden jungen Menschen, die überhaupt erst ausbildungsfä-hig gemacht werden müssen, eine Chance, damit sie dieBrücke zum Arbeitsmarkt finden. Danach können wirgemeinsam darüber diskutieren, was wir sonst noch tun
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müssen. Anderenfalls ließen wir die jungen Menschenallein und auch deren Eltern, die sich darüber Sorgenmachen, was mit ihren Kindern passiert.
Deshalb ist das Programm nicht nur ein Angebot fürheute. Dieses Programm ist ein Angebot, um diejenigenauszubilden, die wir jetzt erreichen können. Es istschwierig genug, sie alle zu erreichen; denn diejenigen,die jahrelang arbeitslos waren, wurden auch aus den so-zialen Bezügen herausgezogen. Ich bin für jeden einzel-nen dankbar, den wir erreichen. Ich habe nämlich17 Jahre lang mit Jugendlichen gearbeitet, die individu-elle Lernschwierigkeiten und individuelle Problemehatten. Jeder einzelne von ihnen ist es mir wert, daß wirihn heranziehen, weil es für ihn vielleicht die Chancebedeutet, am kulturellen, sozialen und politischen Lebenin dieser Gesellschaft teilzunehmen und Mitglied derGesellschaft mit gleichen Chancen und gleichen Rech-ten zu werden.
Deshalb spreche ich im Namen der SPD-Fraktion derRegierung Schröder unseren Dank dafür aus, daß diesesProgramm eine ihrer ersten Taten gewesen ist. Wir sinddavon überzeugt, daß nur eine beschäftigungsorientier-te Sozialpolitik auf Dauer eine Sozialpolitik ist, die denMenschen die Möglichkeiten zur freien Entfaltung gibt,die den Menschen eine Chance gibt, ihr Leben in die ei-gene Hand zu nehmen.
– Ich kann da jubeln, weil ich diese Regierung gewählthabe und weil ich froh bin, daß wir sie haben. Bei dieserRegierung kann ich nämlich sicher sein, daß wir in dennächsten Jahren wirklich den Schlüssel für das 21. Jahr-hundert in die Hand nehmen. Bei ihr schließen sich Sozi-alpolitik, Arbeitsmarktpolitik und Wirtschaftspolitik nichtgegenseitig aus, sondern gehen ineinander über, so daßdie Menschen in diesem Lande wieder gut leben können.
Wenn ich aber aus Ihrem Munde Worte wie „sozialeGerechtigkeit“ höre, dann habe ich das Gefühl, daß ichin den letzten Jahren auf einer anderen Veranstaltunggewesen bin.
Es klingt schon seltsam, wenn ausgerechnet diejenigenvon sozialer Gerechtigkeit sprechen, die es zu verant-worten haben, daß wir in diesem Lande eine sozialeSchieflage sondergleichen bekommen haben.
– Natürlich, die Schere zwischen Arm und Reich istimmer weiter auseinandergegangen. Reicht Ihnen denndas Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht, das be-sagt, daß Sie den Familien in den letzten Jahren 20 Mil-liarden DM vorenthalten haben?
– Wir haben nicht zugestimmt.
– Wir haben gegen Ihren Widerstand jede Erhöhung desKindergeldes über den Bundesrat erstreiten müssen, weilwir im Bundestag keine Mehrheit hatten.
– Mir ist klar, Kollegin Schwaetzer, daß Ihnen die Frei-beträge lieber sind, weil natürlich die, die hohe Ein-kommen haben, mit hohen Freibeträgen auch mehr ent-lastet werden.
Wir haben sie immer in Kindergeld umwandeln wollen,damit jedes Kind in diesem Land die gleichen Chancenhat und die Kinder, deren Eltern geringere Einkommenhaben, nicht noch mehr auf ihre Chancen verzichtenmüssen.
– Das ist nicht falsch, man kann beides machen. Auchich kenne die Materie ein bißchen. – Deshalb haben wirin einem der ersten Schritte das Kindergeld auf 250 DMerhöht, wir haben die Steuersätze gesenkt, wir haben dassteuerlich freigestellte Existenzminimum erhöht, wir ha-ben die unsozialen Kürzungsgesetze zurückgenommen.In diesem Bundestag haben wir dies beschlossen. Ich bindarüber froh. Sie können schreien, was Sie wollen
– ich gebe zu, wir schreien beide –, die jungen Familienkommen zu mir und bedanken sich dafür.
Ein zweiter Punkt, der mir sehr wichtig ist. Ich be-grüße ausdrücklich, was der Arbeitsminister vorgestellthat: daß der Ansatz für die aktive Arbeitsmarktpolitikim Bundeshaushalt erhöht worden ist, und zwar zusätz-lich zu den 2 Milliarden DM um 4,7 Milliarden DM. Ichappelliere auch da an Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-gen: 100 000 Arbeitslose kosten den Staat summa suma-rum 4 Milliarden DM im Jahr. Sie müssen, wenn Sie dieideologischen Brillen einmal ablegen und mit mir freidarüber nachdenken, doch zugestehen, daß es viel besserist, dieses Geld in Arbeit zu investieren, als Menschendafür zu bezahlen, daß sie nichts tun dürfen.
Ulla Schmidt
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Deshalb ist es richtig, die Ansätze für die Arbeits-marktpolitik zu erhöhen. Deshalb ist es richtig, wirklichfür mehr Weiterbildung, für mehr Qualifizierung zu sor-gen, damit wir die Zeiten, in denen Menschen arbeitslossind, nach Möglichkeit verkürzen können. Es ist docheine Schande, daß 40 Prozent der heute registrierten Ar-beitslosen ein Jahr und länger arbeitslos sind. Sie wer-den doch nicht bestreiten, daß es, je länger sie arbeitslossind, um so schwieriger wird, sie in den ersten Arbeits-markt zu integrieren, weil natürlich mit der Dauer derArbeitslosigkeit auch eine Dequalifizierung einhergeht.Lassen Sie uns wirklich dafür streiten und auch gemein-sam beschließen, daß wir von den passiven Leistungenzur Förderung von Aktivierungsmaßnahmen kommen.
Wir müssen das Arbeitsförderungsgesetz gemeinsamso reformieren, daß wir hier unbürokratisch und effektivdie Abstände zwischen Arbeitslosigkeit und Wiederein-gliederung in den ersten Arbeitsmarkt so kurz haltenkönnen, daß der zweite Arbeitsmarkt wirklich nur eineBrücke ist.Vielen Dank.
Das Wort hat nun
die Kollegin Dr. Schwaetzer, bitte sehr.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe in dieser De-batte sowohl von der Regierung wie auch von den Kol-leginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen unge-heuer viele Grundsatzerklärungen gehört. Sie sind abergewählt – das sagen Sie auch immer, und das stimmt –,etwas zu tun. Die einzige neue Konzeption, die ich hiergehört habe – ich komme gleich noch darauf –, ist das100 000er-Programm für die junge Generation. WasHerr Riester ansonsten gelobt hat, hat er von der altenRegierung übernommen.
– So ist das. – Wir werden das alles im Ausschuß be-sprechen, so wie wir letzte Nacht im Ausschuß beratenhaben.
Ich habe keine Probleme mit Nachtsitzungen, Sie schoneher.
Ansonsten kommt von Ihnen: Rücknahme, Rück-nahme, Rücknahme. Auf keinem Gebiet zeigt die Regie-rung deutlicher, wofür sie nicht steht, weil sie immer nurnein sagt zu dem, was früher gemacht worden ist, als inder Sozialpolitik.Nach der Aufhebung der meisten Beschlüsse zurKonsolidierung der sozialen Sicherungssysteme ist einesklar: Dies ist kein Aufbruch der Neuen Mitte, sondernder Rückmarsch in die gewerkschaftliche Linke.
Aber wahrscheinlich kann man von einem Minister, derstellvertretender Vorsitzender der konservativsten Ge-werkschaft in Deutschland war, wohl kaum etwas ande-res erwarten.
In Ihrer eigenen Gewerkschaft, Herr Riester, galtenSie als Reformer. Nach dem aber, was Sie in Ihren Re-den hier im Deutschen Bundestag bisher gesagt haben,sind Sie weit entfernt von der gesellschaftlichen Mitte.Sie sind weit entfernt vom Mittelstand, der in Ihrer Redeheute gar nicht vorgekommen ist.
Nicht an einer Stelle kamen Sie auf die Existenzgründerzu sprechen. Die Menschen also, die sich auf ihre eige-nen Kräfte stützen und etwas schaffen wollen – und siebilden die Mitte dieser Gesellschaft –, kommen bei Ih-nen gar nicht vor.
Noch einmal zur IG Metall, die für den Abschlußverantwortlich ist, der gerade erzielt worden ist. DieserAbschluß – man kommt wohl nicht umhin, dies zu sagen– dient nicht den Arbeitslosen. Nicht einmal die IG Me-tall behauptet, daß dadurch neue Arbeitsplätze geschaf-fen werden. Wo also soll die Unterstützung durch Ver-änderung und Reform von seiten der Gewerkschaften im„Bündnis für Arbeit“ herkommen, wenn Sie nicht ein-mal in der Lage sind, Ihre eigenen Machtansprüche zu-rückzustellen?
Meine Damen und Herren, das „Bündnis für Arbeit“ist schlecht gestartet. Der Grund liegt sicher weniger inden Drohkulissen, die auf allen Seiten aufgebaut wur-den, als in der Phantasielosigkeit der Regierung. Ichfrage Sie, Herr Riester – Ihre Rede heute hat wirklichkeinen Ansatz aufgezeigt –: Wo sind die neuen Impulsefür den Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit? Das Pro-gramm, auf das Sie hinweisen, haben Sie von uns über-nommen. Wo sind die Initiativen, die Vorstellungen fürmehr Teilzeitarbeit? Wo sind Ihre Ideen für den Nied-riglohnsektor? – Überall Fehlanzeige.
Ich bitte Sie nachdrücklich: Setzen Sie sich wenig-stens einmal mit den Konzepten auseinander, die schonauf dem Tisch liegen, zum Beispiel mit unserem Kon-zept einer negativen Einkommensteuer, auch „Bürger-geld“ genannt! Das sind Ansatzpunkte, über die es sichernsthaft nachzudenken lohnt. Von Ihnen kommt nichts.
Ulla Schmidt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1649
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Nun zum Programm für junge Arbeitslose. Ich freuemich für jeden Jugendlichen, der darüber einen Ausbil-dungs- oder Arbeitsplatz findet. Ich denke, das ist einGewinn für diese Gesellschaft.
Aber ich frage mich, ob wir wirklich aus Steuermittelnund aus Mitteln der Bundesanstalt für Arbeit die Ver-säumnisse der Länder im schulischen Bereich – das sindim wesentlichen die SPD-regierten Länder –
finanzieren müssen. Vielleicht müßte doch einmalgeprüft werden, ob nicht, wenn diese 20 000 DM proArbeitsplatz anders eingesetzt würden, mehr Effekteerzielt werden könnten.
Heute wird in erster Lesung auch ein Gesetzentwurfmit dem Titel „Entlassungsentschädigungs-Änderungs-gesetz“ behandelt. Der richtige Titel ist noch länger; diesist schon die Kurzfassung. Damit soll eine Regelung deralten Regierung aufgehoben werden, nach der zumindestein Teil der Abfindungen bei Entlassungen auf dasArbeitslosengeld angerechnet wird. Ich habe immer ge-dacht, es sei ganz normal, daß dann, wenn ein Arbeit-nehmer eine Abfindung bekommt, zumindest ein Teildavon – den Großteil kann er behalten – auf das Ar-beitslosengeld, das schließlich aus der von allen finan-zierten Sozialkasse gezahlt wird, angerechnet wird.Auch das nehmen Sie – wieder mal – zurück. Dies,sagen Sie, sei das erste Ergebnis des „Bündnisses fürArbeit“. Na toll, statt Reform mehr Kosten, statt Zukunftfür die soziale Sicherung Rückschritt in Deutschland.Nichts charakterisiert die Unfähigkeit der Regierung undder Regierungskoalition, die Zukunft zu gestalten, deut-licher als diese Entscheidungen. Aber ich sage Ihnen,meine Damen und Herren: Sie werden von Ihren Le-benslügen eingeholt werden.
Freiheit braucht soziale Sicherung. Das ist das Leit-motiv der Sozialpolitik der F.D.P. Aber soziale Siche-rung braucht auch Eigenverantwortung. Ich habe heutemorgen von Frau Wolf und von allen anderen Rednernder Regierungskoalition den Begriff „Eigenverantwor-tung“ reichlich gehört. Dazu kann ich nur sagen: Mitdem, was Sie machen, degradieren Sie diesen Begriffzur reinen Deklamation.
Wer Existenzgründer zwingt, sich an der umlagefinan-zierten sozialen Sicherung zu beteiligen, und das letzteStück Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt durch die Verbü-rokratisierung der geringfügigen Beschäftigung beseitigt,der fördert nicht mehr Eigenverantwortung, sondern dieAbhängigkeit von einem sowieso überforderten Staat.
Damit werden Sie den Reformstau nicht auflösen, son-dern den Arbeitsmarkt zusätzlich belasten. Das werdenSie schon in zwei oder drei Tagen sehen. Die letztenZahlen aus Nürnberg verheißen hier in der Tat nichtsGutes.Ich gebe zu, daß die alte Regierung bis zur Bundes-tagswahl mit dem Abbau der Arbeitslosigkeit nicht soweit vorangekommen war, wie es notwendig gewesenwäre und wie wir uns das gewünscht haben. Aber vondem, was hier an Vorarbeiten geleistet worden war, istin den letzten vier Monaten offensichtlich alles verspieltworden. Seit der Übernahme Ihrer Regierung gibt es– Stand Ende Februar dieses Jahres – knapp 500 000Arbeitslose zusätzlich. Das ist in der Tat eine schlimmeund erschreckende Bilanz.
– Sie werden die Zahlen in zwei Tagen sehen. – Deswe-gen kann ich überhaupt nicht verstehen, daß Sie jetzthier Maßnahmen im Schweinsgalopp und unter Be-schneidung der Rechte der Minderheit im Parlamentdurchpeitschen, nur damit Sie am 18. März noch dieStimmen der abgewählten Regierung von Hessen imBundesrat zur Verfügung haben und dafür einsetzenkönnen, um Ihren Unfug absegnen zu lassen.
Aber daß Sie gleichzeitig bei der Beratung dieser Ände-rungen im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnungmeine Frage, was denn bestimmte Änderungen am Ar-beitsmarkt bewirken sollten, durch einen Antrag aufSchluß der Debatte abwürgen, zeigt, daß Sie ideologischverbrämt handeln und nicht in der Lage sind, wirklicharbeitsmarktpolitisch korrekt zu denken.
Es ist richtig, daß der Haushalt des Bundesarbeitsmi-nisters beträchtlich wächst. Aber das ist vor allen Din-gen auf eine massive zusätzliche Finanzierung der ge-setzlichen Rentenversicherung aus Steuermitteln zu-rückzuführen. Nur, mehr Geld bedeutet nicht automa-tisch auch mehr soziale Gerechtigkeit. Die Erhöhung desBundeszuschusses, die aus den Einnahmen der soge-nannten ökologischen Steuerreform finanziert werdensoll, ist in der Tat ein besonders zynisches Beispiel. DieRentner werden von der Ökosteuer besonders belastet.Jetzt wird deren Ökosteuer in die Rentenversicherungwieder eingespeist. So finanzieren sie ihre Altersver-sicherung gleich zweimal. Finden Sie das sozialgerecht? – Darüber muß ich mich sehr wundern. Dashaben Sie wohl nicht richtig bedacht.
Ich kann Ihnen nur raten: Nehmen Sie Ihren ganzenmißglückten Entwurf zu dieser sogenannten Ökosteuerzurück. Bis nächste Woche haben Sie ja noch Zeit.
Dr. Irmgard Schwaetzer
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1650 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Auf keinem anderen Gebiet hat der Bundesarbeits-minister mehr Seifenblasen produziert als auf dem dersensiblen Altersversorgung. Ich nenne nur einmal eineAuswahl seiner Vorschläge: Es ging mit der Ankündi-gung los: Rente mit 60 Jahren soll durch einen Tarif-fonds finanziert werden. Es zahlen Arbeitgeber undArbeitnehmer. Aber nein, sagt Herr Riester, es wärebesser, wenn nur noch Arbeitnehmer einzahlen wür-den. Eine zusätzliche Belastung der Arbeitgeber wollteder Kanzler nicht. Dann wird behauptet: Mit dem Ta-riffonds sollen nur kurzfristige Arbeitsmarktproblemegelöst werden. Dann heißt es wieder: Vielleicht ma-chen wir ihn doch auf Dauer. – Herr Bundesarbeitsmi-nister, mit diesem Projekt haben Sie sich verrannt.Deswegen ist es richtig, daß Ihnen die Arbeitgeber da-zu im Rahmen des „Bündnisses für Arbeit“ eine klareAbsage erteilt haben. Ich sage Ihnen: Lassen Sie den Arbeitnehmern dasGeld, das Sie ihnen für diesen Tariffonds abnehmenwollen, damit sie ihre private Vorsorge selbst finanzie-ren können. Das ist Eigenverantwortung. Auch Sie soll-ten sich endlich dazu bekennen.
Pünktlich zu Karneval kam der Minister mit seinerIdee, die nettolohnbezogene Anpassung der Renten zukippen, wobei er zusätzlich den Fehler machte, offen-zulassen, was er statt dessen machen will: Eine neueAnpassungsformel? Nach welchen Kriterien? Jährlichdem Willen oder den Haushaltszwängen des Gesetzge-bers unterworfen? Was denn nun? Die Verunsicherungder Rentner steigt mit jeder Ihrer unprofessionellen undunüberlegten Äußerungen, Herr Riester.
Wo Sie den demographischen Faktor eben so vehe-ment abgelehnt haben, hoffe ich, daß Ihnen wenigstenseines klar ist: Mit Ihrem Vorschlag, die nettolohnbezo-gene Formel auszusetzen oder anzupassen, senken Siedas Rentenniveau schneller, als wir es mit unserer De-mographieformel je gemacht haben.
Dies alles ist nicht den ersten 100 Tagen zuzuschreiben.Es ist, wie die gesamte Gesetzgebung aus Ihrem Haus,ein einziges Chaos.
Weil die Rente ein viel zu sensibler Bereich ist, alsdaß man ihn im Streit verabschieden sollte – die alteRegierung und die alte Koalition haben das bitter ge-spürt –, bitte ich Sie, Herr Minister: Rufen Sie die politi-schen Kräfte dieses Hauses an einen Tisch, um auszulo-ten, was notwendig ist und was geht! Was von Ihnenund Ihren Experten bisher zu hören war, fördert die ein-vernehmliche Diskussion nicht. Am Ende werden Siefür Ihre Rentenreform die Zustimmung des Bundestagesund des Bundesrates brauchen. Wir sind zur Zusammen-arbeit bei der Rente bereit.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die
Kollegin Dr. Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Diese De-batte ist an Scheinheiligkeit nicht mehr zu überbieten.
– Selbstverständlich von Ihrer Seite. – Herr Kues willuns warnen. Dunkle Wolken werden an den Himmel ge-zeichnet, weil wir nach drei bis vier Monaten diesesLand angeblich in eine langanhaltende Arbeitslosigkeitgetrieben haben.
Schauen Sie sich die miserablen, die erschreckendenStatistiken zur Lage auf dem Arbeitsmarkt und zur Ent-wicklung der Langzeitarbeitslosigkeit über die letztenzehn Jahre hinweg an! Schauen Sie sich die Zahlen zurSozialhilfe und zur Zunahme von Kinderarmut in die-sem Land über die letzten zehn Jahre hinweg an! Des-senungeachtet stellen Sie sich hierhin und meinen, sichals Schulmeisterin für eine angeblich gescheiterte So-zialpolitik aufspielen zu können. Ihre Sozialpolitik istgescheitert;
deswegen haben Sie die Wahlen verloren.Herr Schäuble hat uns gestern hier zugerufen: Sie be-kommen kein anderes Volk. Ich rufe in Ihre Richtungzurück: Wir wollen kein anderes Volk. Dieses Volk istsouverän und hat sich eine neue, eine rotgrüne Regie-rung gewählt, weil Sie in diesem Lande eine Sozialpoli-tik betrieben haben, die zu Lasten der Kinder, der Fami-lien und der Arbeitslosen gegangen ist. Deswegen sindSie abgewählt worden.
Daß Ihr Wille und Ihre Fähigkeit, den Sozialstaat zustabilisieren und die Massenarbeitslosigkeit abzubauen,nicht vorhanden sind, haben Sie wirklich hinlänglichdargelegt.
Das Problem dabei ist, daß das Vertrauen der Bevölke-rung in den Sozialstaat während der letzten Jahre zu-nehmend zerstört worden ist.Dr. Irmgard Schwaetzer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1651
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Ihre sozialpolitische Doktrin hat dazu geführt, daß Siegerade im Bereich Beschäftigungspolitik Maßnahmenergriffen haben, die sich gegen die Menschen gerichtethaben, indem Sie beispielsweise die Lohnfortzahlungim Krankheitsfall reduziert haben und indem Sie denKündigungsschutz untergraben haben. Diese Art einersozialpolitischen Doktrin, die sich gegen die Menschenrichtet, ist jetzt zu Ende.
– Frau Schwaetzer, ich komme gleich auf Herrn Zwickelzu sprechen; aber ich gehe auch noch einmal auf IhreBemerkungen ein.Gerade wegen der zerstörten Vertrauensbasis in die-sem Sozialstaat ist es natürlich für uns die größte Her-ausforderung, dieses Vertrauen wieder aufzubauen, in-dem wir gründliche sozialpolitische Reformen durchset-zen. Deswegen haben wir insbesondere den Abbau vonMassenarbeitslosigkeit und vor allen Dingen von Ju-gendarbeitslosigkeit an die erste Stelle unserer arbeits-markt- und sozialpolitischen Agenda gestellt.
Wir haben sehr schnell angefangen und Ihre schlimm-sten und gröbsten Klötze beim Kündigungsschutz undbei der Lohnfortzahlung weggeräumt. Sie wissen das.
Wir haben bereits in diesem Haushalt neue Akzentein der Sozialpolitik gesetzt. Wir haben das Sofortpro-gramm für jugendliche Arbeitslose aufgelegt. Wir habenin ganz erheblichem Umfang die Mittel für die aktiveArbeitsmarktpolitik erhöht. Wir haben insbesondere dieLohnnebenkosten, das heißt auch die Rentenbeiträge,herabgesetzt. Davon haben Sie in den vergangenen16 Jahren doch nur geträumt.Wir wollen drei Dinge voranstellen: erstens Ju-gendarbeitslosigkeit abbauen und die Arbeitsmarktpoli-tik stärken, zweitens das Leben mit Kindern wieder leb-bar machen und die Benachteiligungen aufheben undschließlich drittens die Arbeitsmarkt- und Beschäfti-gungspolitik in besonderer Weise fördern. Deswegenwerden wir nicht nur die Lohnnebenkosten durch dieökologisch-soziale Steuerreform senken, sondern wirhaben damit auch ein Mittel gefunden, um innovativeEffekte auf dem Arbeitsmarkt zur Herausbildung neuerTechnologien wirksam werden zu lassen. Das ist diewirtschaftspolitische Ebene.Auf einer anderen Ebene wollen wir das „Bündnisfür Arbeit“ – das heißt, den Konsens über beschäfti-gungspolitische Fragen – in dieser Gesellschaft voran-treiben. Ich glaube, nach der aktuellen Debatte und ins-besondere der heutigen wird deutlich, wie wichtig diesesBündnis ist, um die Tabus und Gräben bei all denjenigenin dieser Gesellschaft zu überwinden, die zu einer posi-tiven Entwicklung der Beschäftigung beitragen müssen,also bei den Arbeitgebern, bei den Gewerkschaften undbei der Regierung. Die Überwindung dieser Gräben istdeshalb notwendig, weil gerade Sie, meine Damen undHerren von der CDU/CSU, die gesellschaftlichen Partei-en mit dem verbockten „Bündnis für Arbeit“ in dieseGräben hereingetrieben haben.
Das Sofortprogramm für jugendliche Arbeitslosenehmen Sie schon einmal nicht ernst. Ich will auf HerrnSchäuble nicht mehr eingehen. Seine Ausführungen wa-ren einfach entlarvend und zynisch. Aber an der Stellemöchte ich einen anderen Punkt des Jugendarbeitslosig-keitsprogramms aufgreifen. Wir haben eine Bringschuldin dieser Gesellschaft. Diese ist sehr hoch, weil in denletzten Jahren die Unsicherheit der Jugendlichen über ih-re berufliche Zukunft und über ihren langfristigen Le-bensweg in der Erwerbstätigkeit immer mehr zugenom-men hat. In den letzten Jahren haben wir die Situationbekommen, daß die Jugendlichen nicht mehr sicher seinkonnten, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Dasneue Sofortprogramm setzt da an. Ich hoffe sehr, daß esso gut weiterläuft, wie es der Minister vorgetragen hat.Aber ich weiß auch – das sage ich hier sehr kritischauch an die Adresse der eigenen Reihen –, daß es dervöllig falsche Zeitpunkt ist, in der heutigen DebatteSanktionen gegen Jugendliche dermaßen in den Vorder-grund zu stellen.
Wir haben die Bringschuld. Wir müssen erst einmal dasAngebot erbringen, dann können wir über das Verhältniszwischen Leistung und dem, was die Jugendlichen zugeben haben, diskutieren.
Meine Damen und Herren, die gesellschaftlichenRahmenbedingungen haben sich erheblich verändert.Die Menschen wissen das auch. Deshalb müssen wiraktiv in die Arbeitsmarktpolitik einsteigen. Die gesell-schaftlichen Rahmenbedingungen haben sich vor allenDingen im Verhältnis zwischen den Generationen undim Verhältnis zwischen Männern und Frauen verändert.Wir haben mittlerweile eine Situation, in der es sehrviele unterbrochene Erwerbsbiographien gibt und in derMenschen im Alter mit den sozialen Folgen, die sich ausder Teilzeitarbeit und kleinen Beschäftigungsverhältnis-sen ergeben, alleine gelassen werden. Nach der Reformder 630-DM-Jobs wird es unsere Aufgabe sein, die so-ziale Sicherheit gerade für Menschen in Teilzeitarbeits-verhältnissen und geringfügigen Beschäftigungsverhält-nissen auszubauen. Das ist eine unserer großen Aufga-ben.Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen habensich verändert. Deswegen müssen wir über Reformen inallen gesellschaftspolitischen Bereichen diskutieren. DieDiskussion muß, wie unser Kollege Metzger gefordertDr. Thea Dückert
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hat, im Sinne einer nachhaltigen Wirtschaftspolitik ge-führt werden. Jeder in dieser Gesellschaft weiß, daß un-sere zunehmenden Probleme nicht dadurch zu lösensind, daß wir in diesen Bereichen finanziell draufsatteln,sondern nur dadurch, daß wir unser soziales Systemzielgenauer ausrichten und effizienter gestalten und in-dem wir auf der Einnahmeseite die Beitragsbasis erwei-tern und auf der anderen Seite die Aufgabenfelder ge-nauer zuschneiden.
Deswegen brauchen wir einen neuen Generationen-vertrag, der sehr viele Aufgabenfelder beinhaltet undüber den wir sehr sorgfältig diskutieren müssen. Dazugehört natürlich die Rentenreform. Wir haben schoneinen Vorgeschmack und einen schalen Beigeschmackin der letzten Woche bei Ihren Diskussionsbeiträgen be-kommen. Es wurde ganz deutlich, daß Sie am Anfangdieses sehr komplizierten Reformprozesses nichts ande-res tun, als schon wieder Ängste zu wecken und die Dis-kussion um die Zukunft der jungen und alten Menschenzu emotionalisieren.
Herr Schäuble hat sich gestern erdreistet, zu sagen,wir würden eine Rentenanpassung nach Kassenlage pla-nen. Es ist eine Unverschämtheit,
sich in dieser Situation, in der wir die Probleme hin-sichtlich des Verhältnisses der Generationen bewältigenmüssen, solcher verbalradikalen Knüppel zu bedienenund einfach Unwahrheiten zu behaupten.
Führen wir uns doch noch einmal den Ausgangspunktder Debatte vor Augen, nämlich den Beschluß des Bun-desverfassungsgerichts. Sie haben eines auf den Hut ge-kriegt, weil Sie in den letzten Jahren die Familien unbe-rechtigterweise zur Kasse gebeten haben. Wir werdenKonsequenzen aus diesem Beschluß ziehen, durch dendie Familien mit Kindern in den Vordergrund gestelltwerden. Den Familien und nicht den Rentnerinnen undRentnern, die die Kinderphase schon längst hinter sichhaben, soll ein Ausgleich gewährt werden.
Wenn sich der Beschluß auf die Renten niederschla-gen würde, wäre dies ein ungewollter Nebeneffekt.Wenn wir sagen, daß der Beschluß positive Auswirkun-gen auf Familien mit Kindern und nicht auf Rentner ha-ben muß, dann ist es ist unredlich zu behaupten, wirwollten die Rentnerinnen und Rentner von der Wohl-standsentwicklung abkoppeln.
Die Debatte ist scheinheilig, weil es falsch ist, zu be-haupten, daß die Anbindung an die Nettolohnentwick-lung aufgehoben werden müßte. Das ist nicht richtig.Natürlich werden und – das sage ich auch – sollen dieRenten in der Zukunft steigen. Aber es ist einfach un-sinnig, in diese Steigerung den Kinderfaktor einzurech-nen. Die Renten sind gekoppelt und bleiben gekoppeltan die Nettolohnentwicklung. Trotzdem müssen wir hiereine Neujustierung finden, die für die Alten und für dieJungen gerecht ist.Gerade hinsichtlich der Renten haben wir viele Pro-bleme zu bewältigen. Zum Beispiel verändert sich dasVerhältnis der Anzahl alter zu der Anzahl junger Men-schen. Natürlich werden wir die Schwierigkeiten, diesich daraus ergeben, meistern. Aber wir werden diesnicht, so wie Sie es wollten, mit der Einführung einesdemographischen Faktors tun, weil er unsozial war unddie kleinen Renten getroffen hat.
Deswegen war es richtig, ihn auszusetzen. Wir müsseneine soziale Lösung finden.
– Es gibt viele Vorstellungen, die ich mit Ihnen gernediskutiere.
– Ja, natürlich. Wir müssen die Spreizung zwischen denhohen und den niedrigen Renten dadurch begrenzen, daßdie höheren Renten langsamer wachsen als die klei-nen. Da gibt es Modelle, die genau dieses Problem derdemographischen Entwicklung gerecht und sozial lösenwerden. Es ist unsinnig und unsozial, wenn diese Sprei-zung zwischen hohen und kleinen Renten weiter zu-nimmt.
An dieser Stelle geht es nicht nur um die Solidaritätzwischen Jung und Alt, sondern auch um die Solidaritätinnerhalb der Rentnergenerationen.
Das werden wir thematisieren müssen. Darum kommenwir nicht herum.Aber wir werden bei dieser Rentenreform natürlichauch unstete Erwerbsbiographien absichern müssen.Ihr Konzept, das sich an männlichen Erwerbstätigen mit45 Berufsjahren orientiert, gehört in die Mottenkiste.Die gesellschaftliche Realität hat sich verändert. Wirhaben Teilzeitarbeit, und wir haben unterbrochene Er-werbsbiographien. Die Menschen müssen eine Alters-sicherung haben, die armutsfest ist. Sie müssen abge-sichert werden. Auch dafür werden wir Lösungen findenmüssen. Das gilt nicht zuletzt auch für die eigenständigeAbsicherung der Frauen im Rentenbereich.Ich sage Ihnen deswegen: Wir stehen am Anfangeiner sehr wichtigen Debatte, die die ganze BevölkerungDr. Thea Dückert
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betrifft, von jung bis alt. Wir wollen diese Debatte unterder Überschrift Generationengerechtigkeit führen. Wirwollen an dieser Stelle einen neuen Generationenvertragvorbereiten. Ich appelliere wirklich an Sie, daß Sie dieseDebatte nicht so weiterführen, wie Sie sie begonnen ha-ben, nämlich mit der Verunsicherung von Rentnerinnenund Rentnern,
die jetzt schon wieder meinen, wir wollten ihnen an dieKasse.Wir werden für die Rentnerinnen und Rentner und fürdie heutige junge Generation ein Rentensystem entwik-keln, das zukunftsfest ist, und zwar in der Hinsicht, daßwir eine relative Beitragsstabilität erreichen und dieRenten in der Zukunft sichern werden.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Dr. Heidi Knake-Werner.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundeskanzlerhat hier gestern in seiner sehr umfassenden Rede ver-kündet, daß es ihm und seiner Regierung sozusagen eineHerzensangelegenheit sei, die soziale Balance in diesemLande wiederherzustellen. Dabei – das kann ich Ihnenversichern – finden Sie die Unterstützung der PDS. Wirübersehen natürlich auch nicht, daß Sie mit der Rück-nahme der schlimmsten Fehlentscheidungen der Vor-gängerregierung auf dem Weg zu mehr sozialer Balancewichtige Schritte getan haben.Ja, Frau Schwaetzer, die neue Regierung mußte Ent-scheidungen zurücknehmen. Sie mußte korrigieren, wasSie angerichtet haben. Das mußte sie tun, um überhaupteine vernünftige Grundlage für eine neue Politik zuschaffen.Ich sage noch einmal ausdrücklich: Wir finden esrichtig, die volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfallwieder einzuführen. Wir finden es richtig, die Aufwei-chung im Kündigungsschutz zurückzunehmen. Wir fin-den es richtig, endlich ein Entsendegesetz zu schaffen,das uns dem Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Ar-beit am gleichen Ort“ ein gutes Stück näher bringt.
Wir finden es richtig, daß die Rentenkürzung zunächstausgesetzt wird. Das reicht uns allerdings nicht; das ha-ben wir gesagt. Wir finden die Erhöhung des Kinder-gelds richtig; auch das reicht uns nicht. Wir finden esrichtig, daß Sie sich zuallererst den Problemen der Be-zieherinnen und Bezieher kleiner Einkommen stellen.Das sind alles Projekte, bei denen Sie Flagge gezeigthaben; das will ich gar nicht verkennen. Aber ich sageauch: Es gibt eine Menge weiterer Projekte, die sehr gutin diesen Kanon des Flaggezeigens gepaßt hätten unddie auch sehr eilbedürftig gewesen wären, wenn manweitere Verschlechterungen für einzelne Betroffenen-gruppen hätte verhindern wollen. Die schieben Sie aberauf die lange Bank. Warum eigentlich? Warum habenSie sich nicht genauso schnell die Wiederherstellung derSchlechtwettergeldregelung vorgenommen?
– Ja, wer soll das bezahlen?
– Zu Ihrer Frage des Bezahlens kommen wir sicherlichnoch bei Gelegenheit. Sie haben sich da ja noch nichtallzuviel einfallen lassen, wenn ich nur an die Vermö-gensteuer erinnern darf.Beschäftigungspolitisch wäre das ein sinnvollerSchritt gewesen. Aber es wäre auch ein wichtiger Bei-trag gegen die Fremdenfeindlichkeit in diesem Landegewesen. Das wollen wir nicht unterschätzen.
Warum haben Sie sich eigentlich nicht der vollstän-digen Wiederherstellung des Streikrechts angenom-men? Es war doch Ihre Idee, zu sagen, daß das ein Pro-jekt der ersten 100 Tage sein soll. Warum sind Sie dennda jetzt so zögerlich, wo Sie genau wissen, daß das her-vorragend in die politische Landschaft paßt? Nein, Sienehmen sich dieser Geschichte nicht nur nicht an, Sieblockieren auch noch die Anträge der PDS, und zwarmit ausgesprochen hanebüchenen Argumenten. Da heißtes dann bei Ihnen, Sie ließen sich von uns nicht dasTempo Ihrer Regierungsvorhaben vorschreiben, und imübrigen könne man nicht einfach den alten Zustand wie-derherstellen.Zunächst zum Tempo. Das will ich Ihnen einmal sa-gen: Beim Tempo sind Sie im Moment wirklich einsameSpitze, und das wollen wir Ihnen auch absolut nichtstreitig machen.
Den Schrott, den Sie dabei teilweise anrichten, habenSie nun allerdings wirklich ganz allein zu verantworten.
Sie müssen sich schon gefallen lassen, daß auch wirSie an Ihre Wahlversprechen erinnern, und zwar an diePunkte, bei denen es uns richtig erscheint. Warum kannder alte Zustand eigentlich nicht wiederhergestellt wer-den? Heute paßt Ihnen das doch durchaus, etwa in derFrage der Entlassungsabfindungen. Da sagen Sie doch:Wir haben Zeitdruck; dann stellen wir erst einmal diealte Regelung wieder her, und dann überlegen wir uns inRuhe, wie man das neu machen könnte. Na bitte, inOrdnung! Das hätten Sie aber bei all den Projekten, dieich gerade genannt habe, längst auch so tun können. Ichfinde, da sind Sie einfach unglaubwürdig. Hier habenSie offensichtlich das Gefühl gehabt, daß Sie so denUnternehmern am wenigsten weh tun.Dr. Thea Dückert
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Ich möchte in einer kleinen Nebenbemerkung zu FrauSchwaetzer sagen: Wer Übergangsgelder in astronomi-schen Höhen kassiert, der sollte sich bei Abfindungsre-gelungen für Beschäftigte ein bißchen zurückhalten. Daswürde auch der Überwindung der Politikverdrossenheitin diesem Lande guttun.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bundesfinanzmini-ster Lafontaine hat in seiner Rede gesagt: Die Arbeits-losenzahlen sind die Meßlatte für richtige oder falscheRegierungspolitik; auch diese Regierung will sich daranmessen lassen. – Das werden wir natürlich auch tun.Bisher – das müssen wir leider feststellen – ist einDurchbruch noch lange nicht in Sicht.
Aber ich sage Ihnen auch: Dafür machen wir Sie nichtverantwortlich. Wir wissen sehr wohl, welche schwereBürde Sie übernommen haben.
Es ist eben ganz schön schwer, 16 Jahre falsche Poli-tik in so kurzer Zeit zu korrigieren. Ich finde, das istschon eine Aufgabe. Ich kann Ihnen das sogar an Handder Arbeitsmarktpolitik deutlich machen.Was ich aber heute von dieser neuen Regierung er-warte, sind die richtigen Weichenstellungen für eine an-dere Politik, auch und gerade zur Lösung des Beschäf-tigungsproblems. Der Verweis auf das „Bündnis fürArbeit“ ersetzt einfach kein Konzept. Der Bundeskanz-ler hat sich gestern leider zu dieser Problematik ausge-sprochen bedeckt gehalten, was ich sehr bedauerlichfinde. Wenn der Kollege Rezzo Schlauch einen neuenBegriff prägt – es sollen zukünftig „dynamische Be-schäftigungsverhältnisse“ sein –, dann bin ich sehr ge-spannt, was das werden soll. Auch Heuern und Feuernist ungeheuer dynamisch. Ich hoffe nicht, daß das in die-se Richtung geht.
Nun zu Ihren Weichenstellungen in diesem Haus-halt. Wir unterstützen Sie natürlich bei dem 100 000-Arbeitsplätze-Sofortprogramm für junge Menschen.Bedauerlich ist, daß Sie das in den nächsten Jahren nichtfortführen wollen. Wenn der Herr Minister hier gesagthat, dieses Programm sei mit einer großen Motivationwie kein anderes angenommen worden, dann müssenSie mir einmal erklären, warum nicht nur Herr Zwickel,sondern auch Ihre Kollegin Frau Bergmann daraufkommt, sofort die Keule von Zwangsmaßnahmen her-auszuholen und damit zu drohen, daß die Sozialhilfe ge-kürzt wird, wenn die jungen Menschen ein solches An-gebot nicht annehmen.
Wie kommen Sie denn eigentlich dazu, sich auf dieseunsägliche Mißbrauchsdebatte der Vorgängerregierungeinzulassen? Wenn Frau Dückert das hier beklagt, dannmuß ich einfach sagen: Sie haben selber schuld. Sie ha-ben dies nämlich angestoßen und in diesem Falle nichtdie jetzige rechte Opposition.Noch eine Bemerkung zu Herrn Kues. Sie sind wirk-lich ein schlimmer Zyniker. Wenn Sie wenigstens diejungen Menschen instrumentalisiert hätten, statt sie völ-lig allein zu lassen! Sie haben sie ohne Perspektive ge-lassen. Sie haben zugelassen, daß sie in diesem Landemit Zukunftsängsten leben müssen.
Sich angesichts dessen hier aufzuspielen, finde ichwirklich unerhört. Ich hatte den Eindruck, auch den So-zialpolitikern aus der Union entglitten ein bißchen dieGesichtszüge angesichts Ihrer Rede.
– Das kann sein, ist mir aber egal.Ich unterstütze, daß die Mittel für die aktive Ar-beitsmarktpolitik enorm aufgestockt worden sind. Aberich sage auch: Ihr Versprechen, daß Sie damit eine Ver-stetigung der Arbeitsmarktpolitik erreichen, halten Sienicht ein. Sie wissen genau, daß man mit Ihrem Vorge-hen, in diesem Jahr die Mittel für die öffentlich geför-derte Beschäftigung ordentlich aufzustocken, zwar be-werkstelligen kann, aus einem kurzfristigen Engpaß her-auszukommen. Daß wir uns aber nicht in einem kurzfri-stigen Engpaß befinden, wissen Sie auch. Wir haben esmit tiefgreifenden Umbrüchen im Arbeitssystem zu tun.Sie wissen sehr wohl, daß das Defizit von 7 MillionenArbeitsplätzen strukturelle Ursachen hat. Deshalb mußman dieses Problem strukturell angehen und sich denwirklichen Ursachen stellen.
Wir kommen aus dieser katastrophalen Lage nicht her-aus, wenn Sie das nicht endlich anpacken.Ein weiterer Punkt. Wachstumsfetischisten sind hierebenso auf dem falschen Dampfer wie diejenigen, diemeinen, alle Probleme im Griff zu haben, wenn sie Ar-beit billiger machen. Daran sind schon die Neoliberalengescheitert. Ich finde, das sollte Ihnen Warnung genugsein. Sie sollten an diesen falschen Konzepten nicht an-knüpfen.
Ich habe natürlich nicht überhört, daß zumindest derBundesfinanzminister Töne im Hinblick auf eine neueLogik in der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik an-geschlagen hat. Die Opposition fand ja –
Frau Kollegin,die vereinbarte Redezeit ist weit überschritten. Ich bitteSie, zum Schluß zu kommen.Dr. Heidi Knake-Werner
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– ich komme
gleich zum Schluß –, daß das sozusagen die Fortsetzung
eines Volkshochschulvortrages war. Ich persönlich finde
Volkshochschulvorträge interessanter und erquicklicher
als Ihr neoliberales Stammtischgeschwätz.
Frau Kollegin,
Sie müssen jetzt wirklich aufhören.
Ein letzter Punkt.
Nein, kein
letzter Punkt. Das geht nicht mehr.
Ein letzter Satz,
wenn ich darf.
Der Bundeskanzler hat gestern hier gesagt, nicht
Charles Darwin sei der Ideengeber der „Neuen Mitte“,
sondern die Ideale der Französischen Revolution seien
es. Wenn er das ernst meint, dann hätte er hier ein biß-
chen mehr über Brüderlichkeit und vor allen Dingen
über Schwesterlichkeit sagen sollen. Was Sie sich im
Hinblick auf das 630-DM-Gesetz leisten, das schlägt
dem wirklich voll ins Gesicht.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Birgit Schnieber-Jastram.
Frau Präsi-dentin! Meine Damen und Herren! Soeben hat jemandzu mir „crescendo“ gesagt. Nach der Nacht, die wir imAusschuß verbracht haben, ist das eigentlich kaum nochmöglich. Man merkt dieser Debatte zeitweilig auch an,daß alle etwas übermüdet sind.Herr Riester, Sie sind vor der Wahl mit großen Ver-sprechungen angetreten. Sie haben grundlegende Re-formen des Sozialversicherungssystems angekündigtund den Wählern mehr soziale Gerechtigkeit verspro-chen.
Was ist bisher geschehen? Nehmen wir Sie doch nocheinmal beim Wort: Im wesentlichen haben Sie nur dieReformmaßnahmen der alten Regierung zurückgenom-men. Ein eigenständiges Reformkonzept haben Sie bisheute nicht vorgelegt.
Herr Riester, Sie lächeln. Geben Sie es doch zu: Ihre ei-genen Vorschläge, die Sie bis jetzt gemacht haben, sindvon allen gesellschaftlichen Gruppen fast unisono ab-gelehnt worden. „Riester als Flickschuster“ titelt „DieWelt“. Eine andere Überschrift lautete: „Schröder alsLeichtfuß“. Sie befinden sich in dieser Regierung in gu-ter Gesellschaft.
Ich will Ihnen dafür Beispiele nennen: Ich denke andie von Ihnen vorgeschlagenen Tariffonds zur Finanzie-rung der Rente ab 60 Jahren, die die jüngere Generation– Sie haben ja für die jüngere Generation soviel übrig –doppelt belasten und der Rentenversicherung zusätzlicheVorfinanzierungskosten in Milliardenhöhe aufbürdenwürden.
Oder die neue Definition der Scheinselbständigkeit: Siewird wahrscheinlich nicht für mehr Beitragszahler, son-dern für mehr Arbeitslose und für mehr Schwarzarbeitsorgen.
Oder die vielbeschriebene Neuregelung der geringfü-gigen Beschäftigungsverhältnisse: Die Anhörung imAusschuß für Arbeit und Sozialordnung hat sehr deut-lich gemacht, daß der von Ihnen vorgelegte Gesetzent-wurf nicht nur nachbesserungsbedürftig ist, sondern daßSie ihn eigentlich zurückziehen müßten.
Übrigens: Das, was wir gestern im Ausschuß erlebthaben, grenzte an undemokratische Formen. Das war einStück Mehrheitsdiktatur, die wir so nicht zulassen wer-den.
Dieses Gesetzesvorhaben, Herr Riester – das wissenSie ganz genau –, stellt keinen Beitrag zur Beseitigungder Mauer zwischen geringfügigen Beschäftigungen undsozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigungendar. Die betriebliche Praxis hat gezeigt, daß die vonIhnen beabsichtigte Neuregelung mit einem erheblichenVerwaltungsmehraufwand – nicht nur für die Betriebe,sondern auch für die Sozialversicherungsträger und fürdie privaten Haushalte – verbunden ist. Zudem führt dieNeuregelung statt zu einer Eindämmung zu einer Aus-weitung der 630-DM-Jobs.
Der breite Konsens der Gewerkschaften, der Arbeit-geberverbände, der Sozialversicherungsträger in ihrerKritik am Gesetzentwurf der Regierungskoalition zeigt:Die Regierungskoalition ist eine Koalition des Abseits.Dieser gesellschaftliche Konsens über die Untauglich-keit des vorgelegten Gesetzentwurfs kann nur eine Kon-sequenz haben: Ziehen Sie ihn zurück! Noch besteht dieChance dazu.
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Ich frage mich wirklich: Hat eine Regierung in sokurzer Zeit schon einmal soviel Durcheinander ange-richtet? Pleiten, Pech und Pannen, die ihresgleichen su-chen!
Jetzt komme ich noch einmal zu dem von Ihnen an-gezettelten Rentenchaos und den nicht eingehaltenenWahlversprechen. Vor den Wahlen haben Sie angekün-digt, Sie wollten die Rentner besserstellen und gleich-zeitig die Stabilität der gesetzlichen Rentenversiche-rung sichern. Sie haben den Rentnern damals großeVersprechen gemacht. An diesen Versprechen müssenSie sich jetzt – daran geht kein Weg vorbei – messenlassen. Es wird aber immer deutlicher, daß Sie dieseVersprechungen nicht halten können.
Der Wahltag ist vorbei, und jetzt müssen Sie die Rentnerlangsam darauf vorbereiten, daß die zu Jahresbeginnverteilten Wohltaten nur von kurzer Dauer sein werden.
Sie werden noch manches Wort bereuen, das Sie in denletzten Wochen gesagt haben.Letzte Woche haben Sie die Abkehr vom Prinzip derNettoanpassung in der gesetzlichen Rentenversicherungangekündigt.
Damit wird sich der jährliche Rentenanstieg verlangsa-men, und die Renten können dem Nettolohn nicht mehrim Gleichschritt folgen. Dies bedeutet eine Senkung desRentenniveaus. Gerade mit diesem Argument haben Siesich gegen die Einführung eines demographischen Fak-tors durch das Rentenreformgesetz 1999 gewandt undunsere Rentenreform als unsozial beschimpft. Anstattfroh zu sein, daß wir die Kastanien für Sie aus dem Feu-er geholt haben, haben Sie den Demographiefaktor mitüberheblicher Geste wieder zurückgenommen.
Mit dem Aussetzen des demographischen Faktors gehenfür die Rentenversicherung zwei Jahre des notwendigenfinanziellen Ausgleichs zwischen den Generationenverloren. Das geht zu Lasten der jüngeren Generation.Eine spätere Lösung wird immer teurer.Jetzt suchen Sie unter allerlei Vorwänden nach ver-gleichbaren Lösungen. Nur anders heißen müssen sie.Damit belasten Sie die Rentner insgesamt noch stärker.
Neben der Abkehr von der Nettoanpassung werden dieRentner auch – das ist hier, glaube ich, noch gar nichtgesagt worden – voll durch die Ökosteuer getroffen.Durch die mit der Ökosteuer verbundene Erhöhung derHeiz- und Stromkosten, der Kosten für Benzin, für Busund Bahn werden die Rentner zur Kasse gebeten. Vonder mit der Ökosteuer verbundenen Senkung der Ren-tenbeiträge haben die Rentner aber nichts, da sie keineBeiträge zur Rentenversicherung mehr zahlen.
– Das stimmt, Herr Gilges. Die Ökosteuer ist in hohemMaße sozial ungerecht.
Der Sozialverband VdK hat das berechnet: Ein Rent-nerhaushalt wird durch die Ökosteuer monatlich mitrund 20 DM zusätzlich für Energiekosten belastet.
Das bedeutet für einen Rentner mit 2 000 DM Rente,daß der Realwert der Rente um 1 Prozent gemindertwird. Somit schrumpft im Zuge der vom VdK erwarte-ten Rentenanpassung von 1,7 Prozent am 1. Juli 1999 inWestdeutschland der reale Zuwachs durch 20 DMÖkosteuer bei 2 000 DM Rente auf 0,7 Prozent. Bei1 000 DM Rente ergibt sich unter dem Strich sogar einreales Minus von 0,3 Prozent.Nach unserer demographischen Formel hätte jederRentner einen Abschlag von 0,5 Prozent und damit einPlus von 1,2 Prozent gehabt. Das ist die Realität. Der Ef-fekt der ökologischen Steuerreform für Durchschnitts-rentner ist fast doppelt so hoch wie die Auswirkungendes demographischen Abschlags unserer Rentenformel.
Die rotgrüne Koalition stellt die Rentner schlechter– das will ich hier noch einmal sehr deutlich sagen –, alsunsere Rentenreform das getan hätte. Um zu verhindern,daß am Ende nur diejenigen die Lasten zu tragen haben,die sich nicht wehren können, sollte die Schröder-Regierung auch diese unsozialen Ökosteuerpläne zu-rückziehen.
Mit der Rücknahme unserer Rentenreform ist einefinanzielle Mehrbelastung der gesetzlichen Rentenver-sicherung in Höhe von 4 Milliarden DM für die Jahre1999 und 2000 verbunden. Diese Mehrbelastung solldurch eine erneute Erhöhung des Bundeszuschussesvertuscht werden, finanziert durch die unsoziale Öko-steuer. Anstatt die Strukturprobleme der gesetzlichenRentenversicherung an der Wurzel zu packen und einevernünftige Rentenreform vorzulegen, wird nur an denSymptomen herumgedoktert. Das ist eine unseriöse Um-finanzierung, die wir nicht mittragen können. Außerdem– das werden Sie noch beachten müssen – ist damit derWechsel vom versicherungs- zum steuerfinanziertenRentensystem vorprogrammiert. Das werden wir nichtmitmachen.
Aufgeschreckt hat uns übrigens noch eine andere An-kündigung aus Ihrem Munde, Herr Riester. Um dasBirgit Schnieber-Jastram
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Rentenchaos noch zu vollenden, will die neue Regierungnach den Worten ihres Arbeitsministers die kleinenRenten in Zukunft unbehelligt lassen und bei den hohenRenten abkassieren. Das hört sich zunächst einmal un-glaublich gerecht an. Soziale Gerechtigkeit: Die einenbekommen weniger ausgezahlt, als ihnen zusteht, dieanderen bekommen mehr ausgezahlt, als ihnen zusteht.Was ist aber mit den Menschen, die ihr Leben langHöchstbeiträge gezahlt haben, und was ist mit den Men-schen, die gar keine Beiträge gezahlt haben? Will dieBundesregierung wirklich an erworbene Rentenansprü-che herangehen? Oder sind Sie, Herr Minister Riester,gar der Meinung, daß die deutsche Rentenversicherungeine grandiose Geldanlage ist, durch die man ohne Lei-stung Rekordgewinne erzielen kann?Die gesetzliche Rentenversicherung – das ist eineKondition der Gespräche in diesem Bereich – muß alsleistungsbezogenes System erhalten bleiben. Wer daranrütteln will, der muß anfangen, denen etwas wegzuneh-men, die ihr Leben lang erhebliche Beiträge gezahlt ha-ben. Dann sind wir auf dem Weg zur Grundrente. Wirwollen sie nicht. Wenn Sie sie wollen, müssen Sie dassagen.Herr Riester, Ihnen fehlt das sozialpolitische Naviga-tionssystem.
Sie haben den Rentnern im Wahlkampf nicht die Wahr-heit gesagt.
Das Wort hat
jetzt der Herr Bundesminister Riester.
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Meine Damen und Herren! Es ist richtig,
ich will die Wahrheit sagen. Herr Kues hat hier nämlich
schon das zweite Mal – ich unterstelle: ganz bewußt –
die Unwahrheit in den Raum gestellt. Er hat mich mit
drei Sätzen zitiert, den wesentlichen Rest des entspre-
chenden Artikels aber weggelassen. Er suggeriert die
ganze Zeit, ich sei der Auffassung, für gering qualifi-
zierte Menschen müsse man nichts machen. Deswegen
lese ich Ihnen jetzt das gesamte Zitat vor und sage, wo
Herr Kues geendet hat.
Dieser „FAZ“-Artikel fing mit der Frage an:
Was wollen Sie mit denen machen, die nicht quali-
fizierbar sind?
Die Antwort lautete:
Ich konzentriere mich lieber auf die vielen Men-
schen, die man qualifizieren kann, als auf die weni-
gen, bei denen alle Bemühungen fruchtlos bleiben.
Aber gut. Wie viele mögen es sein? Vielleicht fünf
Prozent der Erwerbsbevölkerung.
An der Stelle hat Herr Kues geendet. Es geht aber wei-
ter:
Es gibt so viele Tätigkeiten in der Gesellschaft, die
für diesen Personenkreis entfaltet werden könnten.
Solche Felder zu entwickeln, das ist eine große
Aufgabe. Aber ich halte es für wichtig, in diesem
Zusammenhang nicht zuerst an die schwach Quali-
fizierten zu denken und an die Kosten, sondern zu-
nächst einmal an die Arbeit selbst. Gewöhnlich sagt
man ja zuerst: „Aber das Ganze muß so billig sein,
daß ...“. Ich fange lieber an der Stelle an zu denken:
Welche Tätigkeiten könnte es geben, welche eignen
sich, und in einem späteren Schritt überlegen wir
uns, wie wir das Ganze finanzieren können und ob
wir es in irgendeiner Form subventionieren müssen.
Warnfried Dettling hat mich in seinem Buch vom
„Wirtschaftskummerland“ stark angeregt. Er sagt,
daß die Kommunen, die den Bedürfnissen der Bür-
ger am nächsten sind, vom Grundsatz her viele
Möglichkeiten hätten, neue Dienstleistungen zu
entwickeln. Dazu müssen sie neue strukturelle Vor-
aussetzungen schaffen. Ich bin sicher, daß wir auf
diesem weiten Feld auch Tätigkeiten für Menschen
haben, die dem ständigen Qualifizierungsprozeß
nicht gewachsen sind.
Genau das Gegenteil von dem, was Kues unterstellen
will – mit drei Sätzen, aus dem Zusammenhang geris-
sen –, habe ich gesagt.
Ich halte diese erneute Unterstellung für bewußte
Unlauterkeit.
Zu einer Kurz-
intervention der Kollege Kues.
Herr Minister Rie-ster, ich möchte Ihnen ausdrücklich bestätigen, daß Sierichtig vorgelesen haben. Das ist ganz unstrittig. Sie ha-ben aber gesagt – ich darf diesen Satz noch einmal zitie-ren –:Ich konzentriere mich lieber auf die vielen Men-schen, die man qualifizieren kann, als auf die weni-gen, bei denen alle Bemühungen fruchtlos bleiben.Sie konzentrieren sich also nicht auf diejenigen, „beidenen alle Bemühungen fruchtlos bleiben“.
Später sagen Sie:... ich halte es für wichtig, in diesem Zusammen-hang nicht zuerst an die schwach Qualifizierten zudenken und an die Kosten ...Ich weiß, das war eines Ihrer ersten Interviews als Mi-nister. Da mögen noch Unebenheiten enthalten gewesenBirgit Schnieber-Jastram
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sein; das habe ich Ihnen auch persönlich gesagt. Den-noch, entweder nehmen Sie dieses Interview zurück,
oder ich bleibe dabei: Sie verhalten sich gegenüberLangzeitarbeitslosen und Geringqualifizierten schäbig!
Herr Minister,
möchten Sie antworten?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Als erstes: Ich habe überhaupt nichts zu-
rückzunehmen, keinen Satz.
Deswegen habe ich das gesamte Zitat vorgelesen. Ich
stelle es gerne jedem zur Verfügung, damit er es nachle-
sen kann. Es wird deutlich, daß Sie bewußt aus dem Zu-
sammenhang gerissen eine völlig falsche Sicht darstel-
len.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dirk Niebel.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Herr Minister, diese Bun-desregierung ist mit dem Ziel angetreten, die Arbeits-losigkeit abzubauen. Das ist gut so, denn auch wir wis-sen, daß Arbeitslosigkeit eine ganz vehemente Ein-schränkung der persönlichen Freiheit der betroffenenMenschen ist.Sie haben mehrfach gesagt, Sie werden sich an derErreichung des Ziels „Abbau der Arbeitslosigkeit“ mes-sen lassen. Sie werden damit leben müssen, daß wir die-se Meßlatte jederzeit wieder anlegen. Ich gehe nämlichdavon aus, daß Sie die Weichen falsch gestellt haben.Ich spreche Ihnen nicht die Redlichkeit ab, aber mit demZurückdrehen der Reformen der alten Bundesregierungweisen Sie in die Sackgasse und befinden sich auf einemHolzweg.
Im Jahresmittel 1998 ist die Arbeitslosigkeit das ersteMal seit 1995 wieder deutlich gesunken. Wir hatten400 000 Arbeitslose weniger. Meines Erachtens sollteschon das als Beweis ausreichen, um feststellen zu kön-nen, daß unser Weg der richtige gewesen ist.
Kaum sind die Reformen weg, prompt steigt auch schonwieder die Arbeitslosigkeit: im Januar dieses Jahres 4,45Millionen. Das ist eine Viertelmillion mehr als im De-zember des letzten Jahres.
Wenn Sie sich die Februar-Zahlen anschauen – KollegeGilges, Sie sollten sich weniger aufregen; das ist außer-ordentlich schädlich für die Gesundheit –, werden Siefeststellen, daß die Zahl der Arbeitslosen um 500 000gestiegen ist. Für mich ist das eindeutig der Beweis da-für, daß Sie die Weichen falsch gestellt haben. Das klei-ne Fünkchen Aufschwung, das wir entzündet haben, ha-ben Sie zertreten.
Meine Damen und Herren, diese Zahlen allein solltenschon ausreichen, um festzustellen, daß wir dringendmehr Qualifikation, dringend mehr individuelle Bera-tung, aber noch viel dringender auch mehr Integration inden ersten Arbeitsmarkt benötigen.
Herr Riester, ein geeignetes Mittel dazu wäre, wie Sievorhin ganz richtig angedeutet haben, das Beschäfti-gungsprogramm für Langzeitarbeitslose BHI, das vonder alten Regierung bis zum Jahr 2001 verlängert wurdeund richtigerweise mit 750 Millionen DM pro Jahr aus-gestattet wurde. In den letzten Jahren haben wir mit die-sem Programm 300 000 Menschen im ersten Arbeits-markt in Beschäftigung gebracht. Jetzt stellen wir fest,daß die Mittel im ersten Quartal dieses Jahres bereits imJanuar so weit gebunden waren, daß keine Neufällemehr bewilligt werden konnten.Herr Riester, ich appelliere an Sie: Nutzen Sie die zurVerfügung stehenden Mittel, um die Menschen in denersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Wenn wir schon einInstrument zur Verfügung haben, das verwaltungstech-nisch einfach zu handhaben ist, das von der Wirtschaftangenommen wird, das die Menschen in den ersten Ar-beitsmarkt integriert, dann verstehe ich beim bestenWillen nicht, weshalb Sie den Schwerpunkt Ihrer An-strengungen darauf richten, die Leute im zweiten Ar-beitsmarkt zwischenzulagern.
Bei der glorreichen Diskussion über die 630-Mark-Beschäftigungsverhältnisse kommt es meines Erach-tens der Regierung, da ihre hehren Ziele durch den Ge-setzentwurf, den wir jetzt zu beraten haben, alle nicht er-reicht wurden, nur darauf an, die Arbeitslosenquote op-tisch zu verbessern. Die Bundesanstalt für Arbeit hat inder Anhörung bei uns im Ausschuß bestätigt, daß durchdie Einbeziehung von 2 bis 5,6 Millionen geringfügigBeschäftigten in die Sozialversicherungspflicht selbst-verständlich die Arbeitslosenquote deutlich sinken wird.Sie haben damit bloß keinen einzigen Arbeitslosen vonder Straße geholt und keinen einzigen neuen Arbeits-platz geschaffen.
Dr. Hermann Kues
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Das Handwerk hat noch im Jahr 1998 mit ungefähr50 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen in diesem Jahr ge-rechnet. Diese Hoffnung ist mittlerweile auf den Standder Hoffnung von Herrn Arbeitsminister Riester korri-giert worden, der schon Stagnation als positives Signalbeim Abbau der Arbeitslosigkeit werten würde. Auchdas Handwerk hofft, daß die Zahl der Arbeitsplätze wirdstagnieren können. Ich denke nicht, daß dies ein weg-weisendes Ergebnis in positivem Sinne durch das Bünd-nis für Arbeit ist. Sie haben darüber hinaus noch keineeinzige Idee aufgezeigt, wie Sie tatsächlich neue Be-schäftigung schaffen wollen.
Weil es richtig ist, wiederhole ich es heute noch ein-mal: Die F.D.P. ist die Partei der sozialen Verantwor-tung,
weil wir dafür sorgen wollen, daß die Menschen zumin-dest teilweise aus eigener Leistung ihren Lebensunter-halt bestreiten können. Ihre Politik dagegen ist unsozial,weil Sie die Menschen gängeln und den Arbeitsmarktdurch Überregulierung strangulieren.
– Wenn Sie sich noch weiter erheitern, werde ich es we-gen des besonderen Erfolges noch einmal wiederholen:Die F.D.P. ist die Partei der sozialen Verantwortung,
weil wir dafür sorgen, daß die Menschen ihren Lebens-unterhalt zumindest teilweise aus eigener Leistung be-streiten können.
Meine Damen und Herren, der Haushaltsplan ist derBeweis dafür, daß Sie in Ihren alten Denkschemata ver-haftet sind. Die Art der Beratung im Ausschuß ist derBeweis, daß Sie immer noch nicht festgestellt haben,daß Mehrheit nicht gleich Alleinherrschaft bedeutet.Was wir hier vorgelegt bekommen, ist kein Zeichen derNeuen Mitte, sondern der Beweis für die alte Linke inder Arbeitsmarktpolitik.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Adolf Ostertag.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Wir beraten in dieserHaushaltswoche erstmals seit 17 Jahren wieder einenHaushalt, der eine soziale Handschrift trägt.
Wir beraten heute einen sozialpolitischen Etat mitneuen, tatsächlich positiven Akzenten in Richtung mehrGerechtigkeit.
Was Sie in den letzten 16 Jahren angerichtet haben,mußte in der Tat in wichtigen Bereichen korrigiert wer-den. Das will ich im einzelnen nicht mehr aufzählen. Ichglaube, Sie kennen inzwischen unsere Garantiekarte, diewir systematisch abgearbeitet haben. Die Menschen ak-zeptieren es und begrüßen das.
Herr Kues hat eben gesagt, was wir mit sozialer Ge-rechtigkeit umschreiben, sei Nebelkerzenwerferei. FrauSchwaetzer hat uns rückswärtsgewandte Politik vorge-worfen.
Damit können wir gut leben.
Damit können vor allen Dingen Millionen Menschen gutleben, ja besser leben,
wenn sie wieder Kündigungsschutz haben, wenn dieLohnfortzahlung wieder 100 Prozent beträgt. Millionenvon Menschen können damit besser leben als unter IhrerPolitik. Das ist ganz klar; das müssen Sie erst einmal sosehen.
Diese neoliberale Kahlschlagpolitik, die Steinbruch-politik, die Sie im sozialen Bereich betrieben haben, istabgewählt worden. Ich glaube, Sie haben immer nochnicht begriffen, was am 28. September in dieser Repu-blik wirklich passiert ist.
Wenn ein F.D.P.-Politiker sagt, wie das eben gesche-hen ist, die F.D.P.-Politik sei die Politik der sozialenVerantwortung, dann muß ich sagen: der sozialen Ver-antwortungslosigkeit. So haben wir Sie die letzten Jahreerlebt. Sie haben sozialpolitisch wirklich verantwor-tungslos gehandelt und nichts für die Menschen getan.
– Ich werde dazu noch einiges ausführen; denn ich binder Überzeugung, daß die Quittung, die Sie für IhrePolitik bekommen haben, vor allem mit dem zusam-menhängt, was Sie die letzten 16 Jahre im sozialpoli-tischen Bereich zu verantworten haben, mit den Ent-wicklungen, die heute schon mehrfach angesprochenworden sind.Dirk Niebel
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Es gab in Ihrer Regierungszeit immer weniger sozial-versicherungspflichtige Beschäftigte mit immer mehrBeiträgen sowie immer mehr Arbeitslose und immermehr Leistungsberechtigte. Gleichzeitig gab es immermehr Entlastungen für Wohlhabende und Abschrei-bungskünstler in diesem Land. Ich glaube, das ist hinrei-chend diskutiert worden.
Ihre Umverteilungsstrategie der letzten Jahre hat dieSolidarität in diesem Land untergraben. Die Menschenwollten das einfach nicht mehr mitmachen.
Deswegen sitzen Sie hier jetzt zu Recht auf der Opposi-tionsbank.Angesichts dieser Erfahrung und Entscheidung derWählerinnen und Wähler sollten die Christdemokratenund die F.D.P. eigentlich im Büßergewand in den Bun-destag kommen. Statt dessen mokieren Sie sich übereinen Haushalt, der wirklich soziale Handschrift trägt.Zur Selbstkritik waren Sie noch nie fähig. Wir erlebendas auf allen Ebenen.Angesichts der schwierigen Rahmenbedingungen, dieSie uns hinterlassen haben, angesichts der sozialpoliti-schen und natürlich auch finanzpolitischen Hypothekhaben wir natürlich einen eingeengten Spielraum. Dasist doch unbestritten. Der Bundeshaushalt 1999 ist na-türlich auch eine Gratwanderung zwischen dem politischWünschenswerten und dem finanzpolitisch Machbaren.Das ist vom Finanzminister, vom Kanzler und im Zu-sammenhang mit mehreren Einzeletats deutlich gemachtworden.Zwischen diesen Polen bewegen wir uns natürlichauch beim Haushalt des Bundesministeriums für Arbeitund Sozialordnung. Gleichwohl gilt: Nirgends im Haus-halt ist die sozialdemokratische Handschrift besser zuspüren als im Einzelplan des Ministeriums für Arbeitund Sozialordnung.Die Ausgaben im Einzelplan 11 sind vor allem des-wegen gestiegen, weil der Bund in diesem Jahr erstmalsdie Beiträge für Kindererziehung zahlt und auch für diemit der Wiedervereinigung zusammenhängenden Kostenin der Rentenversicherung aufkommt.
Die Zahlen hat der Minister schon genannt. Wir begrü-ßen das ausdrücklich. Dies ist keine einfache Umbu-chung von Kosten und erst recht kein Selbstzweck. Esgeht vielmehr um eine Stabilisierung der Rentenversi-cherung und vor allem um die Senkung der Lohn-nebenkosten, die Sie jahrelang beschworen haben, abernicht zustande gebracht haben.
Nach wissenschaftlichen Berechnungen bringt dieSenkung in der Sozialversicherung um 1 Prozentpunktimmerhin 50 000 neue Arbeitsplätze. Aber das zählt fürSie anscheinend nicht. Für uns ist das schon ein ganzwichtiger Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosig-keit. Wir werden diese Politik in den nächsten JahrenSchritt für Schritt fortsetzen.Außerdem ist es ein sozialpolitischer Fortschritt,wenn nicht nur die Beitragszahler für Aufgaben der All-gemeinheit aufkommen müssen. Diesen Weg werdenwir weitergehen. Ich denke dabei zum Beispiel an eineFinanzierung von Maßnahmen beschäftigungsschaffen-der Arbeitsmarktpolitik über Steuern anstatt über So-zialausgaben. Wir haben dazu in den letzten Jahrenmehrfach Vorschläge unterbreitet. Auf diese werden wirsicherlich wieder zurückkommen.Die aktive Arbeitsmarktpolitik ist der zweite Beweisdafür, daß dieser Haushalt insbesondere im Bereich Ar-beit und Sozialordnung sozialdemokratische und grüneHandschrift trägt. Gegenüber dem Vorjahresergebnissind die Ausgaben für aktive Maßnahmen zur Bekämp-fung der Arbeitslosigkeit um über 6 Milliarden DMhochgefahren worden, zählt man die im Rahmen desBundeshaushalts und von der Bundesanstalt für Arbeitbereitgestellten Mittel zusammen. Das ist ein stolzes Er-gebnis, das Sie nie zustande gebracht haben. Bei Ihnengab es immer nur Kürzungsorgien.
Ich erinnere daran, daß Sie im vergangenen Jahr dieZahl der Beschäftigungsverhältnisse mit Ihrer berühm-ten ABM-Strohfeuer-Politik hochgefahren haben. Wirhaben diese Politik nicht ernst genommen – darüberwurde im Wahlkampf viel diskutiert –, weil von vorn-herein klar war, daß die Zahlen insbesondere in denneuen Ländern bald darauf wieder absinken würden.Dieses Hochfahren der Zahl der Arbeitsbeschaffungs-maßnahmen in dem Bewußtsein, daß davon ein Vier-teljahr später nichts mehr übrig sein würde, ist besondersschlimm gewesen.Diese Maßnahmen laufen jetzt aus. Nach den heimli-chen Plänen der alten Regierung, der jetzigen Opposi-tion, wäre es mit der Arbeitsmarktpolitik schon wiedernach unten gegangen, wie wir alle wissen. Das könnenSie in den Vermerken aus dem Hause Jagoda nachlesen,die auch Sie haben.Meine Damen und Herren, in der Koalitionsvereinba-rung haben wir als Grundsatz der aktiven Arbeitsmarkt-politik festgeschrieben, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zufinanzieren. Wir haben die Trendwende aber nicht nurangekündigt, sondern bereits eingeleitet. Die Ausgabenwerden von einer rein passiven Finanzierung der Ar-beitslosigkeit hin zu aktiven Maßnahmen der Arbeits-förderung umgesteuert. Das ist alles andere als eineNullsummenrechnung.Mehr aktive Ausgaben für Qualifizierungs- und Be-schäftigungsmaßnahmen heißt, mehr Menschen zu akti-vieren und ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu ver-bessern, damit sie ihre Arbeitskraft und ihre Fertigkeitenentfalten können, damit sie ihre Kreativität einbringenkönnen und letzten Endes ihr Selbstwertgefühl wieder-bekommen.
Adolf Ostertag
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Dies ist ein sozialpolitisches Anliegen jenseits allerHaushaltsarithmetik. Davon profitiert unsere Gesell-schaft als Ganzes. Viele soziale Initiativen und vieleUmweltprojekte, die vor Ort als unverzichtbar gelten,wären ohne Arbeitsfördermittel längst am Ende. Wirmachen aus dem sozialen Netz eben nicht eine bequemeHängematte und auch kein Ruhekissen. Aktivierung istauch die gemeinsame europäische Strategie, gegen dieSie ja immer wieder vergeblich opponiert und sich ge-stemmt haben.Herr Kues, Sie haben hier insbesondere im Zusam-menhang mit der Jugendarbeitslosigkeit von einer Po-litik gesprochen, die wir in keiner Weise unterstützenkönnen. Wir betreiben eben keine Politik für die Ar-beitsplatzbesitzer, sondern es bedeutet eine Verbesse-rung der Chancen für Arbeitslose und für von Arbeitslo-sigkeit Bedrohte, wenn diese Umsteuerung in der Ar-beitsmarktpolitik erfolgt. Das müssen Sie zur Kenntnisnehmen. Auf diesem Weg werden wir konsequent wei-tergehen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, über einenmittelfristigen Zeitraum von zum Beispiel vier Jahreneinen Mindestanteil von 50 Prozent für aktive Maßnah-men an den Gesamtausgaben der Bundesanstalt festzu-legen.Entsprechend den Vereinbarungen auf EU-Ebene solljede junge Frau und jeder junge Mann spätestens nachsechs Monaten Arbeitslosigkeit ein Angebot für einenAusbildungs-, Arbeitsplatz oder eine Qualifizierung er-halten. Das wollen wir möglichst bald auch bei uns um-setzen.Dies ist etwas gänzlich anderes als eine phantasieloseAusweitung der Ausgaben. „Geld ist nicht alles“, hatNorbert Blüm jahrelang von diesem Pult aus gepredigt,wann immer die SPD mehr Geld für innovative Ar-beitsmarktpolitik gefordert hat. Heute sage ich: Geld isttatsächlich nicht alles, aber ohne daß Geld an der richti-gen Stelle ausgegeben wird, läuft auch in der aktivenArbeitsmarktpolitik sehr wenig.Dieser Haushalt setzt aus sozialpolitischer Sicht ander richtigen Stelle an, nämlich bei der Bekämpfung derArbeitslosigkeit und bei mehr sozialer Gerechtigkeit.Für diese Ziele sind wir angetreten, und für sie werdenwir auch weiter streiten.
Meine Damen und Herren, Haushaltsdebatten gebenimmer auch Gelegenheit, grundsätzliche Anmerkungenzu machen. Ich will dies heute dazu nutzen, um etwas zuden angeblich explodierenden Sozialausgaben in die-sem Land zu sagen. Insbesondere Frau Schwaetzer hathierzu einige Argumente vorgetragen, die meiner Mei-nung nach aber Scheinargumente waren.Es mag ja schick sein, im Zeitalter der Globalisierungund vor dem Hintergrund lebhafter Standortdebattenvom angeblichen Wettbewerbshindernis Sozialstaat zureden. Schick mag es sein, aber es hat den Nachteil, daßes nicht stimmt. Die Kosten für die soziale Sicherungsind keineswegs explodiert. Der Anteil der Sozialausga-ben am Bruttosozialprodukt liegt heute in Westdeutsch-land – man kann das nur längerfristig vergleichen – mit31,7 Prozent unter dem Niveau von 1982, obwohl seit-dem rund 1,2 Millionen Arbeitslose hinzugekommensind und es fast eine Verdoppelung der Sozialhilfefällegegeben hat. Am Rande bemerke ich, daß Sie in dieserZeit politische Verantwortung getragen haben. Daß dieSozialleistungsquote in Deutschland insgesamt rund34 Prozent beträgt, liegt im wesentlichen an den nochgrößeren sozialen Problemen in den neuen Bundeslän-dern.Wer soziale Stabilität in den neuen Ländern will unddamit die deutsche Einheit untermauert, muß zu diesenAusgaben stehen. Das tun wir auch. Diese Ausgabensind, glaube ich, als Beitrag zur gesamtdeutschen Soli-darität gut angelegt.Eine ganz andere Frage betrifft die richtige Finanzie-rung der sozialen Sicherung. Sozialversicherungsbei-träge von 42 Prozent und mehr sind auf Dauer nichtzumutbar; der Minister hat darauf hingewiesen. Hier hatdie alte Regierung vollkommen versagt.
Das Beitragsrekordniveau liegt im wesentlichen an dreiGründen: erstens an der auf Grund der Massenarbeits-losigkeit und der Zunahme nicht geschützter Beschäfti-gungsverhältnisse immer geringer werdenden Zahl derBeitragszahler, zweitens an der Finanzierung der mit derWiedervereinigung zusammenhängenden Kosten überdie Sozialversicherung und drittens am Rückgang derLohnquote, wodurch die Finanzierungsbasis der Sozial-versicherung geschmälert wurde.Nicht überzogene Ansprüche auf Sozialleistungen,sondern eine falsche Finanzierung haben die Debatteüber den angeblichen Kostenfaktor Sozialstaat in die Irregeführt. Niemand anderes als Norbert Blüm, damalsnoch als Minister, hat vorgerechnet, wie sich der Staatbereits in den 80er Jahren zu Lasten der beitragszahlen-den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus der Fi-nanzierung der sozialen Sicherung zurückgezogen hat.Während der Staat seinen Finanzierungsanteil an der so-zialen Sicherung zurückschraubte, stieg der Finanzie-rungsanteil durch die Beiträge der Versicherten von63 auf 67 Prozent. Der Staat hat also die Solidargemein-schaft viel zu lange im Stich gelassen und ihr obendreinzusätzliche Aufgaben aufgebürdet. Das wird sich in dennächsten Jahren sicherlich ändern.Als sozialpolitisches Vermächtnis der alten Regie-rung bleibt allerdings bestehen: Die Sozialversiche-rungsbeiträge sind in den letzten 16 Jahren auf über42 Prozent emporgeschnellt, die Leistungen hingegensind abgebaut worden. Der Umfang des Leistungsab-baus betrug allein auf das Jahr 1997 bezogen knapp100 Milliarden DM in der Renten- und Arbeitslosenver-sicherung. Hoffentlich haben Sie den Brief von NorbertBlüm an die alten Regierungsfraktionen gelesen. DieserBrief trägt das Datum vom 12. Januar 1998. WenigerLeistung für mehr Geld – ein wahrhaft trauriges Ver-mächtnis, das Sie uns hinterlassen haben.Die neue Bundesregierung will zwar auch die Ausga-ben reduzieren, aber nicht durch Leistungskürzungen,Adolf Ostertag
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1662 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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sondern durch einen Abbau von sozialen Problemen, vorallem der Massenarbeitslosigkeit.
Meine Damen und Herren, die neue Mehrheit imBundestag macht ernst mit der Ankündigung, Arbeitstatt Arbeitslosigkeit zu finanzieren; das ist schon mehr-fach betont worden. Erste Erfolge sind erkennbar. Ichwill nicht im einzelnen auf das Sofortprogramm gegenJugendarbeitslosigkeit eingehen, weil schon viel dazugesagt wurde. Ich möchte aber zwei regionalisierteZahlen nennen. Allein in Nordrhein-Westfalen sind in-zwischen 10 000 ausbildungs- und arbeitsuchendeJugendliche in ein konkretes Maßnahmeangebot einge-bunden worden. 2 000 Jugendliche konnten in NRW in-zwischen eine vollwertige Ausbildung in einer außerbe-trieblichen Bildungsstätte aufnehmen. Das ist ein guterStart. Ich hoffe, anderswo ist es genauso, und wir kön-nen dann, wenn die Ergebnisse dieses Programms Endedes Jahres ein bißchen überschaubarer sind, diskutieren,wie es weitergeht.Diejenigen, die das Programm heute kritisiert haben,haben die Details anscheinend gar nicht gelesen, siekennen die Problemlagen der jungen Menschen nicht.Die haben auch nicht begriffen, daß wir diese Wochehier über einen Etat für ein Jahr reden, nicht über einenEtat für zwei oder drei Jahre. Gehen Sie davon aus:Auch in Zukunft wird diese Partei, die angetreten ist, dieJugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen, und wird dieseRegierung die Jugendlichen nicht im Stich lassen, son-dern ganz konkrete Angebote machen.
Was uns bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeitneben diesem Programm weiterhilft, sind konkrete Ver-einbarungen beim Bündnis für Arbeit. Heute nachmittagbeginnt die zweite Runde. Die Lehrstellenproblematiksteht heute nachmittag auf der Tagesordnung. Ziel mußes sein, in diesem Jahr jedem Jugendlichen einen geeig-neten Ausbildungsplatz anbieten zu können.
Ich setze dabei großes Vertrauen in die Problemlösungs-bereitschaft aller Beteiligten, der Arbeitgeber, der Ge-werkschaften und natürlich auch der Regierung. DasBündnis hat ein erstes positives Ergebnis gebracht, wieschon angesprochen wurde. Wir werden weitere kon-krete Schritte anpacken und auch umsetzen, denn daraufkommt es letzten Endes an.Das erste konkrete Ergebnis ist das heute in ersterLesung zu behandelnde Entlassungsentschädigungs-Änderungsgesetz. Die Anrechnung von Abfindungenauf das Arbeitslosengeld ist definitiv vom Tisch. DerZeitzünder, den Sie mit dem AFRG aktiviert haben undder am 7. April 1999 hochgegangen wäre, mußte untergroßem Zeitdruck entschärft werden. Deswegen liegtnun dieser Gesetzentwurf vor. Er stellt im wesentlichenden Rechtszustand wieder her, der vor der AFG-Novelle, der Eingliederung in das SGB III, bestandenhat. Es ist gut, daß wir eine Lösung für diese Entlas-sungsentschädigungen gefunden haben; denn soge-nannte sozialverträgliche Entlassungen dürfen nicht alseine Art Schmerzensgeld für den verlorenen Arbeits-platz betrachtet werden. Vielmehr muß die beruflicheZukunft des betroffenen Arbeitnehmers oder der betrof-fenen Arbeitnehmerin im Mittelpunkt stehen.Wir werden dieses Thema im Laufe des Jahres si-cherlich wieder aufgreifen; auch die Tarifvertragspartei-en werden im Bündnis für Arbeit darüber sprechen. Daszeigt, daß das Bündnis für Arbeit einen guten Anfanggenommen hat. Ich bin zuversichtlich, daß es uns in die-ser Legislaturperiode begleiten wird.Wir haben mit dem Bundeshaushalt 1999 im sozial-politischen Bereich einen guten Start hingelegt. Ich hof-fe, daß wir das in den nächsten Wochen in den Beratun-gen der Ausschüsse noch unterstreichen können. Ich se-he diesen guten Start bewußt im Zusammenhang mitdem Bündnis für Arbeit, das im Verlauf dieser Legisla-turperiode eine Trendwende auf dem Arbeitsmarkt her-beiführen wird.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Grehn.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Es ist nicht so, daß wir dasBemühen der Bundesregierung nicht erkennen, einigesanders zu machen, als es bisher durch die CDU/CSUund die F.D.P. getan wurde. Dabei schließe ich den so-zialen Bereich ausdrücklich ein.Die Auseinandersetzung, die hier stattgefunden hat,und die Kritik, die hier geübt wurde, habe ich sehr auf-merksam zur Kenntnis genommen. Ich habe mich zu-gleich gefragt, wie die Betroffenen diese Situation ein-schätzen würden und wie die Diskussion verlaufen wäre,wenn die Politik der abgewählten Regierung fortgesetztworden wäre.
Ich kann mich gut entsinnen, daß der Anstieg der Ar-beitslosigkeit, der bedauerlich ist, vormals so interpre-tiert wurde, daß der Winter den Arbeitsmarkt im eisigenGriff hat. Manchmal allerdings vergreifen sich auch dieMitglieder der neuen Regierung im Ton, was gerade vondenen mit Betroffenheit und Wut registriert wird, diedoch eigentlich im Zentrum der Politik der sozialen Ge-rechtigkeit stehen sollten. Mit der Streichung von So-zialhilfe, Arbeitslosenhilfe oder Ausbildungsförderungdenen zu drohen, die angeblich arbeitsunwillig sind, istüberflüssig und bedient nur die Klientel der abgedanktenKohl-Regierung.
Ich habe sehr wohl zur Kenntnis genommen, HerrMinister, wie Sie dies eingeschätzt haben und daß SieAdolf Ostertag
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sagten, daß die jugendlichen Arbeitslosen hochmotiviertund aktiv seien. Das ist der Sachlage und der Situationder Betroffenen angemessener, als ihnen zu drohen.
Eine sehr grundsätzliche Erkenntnis sollte die Koali-tion berücksichtigen: Kampf gegen Arbeitslosigkeitheißt natürlich in erster Linie Schaffung von Arbeits-plätzen – aber eben nicht nur.
Es heißt auch, die individuelle, soziale und familiäreSituation des Empfängers von Arbeitslosengeld, Ar-beitslosenhilfe oder Sozialhilfe, des Behinderten oderdes Rentenempfängers erträglich und menschenwürdigzu gestalten. Achtung und Respekt vor den MillionenMinderbemittelten und Armen in unserer Gesellschaftbedeutet auch, die Arbeitslosen, die Sozialhilfeempfän-ger, die Behinderten, die Rentner und ihre Selbstvertre-tungsorganisationen in die Lösung ihrer eigenen Pro-bleme einzubeziehen.
Das war ein Wahlversprechen. Kollege Struck hatgestern bekräftigt, alle Gruppen sollten mehr beteiligtwerden. Das waren seine Worte! Wo ist die Interessens-vertretung der Arbeitslosen, der Behindertenverbändeoder der Sozialhilfeinitiativen im „Bündnis für Arbeit“oder in seinen neuen Arbeitsgruppen?
Herr Bundesminister, ich habe sehr wohl Ihre Zusagean den Kollegen Seifert zur Kenntnis genommen, daß esein Treffen mit den Vertretern der Behindertenverbändegeben wird. Vielleicht können Sie sich entscheiden, dieübrigen Gruppen in dieses Treffen mit einzubeziehen.
Es ist an der Zeit, über das Verhältnis zwischen derArbeit dieser Verbände und der materiellen und gesell-schaftlichen Anerkennung dieser Arbeit neu nachzuden-ken. Das heißt auch, in den Haushalt eine institutionelleFörderung einzustellen. Wer Arbeitslose aktivieren willund die in der Resolution der UNO-General-versammlung von 1993 beschlossene Chancengleichheitfür Behinderte verwirklichen will, der muß dafür Spiel-räume bereitstellen. Wenn wir schon von Wahlverspre-chen reden: Die wiederauflebenden Proteste der Ar-beitslosen und die Plakate der „Aktion Grundgesetz“ derBehindertenverbände spiegeln den Wunsch der Betrof-fenen, daß diese Versprechen erfüllt werden, wider.Nicht nur die Arbeitnehmer, Herr Bundeskanzler, sindnur dann frei, wenn sie ein Stück Sicherheit haben undfrei von Angst sind. Diese Feststellung gilt erst recht fürdie Arbeitslosen, die Sozialhilfeempfänger, die wach-sende Zahl der Armen und jene Menschen, die Angstdavor haben, in Armut abzurutschen oder in ihr verhar-ren zu müssen. Geben Sie diesen Menschen jenesSignal, das Sie den Arbeitnehmern beim Kündigungs-schutz gegeben haben.
Trotz einiger realisierter Vorhaben auf dem SektorArbeit und Soziales, des Programms zur Bekämpfungvon Arbeitslosigkeit und der Bereitschaft, die Mittel fürden Behindertenbeauftragten aufzustocken – das möchteich hier positiv erwähnen –, möchte ich dem KollegenSchlauch zustimmen, der bescheiden und ganz leiseformulierte, daß das Motto „Arbeit statt Arbeitslosigkeitfinanzieren“ noch nicht ganz umgesetzt sei. Das geradegelobte Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit kanngemessen an dem Ziel, jedem arbeitslosen Jugendlichenein Angebot zur Ausbildung, Qualifizierung oder Be-schäftigung zu unterbreiten, bevor er ein halbes Jahrarbeitslos ist, nur ein Anfang sein.
Ich erinnere
Sie daran, daß Ihre Redezeit abgelaufen ist.
Ich komme zum Ende. Ich
will mich jetzt nicht auf die Einstellung von Mitteln be-
ziehen. Aber ich verweise darauf, daß der Etat für die Ar-
beitslosenhilfe mit 500 000 DM weniger als 1998 ange-
setzt worden ist. Die geplante Summe von 28 Milliarden
DM ist knapp 2,5 Milliarden DM geringer im Vergleich
zu 1997. Wir sehen für solche Sparmaßnahmen keinen
Anlaß, weil die Langzeitarbeitslosigkeit und damit die
Zahl der Fälle, in denen Arbeitslosenhilfe gewährt wird,
absehbar nicht sinken, sondern eher steigen wird.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Antje Hermenau.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte– bevor ich auf das Sofortprogramm zu sprechen komme –gerne auf etwas eingehen, das mich heute wirklich ver-blüfft hat. Das war die These der F.D.P. von der sozialenVerantwortung. Dieser Sache nehme ich mich gerneeinmal an.
Ich fange sofort an: Ich verstehe Ihr Problem, daß Sie inder Opposition durch Radikalisierung versuchen müs-sen, an Profil zu gewinnen.
Aber wenn ich davon einmal absehe, habe ich mir IhreThese durch den Kopf gehen lassen. Dabei ist mir fol-gendes klar geworden: Wenn ein Mensch schwimmenlernen soll, dann wird er nicht in die Mitte des Beckensgeworfen und der Bademeister geht aus dem Bad herausund schaut nach einer halben Stunde nach, ob dieserMensch ersoffen ist oder schwimmen gelernt hat; viel-mehr bleibt der Bademeister am Beckenrand stehen undermutigt den Menschen dazu, seine Angst zu überwin-den und etwas zu tun, das sein Leben rettet.
Dr. Klaus Grehn
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1664 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Um diesen Weg geht es. Sie mit Ihrer Dschungelmentali-tät sind die Art von Bademeister, der rausrennt, sich umdie Leute nicht kümmert und die Hälfte von ihnen absau-fen läßt. – Damit ist das Thema für mich abgehandelt.
Das Problem mit dem Sofortprogramm, auf das wir injedem Fall zurückkommen müssen, besteht in folgen-dem: Das Programm wird dadurch angreifbar, daß es nurauf ein Jahr ausgelegt ist. Deswegen will ich darüber re-den, warum wir dieses einjährige Programm überhauptaufstellen müssen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.Solange das „Bündnis für Arbeit“ in der Gesprächs-phase ist, haben wir mittel- und langfristig keine wirk-lich verabredeten und auf gesellschaftlichem Konsensbasierenden Instrumente und Möglichkeiten, uns mit denProblemen des Fehlens von Ausbildungsplätzen und derArbeitslosigkeit von jungen Leuten wirklich zu befas-sen. Dieses Sofortprogramm dient dazu, diesen Zeitraumzu überbrücken, ohne daß er jungen Leuten zu verlore-ner Lebenszeit wird. In diesem Sinne halte ich es füreine ganz akzeptable Maßnahme.
Das vorliegende Maßnahmenbündel ist im ganzenschlüssig und machbar. Es gibt eine ganze Reihe vonMöglichkeiten, aus denen ausgewählt werden kann. Ichhalte das für akzeptabel; denn es stellt eine gewisse In-dividualisierung des Programms dar, weil Jugendlichenach ihrer Lebenslage entscheiden können.Ich muß deutlich sagen: Ich bin sehr froh darüber,daß dem Koalitionsvertrag, der einen Schwerpunkt Ostin diesem Sofortprogramm definiert hat, entsprochenworden ist. 40 Prozent der Mittel für dieses Programmfließen in den Osten, obwohl nur ein Anteil von 20 Pro-zent der Bevölkerung im Osten lebt.Ich möchte auf die psychologische Situation zu spre-chen kommen, die auch Frau Schwaetzer versucht hataufzuzeichnen. Auf der einen Seite wird eine Sperre,eine Abhängigkeit vom Staat konstruiert, die nach derAuffassung eines Flügels dieses Hauses einen unmündi-gen Bürger kreieren würde; auf der anderen Seite wirdvon anderen Teilen dieses Parlaments suggeriert, jederMensch brauchte eine Schwimmweste und würde nieschwimmen lernen. Beides ist natürlich falsch. Mansollte sich schon die Zeit nehmen, herauszufinden, wo-für jeder einzelne in welchem Abschnitt seines Lebenswirklich fit ist. Damit das geschehen kann, brauchen wirein psychologisches Klima, sich zu bemühen, viele ver-schiedene Möglichkeiten und Varianten zu entwickeln,Menschen in Lohn und Brot zu bringen, damit sie ihrLeben selbst gestalten können. Ich halte das für einenganz legitimen Anspruch und für einen der größtenWürfe zu Beginn unserer gemeinsamen Koalition.
Der Charme, den ich in diesem Sofortprogrammausmache, liegt für mich persönlich darin, daß nicht nurüber die erste Schwelle, nämlich über das Problem, eineordentliche Ausbildung zu bekommen, mit der manauch wirklich etwas machen kann, gesprochen wird;vielmehr wird auch die zweite Schwelle, nämlich derEinstieg in die Berufstätigkeit, in Angriff genommen.Das heißt, wir behandeln zwei Probleme der Situationjunger Leute gleichzeitig. Das sind meines Erachtenssehr beachtliche Fortschritte in schwierigen Zeiten miteiner schwierigen Erblast aus den Haushalten der ver-gangenen Jahre. Ich empfehle allen Kritikern dieses So-fortprogramms, ganz leise zu werden.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hans-Joachim Fuchtel.
Frau Präsi-dentin! Meine Damen und Herren! Aus Sicht derCDU/CSU ist Rotgrün noch weit von einer ersten Be-währungsprobe in der Sozialpolitik entfernt. Sie, HerrMinister Riester, und der Finanzminister waren relativschnell bereit, ziemlich viel Geld auszugeben. Wir allesind gespannt, wie Sie die Gegenfinanzierung tatsäch-lich zustande bringen. Daß Ihnen das gelingt, haben Sienoch nicht bewiesen. Wir hören von Tag zu Tag neueMeldungen. Weisen Sie uns erst einmal Erfolge nach,bevor wir die erste Lobeshymne hier anstimmen!Auch das, was der Kollege Ostertag hier gesagt hat,kann man nicht nachvollziehen. Fakt ist, daß wir zu Be-ginn des Jahres 1998 4,8 Millionen Arbeitslose hatten.Als wir aus der Regierungsverantwortung ausgeschiedensind, hatten wir 3,8 Millionen Arbeitslose – 1 MillionMenschen weniger. So ist die Ausgangslage, und an dermüssen wir Sie messen. Über das, was Sie aus dieserAusgangslage machen, werden wir diskutieren.
Als Haushaltspolitiker sage ich in einer Haushaltsde-batte: Wir haben mit 7,7 Milliarden DM als Bundeszu-schuß für die Bundesanstalt für Arbeit abgeschlossen.In dieser Summe sind die Erhöhungen für eine aktiveArbeitsmarktpolitik bereits enthalten. Wenn Sie 11 Mil-liarden DM wieder etatisiert haben, warum machen Siejetzt das Geschrei, daß jetzt auf einmal das Problembestehe, Sie fielen bei der Zahl der Arbeitslosenzahlenzurück? Sie verfügen über genug Mittel, um an unserErgebnis anzuschließen und die Zahl der Arbeitslosen zusenken.
Die Ergebnisse sind halt anders.Man geht jetzt von 150 000 Arbeitslosen weniger aus.Wenn ich die Rechnung der Kollegin Schmidt auf-mache, dann stelle ich fest: 150 000 Arbeitslose weni-Antje Hermenau
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1665
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ger, das sind 6 Milliarden DM. Sie bräuchten als Zu-schuß für das Jahr 1999 eigentlich nur noch 1,7 Milliar-den DM zu veranschlagen, aber Sie stellen 11 MilliardenDM ein. Das heißt, Sie haben über 9 Milliarden DM Re-serve. Jetzt stellt sich die Frage, wie die Politik mit die-sem Sachverhalt umgeht. Wir würden empfehlen, mitdiesem Geld den Beitrag um 0,5 Prozentpunkte abzu-senken.
Dann bräuchten Sie das ganze unsägliche Theater mitder Ökosteuer gar nicht erst zu veranstalten.
Sie versuchen, weitere Leute – 200 000 – auf demzweiten Arbeitsmarkt zu plazieren. Das ist eine Mög-lichkeit. Sie können so weitermachen und alle Leutedurch Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit inNürnberg beschäftigen; dann haben Sie gar keine Ar-beitslosen mehr. Das ist jedoch nach unserer Meinungder falsche Weg, weil er eben nicht zum ersten Arbeits-markt führt. Wir haben da unterschiedliche Politikansät-ze. Wir gehen mit unserem Ansatz und Sie mit Ihremauf den politischen Markt. Aber eine Absenkung um150 000 im Jahresdurchschnitt 1999 als politischen Er-folg verkaufen zu wollen, das ist nicht möglich, weil dasInstitut der Bundesanstalt für Arbeit bereits ausgerech-net hat, daß durch den demographischen Wandel– durch Freiwerden von 150 000 Arbeitsplätzen – dieArbeitslosigkeit ganz automatisch reduziert wird. Für sodumm dürfen Sie die Öffentlichkeit doch nicht verkau-fen, daß Sie meinen, dieses als Erfolg darstellen zu kön-nen.
Das bedeutet also, daß Sie uns sagen müssen, welcheErfolge Sie sich davon versprechen, die Beiträge überdie Ökosteuer senken zu wollen. Ich frage Sie also: Wosind eigentlich die günstigeren Zahlen? Es kann dochdann nicht bei 150 000 Arbeitslosen weniger bleiben. Damüssen Sie doch ganz andere Werte bringen. Ich möchtejetzt einmal die Meßlatte anlegen, damit wir für die Zu-kunft Klarheit haben: Sie schaffen 200 000 Arbeitsplätzedurch aktive Arbeitsmarktpolitik; dazu kommen 200 000auf Grund der demographischen Entwicklung. Dasheißt, die politische Diskussion fängt erst dann an, wennSie es schaffen, im Jahr 1999 über 400 000 weniger Ar-beitslose darzustellen.
Damit wir uns auch für die Zukunft richtig verstehen:Die demographische Entwicklung setzt sich so fort, daßim Jahr 2000 600 000 Arbeitsplätze, im Jahr 2001800 000 Arbeitsplätze und im Jahr 2002 1 Million Ar-beitsplätze frei werden. Wenn Sie hier nicht mit einerZahl in der Größenordnung einer weiteren Million an-treten, dann brauchen Sie Ihre Erfolgsbilanz gar nichtmehr zu zeigen, sondern können sie gleich einstampfen.
Zu der ganzen Politik paßt natürlich auch, daß kriti-sche Sachverständige ausgetauscht werden. Es ist dochganz klar, daß man da ein wenig reparieren muß. Nur, sohat die berühmte Geschichte von George Orwell auchangefangen.
Das nächste Ei von Ihnen, Herr Riester, liegt ja be-reits in der Pfanne. In einer Meldung von AP heißt es,Riester wolle die Meldepflicht abschaffen. Das wäredas Falscheste, was Sie tun könnten. Die Meldepflichtmuß erhalten bleiben,
und zwar im Interesse der Arbeitslosen, die arbeitenwollen. Nur so kann zwischen den Gutwilligen und de-nen, die Mißbrauch betreiben wollen, unterschiedenwerden. Wir wollen nicht, daß der Beitragszahler vondenjenigen, die es darauf anlegen, künftig wieder ausder Hängematte in Mallorca gegrüßt wird. Wir möchtendie Leute hier haben, damit sie verfügbar sind, wenn dieArbeit da ist. Deshalb bitte ich Sie, von diesen PlänenAbstand zu nehmen.
Meine Damen und Herren, zum Thema der 630-Mark-Jobs ist genug gesagt worden. Aber wir sinddoch sehr erschrocken darüber, wie sich ein deutscherBundeskanzler in persona hier hinstellen kann und demParlament eine offensichtlich verfassungswidrige Re-gelung vorschlagen kann. Das haben wir in diesem Hau-se so oft noch nicht erlebt.
Wie zwischen dem Bundeskanzleramt und dem Mini-sterium von Minister Müller aneinander vorbeigearbeitetwird, sieht man an folgendem: Herr Minister Müller hatheute morgen bekundet, er wolle den Tourismusetatum 2 Millionen DM aufstocken. Wir erkennen an, daßes wenigstens etwas mehr ist. Auf der anderen Seitewerden mit Maßnahmen wie der 630-DM-Regelung sehrviele Arbeitsplätze im DEHOGA-Gewerbe gefährdet.Das ist in höchstem Maße kontraproduktiv.
Das war nur das Vorspiel; doch jetzt geht es an dieRente. Wir sehen einen Minister, der sozusagen in derRente wie jemand herumstochert, der zum erstenmal mitStäbchen ißt.
Was ich in jüngerer Zeit von Ihnen zum Beispiel hin-sichtlich eines Rentenfonds gehört habe, könnte ichnoch als kreativen Diskussionspunkt gelten lassen. Wasich Ihnen aber nicht durchgehen lassen kann, ist die Ab-kehr vom Nettolohnprinzip. Diesen Versuch hat schoneinmal der unselige Ehrenberg unternommen,
Hans-Joachim Fuchtel
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1666 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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der damit – auf gut deutsch gesagt – auf die Schnauzegefallen ist. Deshalb empfehlen wir Ihnen dringend:Nehmen Sie unbedingt Abstand davon!„Demographiefaktor rein, Demographiefaktor raus“,als Haushälter sage ich dazu, daß es im ersten Jahr nurum „lächerliche“ 900 Millionen DM geht. Nächstes Jahrsind es 1,8 Milliarden DM. Man erhöht dann einfachlocker die Ökosteuer, und das Problem ist gelöst. Nein,so unsensibel darf man bei der Rentenfinanzierung nichtvorgehen. Das will ich an dieser Stelle festhalten.
Wenn man sich die Neuregelung der 630-DM-Jobsansieht, dann müßte man eigentlich sagen – er hat dieseNeuregelung zur Chefsache erklärt –: Viermal raus,viermal rein, das kann doch nur der Schröder sein.
Herr Minister, ich denke, Ihr Name wird bald zu ei-nem neuen Wort führen: Aus Riester wird Riesting. Rie-sting ist Gesetzesmobbing mit hundertprozentiger Ver-unsicherungsgarantie.
Dieses neue Wort wird die Runde machen. Soweit ichmich erinnern kann, hat in so kurzer Zeit noch keinPolitiker für soviel Verunsicherung auf dem Feld derSozialpolitik gesorgt wie Sie.
Für die Union als Arbeitnehmerpartei kündige ich an,daß wir dieses Riesting mit der gleichen Konsequenzbekämpfen werden, wie wir die Änderung des Staatsan-gehörigkeitsrechts bekämpft haben.Vielen Dank.
Es spricht jetztdie Abgeordnete Annelie Buntenbach.
ren! Ich habe mich zu Wort gemeldet, um etwas zu demGesetzentwurf bezüglich der Entlassungsabfindung zusagen, der im Rahmen dieser Debatte behandelt werdensoll. Ich werde gleich darauf zurückkommen. Aber ichkann es mir nicht verkneifen, zunächst auf einige Argu-mente – von Argumenten zu sprechen ist schwer über-trieben –
– genau, das ist zuviel der Ehre –, auf einige Denkmu-ster kurz einzugehen, die bislang in der Debatte erkenn-bar waren.Frau Schwaetzer, Sie haben gesagt, wir seien nur im-stande, den Rückwärtsgang einzulegen, und bekämennichts geregelt. Den Schrotthaufen, den uns die alte Re-gierung hinterlassen hat, haben Sie zu verantworten. Wirmüssen ihn zunächst einmal beiseite räumen, um dannwieder einen Schritt in Richtung mehr Solidarität in die-ser Gesellschaft tun zu können.
– Hören Sie doch auf! Entscheiden Sie sich doch einmal,was Sie uns vorwerfen wollen! Auf der einen Seite sa-gen Sie, wir täten zu viel und zu schnell und hätten unsin den ersten hundert Tagen übernommen. Auf der ande-ren Seite heißt es, wir würden nichts tun, die neue Re-gierung habe kein erkennbares Konzept. Was wollen Sieeigentlich? Sie können sich darauf verlassen, daß, wennwir Ihre Reformen zurücknehmen, unsere Grundorien-tierung dabei erkennbar wird. Sie ist es, die Ihnen aufdie Nerven geht und die sich von Ihrer Politik, die Sie16 Jahre lang gemacht haben, diametral unterscheidet.
Bei dieser unerträglichen sozialen Schieflage – das ha-ben selbst die Kirchen kritisiert; es hat sie auf den Plangerufen, weil ihnen das entschieden zu weit ging – wol-len wir umsteuern. Umsteuern ist hier dringend nötig.Unsere Politik orientiert sich an mehr Beschäftigung, ansozialer Gerechtigkeit und an gesellschaftlicher Integra-tion statt an Ausgrenzung.Ich möchte noch ein Wort zu dem sagen, was derKollege Fuchtel vorhin zur Meldepflicht gesagt hat. DieMeldepflicht, das heißt, sich jedesmal einfinden zu müs-sen, um persönlich vorzusprechen, ohne daß eine Mög-lichkeit bestünde, die Leute unterzubringen, ist ein Aus-fluß der falschen Logik, nach der die alte Bundesregie-rung gehandelt hat und die wir verändern wollen, näm-lich der Logik, die Erwerbslose schlicht diffamiert undsie zu den für ihre Arbeitslosigkeit selbst Verantwortli-chen macht. Sie wissen, daß Sie die Arbeitsämter mitdieser Meldepflicht arbeitsunfähig schlagen. Sie wissen,daß ein Sachbearbeiter inzwischen mehr als 800 Leutezu betreuen hat. Wenn die Leute jedesmal persönlichvorsprechen, man ihnen aber nichts anbieten kann, sodaß das Ganze einen positiven Sinn hätte, dann ist dasErgebnis lediglich, daß sie in ihrer Würde verletzt wer-den. Deswegen wollen wir diese Meldepflicht in der Tatabschaffen. Wir halten sie für komplett unproduktiv undlediglich für eine Geste, die sich gegen die Arbeitslosenrichtet.
Hans-Joachim Fuchtel
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1667
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Zu dem Umsteuern gehört auch die schnelle Rück-nahme der gröbsten Ungerechtigkeiten – das habe ichvorhin schon gesagt –, die uns die verflossene Bundes-regierung eingebrockt hat. Sie haben gesagt, es seienkeine neuen Ideen ersichtlich. Aber es gibt zuhauf neueIdeen. Ich bin schon ganz gespannt auf Ihre Begeiste-rung, die sich dann zeigt, wenn diese neuen Ideen fürSie besser erkennbar werden, nämlich bei der Bekämp-fung der Arbeitslosigkeit mit Arbeitszeitverkürzung alszentralem Mittel,
um so die Arbeit umzuverteilen und mehr Leute in Be-schäftigung zu bringen. Das halte ich für eine ganz ent-scheidende Sache.
Wir werden uns dafür einsetzen, die Übergänge zwi-schen Phasen von längerem und kürzerem Arbeiten,Weiterbildungsphasen und Erziehungsphasen rechtlichund sozial absichern. Wir wollen die Arbeitszeiten ins-gesamt verkürzen, aber für die Menschen Entschei-dungsmöglichkeiten eröffnen, zwischen Formen vonlängerem und kürzerem Arbeiten zu entscheiden, unddas sozialpolitisch absichern. Wir wollen den MenschenEntscheidungen übertragen, statt sie mit der purenMacht des Marktes zu strangulieren, wie die F.D.P. dasimmer gerne möchte.
In aller Kürze zu den Entlassungsabfindungen. Ichmöchte deswegen noch etwas dazu sagen, weil das Ge-setz der alten Bundesregierung, das wir jetzt hier außerKraft setzen, viel Verunsicherung darüber, was eigent-lich der Stand ist, produziert hat, gerade da, wo zumBeispiel Sozialpläne verhandelt worden sind. Wir wer-den diese Regelung der Anrechnung von Abfindungenauf das Arbeitslosengeld aussetzen. Wir werden stattdessen an einer vernünftigen Regelung arbeiten, die vonuns und den Tarifpartnern nicht als so kontraproduktiveingeschätzt wird, wie das bei dieser Regelung der Fallist, und das im Bündnis für Arbeit diskutieren. Dazuwerden wir dann einen tragfähigen Vorschlag in dasParlament einbringen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Karl-Josef Laumann.
Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man sichheute morgen einige Stunden die sozialpolitische De-batte angehört hat, hat man erwartet, daß die Regierung– dafür ist sie da – statt nur mit Allgemeinplätzen auchmit detaillierten Konzepten kommt. Es fällt aber auchauf, daß eine Menge Show gemacht wird.
Ich will mit einem Beispiel anfangen. Seit der letztenBundestagswahl spricht bei Ihnen jeder erst einmal einehalbe Stunde darüber, wie gut das Programm zur Be-schäftigung 100 000 Jugendlicher sei. Das ist auch inOrdnung. Aber bitte vergessen Sie nicht, daß schon –bevor es dieses Programm gegeben hat – unter der altenRegierung über ähnliche Maßnahmen etwa 300 000Schulabgänger Jahr für Jahr in das Berufsleben einge-führt worden sind.
Wahr ist: Sie haben dort nachgelegt.Ich glaube, wir alle springen in dieser Frage zu kurz.Wenn von den 100 000 jungen Menschen unter 20 Jah-ren in Deutschland, die keine Ausbildungsstelle haben,78 Prozent keinen Hauptschulabschluß haben, wenn vonden 370 000 Menschen unter 25 Jahren, die keinen Aus-bildungsplatz oder keinen Arbeitsplatz haben, 49 Pro-zent nicht so qualifiziert sind, daß sie eine Ausbildungs-stelle antreten könnten, dann muß man doch sagen: Die-se Programme, die Sie machen und die wir gemacht ha-ben, sind sicherlich richtig, weil wir etwas für diese jun-gen Menschen tun müssen. Aber in allen Parteien müs-sen wir darüber nachdenken, wie wir unser Schulsystemgestalten könnten
– dafür ist ja eigentlich eine andere staatliche Ebene zu-ständig –, daß wir nicht mehr mit solchen verheerendenZahlen konfrontiert werden.
Ich persönlich bin ganz fest davon überzeugt, daß einAspekt der neuen sozialen Frage sein wird: Wie sind dieBildungschancen unserer Kinder in den verschiedenenRegionen und Stadtteilen der Bundesrepublik Deutsch-land? Das entscheidet sich nicht mehr an der Frage desGeldes. Darüber hat sich vielleicht mein Vater Gedan-ken machen müssen. Ich meine die Sache mit demSchulgeld und die Tatsache, daß bestimmte Leute ihreKinder nicht auf Schulen schicken konnten. Heute ist dieFrage bestimmend: Wo wohne ich? Wie ist die Schulevor Ort?Ich komme auf Grund meiner Funktion als Chef derArbeitnehmergruppe der CDU/CSU-Fraktion relativ vielim Land herum. Ich habe vor einiger Zeit einen Vortragin einem Arbeiterviertel einer Ruhrgebietsstadt gehalten.Da ist mir eines sehr bewußt geworden: Es gibt großeProbleme; denn die Leute erzählen mir, daß ihre Kinderin eine Grundschule gehen, in der über 60 Prozent derKinder kein gutes Deutsch sprechen können. Diese Kin-der sind mit den anderen zusammen in einer Klasse, unddie Lehrerin oder der Lehrer muß 30 Kinder unterrich-ten. Was soll daraus werden? Ich sage Ihnen nur: Wirmüssen mehr Geld in die Hand nehmen. Wir brauchenAnnelie Buntenbach
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1668 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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mehr Lehrer und in solchen Fällen wie diesem auf jedenFall kleinere Schulklassen.
Denn diese Kinder werden es viel schwerer als zum Bei-spiel meine Kinder haben, die das große Glück haben, ineinem kleinen Dorf im Münsterland groß zu werden, woes diese Probleme im Grunde gar nicht gibt. Das sageich einmal ganz deutlich. Wenn wir uns in dieser Hin-sicht nicht etwas einfallen lassen, haben wir ein Pro-blem. Die Frage der sozialen Gerechtigkeit entscheidetsich immer mehr an der Bildung. Wenn es uns nicht ge-lingt, junge Leute in den allgemeinbildenden Schulen soweit zu bilden, daß sie eine ganz normale Lehre und eineGesellenprüfung machen können, dann ist das das so-ziale Problem von morgen, weil die Billig-Jobs ohneEnde wegbrechen.
Deswegen müssen wir uns alle in unseren Parteienauf den Weg machen – wir tragen in den Ländern unter-schiedlich Verantwortung; ein Land bekommt jetzt einebessere Bildungspolitik, Hessen; das haben wir ange-kündigt; das werden wir auch umsetzen –,
und wir müssen in bezug auf die Programmatik unsererParteien und den Stellenwert von Bildung – das hat dannauch mit Geld zu tun – nachlegen, so daß wir in einigenJahren vielleicht solche Programme nicht mehr in einemso großen Umfang brauchen. Nur, bitte tun Sie nicht so,als seien Sie der Erfinder von solchen Programmen zurAusbildung von Jugendlichen. Wie gesagt, es hat auchschon unter der damaligen Regierung und unter NorbertBlüm Programme in einer Größenordnung von 300 000Plätzen gegeben. Ich finde, auch das darf man wohleinmal sagen.
Herr Kollege
Laumann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Maaß?
Bitte schön.
Herr Kollege Laumann,
Ihr Hinweis auf die Situation im Ruhrgebiet veranlaßt
mich zu der Frage an Sie: Müssen wir nicht etwas mehr
für die Integration unserer ausländischen Mitbürgerin-
nen und Mitbürger tun? Das ist eine Voraussetzung da-
für, daß sie die deutsche Sprache beherrschen und daß
sie die deutsche Sprache an ihre Kinder weitergeben.
Wenn das geschähe, hätten wir diese Probleme nicht.
Sind Sie mit mir der Meinung, daß Sie in dieser Frage
die Sozialdemokraten unterstützen sollten?
Meine Parteiverfügt seit einigen Monaten über eines der modernstenIntegrationsprogramme aller Bundestagsparteien.
Wir sind nur nicht so naiv, zu glauben, man könne dasmit einem Paß regeln. Davon, daß man den Leuten einenPaß gibt, kann auch keiner deutsch. Was ich jetzt sage,ist einfach die Wahrheit. Lieber Kollege, Sie kommenaus dem Ruhrgebiet und kennen die Situation in be-stimmten Wohngebieten.Die Wahrheit sieht so aus: Es gibt solche Kinder, unddie haben ein bestimmtes Elternhaus bzw. ein bestimm-tes soziales Umfeld. Natürlich wünsche ich mir, daß dieEltern besser deutsch sprechen können und daß in denFamilien mehr deutsch gesprochen wird. Aber da inKindergärten und in Schulen Kinder mit solch schlech-ten Deutschkenntnissen sind, muß ich überlegen, wie ichdas System möglichst verbessere. Da befinden wir unsin Übereinstimmung. Ich glaube nicht, daß wir da in un-seren Positionen sehr weit auseinander liegen.
Aber zu glauben, das mit einem doppelten Paß ändernzu können, ist nicht richtig.Ich will in dieser Debatte einen weiteren Punkt an-sprechen, weil er hier in der ersten Lesung mit zur Dis-kussion steht, nämlich Ihren Entwurf eines Gesetzes zurÄnderung der Berücksichtigung von Entlassungsent-schädigungen. Jeder, der sich mit diesem Thema be-schäftigt hat, weiß, daß das ein vielschichtiges undschwieriges Thema ist. Auch wir haben uns viele Ge-danken darüber gemacht, ob es richtig ist, was wir da-mals vorgeschlagen haben, nämlich eine stärkere An-rechnung im Hinblick auf das Arbeitslosengeld vorzu-nehmen. Auch ich weiß, daß dies, wenn man vor OrtSozialpläne machen muß, ein ganz anderes Thema ist,als wenn man hier darüber theoretisch diskutiert.Aber eines müssen wir erkennen: Wenn wir die Ab-findungen jetzt wieder im Hinblick auf das Arbeitslo-sengeld vollkommen unberücksichtigt lassen – wobei esdurchaus Gründe gibt, die dafür sprechen; das will ichnicht in Abrede stellen –, dann müssen wir – Herr Rie-ster, Sie haben es angesprochen – natürlich überlegen –ich bin sehr gespannt auf die Ausschußberatungen; daskommt ja in den nächsten Wochen auf uns zu –
– dann müssen wir eben in der nächsten Woche darübersprechen –, wie man es hinbekommt, daß wir damitnicht einer Frühverrentungswelle neuen Ausmaßes aufKosten der Sozialversicherung Vorschub leisten.
Wenigstens meine Fraktion wird überlegen, wie wir unsin dieser Frage letzten Endes verhalten.Denn daß das „Bündnis für Arbeit“ sagt: „Das mußweg; das geht schon in Ordnung“, das kenne ich: DieKarl-Josef Laumann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1669
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Sozialpartner sind sich nämlich immer einig, wenn sieSozialpläne machen können, die ein Dritter bezahlt.
Unter diesen Umständen erreichen Sie ganz schnell eineEinigung. Wenn anschließend ein Teil dieser Sozialpart-ner durch die Gegend rennt und uns verantwortlich dafürmacht, daß die Lohnnebenkosten steigen, dann finde ichdas schlicht und ergreifend unappetitlich und unanstän-dig. Das sage ich in aller Deutlichkeit.
Sie müssen sich darüber Gedanken machen, wie Siedie Gefahr einer neuen Frühverrentungswelle, die unsin der Rentenversicherung furchtbare Probleme machen,die die junge Generation erneut belasten und die dasVertrauen in die Rentenversicherung erneut in Fragestellen wird, in den Griff bekommen.Sie haben einige Rücknahmegesetze beschlossen.Ich muß zugeben: Das können Sie. Es ist ja auch leich-ter, ein Haus abzubrechen, als ein neues zu bauen. Umein Haus abzubrechen, brauche ich nur Kraft. Um einneues zu bauen, brauche ich erst einmal einen Plan bzw.eine Bauzeichnung.
Dann brauche ich handwerkliches Geschick und ein biß-chen Kraft, um dieses Haus nach einer Bauzeichnungaufbauen zu können. Ich habe festgestellt, daß die Ge-setze, die Sie bislang beschlossen haben – im Hinblickauf den sozialpolitischen Bereich kann ich das beurtei-len –, nicht davon gekennzeichnet sind, daß Sie einenPlan und vor allen Dingen handwerkliches Geschickhaben.
Deswegen empfehle ich Ihnen, Herr Riester, einmalzu überlegen, ob man in der Bundesregierung nicht eineFortbildung zu der Frage durchführt – dies könnte manüber die Bundesanstalt für Arbeit finanzieren –, wie einGesetzentwurf zu konzipieren und dann durch die par-lamentarische Debatte zu bringen ist. Das würde unsallen gemeinsam die Arbeit sehr erleichtern.
Herr Kollege
Laumann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Andres?
Ja, sofort. – Ich
empfehle Ihnen zudem, sich die guten Abteilungsleiter,
die es unter Norbert Blüm im Arbeitsministerium gege-
ben hat, zurückzuholen. Die haben bewiesen, daß sie
Gesetze machen können. Im übrigen haben wir in unse-
rer Regierungszeit Abteilungsleiter mit Ihrem Parteibuch
gehabt. Zur Zeit sehe ich im Arbeitsministerium dies-
bezüglich eher einen Kahlschlag. Auch das führt nicht
dazu, daß Ihre Gesetzesvorlagen besser werden.
So, Herr Kollege Andres.
Herr Kollege Laumann, wür-
den Sie mir angesichts der Blumigkeit Ihrer freundlichen
Aussagen, die Sie hier machen, zustimmen, daß bei-
spielsweise in der Rentenversicherung reale Beitrags-
zahlungen des Bundes für Kindererziehungszeiten etwas
sind, worüber Sie, wenn Sie das in der letzten Legisla-
turperiode hinbekommen hätten, gejubelt hätten? Ich
erinnere an die Familienkasse des Bundesarbeitsmi-
nisters. Sind Sie der Meinung, daß beispielsweise die
Regelung zum Thema Scheinselbständigkeit bzw. ar-
beitnehmerähnliche Selbständige „Abbruch“ ist? Darf
ich Sie daran erinnern, daß Sie hier faktisch 16 Jahre
lang im Hinblick auf die Regelung der geringfügigen
Beschäftigung nichts erreicht haben
und wir jetzt eine Regelung auf den Weg bringen, bei
der von der ersten Stunde der Tätigkeit an eine Sozial-
versicherungspflicht besteht? So wie ich Sie kenne, hät-
ten Sie in den letzten vier Jahren pausenlos gejubelt,
wenn Sie das in Ihrer kaputten Koalition überhaupt hin-
bekommen hätten. Würden Sie mir da nicht zustimmen?
Dazu zwei An-merkungen. Es gibt manchmal Situationen, in denen esbesser ist, nichts zu machen, als etwas Falsches zu tun.
Richtig ist, daß Sie zu den 630-Mark-Jobs einen Vor-schlag gemacht haben. Ich gebe zu, daß ich die letzteEntwicklung – Beitragspflicht von der ersten Mark an –für richtig halte. Und auch ich finde, daß die Diskussiondarüber, das führe zu einer Rente von nur 3 DM, unsin-nig ist. Wenn man zur Beitragsbezogenheit der Rentesteht, muß man auch mit diesen Zahlen leben.
Aber daß infolge des Gesetzes demnächst Beamte fürdie Arbeitgeber von 630-Mark-Jobs 10 Prozent billigerbeschäftigt werden können als andere, finde ich ebennicht gut.
Da ist vieles unausgegoren. Aber ich gebe zu: DiesesProblem zu lösen ist sehr schwer.Nun noch zu der Frage: Generell mehr Geld für dasSystem? Wahr ist, daß die letzte Wahlperiode untereinem Vorzeichen gestanden hat, das uns finanziell vieleKarl-Josef Laumann
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1670 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Möglichkeiten genommen hat: Wir mußten zur Einfüh-rung des Euro die Maastricht-Kriterien erfüllen. Fürvieles, was sich der eine oder andere von uns gewünschthätte, gab es da eben keine Spielräume, vor allem vordem Hintergrund der Tatsache, daß wir als einzigesLand die Maastricht-Kriterien erfüllen und gleichzeitigdie Wiedervereinigung finanzieren mußten.
In der Politik muß man eben oft abwägen. Lieber GerdAndres, als Mitglied einer Regierungspartei und derBundesregierung merkst Du jetzt, daß Kämpfe ausgetra-gen werden, wofür das Geld ausgegeben werden soll. Esist doch ganz normal, daß es in Fraktion und Regierungdiesbezüglich unterschiedliche Positionen gibt. Natür-lich hätte ich mir im Bereich der Familien- und Sozial-politik hier und da ein bißchen mehr gewünscht. Aberich bin davon überzeugt, daß es eine große Leistungwar, unter diesen Bedingungen und bei Erfüllung derMaastricht-Kriterien die Standards zu halten.
Kollege Lau-
mann, es besteht der Wunsch nach zwei weiteren Zu-
satzfragen.
Ja, gut.
Stimmen Sie meiner Auffas-
sung zu, daß der Kollege Karl-Josef Laumann einer der
anständigen Diskutanten aus den Reihen der Oppositi-
onsfraktionen ist, weil er offen und ehrlich eingesteht,
daß es nun eine Reihe von Regelungen gibt, die man
früher selbst gerne durchgesetzt hätte?
Meine Kollegen
aus der CDU/CSU sind alles ehrliche Leute; sonst wären
wir nicht in der CDU.
Aber machen wir uns doch nichts vor: Ich glaube, daß
hier im Deutschen Bundestag – egal in welcher Fraktion
– niemand sitzt, der nicht Visionen von dem hat, was
man alles machen kann. Bei wem das nicht der Fall ist,
der gehört hier eigentlich nicht mehr hin. In vielen Din-
gen muß man einen langen Atem haben. Es gibt Rück-
schläge, und einiges entwickelt sich auch positiver. Lie-
ber Gerd Andres, ich fühle mich in dieser CDU sehr
wohl und bin putzmunter. Ich bin zur Zeit froh, daß
nicht ich das Chaos, das Sie angerichtet haben, zu ver-
teidigen habe.
Podiumsdiskussionen mit den Kolleginnen und Kollegen
aus der SPD machen mir zur Zeit im übrigen wieder
ausgesprochen Spaß. Aber wir wollen die Zeit, in der es
großen Spaß macht, nicht zu lang werden lassen. Ir-
gendwann wollen wir wieder einmal gestalten. Deswe-
gen versuchen wir, gute Konzepte zu entwickeln. – Bitte
schön.
Herr Kollege
Laumann, würden Sie bestätigen, daß die Regierung im
Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages einge-
räumt hat, daß die Veranschlagung von Beiträgen für
Kindererziehungszeiten in der Rente aus dem Bundes-
haushalt kaum haushaltswirksam ist, weil dafür Beiträ-
ge, die bisher im allgemeinen Rentenzuschuß enthalten
waren, reduziert werden können?
Das ist wohl dieSystematik. Insofern betrifft das die Buchungstechnik.Aber die Grundsatzentscheidung, Kindererziehungszei-ten mit Beiträgen zu belegen, ist, so glaube ich, richtig.
Wenn man in die Rentenversicherung neue Leistungeneinbringt, die nicht beitragsbezogen sind, dann mußman, wenn einem an der Stabilität der Rente liegt,gleichzeitig die Finanzierung regeln.
Ich finde, das ist in Ordnung.Lassen Sie mich noch zwei Anmerkungen zu der ge-planten Rentenreform machen. Erstens. Ich rate dazu,mit einer durchdachten Konzeption in die anstehendepolitische Debatte zu gehen. Alles andere verunsichertdie alten und auch die jungen Leute, deren Vertrauen indas System wir brauchen.Zweitens. Denken Sie von der SPD und den Grünenlange darüber nach, wie weit man es mit der Umvertei-lung in der Rentenversicherung treiben darf. Ich glau-be, daß wir das Vertrauen in die Rentenversicherung nurdann behalten, wenn sie ein beitrags- und leistungsbezo-genes System bleibt. Die Menschen, die lange Jahrefleißig gearbeitet und Beiträge gezahlt haben, wollen amEnde eine leistungsadäquate Rente. Unser Gestaltungs-spielraum ist hier sehr begrenzt, weil nur ein Teil derBevölkerung in der gesetzlichen Rentenversicherungversichert ist.Ich wäre sehr gespannt, wie der Beamtenapparat derBundesregierung und des Deutschen Bundestages rea-gieren würde, wenn wir solche Umverteilungen etwa inder Beamtenversorgung vornehmen würden. Es läßt sichgut über Umverteilung in der Rente reden, wenn dieeigene Altersversorgung nicht davon betroffen ist.
Ich halte nichts von einer Umverteilung; das sage ichIhnen ganz offen. Ich meine, jede Mark Beitrag muß zueiner Rentenleistung führen.
Alles andere würde das Vertrauen vor allem der jungenGeneration in die Rentenversicherung zerstören.Für eine bessere Absicherung der Frauen gibt essicherlich viele Ideen. Am meisten können wir für dieKarl-Josef Laumann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1671
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Absicherung der Frauen tun, wenn diese länger berufs-tätig sind und dadurch höhere Rentenansprüche erwer-ben. Das ist keine Umverteilung. Andere Möglichkeitensehe ich letzten Endes nicht.Lassen wir das Gerede von der Armutsfestigkeit derRente. Von allen Rentensystemen der Welt hat das Sy-stem in Deutschland die Altersarmut am besten be-kämpft. Darauf können wir stolz sein.
Wenn Sie etwas für die Bekämpfung der verschämtenAltersarmut tun wollen, versuchen Sie, einen Ansatz inder Sozialhilfe zu finden. Ich glaube, eine alte Frau gehtoft deswegen nicht zum Sozialamt, weil sie nicht möch-te, daß dadurch unter Umständen ihre eigenen Kinderfür sie aufkommen müssen.
Allerdings bin ich der Meinung, daß ein gutverdienen-des Kind durchaus etwas für seine Mutter tun kann. Ichmöchte nicht, daß wir uns da falsch verstehen. Wennman diese Hürde im Sozialrecht irgendwie überwindenkönnte, käme das auch der Rentenversicherung zugute.Ich hoffe, daß wir über einige Punkte der Sozialpoli-tik vernünftig miteinander sprechen können.Schönen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Kollege Konrad Gilges.
Frau Präsidentin! Meine sehrgeehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen undKollegen! Herr Laumann, Sie sind wie ich schon sehrlange im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung. Michwundert Ihr kurzes Gedächtnis, bezogen auf die Gesetz-gebung. Ich kann mich erinnern, daß Sie während derBeratungen der Rentenrechtsreform im Ausschuß, ichglaube, annähernd 250 Änderungsanträge eingebracht ha-ben. Frau Schwaetzer war gestern nicht in der Lage, dreiÄnderungsanträge innerhalb von drei Stunden intellektu-ell zu verarbeiten. Wir mußten in zwei Stunden 250 An-träge verarbeiten. Wir haben das geschafft. Das zeigt dochdie Qualität sozialdemokratischer Abgeordneter.
Beim SGB III gab es mehr Änderungsanträge, als dasGesetz Paragraphen hat. Die mußten wir bewältigen.Das waren, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, über300 Änderungsanträge.Bleiben Sie also bei der Wahrheit. Das ist redlicher,das ist glaubwürdiger. Wir versprechen: Wir werden unsbessern. Ich hoffe, daß sich auch das Ministerium in die-ser Hinsicht bessern wird. Aber so schlecht, wie Siewährend Ihrer Regierungszeit im Bereich der Gesetzge-bung waren, werden wir hoffentlich nie.
Zum zweiten Punkt. Herr Laumann, ich möchte Siedirekt ansprechen. Ich finde gut, daß Sie einiges zumProgramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeitgeradegerückt haben. Aber weshalb lassen Sie und HerrMeckelburg zu, daß dieses Programm seit zwei Tagenheruntergeredet und madig gemacht wird? Die Jugendli-chen werden mit teilweise schrecklichen Argumentatio-nen abgewertet. Kämpfen Sie doch mit uns gemeinsamfür das Programm!
Ich bin durchaus der Meinung, daß man das noch bessermachen kann, als es jetzt ist. Das zu erreichen liegt inIhrer Verantwortung; aber werten Sie das Programmdoch nicht ab! Sie wären froh gewesen, wenn Sie in Ih-rer Regierungszeit ein solches Programm zustande ge-bracht hätten.
Sie haben immer gesagt, daß Sie das haben wollen. Esist, wenn Sie ehrlich sind, an Ihrem Koalitionspartnergescheitert.Stand der Entwicklung ist, daß wir zur Zeit 471 000Jugendliche unter 25 Jahren haben, die arbeitslos sind.Das ist eine enorme Zahl; das entspricht einer Großstadtin der Bundesrepublik. Stellen Sie sich das einmal vor!Hinzu kommen 50 000 bis 60 000 Jugendliche, die nichtin der Statistik sind, weil sie Sozialhilfe beziehen. DieArbeitsämter sagen – Sie wissen das –, zu diesenJugendlichen kommen noch diejenigen hinzu, die wederin der Arbeitslosen- noch in der Sozialhilfestatistik ge-führt werden. Die reale Zahl liegt wahrscheinlich bei600 000 Jugendlichen unter 25 Jahren, die in dieser Re-publik ohne Arbeit sind. Dieses Problems müssen wiruns annehmen; das ist eine der wichtigsten sozialen Fra-gen in dieser Republik.
Sie haben 16 Jahre lang nichts in dieser Richtung ge-macht.
Wir machen etwas, und ich glaube, daß das auch erfolg-reich ist.
Ich will etwas zu dem Programm sagen. Im Arbeits-amtsbezirk Köln, wo ich Mitglied des Verwaltungsaus-schusses bin, werden dem Arbeitsamt 25 Millionen DMzur Verfügung gestellt. Der Arbeitsamtsdirektor und dieMitarbeiter sagen: Endlich haben wir einmal die Mög-lichkeit, in relativer Autonomie etwas für diese Jugend-lichen zu tun. Dazu gehört zum Beispiel – das muß mander Wahrheit halber sagen –, daß ein Lohnkostenzu-schuß an die Arbeitgeber gegeben wird. Wenn sie einenJugendlichen für zwei Jahre einstellen, beträgt dieser40 Prozent; wenn sie ihn für ein Jahr einstellen,60 Prozent.Karl-Josef Laumann
Metadaten/Kopzeile:
1672 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Das Problem, Herr Laumann, ist nicht die Bildungs-frage. Ich teile Ihre Meinung, daß es in dieser Hinsichtso katastrophal und so schlimm ist, wie Sie es dargestellthaben. Darüber brauchen wir nicht zu streiten. Das Pro-blem ist aber doch, daß gerade die Jugendlichen, dieschwach qualifiziert sind, keinen Arbeitsplatz finden. Eswäre ja alles einfach zu lösen, wenn wir sagen würden,daß Qualifikation einen Arbeitsplatz bringe. Das stimmtaber leider nicht. Schauen Sie sich die 6 300 arbeitslosenJugendlichen in Köln an, und Sie werden feststellen, daßsie deswegen schwer vermittelbar sind, weil keine Ar-beitsplätze für Arbeiten vorhanden sind, die sie durch-führen könnten. Selbst wenn wir sie qualifizieren wür-den, wäre es schwierig, sie in Arbeit zu bringen, weil diequalifizierten Arbeitsplätze bereits überwiegend besetztsind. Das ist also kein Qualifizierungsproblem, sondernein Arbeitsplatzproblem. Dessen müssen wir uns an-nehmen. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir dasProblem lösen können.Ich will noch etwas zu Herrn Fuchtel sagen, auchwenn ich nur noch wenig Redezeit habe.
Sie wissen,
daß die Zeit an sich schon vorbei ist?
Ich will nur noch eine Be-
merkung zu den Arbeitslosenzahlen machen. Herr
Fuchtel, warum manipulieren Sie eigentlich – sozusagen
an der Grenze Ihrer intellektuellen Möglichkeiten? Sie
wissen doch genauso gut wie ich, daß der Zahlenver-
gleich nur dann zulässig und logisch ist, wenn Sie einen
Vergleich von Jahr zu Jahr machen. Sie können die
Januarzahlen von 1998 mit den Januarzahlen von 1999
vergleichen. Es ist eine Tatsache – daran geht doch kein
Weg vorbei; das hat Ihr Parteifreund Herr Jagoda ge-
sagt –
Herr Kollege
Gilges, bitte.
– daß die Januarzahlen 1999
bedeutend niedriger als die Januarzahlen 1998 sind.
Sie können mit uns darüber streiten, wessen Erfolg das
ist. Dahinter stünde noch eine Logik. Aber daß Sie jetzt
Horrorzahlen nennen, das gibt keinen politischen Hin-
tergrund! Kommen Sie auf den Boden der Tatsachen zu-
rück!
Dann sind Sie ein ernster Diskussionspartner in der
Auseinandersetzung. Lassen Sie Ihre billige und über-
flüssige Polemik!
Eine Kurz-
intervention des Kollegen Laumann.
Herr Kollege
Gilges, Sie haben eben gesagt, wir hätten im Bereich der
überbetrieblichen Ausbildung und der Programme für
Jugendliche nichts getan. Ich stelle jetzt noch einmal
fest: In den letzten Jahren der alten Bundesregierung
sind Jahr für Jahr 300 000 junge Menschen in solchen
oder ähnlichen Maßnahmen ausgebildet worden. Die
Maßnahme „Arbeiten und Lernen“, ausbildungsbeglei-
tende Maßnahmen, der Ausbau eines flächendeckenden
Netzes der Berufsförderungswerke für die, die besonders
benachteiligt sind, fallen alle in die Jahre, in denen Nor-
bert Blüm für diesen Bereich Verantwortung getragen
hat. Da kann man nun wirklich nicht sagen, daß in die-
sem Bereich nichts getan worden sei.
Weil wir in Ostdeutschland keine mittelständische
Wirtschaftsstruktur hatten, ist nach der Wiedervereini-
gung die große Last der Ausbildung voll über die
öffentlichen Hände organisiert worden. Es ging in der
Situation 1991/92 doch gar nicht anders. Ich glaube, wir
sollten so redlich miteinander umgehen, daß wir uns in
dieser Frage nicht gegenseitig das Engagement abspre-
chen.
Daß Sie in der Sozialpolitik, lieber Konrad Gilges, all
diese Probleme haben, die sich in der viermonatigen Re-
gierungstätigkeit und der Art, wie Sie Gesetzgebung
machen, zeigen, liegt in Wahrheit an folgendem: daß Sie
einen Bundeskanzler haben, der keine Richtlinienkom-
petenz in Richtung Fachpolitik ausübt, indem er das Ziel
vorgibt und sagt, jetzt macht mal, sondern der immer
dann, wenn eine Einzelentscheidung etwas unpopulär
sein kann, diese Entscheidung an sich reißt und in der
Öffentlichkeit korrigiert.
Der Bundeskanzler hat Ihnen die Regelung, daß die
630-DM-Arbeitsverhältnisse nicht steuerpflichtig wer-
den dürfen, aufs Auge gedrückt. Sie haben sie doch gar
nicht gewollt. Der Bundeskanzler hat den Arbeitsmi-
nister, nachdem er die Frage der Nettolohnbezogenheit
und seine Sorge, wie das Familienurteil in der Rente
finanziert wird, mit ihm diskutiert hat, einen Tag später
vor laufenden Fernsehkameras in Bayern in dieser Frage
in Grund und Boden gestampft. So kann man natürlich
keine Sozialpolitik machen.
Sie brauchen einen Kanzler, der nach dem Grundge-
setz eine Richtlinienkompetenz hat. Aber Sie brauchen
einen Arbeitsminister, wie wir ihn hatten, mit Rückgrat,
der die Dinge dann auch gegenüber dem Bundeskanzler-
amt so durchsetzt, wie es notwendig ist.
Herr KollegeGilges.
Konrad Gilges
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1673
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Herr Kollege Laumann, ich
finde es ganz amüsant, daß Sie sich um unsere Probleme
bemühen.
Ich kann mich nur auf Ihre Probleme beziehen. Wir
haben Ihnen auch immer gute Ratschläge gegeben. Wir
haben immer gesagt: Herr Blüm, setzen Sie sich mal ge-
genüber der F.D.P. durch! Herr Blüm, setzen Sie sich
mal gegenüber Kohl durch! Herr Blüm, setzen Sie sich
mal gegenüber dem Wirtschaftsminister durch! Das ha-
ben wir immer gesagt, und was ist geblieben? – Nichts.
Er hat sich nie durchgesetzt.
Das ist die Erbschaft, die wir jetzt zu tragen haben. Wir
werden diese Erbschaft ja abbauen.
Zur Regelung von 630-DM-Arbeitsverhältnissen:
Herr Laumann, wir werden nächste Woche noch einmal
ausführlich darauf zurückkommen und darüber diskutie-
ren. Ich will Ihnen und uns zugestehen – ich sage das in
aller Redlichkeit –, daß dieses Problem außerordentlich
schwierig zu lösen war und daß es überhaupt nicht so
einfach ist, wie sich das manch einer gedacht hat, der
außerhalb dieses Parlaments Verantwortung trägt oder
Politik macht – bei Gewerkschaften, auf Arbeitgeber-
seite, bei Frauenverbänden usw.
Da wir am 27. September die Wahl gewonnen haben,
haben wir natürlich überlegt: Wie können wir das Pro-
blem konkret lösen?
Es gab bestimmte Aspekte, die im Lösungprozeß zu be-
rücksichtigen waren.
– Jetzt hören Sie doch einmal zu. Ich will das einmal
ganz sachlich beantworten, Herr Kollege.
Ich finde, bei den vielen Vorschlägen und Kompo-
nenten ist der Gesetzesvorschlag, den wir jetzt in zweiter
und dritter Lesung einbringen,
die beste der Lösungen, die in Frage kamen. Davon bin
ich fest überzeugt. Sie werden mich von dieser Lösung
nicht abbringen,
weil mir nicht, wie der F.D.P., die Frau des Generaldi-
rektors im Sinn ist, die nebenbei bei der Nachbarin noch
putzen geht. Vielmehr sind mir die 700 000 Reinigungs-
frauen im Sinn. Mir sind die mehr als 1 Million Frauen
im Einzelhandel im Sinn, die für weniger als 630 DM
arbeiten müssen. Mir sind die Arbeitnehmer im Sinn, die
in den Wirtschaftsbereichen arbeiten müssen, in denen
das Einkommen nicht so gewaltig ist; dies sind immer-
hin 3 Millionen. Wenn wir deren rechtliche und soziale
Stellung verbessern, dann ist das eine große soziale Lei-
stung. Da kann die Generaldirektorfrau ruhig eine Mark
mitnehmen.
Das ist eine große soziale Leistung. Das werden wir zu-
stande bringen.
Zuletzt noch etwas zu der Frage – –
Nein, Herr
Kollege Gilges, man darf nur drei Minuten antworten.
Es war ja auch ein schöner Schlußpunkt.
Gut.
WeitereWortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich liegennicht vor. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetz-entwurfs auf Drucksache 14/394 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmini-steriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen. DasWort hat zunächst der Herr Minister Franz Müntefering.Franz Müntefering, Bundesminister für Verkehr,Bau- und Wohnungswesen: Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Der Haushalt für Verkehr,Bau- und Wohnungswesen hat im wesentlichen zweiZielen zu genügen, nämlich einmal dem Ziel, daß wir un-sere Städte vernünftig weiterentwickeln, daß wir men-schenwürdige Wohnungsbedingungen in Deutschland ha-ben und daß wir die Mobilität im Lande sichern, dasheißt, daß wir eine vernünftige Verkehrspolitik machen.Er hat zum zweiten dem Ziel zu genügen, daß wir mitdiesen Politikbereichen Beschäftigung sichern helfen.Dabei müssen wir von einer Finanzsituation ausge-hen, die für den Investitionsbereich nicht gerade leichtist. Wir müssen uns trennen von dem Haushalt Waigel-scher Zeit, der im wesentlichen am Modell von Wunschund Wolke orientiert war. Es sind in den vergangenenJahren viele Illusionen aufgebaut worden. Da wurde mitfiktiven Mehreinnahmen und mit fiktiven Minderaus-gaben gerechnet. An dem Grundsatz von Wahrheit undKlarheit ging das weit vorbei.Das hat sich bis hin zu massiven Vorfinanzierungenaus dem privaten Bereich entwickelt. 27 solcher Pro-jekte sind begonnen. Wir werden sie nicht unterbrechen,sondern zu Ende führen. Aber die Konsequenz ist, daßwir in den nächsten Jahren aus diesen alten Vorfinanzie-rungen immer mehr Lasten haben, die wir über unserenHaushalt finanzieren müssen.
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Das wird im Jahre 2001 eine halbe Milliarde DM undmehr sein, die im Haushalt für Arbeiten steht, die vordrei oder fünf Jahren gemacht worden sind. Weil das soist, sagen wir bei diesem Haushalt ganz vorneweg: Esgeht um Wahrheit und Klarheit, was die finanzielleSituation, was die Ausgangslage angeht.
Der Bundesverkehrswegeplan, der auf das Jahr 2012ausgerichtet ist, weist eine dramatische Unterfinanzie-rung auf. Den vielen, die noch mit Illusionen im Landeunterwegs sind, und auch den vielen, die mir Briefeschreiben – dazu gehören auch einige von Ihnen –, dieimmer mit einem freundlichen Glückwunsch beginnenund dann in etwa lauten: „Im übrigen gibt es da nocheine Straße oder eine Ortsumgehung; nun mach dochmal bitte“, muß ich sagen: Sie leben in großen Illusio-nen. Die fröhliche Spatenstichmentalität der letzten Jah-re in Ehren. Viele Dinge sind begonnen, die Finanzie-rung aber ist nicht klar. Es fehlen uns bis zum Jahre2012, wenn wir das, was im Bundesverkehrswegeplansteht, in dieser Zeit realisieren wollten, auf der Basisdessen, was in den Haushalten steht, etwa 80 bis 90Milliarden DM.All denen, die jetzt von mir erwarten, daß ich als So-zialdemokrat an der Spitze des Ministeriums bitte schöndas tue, was vorher nicht möglich war, muß ich sagen:Wir werden neu gewichten müssen. Dabei kommt dasStichwort „Bundesverkehrswegeplan“ ins Spiel.Ich will zunächst sagen: Wir wissen, daß wir vor al-len Dingen aufpassen müssen, wie wir mit dem, was wiran Geld zur Verfügung haben, Arbeitsplätze in diesemLand schaffen und sichern. Das Thema hat hier ebenschon eine große Rolle gespielt.
Das Geld, das investiv im Wohnungsbau – im Woh-nungsbestand in ganz besonderer Weise – und auch imVerkehrsbereich eingesetzt wird, multipliziert sichdurch Gelder aus anderen öffentlichen Kassen und da,wo es um den Wohnungsbau geht, zu einem erhebli-chen Teil auch durch Gelder aus dem privaten Bereich.Das heißt, alles Geld, das wir einsetzen, schafft Ar-beitsplätze.Deshalb ist der Investitionsanteil dieses Einzelplansgegen die Linie des allgemeinen Haushalts noch einmalum 1,7 Prozent auf 25,7 Milliarden DM erhöht worden.Damit beträgt der Investitionsanteil an dem Haushalt,den ich zu vertreten habe, 53 Prozent. Das ist übrigensfür kleine und mittlere Unternehmen ganz wichtig,wichtiger als all die großen Geschichten, die Sie immervon dem erzählen, was man für die kleinen und mittle-ren Unternehmen tun könne und tun müsse. Unsere ziel-genauen Investitionen im Bau- und im Verkehrsbereichsind für kleine und mittlere Unternehmen, für Bauindu-strie und Bauhandwerk unendlich wichtig. Deswegenverfolgen wir diese Linie so, wie ich sie hier beschrie-ben habe.
Das ist im übrigen auch eine Voraussetzung dafür,daß beim Aufbau Ost die Priorität, die wir versprochenhaben, auch für die nächsten Jahre gewährleistet bleibt.
Zum Wohnungsbau: Das Thema Familie hat heuteschon eine große Rolle gespielt. Wir haben da ein Urteilzu realisieren, das uns das oberste Gericht aufgegebenhat. Wir wissen aber auch, daß menschenwürdiges, be-darfsgerechtes Wohnen für Familien mit Kindern min-destens so wichtig wie das bare Geld ist. Daher werdenwir auch in den kommenden Jahren menschenwürdigesWohnen unter dem Gesichtspunkt der Familienpolitikganz vorne an stellen
und dafür sorgen, daß die Familien mit Kindern inWohnsituationen leben können, die ihren Bedürfnissengerecht werden.Eigenverantwortung ist viele Male vorgekommen;ganz besonders bei Rednern von der schmalen Bank.Eigenverantwortung ist gut. Auch beim Wohnen sinddie Menschen zunächst einmal dafür zuständig, inEigenverantwortung dafür zu sorgen, daß sie so lebenkönnen, wie sie wollen. Wenn man aber die nötigenRahmenbedingungen dafür nicht setzt, wenn man derFamilie mit Kindern, deren Einkommen sich im unterenBereich bewegt, sagt, sie solle zusehen, wie sie inEigenverantwortung klarkommt, dann entlarvt sich die-ses Reden als Zynismus. Hier ist der Staat gefragt, hiermüssen wir in der Gemeinschaft dafür sorgen, daß dieWohnsituation für Familien mit Kindern bedarfsgerechtgestaltet wird. Deshalb bleibt der soziale Wohnungsbauauch für die kommenden Jahre einer der entscheidendenPunkte unserer Wohnungspolitik.
Wir ergänzen ihn um die soziale Stadt. In einemStartprogramm werden in diesem Jahr 100 MillionenDM für solche Stadtbereiche zur Verfügung stehen, diein ganz besonderer Weise in Gefahr sind, abzusinken.Dem wollen wir uns entgegenstellen.Wir führen die Städtebauförderung und den sozialenWohnungsbau weiter. Den sozialen Wohnungsbau wer-den wir im Laufe des Jahres stärker auf Bestand undEigentum orientieren. Die Mittel für den sozialen Woh-nungsbau müssen stärker als bisher für die Schaffungvon Eigentum eingesetzt werden. Mieterprivatisierungergibt in Verknüpfung mit der Sicherung des Bestandeseine vernünftige Linie.Wir haben die KfW-Mittel, die Modernisierungspro-grammittel für Ostdeutschland, noch einmal verlängert.Wir werden in den nächsten Monaten – das wird hierdann heftig diskutiert werden; dessen bin ich mir ganzsicher – die Novelle des Wohngeldgesetzes einbringenund dafür sorgen, daß im Jahr 2000 das Wohngeld no-velliert sein wird und insbesondere Familien zugutekommen wird.Bundesminister Franz Müntefering
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Ein paar Worte zum Bereich Verkehr: Die Mobilität– dem haben wir uns in unserer Koalitionsvereinbarunggestellt – ist eine wichtige Grundlage für das Gelingender Wohlstandsgesellschaft. Deshalb werden wir dafürsorgen, daß diese Mobilität garantiert bleibt. Allerdingsmüssen wir dazu die Verkehrspolitik, die bisher gemachtworden ist, an einigen Stellen umstellen. Wir müssenneue Wege finden, um die Mobilität zu sichern.Dazu gehört die Überarbeitung des Bundesver-kehrswegeplans. Die vorbereitenden Arbeiten dafür ha-ben begonnen. Ich habe im zuständigen Ausschuß schonvor einigen Wochen angekündigt, daß ich ihm im Aprilmitteilen werde, auf welcher Zeitschiene und mit wel-chen Phasen wir die Fortschreibung des Bundesver-kehrswegeplanes organisieren werden.Dabei spielt eine integrale Verkehrspolitik eine wich-tige Rolle. Deshalb haben wir in diesem Haushalt60 Millionen DM für den kombinierten Verkehr vor-gesehen. Diese Mittel können auch von privaten Initiati-ven in Anspruch genommen werden und sind auch fürden Bereich der Wasserstraßen gedacht. Die Wasser-straßen, von denen wir in Deutschland viel mehr haben,als man gemeinhin annimmt, bieten neben der Schienedie große Chance, Güter von der Straße wegzubekom-men und damit die Straße zu entlasten.Die Straße – ich sage es an vielen Stellen und auchhier – ist der Verkehrsträger Nummer eins, das Auto istdas Verkehrsmittel Nummer eins. Das wird auch sobleiben. Das ist auch gut so. Dazu stehe ich auch. Aberwenn wir dies so sehen, müssen wir dafür sorgen, daßein Teil der Güter, die auf die Straße strömen – das sindimmer mehr –, von der Straße wegbleiben und auf dieSchiene oder aufs Wasser kommen.
Wir fahren uns sonst den Stau selbst an den Hals, unddas kann es nicht sein. Deshalb müssen wir in aller Mas-sivität helfen, daß die Schiene neue Attraktivität ge-winnt.
Die Weichen bei der Schiene sind gestellt, daraufkönnen Sie sich verlassen. Wir werden dafür sorgen, daßdie Güter schneller transportiert werden, und wir werdendafür sorgen, daß die Schiene auch im europäischenRaum ihrer Schlüsselfunktion entsprechend neuen Rük-kenwind bekommt. Die Bahn ist das internationalsteund vernünftigste Verkehrsinstrument, das wir in Europahaben. Deshalb müssen wir eine europäische Eisenbahnbekommen. Die Wege dahin sind schwer, ich weiß, aberwir werden die Schritte gehen. Das wird einer unsererHauptansätze in der Zeit unserer Präsidentschaft inEuropa sein.
Der Bahn ist nun viel vor die Tür gekippt worden,was Sicherheit und was Pünktlichkeit angeht. Natürlichist jeder Unfall, der stattfindet, schlimm, und wir hattenim letzten Jahr dramatische. Ich will sie nicht verklei-nern. Über die Botschaft von gestern, daß die Zahl derVerkehrstoten im Straßenverkehr abnimmt, haben wiruns gefreut. Es gab im letzten Jahr aber immer noch7 700 Tote auf der Straße. Es ist schlecht, Tote gegenTote aufzurechnen. Ich mache aber darauf aufmerksam:Die Sicherheit ist auf der Schiene, nach gefahrenenKilometern gerechnet, im Verhältnis 1 : 9 besser als aufder Straße. Das ist immer noch so. Der Unfall der Bun-desbahn mit zwei Toten in der letzten Woche landetabends in der Tagesschau und auf der Seite 1 der Zei-tungen, die Verkehrstoten landen auf den lokalen Seiten.
Die Sicherheit der Schiene gegenüber dem Flugzeugfällt im Verhältnis 1 : 3 immer noch zugunsten derSchiene aus. Was die Pünktlichkeit angeht, so haben wirim letzten Jahr immer über die 10 Prozent unpünktlicherZüge gesprochen. Wenn wir einmal die Stauminuten beider Straße zusammenzählen, sieht die Schiene auch indieser Hinsicht nicht schlecht aus.
Meine Bitte an dieses Hohe Haus ist ganz einfach.Wir müssen helfen, daß in dieser Gesellschaft wiederfolgendes begriffen wird. Zwar ist die Eisenbahn, dieDB AG, ein großes Unternehmen in einer schwierigenPhase, wohl wahr, aber wir müssen dazu beitragen, daßsie nicht für alles haftbar gemacht wird, was in der Ge-sellschaft an Problemen gerade entsteht. Wir müssen dieEisenbahn flott machen. Sie ist ein zentrales Instrumentin der Verkehrspolitik unseres Landes.
Wir setzen auch deshalb 100 Millionen DM für Lärm-schutz an den Schienen ein. Das wird ein Anfang sein,es wird vieles nachkommen müssen.Beim Luftverkehr haben wir uns vorgenommen– das schlägt sich nicht im Haushalt nieder –, im Verlaufdes Jahres daran zu arbeiten, ein Flughafenkonzept inAbstimmung mit den Ländern zu erarbeiten. Wir müs-sen, auch was Flughäfen angeht, international leistungs-fähig bleiben. Wir dürfen da nicht nachlassen, sonstwerden wir sehen, daß uns die europäischen Länder rundum uns herum etwas vormachen, was wir in Deutsch-land verpaßt haben.
Viele sprechen von einem dezentralen Flughafenkon-zept. Das ist gut und richtig, aber das heißt: im Verbundarbeiten. Dezentral heißt nicht, daß jeder einzelne fürsich als Single und auf eigene Rechnung arbeitet. Einleistungsfähiger Flugverkehr gehört also auch zu unse-rem Konzept.Zum Transrapid. Damit keine Mißverständnisse ent-stehen: Ich arbeite unverändert daran, und ich bin wil-lens und entschlossen, den Transrapid Berlin – Hamburgmöglich zu machen.
Bundesminister Franz Müntefering
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1676 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Ich bin fest davon überzeugt, daß dieses Projekt möglichund finanzierbar sein wird.Beim Thema Telematik werden wir den informellenRat, der im April in Dortmund stattfindet, in ganz be-sonderer Weise ausrichten. Dieses Thema führt jetztüber meine Zeit hinaus. Aber ich bin mir bewußt, daßwir, wenn wir das Verkehrssystem modernisieren wol-len, die Chancen der Satellitennavigation, der Telematik,der technischen Kommunikation für unseren Bestandbesser nutzen müssen. Diese Dinge helfen, den Verkehram Objekt und im System besser zu steuern.Die Verkehrspolitik, meine Damen und Herren, istein großer Tanker. Wir haben das Steuerrad fest in derHand, und wir werden zielgerichtet dafür sorgen, daßkeine Brüche entstehen. Wir wollen das aufnehmen, wasgut war, und es weiterentwickeln, aber auch neue Ak-zente setzen. Wir werden dafür sorgen, daß finanzielleSolidität neu entsteht und daß die Mobilität in diesemLande gesichert bleibt.Was den Wohnungsbau und den Städtebau angeht, sogibt es viele Verknüpfungen. Je länger ich in diesemAmt bin, um so deutlicher wird mir der Zusammenhangzwischen vernünftiger Stadtentwicklung und regiona-ler Entwicklung und der Verkehrspolitik. Deshalb wer-den die Städte und Regionen, so hoffe ich – von mir je-denfalls ist dies gewollt –, für uns gute Partner sein.Dieser Aufgabenbereich, Verkehr, Bau- und Woh-nungswesen, hat vielleicht in noch stärkerem Maße alsviele andere Bereiche der Bundespolitik einen unmittel-baren Bezug zu dem, was in den Städten und Regionenpassiert. Ich will gerne dazu beitragen, daß hier einegute und intensive Zusammenarbeit stattfindet. Fach-politiken, wie wir sie hier diskutieren, dürfen nicht nurvertikal wirken. Sie müssen auch auf der jeweiligenEbene organisiert werden, und dazu brauchen wir einegute Zusammenarbeit mit denen, die in den Städten undRegionen Verantwortung tragen.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Ich gebe der Kolle-
gin Hannelore Rönsch von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
HerrPräsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Undplötzlich ist alles anders: Während die Kollegen aus derSPD-Fraktion, die für den Wohnungsbau zuständigsind, noch in den Haushaltsberatungen 1998 1,5 bis2,3 Milliarden DM mehr Mittel – das war immer unter-schiedlich – für den Haushaltsansatz gefordert haben,hört man heute nichts mehr davon. Diese Herren sindjetzt in der Regierungsverantwortung, und keiner ihreralten Anträge wird wiederbelebt. Im Gegenteil: Der jet-zige Ansatz des Wohnungsbauetats bleibt hinter demWaigelschen Ansatz weit zurück.Die Steigerungen gegenüber dem Soll von 1998 be-ruhen allein auf den gesetzlichen Automatismen bei derWohnungsbauprämie und dem Wohngeld. Und voneiner Steigerung des Investitionsanteils beim Woh-nungsbau kann absolut keine Rede sein, Herr Minister.Die Investitionsquote ist sogar von 49,8 Prozent auf47 Prozent zurückgefahren worden. Auch die Investitio-nen bleiben also um 180 Millionen DM unter dem Wai-gelschen Ansatz.Nun kommt die Koalitionsvereinbarung zur „sozialenStadt“. Sie haben heute das erste Mal ein paar Wortedarüber verloren, was man darunter verstehen darf, undhaben gleichzeitig gesagt, daß Sie im sozialen Woh-nungsbau bleiben wollen. Sie haben aber nicht gesagt,daß Sie die Mittel für das Programm „soziale Stadt“ ausdem Haushaltsansatz für den sozialen Wohnungsbauherausschneiden wollen. Sie gehen hier an die Substanzder Mieter und wissen genau – denn Sie haben dies frü-her als Opposition immer deutlich gemacht –, daß, wennman hier in den sozialen Wohnungsbau einschneidet,der Bestand der Wohnungen zurückgeht, und dies zuLasten der Mieter.
– Entschuldigung, lieber Herr Kollege, das haben dochdie Kollegen aus Ihrer Fraktion im Ausschuß immerwieder vorgetragen. Aber darauf komme ich gleich.Als wir zum Beispiel 1,4 Milliarden DM für den so-zialen Wohnungsbau im Haushalt verankert hatten, sagteseinerzeit Herr Kollege Großmann, jetzt Staatssekretärim Ministerium, das sei ein kärglicher Rest. Schauen Siesich einmal Ihren Haushalt an! Jetzt liegt der Ansatz nurnoch bei 1,1 Milliarden DM. Wie würden Sie das dennbezeichnen?
Kommen wir noch einmal zum Wohngeld. Wirhatten letzten Monat schon Gelegenheit, darüber zudiskutieren. Grünrot hatte in der Vergangenheit gefor-dert, den Wohngeldansatz um 1,5 Milliarden DM zuerhöhen. Das ist ja eine stolze Summe. BauministerOswald legte eine Novellierung mit 250 Millionen DMallein für den Bund vor. Aber das war Ihnen nicht ge-nug. – Jetzt geht der Wohnungsbauminister in dieChefgespräche zu seinem Finanzminister und fordertvollmundig 750 Millionen DM für den Bund; der Restsoll von den Ländern kommen. Mit was kommt er wie-der? Momentan noch mit nichts. Er ist voll auf demBauch gelandet; er ist abgebügelt worden. Jetzt ist diesalso wieder offen.Wir haben eine Ankündigung des SPD-Presse-sprechers gehört, daß zunächst Gespräche mit den SPD-regierten Ländern geführt werden sollen. So geht manmit der Opposition um! Wir wollten seinerzeit selbstver-ständlich mit allen Bundesländern Gespräche führen.Aber machen Sie nur so weiter!Eines aber werden wir nicht durchgehen lassen. Wirhaben zwar nicht die Mehrheit, sagen es aber sehr laut-stark: Wenn Sie an den Vorkostenabzug bei der Eigen-heimzulage gehen und damit die Familien bestrafen, dieBundesminister Franz Müntefering
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1677
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Eigentum bilden wollen, dann werden wir mobil ma-chen. Wir werden dies nicht zulassen.
Aber dies wird offensichtlich angedacht, und mit demSteuerentlastungsgesetz und der Ökosteuer belasten Sienoch einmal die Mieter und setzen den sozialen Woh-nungsbau aufs Spiel.Im Verkehrsetat sieht es auch nicht viel besser aus.Hier liegen der prozentuale Investitionsanteil insgesamtsowie speziell die Investitionen für die Bundesfernstra-ßen und den Schienenverkehr unter denen unseres Ent-wurfs. Sollen ÖPNV und Deutsche Bahn AG mit einemvollen Ökosteuersatz belastet werden? Oder sind dieseVerkehrszweige vielleicht doch zum produzierendenGewerbe zu zählen, und ist ihnen damit eine 20pro-zentige Reduzierung dieses Satzes zu gewähren? – Mo-mentan wissen wir nicht so richtig, wohin die Reisegeht.Es wurden 70 Anträge im Ausschuß beraten. Dasmuß man sich einmal vorstellen: Es wird ein Gesetzent-wurf vorgelegt, und gleichzeitig legen diejenigen, diediesen Entwurf gebastelt haben, 70 Änderungsanträgevor. Das ist „learning by doing“.
Wenn Sie schon keine Erhöhung der Investitionsmit-tel vorgesehen haben, so haben Sie wenigstens Ihre Per-sonalausgaben aufgestockt, obwohl Sie bei den Haus-haltsberatungen 1998 die Stelle eines ParlamentarischenStaatssekretärs doch streichen wollten. Ich frage michjetzt, was die Damen und Herren Staatssekretäre tun.Bei der Ausschußberatung über den Wohnungsbauhaus-halt am Mittwoch war überhaupt niemand von der Re-gierung anwesend. Sie haben doch jetzt genügendStaatssekretäre. Schicken Sie doch dann wenigstenseinen zu den Ausschußberatungen!Wir haben gerade gehört, daß Ihnen die Einsicht ge-kommen ist, daß Straße und Schiene gleiche Prioritätenhaben. Wir freuen uns darüber. Von den Grünen kam andieser Stelle ebenso wie beim Transrapid nur ein leich-tes „Buh“. Früher waren die Reaktionen der Grünenheftiger. Um Nadelstreifen tragen zu dürfen, läßt mansich jetzt am Nasenring hier durch das Parlament führenund protestiert nicht einmal mehr. Dazu muß ich sagen:So haben die Grünen ihre Rolle in dieser Koalitionkomplett verfehlt.
Unsere geplanten Haushaltsansätze für den Trans-rapid sind zwar voll übernommen worden. Aber Sie,Herr Minister, haben auch gesagt, daß jeder Tag Ver-zögerung uns sehr viel Geld koste. Es ist Ihre Aufgabe,hier sehr schnell zu entscheiden. Entscheiden Sie, da-mit dieser Verkehrsträger endlich verwirklicht werdenkann!Sie haben eine Straßenbenutzungsgebühr ab demJahr 2001 gefordert. Hier fordern wir Sie auf: Sehen Siezu, daß die Mittel, die dadurch eingenommen werden,tatsächlich dem Verkehrsetat zugute kommen. Es kannnicht sein, daß Sie diese Mittel nachher für das Stopfenall der Haushaltslöcher, die Sie aufreißen,
verwenden wollen.Sie haben in der Vergangenheit eine ganze Reihe un-solider Anträge gestellt. Wir sind Ihnen eigentlich dank-bar, daß Sie diese nicht wieder aufgegriffen haben. Aberdas zeigt natürlich gleichzeitig, daß diese Anträge nichtdurchgerechnet und damit unberechenbar waren. LassenSie all diese alten Anträge fallen! Sie haben damalsnichts getaugt, und sie würden auch heute nichts taugen.In dem zusammengebastelten Superministerium vonHerrn Müntefering werden nur noch alte Maßnahmen– Sie haben eben von „alten Spatenstichen“ gesprochen –abgewickelt. Um Neues gestalten zu können, hat Ihnen,Herr Minister, der Finanzminister an keiner Stelle dienotwendigen Finanzen gegeben. Seien Sie dankbar, daßSie noch Mittel für alte Maßnahmen im Haushalt haben.
Die Leidtragenden dieser Haushaltspolitik sind dieMieter, die Häuslebauer, die Verkehrsteilnehmer und dieBauindustrie. Der Minister ist abgetaucht bzw. wurdevom Finanzminister abgebügelt.Zwar ist er abgetaucht, aber zweimal ist er richtigaufgetaucht. Zum einen wollte er den Senioren ab65 Jahren den Führerschein entziehen.
Sie haben von Mobilität gesprochen. Sie sollten wissen,daß gerade ältere Menschen die Mobilität des Autosdringend brauchen. Sie sollten Achtung vor der Le-bensleistung der Menschen haben, die 65 Jahre sind unddieses Land mit aufgebaut haben.
Wenn der Minister solche abenteuerlichen Forderungenaufstellt und wenn den älteren Menschen, die durch dieganze Rentendiskussion, die wir vorher geführt haben,schon ausgesprochen verunsichert sind, auch noch dieMobilität des Autos genommen werden soll, dann mußman hier im Bundestag schon ein Wort darüber verlieren.
Herr Minister, ich habe mich im „Kürschner“ einmalüber Ihren Jahrgang informiert. Sie werden in sechs Jah-ren auch 65 sein. Wir können Ihnen versichern: In sechsJahren steht Ihnen kein Fahrer mehr zur Verfügung. Al-so seien Sie mit solchen Forderungen vorsichtig.
Aufgetaucht ist der Minister zum anderen in der Fast-nachtszeit, als davon gesprochen wurde, die Promille-grenze auf 0,5 zu senken.
Hannelore Rönsch
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1678 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Man sollte ganz einfach einmal aus dem StatistischenBundesamt die Zahlen über alkoholbedingte Verkehrs-unfälle abfragen. Das Statistische Bundesamt liegt inmeiner Heimatstadt Wiesbaden. Fahren Sie dort einmalhin, oder rufen Sie dort einmal an! Sie werden sehen,daß sich diese Zahlen in den vergangenen Jahren erheb-lich gesenkt haben. Wir sind gegen jegliche weitereDrangsalierung und Regulierung der Autofahrer.
Herr Minister, gestatten Sie mir zum Abschluß nocheine persönliche Anmerkung. – Es wäre schön, wenn Siemir zuhörten. – Wir sind uns neulich in einem etwasmehr privaten Rahmen, bei der großen Fastnachtsfern-sehsitzung, begegnet. Da war das Kabinett mit Ministernund Staatssekretären in einer wesentlich stärkeren An-zahl als neulich bei der Rede des Finanzministers imPlenum vertreten.
Bei dieser Fastnachtsfernsehsitzung wurde der Alt-bundeskanzler Helmut Kohl mit Standing ovations vomPublikum geehrt. Auch Sie hatten nach einigen Mo-menten des Zögerns doch die Größe, aufzustehen, wie esder ganze Saal getan hat. Dafür möchte ich Ihnen dan-ken, weil ich ganz einfach meine, dies gehört sich so.Ihre Kollegen, die Minister und Staatssekretäre, hattendiese Größe nicht. Diese persönliche Anmerkung wollteich von hier aus machen.Ich glaube schon, daß dieser Altbundeskanzler durchseine Lebensleistung auch den Respekt Ihrer Kollegen,Minister und Staatssekretäre, verdient gehabt hätte, wieer sich im Aufstehen ausdrückt.
Das Wort hat die
Kollegin Iris Gleicke von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Es wird wieder Politik in diesem
Land gemacht. Es wird nichts mehr ausgesessen, es wird
nichts mehr auf die lange Bank geschoben, es wird nicht
mehr abgewartet – es wird gehandelt. Es wird gehandelt
beim Wohnungs- und Städtebau und in der Verkehrs-
politik. Das kann all denjenigen nicht gefallen, die in
den letzten 16 Jahren den Karren so oft an die Wand ge-
fahren haben, bis kein Rad mehr rund war und sich in
diesen Bereichen überhaupt nichts mehr bewegte.
Ihre unglaubliche und maßlose Schuldenpolitik ist
daran schuld, daß für uns die Haushaltsspielräume eng
geworden sind. Ihre Politik hat zum Schluß nur noch aus
Versprechungen bestanden.
Ich weiß nicht mehr, wie oft der damalige Bauminister
Herr Töpfer von dieser Stelle aus hoch und heilig mit
treuherzigem Augenaufschlag die gesamtdeutsche
Wohngeldnovelle versprochen hat. Geschehen ist
nichts, aber auch gar nichts.
Jetzt empören Sie sich scheinheilig darüber, daß wir
uns die Zeit für eine echte und sauber finanzierte No-
velle nehmen. Frau Rönsch hat gesagt, der Minister sei
abgebügelt worden. In einer Pressemitteilung hat sie von
einem Prügelknaben des Finanzministers gesprochen.
Ich will dazu zwei Bemerkungen machen.
Erstens. Ich kann und will nicht ausschließen, daß es
im Kabinett Kohl Prügelknaben und Prügelmädchen ge-
geben hat. Vielleicht hat man das da gebraucht. Sie wis-
sen das besser; denn Sie waren einmal Ministerin im
Kabinett Kohl/Waigel.
Zweitens. Es gehört schon eine bemerkenswerte
Dreistigkeit und Frechheit dazu, wenn Frau Rönsch nach
16 Jahren christlich-liberaler Chaoswirtschaft von heute
auf morgen von Franz Müntefering das einfordert, was
seine Vorgänger immer nur angekündigt und nie einge-
löst haben.
Ich kann Sie, Frau Kollegin Rönsch, beruhigen: Wir
werden in den nächsten Wochen eine Wohngeldnovelle
vorlegen, in der unter anderem strukturelle Verbesse-
rungen des Tabellenwohngeldes für Haushalte mit Kin-
dern vorgesehen sind. Mit dieser Novelle werden wir
eine Angleichung der unterschiedlichen Wohngeldre-
gelungen Ost und West vornehmen, und wir werden das
Ungleichgewicht zwischen pauschaliertem und Tabel-
lenwohngeld aufheben. Das hat meine Fraktion am ver-
gangenen Montag beschlossen. Wir stehen nämlich zu
unseren Wahlaussagen. Wir machen das, was Sie immer
nur versprochen haben.
Frau Kollegin
Gleicke, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Ostrowski?
Ja, sicher.
Frau Gleicke, Sie hat-ten gerade von der Wohngeldnovelle und davon gespro-chen, daß Sie das Ungleichgewicht zwischen dem Ta-bellenwohngeld und dem pauschalierten Wohngeld auf-heben wollen. Könnten Sie konkreter beschreiben, wasgeplant ist? In einer Presseerklärung der „AG Bauen undWohnen“ haben Sie sich zum Beispiel gegen eine Ver-schiebung zuungunsten der Sozialhilfeempfänger, alsoder Empfänger von pauschaliertem Wohngeld, ausge-sprochen. Ich wäre daran interessiert zu erfahren, wasSie konkret vorhaben.Hannelore Rönsch
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1679
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Frau Kollegin Ostrowski, wir
haben keinerlei Vorarbeiten vorliegen, weil die vorma-
lige Regierungskoalition immer nur Versprechen ge-
macht hat.
Wir haben im Moment keinerlei Erhebungen vorliegen.
Wir sind dabei, das genau durchzurechnen. Ich bitte Sie,
dafür Verständnis zu haben, daß wir uns erst an Hand
eines konkreten Vorschlages im Ausschuß und dann hier
im Parlament darüber unterhalten können, wie wir das
Instrument Wohngeld, zum Beispiel für Familien mit
Kindern – gerade auch nach dem Karlsruher Urteil –,
wieder zielgenauer einsetzen können. Dann müssen wir
auch über das pauschalierte Wohngeld reden. Ich
möchte aber jetzt hier der Debatte um die Berechnung
noch nicht vorgreifen. Ich bitte Sie um Verständnis, daß
wir das zu gegebener Zeit im Ausschuß miteinander ma-
chen werden.
Wir wissen, daß Wohnungspolitik Familienpolitik ist
und sehr viel mit Gerechtigkeit zu tun hat. Wohnungs-
politik heißt nicht, wie es bei der F.D.P. der Fall ist, sin-
kende Mietpreise im Bereich der Luxuswohnungen zu
bejubeln, die sich ohnehin nur wenige leisten können.
Das hat wenig mit Wohnungspolitik zu tun, wenn man
sich nur einseitig auf die Eigenheimförderung kapriziert.
Es wäre völlig falsch, den verständlichen Wunsch vieler
Bürgerinnen und Bürger nach den eigenen vier Wänden
in eine einseitige Politik ummünzen zu wollen.
Frau Kollegin
Gleicke, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Sicher.
Frau Kolle-
gin, ich verstehe, daß Sie noch keine Auskunft zur
Struktur der Wohngeldreform machen können. Aber
könnten Sie hier bitte bestätigen, daß sich das Volumen
des Wohngeldes künftig mindestens in der vorgegebe-
nen Größenordnung von 1,5 Milliarden DM bewegen
wird?
Wir haben ja verschiedene Aus-sagen dazu, welches Volumen eine Wohngeldnovellehätte.
Bei der Erhebung, Herr Kollege, die Herr Töpfer damalsgemacht hat, ging es ja wohl um Beträge in der Größen-ordnung von 1,8 bis irgendwo über 2 Milliarden DM.Der Mieterbund spricht von 1,5 Milliarden DM. Sicher-lich hat das auch etwas damit zu tun, was man konkretmachen will, wie man die Tabellen ausgestaltet usw.Wir werden das ordentlich durchrechnen. Wir legen hiereine solide Sache vor, nicht irgendeine Luftnummer.Wir wissen, daß es sich irgendwo in dieser Größenord-nung bewegen muß. Wir können es aber im Momentnicht auf den Pfennig genau sagen. Das ist hier wohlauch nicht notwendig.
– Meine sehr geehrten Kollegen von der F.D.P., Sie ha-ben es in Ihrer Koalition in den letzten zehn Jahren nichtgeschafft, irgend etwas für das Wohngeld zu tun. Jetztreden wir über den Haushalt 1999. Lassen Sie uns, diewir seit vier Monaten im Amt sind, unsere Arbeit soliderund vernünftiger machen als Sie.
Wir werden es Ihnen vorlegen, und dann können wirkonkret über die Dinge diskutieren, die anstehen.
– Schreien Sie hier nicht so herum! Sie haben in denletzten zehn Jahren überhaupt nichts zustande gebracht.
Wir bekennen uns mit unserem Haushalt zum einenganz klar und eindeutig zur Förderung des Wohneigen-tums auf hohem Niveau und zum anderen zu unsererVerantwortung gegenüber den Mieterinnen und Mietern.Ob man im eigenen Haus lebt oder in einer Mietwoh-nung – Wohnen ist ein sehr großes Stück Lebensqualität.Das werden diejenigen wahrscheinlich niemals begrei-fen, die eine Wohnung immer nur als Immobilie undsichere Geldanlage ansehen.Menschen leiden aber auch darunter, wenn sie miter-leben müssen, daß das eigene vertraute Lebensumfeldauf den Hund kommt. Das kann verschiedene Ursachenhaben. Es kann zum Beispiel an mangelnder Integrationvon Minderheiten liegen, das kann an strukturellen oderwirtschaftlichen Problemen liegen oder auch an allge-meiner Armut der Bewohner. Jeder Wohnungspolitikerweiß, was ich damit meine. Auch hier wird gehandelt.Unter dem Titel „Die soziale Stadt“ startet die Bundes-regierung ein neues Programm zur Förderung vonStadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf. Wirkümmern uns nämlich um die Probleme der kleinenLeute, weil wir sie sehr ernst nehmen. Das unterscheidetuns von Ihnen.Im Zusammenhang mit wahltaktischen Auseinander-setzungen instrumentalisieren Sie Probleme, die Siemaßgeblich mit verursacht haben. Sie machen in unver-antwortlicher Weise auf der Straße Stimmung gegenMinderheiten. An den Problemen ändern Sie damit aber
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1680 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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nichts. Darum geht es Ihnen auch nicht. Sie verkaufenchristliche Prinzipien für das Linsengericht eines kurz-fristigen Erfolgs. Das ist pure Heuchelei, unappetitlichund geschmacklos.
Es ist gut, daß wir für den Ausbau der öffentlichenInfrastruktur 1,5 Milliarden DM mehr zur Verfügungstellen. Wir wissen genau, daß jede Mark für Investitio-nen im Haushalt Arbeitsplätze sichert. Zum Beispiel imBundesfernstraßenbau sind es baubedingt 12 500 Ar-beitsplätze und betriebsbedingt bis zu 3 500 Arbeitsplät-ze. Das gilt ganz besonders für die mittelständischeWirtschaft. Es ist gut, daß bei Bauaufträgen des Bundesauch der Mittelstand angemessen, in der Regel bis zu50 Prozent, berücksichtigt wird.
Diese Politik ist wichtig für die Bauwirtschaft, vor allenDingen für die ostdeutsche Bauwirtschaft, die in einerschweren Krise steckt; denn wir meinen, daß die Bau-wirtschaft ein Konjunkturmotor ist.Mit diesem Haushalt bekennen wir uns nachdrücklichzu einer Politik, die die Massenarbeitslosigkeit bekämpftund beseitigt. Wir bekennen uns nachdrücklich zumAusbau und zur Modernisierung der Infrastruktur. Wirbekennen uns ebenso klar und eindeutig zur Priorität fürden Aufbau Ost und zu den Verkehrsprojekten „Deut-sche Einheit“.Ich finde es unmöglich, daß die CDU im Osten der-zeit Stimmung macht und die Menschen verunsichert,indem sie versucht, Zweifel an unserer Zuverlässigkeitzu schüren.
Das verunsichert nicht nur die Bürgerinnen und Bürger,sondern schreckt auch Investoren ab, was zu einemVerlust von Arbeitsplätzen führen kann.
Angesichts Ihrer miesen Spielchen sage ich: HörenSie mit Ihrer Politik auf der Straße auf und kehren Sie zueiner verantwortungsvollen Oppositionspolitik in diesemHause zurück!Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Ich gebe der Kolle-
gin Rönsch das Wort zu einer Kurzintervention.
Frau
Kollegin Gleicke, Ihre Wortwahl veranlaßt mich zu die-
ser Kurzintervention. Ich bitte Sie, uns einmal deutlich
zu sagen, wie die Wohngeldnovelle von Ihnen angelegt
ist. Es gibt von Ihnen alte Forderungen in Höhe von
1,5 Milliarden DM. Sind diese Forderungen seinerzeit
nicht sauber gegengerechnet worden? Hat man diese
Zahl einfach ins Blaue fabuliert? Die Forderungen von
damals, die sicherlich nicht einfach aus der Luft gegrif-
fen sind, könnten doch jetzt die Basis sein, auf der Sie
aufbauen können.
Ferner möchte ich Sie darum bitten, etwas zu dem
Termin des Inkrafttretens der Wohngeldnovelle zu sagen.
Der Minister hat als Termin nicht mehr den 1. Januar
2000 genannt, sondern er hat vom Jahr 2000 gespro-
chen. Ich bitte Sie, Frau Kollegin Gleicke, uns zu sagen,
wann das Gesetz in Kraft treten soll: am 1. Januar 2000
oder im Verlauf des Jahres 2000, zum Beispiel im De-
zember 2000.
Zur Erwiderung auf
die Kurzintervention gebe ich der Kollegin Gleicke das
Wort.
Frau Kollegin Rönsch, es ist
wirklich unverschämt,
daß Sie heute versuchen, dieses Thema auf eine solche
Art und Weise hochzuspielen. Sie hatten zehn Jahre
Zeit, selbst Vorschläge zu machen.
Sie haben nichts, aber auch gar nichts getan. Außer An-
kündigungen haben Sie nichts zustande gebracht.
Wir diskutieren heute über den Haushalt 1999. Ich
sage Ihnen als Parlamentarierin: Wenn wir eine Wohn-
geldnovelle vorlegen, werden wir die Opposition ange-
messen beteiligen. Wir werden Ihnen die Kosten, die
Gegenfinanzierung für die Ausgaben der Länder und
den Termin für das Inkrafttreten nennen. Dann werden
wir im Ausschuß ausführlich darüber beraten. Sie sind
herzlich eingeladen, dann konstruktive Vorschläge zu
machen. Aber verlangen Sie von uns nicht, das, was Sie
in zehn Jahren nicht geschafft haben, in vier Monaten zu
machen. Wir haben schon soviel erreicht, aber das haben
wir nun doch noch nicht hinbekommen. Das räumen wir
gerne ein.
Das Wort hat der
Kollege Horst Friedrich von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Bevorich mit der Rede zum Haushaltsplan 12 beginne, mußich auf Frau Kollegin Gleicke eingehen. Das ist schonIris Gleicke
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ein tolles Stück, Frau Gleicke! Sie sollten sich vielleichteinmal an dem Wettbewerb „Dümmster Ausspruch desJahres“ beteiligen.
Da stellt sich die Vertreterin der SPD hier hin, zu einemZeitpunkt, in dem die von ihrer Fraktion mitgetrageneRegierung noch nicht einmal in der Lage ist, den Ge-schäftsleuten in Deutschland zu sagen – nachdem fastein Viertel des Jahres vorbei ist –, auf welcher steuerge-setzlichen Grundlage sie ihre Geschäftsbilanz erstellensollen, und behauptet – weil wir von der Oppositionsagen, das sei schlimm –, wir würden die Investorenabschrecken. Das ist wirklich ein starkes Stück!
Das Ganze wird dann noch durch die abenteuerlicheBehandlung der Ökosteuer unterfüttert. Man kann esschon gar nicht mehr hören! Am 9. Februar wird derAusschuß für Verkehr und Wohnungsbau zu einer Son-dersitzung eingeladen, um sein mitberatendes Votumabzugeben. Am selben Tag erfahren wir staunender-weise, daß der Finanzausschuß am nächsten Tag eineAnhörung zu diesem Thema angesetzt hat. Wir beratenalso über einen Gesetzestext, den wir noch gar nichtkennen. Nun hat der Finanzausschuß nach der Anhö-rung, in der der Entwurf verrissen worden ist, festge-stellt, daß man, obwohl die Beratung schon abgeschlos-sen war, damit rechnen müsse, daß es noch Nachbesse-rungen geben werde.
Und dann werfen Sie uns vor, wir würden für Unsicher-heit bei den Investoren sorgen. Ich glaube, Frau Gleicke,da sollten Sie noch einmal überlegen.
Wir beraten heute den uns Bau- und Verkehrspoliti-kern vorliegenden Haushalt der neuen Regierung, dergleichzeitig der erste Haushalt des neuen Ministeriumsund seines Ministers, Franz Müntefering, ist.
Herr Kollege Fried-
rich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Maaß?
Ja.
Ich habe eine ganz ein-
fache Frage, Herr Kollege Friedrich. Ich möchte von
Ihnen gerne einmal wissen: Wann stellen die Unterneh-
men ihre Bilanzen auf: am Jahresende oder am Jahresan-
fang? Wissen die denn schon am Jahresanfang, wie hoch
die Gewinne am Ende des Jahres sein werden?
Ihre Argumentation kann ich nicht verstehen. Die haben
Sie im Ausschuß schon einmal gebracht.
Herr Maaß,diese Frage zeugt von großer Kenntnis der Steuergesetz-gebung und der Investitionsentscheidungen. Wenn Sierückwirkend zum 1. Januar 1999 Steuergesetze ändern,die Unternehmen aber bereits seit 1. Januar entscheiden,schaffen Sie damit Unsicherheit und erreichen, daßnichts entschieden wird. Aber das haben Sie – Entschul-digung – noch nie begriffen.
Die F.D.P. hat den Entwurf des Haushaltes mit großerSpannung erwartet. Schließlich waren die Ankündigun-gen der Grünen, der SPD und auch des Ministers Münte-fering riesengroß.Wenn man sich nun einmal die Zahlen des Einzel-plans 12 anschaut, kann man sagen, sehr verehrter HerrBundesminister: Ihr Haushalt ist eine große Enttäu-schung. Wenn das nur mich alleine betreffen würde,könnte ich den Ärger noch einigermaßen ertragen; Siewahrscheinlich auch. Das Problem aber ist: Sie tragenVerantwortung für die deutsche Verkehrs- und Bau-politik, für eine leistungsfähige Infrastruktur, die dieGrundlage der Wirtschaftsentwicklung in Deutschlandist, für lebenswerte Städte und für ein ausreichen-des Wohnungsangebot. Daran müssen Sie sich messenlassen, Herr Minister. Ich fürchte, Sie werden Ihrer Ver-antwortung hier nicht gerecht. Denn Sie machen inIhrem Haushalt nicht vieles anders als die alte Regie-rung, das aber dann in hohen Potenzen schlechter alswir.Von Ihrem Haushalt, der der größte Investitionshaus-halt des Bundes ist, gehen keine Impulse für die Zukunftaus. Alle Ihre Ankündigungen vor der Wahl sind wieSeifenblasen zerplatzt.
Die versprochene Wohngelderhöhung, die vor der Wahlso einfach aussah, jedenfalls, wenn man der SPD glau-ben wollte, kommt nicht – zumindest nicht 1999. DieInvestitionen in die Verkehrswege sinken auf breiterFront, im übrigen auch im Bereich der Schiene, auchwenn jetzt, wie Phönix aus der Asche, die 2 Milliar-den DM Eigenanteil der Bahn – dafür sind wir immerkritisiert worden – auf einmal doch als Investitionsanteilgerechnet werden, auch von den Grünen.Ihre wenigen politischen Akzente im Wohnungsbau,die Sie tatsächlich punktuell setzen, müssen Sie durchUmschichtungen im Etat finanzieren und reißen damitan anderer Stelle entsprechende Löcher auf.Herr Müntefering, dieser Haushalt unterstreicht tat-sächlich den Eindruck, daß Sie zu den Verlierern imKabinett Schröder gehören. Wenn man die Regierungs-erklärung des Schlingerkanzlers Schröder auf die Stich-worte „Wohnungsbau“ und „Verkehr“ durchforstet, wirdklar, warum: Verkehrs- und Baupolitik finden mit und indieser Bundesregierung offensichtlich nicht statt. IhrKollege Lafontaine bedient sich hemmungslos in IhremHorst Friedrich
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1682 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Geschäftsbereich. Ich gehe davon aus, Herr Minister:Die Überschrift in der „Wirtschaftswoche“ – „Ministerin der Klemme“ – trifft jetzt erst recht auf Sie zu, ob-wohl sie vom November stammt. Schon die Einschnitte,die das sogenannte Steuerentlastungsgesetz für denWohnungsbau und die Verkehrswirtschaft bringt, sowiedie Verteuerung der „zweiten Miete“, der Transport-kosten und des öffentlichen Personennahverkehrs durchdie sogenannte Ökosteuer haben diese Vermutung ge-weckt.Nun hat die SPD die vor der Wahl angedrohte großegrüne Verkehrswende weitgehend platt gemacht. DieKollegen sind da in einer Art und Weise flächendeckendumgefallen, daß selbst wir, die wir nach Meinung vielerin diesen Dingen erprobt sind, das nicht hinbekommenwürden. Sie haben das Gesetz der Schwerkraft außerKraft gesetzt; Sie fallen in dieser Frage so schnell um,daß Sie gar nicht mehr aufstehen. Deswegen können Sienatürlich auch nur in Hühneraugenhöhe verhandeln.
Das ist eines Ihrer Probleme. Daraus wird allerdingskeine schlüssige und schon gar keine auf die Zukunft ge-richtete Politik. Ich will versuchen, das an einigen Bei-spielen zu erklären.Sie haben angekündigt, den Bundesverkehrswege-plan zu überprüfen. Bis jetzt ist nicht klar, nach welchenKriterien überprüft werden soll: ob der gesamte Ver-kehrswegeplan auf den Prüfstand kommt oder ob nurTeile verändert werden. Was ist das Ergebnis? – Still-stand von Neubaumaßnahmen.
Sie haben in der Bauwirtschaft große Verunsicherunggeschaffen.
Niemand weiß konkret, wie es weitergehen soll, und dieersten Firmen müssen bereits Mitarbeiter entlassen.
Ich erlaube mir an dieser Stelle nur den Hinweis, daß1 Milliarde DM Bauinvestitionen immerhin das Schick-sal von 15 000 Arbeitsplätzen beeinflußt.
Die notwendige Novelle zum Regionalisierungsge-setz steht auf Grund des Wibera-Gutachtens immer nochaus. Auch mit dieser Nichtentscheidung wird die Unsi-cherheit im Schienenpersonennahverkehr zu Lasten derDeutschen Bahn AG verstetigt. Kein Bundesland weißdefinitiv, ob es – und wenn ja, zu welchen Bedingungen –langfristige Verträge eingehen kann. Konsequenz: Eswird nicht entschieden.Es ist ganz offensichtlich, daß die öffentlichen Haus-halte nicht in der Lage sind, eine für den StandortDeutschland vernünftige und leistungsfähige Ver-kehrsinfrastruktur zeitgerecht zu finanzieren. Es ist da-her nach wie vor notwendig, neue und unkonventionelleÜberlegungen dahin gehend anzustellen, privates Kapi-tal besser als derzeit in die Finanzierung des Infra-strukturausbaus einzubringen.
Die F.D.P. fordert Sie, Herr Minister, auf, unverzüglicheine Kommission zur Prüfung der besseren Einbindungprivaten Kapitals in die Verkehrsinfrastrukturfinanzie-rung ins Leben zu rufen, um den Sachverstand und dieAngebote, die es in Deutschland gibt, zu nutzen.Der Investitionsanteil für Bundesfernstraßen in IhremEntwurf 1999 sinkt auf unter 10 Milliarden DM. Sie re-duzieren außerdem die Aufwendungen für die Unter-haltung von Fernstraßen weiter – ganz zu schweigen da-von, daß Sie, Herr Minister, mit Ihrem Entwurf in keinerWeise dem Beschluß der Verkehrsministerkonferenzvom November 1997 in Hannover Rechnung tragen, indem gefordert wurde, die Investitionen im Straßen-baubereich um 4 Milliarden DM zu erhöhen. An derSpitze derer, die diese Forderung erhoben, standen dieVerkehrsminister von Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. Der Beschluß wurdeim übrigen einstimmig gefaßt.Es ist zu erwarten, daß durch diese Politik im Jahre1999 kein sehr umfangreicher Neubau von Straßen undim Jahre 2000 überhaupt kein Neubau erfolgen wird.Diese Tatsache verschärft im übrigen die mit der EU-Osterweiterung einhergehende Verkehrssteigerung, weildie Ost-West-Verbindungen offensichtlich nicht lei-stungsfähig genug sind, das Verkehrsaufkommen zubewältigen.Mit der Privatisierung scheinen Sie, Herr Müntefe-ring, offensichtlich Probleme zu haben. Das überraschtinsofern, als es dem Haushalt 1999 gut getan hat, daßPrivatisierungserlöse in Höhe von 10 Milliarden DM,die noch durch die alte Koalition geschaffen wordensind, zur Verfügung standen, um die gröbsten Löcher zustopfen. Daß die Privatisierung kein Teufelszeug ist, ha-ben die Erfolge bei der Flugsicherung oder der Lufthan-sa hinlänglich bewiesen.
Auf eine für den Standort Deutschland entscheidendeFrage, nämlich auf den zeit- und bedarfsgerechten Aus-bau der Flughafeninfrastruktur, geben Sie im vorliegen-den Haushalt ebenfalls keine Antwort. Allerdings versu-chen Sie mit Nebenschauplätzen Eindruck zu schinden.Ihr Vorschlag, den Senioren eine regelmäßige Über-prüfung ihrer Fahrtauglichkeit aufs Auge zu drücken,dürfte als größter Flop in die Geschichte des MinistersMüntefering eingehen. Auch Ihr jetziger Versuch einerweiteren Verschärfung der Promillegrenze muß zu-mindest mit Skepsis betrachtet werden. Anstatt dafür zusorgen, daß die neuen Regelungen erst einmal vor OrtHorst Friedrich
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umgesetzt werden und daß entsprechende Atemwegs-alkoholanalysen und Polizeikontrollen stattfinden, ver-suchen Sie erneut, über eine Änderung der Promille-grenze Eindruck zu machen. Es bleibt dabei – das sindFakten –: Die Mehrzahl der alkoholbedingten Unfälle imStraßenverkehr findet jenseits der Grenze der absolutenFahruntüchtigkeit statt. Die Spezies der fahrenden Trin-ker können Sie doch nicht mit einer Diskussion über dieHöhe der Promillegrenze aus dem Straßenverkehr ent-fernen, sondern damit, daß man sie regelmäßig kontrol-liert – und dann auch erwischt.Zum Wohnungsbau möchte ich kurz folgendes fest-stellen: Es ist uns immerhin gelungen – unter Federfüh-rung von Irmgard Schwaetzer –,
eine Politik zu betreiben – es wundert mich nicht, daßSie das ärgert –, auf Grund der in Deutschland in jederMinute eine Wohnung fertiggestellt worden ist.
Wir haben mittlerweile in den alten und neuen Bundes-ländern flächendeckend Leerstände. Die Mieten sinkenauf breiter Front. Die Wohnungssuche ist deutlich einfa-cher geworden. Das ist das Ergebnis der Politik der altenRegierung, die von uns wesentlich mit beeinflußt wor-den ist.
Mit der im Steuerentlastungsgesetz vorgesehenen Strei-chung des Vorkostenabzugs, mit steuerlichen Erschwer-nissen und mit der Verlängerung der Spekulationsfristenbeim Aktien- und Immobilienverkauf legen Sie dieGrundlage für neue Probleme.
Zusammenfassend will ich sagen: Der Haushalt 1999des Bundesministers für Verkehr, Bau- und Wohnungs-wesen gibt die falschen Antworten auf die drängendenFragen der Infrastrukturentwicklung in Deutschland. DieZielvorgaben werden klar verfehlt. Man kann es auchviel einfacher sagen: Die neue Regierung versucht allesin ihrer Kraft Stehende zu tun. Genau das, liebe Freun-de, ist unser Problem.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der
Abgeordnete Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Um überhaupt erst einmal so et-
was wie eine seriöse Haushaltsplanung im Einzelplan
12 zustande zu bringen, mußte die Bundesregierung zu-
nächst einmal die Luftbuchungen und Finanzierungs-
tricks der alten Regierung beseitigen.
Ich möchte Ihnen dafür zwei konkrete Beispiele nen-
nen: Ich weise zum einen auf die Einnahmen aus der so-
genannten EU-Vignette, also auf die Gebühr für den
Schwerverkehr auf unseren Straßen, hin. Der ehemalige
Finanzminister Waigel ging in seinem Haushaltsentwurf
mit einer Unverfrorenheit sondergleichen von Einnah-
men in Höhe von 1,5 Milliarden DM aus, obwohl er ge-
nau wußte, daß er allenfalls die Hälfte dieser Einnahmen
erzielen würde. Das hätte man sich vorher sehr schön
ausrechnen können. Das heißt, wir mußten erst einmal
geschönte Einnahmen in Höhe von 750 Millionen DM
korrigieren.
Damit noch nicht genug: Um ihre Finanznot zu ver-
schleiern, hat die alte Bundesregierung zum anderen
über Jahre hinweg zu einem neuen Finanzierungsin-
strument – Herr Friedrich hat es heute wieder als unkon-
ventionelle Methode bezeichnet – gegriffen, nämlich zur
sogenannten privaten Vorfinanzierung.
Was heißt das denn? Das, Kollege Friedrich, heißt eben
nicht, daß privates Geld eingesetzt wird, sondern das
heißt, daß privates Geld nur zur Vorfinanzierung ver-
wendet wird und daß nachher Mark für Mark und Pfen-
nig für Pfennig aus den öffentlichen Haushalten zurück-
gezahlt werden müssen. Jedes Kind weiß, daß eine Ra-
tenzahlung über die Jahre hinweg das Ganze teurer und
nicht billiger macht.
Dies ist, Herr Kollege Friedrich, genau der Grund, war-
um der Bundesrechnungshof diese Methode immer als
unverantwortlich kritisiert und gesagt hat, damit werde
ein Finanzierungsproblem in die Zukunft verschoben
und gleichzeitig zu Lasten kommender Generationen
verschärft. Damit hat diese Bundesregierung Schluß
gemacht, und das ist richtig so.
Herr Kollege
Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Friedrich? – Bitte schön.
Herr KollegeSchmidt, bevor Sie sich noch weiter aufregen: Sind Siebereit, mir zuzugestehen, daß ich die Konzessionsmo-delle nie als Privatfinanzierung bezeichnet habe?Wenn ich von Privatfinanzierung rede, meine ich – dassteht auch in meinem Manuskript – tatsächlich Privatfi-nanzierung. Vielleicht sollten wir uns auf dieser Basisweiter verständigen. Sie können ein wenig Luft ablas-sen, und wir sind wieder auf der gleichen Diskussions-ebene.Horst Friedrich
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1684 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Kollege Friedrich, ich bin Ihnen sehr dank-bar für diese Klarstellung. Ich hätte mich auch gewun-dert, wenn Sie Ihre Position in dieser Frage geänderthätten. Es freut mich, daß Sie sagen: Echte Privatfinan-zierung wäre allenfalls die nach dem sogenannten Kon-zessionsmodell,
nach dem hinterher an der Mautstelle kassiert wird. Nur,lieber Kollege – so frage ich Sie zurück –, wie erklärenSie es sich, daß bei keinem einzigen Verkehrsprojekt inDeutschland ein privater Investor von dieser Finanzie-rungsmöglichkeit Gebrauch gemacht hat, obwohl diesseit Jahren gesetzlich möglich ist? Er weiß, daß es sichnicht rechnet. Das ist offensichtlich kein zukunftsfähigesModell. Die gesetzliche Möglichkeit besteht, aber sie istnirgends realisiert worden. Das sind Luftschlösser, dieSie da bauen; die helfen uns keinen Schritt weiter.
Gestatten Sie eine
weitere Zwischenfrage?
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Das muß ich jetzt natürlich; denn ich habe
ihn ja gefragt. Sonst wäre das unfair.
Sehr verehrterHerr Kollege Schmidt, Sie sind ja sonst immer gut in-formiert. Aber darf ich Ihre Aufmerksamkeit vielleichtdarauf lenken, daß die Stadt Lübeck überlegt, einenTunnel nach den Vorschriften des Fernstraßenbauprivat-finanzierungsgesetzes, nach genau dieser Methode, zubauen und daß es in Rostock zumindest einen entspre-chenden Vertrag gibt? Ob der abgewickelt werden kann,ist ein anderes Thema. Aber zur Versachlichung derDiskussion sollte man vielleicht darauf hinweisen, daßes tatsächlich Projekte gibt, die auf Grund dieses Geset-zes angefangen werden.Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Herr Kollege Friedrich, Sie haben in IhrerFrage schon die Antwort gegeben. Das Wort „überlegt“war das entscheidende. Über Jahre ist an vielen Orten,auch in Lübeck, überlegt worden; vollzogen worden istgar nichts. Nirgendwo in Deutschland gibt es bisher eineprivat finanzierte Strecke, für die nach dem Konzes-sionsmodell nachher kassiert wird. Es wäre auch derfalsche Weg. Denn Verkehrsinfrastruktur herzustellenist Aufgabe der öffentlichen Hand. Diesen Grundsatzhalten wir aus Gründen der Gemeinwohlverantwortungauch für angemessen.
Nun aber zurück zum Bundeshaushalt. Allein durchdie Korrektur der geschönten Bilanzen der bisherigenBundesregierung sind Einnahmeverluste von mehr als750 Millionen DM entstanden. Daß es trotzdem gelun-gen ist, die Investitionen – entgegen dem zuvor Be-haupteten – um 1,7 Prozent auf eine Investitionsquotevon 53,3 Prozent anzuheben, ist ein Kraftakt, der ange-sichts des allgemeinen Konsolidierungszwanges, denwir ausdrücklich für richtig halten, äußerst beachtlichund, wie mehrfach gesagt worden ist, von entscheiden-der Bedeutung für Arbeitsplätze ist.
Die Bundesregierung hat aber noch weitere überfälli-ge haushaltssystematische Korrekturen vorgenommen,die der Haushaltsklarheit und -wahrheit dienen – auchdies nur stichwortartig –:Die Schuldendienste für das sogenannte Bundes-eisenbahnvermögen – was ja nichts anderes ist als einriesiger Topf von Altschulden – wurden jetzt dort einge-stellt, wo sie hingehören, nämlich in den Einzelplan 32und nicht in den Einzelplan 12.
Damit machen wir deutlich: Das sind keine Ausgabenfür heutige Verkehrsleistungen, sondern Schuldendien-ste, und somit unterliegen sie der allgemeinen Verwal-tung der Bundesschulden.Systematisch richtig war auch die Verlagerung jener100 Millionen DM für Eisenbahnkreuzungen, die bisheraus dem Schienenetat bezahlt wurden. Damit wurdenBrückenbauwerke bezahlt, also Straßen, die über Schie-nen gebaut wurden. Das ist Straßenbau. Deswegen wirddieser Betrag jetzt im Straßenbau etatisiert. Ebenso wer-den Investitionen für den kombinierten Ladungsverkehrin Höhe von 45 Millionen DM jetzt im Straßenbau stattim Schienenbautitel etatisiert.Dies alles zusammengenommen bedeutet: Da dasVolumen des Schienenbautitels nominal trotzdemgleichbleibt – obwohl eine ganz andere Haushaltssyste-matik gewählt wurde –, steigt es, nach alter Haushalts-systematik gerechnet, real um etwa 150 Millionen DMan. Dies ist aus unserer Sicht zwar nur ein bescheidenerund noch unzureichender, aber dennoch ein ersterSchritt in Richtung hin zu einer – was auch im Koali-tionsvertrag vereinbart ist – schrittweisen Angleichungder Investmittel für Straße und Schiene. Es ist ein Wegbeschritten worden, dessen Ende noch nicht erreicht ist.Deswegen müssen weitere Schritte in dieser Richtungfolgen.
Hinzu kommt – das möchte ich positiv anmerken –,daß zinslose Darlehen für den Schienenbau nunmehreine viel geringere Rolle spielen als früher. Es werdennämlich 875 Millionen DM mehr Baukostenzuschüssegegeben. Das heißt im Klartext, daß bei der privatisier-ten Bahn keine neue Darlehensschuld und damit keine
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neue Rückzahlungspflicht entsteht. Dies ist für Fernver-kehrsprojekte von entscheidender Bedeutung. Ich wün-sche mir, daß wir auch im Nahverkehr ähnlich verfah-ren.Es wurden zudem – das ist schon angesprochen wor-den – erstmals 100 Millionen DM für die Sanierung vonbesonders verlärmten Strecken eingestellt, zumindest fürHärtefälle. Dies ist ein Einstieg, den wir immer gefor-dert haben und daher begrüßen.Gestatten Sie mir noch ein Wort zum UnternehmenDeutsche Bahn AG. Es ist in einer schwierigen Situa-tion, die vom Minister zu Recht beschrieben worden ist.
– Ich spreche hier grundsätzlich als Abgeordneter, daswissen Sie genau. Hören Sie zu, Herr Kollege Friedrich!– Ich glaube, wir alle teilen die Sorge um die wirtschaft-liche Zukunft des Bundesunternehmens Deutsche BahnAG. Ich möchte daher kritisch anmerken: Im sogenann-ten Eckpunktepapier zum Transrapid von April 1997wurde vereinbart, daß das Risiko für auftretende Verlu-ste beim Betrieb allein von der Deutschen Bahn AG ge-schultert wird. Die garantierten Nutzungsentgelte be-kommt die Industrie, die variablen Nutzungsentgelte er-hält die Deutsche Bahn AG. Wir müssen uns sehr genauüberlegen, ob wir diesem Unternehmen zumuten dürfen,ein solches Risiko zu tragen. Unterschrieben hat damalsMatthias Wissmann – der ist nicht mehr im Amt. Unter-schrieben hat damals Heinz Dürr – der ist nicht mehr imAmt.
Ich gebe zu bedenken, ob es richtig ist, 1 : 1 zu vollzie-hen, was damals festgelegt worden ist.Trotzdem, lieber Kollege Friedrich, stehen wir zudem, was in der Koalitionsvereinbarung festgehaltenworden ist. Dort heißt es ganz klar: Bei der Herstellungdes Fahrweges hat sich der Bund in die Verantwortungnehmen lassen. – Das ist unterschrieben; das gilt. Aberes ist gedeckelt auf 6,1 Milliarden DM. Nun möchte ichsehen – da bin ich ganz gelassen, Herr Kollege Friedrich –,wer die 2 Milliarden DM, die noch fehlen, auf den Tischlegt. Die Kosten sind explodiert; das ist allgemein be-kannt. Ich weiß nicht, wer das leisten soll. Insofern binich, was die Zukunft dieses Projektes anbetrifft, sehrgelassen. Ich glaube, es gäbe auch gute Alternativen.
– Das ist an anderer Stelle schon x-mal diskutiert wor-den. Lassen Sie uns das jetzt nicht vertiefen.Zum Thema Ökosteuer: Sie nennen sie auch gern diesogenannte Ökosteuer. Auch hier gab es eine große Dis-kussion: Ist es fair, ist es richtig, die öffentlichen Ver-kehrsbetriebe, die kommunalen wie die Bahn, mit einerÖkosteuer zu belasten? Konterkariert das nicht den ge-wünschten ökologischen Lenkungseffekt? Wir habendazu immer gesagt: Es schadet öffentlichen Verkehrs-betrieben überhaupt nicht, wenn sie über eine Energie-steuer, zum Beispiel über eine Stromsteuer, einen Anreizerhalten, Energie sparsam und effektiv einzusetzen.
Was wir nicht wollten, war eine Überlastung durch ex-treme Steuersätze bzw. durch einen vollen Steuersatz,der den Lenkungseffekt tatsächlich in Frage gestellthätte. Deshalb bin ich sehr froh, daß es in letzter Minutegelungen ist, für die öffentlichen Verkehrsbetriebe denhalben Stromsteuersatz zu vereinbaren. Das ist genauder richtige Weg.
Wer nun allerdings meint – das konzediere ich gerne –,daß eine Ökosteuer in der Größenordnung von 6 Pfenni-gen auf den Liter Mineralöl schon einen großen Len-kungseffekt produzieren wird, der sieht sich natürlichgetäuscht. Daß das der Fall ist, hat auch niemand be-hauptet. Entscheidend ist die Nachhaltigkeit des Vorge-hens. Die Investoren wie die Verbraucherinnen undVerbraucher wissen: Jetzt spielt die Musik andersherum.Jetzt werden die Energiekosten schrittweise steigen undgleichzeitig die Lohnnebenkosten sinken, das heißt, dieNettolöhne steigen. Das ist das entscheidende Signal,das langfristig den Lenkungseffekt produzieren wird.
Herr Kollege
Schmidt, zur Vorbereitung ihrer nachfolgenden Rede
möchte Frau Ostrowski gerne eine Frage stellen.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Das ist sehr liebenswürdig, Herr Präsident.
Herr Schmidt, Sie ha-ben gerade ausgeführt, daß Sie schon immer wollten,daß die Bahn nicht unter einer Ökosteuer leidet. Ichmöchte Sie fragen: Sind Sie nicht auch der Meinung,daß der Glücksfall, daß die Bahn immerhin nur einenermäßigten Steuersatz zahlen muß, mehr dem Druckdenn Ihrer Einsicht geschuldet ist? Was halten Sie da-von, daß die öffentlichen Verkehrsunternehmen, Stra-ßenbahnen usw. nach wie vor den vollen Steuersatzzahlen müssen?Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Kollegin Ostrowski, ich glaube, esliegt ein Mißverständnis vor. Den halbierten Stromsteu-ersatz zahlt der gesamte schienengebundene öffentlicheVerkehr: von der Eisenbahn – Fernverkehrszug, Nah-verkehrszug, Regionalzug – über U-Bahn und S-Bahnbis zur Straßenbahn. Alles, was auf der Schiene fährtAlbert Schmidt
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1686 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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und Strom abnimmt – also auch die kommunalen Ver-kehrsbetriebe –, profitiert von der Ermäßigung, die dieWettbewerbsposition der öffentlichen Verkehrsträger imVergleich zum Straßenverkehr, der mit 6 Pfennig proLiter belastet wird, erheblich verbessert.
Das ist der entscheidende Punkt, den wir erreichenwollten. Wir haben ihn erreicht, und das ist gut so.
– Sie können sich melden und eine Frage stellen. Dannantworte ich Ihnen sehr gerne, aber nicht im Rahmen derRedezeit.Eine letzte Anmerkung zum Bundesverkehrswege-plan. Diese Bundesregierung hat sich eine Herkulesauf-gabe vorgenommen – nicht als eine rotgrüne Marotte,sondern als Auftrag des Gesetzes. Es steht nun an, denBundesverkehrswegeplan in Gänze zu novellieren. DasZiel – im Koalitionsvertrag festgelegt – heißt Verlage-rung auf die Schiene. Wir werden in aller Ruhe undSachlichkeit daran arbeiten. Es wird keine unqualifi-zierten Baustopps geben; es wird aber auch keine Vor-entscheidungen geben. Vielmehr muß man entlang derzu verabredenden Kriterien entscheiden. Alle noch nichtbegonnenen Fernstraßenprojekte müssen auf den Prüf-stand, und zwar entlang der aktualisierten Kosten, ent-lang der aktualisierten Verkehrsprognosen, entlang desaktualisierten Umweltrechtes und entlang der netzüber-greifenden Effekte. Das ist wichtig.In dieser Hinsicht unternimmt der Haushalt 1999einen ersten, wenn auch – wie es Lafontaine vorgesternin seiner Haushaltseinbringungsrede gesagt hat – nochunzulänglichen Schritt. Es werden noch viele Schritte indieser Richtung folgen. Ich hoffe auf Ihre Unterstützungund Ihre kreative Mitarbeit.Danke schön.
Ich gebe der Kolle-
gin Ostrowski, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren!Der Haushaltsentwurf entspricht den wohnungs-baupolitischen Notwendigkeiten in keiner Weise.Das war ein Zitat.Was Sie, liebe Kollegen von Rotgrün, im Haushaltanbieten, führt dazu, daß ein Haushalt vorgelegt ist, der– ich zitiere weiter –unzureichend auf die steigenden Belastungen ein-kommensschwacher Haushalte reagiert, in der Kon-sequenz zur Abschaffung des sozialen Wohnungs-baus führt, den gleichbleibend niedrigen Ansatz fürdie Städtebauförderung dokumentiert und Ausdruckfür die mangelnde Gestaltungskraft der politischVerantwortlichen ist.Besser kann ich wirklich nicht beschreiben, was hier ab-geht. – Frau Mertens ahnt, so nehme ich an, woher derText kommt: Ich habe mich, liebe Kolleginnen undKollegen der SPD, nur Ihrer eigenen Worte aus demletzten Jahr bedient, als Sie im Ausschuß zum Woh-nungsbauetat der Regierung Kohl Stellung nahmen.Nun kommt Oskar Lafontaine und verleiht seinemmangelhaften Haushalt den Titel „Versprochen – gehal-ten!“. Wenn es nicht so traurig wäre, würde ich schal-lend lachen, denn für den 99er Wohnungsbauhaushalttrifft das mit Sicherheit nicht zu. Sie verkaufen altenWein in neuen Flaschen. Ihr Wohnungsbauhaushalt– seine Struktur, die Mittel, die Förderinstrumente – istdie Fortsetzung der alten Politik, und zwar nicht mit an-deren, sondern mit weniger Mitteln.Machen wir einmal die Probe aufs Exempel. Erstens.Versprochen war: Die Städtebauförderung wird ver-stärkt. Die Wahrheit ist: Den neuen Ländern mit ihremunbestritten hohen Bedarf stehen 36 Millionen DM we-niger als im Vorjahr zur Verfügung, und für die altenLänder gibt es keine Mark mehr. Wollen Sie ernsthaftbehaupten, daß das eine Verstärkung der Städtebauför-derung sei? Hatten Sie nicht noch unter Kohl zumindesteine Verdoppelung versprochen? Jetzt sind Sie dort an-gekommen, wo die alte Regierung schon war. – „Ich binallhier“, sprach der Igel.Zweitens. Versprochen war ein Programm „SozialeStadt“ für Innenstädte, Großsiedlungen und Stadtteil-zentren. Minister Müntefering verkauft es der Öffent-lichkeit so geschickt, als stünden die 100 Millionen DMsofort zum Abruf bereit. Die Wahrheit ist: Die 100 Mil-lionen DM sind, gemessen an dem Anspruch eines sol-chen Programms, sowieso nur ein Tropfen auf den hei-ßen Stein. Aber in diesem Jahr sind nur ganze 5 Millio-nen DM abrufbar; das ist die Größenordnung eines – sa-gen wir einmal – mittleren Geschäftshauses. Der Restwird in die Folgejahre verschoben und obendrein vomsozialen Wohnungsbau abgeknapst. Das ist nun wirklichein starkes Stück. Ich fürchte, das forsch angekündigteReformprojekt „Soziale Stadt“ mutiert, wenn Sie esnicht ändern, zum Feigenblatt.Drittens. Versprochen war eine stärkere Förderung desWohnungsbestandes. Die Wahrheit ist: Im Haushalt merktman auch davon nichts. Nun werden Sie einwenden: Aberdas KfW-Programm zur Sanierung des ostdeutschenWohnungsbestandes wurde um 5 Milliarden DM aufge-stockt. – Richtig. Das ist gut so und das freut mich. Dennder Osten braucht die Altbausanierung nach wie vor unddie Finanzförderung dazu. Immerhin realisieren Sie damitteilweise unseren PDS-Antrag, den wir schon im Herbstletzten Jahres eingebracht haben. Ich kann auch verste-hen, daß Sie ein bißchen Erfolg brauchen, ganz besondersSie natürlich, und ich gönne es Ihnen.Aber ungeschoren kann ich Sie auch beim Moderni-sierungsprogramm nicht davonkommen lassen. Sie tunAlbert Schmidt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1687
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nämlich so stolz, als hätten Sie die 5 Milliarden DMAufstockung dem Finanzminister nach harten Kämpfenregelrecht abgerungen. Die Wahrheit aber ist: Die Auf-stockung fiel Ihnen geradewegs in den Schoß. Durcheine günstige Zinsentwicklung wurden KfW-Krediteaußerplanmäßig getilgt. Damit reichten die Zuschüssedes Bundes von insgesamt 14 Milliarden DM für einhöheres Kreditvolumen zu sonst gleichen Bedingun-gen.Das eigentliche Problem, die Krux der ganzen Sacheist, daß Sie mit dem Haushalt 1999 diese Zuschüssenicht erhöhen. Sie wollen das Modernisierungspro-gramm für den Osten sogar abwickeln. Das ist dieWahrheit. Am 31. ist Ultimo. Aus und vorbei. Kohl läßtgrüßen. „Ich bin allhier“, sprach der Igel. Ist Ihnen über-haupt bewußt, daß Sie damit das letzte Drittel der nochunsanierten Wohnungen im Osten von der Förderungabschneiden? Was ist mit Gebäuden mit besondershohem Aufwand? Sie überlassen ostdeutsche Woh-nungsunternehmen und Innenstädte sich selbst, dieMieterinnen und Mieter gleich mit.Da machen wir nicht mit. Wir fordern von Ihnen: DasProgramm muß um mindestens zwei weitere Jahre ver-längert werden. Wir haben gerechnet: Das zusätzlicheKreditvolumen und der zusätzliche Bundesbedarf sindgar nicht so hoch. Ich versichere Ihnen: Sie erleiden kei-nen finanziellen Kollaps. Wenn Sie eine Lösung für dieFinanzquelle wollen, bitte sehr: die Privatisierungserlöseaus dem Altschuldenhilfegesetz. Wenn ostdeutsche Un-ternehmen schon gezwungen wurden, Wohnungen zuverkaufen und Erlöse an den Erblastentilgungsfonds ab-zuführen, dann ist es wohl nur recht und billig, wenndiese Gelder wieder dorthin zurückfließen, wo sie her-gekommen sind: in die ostdeutschen Wohnungsunter-nehmen.
Übrigens ist der Betrag, gemessen an anderen Beträ-gen, marginal. Ruinöse Auswirkungen auf den Schul-denstand der Bundesrepublik sind auch hier nicht zu be-fürchten.Viertens. Versprochen war, daß die Zahl der Sozial-wohnungen vergrößert wird. Die Wahrheit ist: DieMittel für den sozialen Wohnungsbau, die über Jahresanken – unter heftiger Kritik Ihrerseits –, sinken weiter,
für die alten und für die neuen Länder. Sie sind aufeinem aktuellen Tiefstand.Das Problem wird noch dadurch verschärft, daß sichdieser Trend in den Ländern fortsetzt. In Berlin gibt esbeispielsweise eine Absenkung von 215 auf 57 Millio-nen DM,
in Schleswig-Holstein von 239 auf 207 Millionen DM,in Sachsen von 600 auf 200 Millionen DM. Können Siemir verraten, wie diese sinkenden Fördermittel zur Ver-größerung der Zahl der Sozialwohnungen führen sollen?
Fünftens. Versprochen war eine gesamtdeutscheWohngeldreform. Dieses Versprechen haben Siemehrfach, auch in diesem Hause, wiederholt, und FrauGleicke hat vorhin dazu gesprochen.
Die Wahrheit ist: Für eine wirkliche Wohngelderhöhungist auch im Haushalt 1999 keine müde Mark mehr ein-gestellt. Der Ansatz deckt lediglich den normalen Stei-gerungsbedarf. Bei dem, was sich vorhin in Interventionund Rückintervention hier abgespielt hat – Frau Gleicke,ich muß es Ihnen einfach so sagen –, haben Sie genausogeeiert wie Ihr Kollege Spanier beim letzten mal. Daszeigt doch nur, daß Sie wirklich nicht wissen, wie Sie esfinanzieren sollen und wie Sie diese Wohngeldnovellemachen sollen.
Es reicht irgendwann einmal, daß Sie immer wiedersagen: Meine Damen und Herren von der CDU, Sie ha-ben das soundso viel Jahre nicht auf die Reihe gebracht.Nun stellen Sie uns doch keine Frage.
Mich wundert schon, daß Sie nicht mit roten Köpfenhier sitzen. Ehrlich gesagt, ich würde mich an IhrerStelle schämen, diese Frage so vor mir herzuschiebenund den wirklich Bedürftigen nicht sofort und vordring-lich zu helfen.Sie haben ein Arbeitsprogramm 1999 in die Öffent-lichkeit geschickt, das „Vor wichtigen Aufgaben“ lautet.Bei diesen wichtigen Aufgaben kommt die Wohnungs-politik überhaupt nicht vor. Das heißt, auch das Wohn-geld kommt nicht vor. 1999 gibt es also Wohnungspoli-tik und sozialen Wohnungsbau als wichtige Aufgabenfür Sie nicht.Damit kein Mißverständnis aufkommt: Ich habe IhrenHaushaltsplanentwurf nicht mit dem Haushaltsplanent-wurf des Vorjahres verglichen, um die alte Koalitionnachträglich zu rehabilitieren. Mir wird schlecht, wennFrau Rönsch sich jetzt hier hinstellt und sich als Inter-essenvertreterin der Wohngeldbezieher profiliert; das istüberhaupt gar keine Frage.
Gleichwohl muß ich Ihnen, liebe Kolleginnen undKollegen, sagen: Es ist einfach so, daß ich von Ihnenmehr erwartet habe, im übrigen nicht nur ich, sondernMillionen von Menschen. Wenn Sie nicht bald die Kur-ve kriegen, dann wird die „Frankfurter Rundschau“recht behalten, die letztens getitelt hat: „Rot die Zahlen– grün die Hoffnung?“
Christine Ostrowski
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1688 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Bevor ich das Wort
weitergebe, möchte ich eine kurze Bemerkung zur Ge-
schäftslage machen. Wir werden noch etwa eine Stunde
über den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für
Verkehr, Bau- und Wohnungswesen debattieren. Wir
werden dann die Sitzung des Bundestages unterbrechen,
weil die Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die
Grünen und der F.D.P. um 17.15 Uhr Fraktionssitzungen
durchführen.
Es ist interfraktionell vereinbart, die Sitzung des
Bundestages um 17.45 Uhr fortzusetzen, dann allerdings
mit dem Zusatzpunkt 5 zu beginnen, das heißt mit der
Beratung der Beschlußempfehlung des Auswärtigen
Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung
„Deutsche Beteiligung an der militärischen Umsetzung
eines Rambouillet-Abkommens für den Kosovo sowie
an NATO-Operationen im Rahmen der Notfalltruppe“.
Dafür ist eine einstündige Debatte vereinbart, so daß die
namentliche Abstimmung etwa um 18.45 Uhr, kurz vor
19.00 Uhr stattfinden wird. Wir setzen die Haushaltsbe-
ratungen dann mit dem Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisteriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
fort.
Nunmehr gebe ich das Wort zu dem zur Diskussion
stehenden Geschäftsbereich an den Kollegen Dieter
Pützhofen von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Ein Spaßvogel hat uns Poli-tikern einmal den Rat gegeben, über das, was wir sagen,tunlichst kein Protokoll zu verfassen und uns ja nichtschriftlich festzulegen; alles sei dann nachzulesen, allessei überprüfbar; alles werde irgendwann einmal heraus-gezogen; alles werde irgendwann einmal zitiert werden.Diesem Ratschlag wären die Sozialdemokraten in denletzten Jahren besser gefolgt. Sie hätten bei ihren Anträ-gen, Verlautbarungen und ihrer Koalitionsvereinbarungbesser darauf geachtet, daß man jetzt die Schubladeaufmachen und nachgucken kann, was da alles so ge-standen hat, was sie alles so gesagt haben.
Wir haben jetzt die seltene Gelegenheit, sozusagenschriftlich verbrieft, sozialdemokratischen Anspruch undsozialdemokratische Wirklichkeit – natürlich auch grü-ne; aber im wesentlichen geht es um sozialdemokrati-sche Wirklichkeit – miteinander vergleichen zu können.Vorweg, Herr Minister, sei gesagt: Sie machen es unsbeim Thema Wohnungs- und Städtebau wirklich leicht.Ich begreife die Wähler, die dieser Regierung die Stim-me gegeben haben und jetzt in der Ausnüchterungszellewach werden und ihren Kater beklagen.
Ich will das an drei Beispielen deutlich machen.Erstes Beispiel: Städtebauförderung. Meine Vor-rednerin hat die SPD-Abgeordnete Mertens zitiert. Of-fensichtlich gibt es einen Fundus an Möglichkeiten, dieKollegin zu zitieren. Ich will noch einen draufsetzen –ich zitiere –:Städtebauförderung ist eine Investition, die sich inbarer Münze auszahlt ... Eine Erhöhung der Städte-bauförderungsmittel ist eine wirklich kreative undkontrollierte Art, gute und beschäftigungswirksamePolitik zu machen.Dann beschimpfte sie die christlich-liberale Regierungund sagte:Sie bleiben zum Beispiel auch in diesem Jahr 98bei lächerlichen 80 Millionen DM für die altenBundesländer.
In der rotgrünen Koalitionsvereinbarung heißt es des-halb auch zu Recht: „Die Städtebauförderung wird ver-stärkt.“Mit diesem Wissen im Hinterkopf schlage ich denHaushaltsplan auf. Aber was finde ich in Kapitel 1225,Titelgruppe 1? 80 Millionen DM für die alten Länder,denselben Betrag wie 1998. Für die neuen Länder ist esübrigens auch bei 520 Millionen DM geblieben. Dannhabe ich mir einmal die Finanzplanung – sie ist nicht je-dem gegenwärtig – angesehen. Dort sind für die altenBundesländer für das Jahr 2000 80 Millionen DM, für2001 80 Millionen DM und für 2002 ebenfalls 80 Mil-lionen DM vorgesehen. Bei den neuen Bundesländernheißt es entsprechend: für 2000 520 Millionen DM, für2001 520 Millionen DM und für 2002 ebenfalls 520Millionen DM.
Eines kann aber nur richtig sein: Entweder waren un-sere früheren Ansätze so verkehrt nicht, oder das, wasSie hier sagen, sind reine Sprechblasen, ist bloß heißeLuft. Es hat sich herumgesprochen, daß man nichts dar-auf geben kann, was Sie seit Jahren fordern und vor derWahl versprochen haben. Herr Minister, wie nannten Sieso etwas soeben? – „Wunsch und Wolke“.Dann ist Ihnen flugs die Idee mit dem Programm„Soziale Stadt“ gekommen. Sie nennen das jetzt„Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf“. Dafürsetzen Sie 100 Millionen DM an. Bezeichneten Sie daseben nicht als Verstärkung, Frau Kollegin? Man mußnur einmal näher hinsehen, um die Luftnummer zu er-kennen.Erstens ist das Geld keine Verstärkung, wie Sie über-all verbreiten, sondern eine Verschiebung, was etwasanderes ist. Sie nehmen es aus dem von Ihnen bislang sovehement verteidigten sozialen Wohnungsbau, und zwarvon genau der Stelle, an der wir in den vergangenen Jah-ren 250 Millionen DM für Maßnahmen zur Beseitigungvon sozialen Brennpunkten vorgesehen hatten. Es istalso keine Verstärkung, sondern eine Verschiebung.Zweitens sieht der Haushaltsentwurf keinerlei Siche-rung dieses Ansatzes für die nächsten Jahre vor.Drittens werden Sie die Frage beantworten müssen,woher Sie dieses Geld nehmen werden, wenn Sie offen-
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sichtlich den sozialen Wohnungsbau in der bisherigenForm demnächst abschaffen wollen.Damit bin ich beim zweiten Beispiel, dem sozialenWohnungsbau. Auch hier möchte ich mit einem Zitatbeginnen. Der Kollege Dr. Rolf Niese, ein sehr netterKerl von den Sozialdemokraten, hat bei den Etatbera-tungen immer auf uns geschimpft. Bei der letzten Etat-beratung hat er bemängelt, daß die Mittel für den sozia-len Wohnungsbau nicht aufgestockt würden; vielmehrgehe die Förderung insgesamt sogar zurück. Dann hat erwörtlich gesagt:Dies ist die konsequente Fortsetzung einer Politik,die auf die Abschaffung des sozialen Wohnungs-baus zielt.Das sollte wahrscheinlich ein Vorwurf sein. Aber schau-en wir uns einmal im vorliegenden Etatentwurf die vonIhnen propagierte Steigerung an. Beim Blick in die rot-grüne Finanzplanung für den sozialen Wohnungsbau se-hen wir für 1999 1,1 Milliarden DM, für 2000 1,1 Milli-arden DM, für 2001 1,0 Milliarden DM und für 2002ebenfalls 1,0 Milliarden DM. Von einer Steigerung, wiesie von Ihnen immer lauthals verkündet wurde – Sie ha-ben immer auch entsprechende Anträge gestellt, gegendie wir jedesmal angekämpft haben –, kann also nichtdie Rede sein.Nun kann man zu der verkrusteten Förderung des so-zialen Wohnungsbaus in der Tat stehen, wie man will.Auch ich plädiere für eine Reform. Aber wer den Wäh-lern vor vier Monaten noch mit starken Worten kommt,muß sich heute an den eigenen Aussagen und früherenAnträgen messen lassen.
In Ihrer Koalitionsvereinbarung schreiben Sie: Eineumfassende Reform des Wohnungsbaurechts erscheintweiterhin dringend geboten. – Das ist ein Satz, der vonErkenntnis gezeichnet ist. Die Bundesregierung der 13.Wahlperiode strebte nicht nur eine solche umfassendeNeuregelung des Wohnungsbaurechtes an, sondern siehat auch einen konkreten Gesetzentwurf eingebracht.Daß es nicht mehr zu dieser Reform gekommen ist, lagan der Obstruktionspolitik des von der SPD geführtenBundesrats, der eine Verkoppelung dieses Themas mitder Reform des Wohngeldes herstellte. Jetzt ist IhreBundesregierung Gefangene dieser Verkoppelung. WeilSie bislang nicht einmal in Ansätzen eine Wohngeldno-velle hinbekommen, gibt es auch keine Reform des so-zialen Wohnungsbaus.
– Das sind auch wieder Versprechungen, Frau Kollegin.In der Politik ist es sicherlich erlaubt, den Rasen wach-sen zu hören, den man selbst gesät hat. Aber Sie sind janoch nicht einmal beim Einkaufen des Saatgutes.
Was Sie im Augenblick tun, ist eine Fortsetzung dessen,was Sie im Wahlkampf veranstaltet haben. Sie habenuns Sprechblasen, heiße Luft, haben uns Dinge vorge-setzt, die reine Versprechungen waren. Es hat sich nichtsdavon gehalten.In Richtung des Ministers, den ich in Nordrhein-Westfalen gut aufgehoben weiß, sage ich folgendes: Ichbin auf das Theater in Ihrem eigenen Parteilager ge-spannt, wenn Sie die Reform des sozialen Wohnungs-baus angehen. Ich habe mit Interesse zur Kenntnis ge-nommen, daß sich der nordrhein-westfälische Wirt-schaftsminister lauthals über die Mißstände im sozialenWohnungsbau geäußert hat, während der nordrhein-westfälische Wohnungsbauminister ebendiesem Mi-nister widersprochen hat. Wir werden ein großes Theatererleben; das kann heiter werden. Aber, Herr Minister,die Regierung ist eh für Ihren hohen Unterhaltungswertbekannt.
Herr Kollege Pütz-
hofen, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Ostrowski?
Aber selbstver-
ständlich, Frau Ostrowski. Bitte schön.
Vielen Dank, Herr
Pützhofen. – Sie sprachen vom Einkaufen des Saatgutes,
zu dem die neue Koalition noch nicht gekommen ist.
Geben Sie mir denn recht, daß die ehemalige Koalition
vier Jahre lang nicht zum Einkaufen des Saatgutes hin-
sichtlich des Wohngeldes gekommen ist?
– Jawohl, zehn Jahre.
Frau Kollegin, ich
habe vor zwei oder drei Tagen eine Pressemitteilung des
GdW bekommen, des Bundesverbandes deutscher Woh-
nungsunternehmen, den Sie gut kennen.
– Sie zitieren sie immer dann, wenn es Ihnen paßt. –
Dort steht, daß die von Oswald vorgelegte Wohngeld-
novelle mit 250 Millionen DM zum damaligen Zeit-
punkt immerhin ein Fortschritt gewesen sei und demje-
nigen, der ganz am Ende der Schlange stehe, ein ganz
klein bißchen mehr Geld in die Tasche gebracht habe.
Im Augenblick, Frau Kollegin, leben wir doch – da sind
Sie mit mir sicher der gleichen Meinung – ausschließ-
lich von Versprechungen.
Gestatten Sie, Herr
Kollege Pützhofen, eine Ergänzungsfrage?
Aber selbstver-ständlich.Dieter Pützhofen
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1690 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Ich lasse einmal diese
250 Millionen DM des ehemaligen Bauministers Herrn
Oswald weg. Erinnern Sie sich, daß, als Sie die Wahl
1994 gewonnen hatten, in Ihrer Koalitionsvereinbarung
nicht von einem „Tropfen“ von 250 Millionen DM die
Rede war, sondern von einer gesamtdeutschen Wohn-
geldreform? Die ist mit Sicherheit nicht mit 250 Millio-
nen DM zu machen. Darauf zielte meine erste Frage.
Haben Sie dann nicht vier Jahre lang das Einkaufen des
Saatgutes verabsäumt?
Es ist überhaupt
keine Frage, daß bei uns versucht wurde, im Haushalts-
bereich eine Möglichkeit zu schaffen, die Wohngeldno-
velle zu finanzieren. Das ist richtig. Dieselbe Situation
erkenne ich jetzt bei den Sozialdemokraten und den
Grünen. Aber wenn jemand in die Bundestagswahl mit
Versprechen hineingeht und uns jetzt nachdrücklich ver-
sichert, wegen dieser Versprechen seien sie alle gewählt
worden, muß er sich doch an diesen Versprechungen
messen lassen. Mehr habe ich nicht gesagt.
Wir sind beim Wohngeld. Hier darf ich die rotgrüne
Koalitionsvereinbarung zitieren: Das Wohngeld wird
„treffsicherer und familiengerechter gestaltet“.
Das ist ein bemerkenswerter Anspruch. Auch da se-
hen wir uns einmal die Wirklichkeit an. Für das Wohn-
geld sind 4,02 Milliarden DM veranschlagt worden. Das
ist nur ein rechnerisches Plus von 244 Millionen DM
gegenüber dem Ist-Ergebnis von 1998. Dieser geringfü-
gige Mehransatz berücksichtigt lediglich die steigende
Zahl der Wohngeldempfänger und bedeutet entgegen
der Koalitionsvereinbarung keine Verbesserung für die
Wohngeldempfänger selbst. Sie werden also keine Mark
mehr in der Tasche haben. Dann wird immer wieder ge-
sagt: Wir müssen die Bilanz machen, und wir stellen bei
der Bilanz fest, daß wir auf Grund der schlechten Bilanz
all das neu überprüfen müssen, was wir tun. – Das lasse
ich nicht gelten. Die Damen und Herren von der SPD
und den Grünen haben im Haushaltsausschuß über Jahre
hinweg an den Etatberatungen teilgenommen
– konstruktiv, Hans Georg –, haben jede Zahl gekannt
und wußten genau Bescheid. Wenn es innerhalb der
Fraktion keine Quermeldungen über diese Dinge gibt, ist
das nicht unsere Angelegenheit.
Der Verkehrs- und Bauminister hat offensichtlich den
Versuch unternommen – das hat soeben bereits die
Kollegin Rönsch gesagt –, für eine Wohngeldnovelle
Mehrausgaben in Höhe von 750 Millionen DM zu for-
dern. Ich weiß nicht, wer aus Ihrem Haus diesen
Wunsch beim Finanzminister vorgetragen hat. Er ist je-
denfalls rasiert wieder nach Hause gegangen.
Zum Thema Wohngeld wie überhaupt zu den woh-
nungspolitischen Titeln des Etats muß ich Ihnen aller-
dings ein Kompliment machen: Noch nie hat es eine Re-
gierung vor Ihnen geschafft, alle für den Wohnungsbau
relevanten Verbände, Städtetag, Mieterbund und die
Verbände der Wohnungswirtschaft, geschlossen und in
so kurzer Zeit gegen sich zu mobilisieren. Das muß
Ihnen erst einmal jemand nachmachen; das ist rekord-
verdächtig.
Die rotgrüne Koalition tritt mit dem Anspruch auf,
der Haushalt müsse auf Wachstums- und Beschäfti-
gungsförderung ausgerichtet sein. Man habe deshalb den
Investitionsanteil an den Ausgaben gesteigert.
Für den Bauetat – auch das hat die Kollegin Rönsch
bereits gesagt – gilt das Gegenteil: Die Investitionsquo-
te ist gesunken. Neben anderen Maßnahmen, zum Bei-
spiel der Einschränkung der Verrechnung bei Verlusten
aus Vermietung und Verpachtung – für mich ein un-
glaublicher Vertrauensbruch, falls das bedeutet, daß in
die Finanzierung laufender Baumaßnahmen eingegriffen
wird – oder der Streichung der Vorkostenpauschale bei
der Eigenheimförderung, wird sich die Senkung der In-
vestitionsquote besonders negativ auswirken.
Ich zitiere deshalb noch einmal den wohnungspoliti-
schen Sprecher der SPD in der letzten Wahlperiode. Er
kritisierte, das, was wir täten, seien „blumige Verspre-
chen“,
„mit schönen Zahlen“ würde etwas „vorgegaukelt“. Er
kam dann zu dem Ergebnis, daß ein Etatentwurf, der so
wenig vom Versprochenen halte – ich zitiere –, „ein Etat
des Wortbruchs, des Vertrauensbruchs, des fehlenden
Reformwillens“ sei. Dem ist im Hinblick auf den vor-
gelegten Etatentwurf nichts mehr hinzuzufügen.
Danke sehr.
Ich gebe dem Kol-
legen Dieter Maaß von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! An dieser Stelle hat vor zwei TagenFinanzminister Lafontaine den ersten Haushaltsentwurfder von Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünengetragenen Bundesregierung vorgestellt. Meine Beto-nung liegt auf „ersten Haushaltsentwurf“.Die ganze Richtung stimmt, war eine seiner Bemer-kungen, die ich zur Darstellung des Einzelplanes 12 fürden Baubereich ausdrücklich unterstreichen will. Alsgrundsätzliche Aussage ist zu bekräftigen, daß sich alleim Baubereich Agierenden – Baugesellschaften, Genos-senschaften, private Unternehmen sowie Eigenheimbau-er und vor allem die Bauindustrie – auf eine positiveWeiterentwicklung in diesem wichtigen Sektor unsererVolkswirtschaft und damit auf uns verlassen können.
Ich will mit dem Investitionsanteil beginnen und dazueinige Schwerpunkte nennen, wobei ich hinzufüge: Wirwürden gerne mehr tun, doch das, was wir von Ihnennach 16 Jahren verfehlter Finanzpolitik an Haushalts-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1691
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mitteln zur Verfügung haben, läßt leider nicht mehrSpielraum zu.
Zum ersten Schwerpunkt. Die Städtebaufördermit-tel liegen im Verpflichtungsrahmen; die Zahlen hat HerrPützhofen gerade genannt. Ich will aber darauf hinwei-sen – denn in seiner Seriosität hat Herr Pützhofen dieFortschreibung der Finanzplanung vorgelesen und damitalle Leute verwirrt –, Herr Pützhofen, daß die Fort-schreibung dieser Finanzplanung noch von der altenBundesregierung vorgenommen worden ist. Warten Sieeinmal ab, wie das aussieht, wenn wir weitere Haus-haltspläne vorlegen.
Ich bin wie Sie der Meinung, daß gerade die Finanz-mittel im Bereich der Städtebauförderung einen großenInvestitionsschub auslösen, der für den Erhalt und dieSchaffung von Arbeitsplätzen von großer Wichtigkeitist. Ich füge hinzu: Im weiteren Verlauf unserer Regie-rungszeit müssen diese Mittel weiter ansteigen.Alszweiter Schwerpunkt ist das Modernisierungspro-gramm Ost zu nennen. Die Mittel für die hier laufendenMaßnahmen, die von der Kreditanstalt für Wiederaufbauabgewickelt werden, erhöhen wir um 5 Mil-liarden DM auf 75 Milliarden DM. Das ermöglicht vorallem den Betrieben des Bau- und Ausbauhandwerkssowie den wohnungswirtschaftlichen Unternehmen,1999 dieses wichtige Programm ungeschmälert weiter-zuführen.
Für Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen istauch ein dritter Schwerpunkt wichtig, nämlich der so-ziale Wohnungsbau. Er wird von uns weitergeführt undgefördert. Er war unter der Regierung Kohl aufs höchstegefährdet. Die Kassenansätze liegen bei 2,5 MilliardenDM. Hinzu kommen die schon oft erwähnten 100 Mil-lionen DM für das Förderprogramm „Soziale Stadt“.Um den Ländern und Investoren Planungssicherheitzu geben, wird der Verpflichtungsrahmen mit 1,1 Mil-liarden DM im Haushalt 1999 ausgewiesen. Davon sind690 Millionen DM für die alten und 410 Millionen DMfür die neuen Bundesländer vorgesehen. Die von unsgetragene Bundesregierung wird darauf achten, daßdiese Mittel noch effizienter und zielgerichteter einge-setzt werden.„Bezahlbare Wohnungen und lebenswerte Städte“ –so lautet die Überschrift in der Koalitionsvereinbarungder von uns getragenen Bundesregierung. Hier sind inelf Punkten unsere politischen Absichten festgeschrie-ben. Unter Punkt 2 ist festgehalten, daß wir uns alsWohnungspolitiker des Bundes auch um Probleme derStädte kümmern müssen. Mit „Soziale Stadt“ wollenwir das Programm bezeichnen, mit dem den Kommunengeholfen werden soll, negativen Entwicklungen inInnenstädten, Großraumsiedlungen und Stadtteilen ent-gegenzuwirken. Wir werden ein Programm auflegen, indem investive und nicht investive Maßnahmen kombi-niert und integriert werden.
Unsere europäischen Nachbarn haben gute Erfah-rungen mit solchen Programmen, die besonders fürStadtteile mit hoher Jugendarbeitslosigkeit, städtebau-lichen und wirtschaftlichen Problemen sowie hoherGewaltbereitschaft notwendig sind. Einzelprojekte hel-fen häufig nicht mehr weiter. Aus diesem Grund ist füruns das Programm „Soziale Stadt“ von großer Bedeu-tung.
Sozialdemokraten und Grüne haben im Wahlkampfversprochen, daß es in unserem Land wieder sozial ge-rechter zugehen soll. Deshalb ist es unerläßlich, an die-ser Stelle – wie andere Redner es auch getan haben – dasThema Wohngeld anzusprechen, weil es ein Teil unse-rer Sozialpolitik ist. Ich will noch einmal die Zahlenverdeutlichen: Der Haushaltsansatz steigt von 3,78 Mil-liarden DM inklusive 280 Millionen DM überplanmäßi-ger Ausgaben im Jahre 1998 auf 4,02 Milliarden DM1999. Darin sind 120 Millionen DM für die Verlänge-rung des Sonderwohngelds Ost enthalten.Seit vielen Jahren reden wir davon, daß die Kriterienfür die Auszahlung des Wohngeldes reformiert werdenmüssen. Die Einkommensentwicklung der Betroffenenmuß dabei stärker berücksichtigt werden. Auch einefinanzielle Aufstockung muß erfolgen. Gerade wir ha-ben diese Reform stets nachdrücklich gefordert. Darumwill ich an dieser Stelle die politische Aussage bekräf-tigen: Wir werden unsere Regierung drängen, noch indiesem Jahr einen Gesetzentwurf vorzulegen, derGrundlage für eine ausreichende parlamentarische Be-ratung ist.
Aber eines tun wir nicht, nämlich dieses schwierigeThema übers Knie zu brechen und dabei handwerklicheFehler zu machen. Dies haben Sie uns ja gerade bei derUmsetzung unserer Wahlversprechungen wie der Steuer-reform, des Kündigungsschutzes und eines Solidaritäts-gesetzes für die gesetzliche Krankenversicherung usw.usw. oft genug vorgeworfen. Die Wohngeldreform ma-chen wir gut und in Ruhe.
Einen ersten Schritt dazu haben wir mit einem Frak-tionsbeschluß getan, in dem sich die Fraktion eindeutigfür eine Wohngeldnovelle ausspricht, die auf Grund derUntätigkeit der letzten Bundesregierung bisher nicht zu-stande gekommen ist.Einen zweiten Schritt haben wir ebenfalls mit unse-rem Antrag zum Steuerentlastungsgesetz in der Aus-schußsitzung am vergangenen Mittwoch getan. Sie,meine Damen und Herren von der Opposition, haben esabgelehnt, fast 500 Millionen DM für die Wohngeld-Dieter Maaß
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1692 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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reform zu sichern. Sie setzen damit nahtlos die falschePolitik der vergangenen Jahre fort.
– Frau Höll, Sie können nachher eine Kurzinterventionmachen.Meine Damen und Herren, wir werden in den kom-menden Monaten zeigen, daß wir Wort halten und einePolitik umsetzen, die an der Aussage der Koalitionsver-einbarungen orientiert ist.Schönen Dank.
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Bartholomäus Kalb, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den Zahlendes Verkehrsbereichs spiegeln sich ganz wesentlich dieBereitschaft und die Anstrengungen – oder auch diemangelnden Anstrengungen – des Bundes wider, die In-frastruktur unseres Landes zu verbessern. Die Ausstat-tung mit guter Infrastruktur ist für viele Regionen dieSchlüsselfrage für die wirtschaftliche Entwicklung undfür deren Zukunftschancen schlechthin.Leider hat die Bundesregierung den Verkehrsetat unddie Investitionen effektiv nicht erhöht, sondern zurück-gefahren. Wenn die Bundesregierung und Sie, HerrKollege Schmidt, behaupten, der Investitionsanteil imEinzelplan 12 sei erhöht worden, so ist das doch nurdarauf zurückzuführen, daß Sie den Ansatz für Zinsenfür die Schulden des Bundeseisenbahnvermögens inHöhe von über 5 Milliarden DM aus dem Einzelplanherausgenommen haben, aber nicht, wie Sie behauptethaben, auch die Tilgungsleistungen. Die Tilgungslei-stungen sind nämlich im Einzelplan geblieben, weil derBundesverkehrsminister sonst offensichtlich etwas zuschlecht ausgesehen hätte, wenn der Etat optisch so weitabgesunken wäre.Es kommt aber nicht auf buchungstechnische Vor-gänge an, es kommt nicht darauf an, was Tricks bewir-ken. Vielmehr kommt es darauf an, was am Ende anInvestitionen wirklich geleistet werden kann. Wir brau-chen aber Investitionen, um strukturschwachen Regio-nen Entwicklungschancen zu eröffnen und das Verkehrs-aufkommen der Zukunft bewältigen zu können.Herr Bundesminister, ich habe eine Reihe Ihrer Inter-views anläßlich Ihres Amtsantrittes wie auch Ihre Redeim Rahmen der Debatte über die Regierungserklärungaufmerksam gelesen. Auch Ihrer heutigen Rede habe ichaufmerksam zugehört.
Ich sage ganz klar: Erfreulich offen, realistisch, ideolo-giefrei nehmen und nahmen Sie zu den verkehrspoliti-schen Herausforderungen Stellung. Wie schon Ihre Vor-gänger weisen Sie auf das enorme und nicht zu vermei-dende Verkehrswachstum hin, das sich durch den Weg-fall von Blockgrenzen im zusammenwachsenden Euro-pa, nicht zuletzt durch die geplante EU-Osterweiterungfür Deutschland ergeben wird.Wir sind uns einig: Um das künftige Verkehrsauf-kommen bewältigen zu können, werden alle Verkehrs-träger ihren optimalen Beitrag leisten müssen. Insoweitsetzen Sie inhaltlich die Politik der alten Regierung fort,aber leider Gottes mit verminderten Mitteln.
Eine Vorlage, die kürzlich dem Haushaltsausschußzugeleitet worden ist, belegt, daß sich die Bahnreformbewährt hat. Ich stimme dem voll zu, was Sie zu denaktuellen Problemen und Unglücksfällen der Bahn ge-sagt haben. Gleichwohl muß die Wettbewerbsfähigkeitder Bahn weiter gestärkt werden.
Dazu sind viele Einzelmaßnahmen notwendig. Notwen-dig sind sicherlich auch weitere große Investitionen derDeutschen Bahn AG und des Bundes in rollendes Mate-rial, Knotenpunkte und Schienenwege. Es geht abernicht an, Herr Kollege Schmidt, daß diejenigen, die im-mer flammende Reden und Lippenbekenntnisse zugun-sten der Bahn ablegen und leidenschaftlich gegen dasAuto zu Felde ziehen,
die ersten sind, die mit Unterstützung gerade aus IhrenReihen neue Investitionen in Schienenwege verhindern,gegen diese Investitionen protestieren und sie verzögern.
Das gleiche gilt im übrigen auch für die Binnenwas-serstraßen. Ohne leistungsfähige Binnenschiffahrt wirddas Gütertransportaufkommen in Zukunft nicht zu be-wältigen sein. Dazu müssen auch die Bedingungen fürdie Schiffahrt verbessert werden. Sie, Herr Bundesmini-ster, haben das auch hier sehr deutlich gemacht.Ohne näher auf einzelne Projekte eingehen zu wollen,darf ich erwähnen, daß ich die Antwort zum ThemaDonauausbau, wie sie Herr Staatssekretär Ibrügger aufmeine Frage hin am 9. Dezember 1998 in diesem Hausgegeben hat, für sehr sachgerecht halte. Wenn man Ver-antwortungsbewußtsein an den Tag legt, kann man hierbeim Stand der Dinge auch keine andere Auskunft ge-ben.Der Straßenbaubericht, wie er uns vor kurzem zuge-leitet wurde, belegt, daß mehr als 81 Prozent des indivi-duellen Personenverkehrs, 8 Prozent des öffentlichenPersonenverkehrs und über 67 Prozent des Güterver-kehrs auf den Straßen und Autobahnen abgewickeltwerden – mit stark steigender Tendenz. Es macht keinenDieter Maaß
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Sinn, die tatsächlichen Verhältnisse leugnen zu wollen.Auch der Bundesminister hat sich wiederholt in diesemSinne geäußert. Um so bedauerlicher ist es, daß nachdem Entwurf die Mittel für den Fernstraßenbau nichtnur um 25 Millionen DM, wie auf den ersten Blick zuersehen, sondern durch das Streichen von Deckungs-vermerken um mindestens 200 bis 250 Millionen DMgekürzt werden.Dabei sollen die Mittel für die VDE-Projekte und dieInvestitionen in den neuen Ländern in gleicher Höhe wiein der Vergangenheit fortgeschrieben werden. Die neuenLänder brauchen dringend leistungsfähige Verkehrs-adern wie zum Beispiel die A 9, die A 2, die A 15, dieA 20 oder die Verbindung Dresden – Prag, um nur eini-ge zu nennen.
Um so erstaunlicher ist es, wer sich alles aufgerufenfühlt – bis hin zur Einschaltung europäischer Institutio-nen –, Investitionen und damit wirtschaftlichen Auf-schwung zu verhindern.
Die Kürzung der Mittel für den Fernstraßenbau beigleichzeitiger Aufrechterhaltung der Priorität für dieMaßnahmen in den neuen Ländern bedeutet aber, daß inden alten Bundesländern keine einzige neue Maßnahmebegonnen werden kann. Das bedeutet Stillstand im We-sten, keine Hoffnung auf Entlastung durch Umgehungs-straßen und keine Hoffnung auf überregionalen An-schluß für periphere Wirtschaftsräume.
Da brauchen sich zum Beispiel auch Ihre Parteifreundein Altötting und Burghausen nicht mehr mit der SPD imBayerischen Landtag über die Trassenführung zu strei-ten, weil einfach mangels Geld nichts mehr geht.Sie kürzen die Straßenbaumittel zur gleichen Zeit, inder Sie die Autofahrer, insbesondere die Menschen imländlichen Raum, die als Arbeitnehmer aufs Auto ange-wiesen sind, mit einer kräftigen Mineralölsteuererhö-hung zur Kasse bitten.
Die Wahrheit ist ja, daß Sie keine ökologische undschon gar keine soziale Steuerreform durchführen, son-dern schlicht und einfach eine Erhöhung der Mineral-ölsteuer vornehmen und eine Stromsteuer einführen.
So belegt das der Einzelplan 60, in dem in der Titel-gruppe 01 „Veränderungen auf Grund steuerlicher Maß-nahmen“ die einzelnen Titel ausgewiesen sind: Dereine heißt „Änderung der Mineralölsteuer“ und der neueTitel 046 12 „Einführung Stromsteuer“. Dies und nichtsanderes haben Sie vor.
Diese Bundesregierung hat für so viele schöne DingeGeld bzw. beschafft es sich. Sie hat aber nur nicht dasGeld für das Notwendigste. Sie kassieren den Autofah-rer ab, verweigern sich aber, einen angemessenen Anteildieses Steueraufkommens in den Ausbau der Verkehrs-wege zu stecken. Gleichzeitig benachteiligen Sie den öf-fentlichen Personennahverkehr durch die sogenannteÖkosteuer. Sie haben zwar in den jüngsten Änderungenvorgesehen, den Bahnbetriebsstrom günstiger zu stellen,nicht jedoch die Kraftstoffe. Im ländlichen Raum – dassollten auch Sie wissen, Herr Schmidt – stützt sich derÖPNV überwiegend bis ausschließlich auf Buslinien;auch die meisten Strecken des schienengebundenen Per-sonennahverkehrs – soweit vorhanden – werden mitDieselloks bedient.Ich will gar nicht bestreiten, daß es aus bekanntenGründen schon in den zurückliegenden Jahren schwierigwar, den Verkehrsetat den Erfordernissen entsprechendauszustatten. Die neue Bundesregierung verstärkt aberweiter den konsumtiven Anteil am Gesamtetat, währendder investive Anteil weiter zurückgefahren wird. Wirsollten uns in den Haushaltsberatungen gemeinsam be-mühen, die Investitionen zu stärken, insbesondere dieMittelausstattung für den Fernstraßenbau zu verbessernund die Kürzungen rückgängig zu machen.
Sie selber, Herr Bundesminister, haben darauf hinge-wiesen, daß der Bundesverkehrswegeplan erheblich un-terfinanziert sei. Als langjähriger Haushälter weiß auchich um die engen finanziellen Handlungsspielräume.Wir sollten deshalb gemeinsam nachdenken und An-strengungen unternehmen, die Mittel für den Fernstra-ßenbau in künftigen Jahren deutlich zu erhöhen.Ich möchte einen Vorschlag machen: Wir haben imZuge der Bahnprivatisierung im sogenannten Regionali-sierungsgesetz festgelegt, daß den Bundesländern fürdie Aufrechterhaltung des Schienenpersonennahverkehrsdie Mittel pauschal zugewiesen werden. Im Einzelplan60 sind dafür mittlerweile exakt 12,35 Milliarden DMausgewiesen.
Objektiv wird man feststellen müssen: Damit sind dieLänder gut bedient. Mit diesem Geld lassen sich vielewichtige und schöne Strecken finanzieren. Aber nichtimmer werden die Mittel effizient eingesetzt. Manchmalwerden relativ wenig Fahrgäste und statt dessen vielwarme Luft durch die Gegend gefahren.Es gibt eine Revisionsklausel, die spätestens im Jahre2001 – eigentlich müßte sie schon jetzt greifen – zurAnwendung kommen soll. Wir haben das vorhin er-wähnte Wibera-Gutachten, das besagt, daß mit einemAufwand von rund 7,6 bis 7,9 Milliarden DM der Um-fang der Nahverkehrsleistung erbracht werden kann, wieer Gegenstand der Vereinbarung mit den Ländern ist.Nun weiß auch ich, daß sich sehr schnell ein Besitz-standsdenken herausbildet und daß Länder Geld, das sieeinmal bekommen haben, nicht mehr hergeben wollen.Also muß man mit ihnen Gespräche und Verhandlungenführen.Bartholomäus Kalb
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Gleichzeitig haben aber alle Länder größtes Interessean der Verwirklichung von Fernstraßenprojekten. Alslangjähriger Berichterstatter für den Verkehrsetat sindmir die Forderungen bekannt. Sie reichen von Schles-wig-Holstein – ich nenne das Stichwort Bad Bramstedt –und Mecklenburg-Vorpommern bis Bayern und Baden-Württemberg, von der Anbindung der Insel Rügen biszur A 94. Ich schlage deshalb vor: Treten Sie in Ver-handlungen und Gespräche mit den Ländern ein! Mankann sicher nichts übers Knie brechen. Aber es müßtedoch möglich sein, in den nächsten Jahren einen Betragvon rund 2 Milliarden DM zugunsten des Straßenbausumzuschichten.
Allerdings werden die Länder nur mitmachen können,wenn es dafür verbindliche Festlegungen gibt.
Wenn wir in den nächsten Jahren nicht zu einer kräf-tigen Verstärkung der Fernstraßenbaumittel kommen,wird im Westen beim Neubau praktisch nichts, aberauch gar nichts mehr gehen. Ich will mit diesem Vor-schlag einen konstruktiven Beitrag leisten.Ich danke Ihnen.
Ich gebe das Wort
zu einer Kurzintervention der Kollegin Barbara Höll.
Herr Präsident! Sehr ge-
ehrter Herr Kollege Maaß, ich möchte Sie und alle ande-
ren Damen und Herren der Regierungskoalition und
auch der Regierung ansprechen. Es ist mir gerade in die-
ser Woche und auch bei Ihrer Rede sehr negativ aufge-
fallen, daß Sie in Ihrer Ausdrucksweise äußerst unkor-
rekt sind. Unkorrektheit in diesem Bereich trägt nicht
gerade zur politischen Offenheit und damit zur politi-
schen Meinungsbildung bei.
Wenn Sie nur von der Opposition sprechen und der
Opposition vorhalten, was sie getan oder nicht getan hat,
vereinnahmen Sie damit automatisch die PDS. Ich muß
sagen, wir sind damit nicht einverstanden und wehren
uns vehement dagegen, weil Sie uns mit dieser allge-
meinen Äußerung ständig an die Seite der CDU/CSU
und der F.D.P. stellen,
was diese selbst nicht und wir noch weniger wollen.
Seit dem 27. September des vergangenen Jahres hat
sich im demokratischen Gefüge einiges verändert. Es
gab Wechsel von der Regierung in die Opposition und
umgekehrt. Wir waren in der 12. und 13. Legislaturpe-
riode in der Opposition und sind es noch in dieser
Wahlperiode, in der wir den qualitativen Sprung von der
Gruppe zur Fraktion geschafft haben. Aber wir haben
nie die Politik der alten Koalition unterstützt.
Im Zusammenhang mit der Diskussion um das
Wohngeld wissen Sie, daß wir in der 12. und 13. Legis-
laturperiode stets für eine gesamtdeutsche Wohngeldre-
form eingetreten sind. Die Unterschiede sind auch an
vielen anderen Beispielen nachweisbar.
Ich möchte Sie daher bitten: Werden Sie in Ihrer
Ausdrucksweise korrekter, ob es Ihnen gefällt oder
nicht. Auch auf der linken Seite des Hauses gibt es eine
Opposition. Wenn Sie die Opposition ansprechen, unter-
scheiden Sie bitte zwischen der Opposition auf der lin-
ken und auf der rechten Seite des Hauses! Dann besteht
mehr Klarheit in der Diskussion.
Danke.
Das Wort zu einerweiteren Kurzintervention hat der Kollege AlbertSchmidt.Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Lieber Herr Kollege Kalb, alles, was rechtist: Das, was Sie gerade vorgetragen haben, muß in zweioder drei Punkten doch eine leichte Korrektur erfahren.Wer Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre selbergnadenlos die Mineralölsteuer um 30 und mehr Pfenni-ge erhöht hat,
ohne gleichzeitig für eine Entlastung bei den Sozialab-gaben und damit für eine Entlastung der Unternehmenund der Beschäftigten zu sorgen, der ist nicht glaubwür-dig, wenn er jetzt eine maßvolle Mineralölsteuererhö-hung um 6 Pfennig, die Pfennig für Pfennig über höhereNettolöhne in die Taschen der Beschäftigten und in dieLohnkassen der Unternehmen zurückgegeben wird, kri-tisiert. Dieses Argument können Sie sich ein für allemalabschminken. Das stinkt zum Himmel.
Zweitens. Herr Kollege Kalb, Sie haben mehr recht,wenn Sie darauf hinweisen, daß gerade im ländlichenRaum der öffentliche Verkehr sehr häufig über diesel-getriebene Busse abgewickelt wird und abgewickeltwerden muß, weil nicht überall eine Bahnstrecke seinkann. Sie haben auch auf die Dieseltraktion auf derSchiene hingewiesen. Das ist völlig richtig. Aber ich sa-ge Ihnen: Hier halten wir – und nicht nur wir, sondernauch der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen, derDachverband der Nahverkehrsunternehmen – die maß-volle Mineralölsteuererhöhung allein deshalb für ver-kraftbar, weil der reale Verfall des Preises des Mineral-öls als Grundstoff im letzten Jahr so dramatisch war, daßjetzt noch nicht einmal die reale Senkung bei den Ener-giekosten durch die Ökosteuer kompensiert wird,
Bartholomäus Kalb
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gleichzeitig aber in den Lohnkassen der Verkehrsbetrie-be über die Senkung der Sozialbeiträge eine Entlastungerfolgt.Dritter und letzter Punkt – das ist das schlimmste ge-wesen –: Sie haben nicht mehr und nicht weniger gesagt,als daß Sie dafür plädieren, die Regionalisierungsmit-tel, die der Bund an alle Länder, von der Waterkant bisBerchtesgaden, ausreicht, um 2 Milliarden DM zu kür-zen und in den Straßenbau zu stecken. Das war der KernIhrer Aussage. Ich fordere Sie auf, Herr Kollege Kalb:Wenn Sie das ernst meinen, dann stellen Sie einen An-trag. Ich bin sehr gespannt, was Ihnen am nächsten Tagder Kollege Kajo Schommer aus Sachsen und Herr Wies-heu aus Bayern erzählen werden, wenn ihnen plötzlichder entsprechende Anteil der Regionalisierungsmittel fürden Allgäu-Schwaben-Takt oder den Bayern-Takt in derKasse fehlt. Da wünsche ich Ihnen viel Vergnügen. Ichfreue mich dann darauf, zu erfahren, was Ihnen HerrWiesheu dann schreiben wird. Wunderbar!
Herr Kollege Maaß,
sind Sie einverstanden, wenn der Kollege Kalb jetzt erst
einmal dem Kollegen Schmidt antwortet? Ich gebe Ih-
nen dann das Wort zur Erwiderung auf die Kurzinter-
vention von Frau Höll.
Bitte schön.
Herr Kollege
Schmidt, erstens ist unbestritten, daß es auch während
unserer Zeit Mineralölsteuererhöhungen gegeben hat.
Aber wir haben das nicht blumig und wolkig, um diese
Sprache aufzugreifen, mit ökologischer und sozialer
Steuerreform verbrämt.
Was Sie machen, ist schlicht und einfach abkassieren.
Man könnte das auch anders bezeichnen. Wir haben au-
ßerdem im Interesse der gewünschten Mobilität der Ar-
beitnehmer im ländlichen Raum die Kilometerpauschale
angehoben.
Wenn Sie Ihre Schritte damit begründen, daß die Mi-
neralölpreise gesunken sind, möchte ich Sie zweitens
fragen: Was wollen Sie tun, wenn sich der Weltmarkt
wieder verändert? Wollen Sie dann die Steuererhöhun-
gen wieder zurückführen?
Drittens will ich Sie nur darauf hinweisen, daß wir
kraft Gesetzes – in Verfolg des § 6 des Regionalisie-
rungsgesetzes – gezwungen sind,
die Revisionsklausel anzuwenden.
Hier muß sowieso in Gespräche eingetreten werden.
Deshalb hat die Bundesregierung bereits im letzten Jahr
das Wibera-Gutachten erstellen lassen, um den Nach-
weis führen zu können, welche Nahverkehrsleistungen
auch in Zukunft zu Lasten des Bundeshaushalts erbracht
werden müssen und welche nicht.
Ich könnte mir sehr wohl vorstellen, daß sich die
Länder, wenn man mit ihnen in ein faires Gespräch ein-
tritt und wenn man zu einer fairen und klaren Vereinba-
rung kommt, überlegen werden, ob sie die eine oder an-
dere ineffiziente Streckenbedienung aufrechterhalten
wollen oder ob sie nicht vielleicht mehr Interesse daran
haben, die eine oder andere Investitionsmaßnahme
durchzuführen,
weil sie nicht automatisch davon ausgehen können – das
sage ich jetzt einmal, obwohl ich mir nicht die Gedan-
ken der Bundesregierung machen müßte –, daß der Bund
die Mittel ohne jegliche Rechtsgrundlage in diesem Be-
reich unkritisch auch in der Zukunft wird gewähren
können. Hier wird man vernünftigerweise in offene, fai-
re Gespräche und Verhandlungen mit allen Ländern
eintreten müssen. Ich bin sicher, daß man dann auch zu
vernünftigen Ergebnissen kommt.
Nun der Kollege
Maaß.
Schönen Dank, Herr
Präsident.
Frau Höll, ich möchte zwei Dinge auf die Ausführun-
gen erwidern, die Sie in Ihrer Kurzintervention gemacht
haben. Erstens einmal steht fest, daß Sie Opposition
sind. Wenn ich im Rahmen eines Sachvortrages die Op-
position angreife, weil sie, als sie noch in der Regierung
war, falsche Entscheidungen getroffen hat, können Sie
nicht gemeint sein. Wenn Sie aber, wie durch Frau
Ostrowski, meine Regierung kritisieren und ich auf die-
se Kritik in allgemeiner Form antworte, dann meine ich,
daß ich zu Recht von „der Opposition“ sprechen kann.
Liebe Kolleginnenund Kollegen, jetzt wissen wir es ganz genau.Nun gebe ich das Wort der Kollegin Franziska Eich-städt-Bohlig von Bündnis 90/Die Grünen.
Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister! Ich muß sagen,daß mich die Diskussion ein wenig irritiert oder fastlangweilt. Ich gehe jetzt an Hand der Reihenfolge derRednerinnen und Redner der Opposition vor. FrauRönsch: Wo ist mehr Geld? Herr Friedrich: Wo ist mehrGeld? Frau Ostrowski von der anderen Seite: Wo istmehr Geld? Herr Pützhofen, Herr Kalb: Immer wiederdieselbe Leier. Es tut mir leid; ich muß zumindest fürden einen Teil der Opposition sagen – das sage ich be-wußt nicht an die Adresse des anderen Teils –: WoAlbert Schmidt
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bleibt eigentlich Ihre Sehnsucht nach dem schlankenStaat? Diese Frage drängt sich auf, wenn Sie hier wirk-lich nichts anderes als den Ruf nach mehr Staatsknetebringen. Ich bin es echt leid.
Mein Verständnis von Politik ist, daß unsere Aufgabegerade darin besteht, mit vorhandenen Mitteln kreativeBau- und Verkehrspolitik zu machen. Ich möchte dazuetwas sagen und nicht ständig zu der Frage Stellungnehmen: Wer hat wo mehr Geld?Herr Pützhofen, Sie haben völlig recht. Das Volumender Mittel für den Wohnungsbau und für die Förderpro-gramme bewegt sich in der Höhe des Volumens der vo-rigen Haushalte – nicht mehr und nicht weniger. Wirgehören zu den Leuten, die so viel Realitätssinn haben,daß sie wissen: Wo nicht mehr Geld vorhanden ist, kannauch nicht mehr Geld verteilt werden.
Gestatten Sie den-
noch eine Zwischenfrage des Kollegen Pützhofen?
Frau Kollegin, sind
Sie denn bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich nicht
gesagt habe, daß wir mehr Geld wollen, sondern daß ich
gesagt habe, Sie haben mehr Geld versprochen, und daß
wir danach gefragt haben, wo denn das Geld, das Sie
versprochen haben, nunmehr ist?
meine Fraktion muß ich ganz deutlich sagen, daß wir
den Vorwurf „Mehr versprochen als gehalten“ entschie-
den zurückweisen müssen. Das muß ich wirklich deut-
lich sagen. Wir haben weder in den letzten vier Jahren
der Oppositionsarbeit noch im Wahlkampf irgend je-
mandem versprochen, wir könnten die Probleme der
Wohnungspolitik mit dem goldenen Füllhorn lösen. Sie
wissen ganz genau, daß wir keine ungedeckten Aufstok-
kungsanträge in den Haushaltsberatungen der letzten
Jahre gestellt haben. Ich weiß, in Ihrem Beitrag haben
Sie die Nuancen etwas anders gesetzt als die Kollegen;
ich habe da sehr genau hingehört. Aber ich finde es
schon ein wenig merkwürdig, in den Elefantenrunden
immer nach Haushaltskonsolidierung und Steuersen-
kung zu rufen und dann in den Einzelplanberatungen
immer mehr Haushaltsmittel zu fordern. Das ist auch ein
Problem Ihrer Kolleginnen und Kollegen.
Mit der PDS verhält es sich ein bißchen anders. Aber
das wäre dann eine andere Diskussion. Die PDS fordert
so oder so immer mehr Geld. Das brauchen wir, glaube
ich, hier nicht zu diskutieren.
Zur Geschäftslagemöchte ich folgendes sagen: Ich kann niemandem dasRecht beschneiden, eine Frage zu stellen, auch nicht dasRecht des Redners, eine Frage zuzulassen. Ich muß aberdarauf hinweisen, daß drei Fraktionen beantragt haben,die Sitzung des Bundestages um 17.15 Uhr zu unterbre-chen. Das gebe ich mit Blick auf die nachfolgendenRedner zu bedenken.Nun frage ich Sie: Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
wirklich sehr wichtig ist, ja. Andernfalls, denke ich, ha-ben wir noch dreieinhalb Jahre Zeit, über dieses Themazu diskutieren. Insofern wäre es toll, wenn Sie auf IhreZwischenfrage verzichteten.
– Verzichten Sie doch einmal.Ich möchte noch ein paar Takte zur Wohnungspoli-tik sagen. Wir haben folgendes Problem – es ist schade,daß Frau Rönsch nicht mehr anwesend ist; denn sie stelltdas immer am besten dar –: Es besteht zwar einerseits inden oberen Marktsegmenten ein Überangebot an Woh-nungen. Aber andererseits haben wir einen großen Man-gel an preiswertem Wohnraum, Mietsteigerungen imBestand weit über die Inflationsraten hinaus und viel zuhohe Wohnkostenbelastungen gerade für die Haushaltemit niedrigem Einkommen.
– Ja, wir haben sogar Leerstände, Herr Kansy. Das wür-de ich nie bestreiten. Ich gehöre zu den Menschen mitetwas entwickeltem Realitätssinn.Die Angebotsausweitung der letzten Jahre, auf die Sieso stolz sind, nützt überwiegend den Haushalten mitmittlerem und besserem Einkommen und nicht denHaushalten mit einem kleinen Einkommen. – Sie solltensich einmal ernsthaft klarmachen, was das sozialpoli-tisch bedeutet. – Gleichzeitig sind Sie so sagenhaft stolzdarauf, daß Sie diese Politik durch wirklich immenseSteuersubventionen erkauft haben, die sich keine Re-gierung und keine Fraktion weiterhin leisten können, diees ernst meinen mit dem Thema Steuerentlastung. Wirmeinen es ernst, allerdings in verantwortbaren Propor-tionen und nicht einfach so als Lottospiel, wie Sie das inder letzten Legislaturperiode tun wollten.
Franziska Eichstädt-Bohlig
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Darum sollten Sie Ihre Krokodilstränen über eine zugeringe Wohnungsbauförderung, zu geringe Städte-bauförderung und ein zu niedriges Wohngeld trocknen.Sie haben Ihre Bau- und Wohnungspolitik 16 Jahre langhauptsächlich über das teuerste und gleichzeitig ineffizi-enteste Instrument, das es gibt, betrieben, nämlich übereine Steuerpolitik aus der Gießkanne.
Unser Problem ist, daß wir das jetzt revidieren müssen.Das ist eine ganz schwere Hypothek, zu der Sie endlicheinmal ernsthaft stehen sollten, anstatt sie noch immerschönzureden.Sie haben die Haushalte letztlich in eine Situationgetrieben, in der es heute tatsächlich nur noch minimaleinvestive Handlungsmöglichkeiten gibt und in der dieöffentlichen Haushalte und Einnahmen in den nächstenJahren überhaupt erst einmal mühselig konsolidiert undwiederaufgebaut werden müssen, damit wir uns in derHaushaltspolitik wieder der Bewältigung der wichtigensozialen Aufgaben stellen können.Darum lassen Sie uns ehrlich sein. Wir stehen vordem Problem, daß wir das Subventionsvolumen für denWohnungsbau nicht steigern können – ich sehe das ganznüchtern – und daß wir gleichzeitig neue und zusätzlicheAufgaben bewältigen müssen. Das Stichwort Wohngeldist ja schon zur Genüge gefallen.Wenn wir neue investive Handlungsspielräume zumBeispiel in der Bestandsförderung eröffnen wollen undwenn wir die erforderlichen Mittel für die Wohngeldre-form aufbringen wollen, die alle Seiten für nötig halten,dann müssen wir zum Abbau von Subventionen an an-derer Stelle bereit sein. Angesichts dessen bitte ich alleBeteiligten – von welcher Seite sie auch kommen – end-lich um mehr Ehrlichkeit und den Mut, sich daran zubeteiligen. Denn anders werden wir die Probleme nichtgelöst bekommen. Ich bin gespannt, inwieweit Sie mit-arbeiten, wenn Sie jetzt im Bundesrat beispielsweisebeim Thema Wohngeld mitbestimmen. Ihre Mitarbeitwird nötig sein.Ich möchte noch einen weiteren Punkt ansprechen:Wenn wir die Familien entlasten wollen – nach demKarlsruher Beschluß müssen wir sie ja entlasten – undentsprechend umverteilen müssen, dann kann das nurbedeuten, daß die Subventionen für die Immobilienwirt-schaft nicht auf dem jetzigen Niveau bleiben können.Auch hier bitte ich darum, den Mut zu haben, die not-wendigen Schnitte verantwortungsvoll, sozial sowiebau- und investitionswirtschaftlich mit Augenmaßdurchzuführen und hier nicht ständig Geld einfach sohin- und herzuschieben, als wäre das verantwortungs-volle Politik. Denn das ist wirklich keine Lösung.
Von daher mein Fazit: Wir sehen den zunehmendenAufgaben bei weniger Mitteln durchaus offen ins Auge.Ohne den Mut zu Reformen, aber auch ohne den Mut zuunpopulären Einschnitten wird es nicht gehen, den so-zialen Auftrag der Wohnungspolitik langfristig zu er-füllen. Deswegen ist unsere erste Hauptaufgabe, dieRahmenbedingungen in der steuerlichen Förderung zuklären, um uns dann den weiteren Aufgaben im sozialenWohnungsbau, im Städtebau, bei der Schaffung der so-zialen Stadt und beim Wohngeld zu stellen.Wir stehen für eine kreative Bau- und Wohnungspo-litik mit den gegebenen Mitteln. Ich denke, wir werdendas schaffen. Wir wünschen uns, daß Sie als Oppositiondazu Ihren Beitrag leisten.
Ich gebe das Wort
der Kollegin Annette Faße, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Wir sind angetreten, um nach16 Jahren Kohl, Wissmann und Co. endlich eine unterwirtschaftlichen und umweltpolitischen Aspekten sinn-volle und verträgliche Verkehrspolitik auf den Weg zubringen. Dieses Ziel werden wir Stück für Stück solide,konsequent und mit der Ehrlichkeit, die bisher gefehlthat, verfolgen.
Es gilt, die Mobilität für heute und morgen zu si-chern. Ein wesentliches Element dieser Politik sind dieInvestitionen in den verschiedenen Verkehrsbereichen.Unser Ziel ist die Stärkung der umweltfreundlichenVerkehrsträger Schiene und Wasserstraße, wobei unbe-stritten ist, daß die Straße auch auf lange Sicht der auf-kommensstärkste Verkehrsträger bleiben wird. Wirwollen aber die Potentiale nutzen und die Verkehrsträgerzum Wohle der Menschen, der Umwelt und der Wirt-schaft verknüpfen. Dieses Ziel werden wir weiter in allerRuhe Stück für Stück, mit aller Solidität und Konse-quenz verfolgen.
Der Haushalt 1999 ist dafür eine solide Basis.Zunächst einmal galt es natürlich, Ordnung zu schaf-fen. Herr Schmidt ist auf einige Punkte eingegangen, beidenen wir Ordnung geschaffen haben. Da kann es schoneinmal so aussehen, als seien immense Kürzungen – eskursieren ja die verschiedensten Zahlen – erfolgt. Wirhaben den Etat gehalten und die Investitionen aufge-stockt, für den Ausbau der Bundeswasserstraßen zumBeispiel um 150 Millionen DM. Diese Summe ist – ichdenke, das ist unstrittig – höher als im Haushalt 1998.Daß wir natürlich gerne sehr viel mehr machen wür-den – auch in Richtung Bahn –, ist ebenfalls unstrittig.Nur, wir müssen uns, wie auch Sie es mußten, in einemgewissen Rahmen bewegen. Angesichts der Tatsache,daß es zunächst einmal die Haushaltslöcher zu stopfengalt, ist es vollkommen klar, daß es sehr wohl nocheinen Unterschied zwischen den Investitionen für dieBahn und für die Straße gibt. Wir hätten uns höhere In-vestitionen für die Schiene gewünscht, ohne den Stra-Franziska Eichstädt-Bohlig
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1698 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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ßenbautitel zu reduzieren. Investitionen sind für unsganz besonders wichtig.Das, was im Wahlkampf angedeutet wurde, ist nichteingetreten: daß die rotgrüne Verkehrspolitik Chaos mitsich bringen würde, daß wir alle Maßnahmen in Fragestellen und die Welt von einem Tag auf den andereneine andere würde. Wir werden Stück für Stück diePolitik umsetzen, die wir, Rotgrün, in der Koalitionsver-einbarung festgelegt haben. Dort steht ganz deutlich– ich denke, das wäre Ihrerseits eine positive Würdigungwert –, daß wir uns zu den Verkehrsprojekten Deut-sche Einheit bekennen. Auch am Haushaltstitel Trans-rapid haben wir – dies haben Sie ja vorher befürchtet –keine Änderung vorgenommen.Mit dem großen Anteil von Investitionen in demHaushalt verfolgen wir – wie die Bundesregierung –unser oberstes Ziel, Arbeitsplätze zu sichern und neuezu schaffen. Wenn Sie sich vor Augen führen, daß dieInvestition von 1 Milliarde DM mehr als 12 000 Ar-beitsplätze bedeutet, dann können Sie sich ausrechnen– man nehme den Betrag mal 20 –, wie viele Arbeits-plätze dieser Investitionshaushalt in unserem Landsichert.Bei allen Maßnahmen, die wir als ein erstes Zeichengesetzt haben, ist natürlich zu bedenken, daß einGroßteil der Mittel gebunden ist: auf Grund von Pla-nungen nach dem von Ihnen – leider in unseriöserWeise – vorgelegten Bundesverkehrswegeplan undauf Grund der Tatsache, daß viele Mittel in Instand-haltung und Modernisierung gehen müssen. DieserAnteil wird sich in den kommenden Jahren noch erhö-hen. Der Bundesverkehrswegeplan ist eine Hinterlas-senschaft, die uns sehr wohl Probleme bereitet, die vielArbeit mit sich bringen und, so denke ich, für viel Dis-kussionsstoff im Ausschuß sorgen wird. Aber auch hierhaben wir nichts in Frage gestellt, was schon begonnenwurde. Das heißt, alle Maßnahmen, die schon begon-nen wurden, werden weitergeführt. Erteilte Aufträgehaben Bestand.
Im April wird bekanntgegeben, wie die weitere Über-prüfung von Maßnahmen im Bundesverkehrswegeplanvorzunehmen ist. Das werden wir nicht in Hektik ma-chen; das werden wir konsequent machen. Wir wollenvor die Bürgerinnen und Bürger treten und ehrlich sagenkönnen: Wir machen hier einen Spatenstich, und die Fi-nanzierung ist gesichert. Wir verfahren nicht wie HerrWissmann: Er macht 99 Spatenstiche, und wir habenjetzt dafür zu sorgen, daß die Maßnahmen finanziertwerden. So ist es vor der Wahl gelaufen.
Der Bundesverkehrswegeplan ist mit 80 Milliardenbis 90 Milliarden DM unterfinanziert. Ich denke, es istselbstverständlich, daß wir erst einmal dem gerecht wer-den, was schon begonnen wurde, daß wir da anfangen,wo wir rechtlich verpflichtet sind, zu handeln. Das wer-den wir auch nicht in Frage stellen. Aber wir müssenden Menschen schon ehrlich sagen, daß sie hier überJahre hinters Licht geführt worden sind. Jedem wurdedie Aufnahme in den vordringlichen Bedarf verspro-chen. Jetzt haben wir das große Dilemma, daß selbst dieMaßnahmen, die planfestgestellt sind, nicht umgesetztwerden können. Sie alle, denke ich, können das in IhrenBundesländern feststellen.Zu der Idee, die Regionalisierungsmittel in den Fern-straßenbau zu verlagern, muß ich Ihnen sagen: Wir ha-ben dafür zwar eine feste Summe zur Verfügung, unddie Überprüfung findet sehr wohl statt, aber kein Landist bereit, diese Summe herabzusetzen. Es geht nur dar-um, wie die Verteilung in den kommenden Jahren gere-gelt wird. Wir wollen eine Unterstützung des Nahver-kehrs. Wir können nicht wieder unglaubwürdig werden,indem wir sagen: 2 Milliarden DM werden gestrichen.Ich denke, das wird man Ihnen auch in Ihren Ländernganz klar und deutlich sagen.Meine Damen und Herren, wir haben versucht – ichdenke, es ist gelungen –, mit diesem Haushalt zu zeigen,wie Verkehrspolitik der SPD und der Grünen in Zukunftaussehen wird. Wir haben endlich das verwirklicht, waswir für jeden Haushalt beantragt hatten: 100 MillionenDM für die Lärmsanierung. Wir haben die Verknüp-fung für die Verkehrsträger Schiene, Straßen und Was-serstraßen mit einem deutlichen Zeichen belegt, nämlichmit 60 Millionen DM.Gerade hier ist privates Kapital eingeworben worden.Der Containerterminal, der in Ludwigshafen von derBASF gebaut wurde, hat 50 Millionen DM gekostet. Eingroßer Teil davon, nämlich 23 Millionen DM, ist privatfinanziert worden. Dahin haben wir Sie tragen müssen,meine Damen und Herren. Doch Sie werfen uns vor, daßwir in dem Bereich mit Scheuklappen durch die Gegendrennen. Dies ist nicht der Fall.
Wir wollen sehr wohl – das ist keine neue Erfindung –eine Promillegrenze von 0,5. Wir setzen endlich dasum, was sinnvoll und richtig ist. Das ist eine ganz klareAussage.Eine zweite klare Aussage: Wir wollen keinen Füh-rerscheinentzug für ältere Menschen. Der Ministerwollte das ebenfalls nie. Aber einer Überprüfung vonReaktions-, Seh- und Hörfähigkeit können auch Sie sichnicht verschließen.Vielen Dank.
Weitere Wortmel-dungen zu diesem Geschäftsbereich liegen nicht vor.Mit einem Blick auf die Uhr kann ich sagen: Es istfast eine Punktlandung. Für die angekündigten Frak-tionssitzungen unterbreche ich die Sitzung bis 17.45 Uhr.
Annette Faße
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1699
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ich eröffne die unterbrochene Sitzungwieder und rufe zunächst den Zusatztagesordnungs-punkt 5 auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Be-
Deutsche Beteiligung an der militärischenUmsetzung eines Rambouillet-Abkommens fürden KOSOVO sowie an NATO-Operationen
– Drucksachen 14/397, 14/414 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Christoph ZöpelKarl LamersDr. Helmut LippeltUlrich IrmerWolfgang GehrckeIch weise Sie darauf hin, daß wir nach der Ausspra-che über die Beschlußempfehlung namentlich abstim-men werden.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne hiermit die Aussprache und erteile zu-nächst dem Bundesminister der Verteidigung, RudolfScharping, das Wort.Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-gung: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damenund Herren! Wir hatten alle gehofft, daß heute der Deut-sche Bundestag beschließen könnte, sich an der Umset-zung eines erfolgreich abgeschlossenen Abkommens zubeteiligen, eines Abkommens, das den Weg für einfriedliches Miteinander der Menschen im Kosovo undfür größere Stabilität in der Region freimachen würde.Zu diesem Abkommen ist es bisher nicht gekommen.Aber der Weg dahin ist geöffnet. Deshalb möchte ichzunächst all jenen danken, die in den letzten zweieinhalbWochen durch unermüdlichen Verhandlungswillen undauch unter sehr großem persönlichen Einsatz ein Ergeb-nis herbeigeführt haben: der amerikanischen Außenmi-nisterin, aber auch den Kollegen Védrine, Cook unddem deutschen Außenminister Joschka Fischer.
Ich schließe in den Dank die drei Unterhändler Hill,Petritsch und Majorskij ausdrücklich ein.Wer weiß, wie unentwirrbar das Knäuel diametralentgegengesetzter Interessen am Beginn der Verhand-lungen war und wie viele Fortschritte in Einzelfragenerzielt worden sind, der kann ungefähr ermessen, was inRambouillet geleistet worden ist. Die dort mühsam er-rungenen Kompromisse schaffen eine Grundlage dafür,daß es am 15. März zu einer sogenannten Implementie-rungskonferenz auf der Grundlage des bisher politischErreichten kommt.Diese Möglichkeit ist erheblichen Risiken ausgesetzt.Deshalb benötigen wir Geschlossenheit, Standfestigkeitund Beharrlichkeit, aber auch den Mut und die Weit-sicht, die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Derpolitische Druck auf beide Seiten des Konfliktes darfnicht nachlassen.
Deshalb nenne ich noch einmal vier Bedingungen, diefür den Erfolg unserer Bemühungen in den nächsten dreiWochen entscheidend sein werden. Erstens und ganzbewußt an erster Stelle nenne ich: Belgrad und die Re-gierung Milosevic müssen sich ohne Wenn und Aber zuallen Teilen des Interimsabkommens und zu den bishermit der internationalen Staatengemeinschaft geschlosse-nen Vereinbarungen – einschließlich der Verpflichtungzu einem Waffenstillstand – bekennen.
Zweitens. Die Kosovo-Albaner müssen in ihren Rei-hen die volle und ungeteilte Anerkennung des Inte-rimsabkommens zunächst noch durchsetzen, so wie siees zugesagt haben. Das gilt insbesondere gegenüber denKommandeuren der UCK vor Ort.Drittens. Die Waffenruhe selbst und alle Resolutio-nen des Weltsicherheitsrats sind ohne Abstriche zu be-folgen. Ich sage bei dieser Gelegenheit, daß die Voll-macht des NATO-Generalsekretärs, bei Nichtbeachtungdieser Auflagen entsprechend zu agieren und notfallsauch militärisches Eingreifen anzuordnen, in Kraftbleibt.Viertens. Die Kontaktgruppe selbst braucht in dieserkritischen Phase weiterhin ihre Geschlossenheit, undzwar als klares Signal der Handlungsfähigkeit der inter-nationalen Gemeinschaft. Wir alle brauchen dafür auchdie konstruktive Mitwirkung Rußlands, wie sie sich inden letzten Wochen dankenswerterweise erwiesen hat.
Die Bundesregierung ist sich der gewachsenen Ver-antwortung unseres Landes für die Sicherheit und dieStabilität in Europa bewußt. Sie hat ein herausragendespolitisches Interesse an einem Friedensabkommen aufder Basis des am 23. Februar in Rambouillet vereinbar-ten und von der Kontaktgruppe vorgelegten Textes.Die Bundesregierung beantragt daher, der DeutscheBundestag möge die deutsche Beteiligung an der militä-rischen Umsetzung eines Friedensabkommens auf dieserGrundlage sowie an NATO-Operationen im Rahmender Notfalltruppe beschließen.Was auf dem Balkan geschieht, betrifft uns nämlichganz unmittelbar. Scheitern unsere Bemühungen, ist ei-ne humanitäre Katastrophe mit schlimmsten Auswir-kungen für die Bevölkerung und auch mit neuen Flücht-
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lingsströmen voraussehbar. Wir wollen alles in unserenMöglichkeiten Stehende tun, damit es auf dem Balkannicht neue Leichenberge und in Europa nicht neueFlüchtlingsströme gibt.
Dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen, brauchen wireine langfristig angelegte, tragfähige Lösung, die denvollen Schutz der Menschenrechte garantiert und auchdie Rückkehr vieler Flüchtlinge und Vertriebener in ihreHeimat ermöglicht.Wir wissen, daß unsere Verbündeten auf einen unse-rer Stellung im Bündnis angemessenen und wirkungs-vollen Beitrag unseres Landes für Frieden und Versöh-nung im Kosovo zählen, und zwar in seiner zivilen wiein seiner militärischen Dimension. Es ist also auch einGebot der Partnerschaftsfähigkeit, der internationalenVerläßlichkeit und der Bündnissolidarität, daß wir uns indieser Lage so wie unsere Bündnispartner und in ge-meinsamer Abstimmung mit ihnen verhalten.Die Bundesregierung hat sich im Oktober noch vorihrem Amtsantritt und im November des vergangenenJahres ihrer Verantwortung im Bündnis und für Europagestellt. Sie wird das auch heute tun. Im übrigen stehenwir durch die doppelte Präsidentschaft in der Europäi-schen Union wie in der Westeuropäischen Union ineiner besonderen Verpflichtung. Wer eine gemeinsameeuropäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungs-politik fordert, darf sich nicht abseits stellen, wenn imeuropäischen Namen und europäischen Idealen entspre-chend gehandelt wird.
Unser oberstes Ziel bleibt, zu einer umfassendenVerhandlungslösung auf der Grundlage des Textes derKontaktgruppe einschließlich der notwendigen zivilenund militärischen Implementierung beizutragen. Daraufmüssen wir vorbereitet sein. Der Text der Kontakt-gruppe sieht eine militärische Umsetzung und Garantiedes Friedensabkommens in einer NATO-geführten Ope-ration vor. Der Einsatz deutscher Streitkräfte wird daherin der politischen und strategischen Verantwortung derAllianz, das heißt, auf der Grundlage eines NATO-Operationsplanes einschließlich entsprechender NATO-Einsatzregeln und NATO-Führungsstrukturen, durchge-führt.Eine frühzeitige Präsenz der Friedenstruppe nachder Unterzeichnung des Abkommens wird das unmiß-verständliche Signal dafür aussenden, daß die interna-tionale Staatengemeinschaft willens und entschlossenist, das Abkommen von Anfang an konsequent und ver-zugslos umzusetzen. Die NATO hat deshalb von allenMitgliedstaaten eine verbindliche Kräfteanzeige erbeten.Sie braucht eine klare Planungsgrundlage für die zeitge-rechte Aufstellung einer entsprechenden Truppe, dieinsgesamt etwa 28 000 Mann umfassen wird. Die Vor-auskräfte und das erforderliche Gerät müssen so baldwie möglich in Griechenland und in Mazedonien vor-ausstationiert werden. Dazu gehört übrigens auch dieVorausverlegung der militärischen Hauptquartiere in dasKrisengebiet.Unter diesen Umständen hat die Bundesregierungentschieden, ein deutsches Kontingent bereitzustellen,das 4 500 Soldaten zuzüglich jener 1 000 Mann bein-halten wird, die der Bundestag im Oktober und Novem-ber für mögliche Luftoperationen im Rahmen der Veri-fikation der entsprechenden Abkommen und für die Not-falltruppe zum Schutz der OSZE-Beobachter bereitge-stellt hat.Die Bundesregierung wird nach Unterzeichnungeines Abkommens für das Kosovo den Bundestag un-verzüglich und umfassend über den Beginn der Umset-zung sowohl der zivilen als auch der militärischenAspekte dieses Abkommens unterrichten und den Bun-destag erneut befassen. Es ist aber klar, daß eine Imple-mentierung des Abkommens dadurch nicht verzögertwerden darf.Wir treffen mit diesem Beschluß auch Vorsorge fürden Fall, daß die Verhandlungen um ein solches Inte-rimsabkommen scheitern oder Kampfhandlungen erneutaufflammen. In diesem Falle bleiben Luftoperationender NATO Ultima ratio zur Verhinderung einer huma-nitären Katastrophe, wie es der Deutsche Bundestag am16. Oktober 1998 beschlossen hatte.Im übrigen kann sich, meine Damen und Herren, dieSituation der Beobachter im Kosovo – niemand hofftes, aber es kann auch niemand ausschließen – so ver-schlechtern, daß diese Beobachter unverzüglich aus demKosovo herausgebracht werden müssen. Das Kontin-gent, über das der Deutsche Bundestag heute entschei-det, wird in einer solchen Notfallsituation zusammen mitden Verbündeten einen wichtigen Beitrag zur persönli-chen Sicherheit der Beobachter leisten. Alles andere wä-re unverantwortlich.Ein Einsatz deutscher Soldaten in einer solchen Not-fallsituation zur Evakuierung der Beobachter ist eindeu-tig zweckgebunden, zeitlich eng begrenzt, und er wirddann enden, wenn die Verifikateure sicher aus dem Ko-sovo herausgezogen worden sind. Das Operationskon-zept sieht vor, daß sich diese Extraction Force unmit-telbar danach wieder zurückzieht. Ich möchte also nocheinmal feststellen, daß ein Einsatz dieser Notfalltruppeeindeutig von einem Einsatz zur Implementierung einesAbkommens zu unterscheiden ist und daß beide wieder-um nicht im Zusammenhang mit den Luftoperationenzur Verhinderung einer humanitären Katastrophe stehen.Lassen Sie mich neben den Gründen für den Einsatznoch einmal deutlich machen, warum die Entscheidungdes Deutschen Bundestages heute notwendig und poli-tisch sinnvoll ist.Erstens. In den nächsten drei Wochen müssen allepolitischen und diplomatischen Hebel genutzt werden,um die Zustimmung der Parteien zu einem Abkommenzu erreichen. Dazu gehört auch, daß den Serben und indiesem Fall vor allen Dingen den Kosovo-Albanern un-mißverständlich klar ist, wie eine militärische Umset-Bundesminister Rudolf Scharping
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zung aussieht. Vor allem für die Albaner im Kosovo er-scheint es eine unabdingbare Voraussetzung für eineFriedensregelung, daß sie mit Gewißheit nicht weiterunter dem serbischen Unterdrückungsapparat zu leidenhaben, insbesondere vor dem Hintergrund der mit demAbkommen vorgesehenen Entwaffnung der UCK. DieGewißheit, nicht dem serbischen Unterdrückungsapparatausgeliefert zu sein, kann nur eine internationale Frie-denstruppe unter Führung der NATO garantieren, eineFriedenstruppe, die nach Abschluß einer Vereinbarungtatsächlich auch ohne Zeitverzug verfügbar ist.Zweitens. Wir haben der NATO bislang für Pla-nungszwecke unsere beabsichtigte Beteiligung unterdem Vorbehalt der Zustimmung des Deutschen Bun-destages angezeigt. In der bisherigen Praxis solcherEinsätze bedeutete dies, daß eine Befassung des Deut-schen Bundestages nach kurzer Zeit erfolgte. UnsereVerbündeten haben für dieses notwendige parlamentari-sche Verfahren stets Verständnis gezeigt. Sollte aber,wie einige gedacht hatten, eine konstitutive Entschei-dung des Deutschen Bundestages erst in zirka drei Wo-chen und nach Vorliegen eines Abkommens, von demwir hoffen, daß es am 15. März abgeschlossen sein wird,erfolgen, dann wäre Deutschland der einzige Staat ge-wesen, dessen militärischer Beitrag für die Umsetzungeines Friedensabkommens „unter Vorbehalt“ in die Pla-nungen hätte einbezogen werden müssen. Das wäre daspolitische Risiko einer Isolierung der BundesrepublikDeutschland im Bündnis gewesen. Das können wir unsnicht erlauben.
Zwischen der Vertrauensbildung gegenüber den Kon-fliktparteien und der Handlungsfähigkeit der NATO undeiner Zustimmung des Deutschen Bundestages bestehtalso ein eindeutiger und enger Zusammenhang. Im An-trag der Bundesregierung ist vorgesehen, daß die Kräftezur Umsetzung eines Friedensabkommens mit Zustim-mung des Aufenthaltsstaates eingesetzt werden kön-nen, sobald eine Friedensvereinbarung für das Kosovounterzeichnet ist, ein entsprechender Beschluß desNATO-Rates vorliegt und der Sicherheitsrat der Ver-einten Nationen mit der Sache befaßt ist. Sie sehen also,meine Damen und Herren, daß zur Implementierungeines solchen Abkommens militärische Kräfte nur dannentsandt werden, wenn der Aufenthaltsstaat, in diesemFall die Bundesrepublik Jugoslawien, dem zustimmt.Unter diesem Gesichtspunkt wäre völkerrechtlich eineResolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationenentbehrlich. Sie ist aber politisch wünschenswert. Des-halb unterstützen wir ausdrücklich die Befassung des Si-cherheitsrates mit dieser Frage.
Nun, meine Damen und Herren, ein Hinweis auf dieGrößenordnung des deutschen Beitrages: Er ent-spricht in der Qualität und im Umfang den Beiträgen derwichtigsten Verbündeten und damit unserem Gewicht inder Allianz. Die Bundeswehr wird mit allen Rechten undPflichten daran teilnehmen, immer in dem klaren Be-wußtsein, daß sie ein Instrument der politischen Kon-fliktbewältigung und damit unserer Außenpolitik ist.Lassen Sie mich aber ebenso nüchtern feststellen: DieserEinsatz der Bundeswehr hat eine andere Dimension undeine andere Qualität als alle früheren Einsätze. Er istauch mit dem Einsatz in Bosnien nicht vergleichbar. DieRisiken sind deutlich größer, und das aus mehrerenGründen.Erstens. Dayton ist auch durch die Kriegsmüdigkeitder Parteien ermöglicht worden, durch einen Krieg, der280 000 Menschen das Leben gekostet hat, der 1 MillionMenschen vertrieb und weitere über 400 000 Menschensogar aus dem Land getrieben hat. Im Gegensatz dazukann man im Kosovo nicht von Kriegsmüdigkeit, wennich das so nennen darf, reden. Serben und Albaner lie-fern sich weiterhin Scharmützel, rüsten weiter auf. Diementale, die politische Akzeptanz für eine Friedensver-einbarung ist auf beiden Seiten gering ausgeprägt. – Wirsollten uns bei unserem Engagement bewußt sein, daß esin diesem Teil Europas überhaupt keine Erfahrung mitDemokratie, mit Rechtsstaatlichkeit und mit ziviler Kon-fliktlösung gibt.Zweitens. Die serbische Führung hat in der eigenenÖffentlichkeit kontinuierlich gegen internationale Prä-senz agitiert und damit in der Bevölkerung eine Grund-stimmung geschaffen, die den Einsatz einer Friedens-truppe mit zusätzlichen Risiken belastet.Drittens. Unter den Kosovo-Albanern gibt es friedli-che, allerdings auch höchst militante Strömungen, diekaum zentral gesteuert sind. Diese Strömungen werdensich ganz unterschiedlich zu einem Friedensabkommenstellen. Deshalb kann niemand ausschließen, daß einzel-ne UCK-Kommandeure das Friedensabkommen unter-minieren wollen.Die deutschen Soldaten brauchen unter diesen Ein-satzbedingungen den besten Schutz, den wir ihnen ge-ben können. Ich habe deshalb schon vor rund dreiein-halb Wochen entschieden, daß die Soldaten für die spe-ziellen Bedingungen dieses Einsatzes ausgebildet wer-den und daß ihnen das modernste Gerät zur Seite gestelltwird, über das wir verfügen können. Dazu gehören auchschwere Waffen und eine hinreichende Größe unseresKontingents, so daß sowohl die Durchführung des Auf-trages als auch ein angemessener Schutz unserer Ver-bände gewährleistet sind.Im übrigen sind das Abkommen von Dayton und dasInterimsabkommen für den Kosovo zwei Seiten einerMedaille. Sie gehören deshalb untrennbar zusammen,weil sie sich mit der Auflösung von Krisenherden undgewaltfreien Entwicklungen im Kosovo beschäftigen.Wir brauchen über die militärische Garantie solcherAbkommen hinaus so schnell wie möglich ein kohären-tes politisches Konzept für die gesamte Region, damitsie Stabilität und damit Anschluß an Europa gewinnenkann.
Bundesminister Rudolf Scharping
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Wir dürfen uns im Interesse der Menschen, die dort le-ben, und im Interesse der Soldaten, die wir einsetzen,nicht damit zufriedengeben, daß es nur eine militärischeAbsicherung gibt, so wertvoll und so unverzichtbar sieauch ist, wenn in diesem Teil Europas Menschen- undMinderheitenrechte geachtet, friedliche Konfliktrege-lungen und gute Nachbarschaft auf den Weg gebrachtwerden sollen. Europa kann es sich nicht leisten, dieseRegion, diesen Teil seiner selbst sich selbst zu überlas-sen oder wie die Feuerwehr einzuspringen immer dann,wenn ein neuer Flächenbrand droht. Wir brauchen die-ses langfristige, tragfähige Konzept.Was wir heute beschließen, versteht zumindest dieBundesregierung und der Bundesverteidigungsministerals die notwendige Voraussetzung für ein solch langfri-stiges Konzept, nicht aber für das Konzept selbst. ImInteresse der Soldaten, im Interesse der Familien, die je-de Form der Fürsorge und Hilfe verdient haben, im In-teresse aller Beteiligten bitte ich den Deutschen Bun-destag, dem Antrag der Bundesregierung mit möglichstgroßer Mehrheit zuzustimmen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Volker Rühe.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Der Bundeskanzler hat hiergestern gesagt, der Einsatz im Kosovo bedeute einefundamentale Veränderung der deutschen Außenpoli-tik. Diese Veränderung hat 1992 begonnen. Sie begannmit großen Kontroversen und ging bis hin zu der Ent-scheidung des Bundesverfassungsgerichts. Aber es ist,quantitativ gesehen, richtig – der Verteidigungsmi-nister hat eben auf die besonderen Risiken dieses Ko-sovo-Einsatzes hingewiesen –, bis zu 6 000 Soldatender Bundeswehr für den Einsatz im Kosovo bereitzu-stellen. Qualitativ ist das ein weiterer Schritt in Rich-tung internationaler Verantwortung für die deutschenStreitkräfte.Wir sind in einer sehr ungewöhnlichen Entschei-dungssituation. Es gibt kein Rambouillet-Abkommen.Deswegen hat die Bundesregierung in ihrem Antrag umZustimmung zu einem Rambouillet-Abkommen gebe-ten. Wir sind also – ich sage das ganz nüchtern – in einerganz ungewöhnlichen Entscheidungssituation. Wir be-finden uns vor Ort in einer sehr unübersichtlichen politi-schen Lage. Niemand weiß, ob es wirklich ein Abkom-men geben und, wenn es eines gibt, ob es halten wirdund ob es wirklich einen Friedenswillen bei allen betei-ligten Seiten gibt. Wenn es ein Abkommen gibt, dannmuß man sich zudem fragen, ob es nicht – über vieleJahre hinweg, länger als in Bosnien – eine ganz langfri-stige Bindung unserer Soldaten im Kosovo bedeutet. Ichbin mir auch nicht sicher, ob nicht im Laufe eines sol-chen jahrelangen Einsatzes die gesamte Verantwortungauf europäische Soldaten übergehen wird. Das würdenoch einmal die Last für die Bundeswehr verstärken. Alldieses zusammengenommen bedeutet, daß man mit be-sonderer Sorgfalt an die Entscheidung herangehen undsich um einen Konsens bemühen muß. Ich bin dankbar,daß uns heute durch die gestrigen Gespräche ermöglichtwird, hier zu einem Konsens zu gelangen.Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als wir diesenKonsens nicht hatten. Ich habe mir einige Briefe vonFrauen aufgehoben, deren Soldaten in Somalia statio-niert waren. Diese Briefe werde ich immer aufbewahren.Sie haben geschrieben: Es ist schwer für uns, daß unserMann jetzt nach Somalia geht. Das haben wir nicht er-wartet, als er den Beruf eines Bundeswehrsoldaten er-griff; aber wir akzeptieren das. Wir akzeptieren aller-dings nicht, daß der Streit über diesen Einsatz im Deut-schen Bundestag weitergeht. Das ist unzumutbar. – Vordiesem Hintergrund stelle ich als erstes fest: Wenn wirunsere Soldaten in so gefährliche Einsätze schicken,dann müssen wir alles tun, um immer wieder einen Kon-sens im Deutschen Bundestag zu finden.
Ein weiterer Punkt. Wenn wir nicht 1994 die Verän-derung der Bundeswehrstruktur, nämlich die Schaf-fung von Krisenreaktionskräften gegen den Willen derSozialdemokraten und gegen den entschiedenen Wider-stand der Grünen durchgesetzt hätten, dann könnte dieBundeswehr heute einen solchen Einsatz nicht durchfüh-ren.
Trotz dieser Reformen wird der geplante Einsatz dieBundeswehr in ihrer heutigen Form – ich glaube, so gutkenne ich die Bundeswehr noch – an die Grenze ihrerBelastbarkeit führen. Deswegen bitte ich herzlich darum– Kollege Austermann hat mir über die Beratungen imHaushaltsausschuß berichtet, daß die Vorlage der Bun-desregierung, die Finanzierung dieser Operation überden Einzelplan 60 vorzunehmen, bei den Koalitionsab-geordneten umstritten war –, wirklich alles zu tun, umder Bundeswehr in dieser schwierigen Situation die zu-sätzliche finanzielle Last abzunehmen und ihr es zu er-möglichen, den geplanten Einsatz durchzuführen.
Ein weiterer Punkt. In der gestrigen Haushaltsdebattehat der Bundesfinanzminister die Notwendigkeit betont,daß schnell Eingriffe in die Bundeswehr vorgenommenwerden müßten. Dazu muß ich Ihnen sagen: Wenn Sie6 000 Soldaten der Bundeswehr auf den Balkan schik-ken, dann können Sie nicht gleichzeitig in Deutschlanddamit beginnen, Eingriffe in Bundeswehrstandorte vor-zubereiten.
Deswegen bitte ich ganz herzlich darum, daß man sichan das hält, was der Bundesverteidigungsminister denBundesminister Rudolf Scharping
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Soldaten der Bundeswehr versprochen hat, nämlichSicherheit des Standortes.
Für uns sind drei Punkte wichtig, die uns die Zu-stimmung ermöglichen:Erstens. In der Erklärung der Bundesregierung wirdausgeführt, daß es sich um einen NATO-geführten mi-litärischen Einsatz handelt. Der Einsatz deutscherStreitkräfte wird daher in der politischen und strategi-schen Verantwortung der Allianz, das heißt auf derGrundlage eines NATO-Operationsplanes einschließlichentsprechender NATO-Einsatzregeln und -führungs-strukturen durchgeführt.Das zweite hat Minister Scharping eben vorgetragen:In der Vorlage der Bundesregierung war undeutlich ge-arbeitet worden, weil es zu einer Vermischung der Ex-traction Force und der eigentlichen Kosovo Force ge-kommen war.
– Es muß doch möglich sein, in einer solchen Debatteganz nüchtern darauf hinzuweisen. – Wir haben hier indem Sinne eine Verbesserung und eine Klarstellung er-reicht, daß die beiden Dinge nicht miteinander verbun-den werden und daß sich die Extraction Force sofortnach Abschluß der Mission zurückzieht.Herr Kollege Scharping, ich möchte im übrigen zudem, was Sie schließlich gesagt haben, anmerken: VonAnfang an bestand die Bereitschaft der Opposition, dortdie logistischen Vorbereitungen zu treffen und die Sol-daten nach Mazedonien und nach Griechenland zu ver-legen.Der dritte Punkt, auf den ich eingehe, ist – wir habendarauf bestanden –, daß der Deutsche Bundestag nocheinmal befaßt wird, wenn das Abkommen tatsächlichvorliegt und wenn es darum geht, die Grenzen zum Ko-sovo zu überschreiten. Ich glaube, die Klarstellung, diewir hier erreicht haben, war wichtig.
Dadurch kommt es nicht zu einer Verzögerung der Im-plementierung. Auch das Bundesverfassungsgericht hatklargestellt: Wenn eine bestimmte Situation dort gege-ben ist, dann können Sie handeln und müssen sich imAnschluß daran vom Bundestag die Unterstützung be-sorgen.Ich habe heute in einer überregionalen Zeitung gele-sen, daß die Opposition den Handlungsspielraum derExekutive einschränken würde, indem sie auf die Klar-stellung gedrängt hat, daß das letzte „go“ des Bundesta-ges erst dann erfolgt, wenn das Abkommen vorliegt. Ichmuß Ihnen sagen – ich habe noch eine gute Erinnerungan meine eigene Tätigkeit –: Ich habe die Mitwirkungdes Deutschen Bundestages bei so schicksalsschwerenEntscheidungen wie der Entsendung deutscher Soldatenin eine schwierige internationale Situation nie als eineEinschränkung der Handlungsfähigkeit der Regierungbetrachtet. Ich glaube, es ist ein guter Weg in Deutsch-land, daß Regierung und Parlament gemeinsam die Ver-antwortung für so schwierige internationale Einsätzetragen.
Auch deswegen ist es wichtig, daß es in dem von unsin den vergangenen Jahren immer wieder praktiziertenVerfahren keinen Bruch gegeben hat. Das heißt, wirschulden unseren Soldaten Fürsorge.
Zu dieser Fürsorge gehört die militärische Ausrüstungund Vorbereitung. Ich weiß, es ist für einen sozialde-mokratischen Verteidigungsminister kein leichterSchritt – ich sage das ohne Polemik –, Leopard-Panzerund Marder in diese Region zu entsenden. Ich möchteausdrücklich anerkennen, daß sich der Verteidigungs-minister ausschließlich davon hat leiten lassen, was fürden Schutz der Soldaten notwendig ist. Er hat keinepolitischen Überlegungen in diese Frage eindringenlassen. Das muß ausdrücklich gewürdigt werden; dennsonst könnte man einen solchen Einsatz nicht ver-treten.
Wir schulden den Soldaten aber mehr als die militäri-sche Ausrüstung und die militärische Vorbereitung. Wirschulden ihnen – ich glaube, daß wir ihnen das mit demBeschluß des Deutschen Bundestages geben werden –die Unterstützung, die sie alle spüren sollen.Wir haben gestern einige Stimmen nach dem Motto„Wir brauchen die Opposition nicht“ gehört. Das magnumerisch so sein. Aber gerade bei einem solchen Ein-satz ist es ganz entscheidend – wir werden in sehrschwierige Situationen kommen; täuschen Sie sich dar-über nicht – , daß es hier einen Konsens auf einer klarenGrundlage gibt und daß in den Gesprächen – ich dankein diesem Zusammenhang vor allem dem Außenminister– festgestellt worden ist:Die Bundesregierung wird nach Unterzeichnungeines Friedensabkommens für das Kosovo denBundestag umfassend und unverzüglich über denBeginn der Umsetzung sowohl der zivilen als auchder militärischen Aspekte dieses Abkommens un-terrichten und den Bundestag erneut befassen. Wirsind uns dabei einig, daß eine Implementierung da-durch nicht verzögert werden darf.Dies ist eine Basis, die außenpolitisch richtig ist, dieaber auch von Sorgfalt und Fürsorge für unsere deut-schen Soldaten geprägt ist. Wir sind stolz darauf, ge-meinsam einen solchen Schritt getan zu haben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner inder Debatte ist der Minister des Auswärtigen, JosephFischer.Volker Rühe
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1704 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich freuemich, daß sich nach den Gesprächen am gestrigen Tagein breiter Konsens abzeichnet. Im Namen der Bundes-regierung kann ich hier nur noch einmal betonen, daß esfür uns angesichts der schwierigen politischen Situationund angesichts der schwierigen Situation, in der dieserEinsatz stattfinden wird, eine Selbstverständlichkeit ist,den Oppositionsparteien, wenn sie Nachfragen habenoder Präzisierungen wünschen, zu antworten. Ich freuemich, daß es auf Grund der Gespräche, die wir geführthaben, gelungen ist, die Fragen befriedigend beantwor-ten zu können und hier im Hause zu einer möglichstbreiten Beschlußgrundlage zu kommen.Heute haben wir eine wichtige Antwort auf die Ver-handlungen in Rambouillet zu geben. Die Verhand-lungen in Rambouillet stehen in einem direkten Kausal-zusammenhang zur Entwicklung der Situation im Koso-vo. Lassen Sie mich daher hier nochmals darauf hinwei-sen, daß wir einen weitergehenden Beschluß zu fassenhaben. Der erste diesbezügliche Beschluß wurde vom13. Deutschen Bundestag kurz vor dem Auslaufen derLegislaturperiode gefaßt. Damals war es möglich, mitder Androhung von Luftschlägen der NATO, die unsallen sehr schwergefallen ist, eine Vereinbarung zwi-schen der Regierung in Belgrad und dem Sonderge-sandten der Vereinigten Staaten, Herrn Holbrooke, zuerreichen. Es war gelungen, eine humanitäre Katastro-phe abzuwenden, die Menschen aus den Bergen und ausden Wäldern vor Einbruch des Winters in Behausungen– darum handelt es sich im wesentlichen; viele ihrerWohnungen und Häuser waren zerstört – zurückzubrin-gen. Auf diese Weise konnte eine humanitäre Katastro-phe abgewendet werden.Die Implementierung des politischen Friedens, alsodie Durchsetzung eines regionalen und demokratischenAutonomiestatuts, ist allerdings nicht gelungen. Dem-nach ist es nicht gelungen, den Frieden durchzusetzen.Ein Aufflackern der Kämpfe bis hin zum Massaker vonRacak mußte dann die internationale Staatengemein-schaft dazu zwingen, den Weg zum Frieden am Bodenzuerst gegen und hoffentlich dann auch mit den Betei-ligten zu erreichen.In Rambouillet wurde der Versuch gemacht, die Ak-zeptanz beider Seiten zu einem Weg des Friedens zu er-reichen. Für die internationale Staatengemeinschaft undvor allen Dingen für die Europäer ist es wichtig, zu be-greifen: Wir werden diesem Konflikt, wenn wir weg-schauen, nicht entkommen können, sondern wie in Bos-nien wird dann das Drama – das Morden, die Zerstörun-gen und die Flüchtlinge – letztendlich zum Hinschauenund dann zum Handeln zwingen. Die Erfahrungen inBosnien veranlassen, ja nötigen die internationale Staa-tengemeinschaft dazu, jetzt in diesen Konflikt friedens-stiftend einzugreifen. Genau darüber fassen wir heuteden Beschluß.Glauben Sie mir, in den vergangenen Wochen warenfür mich persönlich die Stunden am letzten Samstag inRambouillet, als es völlig offen war, ob es Krieg oderFrieden heißt, die schwierigsten. Nachdem ich dort aufdie Intransigenz der Beteiligten, vor allen Dingen vonVertretern der Regierung aus Belgrad, gestoßen bin undmitbekommen habe, wie hier ganz offensichtlich beizahlreichen Beteiligten nicht das Schicksal der Men-schen und nicht das Interesse am Frieden, sondern derMachterhalt im Vordergrund stehen und wie Gewalt,Mord und Krieg ganz selbstverständlich als Mittel derPolitik in das Kalkül einbezogen werden, sage ich Ihnen:Wegschauen bedeutet die Akzeptanz dieser mörderi-schen Logik. Das dürfen und können wir uns nicht er-lauben.
Ich möchte mich hier dem Dank, den der Bundes-verteidigungsminister ausgesprochen hat, ausdrücklichanschließen, denn ich weiß, welche Arbeit die Ver-handlungspartner geleistet haben und wie wichtig eswar, daß Rußland an diesem Prozeß beteiligt war undist. Nachdrücklich füge ich hinzu: Ich möchte in diesenDank auch und gerade die Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter des Auswärtigen Amtes wegen ihres nun wirklichrund um die Uhr gehenden Einsatzes bei den Verhand-lungen in Rambouillet mit einschließen.
Dieser Dank gilt selbstverständlich auch für den Reprä-sentanten des BMVg in Rambouillet, den ich an dieserStelle nicht vergessen möchte.
Der Weg zum Frieden ist beschritten. Wir sind heuteso weit, daß wir eine Vereinbarung in den Händen hal-ten, auf die sich die Kontaktgruppe geeinigt hat. Kapi-tel 2 und Kapitel 7 des Entwurfs werden von Rußlandnicht akzeptiert, solange darunter nicht die Unterschriftder Bundesrepublik Jugoslawien steht. Im Klartext heißtdies: Rußland will im Moment nicht Druck auf die Bun-desrepublik Jugoslawien ausüben, die militärische Im-plementierung zu akzeptieren; Rußland ist aber in demMoment, in dem sie akzeptiert wird, bereit, sie nicht nurpolitisch mitzutragen, sondern sich dann auch an derUmsetzung – wie die öffentlichen Erklärungen ausMoskau mittlerweile zeigen – zu beteiligen. Ich sehedarin einen wesentlichen Fortschritt.Hoffnungsvoll stimmt mich auch, daß Frankreich ineinem informellen Treffen des Sicherheitsrates die Er-klärung der Kontaktgruppe sofort zirkuliert hat. Darauf-hin ist es unter Teilnahme Chinas – auch das ist einwichtiges Signal – zu einer einstimmigen Unterstützungeiner Erklärung des Präsidenten des Sicherheitsrates aufder Grundlage der Erklärung der Kontaktgruppe ge-kommen.Was wir heute beschließen, ist der gemeinsame Ein-satz von Bundeswehrsoldaten und Soldaten der Bünd-nispartner als Vorbereitung für die Umsetzung desFriedensabkommens. Dies ist eine ungewöhnliche undschwierige Situation für das Haus. Ich bin mir darüberim klaren. Aber diese Situation liegt nicht in der Ver-
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antwortung der Bundesregierung; wir konnten sie unsnicht aussuchen. Wir wären weiß Gott heilfroh, wirkönnten heute sagen: Der Vertrag ist unterschrieben. –So müssen wir heute diesen Beschluß fassen. Denn waswäre die Alternative? Wenn wir diesen Beschluß heutenicht fassen würden, wäre die Folge, daß Belgrad einenWiderspruch im westlichen Bündnis vermuten würde,was wir nicht zulassen dürfen, und daß gleichzeitig dieKosovaren an der Entschlossenheit der NATO, ihr Ver-sprechen zu halten, nämlich im Falle einer Unterschriftfür die militärische und zivile Implementierung zu sor-gen, zweifeln würden, so daß es nicht zu einer Unter-schrift kommen würde.Damit sind wir beim entscheidenden Punkt. Friedenim Kosovo ohne eine militärische Absicherung und ohneeinen zivilen Beitrag der internationalen Staatengemein-schaft wird es nicht geben.
Diese militärische Absicherung wird von den Kosovarennur der NATO zugetraut. Jede andere Form der Ab-sicherung würde von ihnen nicht akzeptiert werden undwürde demnach nicht zu ihrer Unterschrift führen.Die Kosovaren werden eine Implementierung selbstdes besten Friedensvertrages durch die BundesrepublikJugoslawien, durch die jugoslawische Armee oder gardurch die serbische Sonderpolizei nicht akzeptieren.Keiner von uns würde dies auf Grund der blutigen Er-fahrungen, die gemacht wurden, an deren Stelle akzep-tieren.Umgekehrt würde die Bundesrepublik Jugoslawienniemals akzeptieren, daß die Implementierung eines sol-chen Vertrages in den Händen der kosovarischen Seiteliegt. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, daß sich dieinternationale Staatengemeinschaft bereit erklärt, diesenVertrag zu implementieren. Mit dem heutigen Beschlußleisten wir daher einen entscheidenden Beitrag zur Um-setzung des kommenden Friedensvertrages.Ich möchte dem Haus in der Frage, ob es dazu am15. März kommen wird, meine ehrliche Einschätzungmitteilen. Wir werden alles versuchen und im Rahmender Kontaktgruppe und der Vermittlertroika wie auchdurch bilaterale Verhandlungen weiter daran arbeiten, zueinem Erfolg zu kommen, für den ich Ihnen hier aberkeine verbindliche Zusicherung geben kann. Dies wärefahrlässig und falsch. Angesichts der Ernsthaftigkeit derSituation ist es geboten, daß die Bundesregierung Klar-text redet und sagt: Wir wollen alles versuchen, aber wirkönnen nicht garantieren, daß wir am 15. März zu einemerfolgreichen Abschluß kommen.Wir dürfen – der Bundesverteidigungsminister hatdies schon angesprochen – den Fehler, der nach Daytonbegangen wurde, nicht wiederholen. Der Vertrag vonDayton war gut und alternativlos. Der Fehler lag nichtim Vertrag selbst. Er bestand vielmehr darin, daß derProzeß nicht weiter vorangetrieben wurde. Was wirbrauchen, ist – dem kann ich nur nachdrücklich zustim-men – eine Fortsetzung des Prozesses. Dies wird einelangfristige Verpflichtung vor allen Dingen für dieEuropäer bezüglich der zivilen Implementierung bedeu-ten. Ich bin mir sicher: Wenn wir Erfolg haben werdenund die Waffen schweigen, werden wir eine Bosnien-ähnliche Entwicklung erleben. Das heißt, daß das militä-rische Element nach und nach abgebaut werden kann.Nur, was wir brauchen, ist in der Tat ein langfristigesGesamtkonzept, ein Stabilitätspakt für den südlichenBalkan, der eine langfristige Verpflichtung der inter-nationalen Staatengemeinschaft und Europas verlangenwird, vor allen Dingen bei der Entwicklung zukunfts-fähiger ziviler Strukturen.
Wir können – da sind wir uns alle hier im Haus einig –die Soldaten aus Bosnien heute noch nicht abziehen.Wann wir sie je abziehen können, ist zum gegenwärti-gen Zeitpunkt realistischerweise nicht absehbar. Wennwir aber, wie am Beispiel Bosnien sichtbar, dort lang-fristig engagiert bleiben müssen, damit der Friede, dieNichtgewalt bestehenbleibt, dann können wir doch auchden nächsten Schritt tun und mit einem solchen Stabili-tätspakt für den südlichen Balkan langfristig denken.Eine Lösung für Bosnien, eine Rückkehr Serbiens indie Gemeinschaft der europäischen Völker, raus aus derIsolation, hin zu Demokratie und Frieden, eine Hilfe fürAlbanien, eine Zukunft für Makedonien, eine Lösungder Minderheitenkonflikte auf zivile, demokratische Artund Weise, eine regionale Sicherheitsarchitektur, eineregionale Architektur für Handel und wirtschaftlicheEntwicklung – all das ist notwendig. Einfacher und bil-liger wird der Friede auf dem Balkan nicht zu erreichensein.
Einfacher und kurzfristiger wird es nicht gehen.Europa ist gegenwärtig zweigeteilt. Wenn wir auf denBalkan blicken, sehen wir das Europa der Vergangen-heit, wenn wir nach Brüssel schauen, sehen wir dasEuropa der Integration, das Europa der Zukunft; einer-seits das Europa der Vergangenheit, der Kriege und derethnischen Säuberungen, andererseits das Europa derZukunft, der Integration und, Gott sei Dank, des Ver-schwindens des Krieges als Mittel der Politik, das Europader engen Kooperation, das Überwinden und Auflösenvon Grenzen. Wir werden den südlichen Balkan hin zumEuropa der Integration entwickeln müssen. Voraus-setzung dafür ist aber, daß im Kosovo die Waffenschweigen. Dazu können wir heute mit dem Beschlußdes Hauses einen entscheidenden Beitrag leisten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Ulrich Irmer.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Wir führen hier eine Debatte und fas-sen nachher einen Beschluß, aus dem sich ergibt, daßdiese Stunde, glaube ich, zu den ernstesten Stunden ge-Bundesminister Joseph Fischer
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1706 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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hört, die dieses Parlament je erlebt hat. Denn es gehthier um Leben und Tod unserer Soldaten, und es gehtauch um Leben und Tod zahlloser Menschen auf demBalkan.Es tut mir sehr leid, Herr Bundeskanzler, aber ichmuß mich mit einer Bemerkung an Sie persönlich wen-den. Ich habe Sie vorhin hier vermißt. Wenn Sie ein Ge-spräch mit einem auswärtigen Regierungschef gehabthätten, hätte ich volles Verständnis dafür gehabt. Mirwird aber berichtet, daß Sie mit dem SPD-Vorsitzendendraußen im Restaurant gesessen und Weißbier getrunkenhaben.
– Entschuldigen Sie, meine Damen und Herren, ich er-laube mir, dies anzusprechen. Ich glaube, das ist mehrals eine Stilfrage.
Sie können die Tatsache, daß Sie die erste halbe Stundenicht hier waren, dann den Soldaten der Bundeswehr er-klären, die wir heute hier möglicherweise ins Feuerschicken, und auch deren Angehörigen. Ich erinneremich jedenfalls nicht daran, daß der frühere Bundes-kanzler Kohl jemals während einer Debatte über denEinsatz der Bundeswehr im Ausland auf der Regie-rungsbank gefehlt hätte.
Ich komme zur Sache.
Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß wir heuteNeuland betreten. Wir fassen nämlich erstmals einenVorratsbeschluß.
Es ist hier von den beiden Mitgliedern der Bundesre-gierung mit der wünschenswerten Deutlichkeit darge-stellt worden, daß es eine Grundlage, auf der wir diesenBeschluß fassen können, bis heute nicht gibt. Keinerweiß – obwohl es alle hoffen –, ob das Abkommen vonRambouillet unterzeichnet werden wird oder nicht. Ichsage ganz deutlich: Wir sind gleichwohl der Meinung,daß dieser Beschluß heute hier gefaßt werden muß. DieF.D.P.-Fraktion wird dem Antrag der Bundesregierungzustimmen. Aber ich möchte darauf hinweisen, daß diesnach Möglichkeit ein einmaliger Vorgang bleiben mußund daß in Zukunft in aller Regel die Voraussetzungensolcher Beschlüsse klar und eindeutig vorliegen müssen.
Ich betone weiter, daß vorgestern vormittag, als derAuswärtige Ausschuß und der Verteidigungsausschußerstmals mit dem Antrag der Bundesregierung befaßtworden sind, die Voraussetzungen für eine Zustimmungnicht gegeben waren. Es waren die Einwände der Oppo-sitionsparteien, die dazu geführt haben, daß – ich erken-ne das an – die Bundesregierung ihren Antrag präzisierthat. Genau genommen hat sie ihn nicht präzisiert; sie hataber – das hat Herr Fischer heute früh im AuswärtigenAusschuß gesagt, und Herr Scharping hat es eben hiervom Pult aus noch einmal gesagt – dafür gesorgt, daßdie Entscheidungsgrundlagen jetzt klar und präzise sind,indem eine Protokollerklärung dem Beschluß beige-fügt wird, die wir allerdings – darauf müssen wir großenWert legen – als integralen Bestandteil des Antrages undunseres Beschlusses interpretieren.
Ohne diese Protokollerklärung wäre die Zustimmung inder Breite, wie sie gleich erfolgen wird, nicht möglich.Ich frage noch einmal: Warum steht all das, was jetztan Richtigem und Notwendigem in der Protokollerklä-rung steht, nicht im Beschluß selbst?
Warum steht nicht schon im Antrag, daß der „Einsatzdeutscher Streitkräfte … in der politischen und strategi-schen Verantwortung der Allianz, d. h. auf der Grundla-ge eines NATO-Operationsplanes einschließlich ent-sprechender NATO-Einsatzregeln und NATO-Führungsstrukturen durchgeführt“ wird, wie es jetzt inder Protokollerklärung heißt? Ich halte dies für eine we-sentliche Voraussetzung dafür, daß wir dem Antrag derRegierung zustimmen. Ich betone das hier noch einmal,damit es später nachgelesen werden kann.Für genauso wesentlich halte ich die verbindliche Zu-sage der Bundesregierung, daß der Bundestag, sobalddas Abkommen von Rambouillet unterzeichnet ist, nichtnur unverzüglich und umfassend über den Beginn derUmsetzung sowohl der zivilen als auch der militärischenAspekte dieses Abkommens unterrichtet wird, sondernauch erneut befaßt wird. Meine Herren in der Bundesre-gierung, wir werden Sie beim Wort zu nehmen habenund beim Wort nehmen.
Meine Damen und Herren, der Bundesverteidi-gungsminister hat mit Recht darauf hingewiesen, daß essich hier um einen Einsatz neuer Qualität handelnwird. Erstmals werden in großem Umfang Bodentruppenentsandt. Ich habe dankbar zur Kenntnis genommen,Herr Bundesverteidigungsminister, daß auch für Sie– das ist selbstverständlich – die Fürsorge für die Sol-daten absolut im Vordergrund steht.
Ich erwarte, daß vor der Entsendung und während desEinsatzes ständig überprüft wird, ob das Gerät in Ord-nung ist und ob die Soldaten in der Lage und dafür aus-gebildet sind, den Einsatz zu bewältigen.
Hier muß eine permanente Überprüfung stattfinden. Ichhabe aber insoweit Vertrauen nicht nur zum Bundesver-teidigungsminister, sondern auch zur Führung der Bun-deswehr, die sehr wohl weiß, in welche Gefahren wirdeutsche Soldaten hier entlassen.Ulrich Irmer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1707
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Meine Damen und Herren, die Entscheidung istschwer, und keiner von uns macht sie sich leicht. Wirhoffen alle, daß wir als Deutsche durch diesen Beschlußeinen Beitrag dazu leisten können, daß im Balkan einHoffnungsschimmer sichtbar wird und daß vielleichtauch dort eines Tages der Friede wiedereinkehrt.Ich bedanke mich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die PDS-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Gregor Gysi.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Herr Kollege Irmer, gerade weil ichSie trotz aller politischen Unterschiede persönlich schät-ze, gestatte ich mir eine Bemerkung – mir ist das näm-lich schon gestern beim Kollegen Schäuble aufgefallen –:Ich finde, auch dieser Bundeskanzler hat es verdient,daß man sich mit ihm aus der Opposition heraus poli-tisch auseinandersetzt und nicht ständig auf der persön-lichen Ebene gezielt mit Schlägen unterhalb der Gürtel-linie vorgeht. Das ist nicht nötig.
Das ist mir schon gestern aufgefallen. Ich suche diepolitische Auseinandersetzung und werde sie auch füh-ren. Aber man darf dabei eine bestimmte Ebene nichtverlassen.Wir werden dem Antrag der Bundesregierung nichtzustimmen und haben dafür viele Gründe. Ich will zu-nächst auf einen hinweisen, der uns die Zustimmungschon unmöglich macht: Das ist der Bezug, den der An-trag der Regierung auf die Beschlüsse des vorigen Bun-destages vom Herbst 1998 nimmt.Worum ist es damals eigentlich gegangen? – Das sollja durch den heutigen Beschluß erneut bestätigt werden. –Damals hat der Bundestag entschieden, nicht nur dieAndrohung, sondern auch die Anwendung militäri-scher Gewalt gegen die Bundesrepublik Jugoslawiendurch den Einsatz von Tornados zu unterstützen. Dasheißt, es ging um die Bombardierung Jugoslawiensdurch die NATO unter Beteiligung der BundesrepublikDeutschland, und zwar unter dem klaren Vorzeichen,daß es dafür selbstverständlich keine Einwilligung Jugo-slawiens, aber auch keine Zustimmung des UN-Sicherheitsrates geben wird. Dieser Beschluß besteht sonach wie vor für den Fall, daß es in Rambouillet nicht zuVereinbarungen kommen sollte.Man kann das alles drehen und wenden, wie manwill. Dieser Beschluß ist völkerrechtswidrig gewesen,und er bleibt es auch heute.
Denn er beinhaltet – ich muß das so deutlich sagen –nach der UN-Charta nichts anderes als die Billigungeiner Aggression.Was ist denn historisch geschehen? Vor 1945 hattenwir eine Welt, in der sich immer die Interessen der mi-litärisch Stärkeren durchsetzten. Das war im vergange-nen Jahrhundert so, und das war in der ersten Hälfte die-ses Jahrhunderts so. Dann fand sich die internationaleGemeinschaft in New York zusammen und hat gesagt:Wir brauchen ein anderes Völkerrecht. Wir braucheneine andere Grundlage. Es kann nicht dabei bleiben, daßimmer die militärisch Stärksten ihre nationalen Interes-sen – koste es, was es wolle – durchsetzen. Daraufhinhat man zwei Dinge vereinbart, und zwar Kapitel VIIArt. 39ff. und Art. 51 der UN-Charta:Man hat in Art. 51 geregelt – ausschließlich die bei-den hier genannten Fälle müssen zutreffen –, wann imRahmen der internationalen Beziehungen die Andro-hung militärischer Gewalt oder gar deren Anwendunggenehmigt ist, nämlich erstens zur Selbstverteidigungund zweitens zur Verteidigung eines Bündnispartners.Tatsache ist: Die Bundesrepublik Jugoslawien hat wederDeutschland noch einen Bündnispartner Deutschlandsangegriffen, so daß das Zutreffen des Art. 51 im Rah-men der damaligen Entscheidung mit Sicherheit entfiel.Dann gibt es noch einen zweiten Fall, der ebenfalls inKapitel VII der UN-Charta geregelt ist, daß nämlich derSicherheitsrat der UNO gemäß Art. 39 feststellt, daß derFrieden gefährdet ist, und seinerseits militärische Maß-nahmen androht bzw. anordnet.Es war klar, daß beide Fälle nicht vorlagen. Dennochhat der Bundestag mit großer Mehrheit beschlossen, zu-zustimmen, daß die Bundesrepublik Deutschland zu-sammen mit anderen Staaten gegebenenfalls die Bun-desrepublik Jugoslawien bombardiert. Auf diese dama-ligen Beschlüsse wird jetzt Bezug genommen. Das wäreaber nach der UN-Charta eine Aggression gewesen.
Schon die Androhung von Gewalt – nicht erst die An-wendung – ist nach der UN-Charta völkerrechtswidrigund stellt damit die Androhung einer Aggression dar. Dahilft es nichts, über die Zustände in Jugoslawien in die-sem Zusammenhang zu diskutieren.Nun geht es ja weiter: Im April dieses Jahres soll einneues NATO-Dokument beschlossen werden. Die USAlegen Wert darauf, daß dort grundsätzlich festgehaltenwird, daß man bei drohenden Katastrophen auch ohneZustimmung des UN-Sicherheitsrates berechtigt seinsoll, militärisch einzugreifen. Das hebt das Völkerrechtauf Dauer auf und bedeutet: Die NATO koppelt sichvon der UNO und von der UN-Charta ab.Wer das zuläßt, der wird nicht umhinkommen, dasauch anderen Staaten in Asien, Afrika und Lateiname-rika zuzubilligen. Das heißt, die Weltordnung, wie sienach 1945 entstanden ist – sie mag nicht die beste sein,aber sie stellt immerhin eine Weltordnung dar –, wirdzerstört, ohne daß es eine andere oder eine bessere gibt.An die Stelle des Völkerrechts tritt wieder das Recht desStärkeren – also genau das, was 1945 in der Geschichteder Völker endlich beendet werden sollte.
Ulrich Irmer
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1708 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Sehen Sie, es bleibt im Zusammenhang mit demVertrag ein großes Problem. Auch wir wünschen uns –wie alle anderen Fraktionen hier –, daß es in Rambouil-let zu einem Vertrag kommt, um das Blutvergießen inJugoslawien zu beenden und jedes militärische Eingrei-fen, auf jeden Fall die angedrohte und angekündigteBombardierung, überflüssig zu machen. Aber proble-matisch bleibt, daß dieser Vertrag – wenn überhaupt –für den Fall, daß eine Unterschrift nicht geleistet wird,nur unter der Androhung von Bombardierung zustandekommt. Nicht nur nach dem Zivilrecht, sondern auchnach dem Völkerrecht ist ein solcher Vertrag an sichnichtig. Dennoch wünschen wir uns, daß er zustandekommt. Aber unter den gegebenen Bedingungen – auchmit Hilfe des Beschlusses des Bundestages vom Herbst1998 – bleibt es ein völkerrechtlich höchst fragwürdigerVertrag.
Damit Sie nicht glauben, daß ich diese Position ganzallein beziehe, möchte ich Ihnen allen empfehlen: LesenSie den Artikel von Willy Wimmer, CDU-Bundestagsabgeordneter und Vizepräsident der Parla-mentarierversammlung der Organisation für Sicherheitund Zusammenarbeit in Europa, vom 23. Februar 1999in der „Berliner Zeitung“.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, ich
muß Sie leider an Ihre Redezeit erinnern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich hätte gerne noch aus
diesem Artikel zitiert. Ich brauche das nicht zu tun, weil
Sie das selber nachlesen können. Sie werden in diesem
Artikel Kritik an der USA-Strategie finden. Der Autor
weist auf den Völkerrechtsbruch hin, kritisiert die Los-
lösung vom UN-Sicherheitsrat und warnt uns alle vor
den unabsehbaren Folgen eines Eingreifens.
Deshalb: Wir stimmen der Zerstörung der Weltord-
nung, wie sie nach 1945 aus guten Gründen entstanden
ist, nicht zu. Das würden wir tun, wenn wir dem Antrag
der Bundesregierung zustimmten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Herr Kollege
Irmer, ich darf mich an Sie wenden, um einen Irrtum
aufzuklären.
Mein Büro hat mir gesagt, meine Präsenz sei um
19 Uhr erforderlich. Ich bin davon ausgegangen, daß das
der Beginn der Debatte sei. Es ist der voraussichtliche
Beginn der Abstimmung. Das ist meine Schuld, nicht
die Schuld meines Büros. Ich bedauere das und bitte die
Kolleginnen und Kollegen, das zu verstehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner in
der Debatte ist der Kollege Paul Breuer, CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der Bun-desregierung, der hier noch einmal von Herrn MinisterScharping begründet worden ist, veranlaßt dieCDU/CSU-Bundestagsfraktion zu einer sehr nachdenk-lichen Haltung und zu einem sehr sorgfältigen Umgangmit der Sache.Es sind sehr ernste Gedanken, die uns hier bewegenmüssen. Es ist betont worden, daß sowohl die Qualitätwie die Dimension dessen, was uns im Kosovo und umden Kosovo herum begegnen kann, von besondersschwerwiegender Bedeutung sind. Wir tragen diese Ver-antwortung für unser Land, für den Frieden auf unseremKontinent.Wir stehen in ganz besonderer Verantwortung fürjeden einzelnen Soldaten, den wir in diesem Gebiet zumEinsatz bringen müssen. Wir sollten an dieser Stelledenjenigen, die dazu bereit sind, diesen Dienst zu leisten– und die ihn heute leisten: bei der Extraction Force inMazedonien, in Bosnien-Herzegowina, aber auch, umdas alles zu unterstützen, zu Hause –, unseren herzlichenDank sagen.
Ich stelle diesen Dank sehr bewußt an den Anfangmeines Beitrages. Der erreichte Verhandlungsstand inRambouillet läßt es zumindest nicht zu, zu der Auffas-sung zu gelangen, daß es keine Chance zum Frieden gä-be. Wieviel Hoffnung letztlich bleibt, daß der erreichteVerhandlungsstand für eine dauerhafte Sicherung desFriedens ausreicht, das müssen wir der Entwicklung derkommenden Wochen überlassen. Genau zu bestimmen –da stimme ich mit dem überein, was der Außenministerhier gesagt hat –, wann der Zeitpunkt des Abkommenserreicht wird und ob es erreicht wird, läßt sich heutenicht genau sagen.Unsere Aufgabe ist es, diese Sachlage sehr realistischzu beurteilen und unseren verantwortlichen Beitrag zuleisten. Der Deutsche Bundestag ist dieser Verant-wortung mit seinen Beschlüssen vom 16. Oktober, vom13. und 19. November nachgekommen.Herr Kollege Gysi, ich möchte zu Ihren Betrachtun-gen nur eines sagen, und zwar mit Nachdruck: Bittenehmen Sie zur Kenntnis, daß sich zum damaligen Zeit-punkt, also vor Einbruch des Winters – es ist ein harterWinter geworden –, 40 000 Flüchtlinge in den Wäldernaufgehalten haben. Dem, der da nach wie vor nur reinjuristische Betrachtungen anstellt, die noch dazu frag-würdig sind, kann man schon einen gewissen Zynismusvorwerfen, Herr Kollege Gysi.
Diese Menschen sind vor dem Kältetod, vor dem Hun-gertod bewahrt worden;
Dr. Gregor Gysi
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1709
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das muß heute festgestellt werden. Das war nur durchdie Androhung dessen möglich, was wir auf Grund un-serer Verantwortung androhen mußten.Meine Damen und Herren, wir wollen die mit unse-ren Bündnispartnern dokumentierte Entschlossenheit,die ich hier beschrieben habe, fortsetzen. Wir müssendarauf vorbereitet sein, daß die OSZE-Beobachter mög-licherweise ganz schnell aus dem Kosovo abgezogenwerden müssen und daß das unter sehr gefährlichenUmständen der Fall sein kann. Wir als Union haben unszu jedem Zeitpunkt von dem Gedanken leiten lassen– sonst wäre die Entscheidung heute gar nicht möglich –,daß wir dies in voller Solidarität mit unseren Partnernin der westlichen Allianz tun werden. Wir haben heuteals Mitglied der Balkan-Kontaktgruppe darüber hinauseine besondere Verantwortung zu tragen, der wir wie-derum nur gerecht werden können, wenn wir bereit sind,den militärischen Beitrag dazu zu leisten.Neben der Verantwortung für den Frieden im Kosovo– das habe ich bereits zu Beginn betont – haben wirVerantwortung für unsere Soldaten. Meine Damenund Herren Kollegen von der SPD und von den Grünenim Haushaltsausschuß, ich möchte noch einmal nach-drücklich und auch kritisch formulieren: Denken Siebitte darüber nach, was es bedeutet, wenn Sie nicht zu-stimmen, daß dieser Einsatz durch den gesamten Bun-deshaushalt und nicht nur durch den Verteidigungshaus-halt finanziert wird. Wenn Sie dem nicht zustimmen,also das Geld dem Verteidigungshaushalt entziehen,dann verweigern Sie dem Minister Geld für den bevor-stehenden Einsatz, der die Verantwortung dafür trägt,daß unsere Soldaten mit der bestmöglichen Ausbildung,dem bestmöglichen Schutz und dem bestmöglichenMaterial in diese schwierige Aufgabe hineingehen. Dasmuß aber gewährleistet werden! Man darf hier keinerein finanzielle Betrachtung anstellen. Bitte nehmen Siezur Kenntnis, daß der Verteidigungsminister in der Ver-antwortung steht, die Menschen, für die wir verantwort-lich sind, mit optimaler Ausbildung und optimaler Aus-rüstung in diesen Einsatz zu schicken.
Wenn wir dieser Verantwortung nicht gerecht werden,machen wir einen ganz schweren Fehler.
Wir haben uns die Entscheidung, heute zuzustimmen,nicht leichtgemacht. Weil handwerkliche Fehler, dieschon beschrieben worden sind, gemacht wurden, war esnotwendig, in eine intensive Verhandlung in den dafürzuständigen Ausschüssen zu treten. Wir haben heute dieGewißheit, daß man unsere Bedenken ernst genommenhat.Ich bin davon überzeugt, Herr Verteidigungsminister,daß unsere Soldaten, ob das die militärische Führung ist,die Sie gut berät – Sie sollten auf sie hören –, oder dieSoldaten mit Ihrer Umsicht, die dort im Einsatz sindoder sein werden, unser Vertrauen verdienen, dieserschwierigen Aufgabe gerecht zu werden.Ich bedanke mich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wir haben in dieser Debatte jetzt noch
drei Redner. Ich bitte Sie ausdrücklich darum, auch die-
sen drei Kollegen die entsprechende Aufmerksamkeit zu
widmen. Wer ganz notwendige Gespräche führen muß,
der mache das doch bitte außerhalb des Plenarsaales.
Nächster Redner ist jetzt der Kollege Dr. Eberhard
Brecht, SPD.
Sehr geehrte Frau Prä-sidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kolle-gen! Der Name Rambouillet steht für einen Teilerfolgder Kontaktgruppe auf dem Weg zu einem Frieden imKosovo, für einen Teilerfolg – nicht mehr, aber auchnicht weniger. Dieser Name Rambouillet wird einigenkritischen Kommentaren zum Trotz zum Symbol füreine wachsende europäische Gemeinsamkeit inder Außenpolitik – ein gewaltiger Fortschritt gegen-über der babylonischen Stimmenvielfalt, die wir noch inder Frühphase des Bosnienkonfliktes hatten. Europa istmit Rambouillet wieder ein Stück mehr in die Rolleeines erwachsen gewordenen, eines mündigen Partnersder Vereinigten Staaten hineingewachsen.
Erfolg oder Mißerfolg von Rambouillet müssen ander Hauptschwierigkeit der Verhandlungen gemessenwerden, nämlich den sich einander ausschließendenZielstellungen der beiden Verhandlungspartner. So ist esheute nicht verwunderlich, daß die Kosovo-Albanerimmer noch dem politischen Teil der Vereinbarung, dieSerben dem militärischen Teil mit Skepsis oder sogarmit Ablehnung gegenüberstehen. Niemand – das hatauch der Bundesaußenminister gesagt – kann mit letzterSicherheit sagen, was am 15. März und den Folgetagenpassieren wird. Als Realist muß man sagen: Es ist nichtnur so, daß die Verhandlungsführer jetzt nach Hausegehen und versuchen werden, ihre Leute zu überzeugen;vielmehr wird umgekehrt ein Druck von den Hardlinernin Pristina und Belgrad ausgehen, jetzt noch Nachfor-derungen zu stellen, die dieses Vertragswerk zerstörensollen. Dies bedeutet – auch darauf hat der Bundes-außenminister im Ausschuß und im Plenum hingewiesen –,daß der Druck der Kontaktgruppe in den nächsten zweiWochen aufrechterhalten werden muß.In diesem Sinne verstehe ich auch unsere heutige Be-schlußfassung, die verdeutlicht, daß eine Implementie-rung des noch zu unterzeichnenden Vertrages nicht ander fehlenden Bereitschaft des NATO-Mitgliedes Bun-desrepublik Deutschland scheitern darf. Ich begrüße esausdrücklich, daß die Oppositionsparteien heute nundoch mehrheitlich dem Antrag zustimmen werden,nachdem die Bundesregierung eine weitere Präzisierungder Randbedingungen des Einsatzes vorgelegt hat.Meine Damen und Herren, ich habe nicht mehr vielRedezeit. Erlauben Sie mir deswegen noch eine Bemer-kung zum Kollegen Breuer. Herr Breuer, Sie haben denKollegen Gysi angegriffen. Ich glaube, wir können esuns nicht so einfach machen. Wir sind in einer Situation,die uns immer mehr in ein Dilemma hineinkommen läßt:Paul Breuer
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1710 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Auf der einen Seite dürfen wir brutal ausgetragenenKonflikten vor unserer Haustür nicht tatenlos zusehen,wenn wir nicht unsere eigene, unsere europäische, zivili-sierte Identität aufs Spiel setzen wollen; aber auf der an-deren Seite stehen wir in der Gefahr, für die Erreichungdieses Ziels Mittel einzusetzen, die schwer mit demgeltenden Völkerrecht in Übereinstimmung zu bringensind. Deswegen muß ein Beschluß wie ACT ORD fürdieses Haus eine Ausnahme bleiben, wenn wir nichtunsere zivilisatorischen Grundlagen in Gefahr bringenwollen.Die Zustimmung der Kontrahenten zur Stationierungder KFOR macht aus völkerrechtlicher Sicht einen Be-schluß des Sicherheitsrates nicht nötig. Ein UN-Mandatist jedoch wünschenswert, um die Akzeptanz von KFORbei beiden Konfliktparteien zu erhöhen. Ein UN-Mandatliegt jetzt im Bereich des Möglichen, da durch die früheEinbindung Rußlands über die Kontaktgruppe einVeto Moskaus wenig wahrscheinlich ist. Rambouilletwar auch aus diesem Grund ein Stück praktizierte ko-operative Sicherheit in Europa, die wir weiterentwickelnmüssen.
Daher sollten wir mit unserer heutigen Zustimmung die-sen Weg aktiv unterstützen.Ich bedanke mich.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Kurt Ross-
manith, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir
heute über das zweifellos sehr schwierige und ernste
Thema des Einsatzes unserer Streitkräfte für den Frie-
densdienst und für die Erhaltung des Friedens diskutie-
ren, muß man auch daran erinnern, daß es ein Erfolg ist,
daß wir als gleichwertiger Partner innerhalb des Bünd-
nisses angesehen werden, daß dieser Erfolg auch ein Er-
folg der bis Herbst vergangenen Jahres amtierenden
Bundesregierung ist.
Ich möchte auch darauf hinweisen, daß wir dies ge-
gen den teilweise erbitterten Widerstand aus dem Kreis
der heutigen Regierungsparteien durchsetzen mußten.
Ich glaube, jeder Parlamentarier empfindet – das zeigt
auch die heutige Debatte – die besondere Qualität der
Verantwortung, mit der die Entscheidung des heutigen
Tages verbunden ist.
Lassen Sie mich deshalb auch mit allem Nachdruck
in Erinnerung rufen, daß wir das Hineinwachsen der
Bundeswehr in ihren neuen Auftrag sehr behutsam ge-
staltet haben. Wir mußten gegenüber der damaligen Op-
position, die uns den heute zur Abstimmung aufgerufe-
nen Antrag vorlegt, enorm viel parlamentarische Über-
zeugungsarbeit leisten. Vom Einsatz in Somalia bis
Bosnien sind wir keinen Schritt gegangen, ohne mit
äußerster Sorgfalt die politischen Ziele und Risiken zu
diskutieren und auch alle erdenkliche Vorsorge für die
Sicherheit unserer Soldaten einzufordern.
Die CDU/CSU wird – dies haben die Vorgänge der
letzten Tage gezeigt – deshalb von diesem Prinzip äu-
ßerster Sorgfalt und Nachdenklichkeit im Umgang mit
dem Einsatz von Streitkräften nicht abweichen.
Dabei, meine sehr verehrten Damen und Herren, er-
kennen wir durchaus an, daß, wie in diesem Falle, na-
türlich auch Eile geboten sein kann. Vielleicht haben wir
uns als Parlamentarier bei den bisherigen Einsätzen der
Bundeswehr zu sehr um militärische Details gekümmert.
Viel wichtiger ist es doch, daß wir unsere Sorge und un-
sere Sorgfalt auf die Diskussion der politischen Rah-
menbedingungen ausrichten, denn an der politischen
Planungsgenauigkeit, die hinter den Zahlen im vorge-
legten Antrag steht, hege ich keinerlei Zweifel.
Es hat sich bis heute bei allen Einsätzen der Bundes-
wehr gezeigt, daß sich dieses Parlament auf die Füh-
rungs- und auf die Planungsleistung der militäri-
schen Verantwortungsträger voll verlassen kann.
Gerade auch als Abgeordneter Bayerns – aus diesem
Bundesland kommt ein Großteil der Soldaten für das
vorgesehene Kontingent – bin ich froh, sehen zu kön-
nen, welchen hohen Ausbildungsaufwand die Bundes-
wehr betreibt, um die Soldaten auf diesen sehr schwieri-
gen und sicher nicht risikofreien Einsatz vorzubereiten.
Deshalb lassen Sie mich zum Schluß auch noch sa-
gen: Gerade weil wir darauf vertrauen, daß für die Si-
cherheit unserer Soldaten alles Erdenkliche getan wird,
können wir von der CDU/CSU diesem Einsatz zustim-
men. Die Sorge um die Sicherheit unserer Soldaten steht
gleichrangig neben dem berechtigten politischen Ziel,
daß wir uns gemeinsam mit unseren Partnern dafür ein-
setzen, diesem menschenverachtenden Konflikt im Ko-
sovo ein Ende zu bereiten.
Deshalb tragen wir nicht nur gemeinsam diese Verant-
wortung, sondern streben auch weiterhin mit allem
Nachdruck diesem Ziel zu.
Herzlichen Dank.
Als
letzter Redner hat Kollege Helmut Lippelt vom Bünd-
nis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Kür-Dr. Eberhard Brecht
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1711
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ze der noch zur Verfügung stehenden Zeit will ich dasAbstimmungsverhalten meiner Fraktion erläutern,möchte aber vorweg sagen, Herr Gysi: Es ist jetzt nichtdie Zeit zu Polemiken. Deshalb mache ich es ganz kurzund halte Ihren sehr klugen juristischen Deduktionen nurdie Antwort des Generalsekretärs der UNO nach seinerdamaligen geglückten Irak-Mission entgegen, als er ge-fragt wurde, ob Diplomatie nicht besser sei als Militär:„Yes, negotiations, but backed up by force“.Ich bitte, einfach einmal über das sehr schwierigeVerhältnis von politischer Durchsetzung und Militärnachzudenken, darüber, wie das zueinandersteht. Damuß man hier vielleicht nicht in solche lange Polemikausbrechen.
Damit komme ich zum Abstimmungsverhalten mei-ner Fraktion. Wir werden dem Antrag der Bundesregie-rung mit sehr großer Mehrheit zustimmen. Wir werdenihm in der Erwartung zustimmen, daß es am 15. Märzglücken möge, die Unterschriften der beiden beteiligtenSeiten unter das Interimsabkommen zu bekommen. Wirwissen, daß das sehr schwer ist.Wir stimmen gerade deshalb zu, weil das Interimsab-kommen in seinem sachlichen Gehalt sehr zerbrechlichist und es darum auch der militärischen Absicherungdurch eine Friedenstruppe bedarf. Wir werden auch des-halb schon heute zustimmen, weil wir wissen, daß diemilitärische Implementierung unmittelbar nach derUnterschrift erfolgen muß; denn sonst bekommen wireine Sicherheitslücke, mit allen Konsequenzen in diesemgeschüttelten Land.Wir werden auch in der Hoffnung zustimmen, daß esdieses Mal einer europäischen Gesamtpolitik – andersals in Bosnien – gelungen sein möge, dem Morden, dasja schon begonnen hat, ein Ende zu machen bevor esseinen Höhepunkt erreicht.
Herr
Kollege Lippelt, bitte kommen Sie zum Schluß.
Ich will mit dem Wunsch enden, daß all diejenigen, die
diese Aufgaben auf sich nehmen, heil zurückkommen
mögen; denn die Aufgabe ist schwer genug.
Es liegteine Erklärung zur Abstimmung nach § 31 der Ge-schäftsordnung der Kolleginnen Annelie Buntenbach,Monika Knoche, Steffi Lemke, Irmingard Schewe-Gerigk und des Kollegen Christian Simmert – alle An-tragsteller sind vom Bündnis 90/Die Grünen – vor, diezu Protokoll genommen wird.*)*) Anlage 2Des weiteren liegt vom Kollegen Christian Ströbeleder Wunsch nach einer Erklärung gemäß § 31 der Ge-schäftsordnung vor, zu der nach der Abstimmung dasWort erteilt werden wird.Wir kommen zur Abstimmung über die Be-schlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu demAntrag der Bundesregierung zur deutschen Beteiligungan der militärischen Umsetzung eines Rambouillet-Abkommens für den Kosovo sowie an NATO-Operationen im Rahmen der Notfalltruppe, Drucksachen14/397 und 14/414. Der Ausschuß empfiehlt, dem An-trag der Bundesregierung zuzustimmen.Es ist namentliche Abstimmung verlangt worden. Ichbitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorge-sehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? –Das scheint der Fall zu sein. Dann eröffne ich die Ab-stimmung. –Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall.Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführe-rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-nen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen späterbekanntgegeben.*)Jetzt hat der Kollege Christian Ströbele zu einer Er-klärung zur Abstimmung das Wort.
nicht vor der Abstimmung zu Wort gekommen bin. Nunmuß ich nach der Abstimmung begründen, warum ichentgegen der in diesem Hohen Hause ganz offensichtlichherrschenden Meinung mit Nein gestimmt habe.
Das Hohe Haus wäre gut beraten, wenn kritischeStimmen, die es in der Bevölkerung dazu ja durchausgibt, auch hier zu Wort kämen und begründen dürften,warum sie anderer Meinung sind als andere hier imHause. Es wäre ein vernünftiges parlamentarisches Ver-halten, wenn man in einer so gravierenden, an die Exi-stenz von vielen Menschen gehenden Frage auch eineandere Meinung zulassen und sich anhören würde. Esgeht hier nicht nur um Political correctness; man mußnicht immer alles so wie die Mehrheit machen.Nun komme ich zu der Begründung; sie ist kurz. Ichsehe es so: Mit dem Bundestagsbeschluß, der jetzt ge-fällt worden ist, wird die Bundesregierung ermächtigt,und zwar – das ist heute noch einmal klargestellt worden– ohne daß es einer weiteren Entscheidung des Bundes-tages bedarf, eine nicht unerheblich starke Armee, be-stehend aus allen Teilstreitkräften von Bundeswehr undNATO, zu Kampfeinsätzen in die Bundesrepublik Jugo-slawien in Marsch zu setzen. So ist es ganz konkret.Eine völkerrechtliche Grundlage für ein solches Vor-haben fehlt, jedenfalls bisher. Die angekündigte Zu-stimmung der Konfliktparteien, insbesondere der serbi-schen Regierung, liegt nicht vor, so daß eine Rechts-grundlage für diesen Schritt nicht da ist.*) Seite 1715 BDr. Helmut Lippelt
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1712 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Nach dem Bundestagsbeschluß können die Kampf-einheiten der Bundeswehr nicht nur – darüber ist dieganze Zeit geredet worden – zur Umsetzung des Ram-bouillet-Abkommens eingesetzt werden, sondern auch„zu NATO-Operationen im Rahmen der Notfalltruppe“.Ich befürchte, daß, wenn es nicht zur Unterzeichnungeines Rambouillet-Abkommens kommt, nicht nur Flug-zeuge, Raketen der NATO und der Bundeswehr auf derGrundlage der Beschlüsse vom Oktober und November1998 im Kosovo eingesetzt werden, sondern daß dannunter Berufung auf den heutigen Beschluß Panzer, Pan-zergrenadiere, Infanterieeinheiten in die BundesrepublikJugoslawien einrücken werden und dort zum Kampfein-satz kommen, natürlich – das ist im Nebensatz durchausgesagt worden – im Notfall. Es ist versprochen worden,daß das nur kurzzeitig ist und daß es eine nur ganz vor-übergehende Maßnahme sein wird. Ich bin da skeptisch.Ich kann nur hoffen, daß ich unrecht habe und daß essich nicht um eine längere Kampfeinsatzbesetzung desKosovo handeln wird.Hinzu kommt, daß die Ermächtigung zum Einsatzgrößerer Kampfeinheiten der Bundeswehr in der Bun-desrepublik Jugoslawien im Rahmen eines Rambouil-let-Abkommens erteilt werden soll, dessen Inhalt denMitgliedern des Bundestages nicht bekannt ist und auchnoch gar nicht feststeht.Nun komme ich zu dem letzten Punkt, denn ich sehedas durchaus ambivalent. Auch ich bedaure, daß bei denVerhandlungen in Rambouillet kein tragfähiges Frie-densabkommen unterschrieben wurde. Auch ich sageallen Akteuren, die bis spät in die Nacht hinein – daskonnte man hören und sich erzählen lassen – verhandelthaben, den Dank für all diese Bemühungen. Im Interesseder Bevölkerung des Kosovo und überhaupt des Frie-dens in Europa ist ein absicherndes Abkommen gewißdringend geboten.Ich teile auch die große Sorge um das Leben, die Ge-sundheit und die Existenz der Menschen im Kosovo. Esist nicht hinzunehmen, daß ein Staat die Bevölkerungunterdrückt, verfolgt und bekriegt, wenn sie nach Auto-nomie strebt. Jeder politische und ökonomische Druckist gerechtfertigt, um die Zivilbevölkerung vor Tod,Verletzung und Vertreibung zu schützen. Um der serbi-schen Regierung die Zustimmung zu erleichtern, hätteaber zur Sicherung eines Friedensabkommens auch eineinternationale Friedenstruppe unter UNO-Komman-do mit UNO-Mandat vorgeschlagen werden sollen.
Ein solcher Vorschlag darf nicht aus Rücksicht alleinauf die Haltung der USA unterbleiben.
Wir set-zen jetzt die Haushaltsberatungen fort und kommen zumGeschäftsbereich des Bundesministeriums für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend. Das Wort hat dieBundesministerin Christine Bergmann.Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich erinneremich noch gut an die letzte Debatte anläßlich der Regie-rungserklärung zur Familienpolitik, als uns von der Op-position vorgeworfen wurde, daß mit der neuen Bundes-regierung nun wohl der Untergang der Familien einge-leitet werde. Meine Meinung ist, daß die Familien dasanders sehen. Die Familien sind zufrieden, daß sichendlich wieder etwas in ihre Richtung bewegt. Das müs-sen Sie einmal zur Kenntnis nehmen.
Ich habe gestern vom CDU/CSU-Fraktionsvorsit-zenden den Ausspruch gehört, daß wir nicht so recht inder Lage seien, die besondere Fürsorge für die Familienzu entwickeln. Das hat mich schon sehr gewundert; dennangesichts Ihrer Bilanz, die nun auch von dem höchstenGericht im Lande, dem Bundesverfassungsgericht, do-kumentiert wurde, ist es schon eine Zumutung, uns soetwas vorzuhalten. Ihnen ist deutlich demonstriert wor-den, wo Sie in Ihrer Regierungszeit in der Familienpoli-tik versagt haben, wie sehr Sie Familien benachteiligthaben.Wir haben sehr schnell gegengesteuert – auch dasmüssen Sie einmal zur Kenntnis nehmen – mit der Er-höhung des Kindergeldes und den steuerlichen Entla-stungen. Sie wissen, daß wir jetzt mit der Umsetzungdes Bundesverfassungsgerichtsurteils weitere Schrittegehen werden, um ein Stück soziale Gerechtigkeit zuverwirklichen.
Es geht nämlich nicht nur um Steuergerechtigkeit. Esmuß eine Entlastung bei den Familien eintreten, die eswirklich nötig haben. Ich kann Sie, wenn Sie die Familieso auf Ihre Fahnen schreiben, nur auffordern, das vonganzem Herzen zu unterstützen.Obwohl uns die alte Regierung kein bestelltes Haushinterlassen hat, haben wir den Stellenwert unserer Fa-milienpolitik zu Beginn der Legislaturperiode sehr deut-lich gemacht. Bei uns können Familien nicht nur hören,sondern erkennen, daß sie zu den Leistungsträgern derGesellschaft zählen. Sie können dies jeden Monat sozu-sagen an ihrem Gehaltsstreifen oder in der Lohntüte er-kennen, und sie wissen, daß wir noch einiges mehr vor-haben. Das ist ein wesentlicher Unterschied.
Natürlich gibt es auch Unterschiede in bezug auf dieAuffassung von Familie. Wir haben ein modernes Fa-milienbild, das sich den Realitäten stellt. Für uns zählendie Werte, die in dem Zusammenleben von Menschenmit Kindern vermittelt werden.
– Es ist so, ob es Ihnen gefällt oder nicht. – Genau diesvermitteln wir den Familien. Wir respektieren, daß Fa-Hans-Christian Ströbele
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milien heute in vielfältiger Form bestehen. Für uns be-deutet Familienpolitik, nicht nur für die traditionellenFamilien, sondern auch für die Alleinerziehenden, fürNichtverheiratete und für Lebensgemeinschaften einzu-treten, also überall dort, wo Fürsorge praktiziert wird,wo Kinder aufgezogen werden, wo es um Solidarität inder Gesellschaft geht. – Ich weiß gar nicht, warum Sieda so protestieren. Das sind Werte, für die auch Sie ein-stehen könnten.
Wir tun noch etwas, was Sie mir gelegentlich vorwer-fen: Wir nehmen das Recht der Frauen auf Er-werbsarbeit ernst. Dies ist nämlich ein Anspruch, dennicht nur die Frauen in Ostdeutschland haben, sondernmittlerweile alle. Und das ist auch gut so.Mit unserer Kinder- und Jugendpolitik kümmernwir uns darum, daß Jugendliche einen ordentlichen Aus-bildungsplatz bekommen, einen Beruf erlernen und daßjunge Frauen entsprechend beteiligt werden. Wir küm-mern uns darum, daß junge Frauen in zukunftsträchtigeBerufe gehen. Und natürlich wollen diese Frauen, wennsie ausgelernt haben, wenn ihr Studium beendet ist, auchdann arbeiten, wenn sie eine Familie haben. Sie wollenbeides, nicht nur die Familie, sondern auch den Beruf.Das wollen wir ihnen erleichtern.
Familienpolitik bedeutet deshalb für uns, daß Väterund Mütter gleichermaßen die Chance haben müssen,Beruf und Familie in Übereinstimmung zu bringen. Wirrespektieren damit die Wünsche, die heute die meistenFamilien haben. Dazu gehört natürlich, daß die Rah-menbedingungen für moderne Familien so gestaltetwerden, daß Erwerbsarbeit und Familienleben miteinan-der gekoppelt werden können.Deshalb gestalten wir, wie Sie wissen, den Erzie-hungsurlaub zu einem Elternurlaub um. Dadurch wirdpartnerschaftliche Erziehung besser möglich als bisher.Beide Elternteile können gleichzeitig Erziehungsurlaubnehmen, verbunden mit einer Teilzeitarbeit, und ihre Er-ziehungsarbeit miteinander absprechen. Damit könnensich die Väter stärker an der Erziehung beteiligen. WieSie wissen, nehmen im Moment nicht einmal 2 Prozentder Väter Erziehungsurlaub. Hier gibt es also noch einenganz beträchtlichen Nachholbedarf. Ich weise immerdarauf hin, daß es eine neue Vätergeneration gibt, diedurchaus bereit ist, ihren Anteil an der Erziehungsarbeitzu leisten. Aber diese Generation erwartet von uns, daßwir die Rahmenbedingungen so verändern, daß dieAufteilung der Erziehungsarbeit besser möglich ist.
Die partnerschaftliche Entscheidung der Eltern, wiedas Familienleben organisiert und wie Berufstätigkeitund Erziehung der Kinder aufgeteilt werden sollen, er-fordert natürlich auch ein ausreichendes Angebot anKinderbetreuungsplätzen. Ein gut ausgebautes Kinder-betreuungssystem ist die unabdingbare Voraussetzungfür die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wie wirwissen, reicht hier nicht der Rechtsanspruch auf einenKita-Platz. Auch Kinder unter drei Jahren brauchen eineBetreuung, wenn Väter und Mütter erwerbstätig seinwollen oder müssen. Das ist auch für Kinder über sechsJahre notwendig.Wir suchen zur Zeit gemeinsam mit den Kommunenund den Ländern nach Möglichkeiten, um die Situationzu verbessern. Zwar können auch wir die Milliardennatürlich nicht aus der Tasche zaubern. Aber es gehtdarum, festzustellen, was getan werden kann: wie dieLücken im Kinderbetreuungssystem durch den stärkerenEinsatz von Tagesmüttern geschlossen werden können;wie sich der Bestand von Kita-Plätzen, die auf Grundsinkender Kinderzahlen frei werden, durch Umwidmungfür andere Altersgruppen sichern läßt; wie sich die Hort-erziehung – in Zusammenarbeit mit den Schulen – bes-ser bewerkstelligen läßt. Das unterscheidet uns vonIhnen: Zwar haben Sie im Moment diese Probleme neuentdeckt, nachdem Sie sie viele Jahre nicht angegangensind. Aber wir wollen sie wirksam angehen.Ich möchte noch etwas zur Erwerbsarbeit derFrauen sagen, obwohl Frau Eichhorn mir in ihrer Erklä-rung wieder vorwirft, daß ich mich zu sehr darum küm-mere. Aber wir müssen nun einmal zur Kenntnis neh-men, daß Frauen Erwerbsarbeit wollen und auch einRecht darauf haben.
Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, daß es in dertraditionellen Familie einen beträchtlichen Rollenwech-sel gegeben hat. Das gilt nicht nur für die ostdeutschen,sondern für alle Frauen in unserem Land. Immer mehrFrauen verfügen über hochqualifizierte Abschlüsse undsind hochmotiviert. Die Frage, die uns gemeinsam be-wegen sollte – ich lade Sie ein, hier kräftig mitzumachen –,ist doch, wie die noch immer vorhandene Diskriminie-rung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt abgebaut werdenkann. Das ist es, was uns eigentlich bewegt.
Wir werden demnächst das Aktionsprogramm„Frau und Beruf“ starten. Ich möchte hier vor allemauf einen Punkt eingehen: Schauen wir uns einmal dieEntwicklungen auf dem Arbeitsmarkt der freien Wirt-schaft an. Wir fordern auch hier ein wirksames Gleich-stellungsgesetz. Sie fragen, warum, und runzeln dieStirn. Ich kann Ihnen sagen, warum: Es gibt in den Vor-standsetagen in Deutschland nur 4 Prozent Frauen;9 Prozent sind es im mittleren Management. Dazu willich Ihnen ein paar Zahlen aus einer ILO-Studie vortra-gen, die ich vor kurzem auf dem Tisch hatte und überdie man nur staunen kann: In Mexiko – ich wußte garnicht, daß die Frauen dort so stark gefördert werden –gibt es im mittleren Management 19 Prozent Frauen, inUngarn 25 Prozent, in Kanada 42 Prozent und in denUSA 46 Prozent. Daran wird deutlich, daß Deutschlandhier weit abgeschlagen ist. Auch im Vergleich mit unse-ren europäischen Nachbarländern sehen wir nicht gutaus. Das können Sie mir glauben.Bundesministerin Dr. Christine Bergmann
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Ich möchte Ihnen sagen, worum es uns geht: Wennwir Frauen in der Privatwirtschaft fördern wollen,dann wollen wir damit auch an die positiven Erfahrun-gen der Unternehmen anknüpfen, die diese bereits ge-macht haben.
Es gibt in Deutschland Unternehmen, die Frauen för-dern, die Erziehungsregelungen einführen, die Zielver-einbarungen abgeschlossen und die begriffen haben, daßes für ihr Unternehmen gut ist, wenn sie hochmotivierteund gutqualifizierte Frauen auf entsprechenden Posi-tionen einsetzen. Diese Unternehmen haben begriffen,daß Frauenförderung auch Wirtschaftsförderung ist. Andiesem positiven Punkt werden wir ansetzen. Wir wer-den die positiven Erfahrungen aufgreifen, um eine ent-sprechende Förderung umzusetzen. Ich bin ziemlich si-cher, daß hier zwar ein weites Feld zu bestellen ist, daßwir aber einvernehmlich vernünftige Wege finden, diesowohl dem Anspruch der Unternehmen als auch demInteresse der beteiligten Frauen entsprechen. Frauenför-derung ist übrigens schon heute ein Qualitätselement fürviele Unternehmen. Dies soll sich in Zukunft in diesemSinne weiterentwickeln.Der 10. Kinder- und Jugendbericht ist auch hiermehrfach diskutiert worden. Wir setzen uns am Sonn-abend mit der Sachverständigenkommission dieses Be-richts zusammen, um über die Empfehlungen noch ein-mal vernünftig zu beraten. Sie haben diese Empfehlun-gen nicht ernst genommen, weil Ihnen die Ergebnisse,die auf dem Tisch gelegen haben, nicht paßten. Durchdiesen Bericht wird klar, daß in der Kinder- und Ju-gendpolitik eine ganze Menge getan werden muß. Ichnenne die Stichworte „Kinderrechte“, „Jugendschutz“und „Hilfe für Benachteiligte“.Ich möchte auf das eingehen, was wir im Bereich derJugendpolitik vorhaben. Es ist immer gut, wenn sichDebatten verschieben. Wenn das geschieht, bekommtman schon vorher die Presseerklärung der Opposition,Frau Eichhorn. Ich rate Ihnen: Schauen Sie sich denHaushalt noch einmal genau an! Sie schreiben in IhrerPresseerklärung zum Beispiel, wir hätten Kürzungen imBereich der Jugendpolitik vorgesehen. Tatsächlich ha-ben wir eine Aufstockung vorgenommen. Es handeltsich nicht um Milliardenbeträge, aber immerhin um et-wa 12 Millionen DM, und zwar für den Bereich „Jugendund Arbeit“. Eines unserer wichtigsten Ziele ist es, dieJugendhilfe mit den Programmen der Bundesanstalt fürArbeit und denen des Ministeriums zu verknüpfen.Unsere Erkenntnis ist, daß Jugendhilfe nicht mehr nurindividuelle Hilfe sein kann; vielmehr müssen wir Ju-gendhilfe auch als Entwicklungsarbeit an sozialenBrennpunkten in Zusammenarbeit mit den Jugendlichenleisten. Es gibt vor Ort viele gute Erfahrungen. In Berlinund auch in anderen Regionen haben wir erfahren, wiedurch die Zusammenarbeit von Arbeitsämtern, Jugen-dämtern, Wirtschaftsbetrieben und Schulen zum Bei-spiel besonders benachteiligte Jugendliche, die noch einStück zusätzliche Unterstützung brauchen, integriertwerden können, um ihren Platz im Erwerbsleben zu fin-den. Offensichtlich haben Sie damit Schwierigkeiten.Ich kann mir das nur damit erklären, daß Sie ein sehrschlechtes Gewissen haben; denn die Bilanz von fast500 000 arbeitslosen Jugendlichen ist eine Last.
Mäkeln Sie nicht permanent an unserem Sofortpro-gramm herum und geben Sie sich einmal einen Ruck,indem Sie sagen: Das ist prima, endlich bekommen100 000 Jugendliche eine neue Chance!
Auch Frau Eichhorn schreibt in ihrer Presseerklärungwieder: Das war ein Flop.
– Ich weiß, wie die Praxis aussieht. Frau Rönsch, dasmüssen Sie mir nicht sagen. Ich habe auch jetzt nochKontakte zu Berlin. Ich weiß, wie es ist, wenn einem Ju-gendliche, hart erscheinende junge Männer, mit Tränenin den Augen gegenüberstehen, die, nachdem sie zweioder drei Jahre einen Ausbildungsplatz gesucht haben,endlich ein anständiges Angebot bekommen. Das ist es,was zählt.
Wir sollten gemeinsam vorgehen und nicht von „Ruhig-stellung“ oder von „Flop“ reden. Wahrscheinlich sagenSie, daß das, was wir machen, für die besonders Be-nachteiligten unnötig ist. Für uns zählt wirklich jederJugendliche, dem wir eine Chance geben, ein selbstbe-stimmtes Leben zu führen, einen Ausbildungsplatz zubekommen, in den Arbeitsmarkt zu kommen. Das ist einZiel, das alle Altersgruppen in der Gesellschaft interes-siert. Wir werden nicht lockerlassen, dieses Ziel zu er-reichen. Sie können daran soviel herummäkeln, wie Siewollen.
Ich möchte nur kurz die Freiwilligendienste nennen,die wichtig sind, um Jugendlichen ein Stück Berufsori-entierung und Berufsvorbereitung zu geben. Auch indiesem Bereich haben wir die Mittel aufgestockt. Es istsehr erfreulich, wieviele Jugendliche das Freiwillige So-ziale und das Freiwillige Ökologische Jahr in Anspruchnehmen. Wir müssen uns allerdings mehr darum küm-mern, daß auch Hauptschülerinnen und Hauptschüler esin Anspruch nehmen. Ihr Anteil ist mir zu gering.
Es ist eine große Gruppe, um die wir uns besonderskümmern müssen. Dieser Aufgabe gehen wir nach.Lassen Sie mich noch einen Satz zur Seniorenpolitiksagen. Auch auf diesem Gebiet haben wir kein bestelltesHaus vorgefunden. Es gibt hier einen enormen Reform-stau, auch im rechtlichen Bereich.
Bundesministerin Dr. Christine Bergmann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1715
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Wir müssen dringend die Qualität der Altenpflege ver-bessern. Wir machen das schrittweise. Wir fangen jetztmit der bundeseinheitlichen Altenpflegeausbildung an.Wir fahren mit der Novelle zum Heimgesetz fort, undwir werden auch Reformen bei den ambulanten Dienstenzustande bringen. Wir führen schon jetzt entsprechendeGespräche, zum Beispiel mit den kommunalen Vertre-tern, mit den Ländern und mit privaten Trägern ambu-lanter Dienste. Sie können das, wenn Sie der Meinungsind, daß es wichtig ist, gerne unterstützen. Ich bin dasehr uneigennützig.
Wir nehmen jede Unterstützung, die wir kriegen können,weil es darum geht, die Pflegebedingungen wirklich zuverbessern.Wir nutzen auch das Internationale Jahr der Senio-ren sehr ernsthaft. Sie haben von uns ja Übersichten da-zu bekommen. Der demographische Wandel ist zwarzahlenmäßig bekannt; aber wenn wir diskutieren, disku-tieren wir immer nur über Rente. Der demographischeWandel hat aber auch andere Aspekte: Es gibt immermehr Ältere, die ihren Platz in der Gesellschaft einneh-men wollen. Es geht darum, das Bild der Älteren in derGesellschaft zu verändern und zu verbessern. Daran ar-beiten wir sehr kräftig; wir nutzen dazu dieses Jahr. Siebekommen Einladungen zu allen Veranstaltungen. Dasgilt aber nicht nur für dieses Jahr, sondern wir haben indiesem Bereich auch schon die Weichen für die näch-sten Jahre gestellt.
Zum Schluß nur noch eins: Es handelt sich mit12 Milliarden DM nicht um den größten Haushalt, denich hier vertrete, aber in der Gleichstellungspolitik, imJugendbereich, in der Familien- und Seniorenpolitik sindsehr viele gesellschaftliche Reformen notwendig. Wirgehen sie im Interesse dieser Gruppen an. Sie könnenuns dabei unterstützen; ich würde mich darüber freuen.Aber wir setzen das auch dann um, wenn Sie weiterhinnur daran herummäkeln. Sie haben die Wahl.Danke.
LiebeKolleginnen und Kollegen, ich gebe Ihnen jetzt das vonden Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Er-gebnis der namentlichen Abstimmung zur deutschenBeteiligung an der militärischen Umsetzung eines Ram-bouillet-Abkommens bekannt, Drucksachen 14/397 und14/414. Abgegebene Stimmen 608. Mit Ja haben ge-stimmt 556, mit Nein haben gestimmt 42, Enthaltungen10. Die Beschlußempfehlung ist damit angenommen.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 604;davon:ja: 553nein: 41enthalten: 10JaSPDBrigitte AdlerGerd AndresRainer ArnoldHermann BachmaierErnst BahrDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsEckhardt Barthel
Ingrid Becker-InglauDr. Axel BergHans-Werner BertlFriedhelm Julius BeucherPetra BierwirthRudolf BindigKurt BodewigKlaus BrandnerAnni Brandt-ElsweierWilli BraseDr. Eberhard BrechtRainer Brinkmann
Bernhard Brinkmann
Hans-Günter BruckmannUrsula BurchardtDr. Michael BürschHans Büttner
Marion Caspers-MerkWolf-Michael CatenhusenDr. Herta Däubler-GmelinKarl DillerPeter DreßenRudolf DreßlerDetlef DzembritzkiDieter DzewasDr. Peter EckardtSebastian EdathyLudwig EichMarga ElserPetra ErnstbergerAnnette FaßeLothar Fischer
Gabriele FograscherIris FollakNorbert FormanskiRainer FornahlHans ForsterDagmar FreitagPeter Friedrich
Lilo Friedrich
Harald FrieseArne FuhrmannMonika GanseforthKonrad GilgesIris GleickeGünter GloserUwe GöllnerRenate GradistanacGünter Graf
Angelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnAchim GroßmannWolfgang GrotthausKarl-Hermann Haack
Hans-Joachim HackerKlaus HagemannManfred HampelChristel HanewinckelAlfred HartenbachNina HauerHubertus HeilReinhold HemkerFrank HempelDr. Barbara HendricksGustav HerzogMonika HeubaumReinhold Hiller
Stephan HilsbergGerd HöferJelena Hoffmann
Walter Hoffmann
Iris Hoffmann
Frank Hofmann
Ingrid HolzhüterEike HovermannChristel HummeLothar IbrüggerBarbara ImhofBrunhilde IrberGabriele IwersenRenate JägerJann-Peter JanssenIlse JanzDr. Uwe JensVolker Jung
Johannes KahrsUlrich KasparickSabine KaspereitSusanne KastnerHans-Peter KemperKlaus KirschnerMarianne KlappertSiegrun KlemmerHans-Ulrich KloseWalter KolbowFritz Rudolf KörperKarin KortmannAnette KrammeNicolette KresslVolker KröningAngelika Krüger-LeißnerHorst KubatschkaErnst KüchlerHelga Kühn-MengelUte KumpfDr. Uwe KüsterWerner LabschOskar LafontaineChristine LambrechtBrigitte LangeChristian Lange
Detlev von LarcherChristine LehderWaltraud LehnRobert LeidingerKlaus LennartzDr. Elke LeonhardEckhart LeweringGötz-Peter Lohmann
Erika LotzBundesministerin Dr. Christine Bergmann
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1716 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Dr. Christine LucygaDieter Maaß
Winfried ManteDirk ManzewskiTobias MarholdLothar MarkChristoph MatschieIngrid Matthäus-MaierHeide MattischeckMarkus MeckelUlrike MehlUlrike MertenAngelika MertensDr. Jürgen Meyer
Ursula MoggChristoph MoosbauerSiegmar MosdorfMichael Müller
Jutta Müller
Christian Müller
Franz MünteferingAndrea NahlesVolker Neumann
Gerhard Neumann
Dr. Edith NiehuisDr. Rolf NieseDietmar NietanGünter OesinghausEckhard OhlLeyla OnurManfred OpelHolger OrtelAdolf OstertagKurt PalisAlbrecht PapenrothDr. Willfried PennerDr. Martin PfaffGeorg PfannensteinJohannes PflugJoachim PoßKarin Rehbock-ZureichMargot von RenesseBernd ReuterDr. Edelbert RichterReinhold RobbeDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Birgit Roth
Gerhard RübenkönigThomas SauerDr. Hansjörg SchäferGudrun Schaich-WalchRudolf ScharpingBernd ScheelenDr. Hermann ScheerSiegfried SchefflerHorst SchildOtto SchilyDieter SchlotenHorst Schmidbauer
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Dagmar Schmidt
Wilhelm Schmidt
Regina Schmidt-ZadelHeinz Schmitt
Carsten SchneiderDr. Emil SchnellWalter SchölerOlaf ScholzKarsten SchönfeldFritz SchösserOttmar SchreinerGerhard SchröderGisela SchröterDr. Mathias SchubertRichard Schuhmann
Brigitte Schulte
Reinhard Schultz
Volkmar Schultz
Ilse SchumannEwald SchurerDr. R. Werner SchusterDietmar Schütz
Dr. Angelica Schwall-DürenErnst SchwanholdRolf SchwanitzBodo SeidenthalErika SimmDr. Cornelie Sonntag-WolgastWieland SorgeWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltAntje-Marie SteenLudwig StieglerRolf StöckelRita Streb-HesseDr. Peter StruckJoachim StünkerJoachim TappeJörg TaussJella TeuchnerDr. Gerald ThalheimWolfgang ThierseFranz ThönnesAdelheid TröscherHans-Eberhard UrbaniakRüdiger VeitSimone ViolkaUte Vogt
Hans Georg WagnerHedi WegenerDr. Konstanze WegnerWolfgang WeiermannReinhard Weis
Matthias WeisheitGunter WeißgerberGert Weisskirchen
Dr. Ernst Ulrich vonWeizsäckerHans-Joachim WeltDr. Rainer WendHildegard WesterLydia WestrichInge Wettig-DanielmeierDr. Margrit WetzelDr. Norbert WieczorekHelmut Wieczorek
Jürgen Wieczorek
Heidemarie Wieczorek-ZeulDieter WiefelspützHeino Wiese
Klaus WiesehügelBrigitte Wimmer
Engelbert WistubaBarbara WittigDr. Wolfgang WodargHanna Wolf
Waltraud Wolff
Heidemarie WrightUta ZapfDr. Christoph ZöpelPeter ZumkleyCDU/CSUUlrich AdamIlse AignerPeter AltmaierDietrich AustermannNorbert BarthleDr. Wolf BauerGünter BaumannBrigitte BaumeisterMeinrad BelleDr. Sabine Bergmann-PohlOtto BernhardtHans-Dirk BierlingDr. Joseph-Theodor BlankRenate BlankDr. Heribert BlensPeter BleserDr. Norbert BlümDr. Maria BöhmerSylvia BonitzJochen BorchertWolfgang BosbachDr. Wolfgang BötschKlaus BrähmigDr. Ralf BrauksiepePaul BreuerKlaus Bühler
Hartmut Büttner
Dankward BuwittCajus CaesarLeo DautzenbergWolfgang DehnelHubert DeittertAlbert DeßWilhelm DietzelThomas DörflingerMarie-Luise DöttMaria EichhornRainer EppelmannAnke EymerIlse FalkDr. Hans Georg FaustIngrid FischbachDirk Fischer
Herbert FrankenhauserDr. Gerhard Friedrich
Dr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeHans-Joachim FuchtelDr. Jürgen GehbNorbert GeisDr. Heiner GeißlerGeorg GirischMichael GlosDr. Reinhard GöhnerPeter GötzDr. Wolfgang GötzerKurt-Dieter GrillHermann GröheManfred GrundCarl-Detlev Freiherr vonHammersteinGottfried Haschke
Gerda HasselfeldtNorbert Hauser
Hansgeorg Hauser
Klaus-Jürgen HedrichUrsula HeinenManfred HeiseSiegfried HeliasHans Jochen HenkeErnst HinskenPeter HintzeKlaus HofbauerMartin HohmannKlaus HoletschekJosef HollerithDr. Karl-Heinz HornhuesSiegfried HornungJoachim HörsterHubert HüppePeter JacobySusanne JaffkeGeorg JanovskyDr.-Ing. Rainer JorkDr. Harald KahlBartholomäus KalbSteffen KampeterDr. Dietmar KansyIrmgard KarwatzkiVolker KauderEckart von KlaedenUlrich KlinkertDr. Helmut KohlManfred KolbeNorbert KönigshofenEva-Maria KorsHartmut KoschykRudolf KrausDr. Martina KrogmannDr. Paul KrügerDr. Hermann KuesKarl LamersDr. Karl A. Lamers
Dr. Norbert LammertDr. Paul LaufsKarl-Josef LaumannVera LengsfeldWerner LensingPeter LetzgusUrsula LietzWalter Link
Eduard LintnerDr. Klaus Lippold
Dr. Manfred LischewskiWolfgang Lohmann
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1717
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Dr. Michael LutherErwin MarschewskiDr. Martin Mayer
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterDr. Angela MerkelFriedrich MerzMeinolf MichelsDr. Gerd MüllerBernward Müller
Elmar Müller
Claudia NolteGünter NookeFranz ObermeierEduard OswaldNorbert Otto
Dr. Peter PaziorekAnton PfeiferDr. Friedbert PflügerBeatrix PhilippRonald PofallaRuprecht PolenzMarlies PretzlaffDieter PützhofenHans RaidelDr. Peter RamsauerPeter RauenChrista Reichard
Erika ReinhardtHans-Peter RepnikDr. Heinz RiesenhuberFranz RomerHannelore Rönsch
Heinrich-Wilhelm RonsöhrDr. Klaus RoseKurt RossmanithAdolf Roth
Norbert RöttgenDr. Christian RuckVolker RüheAnita SchäferDr. Wolfgang SchäubleHartmut SchauerteHeinz SchemkenKarl-Heinz ScherhagGerhard ScheuDietmar SchleeBernd SchmidbauerChristian Schmidt
Andreas Schmidt
Michael von SchmudeBirgit Schnieber-JastramDr. Andreas SchockenhoffDr. Rupert ScholzReinhard Freiherr vonSchorlemerDr. Erika SchuchardtDiethard W. Schütze
Clemens SchwalbeDr. Christian Schwarz-SchillingHorst SeehoferHeinz SeiffertRudolf SeitersWerner SiemannJohannes SinghammerBärbel SothmannMargarete SpäteCarl-Dieter SprangerDr. Wolfgang Freiherr vonStettenAndreas StormDorothea Störr-RitterMax StraubingerMatthäus StreblThomas StroblMichael StübgenDr. Susanne TiemannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzAngelika VolquartzAndrea VoßhoffDr. Theodor WaigelPeter Weiß
Gerald Weiß
Annette Widmann-MauzHeinz Wiese
Hans-Otto Wilhelm
Klaus-Peter WillschMatthias WissmannWerner WittlichDagmar WöhrlElke WülfingPeter Kurt WürzbachWolfgang ZöllerBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMarieluise Beck
Volker Beck
Angelika BeerMatthias BerningerEkin DeligözDr. Thea DückertFranziska Eichstädt-BohligDr. Uschi EidHans-Josef FellAndrea Fischer
Joseph Fischer
Katrin Göring-EckardtRita GrießhaberWinfried HermannAntje HermenauKristin HeyneUli HöfkenMichaele HustedtDr. Angelika Köster-LoßackDr. Helmut LippeltDr. Reinhard LoskeOswald MetzgerKlaus Wolfgang Müller
Kerstin Müller
Winfried NachtweiChrista NickelsCem ÖzdemirSimone ProbstChristine ScheelRezzo SchlauchAlbert Schmidt
Werner Schulz
Christian SterzingJürgen TrittinDr. Antje VollmerLudger VolmerSylvia Ingeborg VoßHelmut Wilhelm
F.D.P.Hildebrecht Braun
Rainer BrüderleErnst BurgbacherJörg van EssenUlrike FlachPaul K. FriedhoffHorst Friedrich
Dr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannDr. Karlheinz GuttmacherKlaus HauptDr. Helmut HaussmannUlrich HeinrichWalter HircheBirgit HomburgerDr. Werner HoyerUlrich IrmerDr. Klaus KinkelDr. Heinrich KolbIna LenkeJürgen W. MöllemannDirk NiebelHans-Joachim Otto
Detlef ParrCornelia PieperDr. Günter RexrodtDr. Edzard Schmidt-JortzigGerhard SchüßlerMarita SehnDr. Hermann Otto SolmsCarl-Ludwig ThieleDr. Dieter ThomaeJürgen TürkDr. Guido WesterwelleNeinSPDKlaus Barthel
Uwe HikschBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENAnnelie BuntenbachMonika KnocheSteffi LemkeChristian SimmertHans-Christian StröbeleF.D.P.Jürgen KoppelinPDSDr. Dietmar BartschPetra BlässMaritta BöttcherEva Bulling-SchröterRoland ClausHeidemarie EhlertDr. Heinrich FinkDr. Ruth FuchsFred GebhardtWolfgang Gehrcke-ReymannDr. Klaus GrehnDr. Gregor GysiDr. Barbara HöllCarsten HübnerSabine JüngerGerhard JüttemannDr. Evelyn KenzlerDr. Heidi Knake-WernerRolf KutzmutzHeidi Lippmann-KastenUrsula LötzerDr. Christa LuftHeidemarie LüthAngela MarquardtManfred Müller
Kersten NaumannRosel NeuhäuserChristine OstrowskiPetra PauDr. Uwe-Jens RösselChristina SchenkGustav-Adolf SchurDr. Ilja SeifertEnthaltenSPDDr. Peter DanckertChristel DeichmannKonrad KunickChrista LörcherRenate RennebachRené RöspelCDU/CSUManfred Carstens
Willy Wimmer
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENIrmingard Schewe-GerigkF.D.P.Sabine Leutheusser-SchnarrenbergerEntschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungendes Europarates und der WEU, der NAV, der OSZE oder der IPUAbgeordnete(r)Behrendt, Wolfgang, SPDZierer, Benno, CDU/CSUMaaß , Erich, CDU/CSUSiebert, Bernd, CDU/CSU Wohlleben, Verena, SPDVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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1718 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Wir fahren nun in der Debatte fort. Das Wort hat dieKollegin Maria Eichhorn von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Diese Regierung istmit dem Anspruch angetreten, vieles besser zu machen.Wie sieht dieses Versprechen in der Familien-, Senio-ren-, Frauen- und Jugendpolitik aus? Wie ist die Bilanznach 100 Tagen?
Meine Damen und Herren, die Familienpolitik vonRotgrün ist ideologisch geprägt.
Der Satz, die Familie ist dort, wo Kinder sind, offenbartein anderes Familienbild, als wir es vertreten. Ehe undFamilie haben eine grundlegende Bedeutung für die Ent-faltung des einzelnen und die Zukunft unserer Gesell-schaft. Für uns ist daher der Schutz von Ehe und Fami-lie, der sich aus Art. 6 des Grundgesetzes ergibt, beson-ders wichtig. Wir werden daran festhalten und lehnendaher die von Ihnen geplante rechtliche Aufwertung vonanderen Lebensgemeinschaften ab.Sie, Frau Ministerin, haben angekündigt, daß dasKindergeld um weitere 10 DM erhöht wird, wenn dasEhegattensplitting gekappt ist. Sie wollen also durchkonkrete Gesetze Art. 6 des Grundgesetzes aushöhlen.
Die Sprecherin der Grünen-Fraktion, Kerstin Müller, hatdas ganz klar offengelegt, als sie sagte: Wir werden dasGesicht dieser Republik verändern. Wenn die Grünenfordern, daß die „Subventionierung des Trauscheins“keine Zukunft haben dürfe, heißt das, daß der Schutzvon Ehe und Familie nichts mehr gilt.
Meine Damen und Herren, selbstverständlich mußPolitik veränderten gesellschaftlichen BedingungenRechnung tragen. Wir schreiben niemandem etwas vor.Aber über allem Wandel der Lebensformen müssen dietragenden Leitbilder unserer Gesellschaft erhalten blei-ben. Deswegen werden wir dafür sorgen, daß Ehe undFamilie auch in Zukunft gefördert werden.
Was tun Sie für Familien? Was wird besser? Wirbrauchen ein Gesamtkonzept zur Förderung der Fami-lien.
Sie dagegen hantieren mit einzelnen Versatzstücken: einbißchen Steuerentlastungsgesetz, ein wenig Kindergeld-erhöhung, dazu eine Fülle von täglich wechselnden, zumTeil sich widersprechenden Ankündigungen. Wenn dasdie Bewegung sein soll, Frau Bergmann, die Sie vorhinversprochen haben, dann muß man sagen, daß dieskläglich ist. Sie geben mit der einen Hand etwas mehrKindergeld und ziehen es den Familien durch die Ener-giesteuer mit der anderen Hand wieder aus der Tascheheraus.
Verlierer Ihrer Politik sind vor allem kinderreicheFamilien: keine Kindergelderhöhung ab dem drittenKind, dafür mehr Belastungen. Ohne die Beschlüsse desBundesverfassungsgerichts hätte diese Bundesregierungnicht einmal an die Kinderfreibeträge gedacht.
Wir erinnern uns: In der letzten Legislaturperiode wolltedie SPD den Kinderfreibetrag abschaffen, obwohl dieBundesverfassungsgerichtsurteile dazu schon immereindeutig waren. 1975 hatten die Sozialdemokraten dieFreibeträge schon einmal abgeschafft. Wir haben sie1983 wieder eingeführt. Das Bundesverfassungsgerichthat mit seinem jüngsten Urteil diese Politik bestätigt.
Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, hätten wir über-haupt keine Kinderfreibeträge mehr.Wir brauchen uns mit unserer Familienpolitik wahr-lich nicht zu verstecken, denn wir haben in unserer Re-gierungszeit die Leistungen für Familien mehr als ver-doppelt. Wir haben völlig neuartige Leistungen einge-führt – zum Beispiel Erziehungsgeld, Erziehungsurlaubund schließlich die Anerkennung der Erziehungszeitenin der Rentenversicherung –, die ganz wichtig sind fürdie Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das ist unsereLeistung.
Wenn Sie das Ehegattensplitting abschaffen wollen,dann handeln Sie verfassungswidrig. Auch die Kappungdes Ehegattensplittings, die Sie vorsehen, ist verfas-sungsrechtlich höchst bedenklich.In den Haushaltsdebatten der letzten Jahre – dafürhaben wir Verständnis, weil wir selbst gerne das Erzie-hungsgeld erhöht hätten; wir konnten es aber nicht –
kam immer wieder die Forderung, die Einkommens-grenzen beim Erziehungsgeld zu erhöhen. Jetzt sind Siean der Regierung; jetzt können Taten folgen. Sie habenbereits 1997 gesagt, daß Sie die Vorschläge dafür in derSchublade hätten. Wenn Ihnen die Änderung beim Er-ziehungsgeld wirklich so wichtig ist, dann hätte sie ihrenNiederschlag bereits in diesem Haushalt finden müssen.Aber leider muß man feststellen: großmundige Ankün-digungen, aber keine Taten.
Wir freuen uns, daß die Menschen heute immer älterwerden und daß es immer mehr Senioren gibt. Aber wasist die Antwort der zuständigen Ministerin auf dieseVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Situation? Sie kürzt den Haushaltsansatz um 1,62 Mil-lionen DM – und das im Internationalen Jahr der Senio-ren. Da stellt sich schon die Frage: Was tun Sie denn fürdie Senioren? Was wird besser? – Fehlanzeige! Es wur-den zwar einige Vorhaben angekündigt, aber das war esdann auch schon. Tatsache ist: Eine angemessene Ein-beziehung der Senioren in die Gesellschaft, der Brük-kenschlag zwischen Alt und Jung, ist für Sie ohne Be-deutung. Sie haben zwar in der Presse verkündet, daßSie die Solidarität zwischen den Generationen fördernwollen. Aber das war es auch schon. Es war schon er-schreckend, Frau Ministerin, als Sie im Fachausschußnicht einmal wußten, welche Vorhaben Ihr Haus zumInternationalen Jahr der Senioren plant. Daraus folgt,daß die Seniorenpolitik Sie wenig oder fast gar nichtinteressiert. Sie konnten zu diesem Punkt noch nichteinmal Auskunft erteilen.
Die einzige Schlagzeile, die diese Bundesregierung inder Seniorenpolitik gemacht hat, war die unselige An-kündigung des Bundesverkehrsministers, den älterenMenschen ab einer gewissen Altersgrenze pauschal denFührerschein zu entziehen. Auf solche Diskriminierun-gen können wir gut verzichten.
Ich bin froh und dankbar, daß die frühere Seniorenmini-sterin eine gute und intensive Seniorenpolitik betriebenhat. Sie brauchen ihre Vorhaben nur aus der Schubladezu ziehen. Tun Sie es einfach, Frau Bergmann!Was tun Sie für Frauen?
Was wird besser? Man kann nur sagen: Viel Lärm umnichts.
Sie haben immer massive Kritik an unserer Frauenpoli-tik geübt. Sie haben großartig angekündigt, daß Sie fürFrauen jetzt mehr tun wollen. Aber im Haushaltsansatzfindet sich dazu überhaupt nichts. Es bleibt bei denschon von uns vorgesehenen Mitteln.Betrachtet man jedoch Ihre inhaltlichen Schwer-punkte, dann zeigen sich klare Unterschiede. Denn Siesprechen nur von der Frauenförderung und der Gleich-stellung auf dem Arbeitsmarkt. Das zeigt eindeutig, FrauBergmann, daß Ihre Ideologie ausschließlich von der be-rufstätigen Frau geprägt ist. Viele Frauen wählen aberandere Lebensentwürfe, und dem müssen wir Rechnungtragen. Ich finde aber keine Konzepte zur Vereinbarkeitvon Familie und Beruf. Diese Frauen passen wahr-scheinlich nicht in Ihr Gesellschaftsmodell.
Wir halten an der Wahlfreiheit fest und wollen nieman-dem vorschreiben, ob und wie er Erwerbstätigkeit undFamilienarbeit miteinander verbindet.
Wenn Sie schon etwas für die erwerbstätigen Frauentun wollen, hätten Sie die Möglichkeit bei der Änderungdes 630-Mark-Gesetzes gehabt. Aber dieses Gesetz istfür die bisherige Arbeit von Rotgrün exemplarisch: reinin die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln. Wir wissennoch nicht genau, was der Ausschuß für Arbeit und So-zialordnung gestern nacht eigentlich zu beschließenhatte, denn das Chaos ist vollständig.
All diejenigen, die eine bessere soziale Absicherung vonFrauen wollen und dafür gekämpft haben, zum Beispielder Deutsche Frauenrat, sind enttäuscht. Der Juristin-nenbund hat zu Recht von einem frauenpolitischenÄrgernis gesprochen. Sie haben das 630-Mark-Gesetzdurchgepeitscht, obwohl wir in unserem Ausschuß nochkeinen Änderungsantrag vorliegen hatten. Sie haben esgegen unseren Willen durchgepeitscht, und Sie habendamit die Rechte der Parlamentarier mißachtet. Das istkein Umgang mit Kolleginnen und Kollegen diesesParlaments.
In den Reden von SPD und Grünen zur Jugendpoli-tik wurde in der Vergangenheit immer wieder ange-mahnt, geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Aber jetztsind Sie an der Regierung. Was tun Sie jetzt für Jugend-liche? Was wird besser? Sie haben, Frau Ministerin, denGesamthaushalt für Jugendpolitik um 5,8 Millionen DMgekürzt.
– Dann habe ich andere Zahlen als Sie.
Die Summe zeigt auf jeden Fall ganz klar, daß Sie hiergekürzt haben, auch wenn Sie innerhalb des Haushaltsandere Schwerpunkte gesetzt haben.Sie haben im Januar Ihr Arbeitsprogramm vorgestellt.Sie hatten keinen Ansatz in der Jugendpolitik. Auch das,was Sie heute gesagt haben, war äußerst mäßig. Im Ja-nuar gab es lediglich den Hinweis auf das Kinder- undJugendhilfegesetz, das wir Anfang der 90er Jahre ge-schaffen haben. Das Sonderprogramm für arbeitsloseJugendliche, das die Bundesregierung vorgestellt hat, istbisher ein Flop.
Die Lobpreisungen auf Ihr Programm sind nichtnachvollziehbar, denn wenn man in den Arbeitsämternnachfragt, stellt man fest, daß der Erfolg äußerst mäßigist. Von mittlerweile 123 000 angeschriebenen Jugend-lichen konnten gerade einmal 5 800 vermittelt werden.Eine wirkliche Lösung des Problems der Jugendarbeits-losigkeit ist Ihr Programm nicht. Sie müßten sich viel-mehr für die Verbesserung der schulischen Ausbildung,gerade in den von Ihnen regierten Ländern, einsetzen.
Maria Eichhorn
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Schauen Sie zum Beispiel nach Niedersachsen. In Hes-sen wird es jetzt Gott sei Dank anders werden.
Teure Aktionsprogramme ersetzen eben keine Konzepte.
– Das ist zwar eine alte Leier, die zu spielen aber nochimmer not tut. Das haben Sie bis heute nicht begriffen.Der Einzelplan 17 sieht Kürzungen in der Familien-,Senioren- und Jugendpolitik vor. Dennoch ist eineleichte Steigerung des Gesamthaushalts zu verzeichnen.Sie blähen, Frau Ministerin, die Verwaltung Ihres Mini-steriums um 3,3 Millionen DM auf. Das ist Ihre Antwortauf die Bedürfnisse von Familien, Senioren, Frauen undJugend.Frau Ministerin, die Bilanz Ihrer ersten 100 Tage istkläglich. Sie besteht nur aus Ankündigungen und Luft-blasen. Lassen Sie jetzt endlich Taten folgen!
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, das Wort hat jetzt der Kol-
lege Christian Simmert vom Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Es ist schon sehr abenteuerlich, was wir uns gerade an-
hören mußten:
ein verstaubtes Familienbild, einen Bundesverfassungs-
gerichtsbeschluß, der im Grunde eine Quittung für
16 Jahre Kohl ist
und nicht die ersten hundert Tage der neuen Bundes-
regierung bewertet.
Meine Damen und Herren, Kinder dürfen kein Ar-
mutsrisiko sein. Das ist eine Herausforderung für die
neue Regierung. Wir werden uns offensiv der Armut in
unserem Land stellen und sie bekämpfen. Wir werden
Konsequenzen aus dem noch vom Haus Nolte vorge-
legten 10. Kinder- und Jugendbericht ziehen und nicht
wie Ihre Ex-Ministerin den Kopf in den Sand stecken.
Kollege
Simmert, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Frau
Kollegin Reinhardt?
Nein, die erlaube ich nicht.
Gilt das
grundsätzlich: keine Zwischenfragen?
Die jungen Menschen sind die Zukunft unserer Gesell-schaft. Mit einer Jugend ohne Perspektive waren Sie vonder Opposition dabei, die Zukunft unseres Landes zuverspielen.
Für uns hat die Situation von Kindern, Jugendlichen undFamilien höchste Priorität. Hinsichtlich des Familien-bildes bildet die Ehe in der Tat nicht den Schwerpunktunserer Familienpolitik. Vielmehr wird auch ohne Trau-schein da gefördert, wo Kinder sind.
Die Bundesregierung hat einen ihrer ersten Schrittezum Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugend-erwerbslosigkeit beschlossen. Die Maßnahme „Jugendund Arbeit“ wird darüber hinaus die jungen Menschen,besonders junge Frauen, ansprechen, denen das Sofort-programm nicht gerecht werden kann. Beide Pakete ha-ben hohe Erwartungen geweckt. Diese gilt es nun ein-zulösen und auszubauen. Das hat die neue Bundesregie-rung der abgewählten Bundesregierung entgegenzuset-zen. Ich denke, das ist ein wesentlicher Fortschritt zurBekämpfung der Jugenderwerbslosigkeit.
Ich denke, die Privatwirtschaft – heute hat ja dasBündnis für Arbeit getagt – und die öffentlichen Dien-ste stehen in der Ausbildungspflicht. Wir müssen ge-meinsam versuchen, eine Perspektive für Jugendliche zuschaffen, die diesen Namen verdient. Hierzu dient dasProgramm „Jump“ – Jugend mit Perspektive –; derName ist Programm. Wir werden noch höher springenmüssen, um strukturelle Verbesserungen auf den Wegzu bringen. Wir drücken uns nicht wie die alte Bundes-regierung davor, sondern versuchen, für alle Jugend-lichen gleiche Chancen auf einen Beruf zu erreichen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, Arbeit istaber nicht nur Erwerbsarbeit. Arbeit ist die gesellschaft-liche Arbeit insgesamt, bezahlt und unbezahlt. Diesemuß fair verteilt werden zwischen Mann und Frau, zwi-schen Frau und Mann. Auch die jungen Männer wollenheute ihre Kinder nicht erst dann kennenlernen, wenn siederen Führerschein bezahlen sollen.
Für uns heißt Familienförderung: das Leben mitKindern ermöglichen, egal, ob verheiratet oder unver-heiratet, egal, ob alleinerziehend oder nicht.
Wichtig ist, daß die Menschen, die sich für Kinder ent-schieden haben, die nötige bezahlte und unbezahlte Ar-beit leisten und unter sich aufteilen können. Dafür brau-chen wir flexible Erziehungszeiten, die die BetreuungMaria Eichhorn
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der Kinder sicherstellen. Wenn ich mir einen Abstecherins Private erlauben darf: Wahrscheinlich bin ich unterden Herren hier der einzige, der schon einmal im Erzie-hungsurlaub gewesen ist.
– Es kann sein, daß es hier noch den einen oder anderenKollegen gibt, für den das auch gilt. Dann können wiruns gerne einmal unterhalten.
– Ja, ich auch, Kollege. –
In der jungen Generation gibt es nämlich immer mehrjunge Männer, die bereit sind, Erziehungsurlaub zunehmen und Erziehungsarbeit zu leisten.Meine Damen und Herren, natürlich hätten wir gerneschon in diesem Haushaltsentwurf das Erziehungsgelderhöht und damit wahr gemacht, was Sie von der rechtenSeite des Hauses in den letzten 16 Jahren zwar immerversprochen, aber nie gehalten haben. Die rotgrüne Ko-alition wird daran arbeiten, daß es in den kommendenJahren im Rahmen der Gewährung des Erziehungsgel-des zu einer Erhöhung der Einkommensgrenzen unddamit zu einer Besserstellung vieler Eltern kommt. Seit1986 haben Sie, die jetzt in der Opposition sind, zuge-sehen – Sie haben nur Däumchen gedreht –, wie einschleichender Prozeß einsetzte, so daß nur noch 40 Pro-zent der Erziehenden das volle Erziehungsgeld beka-men. Die Koalition wird ein Familienentlastungsgesetzvorlegen, das alle familienpolitischen Leistungen, alsoauch eine Regelung des Erziehungsgeldes, beinhaltetund damit die Situation von Familien verbessert.
Viele Hürden verhindern nach wie vor, daß Fraueneinen gleichberechtigten Zugang zur Erwerbsarbeit ha-ben und Männer ihren Anteil zum Beispiel an der Fami-lienarbeit leisten können. Die abgewählte RegierungKohl hinterläßt auch hier eine große Hypothek. EinenAnfang machen wir in diesem Haushalt – Frau Ministe-rin Bergmann hat darauf hingewiesen – mit demAktionsprogramm „Frauen und Beruf“. Ein Gleichbe-rechtigungsgesetz für den öffentlichen Dienst und diePrivatwirtschaft wird folgen und den Frauen den Zugangzur Erwerbsarbeit und zur Hälfte der Ausbildungsplätzesichern.
Hierbei werden wir vor allem dafür kämpfen, daß diejungen Frauen in den neuen Bundesländern und jungeMigrantinnen in unserem Land endlich zu ihrem Rechtkommen.
Stichworte rotgrüner Politik werden „Partizipation“und „Empowerment“, das Starkmachen der Jugend-lichen, sein. Stark werden junge Menschen, wenn siein ihren sozialen und kommunikativen Fähigkeitengefördert werden und wenn sie sich früh für gesell-schaftliches Engagement begeistern können. Deshalbbegrüße ich den Einsatz der Bundesregierung für dieinnerdeutschen und grenzüberschreitenden freiwilli-gen Dienste. Die Zahl derer, die ein freiwilliges Jahrableisten, wird immer höher. Dies dient der Orientie-rung und ist angesichts der oftmals schwierigenSituation der Jugendlichen auf dem Ausbildungs- undArbeitsmarkt eine sinnvolle Hilfe. Maßnahmen wiedie Förderung von Mädchen durch das freiwilligeökologische Jahr sind in diesem Zusammenhang äu-ßerst sinnvoll. Neue Zielgruppen müssen hierbei Mi-grantinnen und Spätaussiedlerinnen sein. Die freiwil-ligen Dienste dürfen aber nicht zu billigen Warte-schleifen, wie teilweise unter Ihrer Regierung ge-schehen, verkümmern. Deshalb sind Qualitätsstan-dards und soziale Absicherung das A und O. Hierkönnen Sie, Frau Ministerin Bergmann, mit vollsterUnterstützung von unserer Seite rechnen.
Bewußtseinsbildung und Möglichkeiten der Ausein-andersetzung sind auch für die Angehörigen der jungenGeneration untereinander wichtig. Das „InternationaleJahr der älteren Menschen“, das dieses Jahrhundert ab-schließen wird, werden wir dazu nutzen, die Generatio-nengerechtigkeit auf die Tagesordnung zu setzen. Hierist Dialog wichtig. Auch vor der politischen Debatteüber soziale Gerechtigkeit und damit über die sozialenSicherungssysteme hat sich die abgewählte Regierungnachhaltig gedrückt. Wir werden uns dieser Debattestellen, ohne die Generationen gegeneinander auszu-spielen. Es ist wichtig, daß die jungen Menschen ihreZukunft und ihre Verantwortung im Bereich der sozialenSicherungssysteme erkennen können. Das klappt nur,wenn sie gerecht behandelt und nicht, wie in den letztenJahren, verprellt werden. Hier geht es um Gerechtigkeit;sie werden wir herstellen.
„Gerechtigkeit“ ist auch das Stichwort für mein letz-tes Thema, für den Zivildienst. Im vergangenen Jahrentschieden sich so viele junge Menschen wie nie zuvorfür den Zivildienst und gegen den Wehrdienst. Ich habeangesichts dessen von der Opposition Aufschreie gehört.Diese hohe Zahl ist aber ein Zeichen vor allen Dingendafür, daß sich das große soziale Engagement der Ju-gendlichen in immer stärkerem Maße auch in der Ent-scheidung für den Zivildienst ausdrückt.Bündnis 90/Die Grünen kämpfen nach wie vor für dieAbschaffung aller Zwangsdienste. Laut Koalitionsver-trag – und auch im Koalitionsalltag – ist für uns klar:Zumindest die Ungleichbehandlung der Wehrdienst- undChristian Simmert
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Zivildienstleistenden ist so schnell wie möglich aufzu-heben.
Es kann nicht sein, daß Zivildienstleistende mit einerlängeren Dienstdauer und niedrigerer Besoldung bestraftwerden.
Ich versichere Ihnen – auch Ihnen, Herr Kollege Hor-nung, versichere ich das gerne –, daß wir in diesemPunkt nicht lockerlassen werden.Die neue Bundesregierung wird sich im Gegensatzzur verflossenen der sozialen Verantwortung und Ge-rechtigkeit stellen. Dies hat Rotgrün mit dem vorliegen-den Haushalt getan – bei allen Problemen, die uns Kohlund Nolte hinterlassen haben.Vielen Dank.
Herr
Kollege Simmert, ich beglückwünsche Sie zu Ihrer er-
sten Rede im Deutschen Bundestag.
Als nächster Redner hat der Kollege Klaus Haupt von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Ihr Haushalt, Frau Ministerin, hatmich erstaunt und zugleich auch erfreut. Er hat mich er-staunt, weil ich den von Rotgrün angekündigten politi-schen Quantensprung und politischen Gestaltungswillenvergeblich gesucht habe.
Er hat mich erfreut, weil Sie den Ansatz der alten Bundes-regierung weitgehend unverändert übernommen haben.So schlecht kann deren Politik also nicht gewesen sein.
Frau Ministerin, Sie haben auch den Haushaltsansatzder alten Regierung für frauenpolitische Maßnahmenübernommen. Dazu kann ich nur sagen: Gut so; dennder Ansatz war nicht schlecht. Eine gestiegene Bedeu-tung der Frauenpolitik kann ich darin jedenfalls nichterkennen. Wenn jetzt von Ihnen ein neues Gleichstel-lungsgesetz mit – wie es so schön heißt – verbindlichenRegelungen für die freie Wirtschaft angekündigt wird,dann schrillen bei uns – das sage ich Ihnen ganz ehrlich– alle Alarmglocken; denn wenn dieses Gesetzgebungs-vorhaben annähernd die Qualität Ihrer 630-DM-Regelung erreicht, ist für die Arbeitsmarktsituation derFrauen in Deutschland Schlimmes zu befürchten.
Die Aufstockung des Einzeltitels für den Kinder- undJugendplan scheint erfreulich. Bei näherem Hinsehenentpuppt sich das aber doch als kleine Mogelpackung,weil es wirklich so ist, daß der Gesamtetat für den Be-reich Jugend unter Ihrer Ägide, Frau Bergmann, umüber 5 Millionen DM gekürzt wird – und das bei einerSteigerung des Gesamtetats. Berücksichtigt man, daßdas Sonderprogramm „Jugend und Arbeit“ eigentlichauch komplett im Ressort Arbeit und Soziales verbuchtwerden könnte, ergibt sich sogar eine Reduzierung desJugendetats um 15 Millionen DM. Das halte ich zumin-dest für bedenklich.
Die von dieser Bundesregierung losgetretene Auslän-derdebatte wäre eine Chance gewesen, einen neuen ju-gendpolitischen Schwerpunkt zu bilden. Statt dessenwird der Haushaltsansatz im Titel „Integration jungerSpätaussiedler und Flüchtlinge“ reduziert. Das ist fürmich geradezu erschreckend.
Die Integration junger Ausländer in Deutschland istdoch nicht allein eine Frage des Staatsangehörigkeits-rechtes.
Hier wäre ein jugendpolitischer Neuansatz, hier wärepraktische Integrationsarbeit dringend notwendig. Dochaußer dem von den grünen Fundis initiierten Doppelpaßfällt Ihnen wahrscheinlich nichts ein – Fehlanzeige!
Wir sind uns in diesem Hause einig: Eines der größ-ten jugendpolitischen Probleme ist die Jugendarbeitslo-sigkeit. Die F.D.P. begrüßt, daß die Bundesregierungauf diesem Gebiet gesteigerten Handlungsbedarf sieht.Wir haben schon in der alten Koalition die diesbezügli-chen Mittel der Bundesanstalt für Arbeit auf über2,8 Milliarden DM aufgestockt. Ihr groß angekündigtes2 Milliarden DM schweres Sofortprogramm gegen Ju-gendarbeitslosigkeit wird selbst bei einem hundertpro-zentigen Erfolg noch 400 000 Jugendliche ohne Arbeitoder Ausbildung zurücklassen. So entzaubert diesesProgramm selbst den publizistischen Popanz, den Sieaufgebaut haben.
Ich komme aus einer Stadt, die die höchste Arbeitslo-sigkeit in Deutschland hat: 28 Prozent. Als Liberaler binich mir der Notwendigkeit staatlicher Feuerwehrpro-gramme völlig bewußt; dazu habe ich eine positiveHaltung. In meinem Arbeitsamtsbezirk sollen ab 1. April500 Jugendliche eine Erstausbildung mit Handwerksprü-fung – nach drei Jahren Ausbildung – absolvieren.Wunderbar! Ihr Programm ist auf ein Jahr ausgelegt.
Christian Simmert
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Im Interesse der Jugendlichen muß daher unbedingt einFolgeprogramm angeschlossen werden.
Klar ist aber auch: Immer neue Staatsprogramme hel-fen nicht, schon gar nicht auf Dauer. Ein nachhaltigerAbbau der Jugendarbeitslosigkeit ist nur zu erreichen,wenn vernünftige Rahmenbedingungen in Deutschlandwiederhergestellt werden: durch ein vereinfachtesSteuersystem,
durch radikalen Bürokratieabbau, durch eine mutigeBildungsreform; denn weltweiter Wettbewerb beginntim Klassenzimmer.
Frau Ministerin, Sie haben vorhin angekündigt: Jetztwird wieder etwas für Familien bewegt. – Schauen wirdoch einmal, was bewegt wird. Großspurig haben Sie inder Öffentlichkeit die Erhöhung des Kindergeldes alsErfolg verkauft. Das sei Ihnen vergönnt.
– Ach wo. – Das dicke Ende schieben Sie jetzt nach:Durch Ihre Steuerpolitik werden Familien in Zukunftnicht entlastet, wie Sie gebetsmühlenartig immer wiederbeteuern, sondern belastet.
Ihre Kindergelderhöhung wird durch Ihre Abzockeröko-steuer mehr als kompensiert.
Sie stecken den Bürgern als Wahlgeschenk ein paarMark in die rechte Tasche, ziehen aber mehr Geld ausihrer linken Tasche heraus. Das halte ich für unredlich.
Familien brauchen keine unredlichen Versprechungen,sondern nachhaltige Entlastungen.Ihr Steuerflickenteppich ist auch ein Anschlag aufArbeitsplätze in Deutschland, ein Anschlag, der vor al-len Dingen Familien und Jugendliche treffen wird. Dasgilt übrigens auch für Ihre Neuregelung der 630-Mark-Verträge. Ursprünglich dienten sie dazu, gerade Frauen,Studenten und Rentnern ein kleines Einkommen zu er-möglichen, ohne in die Mühlen der Sozialversicherungs-systeme und Steuerbürokratie zu geraten. Nach Ihrem x-ten Verschlimmbesserungsversuch gegen jeden Rat derSachverständigen, gegen jeden Sachverstand ist einesklar: Schwarzarbeit wird in Deutschland zunehmen, Ar-beitsplätze werden verschwinden.Gestatten Sie mir an dieser Stelle eine ganz persönli-che Bemerkung eines Neulings. Ich habe mir eine solchchaotische Regierungsarbeit nicht vorstellen können.
Es zeigt sich: Das Leben ist voller Überraschungen, vorallem in Bonn.Schon nach diesen wenigen Beispielen möchte manausrufen: Nur gut, daß wir verglichen haben. – Die bis-herige rotgrüne Politik ist nicht schlüssig; sie ist kon-zeptionslos und – das halte ich für gefährlich – in denKonsequenzen zu unüberlegt.
Frau Ministerin, Sie haben recht: Das werden die Fami-lien in Deutschland erkennen. In meinem Wahlkreisspüre ich das Tag für Tag.Frau Ministerin, Sie haben sich einiges für Ihr Res-sort vorgenommen. Ich ermuntere Sie ganz ausdrück-lich: Seien Sie bei Ihren Vorhaben die Ausnahme imKabinett, nach dem Motto: Erst denken, dann handeln.Sie finden bei uns Liberalen immer Unterstützung, wennes um die Sache geht. Geben Sie den Bürgerinnen undBürgern mehr Eigenverantwortung, mehr Möglichkeitenfür freiwillige Solidarität. Verkaufen Sie nicht die Seg-nungen einer aufgeblähten Bürokratie als Erfolg.Danke, meine Damen und Herren.
Herr
Kollege Haupt, ich beglückwünsche auch Sie zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen
Glückwunsch.
Das Wort hat nun die Kollegin Petra Bläss von der
PDS-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Herr Haupt, Sie haben sicherlichübersehen, daß auch sehr viele Frauen im Saal sind.
Wenn ein Haushalt in Zahlen gegossene Politik ist, dannist der vorliegende Haushaltsentwurf auch eine in Zah-len gegossene Frauenpolitik. Was ich da lese, liebeKolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition,stimmt mich nicht gerade optimistisch. Von Frauenpoli-tik finden sich in Ihrem Haushaltsentwurf – ich sprechevom Gesamthaushaltsentwurf – allenfalls Spurenele-mente. Dabei beziehe ich mich ganz bewußt nicht alleinauf den Einzelplan 17.Den Bruch mit der neoliberalen Politik à la Kohlschaffen Sie nur, wenn Sie die Gleichstellung der Ge-schlechter zu einer alle Politikfelder überspannendenAufgabe Ihrer Politik machen. Sie können sich noch sosehr für Gerechtigkeit und Solidarität einsetzen wollen –Klaus Haupt
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1724 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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solange Sie die Entrechtung der Frauen allenfalls alsRessortproblem behandeln, werden Sie scheitern.
Wochenlang sind Sie mit immer neuen Kompromiß-vorschlägen zu den 630-DM-Jobs gekommen, und auchder jetzige bleibt halbherzig. Denn die zentralen Ziele –die notwendige Existenzsicherung von Frauen und dieEindämmung dieser Beschäftigungsverhältnisse – wer-den nicht erreicht. Rentenversicherung – ja, aber in ei-nem nicht nachzuvollziehenden Konstrukt. Anspruchauf Arbeitslosenversicherung und Arbeitsförderung –Fehlanzeige. Sie werden mit dem vorliegenden Gesetz-entwurf auch weiterhin die Aufsplitterung der regulärenArbeitsplätze in geringfügige ermöglichen. Klipp undklar heißt das, daß auch weiterhin Altersarmut vorpro-grammiert sein wird, und die ist bekanntlich vor allemweiblich.Wieso, meine Damen und Herren von der Regie-rungskoalition, haben Sie nicht den Mumm, den Arbeit-gebern die Stirn zu bieten und Frauen endlich die glei-che soziale Absicherung wie Männern zu garantieren?
Statt dessen schaffen Sie am Ende dieses Jahrhundertserneut ein Sozialrecht zweiter Klasse, das vor allemFrauen trifft. In der Ausschußsitzung von heute nachthat mich ganz besonders die Arroganz des Obmanns Ih-rer Fraktion geärgert, der das Votum des Frauenaus-schusses so schnell abgebügelt hat.
Gleiches gilt für das Ehegattensplitting. Wenn Sie mitder patriarchalen Logik unseres Sozial- und Steuerrechtsbrechen wollen, dann müssen Sie aufhören, die Ehe zuprivilegieren. Sie müssen Männer und Frauen einzelnbesteuern und ihnen Wege zu eigenständiger Absiche-rung öffnen.
Bekanntlich bietet Ihnen das Karlsruher Urteil zur Neu-regelung der Familienbesteuerung die Chance dazu.Liebe Kolleginnen und Kollegen, BundeskanzlerSchröder hat gestern betont, daß es beim „Bündnis fürArbeit“ um die Herstellung eines gesellschaftlichenKonsens für Reformmaßnahmen geht, die durchgreifen-der Natur sind – so weit, so gut. Aber daß die Frauenmi-nisterin nicht in der ersten Reihe sitzt, wenn die Spitzenaus Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften über das„Bündnis für Arbeit“ diskutieren, ist ein Skandal. Ichweiß sehr wohl, daß Sie sich, Frau Bergmann, in denArbeitsgruppen sehr bemüht haben, Ihre Politikansätzeeinzubringen. Dennoch denke ich, als Frauenministeringehören Sie in die erste Reihe.Frauen sind in allen Bereichen des Arbeitsmarktesbenachteiligt. Wenn Sie mit Ihrer Politik keine wirklichneuen Akzente setzen, dann bleibt das auch so. Deshalbmachen Sie endlich das Recht der Frauen auf Erwerbs-tätigkeit und wirtschaftliche Eigenständigkeit zumSchwerpunkt Ihrer Regierungspolitik! Passiert das nicht,werden wir automatisch einen weiteren Abbau von Ar-beitsrechten und Kombilohnmodelle im Niedriglohnbe-reich in noch nicht dagewesenem Ausmaß erleben. Ichgarantiere Ihnen: All das wird wieder vorwiegend aufdem Rücken von Frauen ausgetragen werden.Ich bin übrigens ebenso enttäuscht, daß der Bundes-arbeitsminister Riester in der heutigen Debatte zum Ein-zelplan 11 kein einziges Wort zur besonderen Arbeits-marktsituation von Frauen gesagt hat.
Wo, so frage ich Sie, ist Ihr in schillerndsten Farbenausgemalter Politikwechsel? Wieso beziehen Sie nichtfeministische Ansätze zur zivilen Konfliktregelung indie Außen- und Sicherheitspolitik ein? Die Konzepteliegen auf dem Tisch, auch bei Ihren Parteien.Wenn Sie einen Schwerpunkt bei den Menschen-rechten setzen – was ich außerordentlich begrüße –:Warum gehen Sie bei der Anerkennung geschlechtsspe-zifischer Verfolgung als Asylgrund so halbherzig vor,daß im Asyl- und Ausländerrecht kaum mehr als eineFußnote dazu erscheint?Zum Stichwort „Menschenrechte“: Das heutige Vo-tum der Bischöfe, die letzte Entscheidung über den Ver-bleib der katholischen Beratungsstellen in der Schwan-gerschaftsberatung dem Papst zu überlassen, vor allemaber die zum wiederholten Male gemachten skandalö-sen, frauenverachtenden Äußerungen über die Abtrei-bung als „verabscheuenswürdiges Verbrechen“ zeigeneinmal mehr, wie groß gerade hier der politische Hand-lungsbedarf in puncto Selbstbestimmungsrecht der Frauist. Solange der Schwangerschaftsabbruch im Strafge-setzbuch steht, werden wir eine solche Debatte nichtvom Tisch bekommen.Die innere Sicherheit ist dauernd Tagesthema. Dochist Ihnen schon einmal aufgefallen, daß es dabei nie umFrauen geht? Die permanente Bedrohung durch Gewaltim öffentlichen wie im privaten Raum bestimmt das Le-ben vieler Frauen in dieser Gesellschaft. Dazu habe ichvom Innenminister gestern aber kein Wort gehört. Inseinem Haushalt suche ich vergeblich nach Maßnahmenzur Bekämpfung dieser Bedrohung. Projekte gegen Ge-walt gegen Frauen finden sich selbstverständlich imEinzelplan 17. Sie sind sehr wichtig, aber letztlich nurein Tropfen auf den heißen Stein; denn Sie können dasProblem damit nicht grundsätzlich angehen. Gewalt ge-gen Frauen ist immer noch eine Grundfeste unserer Ge-sellschaft. Damit Frauen überhaupt eine Chance haben,sich gegen Gewalt zur Wehr zu setzen, muß ihre sozialeund ökonomische Eigenständigkeit allerhöchste Prioritäthaben. Auch deswegen brauchen wir einen wirklichenBruch mit der alten Politik und nicht Kosmetik, die aufdie alten Konzepte aufgebracht wird.Danke.
Alsnächster Redner hat der Kollege Manfred Kolbe von derCDU/CSU-Fraktion das Wort.Petra Bläss
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1725
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Sehr geehrter HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Bun-desministerin, Sie haben in Ihrer Rede recht gehabt, undSie haben unrecht gehabt. Sie haben recht gehabt: In derTat, nach 100 Tagen Rotgrün gibt es die Familie noch.Das haben Sie zu Recht festgestellt. Es ist zwar keinesonderlich große Leistung, daß Sie das geschafft haben,aber es ist richtig. Sie haben unrecht, wenn Sie derUnion nachsagen, wir seien gegen die Erwerbsarbeit vonFrauen
oder wir seien gar gegen Frauen in Führungspositionen.
Fangen wir doch einmal bei den höchsten Staatsäm-tern dieser Republik an.
– Ich sehe, die Spannung wächst. Bundeskanzler Schrö-der ist ein ausgemachter Macho.
Bundestagspräsident ist Wolfgang Thierse, und wer wirdBundespräsident?
– Eine Frau, hoffe ich.
Die Sache ist gar nicht so lustig; sie ist ernst. Ich verste-he, daß Sie nervös werden, aber wir steuern, wenn sichIhre Mehrheit durchsetzt, zum erstenmal nach vielenJahren in dieser Republik auf einen Zustand zu, bei demwir in den drei höchsten Staatsämtern keine Frau mehrhaben.
– Wir hatten bisher eine Bundestagspräsidentin.Ich halte das für ein bedenkliches Zeichen, FrauMinisterin. Ich habe deshalb mit großem Interesse IhreRede verfolgt. Ich habe Ihrer Rede entnehmen können,daß Sie für Frauen in Führungspositionen sind. Ichgehe deshalb davon aus, daß wir beide am 23. Mai FrauProfessor Dagmar Schipanski in Berlin wählen werden.
Ich appelliere an die stattliche Frauenriege der SPD:Unterstützen Sie Frau Professor Dagmar Schipanski am23. Mai in Berlin!
Zurück zur Familie. Dort ist die Lage in der Tat ernst.„Kinder sind Luxus“, titelte im Januar 1999 die „Berli-ner Zeitung“. Ich zitiere weiter:Die Familie ist von einer Zugewinngemeinschaft zueinem masochistischen Verlustunternehmen gewor-den. Ein Kind zu bekommen ist zu einem Existenz-risiko geworden.Da ist etwas Wahres dran, Frau Ministerin. Hier sindwir alle gefordert. Wir brauchen in der BundesrepublikDeutschland einen echten Familienleistungsausgleich.Da haben wir alle unsere Versäumnisse. Die Versäum-nisse beginnen in der sozialliberalen Koalition. Siehaben ja auch vor diesem Jahr schon einmal regiert.
Die Versäumnisse lagen teilweise auch bei uns,
und die Versäumnisse liegen auch bei dieser Bundesre-gierung. Wir alle müssen deshalb das Urteil des Bun-desverfassungsgerichts sehr ernst nehmen. Es ist gut,daß dieses Urteil ergangen ist.Dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom19. Januar 1999 fordert einen echten Familienleistungs-ausgleich. Wir sind alle aufgefordert, dies so schnell wiemöglich umzusetzen. Ich sage allerdings auch, daß dasUrteil noch wesentlich drastischer ausgefallen wäre,wenn wir nicht 16 Jahre erfolgreiche unionsgeführteFamilienpolitik gehabt hätten.
Wenn es sie nicht gegeben hätte, dann wäre dieses Urteilbedeutend drastischer ausgefallen.
Zahlen lügen ja bekanntlich nicht. Die familienpoliti-schen Leistungen wurden von den Unionsregierungenvon 27 Milliarden DM auf 77 Milliarden DM im Jahrerhöht. Das ist die Leistung von 16 Jahren Unionspoli-tik.
Meine Redezeit reicht nicht aus, all diese Leistungenaufzuführen. Dazu bräuchte ich wesentlich länger.
1984: Betreuungskosten für Alleinerziehende, 1986: Ein-führung des Erziehungsgeldes, 1987: Einführung desBaukindergeldes, 1992: Anerkennung von drei Erzie-hungsjahren in der Rentenversicherung, 1996: Fami-lienleistungsausgleich. Das waren echte Fortschritte inder Familienpolitik.
Frau Ministerin, ich wage heute schon eine Prophe-zeiung: Eine solche Erfolgsbilanz und eine Verdreifa-
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1726 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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chung der familienpolitischen Leistungen werden Sienicht erreichen, schon deshalb nicht, weil Sie nicht16 Jahre regieren werden. Aber auch ansonsten werdenSie sie nicht erreichen.
Familienpolitik ist notwendiger denn je; darin sindwir uns alle einig. Wir sollten auch einmal neue Gedan-ken, neue Wege prüfen. Ich erinnere, Frau Ministerin,zum Beispiel an das sächsische Modell eines Erzie-hungsgehaltes. Sicherlich läßt sich da noch manchesdiskutieren.
Aber es ist ein Weg, den wir zumindest einmal ernsthaftprüfen sollten.
Dieses Erziehungsgeld soll unabhängig vom Umfangder Erwerbstätigkeit der Erziehenden geleistet werden.Es soll so gestaffelt sein, daß bei drei Kindern ein durch-schnittliches Arbeitnehmereinkommen zur Verfügungsteht. Ich halte das für einen überlegenswerten Weg. Esverdient den Schweiß der Edlen, Frau Ministerin; wirsollten unsere Gedanken einmal darauf richten.
Lassen Sie mich zum Abschluß noch auf den Einzel-plan 17 zu sprechen kommen, den wir in den nächstenWochen im Haushaltsausschuß beraten werden. Wir be-ginnen morgen mit dem Berichterstattergespräch. DerEinzelplan 17 enthält Ausgaben in Höhe von rund 11,9Milliarden DM. Den bei weitem größten Block bildendabei die gesetzlichen Leistungen für die Familie; allein7,1 Milliarden DM entfallen auf das Erziehungsgeld.Den zweiten großen Ausgabenblock bilden die Ausga-ben für das Bundesamt für den Zivilschutz mit 2,8 Mil-liarden DM.Es gibt im Vergleich zum letzten Haushaltsentwurfder unionsgeführten Bundesregierung minimalste Ände-rungen. Sie müssen sie schon mit der Lupe suchen, umsie zu finden. Sie ergeben sich größtenteils aus tatsächli-chen Entwicklungen.Eines von beiden ist deshalb richtig: Entweder warunsere Politik gut, und Sie haben den Haushalt deshalbunverändert übernommen – das können wir unterschrei-ben –, oder Sie setzen keine neuen Impulse. Eines vonbeiden stimmt; denn der Haushalt ist mehr oder wenigeridentisch mit dem Ihrer Vorgängerregierung.Nichtsdestotrotz bieten wir von der Union Ihnen un-sere Zusammenarbeit an, wenn es um einen echten Fa-milienleistungsausgleich geht, wenn es um eine echteVerbesserung der Situation der Familie geht. In diesemSinne wünsche ich uns gute Beratungen.
Als
letzte Rednerin zu diesem Einzelplan hat das Wort die
Kollegin Hildegard Wester, SPD-Fraktion. Frau Wester,
bitte schön.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegenvon den Oppositionsparteien! Ich muß schon sagen: Ihreheutigen Beiträge hatten einen seltenen Erheiterungs-wert.
Ich kann daraus schließen, daß die Oppositionsrolle Sievon einer unendlichen Last befreit hat, so daß Sie jetztso richtig durchatmen und frei von der Leber weg IhreBeiträge leisten können.
Ich als Rheinländerin muß sagen: Ich habe mich gele-gentlich – vor allem auch bei Ihnen, Frau Eichhorn – anden gerade vergangenen Karneval erinnert gefühlt;
denn die erstaunliche Fähigkeit, die Wahrheit zu ver-drängen – die Sie in der Opposition offensichtlich jetztnoch verfeinert haben –, ist wirklich büttenreif. Wie manes fertigbekommt, eine wirklich dramatisch schlechteNote, die einem das Verfassungsgericht ins Stammbuchgeschrieben hat, umzukehren in die Bestätigung seinerPolitik, ist für mich schlicht nicht nachvollziehbar.
Aber vielleicht erklärt sich das ja daraus, daß Sie auch inder Vergangenheit mit Verfassungsgerichtsurteilen soumgegangen sind. Denn immer waren wir als damaligeOpposition es, die Sie dazu bringen mußten, den Verfas-sungsgerichtsurteilen Folge zu leisten.
Frau Eichhorn, Sie haben uns vorgeworfen, wirideologisierten.
Ich kann Ihnen nur sagen: Nach acht Jahren Familien-politik unter christdemokratischen Familienministerin-nen
war dieses Ressort zum Ideologieressort verkommen.
Manfred Kolbe
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Sie haben die Familien mit leeren Sonntagsreden abge-speist; mehr war nicht dahinter.
Wir werden uns nicht nach unserer Ideologie richten,sondern wir werden bei unserer Politik auf die Notwen-digkeiten achten. Wir richten uns nach der Realität aus,und nach nichts anderem.
– Ich werde noch konkret, keine Angst.
Wir werden trotz des finanziellen Scherbenhaufens,der uns hinterlassen wurde,
unsere Politik für die Familien fortführen. Wir haben ei-nen Politikwechsel für die Familien versprochen, unddas werden wir auch halten.
Wir werden als erstes gerne darangehen, den Be-schluß des Verfassungsgerichts umzusetzen.
Dazu müssen zunächst die Leistungen und Belastun-gen von Familien neu bewertet werden. Der Tatsacheder Kinderbetreuung und -versorgung durch die Familieals Einschränkung der steuerlichen Leistungsfähigkeitwird nun endlich Rechnung getragen.
Das haben wir in den Debatten schon häufiger ange-merkt. Dabei ist es besonders wichtig, nicht in die pri-vate Entscheidungssphäre der Menschen einzudringen,also nicht etwa zu prämieren, ob jemand für die Kinder-betreuung zu Hause bleibt oder weiter seinem Berufnachgeht.
– Wir werden auf diesen Aspekt besonders achten; mehrhabe ich nicht gesagt.
Wir werden des weiteren darauf achten, daß die Rea-lisierung der Leistungsansprüche nicht durch die unge-rechte Praxis der Steuerfreibeträge erfolgt.
Mit dieser Politik des Gebens an die, die schon haben,werden wir Schluß machen.
Wohin nämlich unter anderem diese Politik geführt hat,konnten wir im Zehnten Jugendbericht feststellen.
Immer mehr Kinder und Jugendliche haben keine aus-reichenden Chancen für einen aussichtsreichen Start insLeben.
– Hören Sie doch einmal zu, Frau Rönsch. Wir alle wis-sen, daß Sie sehr gut und schnell mit der Zunge sind.Aber Zuhören ist auch nicht schlecht. Ich kann im übri-gen auch noch lauter reden.Das verstärkt sich besonders bei Problemgruppen. Indiesem Zusammenhang kündige ich an: Wir werden da-für sorgen, daß das Kindergeld für erwachsene Behin-derte in Heimen, das Sie ja auch gestrichen haben, wie-der gezahlt wird.
Bei der Modernisierung des Erziehungsgeldes – zuden Einkommenshöhen ist schon von Herrn Simmertetwas gesagt worden – geht es nicht primär ums Geld,sondern auch um die Frage, wie man es organisierenkann, daß sich Mann und Frau gerecht auf dem Ar-beitsmarkt bewegen und auch die Familienarbeit teilenkönnen. Dazu haben wir Vorschläge vorgelegt. Es wirdan einem Entwurf gearbeitet, der das Haus in Bälde er-reichen wird.Zur Familienpolitik gehört es, die Eltern in ihrer Ver-antwortung für die Erziehung zu unterstützen und jun-gen Menschen das Hineinwachsen in die Gesellschaft zuerleichtern. Daher setzen wir auch neue Akzente in derJugendpolitik.
Das Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendar-beitslosigkeit ist heute ausgiebig gewürdigt worden. Wirhaben aus unserem Haushalt das Modellprogramm „Ar-beitsweltbezogene Jugendsozialarbeit“ dazugestellt. Mitzusätzlich 10 Millionen DM schaffen wir eine neueVerknüpfung von Jugendhilfe und Arbeitsmarktpro-grammen.
– Wir haben keine Kürzungen vorgenommen. Vielleichtlesen Sie die Zahlen noch einmal in Ruhe durch. Wennman Umschichtungen als Kürzungen betrachtet – –
Hildegard Wester
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– Wir können Ihnen in den Ausschußberatungen nocheinmal Nachhilfe geben.Wir helfen benachteiligten Jugendlichen mit diesemSonderprogramm auf dem Weg in ihr Berufsleben.Ziel einer sozialdemokratisch geführten Regierungmuß es immer sein, sozial Benachteiligte zu fördern undihnen gleiche Entwicklungschancen zu eröffnen. Demdient auch unser Aktionsprogramm „Soziale Entwick-lung in sozialen Brennpunkten“. Ein Plus von 12 Millio-en DM für den Kinder- und Jugendplan schafft hier zu-sätzliche Möglichkeiten, Ungleichheiten abzubauen, dievor allen Dingen Jugendliche treffen.
Um Chancengleichheit zwischen Mann und Frau gehtes aber auch auf dem Arbeitsmarkt. Frauen haben aufdem Arbeitsmarkt noch immer schlechtere Kar-rierechancen; auch das wurde eben ausreichend gewür-digt. Wir werden dieses Problem mit einem Gleichstel-lungsgesetz, das auch für die Privatwirtschaft gilt, inden Griff bekommen.
Wir werden die Privatwirtschaft dahin bringen, daß sieweiß, daß sie sich selber schadet, wenn sie die Qualitä-ten und die Fähigkeiten von Frauen brachliegen läßt.
Wir haben eben gehört, daß das Ministerium an derVorlage arbeitet.
Wir fordern Sie herzlich auf, mit uns in den Dialog überdieses Gesetz zu treten.Mit dem Aktionsprogramm „Frau und Beruf“werden viele Forderungen erfüllt, die unsere Fraktionund unser Koalitionspartner in den vergangenen Jahrenimmer wieder gestellt haben. Das Aktionsprogramm„Frau und Beruf“ ist überfällig.Erstens. Frauenförderung in der Privatwirtschaft – ichsprach es eben an – heißt auch, Frauen gezielt zu unter-stützen, die sich selbständig machen und Arbeitsplätzeschaffen wollen.Zweitens. Wir werden bei der Vergabe öffentlicherAufträge die rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, dieUnternehmen zu bevorzugen, die mit der Frauenförde-rung Ernst machen.Drittens. Der Verfassungsauftrag, mit dem die tat-sächliche Gleichberechtigung als verbindliches Staats-ziel festgeschrieben wurde, verpflichtet uns auch dazu,im Bereich der aktiven Arbeitsförderung verbindlichvorzugeben, in welchem Anteil Frauen in die Maßnah-men einzubeziehen sind.Viertens. Die Zumutbarkeitsregelungen in der Ar-beitsförderung werden wir stärker an der Vereinbarkeitvon Familie und Beruf ausrichten.Fünftens. Wir werden den alten Zustand bei der Be-rücksichtigung von Erziehungszeiten in der Arbeitslo-senversicherung wiederherstellen.
Ein ebenso wichtiges Thema ist die Gewalt gegenFrauen. Hier geht es um gezielte Vorbeugung und umSchutz und Hilfe für Frauen, die von Gewalt betroffensind. Frauen haben Anspruch auf Schutz auch vor häus-licher Gewalt.
Dieser neue zentrale Arbeitsschwerpunkt ist ein weiteresZeichen für den Aufbruch in der Frauenpolitik, der hiereben vermißt wurde. Strafverfahren und zivilrechtlicheMaßnahmen reichen oft nicht aus. Deshalb wird es imRahmen des nationalen Aktionsplans gegen Gewalt anFrauen auch soziale Trainingskurse für Täter undKooperationsmodelle geben. Das Thema Gewalt mußaus der Tabuzone herausgeholt werden.
Deshalb unterstützen wir die ressortübergreifende bun-desweite Arbeitsgruppe zur Bekämpfung des Frauen-handels sowie die europäische Kampagne gegen Gewaltan Frauen.
Zum Seniorenbereich kann ich aus Zeitgründen jetztnur noch sagen: Die Ministerin hat den dringendenHandlungsbedarf erkannt. Wir unterstützen sie in diesemBereich natürlich voll.
Wir werden die Aufgaben angehen und Sie als Oppo-sition auffordern, hier in allen Bereichen mitzuarbeiten.Aber bitte unterlassen Sie es, Forderungen zu stellen, dieSie als Regierung vom Tisch gewischt haben!
Ihre Forderungen und unsere Zielvorgaben müssen sichdaran messen lassen, inwieweit wir in der Lage seinwerden, Gerechtigkeit in dieser Gesellschaft wieder ein-kehren zu lassen.Vielen Dank.
Zu einer
Zwischenbemerkung, auch Kurzintervention genannt,
erteile ich der Kollegin Ina Lenke von der F.D.P.-
Fraktion das Wort.
Frau Wester, in der Regierungs-erklärung hat Herr Schröder dieses Programm den neuenHildegard Wester
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Aufbruch in der Frauenpolitik genannt. Ich kenne denWaigel-Haushalt in der ersten Lesung; er hat ein Volu-men von 11,9 Milliarden DM. Auch Sie haben ein Vo-lumen von 11,9 Milliarden DM; wenn Sie ganz genauhinsehen, sogar eine halbe Million DM weniger. Auchdas wissen Sie. Von daher ist die Frage: Wo steckt dasGeld für Ihre frauenpolitischen Maßnahmen?Da muß ich Ihnen sagen: Das kenne ich aus Nieder-sachsen von der Schröderschen Politik. Ich finde es alsF.D.P.-Politikerin nicht richtig, wenn Sie sich andereZahlmeister für Ihre frauenpolitischen Maßnahmen su-chen. Ich will Ihnen nur wenige Beispiele nennen. Beidem Aktionsprogramm „Frau und Beruf“ wollen Sie dieWirtschaft zwingen, Frauenförderung zu machen. Daswird Sie nichts kosten – sonst hätten Sie es schon imHaushalt –, sondern das kostet die Wirtschaft. Sie wol-len bei der Vergabe öffentlicher Aufträge Unternehmenbevorzugen – und damit belohnen –, die frauenpolitisch„freundlich“ sind.Ich habe eine Unterlage, die besagt: Auch wenn esdadurch ein bißchen teurer wird, wollen wir dies zurFörderung frauenpolitischer Maßnahmen machen. Wis-sen Sie, wer das bezahlt? Das bezahlen die Auftragge-ber, und das sind die Kommunen. Eines kann ich Ihnensagen: Diese Politik, die Sie von Bonn aus betreiben, istnicht richtig, weil sie die Kommunen und die Wirtschaftbelastet.Und Sie belasten die Frauen durch die 630-DM-Verträge,
weil Sie damit Frauenarbeitsplätze vernichten. Ich alsLiberale sage Ihnen: Ich will, daß die Frauen, die es aussozialen Gründen nötig haben, ein paar Stunden in derWoche zu arbeiten – Sozialversicherungsbeiträge hinoder her –, das wenige Geld dafür auch in der Taschehaben.
Ich will es kurz machen, Frau Wester: Das Angebot,was die Beratung anbelangt, nimmt die F.D.P.-Fraktion,auch Herr Haupt und ich, sehr gerne an. Wir Liberalehaben aber zwei Grundsätze zu beachten:
Das ist zum einen die Vielfalt der Lebensentwürfe, zumanderen die Generationengerechtigkeit. Frau Wester, dawerden wir Ihnen helfen und gerne mitarbeiten.
Ich darf
darauf hinweisen, daß eine Kurzintervention nicht länger
als drei Minuten dauern sollte.
Sie hat jetzt dreieinhalb Minuten gedauert.
Frau Wester, Sie haben Gelegenheit, für die Erwide-
rung die gleiche Zeit in Anspruch zu nehmen. Bitte
schön.
Fakten, Fakten, Fakten,
Frau Rönsch, hätte ich mir in dieser Kurzintervention
gewünscht. Mir scheint, Sie haben die Fakten nicht pa-
rat. Man muß natürlich nicht die Soll-, sondern die Ist-
Zahlen des Haushaltsentwurfs lesen. Ich habe aber
schon angekündigt: Im Ausschuß gibt es noch genügend
Gelegenheiten, darüber zu reden.
Ich frage mich, Frau Lenke, warum Sie als Liberale,
der ich viel Kreativität und Innovationsfähigkeit unter-
stelle, so schmalspurig denken und meinen, man könne
Innovatives immer nur mit Geld auf den Weg bringen.
Ich habe Ihnen in meiner Rede frauenpolitische Initiati-
ven genannt, die zunächst kein Geld kosten. Sie haben
es richtig erkannt: Das Gleichstellungsgesetz gehört da-
zu.
Auch die Flexibilisierung der Gesetze über Erziehungs-
urlaub und Erziehungsgeld, welche wir zu einem Eltern-
urlaubsgesetz umgestalten wollen, kostet zunächst kein
Geld. Die Erhöhung der Einkommensgrenzen wird sich
erst in den nächsten Haushaltsjahren niederschlagen.
Dann werden Mittel dafür eingestellt; das ist völlig klar.
Sie wissen ganz genau, daß wir den Bereich, der sich
an die Umsetzung des Beschlusses des Bundesverfas-
sungsgerichts anschließt, in einem eigenen Gesetz regeln
werden. Darin werden natürlich die haushaltsrelevanten
Zahlen zum Tragen kommen.
Ich habe Ihnen gesagt, daß wir zum Beispiel durch
Umschichtungen Akzente in der Jugendpolitik gesetzt
haben. Auch das ist möglich. Ich bitte Sie herzlich, dies
einmal fair zu betrachten.
Meinelieben Kolleginnen und Kollegen, zunächst möchte ichIhnen bekanntgeben, daß die Reden zum Einzelplan Ge-sundheitspolitik zu Protokoll gegeben werden, so daßwir die Sitzung nach Abhandlung des folgenden Ge-schäftsbereichs beenden können.Wir setzen nun die Haushaltsberatung fort und kom-men zum Geschäftsbereich des Bundesministeriumsfür Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. DasWort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. GeraldThalheim. Herr Thalheim, bitte schön.Ina Lenke
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1730 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Dr
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Beim Wechsel von der Oppositionsbank auf dieRegierungsbank
war mir klar, Kollege Hornung, daß wir uns manch bit-terer Realität stellen müssen. Was mir allerdings nichtklar war, ist die Tatsache, daß der Verlust der Machtauch den Verlust von Realitätssinn bei Ihnen bedeutet.
Wenn ich mir einige Ihrer Presseerklärungen zur Agen-da 2000 in der letzten Zeit vergegenwärtige, dann habeich sogar den Eindruck – um das einmal sächsisch aus-zudrücken –, daß Sie von allen guten Geistern verlassensind.Das Ziel der Bundesregierung gerade in bezug auf dieHaushaltspolitik ist, sich den Realitäten zu stellen. Wirlegen einen Haushaltsentwurf für die Agrarpolitik vor,der 11,5 Milliarden DM umfaßt und nur um 0,6 Prozentwächst. Zu den Realitäten gehört es, daß in diesemHaushalt ein strukturelles Defizit von 30 Milliarden DMvorhanden ist, das Sie uns hinterlassen haben.
Das erfordert gerade im Agrarbereich Konsequenzen.Wir mußten leider eine globale Minderausgabe von89,5 Millionen DM in den Haushaltsansatz aufnehmen.Wenn wir den Realitäten Rechnung tragen, dannbedeutet das auch, daß im Rahmen des neuen Haushalts68 Prozent für die Agrarsozialpolitik ausgegeben wer-den, um den weiteren Strukturwandel zu flankieren.
– Ich habe hier doch nichts Widersprüchliches behaup-tet, Kollege Hornung. – Wir stehen zur Finanzierung derDefizite bei der Alterssicherung, auch wenn es daran injüngster Zeit öffentliche Kritik gegeben hat.Allerdings engt – auch das muß man einräumen –dieser hohe Anteil im Sozialbereich den Bewegungs-spielraum für agrarstrukturelle Maßnahmen ein. Auch andieser Stelle müssen wir den Realitäten Rechnung tra-gen. Wir haben hier, wie schon im Vorjahr, einen An-satz für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung derAgrarstruktur und des Küstenschutzes“ in Höhe von1,709 Milliarden DM. Hier wäre sicherlich im Interesseder Arbeitsplatzschaffung mehr wünschenswert. Aberdie Möglichkeiten im finanziellen Bereich, wie gesagt,engen uns ein.Wir tragen auch den Realitäten Rechnung, wenn wirin die Haushaltsansätze die Gasölverwendungsbeihilfeund die landwirtschaftliche Unfallversicherung in glei-cher Höhe wie in den Vorjahren aufnehmen.
Wir sehen natürlich, daß genau diese beiden Maßnah-men eine einkommenswirksame Unterstützung für dieLandwirtschaft darstellen.Wir tragen auch bei der Steuerpolitik und mit derVerabschiedung der Änderung des Einkommensteu-ergesetzes in der kommenden Woche den RealitätenRechnung. Angesichts eines Haushaltsdefizites von30 Milliarden DM sind aber kaum Entlastungen mög-lich. Zu den Realitäten gehört auch, daß die Landwirt-schaft zur Gegenfinanzierung des Einkommensteuerge-setzes einen Beitrag leisten muß.
Zu den Realitäten gehört auch, Kollege Heinrich, daßwir über diesen Punkt in den letzten Wochen sehr inten-siv diskutiert haben. Wir mußten der schwierigen Ein-kommenssituation in der Landwirtschaft Rechnung tra-gen. Wir sind der Meinung, daß mit dem zur Verab-schiedung anstehenden Entwurf ein vernünftiger Kom-promiß gefunden wurde.Zu den Realitäten, denen die Bundesregierung Rech-nung tragen muß, gehört nicht nur die Haushaltsdiszi-plin auf nationaler, sondern auch auf europäischer Ebe-ne. Schon der ehemalige Bundesfinanzminister Waigelhat in seinem Papier „Symmetrische Finanzpolitik2010“ gefordert:Innerhalb des gesamten Finanzrahmens sind Ober-grenzen für einzelne Aufgaben, insbesondere fürdie Strukturpolitik und für die Agrarpolitik, strikteinzuhalten.Das heißt, daß wir unter den Prämissen, unter denenwir in Brüssel jetzt verhandeln müssen, nach den Vor-gaben handeln, wie sie ehemals im Hause Waigel ge-macht wurden. Es ist schon eine gehörige Portion Rea-litätsverweigerung, wenn das von Ihnen jetzt geleugnetwird.
– Nein, mein lieber Peter Harry. Gerade in der Agrar-politik kann man nicht so tun, als könnte alles so blei-ben, wie es ist. Lieber Kollege Ausschußvorsitzender,ein Blick auf das erste Ergebnis, zu dem wir gemeinsamin Husum gekommen sind, würde eindrucksvoll bele-gen, daß Handlungsbedarf in der Agrarpolitik besteht.Wir verhandeln in Brüssel über einen Finanzrahmen,der sowohl den Erfordernissen der Finanzpolitik alsauch den Interessen der Bundesrepublik und der deut-schen Landwirtschaft Rechnung trägt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1731
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Zu den Prämissen, unter denen wir in Brüssel ver-handeln müssen, gehören unter anderem, Kollege Hor-nung, die Abschlüsse der Uruguay-Runde und die zu-gesagte Osterweiterung der Europäischen Union. Es istmir ein besonderes Anliegen, auf ersten Punkt hinzuwei-sen, weil in der Diskussion – egal wo – gelegentlichignoriert wird, daß mit dem GATT-Abschluß Grenzengezogen wurden, vor allen Dingen für die subventio-nierten Exporte, und Verpflichtungen zum Abbau desinternen Stützniveaus eingegangen wurden.Viele Fachleute sagen: Wenn die Reform so jetztnicht käme, dann würden wir bereits im Jahr 2001 oder2002 an die Grenzen stoßen mit der Folge, daß nichtmehr in dem Umfang, wie es zur Entlastung der Märktenotwendig wäre, subventionierte Exporte getätigt wer-den können. Schon alleine aus diesem Grund ist in Brüs-sel ein Verhandlungsergebnis notwendig.
Wenn Sie das kritisieren, dann halte ich Ihnen vor, daßes sich hierbei um Entscheidungen handelt, die unterIhrer Verantwortung getroffen wurden.
Ich möchte noch einmal auf das Thema Realitätssinnzu sprechen kommen. Wir haben den Eindruck, daß derRealitätsverlust bei Ihnen nicht erst nach dem Macht-wechsel, sondern bereits vorher eingetreten ist.
Wenn ich mir die Haltung der alten Bundesregie-rung und der alten Koalitionsfraktionen zu den Kom-missionsvorschlägen zur Agenda 2000 vergegenwärti-ge, dann komme ich zu dem Ergebnis: Ihre Totaloppo-sition hat letztendlich dazu geführt, daß wertvolle Zeitverlorengegangen ist und daß wir erst in der kurzenZeit vor der deutschen Präsidentschaft und jetzt wäh-rend der deutschen Präsidentschaft nach Partnern fürunsere Vorstellungen suchen müssen. Eine der Konse-quenzen, die von Ihnen jetzt so lautstark kritisiert wird,ist, daß wir am Ende auf der Grundlage der Kommissi-onsvorschläge verhandeln müssen, eben weil es ver-säumt wurde, deutsche Positionen viel stärker zumTragen zu bringen und Partner für unsere Auffassun-gen zu gewinnen.
– Herr Kollege Heinrich, dazu kann ich gleich etwassagen: Bundeslandwirtschaftsminister Funke ist es inwenigen Wochen gelungen, deutsche Positionen einzu-bringen und ein Verhandlungsklima zu erzeugen, in demein erfolgreicher Abschluß möglich ist. In dem Umfang,in dem für die deutsche Landwirtschaft die Entschei-dungen in Brüssel maßgeblich sind, ist das schon einentscheidender Beitrag Deutschlands zu einem erfolg-reichen Abschluß und zu einer guten Politik in diesemBereich.
An dem gegenwärtigen Stand der Verhandlungen, anden Vorschlägen der Kommission und an den Papieren,an denen entlang gegenwärtig verhandelt wird, gibt esviel Kritik. Aber es stellt sich immer die Frage: WelcheAlternativvorschläge werden gemacht? Herr KollegeHeinrich, ich darf auf eine Presseerklärung von Ihnen zusprechen kommen. Dort heißt es:Der geordnete Ausstieg aus den Marktordnungenfür Rindfleisch und Milch ist ein vernünftiger undzukunftsweisender Weg. Das ist richtig.
Weiter oben steht aber, daß die EU-Kommission ver-sucht, in ihrem Reformwerk unter dem Deckmäntelchender Marktwirtschaft mehr Umverteilung und eine Auf-blähung des EU-Haushaltes zu verkaufen.
Was bedeutet das im Klartext? Sie wollen den Aus-stieg aus der Intervention ohne Ausgleich; denn dieVerwaltungsprobleme, die Sie hier kritisieren, entstehenja erst durch den Ausgleich. Die F.D.P. tritt zwar alsRechtsstaatspartei an. Um aber dem Anspruch der Red-lichkeitspartei gerecht zu werden, müßte man sagen:Wir wollen in diesem Bereich freie Marktwirtschaft undsonst nichts. Das wäre die Konsequenz aus dieser Presse-erklärung.
– Nein, das kann ja jeder nachlesen.Auch die Kritik Ihres Kollegen Türk an der Absen-kung der direkten Beihilfen um 3 Prozent ist nicht ver-ständlich. Ich frage mich, wie man das mit der Konsoli-dierung in Einklang bringen will.
– Kollege Carstensen, die Vorschläge der CDU sindnicht viel besser.
Die einen fordern, daß Deutschland 14 Milliarden DMweniger für die Finanzierung der europäischen Politikzahlt. Die anderen fordern, in der Agrarpolitik solle allesbeim alten bleiben. Wieder andere fordern, ganz schnelleine Osterweiterung durchzuführen. Ein Kollege vonIhnen hat in der Ausschußsitzung gesagt: Wir wollendas Jahr 2002 einhalten. Ich gebe zu, daß man, wennman auf den Oppositionsbänken sitzt, schon einmalsolche Forderungen erheben kann, die niemand so rich-tig ernst nimmt.Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim
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1732 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Wenn man aber Ihre Politik daran mißt, was IhrFraktionsvorsitzender hier gefordert hat, nämlich Sub-stanz in die Politik zu bringen, dann muß man feststel-len, daß sie an dieser eigenen Forderung scheitert.
Es geht nicht, einerseits Globalisierung einzufordern undandererseits zu ignorieren, daß gerade in Deutschland ineinem entscheidenden Bereich, der von weltweiten Ver-trägen wie der GATT-Vereinbarung abhängig ist, Um-denken nötig ist.Unser Ziel ist es, einer weiteren GlobalisierungRechnung zu tragen und die deutsche Landwirtschaft fürdiese Herausforderungen zu rüsten, ohne sie dabei zuüberfordern. Ich bin optimistisch, daß Bundeslandwirt-schaftsminister Funke die Verhandlungen in Brüssel indiesem Bereich zu einem positiven Ergebnis führenwird.
Wir wollen eine multifunktionale, nachhaltige undwettbewerbsfähige Landwirtschaft. Wir wollen denVerbraucherinteressen, dem Schutz der Tiere und derUmwelt einen höheren Stellenwert einräumen. Wirwollen eine integrierte Entwicklung des ländlichenRaumes, um einen Beitrag zur nationalen Beschäfti-gungspolitik leisten zu können. Diesen Zielen dient auchder von der Bundesregierung vorgelegte Agrarhaushalt1999.Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Josef Hollerith von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Chaostage in Bonn –so lautet das geflügelte Wort zur Beschreibung des Zu-stands nach 100 Tagen Bundesregierung GerhardSchröder. Kennzeichen dieser Kanzlerschaft sind Miß-management, Schlampigkeit, handwerkliche Fehler undVernichtung von Arbeitsplätzen.
Die „Wirtschaftswoche“ bringt im Titel ihrer Aus-gabe vom 25. Februar 1999 ein Zitat von GerhardSchröder:Ich will die Arbeitslosigkeit deutlich senken. Daranwerde ich mich messen lassen.
In derselben Ausgabe meldet die „Wirtschaftswoche“:Seit Kanzler Schröder 489 789 zusätzliche Arbeitslose.
Der Begriff chaotisch ist also eine milde Umschreibungfür die Arbeit, die diese Bundesregierung in den ersten100 Tagen geleistet hat.
Der Einzelplan 10, der Haushalt des Bundesministersfür Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, ist überwie-gend durch gesetzliche Aufgaben, vor allem in der So-zialpolitik, gekennzeichnet. Die Gestaltungsspielräumesind relativ gering. Um so bedeutender ist es daher, daßdiese genutzt werden.
Sehr problematisch ist in diesem Zusammenhang dieKürzung des Ansatzes für die Gemeinschaftsaufgabe„Verbesserung der Agrarstruktur und des Küsten-schutzes“ gegenüber dem Entwurf des damaligen Bundes-finanzministers Theo Waigel um 91 Millionen DM. DerPLANAK hat in seinem Beschluß vom 11. Dezember1998 den damaligen Regierungsentwurf mit einem An-satz von 1,8 Milliarden DM zugrunde gelegt. In dieserSitzung wurde die Mittelverteilung für 1999 auf 64 Pro-zent für die alten Länder und auf 36 Prozent für dieneuen Länder festgelegt. Dies würde unter Zugrunde-legung des um 91 Millionen DM abgesenkten Ansatzeseine Verringerung der Mittel für die neuen Bundesländerum rund 51 Millionen DM bedeuten.Dies wiederum führt zu der Gefahr, daß auch eineKofinanzierung von EU Ziel 1, Strukturfördermittel na-tional, nicht mehr in vollem Umfang gewährleistet seinkönnte und daß damit in der Folge die den neuen Bun-desländern zustehenden europäischen Gelder nicht abge-rufen werden könnten. Ein skandalöser Zustand.
Dies wiederum bedeutet, daß die ohnehin schon un-verhältnismäßig große Nettozahlerposition Deutschlandsweiter belastet würde. Ich plädiere deshalb nachdrück-lich dafür, den Ansatz für die Gemeinschaftsaufgabe umdiese 91 Millionen DM aufzustocken.Die in dem Entwurf für den Einzelplan 10 vorgese-hene globale Minderausgabe um 89,5 Millionen DMist ebenfalls sehr problematisch. Sie engt den Spielraumfür agrarpolitische Vorhaben weiter ein. Gefährlichwäre, wie man hört, eine Anlastung der globalenMinderausgabe, etwa bei der landwirtschaftlichenUnfallversicherung, die wiederum die aktiven bäuerli-chen Betriebe belasten würde.
Das Abkassiermodell, die sogenannte Ökosteuer,trifft auch die Betriebe der Landwirtschaft nachteilig.Auf Druck der Unionsfraktion, auch die Landwirtschaftzu dem produzierenden und daher steuerbegünstigtenParl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1733
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Sektor zu zählen, hat sich die Regierungskoalition be-wegt.
Auch die landwirtschaftlichen Betriebe sollen zukünftigin den Genuß des ermäßigten Steuersatzes kommen.Allerdings bleibt es bei der Tatsache, daß diese Öko-steuer ein bürokratisches Monster ist und daß die bäuer-lichen Betriebe mit einem Sockelbetrag von 1 000 DMjährlich zusätzlich belastet werden.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kalb?
Ja, gerne.
Herr Kollege
Hollerith, würden Sie mir bestätigen, daß gestern im
Haushaltsausschuß auf meine Frage hin die Bundesre-
gierung erklärt hat, daß beileibe nicht alle Belastungen,
die auf die Landwirtschaft auf Grund der sogenannten
Ökosteuer in einer Größenordnung von 380 Millionen
DM zukommen, hinfällig sind, sondern daß es sich jetzt
haushaltswirksam – so die Aussage der Bundesregie-
rung, wenn ich mich recht erinnere – lediglich um Min-
dereinnahmen von 20 bis 25 Millionen DM handelt. Das
heißt: Der Riesenbrocken von etwa 360 Millionen DM
zusätzlicher Belastung bleibt für die Landwirtschaft be-
stehen.
Ihre Aussage bestätigeich ausdrücklich, Herr Kollege Kalb.Gespenstisch bleibt die Diskussion um die Agenda2000. Hier müssen ausdrücklich die Sicherung derbäuerlichen Einkommen, die Stärkung der Wettbewerbs-fähigkeit der landwirtschaftlichen Betriebe, die Herstel-lung qualitativ hochwertiger Produkte, der Erhalt derhohen Umweltstandards bei der Bewirtschaftung, dieEinhaltung der Verbraucher- und Tierschutzbestimmun-gen und die Ermöglichung einer flächendeckendenLandbewirtschaftung im Blick bleiben.Deshalb wollen wir, daß die Existenzgrundlagen derdeutschen Landwirtschaft im Interesse der Allgemein-heit und der betroffenen Bauern nicht gefährdet werden.
Auch die kleinen bäuerlichen Familienbetriebe braucheneine Perspektive, mit der sie künftig einen wesentlichenTeil ihres Einkommens über den Markt erwirtschaftenkönnen.Wir treten im Sinne des Subsidiaritätsprinzips ganzausdrücklich für eine Verlagerung der landwirtschaftli-chen Einkommenshilfen auf die Mitgliedstaaten ein. Wirwollen die stufenweise Einführung einer Kofinanzierungfür landwirtschaftliche Direktzahlungen in Höhe von 50Prozent. Die Kofinanzierung bedeutet eine gerechtereVerteilung der Finanzlasten, insbesondere zwischenDeutschland, Frankreich und Großbritannien, eine Be-grenzung der Kosten des Agrarsektors und einen Abbauder Brüsseler Subventionsmaschinerie.
Eine Kofinanzierung von 50 Prozent bei den Direkt-beihilfen würde den Agrarhaushalt der EuropäischenUnion um zirka 24 Milliarden DM – nach den Haus-haltsdaten 1997 – entlasten. Damit könnte ein wirksamerBeitrag zu der von allen Haushaltsexperten gefordertenKorrektur auf der Ausgabenseite geleistet werden. DerAgrarhaushalt der EU würde um zirka 30 Prozent zu-rückgeführt werden, der Haushalt der EuropäischenUnion insgesamt um über 13 Prozent.Kofinanzierung heißt praktizierte Subsidiarität. Dienationale Verantwortung für die Agrarpolitik würde ge-stärkt werden. Gleichzeitig könnten Zuständigkeiten imBereich der Agrarpolitik auf die nationale bzw. regio-nale Ebene zurückverlagert werden.
Wir bestehen darauf, auf Preissenkungen zu verzich-ten, wo sie vom Markt her nicht erforderlich sind. ImFalle von unvermeidbaren Preissenkungen muß ein vol-ler und dauerhafter Ausgleich durch in der WTO abge-sicherte Direktzahlungen gewährleistet sein.
Die Milchquotenregelung muß mit einer deutlichenStärkung der aktiven Milcherzeuger fortgesetzt werden.Wir wollen Mengenbegrenzung statt Preissenkung.
Nur tiefgreifende und umfassende innere Reformender Europäischen Union sind eine tragfähige Grundlagefür die Aufnahme von Staaten, die die Voraussetzungenfür den Beitritt erfüllen. Die Agenda 2000 stellt nichtallein durch ihre Verabschiedung das Gelingen derOsterweiterung sicher; entscheidend ist vielmehr ihrInhalt. Dabei geht es in erster Linie um die strikte Be-grenzung der Ausgaben in den Strukturfonds und imKohäsionsfonds für die heutigen Mitgliedstaaten, um dieOsterweiterung finanzierbar zu machen. Mit einer un-zulänglichen Agenda 2000 würde der Osterweiterungkein Dienst erwiesen.Ausdrücklich fordere ich Bundesminister Funke aufund ermuntere ihn, an seiner Position des Jahres 1997 zuseiner Zeit als niedersächsischer Landwirtschaftsmini-ster, festzuhalten, als er die Agenda 2000 als einen„Kahlschlag für den ländlichen Raum“ bezeichnet hat.
Ich fordere ihn auf, seiner Erkenntnis von 1997 Tatenfolgen zu lassen und die deutschen Interessen bei denVerhandlungen in der Europäischen Kommission wäh-rend der deutschen Ratspräsidentschaft erfolgreichdurchzusetzen.
Josef Hollerith
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1734 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Bevor ich dem näch-
sten Redner das Wort erteile, muß ich noch einmal auf
die Geschäftsordnungsdebatte von heute morgen zurück-
kommen. In dieser Debatte hat der Kollege Dr. Peter
Ramsauer ausweislich des Protokolls einen beleidigen-
den Zwischenruf an die Adresse der Rednerin Kristin
Heyne gerichtet, den ich nicht gehört habe; es war
ziemlich viel Lärm. Der Zwischenruf ist heute nachmit-
tag im Ältestenrat erörtert worden, ohne daß die Ange-
legenheit dort bereinigt werden konnte. Ich erteile dem
Abgeordneten Dr. Peter Ramsauer hiermit nachträglich
einen Ordnungsruf für seine Äußerung.
Nun hat die Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die
Grünen, das Wort.
Sehrgeehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Her-ren! Sehr geehrter Herr Hollerith, das war nicht Ihre er-ste Rede im Parlament. Ich denke, auch als Oppositiondarf man nicht nur Märchenstunde halten.
Ich verweise Sie auf den Situationsbericht des Deut-schen Bauernverbandes für das vergangene Jahr – wieSie wissen, eine Periode der alten Bundesregierung –, indem zum Beispiel der Verlust von 82 000 Arbeitsplätzenin der deutschen Landwirtschaft ganz zu Recht beklagtwird. Im übrigen möchte ich darauf verweisen, daß,während der Bundeshaushalt seit 1991 etwa um 37 Pro-zent anstieg, der Agrarhaushalt um über 16 Prozent ge-kürzt wurde. Das zum Thema Märchen, die Sie uns hierauftischen.Sehr geehrte Damen und Herren, die Zukunft einermarkt- und umweltgerechten Landwirtschaft gestalten– dieses Ziel setzen wir uns. Die Agenda 2000 ist – dasist richtig – nicht in allen Aspekten zielführend. In derkurzen Zeit konnte die neue Bundesregierung wegen derPolitikunfähigkeit der alten Bundesregierung im Agrar-bereich gerade in der haushaltsrisikoreichen und pro-blematischen ersten Säule der Agenda 2000 kaum etwaspositiv beeinflussen, allenfalls noch korrigieren. Es istgeradezu lächerlich, wenn die CDU/CSU die Verzöge-rung der Agenda-Abstimmung verlangt, wie sie das ge-rade wieder getan hat. Dafür ist es politisch zu spät. DieChance einer mehrheitsfähigen Diskussion der deut-schen Ziele haben Sie selbst vergeben
und damit ganz explizit die Möglichkeit vertan, zu demZiel zu kommen, das Sie immer vor sich her tragen: derNettozahlerentlastung. Diese Erblast in der Agenda, dieintendierte subventionsgestützte Weltmarktorientierung,die Fortsetzung der Preissenkungs- und Ausgleichsspi-rale, die wir übrigens mitsamt den Umweltverbänden,immer kritisiert haben, ist es, die die Bauern auf die Bar-rikaden treibt.
An diesem Punkt konterkariert die Agenda ihre eigenenZielvorgaben.Aber wir haben es hier mit einer Situation zu tun, inder Minister Funke das tun muß, was jetzt noch möglichist, nämlich Korrekturen einzubringen.
An dieser Stelle möchte ich übrigens Verständnis fürdie Bauern äußern, die demonstrieren. 40 Jahre lang hatdie Politik die Betriebe in ein enges Staatskorsett ge-zwängt. Vom Preis über die Menge bis zur Krümmungder Salatgurke ist alles vorgeschrieben worden. DieLandwirte sind mit Unterstützung dieser Opposition, diesich nun zu etwas anderem aufschwingen will, zu Prä-mienbauern gemacht worden. An den Pranger gehörendie Verantwortlichen aus Politik und Verbänden, dienichts anderes zu tun hatten, als die sterblichen Überre-ste einer gescheiterten Agrarpolitik künstlich zu alimen-tieren.
Profitiert haben davon übrigens nicht die Bauern.Die Agenda 2000 ist – vielleicht kann man das po-sitiv sehen – der Anfang vom Ende einer Agrarpolitik,der keine Träne nachzuweinen ist. Es gilt – und genaudiese Anstrengungen unternimmt Minister Funke –, inBrüssel die Übergänge für eine unternehmerischeLandwirtschaft zu sichern und auszubauen, im übrigenAnstrengungen zu unternehmen, um Mengenbegren-zungen, die Sie erwähnt haben, durch Flächenstille-gungen zu regeln und Preisreduzierungen entgegenzu-wirken. Es gilt, für eine Landwirtschaft Übergänge zuschaffen, die auf eine ökologisch soziale Marktwirt-schaft ausgerichtet ist; hier bietet die Agenda im Be-reich der horizontalen Maßnahmen und der zweitenSäule durchaus gute Ansatzpunkte. Es gilt, die Nach-frageorientierung und entsprechende Angebote zu stüt-zen. Dabei wird in der Realität weniger der Weltmarktals vielmehr die Versorgung der 340 MillionenEU-Verbraucher mit hochwertigen Lebensmitteln imVordergrund stehen.Wir treiben eine Politik voran, die die Milchpolitikendlich reformiert und die deutschen Betriebe von demDesaster aus Quotenkauf und -handel entlastet,
die das Vertrauen der Verbraucher in die Lebensmitteldurch die Stützung einer umwelt- und tiergerechten Pro-duktion und auch durch die Stützung des ökologischenLandbaus wiederherstellt, die ländliche Räume und diedortigen Arbeitsplätze in Ost und West sichert, die dieNachfrage nach den gesellschaftlichen Leistungen derLandwirtschaft, nämlich dem Natur- und Umweltschutzstärkt, und die, übrigens auch mit der Einführung der
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1735
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Ökosteuer, die Einkommenspotentiale im Bereich dernachwachsenden Rohstoffe
und erneuerbarer Energien nutzbar macht.
Das behindern Sie mit Ihren Schmierenpolitikmethoden.Das gestern im Finanzausschuß war doch keine hand-werklich ordentliche Politik.
Wir treiben weiterhin eine Politik voran, die dieAgrarpolitik zum positiven Element der Osterweite-rung macht und Arbeitsplätze im ländlichen Raumschafft und sichert. Allein die Neugestaltung derMilchpolitik übrigens ist für die Landwirtschaft mehrwert als die Regierungspolitik in der letzten Legisla-turperiode.Auch wenn es einige ungnädige Äußerungen desKanzlers gab – das ist im übrigen angesichts der An-feindungen nicht ganz unverständlich –, so ist dieLandwirtschaft auch in der Steuerpolitik fair behandeltworden. Ihren Besonderheiten wurde Rechnung getra-gen, ohne die notwendigen Ziele der Reform aus denAugen zu verlieren. Mit der Ökosteuer ist ein Förder-programm für erneuerbare Energien, für die Energiege-winnung aus dem Bereich der Landwirtschaft verbun-den.
Die faire Behandlung soll auch für den Haushaltgelten, der allerdings, wie ich schon gesagt habe, vonder alten Bundesregierung gehörig skelettiert wurde.Das übernommene Defizit von 20 bis 30 MilliardenDM im Bundeshaushalt zwingt zu weiteren Einsparun-gen.In Übereinstimmung mit den oben genannten Zielenwollen wir die Agrarsozialpolitik durch eine kostenein-sparende Strukturreform zukunftsfähig machen.
Wir wollen in der Gemeinschaftsaufgabe die Bereicheder umwelt- und tiergerechten Produktion und entspre-chende Investitionen, den Vertragsnaturschutz sowiedie regionale Verarbeitung und Vermarktung stärkenund darauf die Finanzen ausrichten, im Rahmen derBundesforschung eine neue Qualität durch ökologischorientierte Forschungsaufgaben einbringen und dasRahmenkonzept auch unter inhaltlichen Gesichts-punkten gestalten. Wir haben in den alten und neuenLändern unzählige Betriebe, die darauf warten, als in-novationsfähige Wirtschaftsbereiche gestützt und ge-fördert zu werden.
Die prekäre Welternährungssituation stellt auch diedeutsche Landwirtschaft vor die verantwortungsvolleAufgabe, nachhaltig und unter Verzicht auf Rohstoffim-porte aus Ländern mit Nahrungsmitteldefiziten die Er-nährung der hier lebenden Menschen mit hochwertigenNahrungsmitteln zu sichern.Gleichermaßen sind für uns die Beschäftigung unddie Schaffung von Arbeitsplätzen in den ländlichen Re-gionen relevant. Hier gibt es erste Erfolge, die weiter-entwickelt werden müssen.
37 000 neue Arbeitsplätze im Agrarbereich, die jetztauch trotz der Neuregelung im Saisonarbeiterbereichentstanden sind,
wie die Industriegewerkschaft IG BAU meldet, zeigenhier einen Wachstumsmarkt für Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer sowie Betriebe auf. Und so soll es auchweitergehen.Danke.
Das Wort hat nun
der Kollege Ulrich Heinrich, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lie-ben Kolleginnen und Kollegen! Es fällt mir natürlichschwer, das, was Sie, Frau Kollegin Höfken, geradeeben bezüglich der 37 000 zusätzlichen Arbeitsplätzegesagt haben, so stehenzulassen. Ich möchte einmal wis-sen, wo die geschaffen wurden.
Ich möchte auch wissen, wo in der Vergangenheit un-sere handwerklichen Fehler gelegen haben sollen.Handwerkliche Fehler hat doch die jetzige Regierunggemacht und nicht wir.
Wir hetzen doch jeden Tag hinter neuen Vorgaben, dieSie auf den Tisch legen, her. Wenn man morgens bzw.mittags nicht die Meldungen des Tickers nachliest, weißman abends nicht, was Sache ist. Das ist doch dasThema.
Ulrike Höfken
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1736 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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Seien Sie also so gut und stellen Sie nicht alles auf denKopf. Geben Sie wenigstens die Bereiche zu, in denenSie wirklich nicht gut waren, nämlich darin, Ihre eige-nen Vorstellungen konkret auf den Tisch zu legen unddarüber eine sachliche Debatte zu führen. Das habenschließlich alle in dieser Republik gemerkt.
In diesem Haushalt – Herr Staatssekretär Thalheimhat es festgestellt – sind 67 Prozent der Mittel für densozialen Bereich vorgesehen. Das muß uns zu denkengeben. Wir haben seit Jahren eine Zunahme der Sozial-ausgaben, aber nicht bei einer gleichzeitigen Zunahme,sondern bei einer gleichzeitigen Abnahme des Gesamt-volumens des Haushaltes.
Das heißt, die Landwirtschaft finanziert ihren eigenenStrukturwandel, ihre eigene soziale Flankierung selber.Das ist der Punkt. Ich betone deshalb, daß, wenn es soweitergeht, am Ende nur noch Soziales im Agrarhaus-halt steht und daß nichts mehr übrigbleibt für Investitio-nen, für Betriebe, die sich für den Weltmarkt und fürdas, was durch die Agenda auf uns zukommt, fit machenwollen.
Der Spielraum nähert sich dem Nullpunkt.Ich muß noch eines hinzufügen: Der in der letztenLegislaturperiode in der Opposition befindliche Agrar-sprecher Sielaff hat immer von der Gießkanne gespro-chen. Ich habe dazu immer geklatscht; da waren wirimmer einer Meinung. Wie er bin auch ich der Ansicht,daß wir mit dem Gießkannenprinzip bei dem wenigenGeld, das uns zur Verfügung steht, von der politischenSeite her eigentlich wenig positive Effekte für unserelandwirtschaftlichen Betriebe erreichen können. Jetztlegt die neue Bundesregierung aber genau das gleichevor. Sie ist nicht in der Lage und hat nicht die Kraft da-zu, dort, wo das Gießkannenprinzip angewendet wird,strukturelle und inhaltliche Änderungen vorzunehmen.Das ist genau der Punkt: Man kann nicht auf der einenSeite sagen: „Wir kritisieren das“, und es auf der ande-ren Seite genauso machen, wenn man selbst an der Re-gierung ist. Das ist einfach nicht redlich.
Es gehört schon Mut dazu, die landwirtschaftlichenSozialversicherungen aufzufordern, eine Strukturre-form durchzuführen. Dazu hätte ich gerne einmal einWort gehört. Es gehört auch Mut dazu, bei den Beiträ-gen, die die Landwirtschaft für die Berufsgenossenschaftbezahlt, eine andere Struktur finden zu wollen. Dazu ge-hört ein bißchen Grips, dazu muß man vom alten Trottwegkommen. Sie sind dazu nicht in der Lage.
Herr Kollege Hein-
rich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Weisheit?
Ja, bitte.
Herr Kollege Heinrich,
bestätigen Sie mir dann, daß die einzige Chance, dabei
etwas zu verändern, ohne den Haushalt zu erhöhen, die
ist, im Bereich der Unfallversicherung zu streichen? Da
Sie fordern, etwas zu verändern, möchte ich das wissen.
– Ich frage ja, ob er meine Meinung teilt!
Herr Kollege Weisheit, wirwerden in diesem Bereich Veränderungen vornehmenmüssen. Dazu, wie die Veränderungen stattfinden sollen,sollten Sie einmal etwas vorlegen. Ich sage Ihnen: Damitman nicht so weiterfinanziert wie bisher, muß in ersterLinie eine Strukturreform erfolgen; denn es geht umAusgaben, die der Steuerzahler bezahlt. Die Bauern ha-ben nichts davon.Als wir die Reform der agrarsozialen Sicherungdurchgesetzt haben – Sie waren damals noch nicht imBundestag –, habe ich schon für eine Strukturreformplädiert. Damals war die Zeit vielleicht noch nicht reif;das mag sein. Aber heute ist sie überreif. Die 19 Sozial-versicherungsgebiete müssen zusammengefaßt werden,um einmal einen Anfang zu machen. Wenn man vorherso groß geredet hat, als man noch in der Opposition war,hätte ich jetzt schon mehr erwartet.
Die sozialpolitische Abfederung des Strukturwandelsist notwendig und richtig. Dazu stehen wir, das ist garkeine Frage. Die Landwirtschaft finanziert diese Dingemomentan aber selber. Es bleibt nichts mehr übrig fürden investiven Bereich. Deshalb brauchen wir hierbeieine Umschichtung. Über den weiteren Fortgang dieserAgrarpolitik hungern wir unsere Landwirtschaft anson-sten langsam aus.Besonders interessant wird es, wenn man die Vor-schläge der Regierung zu so wichtigen Vorhaben wieden 630-DM-Jobs, der Ökosteuer und der Steuerreformim allgemeinen, in diesem Zusammenhang betrachtet.Jede dieser drei Reformen belastet für sich genommendie Landwirtschaft zusätzlich.
Ich möchte einmal wissen, mit welcher Begründungdie Regierung sich hier hinstellt und sagt, die Landwirt-schaft müsse ihren Teil dazu beitragen. Wenn man beider jetzigen Haushaltsvorlage auch noch sagt, dieLandwirtschaft müsse über die bereits vorhandene Bela-stung hinaus noch eigene Leistungen mit einbringen,dann muß ich dazu sagen: Diese Bundesregierung hatnoch nicht kapiert, wie schwierig es in den Betriebendraußen aussieht.
Ulrich Heinrich
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1737
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Die Ökosteuer – ein total unsinniges Unternehmenund für die Landwirtschaft reines Gift; denn es belastetdie Landwirte in einem Bereich mit europäischen Wa-renströmen einseitig in ihrer Wettbewerbsfähigkeit.
Das ist nicht nur meine Meinung; das ist auch die weit-verbreitete Meinung von Agrarwissenschaftlern und vonjedem, der sich ein klein bißchen Gedanken darübermacht. Ich fordere, daß die Ökosteuer für die Landwirt-schaft völlig ausgesetzt wird.
Die Landwirtschaft wird sonst mit dem gewerblichenBereich gleichgestellt.Zur sogenannten Bagatellgrenze: Ich muß meinenBauern draußen einmal sagen, daß 1 000 DM für dieseRegierung eine Bagatelle sind! Die Bauern arbeitenteilweise einen Monat, bis sie 1 000 DM netto in der Ta-sche haben. Das ist ein Skandal! Man muß überlegen,wie man da mit den Bauern umgeht.
Lassen Sie mich zum Schluß mit freundlicher Ge-nehmigung des Herrn Präsidenten noch einige Sätze sa-gen.
Gewährt.
Ich habe nie von einem
Ausstieg aus den Marktordnungen ohne Ausgleich ge-
sprochen. Vielmehr habe ich von den Marktordnungen
Milch und Rindfleisch mit gleichzeitigem wirksamem
Außenschutz gesprochen. Das haben Sie nicht zitiert,
Herr Staatssekretär; das gehört aber dazu. Gleichzeitig
sollte es eine Grünlandprämie geben.
Gleichzeitig sollte es eine Ausstiegshilfe aus der Rin-
dermast geben. Meine Damen und Herren, wer so tut,
als könnten wir die Bauern in Deutschland, die in der
intensiven Rindermast tätig sind, bei dem, was auf sie
zukommt, sich selber überlassen, der sagt den Bauern
nicht die Wahrheit.
Die Mengen sind herunterzufahren. Deshalb bin ich für
den geordneten Ausstieg, flankiert von Maßnahmen von
seiten der EU, von seiten der Nationalregierung. Ich bin
aber nicht für einen Preisstützungsabbau, wie er jetzt
vorgenommen wird. Wir wollen ein europäisches Preis-
niveau für Milch und Rindfleisch halten.
Wenn wir mit den Marktordnungen aufhören, wenn
wir mit den Exportsubventionen aufhören, sind wir auch
in der Lage, bei der WTO die Außenschutzbedingung
auszuhandeln. Das muß unsere Zielrichtung sein. Leider
Gottes geht die Bundesregierung in den entsprechenden
Beratungen in eine andere Richtung. Ich bedauere das
sehr. Das wird zu Lasten der europäischen, aber ganz
besonders der deutschen Landwirtschaft gehen.
Danke schön.
Das Wort hat Kolle-
gin Kersten Naumann, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren Abgeordnete! Ich gehe davon aus,daß Sie wissen, daß zur Zeit auch in den Kommunal-parlamenten Haushaltsdebatten laufen und daß sich die-se Debatten mindestens genauso schwierig gestalten wiedie im Bundestag. Daß wir als Bundestagsabgeordnetedafür mitverantwortlich sind, sollte allen Abgeordnetenzu denken geben.Uns sollte aber auch bewußt sein, daß der in denkommunalen Haushaltsdebatten oft zitierte Anspruch„Der Haushalt ist in Zahlen gegossene Politik“ auch fürden Agrarhaushaltsentwurf der Bundesregierung gilt.Wenn man nach der Bundestagswahl noch die Hoff-nung hatte, daß sich mit dem Regierungswechsel auchein Wechsel bei der in Zahlen gegossenen Politik voll-zieht, muß man jetzt sagen: Von dieser Hoffnung istnicht viel geblieben. Der Agrarhaushalt und somit dieAgrarpolitik muß sich an den aktuellen Herausforderun-gen der Zeit messen lassen.Da werden die Weichen unter anderem durch dieAgenda 2000 gestellt. Mit ihr ist die Landwirtschaft inbesonderer Weise in den Blickpunkt der öffentlichenDiskussion geraten. Von Polen bis Frankreich, vonSchwerin bis Straßburg und morgen hier in Bonn prote-stieren die Bauern gegen eine weitere dramatische Ver-schlechterung ihrer Existenzbedingungen. Dabei war esgerade der Agrarbereich, in dem sich in den zurücklie-genden Jahren die größten gesellschaftlichen Verände-rungen vollzogen haben. Einerseits sind seit 1970600 000 Betriebe und 1,6 Millionen Arbeitsplätze demVerdrängungswettbewerb zum Opfer gefallen. Anderer-seits ist die Vielfalt der qualitativ hochwertigen Nah-rungsmittel kaum noch zu übersehen.Wer gehofft hatte, die Agenda 2000 würde den Bau-ern eine erstrebenswerte Zukunft eröffnen, wird ent-täuscht. Der versprochene Politikwechsel besteht darin,daß die Bauern den Marktkräften gnadenlos ausgeliefertwerden. Wer nach der Bundestagswahl erwartet hatte,mit dem Agrarhaushalt 1999 würde die Bundesregierungein Alternativkonzept für die Bauern vorlegen, sieht sichwieder enttäuscht. Auch mit diesem Haushalt verstärktdie Regierung den Druck auf die Bauern, sich aus eige-ner Kraft dem verschärften Wettbewerb zu stellen unddazu den Gürtel enger zu schnallen.Die Bundesregierung hat mit ihrer Steuerpolitik aufdie Möglichkeit verzichtet, sich einen größeren Hand-Ulrich Heinrich
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1738 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
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lungsspielraum zu verschaffen. So blieb ihr gar nichtsanderes übrig, als den Haushalt der alten Bundesregie-rung im wesentlichen zu übernehmen. Eine wirklich„neue Position“ sind nur die fast 90 Millionen DM glo-bale Minderausgaben, die bei der Planumsetzung nocheinzusparen sind. Nach den bisherigen Erfahrungen mußbefürchtet werden, daß diese Einsparungen vor allembei der Gemeinschaftsaufgabe erfolgen werden. Seit derKohl-Regierung gibt es dafür ausreichend Erfahrung.Aber auch die neue Regierung wird sich auf die Ent-schuldigung zurückziehen, die Mittel könnten nicht ein-gesetzt werden, da die Länder nicht die notwendige Ko-finanzierung erbracht hätten. Daß durch die Regierungs-politik jedoch auch die Länderkassen leer sind, wird ge-flissentlich verschwiegen. Was für ein verlogener Teu-felskreis!
Berücksichtigt man bei der Analyse des Agrarhaus-haltes die von der Bundesregierung im Agrarbericht1999 getroffene Einschätzung, daß die Bauern im lau-fenden Wirtschaftsjahr bei ihrem Einkommen erheblicheEinbußen zu erwarten haben, dann kann man nur zuzwei Ergebnissen kommen:Erstens: Die Bundesregierung handelt gegenüber ei-ner gesellschaftlichen Gruppe, die mit außerordentlichenökonomischen Problemen konfrontiert ist, verantwor-tungslos.
Zweitens: Die Bundesregierung will mit ihremAgrarhaushalt die Wende zu einer ausschließlichmarktorientierten Agrarpolitik unterstützen.Nach Meinung meiner Fraktion deutet alles daraufhin, daß es der Bundesregierung trotz manch anderslautender Erklärung um eine Agrarentwicklung geht, dieeine völlige Unterordnung der Landwirtschaft unter diePrinzipien der Liberalisierung und Globalisierung for-dert und die damit zu einem Strukturwandel führt, dernur wettbewerbsfähigen Betrieben eine Chance gibt undzu einer beschleunigten Liquidation von weiteren tau-send Höfen führt. Bauernpräsident Sonnleitner spricht indiesem Zusammenhang von bis zu 60 000 Höfen imJahr. Auf diese Bedrohung ihrer Zukunft reagieren dieBauern mit berechtigten und unüberhörbaren Protesten.Der Minister verspricht ihnen im Gegenzug, für Wett-bewerbsgerechtigkeit zu sorgen. Das klingt zwar nachhoher Moral, bedeutet aber in der Praxis, daß dem Sie-ger im Verdrängungswettbewerb die gesellschaftlicheLegitimation zugesprochen wird, Haifisch im Dorfteichzu sein.Egal, wohin man schaut, ob in das Zahlenwerk desAgrarhaushaltes oder auf die veröffentlichte Meinungdes Agrarministers – von einer verantwortungsvollenund zukunftsfähigen Politik gegenüber den Bauern undVerbrauchern ist nichts zu sehen. Uns wurde ein Agrar-haushalt ohne neue Ideen vorgelegt. Wir haben es miteinem Agrarminister zu tun, der mit vagen Versprechendavon ablenken will, daß er sich in Wahrheit dafür ent-schieden hat, Minister der überlebensfähigen Agrarbe-triebe und damit einer Minderheit zu sein, ohne denVerlierern eine Zukunftschance zu geben. Offensichtlichspekuliert er darauf, daß die Verlierer dieser Gesell-schaft nicht zur Wahl gehen. Doch für die Folgen derweiteren Spaltung der Bauernschaft wird er die Verant-wortung übernehmen müssen.Die PDS sieht den Agrarhaushalt in Übereinstim-mung mit dem Grundkonzept der Agenda 2000, derenAgrarteil wir grundsätzlich ablehnen. Wir werden unserekonkreten Änderungsvorschläge in die weiteren Haus-haltsberatungen einbringen und fordern statt einer kapi-talorientierten eine sozialorientierte Politikwende, zu dersich die SPD noch vor den Wahlen bekannt hat.Danke schön.
Das Wort hat nun
Kollege Karsten Schönfeld, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! CDU und F.D.P. – allen voran aberdie CSU; wir haben es heute abend wieder von HerrnHollerith gehört – kritisieren die Bundesregierung laut-stark wegen der Agenda 2000. Vor allen Dingen wirdmit Horrorszenarien argumentiert, was die weitere Exi-stenz der Landwirtschaft anbelangt. Wieviel Heucheleidabei ist, belegen Ihre Zahlen aus den letzten Jahren.
Die Einkommensentwicklung in der Landwirtschaftist unbefriedigend. Die Zahl der Betriebe und die der inder Landwirtschaft Beschäftigten sinken von Jahr zuJahr. Die alte Bundesregierung ist auch in der Agrar-politik gescheitert.
Ihre Haushaltsansätze der letzten Jahre spiegeln dieswider. Während wir 1991 noch 13,9 Milliarden DM imAgrarbereich ausgeben konnten, sah der Haushalts-entwurf der alten Bundesregierung für dieses Jahr11,5 Milliarden DM vor. Bereits in der Vergangenheitwurde der Agrarhaushalt zur Konsolidierung des Ge-samthaushaltes überproportional herangezogen.
Wir werden in der Agrarpolitik neue Schwerpunkte set-zen. Das, meine Damen und Herren, ist dringend not-wendig.
Das gewaltige Haushaltsdefizit, das Sie uns hinterlas-sen haben, zwingt aber zu weiteren Einsparungen. Trotzeiner globalen Minderausgabe von 90 Millionen DMkann der Haushaltsansatz jedoch auf dem Niveau desVorjahres gehalten werden. 7,9 Milliarden DM entfallenauf die landwirtschaftliche Sozialpolitik. Die hohenKersten Naumann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999 1739
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Verwaltungskosten werden hier mit Recht kritisiert. DieMittel für die Agrarsozialpolitik sind von 5,6 MilliardenDM in 1991 auf 7,9 Milliarden DM angestiegen.Ich habe mich allerdings gewundert. Kollege Hein-rich, Sie haben das ja auch kritisiert; Sie hatten aller-dings 16 Jahre Zeit, mit einer vernünftigen Politik in denletzten Jahren gegenzusteuern.
– F.D.P noch länger, vielen Dank. – Sie erwarten jetztvon uns, daß wir in noch nicht einmal vier Monaten einegrundlegend andere Politik machen.Die anderen Mittel, meine Damen und Herren, sindim gleichen Zeitraum, also von 1991 bis heute, von8,2 Milliarden DM auf 3,7 Milliarden DM zusammenge-strichen worden. Das ist eine Differenz von 4,5 Milliar-den DM. Genau hier liegt der größte Fehler Ihrer Agrar-politik.
Es sind Mittel für einkommenswirksame und investiveMaßnahmen, die in den letzten Jahren massiv gekürztworden sind.
Die alte Regierung hat die Bundesmittel für die Ge-meinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruk-tur und des Küstenschutzes“ von 3,2 Milliarden DMim Jahr 1993 auf 1,7 Milliarden DM im letzten Jahr et-wa halbiert. Unmittelbar einkommenswirksame Maß-nahmen wie zum Beispiel die Anpassungshilfen und dersoziostrukturelle Einkommensausgleich wurden ganzeingestellt.Der Anteil des Bundes zur Mitfinanzierung der Ge-meinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstrukturund des Küstenschutzes“ beträgt in diesem Jahr unver-ändert 1,7 Milliarden DM. Die insgesamt schwierigeFinanzlage und der wachsende Finanzbedarf für die ge-setzlich gebundenen Maßnahmen im Rahmen der Agrar-sozialpolitik ließen eine – wenn auch wünschenswerteund notwendige – Mittelaufstockung für die Gemein-schaftsaufgabe nicht zu.Die Opposition kritisiert gerne übertriebene gesetzli-che Gängelungen der Landwirte und unverhältnismäßigbürokratische Anforderungen an die Bauern. Dabei ver-schweigen Sie, meine Damen und Herren, daß Sie in derAgrarpolitik selbst die schlimmsten bürokratischenÜberregulierungen geschaffen haben.
Die Flächenbindung der Milchquote beispielsweise istfür aktive, junge Landwirte mit wachstumsfähigen Be-trieben eine sehr teure planwirtschaftliche Regelung. Eskann nicht sein, daß junge Bauern massiv daran gehin-dert werden, Produktivitätsfortschritte zu nutzen und inGrößen zu wachsen, die ihnen langfristig ihre Existenzsichern.Das Jahresgutachten des Sachverständigenrates zurBegutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung,das CDU und F.D.P. so gerne zitieren, wenn es um dieWirtschafts- und Sozialpolitik geht, spricht in diesemZusammenhang vom – ich zitiere wörtlich – „Irrweg dereuropäischen Agrarpolitik ... deren gesamtwirtschaftlichschädliche Wirkungen in zahllosen empirischen Studiennachgewiesen worden sind.“ Die Opposition, die inSonntagsreden gern die freie Marktwirtschaft lobt, ver-tritt hier die Meinung, daß ausgerechnet für die Agrar-märkte eine Planwirtschaft das bessere System sei.
Wir haben eine grundlegende Reform der Einkom-mens- und Unternehmensbesteuerung auf den Weggebracht und steuerliche Entlastungen für die Bürgerund die Wirtschaft durchgesetzt, die auch die Land- undForstwirtschaft entlasten.
Bei den notwendigen Gegenfinanzierungen und bei Ein-sparmaßnahmen haben wir für ein ausgewogenes Ver-hältnis von Be- und Entlastungen gesorgt.
– Auch wenn Sie hier herumschreien, es ist so.
Wir haben gegenüber den ersten Entwürfen einigeÄnderungen zugunsten der Landwirtschaft einvernehm-lich umsetzen können, die auch Sie, meine Damen undHerren von der Opposition, bereits gewürdigt haben.Im Rahmen der ökologischen Steuerreform habenwir die Gleichstelllung der Landwirtschaft mit dem pro-duzierenden Gewerbe erreicht.
Herr Kollege Hollerith, ich muß noch einmal auf daszurückkommen, was Sie vorhin gesagt haben. Sie irren;wir haben das eingebracht. Denn es waren dieCDU/CSU und die F.D.P., die unseren Antrag imAgrarausschuß auf Gleichstellung mit dem produzieren-den Gewerbe abgelehnt haben.
Herr Kollege Schön-
feld, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Heinrich?
Nein, das gestatte ichnicht. Ich möchte im Zusammenhang vortragen.
Karsten Schönfeld
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1740 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 22. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Februar 1999
(C)
Es ist seine erste
Rede.
Die SPD setzt sich kon-
sequent für die Erhaltung einer mulitfunktionalen
Landwirtschaft in allen ländlichen Regionen unseres
Landes ein. Wir müssen – das ist die wichtigste Aufgabe
für die nächsten Jahre – die Entwicklungschancen der
ländlichen Räume verbessern.
Schwerpunkt unserer Politik ist die Erhaltung und die
Schaffung von Arbeitsplätzen auch in der Landwirt-
schaft und im ländlichen Raum.
Wir werden unseren Landwirten helfen, die Wettbe-
werbsfähigkeit auf dem gemeinsamen europäischen
Agrarmarkt zu verbessern. Wir werden Hilfen für alter-
native Beschäftigungsmöglichkeiten anbieten. Wir wer-
den über Agrarumweltprogramme und verläßliche Aus-
gleichszahlungen die berechtigten Interessen von Land-
wirtschaft und Naturschutz in Einklang bringen und eine
standortgerechte Landwirtschaft fördern.
Wir fordern eine stärkere Marktorientierung der
Landwirtschaft, und wir werden diesen Prozeß durch
eine verbesserte Absatz- und Vermarktungsförderung
unterstützen.
Gestatten Sie mir zum Schluß noch ein Wort als ost-
deutscher Agrarpolitiker. Wir setzen uns konsequent für
die Schaffung sicherer, fairer und verläßlicher Rahmen-
bedingungen für die ostdeutsche Landwirtschaft ein.
Wir brauchen eine befriedigende Altschuldenrege-
lung. Wir brauchen eine Regelung für das Flächener-
werbsprogramm, die allen Unternehmen Planungs-
sicherheit bietet.
Wir fordern die Abschaffung der 90-Tier-Grenze. Wir
werden uns dafür sowie für die Lösung der Grundflä-
chenproblematik einsetzen.
Vor allem werden wir bei den Verhandlungen zur
Agenda 2000 einseitige Benachteiligungen für die Be-
triebe in Ostdeutschland verhindern.
Wir setzen uns konsequent für die Gleichbehandlung
aller Betriebsformen in unserem Land ein.
Die ideologische Fixierung der alten Bundesregierung
auf eine bestimmte Eigentumsverfassung in der Land-
wirtschaft teilen wir nicht.
Die Agrarpolitik, meine Damen und Herren, ist bei
der SPD-Bundestagsfraktion und der neuen Bundesre-
gierung in besten Händen.
Dies war die erste
Rede des Kollegen Schönfeld. Meine und unsere herzli-
che Gratulation.
Nun hat das Wort der Kollege Heinrich-Wilhelm
Ronsöhr, CDU/CSU-Fraktion.
HerrPräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Wilhelm Schmidt, das hat zwar jetzt nichts mit Agrar-politik zu tun, aber ich möchte dir dennoch antworten:Was da in letzter Zeit mit der Salzgitter AG im Braun-schweiger Land stattfindet, das macht euch nicht geradeEhre.
Herr Schönfeld, ich gratuliere Ihnen recht herzlich zuIhrer Rede. Aber in einem Punkt – das können Sie nichtwissen – sind Sie gewiß von falschen Voraussetzungenausgegangen: Der soziostrukturelle Einkommensaus-gleich war befristet, und Bund und Länder mußten mit-finanzieren. Nun ist heute – ich bedaure das nicht; ichhalte es für richtig, daß Herr Funke heute in Brüssel ist –Herr Funke nicht anwesend. Aber wenn er anwesendwäre, könnten Sie ihn einmal fragen, warum er denn alsLandwirtschaftsminister von Niedersachsen verhinderthat, daß dieses Land seinen Anteil beim soziostruktu-rellen Einkommensausgleich mitfinanziert.
Wir haben hier im Bund dafür Sorge getragen, daß wirden soziostrukturellen Einkommensausgleich so weit, wiees die EU notifiziert hat, auch mitfinanziert haben. Das istbei sozialdemokratischen Ländern zumeist anders.Das gilt auch für die von Ihnen hier angesprochenenAgrarumweltprogramme. Nun hat der jetzige Landwirt-schaftsminister ja erklärt, das habe etwas mit der Schön-heit der Landschaften zu tun. Aber ich weiß nicht, obBayern zehnmal so schön wie Niedersachsen ist;
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denn in Niedersachsen werden bei Agrarumwelt-programmen gerade 40 DM eingesetzt, während es inBayern fast 400 DM sind. In Baden-Württemberg sindes sogar über 400 DM, und ähnlich ist es in Sachsen.Trotzdem wird hier immer angekündigt, Sie würdenetwas dafür tun. Tun Sie bitte dort etwas, wo Sie auchjetzt schon handeln können.
Meine Damen und Herren, es ist ja einiges offenbargeworden. Da gab es eine Erklärung des beamtetenStaatssekretärs im Landwirtschaftsministerium. Er hatgesagt, unter dieser Regierung habe die Agrarwirtschaftnicht den Stellenwert, den sie bisher hatte.
– Ich zitiere hier eine Pressemitteilung. Der Staatsse-kretär hat es gesagt. Beschweren Sie sich dann beimStaatssekretär!
Herr Funke hat neulich im „Ernährungsdienst“ fest-gestellt, daß Landwirte keine Wahlen mehr entschieden.Wenn die Landwirte seine Politik kennen, entscheidensie sich in Wahlen zumindest nicht für Karl-HeinzFunke und seine Agrarpolitik.
Der Parlamentarische Staatssekretär hat hier festge-stellt, es bleibe in der Landwirtschaft nichts so, wie esist. Herr Thalheim, Sie haben recht: Es wird allesschlechter.
– Das ist wahr.Beginnen wir mit der Finanzpolitik. Überparteilichbestand vor der Wahl Einigkeit darin, daß wir die Vor-steuerpauschale für die Landwirtschaft von 9 auf10 Prozent erhöhen. Wir hatten dafür auch ein einheitli-ches Berechnungsverfahren, das vom Landwirtschafts-ministerium nach wie vor für richtig gehalten wird.
– Hören Sie einmal zu, wenn Ihnen vorgehalten wird,was Sie eigentlich anstellen. Bevor Sie sich hier äußern,sollten Sie lieber einmal aufnehmen, was Sie mit derLandwirtschaft anstellen.Nach der Wahl wird diese Vorsteuerpauschale von10 auf 9 Prozent gesenkt. Was meinen Sie, was geschehenwäre, wenn unsere Regierung das gemacht hätte? Ich be-haupte nicht, daß die SPD und die Grünen hier Wahlbe-trug betreiben. Aber ich behaupte, daß Sie das behauptethätten, wenn wir es so wie Sie gemacht hätten.
Das kostet die Landwirtschaft 400 Millionen DM.Jeder Landwirt kann heute schon nachrechnen, wie seinGewinn prozentual sinkt. Das ist Ihre Politik. So begin-nen Sie mit Ihrer Agrarpolitik.
Hier wurde etwas zur Ökosteuer gesagt. Uli Heinrichhat zumindest auf Frau Höfken schon geantwortet.
Die Ökosteuer ist doch eine Steuer für die kleinen Leuteund für die kleinen Betriebe.
Landwirtschaft ist im Vergleich zu der gesamten Wirt-schaft nun einmal kleinstrukturierter.
Nun gibt es eine Pauschale, nach der Sie die Ökosteuererst einmal bis 1 000 DM, und zwar gesondert nach zweiEnergiearten, voll umlegen.Das trifft die Landwirtschaft.
Das trifft die landwirtschaftlichen Betriebe. Wenn Siedie kleinstrukturiertere Landwirtschaft nicht so treffenwollen – –
– Daß die Landwirtschaft noch dankbar ist, darüberwerden wir uns noch einmal unterhalten.
– Ich finde eine solche Äußerung geradezu unverschämt.
– Ich lasse keine Zwischenfrage zu. Setzen Sie sich bittewieder hin!
Meine Damen und Herren, Sie können morgen oderam nächsten Mittwoch unserem Antrag zustimmen, umdann wirklich zu Entlastungen für die Landwirtschaft zukommen. Es ist für die Landwirtschaft ungemein wich-tig, daß wir den doppelten Sockelbetrag von 1 000 DM– er kann sich bis auf 2 000 DM summieren – streichen.Das wäre wirklich eine Entlastung der Landwirtschaftinnerhalb der Ökosteuer.
– Ich bin gar nicht verbissen. Ich bin nachher verbissen,wenn es ans Steak geht, aber jetzt noch nicht.
Heinrich Wilhelm Rönsöhr
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Ich würde noch ein bißchen warten. Warten Sie noch einbißchen, dann verbeiße ich mich wirklich, aber jetztnicht! Bei Ihrer Agrarpolitik brauchen wir gar nicht soverbissen zu sein. Wir können das ganz gelockert ange-hen. Die Landwirte werden das etwas verbissener sehen.Warten Sie es bitte ab!
– Ich habe doch eben schon eine Antwort darauf gege-ben.
Meine Damen und Herren, hier ist immer davon ge-redet worden, daß wir den Haushalt zurückgefahrenhätten. Hier ist etwas zum soziostrukturellen Einkom-mensausgleich gesagt worden. Wir haben einen anderenWährungsausgleich auch dank des Verhandlungsge-schicks von Jochen Borchert
in den Haushalt einstellen können.
Nur waren das immer wieder begrenzte finanzielle Lei-stungen.
Wenn wir diese begrenzten finanziellen Leistungennicht fortführen können, dann können Sie nicht vonHaushaltskürzungen sprechen. Der Agrarhaushalt warzwischendurch mit bestimmten Aufgaben beauftragt, dieübrigens die Länder nicht immer kofinanziert haben.
– Jetzt ist es plötzlich eine Frage der Priorität, und vor-her wurde es kritisiert. Sie wollen doch gar keine Prio-ritäten für die Landwirtschaft setzen. Das ist doch dieWahrheit in diesem Lande.
Ich finde es schon etwas eigenartig, wenn ich hierhöre, wie agrarpolitische Kollegen die Agenda 2000beurteilen. Das erstaunt mich schon. Die Proteste inBrüssel sind nicht von der CDU/CSU ausgegangen; siesind von den Landwirten, von den Bauern in der Euro-päischen Union ausgegangen. Nehmen Sie das dochbitte zur Kenntnis! Wenn ich dann höre, welche Vor-schläge der Ratspräsident Funke gemacht hat, dann kannich nur sagen: Der hat bei Fischler abgeschrieben.
Wenn die Landwirte in Brüssel demonstriert und einTransparent „Fischler gleich Funke“ getragen hätten,hätten sie recht gehabt. Das ist die Wahrheit in diesemLande.
Obwohl wir wissen, wie unerträglich die Auswirkungender Vorschläge von Herrn Fischler sind, hat sich HerrFunke als Ratspräsident diesen Vorschlägen inzwischenangeschlossen.
Ich sage das hier auch einmal zugunsten der Regierung.Ich hoffe allerdings, daß der beamtete Staatssekretär, deruns im Ernährungsausschuß über die Agenda 2000 bes-ser informiert hat als Herr Funke, dennoch zugunstender deutschen und der europäischen Bauern etwas ver-ändern kann. Ich hoffe das.
Hier zeigt sich doch ganz eindeutig: Funke, die SPD unddie Grünen
sind nicht die agrarpolitischen Motoren, sie stehen aufder Bremse, teilweise stehen sie am Abhang, und dieFrage ist nur, wie weit es bergab geht.Sie haben hier Vorschläge gemacht, die Herrn Funkeund Herrn Fischler als agrarpolitische Zwillinge auswei-sen. Das ist die Wahrheit.
Es wird immer wieder gesagt, wir hätten die Agrar-leitlinie zurückgeführt. Das ist nicht wahr. Wir habenfür die Agrarleitlinie im Edinburgher Beschluß eineSteigerungsrate vorgesehen. Nun aber kommen sozial-demokratische und sozialistische Finanzminister unddrehen den Geldhahn für die Landwirtschaft ab. Darausmuß Herr Funke – das ist nun wirklich eine schwierigeAufgabe – noch das Beste machen. Aber bei Ihnen istagrarpolitisch nicht das Beste durchsetzbar. Manche derBauern sind ja schon froh,
daß in der Agrarpolitik nicht noch Schlechteres durchge-setzt wird.
Wenn Frau Höfken recht hat, daß davon auszugehenist, daß wir die Vorschläge der Kommission bezüglichder Milch, die Herr Funke jetzt angesprochen hat, um-setzen müssen, dann bekommen wir nicht nur eineQuote, sondern auch noch eine virtuelle Kuh. VirtuelleKühe aber sollten wir bei den Computerspielen belassen.
Ich halte dies für untaugliche Modelle. Äußern Sie sichdarüber hier bitte nicht positiv! Sie werden letztlich dar-an gemessen, wenn sie in Brüssel durchgesetzt werden.
Kollege Ronsöhr,rechts steht der Kollege Heinrich und versucht, eineZwischenfrage zu stellen.Heinrich Wilhelm Rönsöhr
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Ich habe
gesagt, daß ich keine Zwischenfragen zulassen möchte.
Das gilt generell – sonst wäre es unfair –, obwohl ich
natürlich immer gerne Einlassungen von Uli Heinrich
zur Agrarpolitik höre.
Meine Damen und Herren, jetzt sagen Sie wieder, Sie
wollten mehr für die nachwachsenden Rohstoffe tun.
Mir ist vor Tagen eine Pressemeldung von Karl-Heinz
Funke in die Hände gefallen. Darin hat er gesagt, daß
wir in Deutschland hinsichtlich der Biogasanlagen füh-
rend seien. Das ist doch nicht das Ergebnis Ihrer Politik;
das ist das Ergebnis der Politik der rechten Seite dieses
Hauses.
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich aufmachten,
zu vernünftigen Konzeptionen in der Agrarpolitik zu-
rückzufinden, wenn Sie nicht davon ausgehen, daß die
Landwirte die Melkkuh dieser Nation sind. Die Land-
wirte erfahren durch Ihre Finanzpolitik an keiner Stelle
Entlastungen, sondern nur Belastungen. Daran wird
meines Erachtens deutlich, daß die Landwirte recht dar-
an getan haben, auch bei der Wahl Vertrauen in die Uni-
onsparteien und in die F.D.P. zu investieren und kein
Vertrauen zu Rot und Grün zu haben.
Sie haben schon bis heute bewiesen, daß diese Entschei-
dung der Landwirte gerechtfertigt war. Ich glaube auch,
daß die Landwirte, wenn Sie politisch so weitermachen
wie bisher, kein Vertrauen zu Ihnen finden werden. Der
gesamte Haushalt ist ein Beweis dafür, aber auch Ihre
Agrarpolitik.
Ich hoffe allerdings im Interesse der deutschen
Landwirtschaft, daß Sie sich ändern. Wir würden gerne
mit unserer Agrarpolitik den Vernünftigen in Ihren Rei-
hen den Rücken stärken. Dafür aber müssen wir den ge-
raden Rücken von Karl-Heinz Funke sehen und nicht
das Lafontainsche Hinterteil.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Weitere Wortmel-
dungen zu diesem Geschäftsbereich liegen nicht vor.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmini-
steriums für Gesundheit. Es ist vereinbart worden, die
Redebeiträge zu Protokoll zu nehmen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind wir am
Schluß der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 26. Februar 1999,
9.00 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.