Gesamtes Protokol
Die Sit-
zung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Themen der heutigen
Kabinettssitzung den Jahreswirtschaftsbericht 1999 und
den Entwurf einer Novelle des Atomgesetzes mitgeteilt.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat der Bundesminister der Finanzen, Oskar Lafontaine.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die wichtig-ste Herausforderung in Deutschland, aber auch in Euro-pa ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Daß dabeiunterschiedliche ökonomische Konzepte angebotenwerden, versteht sich von selbst. Die Bundesregierungist der Auffassung, daß eine Neuorientierung der Wirt-schafts- und Finanzpolitik versucht werden muß. DieseNeuorientierung möchte ich so beschreiben, daß zwarangebotspolitische Strukturreformen nach wie vor not-wendig sind, daß aber in stärkerer Form als in der Ver-gangenheit die Nachfrageseite der ökonomischen Ent-wicklung beachtet werden muß.Es geht bei dem Neuansatz also um ein ausgewogenesVerhältnis von Angebot und Nachfrage. Wir erinnern hierimmer an den Satz des Nestors der Nationalökonomie,Paul Samuelson, der sagte: Gott gab uns zwei Augen: ei-nes für das Angebot und das andere für die Nachfrage.Wenn wir also über die Beschäftigungsentwicklung indiesem Jahr und in den nächsten Jahren diskutieren, istnach unserer Auffassung eine Größe wieder stärker insZentrum der Betrachtung zu rücken, die in den vergange-nen Jahren außerhalb der Diskussion war, nämlich dieEntwicklung der wirtschaftlichen Gesamtnachfrage.Um diese Neuausrichtung durch praktische Politikvorzunehmen, haben wir zunächst das Bündnis für Ar-beit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit auf denWeg gebracht. Auf europäischer Ebene versuchen wir,zu einer gesamtwirtschaftlichen Koordinierung zukommen, damit Finanz-, Lohn- und Geldpolitik kon-fliktfrei zusammenspielen. Ich weise darauf hin, daßimmer dann, wenn die Arbeitslosigkeit in Deutschlanddramatisch angestiegen ist, eine klassische Konfliktsi-tuation insofern vorlag, als Haushalts-, Lohn- und Geld-politik gegeneinander standen. Das letzte Mal war diesim Jahr 1992 der Fall: Eine expansive Haushaltspolitikmit hoher Kreditaufnahme und eine Lohnpolitik, dieüber den Produktivitätszuwachsraten abschloß, trafenauf eine Geldpolitik, die im kurzfristigen Bereich zuNominalzinsen in Höhe von 10 Prozent und im langfri-stigen Bereich von 8 Prozent führte. Das ist die klassi-sche Konstellation, die Arbeitslosigkeit aufbaut. Wirwerden in Zukunft versuchen, solche Konstellationen,die auch in den zurückliegenden Jahren immer wiederauftraten, zu vermeiden. Wir ergänzen diese gesamtwirt-schaftliche Koordinierung der Finanz-, Lohn- und Geld-politik durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik und durchStrukturreformen, wie ich bereits ausführte.Die Weltwirtschaft ist seit einiger Zeit in Turbulen-zen geraten, die bereits im Frühjahr vergangenen Jahresauf die deutsche ökonomische Entwicklung übergriffen.Seinerzeit war festzustellen, daß der Ifo-Index die erstenZeichen einer zurückgehenden Entwicklung aufzeigte.Diese Entwicklung hat sich in den darauffolgenden Mo-naten verstärkt. Zwar wird darauf hingewiesen, daß diedeutsche Exportwirtschaft mit den hauptsächlichen Kri-senländern nur zu weniger als 10 Prozent verflochten ist.Dabei wird aber übersehen, daß die indirekten Auswir-kungen dieser weltwirtschaftlichen Entwicklung alleHandelspartner Deutschlands betreffen und daher nichtnur die direkten, sondern auch die indirekten Auswir-kungen zu sehen sind.Die konjunkturelle Dynamik hat sich im letzten hal-ben Jahr überall in der Welt abgeschwächt; auch dahervariieren die Prognosen in Deutschland von 1,4 bis 2,8Prozent. Wir halten an einer Rate von 2 Prozent fest.Wir weisen allerdings auf die Ausgangsfaktoren hin, diedieser Prognose zugrunde liegen und sich im Laufe desJahres natürlich verändern werden.Wenn die Exportwirtschaft zurückgeht, dann ist einstarkes Augenmerk der Binnenwirtschaft zu widmen.Das tut die Bundesregierung und richtet ihre Politik da-nach aus.
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Positiv an der Prognose ist, daß es in den neuen Län-dern wieder stärkere Signale gibt. Das gilt für das verar-beitende Gewerbe. Insgesamt ist die Wachstumsprogno-se für die neuen Länder etwas stärker als die für die al-ten Länder.Für den Arbeitsmarkt ist eine Arbeitslosigkeit von 4,1Millionen Menschen vorsichtig prognostiziert worden.Sie wissen: Die Beschäftigungsschwelle liegt bei 2 bis2,5 Prozent. Je nach Institut wird das Wachstum aber indiesem Jahr nicht stärker, sondern sogar schwächer als 2Prozent ausfallen. Auch diese Prognosen werden wiederin Frage gestellt werden.Die Preisentwicklung bei den Verbraucherpreisenwird auf 1 Prozent prognostiziert. Ich weise allerdingsdarauf hin, daß für die ökonomische Betrachtung nichtallein diese Entwicklung, sondern auch die Erzeuger-preise ausschlaggebend sind, die europaweit mittler-weile bei minus 2 Prozent liegen. Ich bitte, dies in dieDebatte mit einzubeziehen.Die Wirtschaftspolitik braucht eine adäquate Mi-schung aus Angebots- und Nachfragepolitik. Die Haus-haltspolitik versucht, dem Rechnung zu tragen. Ich wie-derhole: Es wäre falsch gewesen, jetzt starke Konsoli-dierungsanstrengungen vorzunehmen, in einer Zeit, inder sich die Konjunktur nicht klar entwickelt und in dereine starke Konsolidierung – wie auch immer sie ange-legt wäre – zu einer Schwächung der Gesamtnachfragegeführt hätte.Hinsichtlich der Lohnpolitik bleibt es bei unserer Aus-sage, daß die Lohnpolitik produktivitätsorientiert sein mußund das Preisstabilitätsziel mit einbeziehen muß; insofernverweise ich auf die Daten des Jahreswirtschaftsberichtesund gebe den Hinweis, ihn aufmerksam zu lesen.Die Geldpolitik kann, wie es auch im Vertrag überdie europäische Einigung angedeutet ist, ihre Aufgabe,auch Wachstum zu unterstützen, dann erfüllen, wennPreisstabilität gewährleistet ist und wenn weder von derHaushaltspolitik noch von der Lohnpolitik inflationärerDruck ausgeht. Dies ist im Ecofin-Rat mittlerweile dieMeinung einer großen Mehrheit, auch wenn es da oderdort differenzierte Meinungen geben mag.Die aktive Arbeitsmarktpolitik beginnt bei der Bil-dungspolitik und setzt sich bei Strukturreformen fort,insbesondere im Niedriglohnbereich. Die Strukturrefor-men begrenzen sich aber nicht nur auf die Arbeitsmarkt-politik, sondern sind auch Aufgabe der Steuerpolitik.Die Diskussionen sind Ihnen bekannt. Ich möchte sienicht wiederholen.Ein neuer Ansatz ist, daß wir bewußt die europäischeZusammenarbeit suchen, also nicht den Satz unter-schreiben: Beschäftigungspolitik machen wir zu Hause.Wir sagen: Beschäftigungspolitik machen wir zu Hauseund in Europa. So ist unsere Politik angelegt.
Vielen
Dank, Herr Bundesminister.
Als erstem Fragesteller gebe ich das Wort dem Kolle-
gen Koppelin von der F.D.P.-Fraktion. Ich bitte, zunächst
den angesprochenen Themenbereich zu behandeln.
Herr Bundesminister, Sie
sind in Ihren Ausführungen dankenswerterweise gleich
auf die Arbeitslosenzahlen eingegangen. Da sich die
Bundesregierung auch an den Arbeitslosenzahlen mes-
sen lassen will, darf ich Sie fragen, wie Sie es beurteilen,
wenn es im Jahreswirtschaftsbericht heißt, daß 1999 mit
einem Jahresdurchschnitt von 4,1 Millionen Arbeitslo-
sen gerechnet werden muß.
Da Sie Ostdeutschland ansprachen, möchte ich Sie
fragen, was Sie zu dem Satz auf der gleichen Seite des
Jahreswirtschaftsberichts sagen: „In Ostdeutschland
kann für dieses Jahr kein Beschäftigungszuwachs er-
wartet werden.“ Ich bitte um eine etwas ausführlichere
Stellungnahme von Ihnen.
Wir möchten keine Zahlen als Prognosen in die Welt
setzen, die dann nachher nicht eingehalten werden kön-
nen. Das gilt für das gesamte Datenwerk. Ein solches
Vorgehen würde sich sofort negativ auf die Haushalts-
politik auswirken, da wir oft festgestellt haben, daß Pro-
gnosen mit der tatsächlichen Entwicklung nicht in Über-
einstimmung waren.
Wir glauben, daß es auch ein Akt der Vertrauensbil-
dung ist, wenn wir bei nüchterner Analyse der Daten
versuchen, Prognosen zu geben, die eben nicht zu opti-
mistisch, aber selbstverständlich auch nicht zu pessimi-
stisch sind; insofern trägt die Prognose, die Sie zu Recht,
was die Entwicklung des Arbeitsmarktes angeht, als
nicht optimistisch bezeichnet haben – so habe ich Ihre
Frage verstanden –, den ökonomischen Rahmendaten
Rechnung. Daß beispielsweise der Export in den Jahren
1997 und 1998 sehr stark die wirtschaftliche Entwick-
lung bestimmt hat, wissen Sie. Aber wir können bei der
Prognose nicht so tun, als wären wir 1999 weltwirt-
schaftlich nicht mehr in einer Lage, die diese Entwick-
lung des Exports nicht mehr erwarten ließe. Bei der
Binnennachfrage muß man von daher, wenn man einen
Beschäftigungsaufwuchs prognostizieren will, begrün-
den, wie dieser zustande kommen soll.
Über die Haushaltspolitik haben wir einiges gesagt.
Die Entwicklung bei der Lohnpolitik müssen wir ab-
warten. Insofern meine ich, daß es zwar wünschenswert
wäre, hier günstigere Zahlen zu nennen, daß wir aber
realistisch vorgegangen sind und damit zur Vertrauens-
bildung beitragen.
Vielen
Dank, Herr Bundesminister. Der nächste Fragesteller ist
der Kollege Michelbach.
Herr Bundesmini-ster, Sie haben die Aussage getroffen, es sei mit einerMehrung der Arbeitsplätze um 1 Million bis zum Jahr2002 zu rechnen. Sie wollen dies, wie Sie auch heutewieder ausführen, insbesondere durch eine Mischungvon Nachfrage- und Angebotspolitik erreichen. Ist esnicht so, Herr Bundesminister, daß Sie die Angebots-politik belasten, wenn Sie die Arbeitsplätze in der Wirt-schaft – insbesondere im investiven Bereich – dadurchBundesminister Oskar Lafontaine
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belasten, daß Sie eine Veränderung bei der Gewinner-mittlung im sogenannten Steuerentlastungsgesetz1999/2000/2002 in Höhe von 40 Milliarden DM vor-nehmen? Ist es nicht so, Herr Bundesminister, daß Siedie Nachfragepolitik durch die Ökosteuer zusätzlich be-lasten? Es ist Ihnen sicherlich bekannt, daß ein vierköp-figer Haushalt durch die Ökosteuer Kosten von 340 DMund eine Entlastung von lediglich etwa 200 DM bei denLohnnebenkosten hat. Ebenso ist Ihnen sicherlich be-kannt, daß ein Rentner pro Monat 20 DM für die Öko-steuer mehr aufwenden muß. Das ist etwa doppelt so-viel, wie er durch die Rentenreform jemals hätte beglei-chen müssen. Das heißt also, daß unter dem Strich nichtvon mehr Nachfrage geredet werden kann.
Zunächst zu der Prognose von 3 Millionen Arbeitslosen
im Jahre 2002: Ich will hier nur einmal klarstellen, daß
ich auf die entsprechende Frage eines Journalisten ge-
sagt habe, es wäre sehr wünschenswert, wenn wir solche
Zahlen erreichen könnten. Das wäre ein schöner Erfolg.
Dann kam die Anschlußfrage: Wenn das Absenken der
Arbeitslosigkeit nicht gelingt, ist dann nicht die Regie-
rung gescheitert? Das habe ich bejaht. Ich möchte nur
klarstellen: Ich sehe mich außerstande, für das Jahr 2002
eine exakte Prognose zur Entwicklung des Arbeits-
marktes abzugeben. Wer das kann, den bewundere ich.
Ich kann das nicht.
Zu Ihren konkreten Fragen: Sie sagen, die Wirtschaft
werde durch 40 Milliarden DM belastet. Diese Zahl muß
ich schlicht und einfach bestreiten; denn es hat keinen
Sinn, auf der einen Seite die Verschlechterung bei der
Gewinnermittlung, das Wegfallen von Steuersubventio-
nen und andere Kürzungen in Rechnung zu stellen, auf
der anderen Seite aber nicht etwa das Absenken der Steu-
ersätze usw. gegenzurechnen. Das ist eine unseriöse Vor-
gehensweise. Die Diskussion, die wir führen, ist eine Dis-
kussion, die die Wirtschaft vom Zaun gebrochen hat, in-
dem sie unter Hinweis auf die nominalen Steuersätze in
konkurrierenden Staaten gesagt hat: Wir wünschen nied-
rigere nominale Steuersätze und sind im Gegenzug bereit,
der Streichung einer ganzen Reihe von Steuersubventio-
nen zuzustimmen. – Jetzt erleben wir, daß die Wirtschaft
sagt: Wir wünschen nominale Steuersätze, die etwa denen
in den Vereinigten Staaten entsprechen, sind aber nicht
bereit, die Situation bei Steuersubventionen und Gewinn-
ermittlungsvorschriften etwa dem englischen oder ameri-
kanischen Recht anzupassen. – Das geht nicht. Insofern
ist diese Diskussion unredlich. Ich habe deshalb auch kla-
re Gespräche mit den Wirtschaftsverbänden geführt.
Wenn die Wirtschaftsverbände sich etwa zur ökologi-
schen Steuer- und Abgabenreform äußern, ist es eben-
falls nicht zulässig, nur die Belastungen zu erwähnen,
die mit den Lohnnebenkostensenkungen verbundenen
Entlastungen jedoch nicht zu erwähnen. Ein größeres
Unternehmen hat solche Rechnungen aufgestellt und die
Belastungen praktisch über den vollen Satz, der für die
Wirtschaft überhaupt nicht in Ansatz gebracht wird, be-
rechnet – also nicht etwa über einen reduzierten Satz –
und hat dann die Gegenrechnung der niedrigeren Lohn-
nebenkosten unterlassen. Solche Diskussionsbeiträge
führen nicht weiter.
Die Salden kann ich Ihnen nennen. Über die ökologi-
sche Steuer- und Abgabenreform haben wir im Saldo
keine Schwächung der Nachfrage, weil 1 Milliarde DM
fehlen. Das hat sich ja auch bei Ihnen herumgesprochen.
Insofern ist es eher eine moderate Entlastung. Natürlich
ist es bei allen Strukturreformmaßnahmen so, daß ein-
zelne etwas stärker und andere weniger stark belastet
werden. Das ist nun einmal so. Wenn wir das vermeiden
wollen, dann müssen wir Strukturreformen ganz aus-
schließen. Es gibt immer Gewinner und Verlierer. Wir
haben bewußt ein Modell ins Auge gefaßt, bei dem die-
jenigen, die bei Gegenrechnung der Lohnnebenkosten
überproportional belastet werden, Erstattungsmöglich-
keiten erhalten.
Herr
Michelbach, Sie wollen eine Zusatzfrage stellen.
Herr Bundesfi-
nanzminister, ich habe eine kurze Zusatzfrage: Sind Sie
mit mir darüber einig, daß in Ihrem Konzept der Steuer-
entlastung für die Wirtschaft keine Nettoentlastung vor-
gesehen ist, die für eine Angebots- und Nachfragepolitik
sicher sinnvoll wäre, und sehen Sie nicht, daß bei der
Ökosteuer unter dem Strich auch für die Firmen und
Bürger keine Nettoentlastung vorhanden ist?
Noch einmal: Man kann bei der Wirtschaft nicht sagen:Für d i e Wirtschaft gibt es keine Nettoentlastung. – Dasist grundfalsch. Es ist bedauerlich, daß die Diskussion sogeführt wird. Es ist dennoch grundfalsch. Es gibt Betrie-be, die nicht entlastet werden, und es gibt Betriebe, dieentlastet werden. Das muß man zumindest unterscheiden.Auch im Petersberger Konzept der Vorgängerregie-rung war es so, daß die Körperschaften langfristig bela-stet werden sollten. Falls Sie das nicht nachgelesen ha-ben, verweise ich auf eine entsprechende parlamentari-sche Anfrage, die, wenn ich mich recht erinnere, vonStaatssekretär Hauser beantwortet worden ist. Die An-frage ist jederzeit abrufbar.Für die Körperschaften hatten Sie Belastungen vorge-sehen. Das war sogar vertretbar, weil die Körperschaftendurch die betriebliche Vermögensteuer und die Gewer-bekapitalsteuer überproportional entlastet worden sind.Wir machen die Steuerpolitik schließlich nicht von ei-nem Tag auf den anderen, sondern man muß sie insge-samt sehen.Was die Körperschaften angeht, weist der Bericht derEuropäischen Gemeinschaft aus, daß die Körperschaftenin Deutschland realiter mit den niedrigsten Steuern bela-stet werden. Sie sind niedriger als in Großbritannien, inItalien und in Frankreich. Das muß man zumindest zurKenntnis nehmen. Wenn man die Datenbasis einfachignoriert, dann ist keine rationale ökonomische Debattemöglich. Ich habe auf die Statistik der EuropäischenGemeinschaft verwiesen.Bei den kleineren Unternehmen gibt es ebenfalls eindifferenziertes Bild. Bei dem bisherigen Konzept wirdHans Michelbach
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der sogenannte Mittelstand im Saldo um 3 MilliardenDM entlastet. Es ist richtig, daß die Körperschaften be-lastet werden. Das ist nicht bestreitbar, und es wäre vonder Sache her auch nicht gerechtfertigt, wenn es anderswäre.Insgesamt haben wir eine Nettoentlastung – das giltnicht für jeden einzelnen, sondern für die Summe – von15 Milliarden DM in unserem Steuerreformkonzept ge-plant. Wir haben keine größere Nettoentlastung verspro-chen, weil die Staatshaushalte das nicht hergeben. Dasjüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat nichtnur unser Steuerkonzept, zumindest von der Einnahmen-und Ausgabenseite, sondern es hätte auch das Ihrigeüberarbeitungsbedürftig gemacht. Insofern glaube ich,daß wir behutsam vorgegangen sind. Wir haben struktu-rell natürlich dort angesetzt, wo nach unserer Auffas-sung angesetzt werden mußte, nämlich bei der Entla-stung der Familien und der Arbeitnehmer.
Das
Wort hat jetzt der Kollege Henke von der CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Bundesmi-
nister, ich habe Ihnen intensiv zugehört, als Sie einer
kooperativen Lohn- und Geldpolitik im Zusammenhang
mit der Umsetzung der Erkenntnisse aus dem Jahres-
wirtschaftsbericht das Wort redeten. Genauso aufmerk-
sam habe ich auch verfolgt, wie Sie im letzten Jahr vor
der Bundestagswahl nachhaltig, nach der Bundestags-
wahl nicht mehr so intensiv und in diesem Jahr gar nicht
mehr die Gewerkschaften und Tarifpartner zu hohen
Forderungen und möglichst hohen Abschlüssen aufge-
fordert haben. Sie haben dies erst relativiert und in der
letzten Runde für den öffentlichen Dienst ausdrücklich
zurückgenommen. Ich vermag nun nicht so recht zu er-
kennen, wo die kooperative Linie Ihres Hauses und Ihrer
Person zu erkennen ist: in den ursprünglichen Forderun-
gen, in der jetzigen Einschätzung, insbesondere für den
öffentlichen Dienst, oder wo auch immer.
Immerhin sind in den nächsten Wochen, beginnend
bei der IG Metall, Warnstreiks zu befürchten. Wenn ich
richtig gehört habe, hat der ÖTV-Vorsitzende Mai ge-
stern noch einmal mit allem Nachdruck die von Ihnen
ursprünglich empfohlene und jetzt geforderte
5,5prozentige Erhöhung der Löhne und Gehälter im öf-
fentlichen Bereich nachhaltig unterstützt und begründet.
Erlauben Sie mir eine zweite Feststellung: Im Zu-
sammenhang mit dem Jahreswirtschaftsbericht stellt der
Haushalt 1999, so wie er jetzt vorliegt und soweit mir
die Informationen vorliegen, für mich als durchschnitt-
lich Empfindenden
ebenfalls ein schwieriges Thema dar. Ich sehe und er-
kenne aus den mir bisher vorliegenden Informationen,
daß erstens der Anteil des von Ihnen vorgelegten Haus-
halts am Bruttoinlandsprodukt, zweitens die Staatsquote
und drittens die Verschuldungsquote steigt sowie vier-
tens die reale Investitionsquote – gemessen am Gesamt-
volumen Ihres Haushaltes – rückläufig ist. Ich vermag
dies im Zusammenhang mit den Eckdaten, die sich auf
Grund einer abschwächenden Konjunktur abzeichnen,
nicht auf eine Reihe zu bringen.
Ich will zunächst auf Ihre Feststellung eingehen, ichhätte 5 Prozent Lohnerhöhung empfohlen. Diese Äuße-rung muß Sie während eines Traumes oder sonst ir-gendwann im Schlaf befallen haben.
– Sehen Sie, Herr Kollege Repnik, Sie müssen zitierenund zuhören lernen. Ich kann Ihnen zwar Ihre Vorurteilenicht nehmen, aber ich lasse mich davon auch nicht be-eindrucken. Wenn Sie den Ausspruch von der Beschei-denheit zitieren, der mir oft zugeschrieben wird, dannwissen Sie, so wie ich Sie kenne, daß das eine Formulie-rung des Vorsitzenden der IG-Metall ist. Es mag ja sein,daß Sie sie für falsch halten. Aber es ist schlicht und ein-fach unredlich, damit gegenüber dem Bundesfinanzmi-nister zu operieren. Da ich in der Regel frei rede, weißich auch, was ich sage. Ich setze auch keine Aufsätze indie Welt, die andere für mich geschrieben haben. Daherweiß ich, was da drinsteht.Im Zusammenhang mit der Lohnpolitik gebrauche ichimmer eine Formel, die Sie ja angreifen können. Diesesteht auch in ungezählten Aufsätzen von mir. Es handeltsich um die produktivitätsorientierte Lohnpolitik;manchmal weise ich noch darauf hin, daß die Inflations-rate mit einzubeziehen ist. Ich habe das vorhin wiedergesagt. Vielleicht machen Sie sich einmal die Mühe, dasnachzulesen.Außerdem möchte ich Sie noch auf folgenden Sach-verhalt hinweisen: Wenn in Gesamteuropa, aber auch inDeutschland, die Reallohnentwicklung in den letztendrei Jahren deutlich hinter dem Produktivitätsfortschrittzurückgeblieben ist, stellt sich natürlich für die Arbeit-nehmer die Frage, woher denn die Beschäftigungsge-winne kommen sollen. Da kann es dann manchmal sein,daß stärkere Lohnforderungen in einem Jahr erhobenwerden, in dem die Prognosen in bezug auf den Produk-tivitätsfortschritt anders als für die Jahre davor ausfallen.Das ist aber kein Problem der Bundesregierung. Ich wei-se nur auf den Zusammenhang hin. Wir haben in dieserFrage eine klare Haltung: Das Festhalten an einer pro-duktivitätsorientierten Lohnpolitik steht für uns nicht zurDebatte. Deshalb möchte ich Sie bitten, an dieser Stelleder Bundesregierung keine Parolen anzuheften, die vondieser nicht vertreten werden.Zum Haushalt haben Sie einige qualifizierende Be-merkungen gemacht. Wenn Sie es lieber anders hätten– ich habe bisher noch nichts gehört –, dann sagen Sie,an welcher Stelle. Wenn Sie beispielsweise der Auffas-sung sind, daß wir die Arbeitsmarktmittel zurückfahrenBundesminister Oskar Lafontaine
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sollen – es handelt sich um einen Betrag von 6 Milliar-den DM –, dann sagen Sie das. Es besteht dann ein Dis-sens zwischen uns, den wir insbesondere gegenüber denArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern rechtfertigenmüssen, die jetzt diese Mittel in Anspruch nehmen.Wenn Sie beispielsweise meinen, wir sollen das Pro-gramm, mit dem 100 000 Jugendlichen eine Lehrstelleoder ein Arbeitsplatz vermittelt werden soll – das kostet2 Milliarden DM –, nicht auflegen, dann sagen Sie das.Dann hätten wir eben in diesem Punkt eine Meinungs-verschiedenheit. Wenn Sie glauben, wir sollen die For-schungsmittel nicht aufstocken, dann sagen Sie das.Dann können wir darüber diskutieren.Wer allgemein mit irgendwelchen Daten jongliert, abernicht sagt, was er will, der hat zumindest in einer Diskus-sion keine besonders starke Position, Herr Kollege.
Das möchte ich Ihnen sagen, würde ich aber auch inner-parteilich und über Parteigrenzen hinweg sagen.
Ich kann also Ihrem Beitrag wenig entnehmen.
Das
Wort zu einer Frage hat jetzt der Kollege Brüderle von
der F.D.P.-Fraktion.
Herr Bundesfinanzmi-
nister, erstens: Die Stimmung in der Wirtschaft hat sich
ja deutlich verschlechtert. Ich verweise auf die Äuße-
rungen des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks
und auf den Ifo-Konjunkturtest der letzten Tage. Durch-
gängig ist eine Klimaverschlechterung feststellbar.
Muß das nicht für die Bundesregierung Anlaß sein, auch
vor dem Hintergrund des Jahreswirtschaftsberichtes und
des selbst eingeräumten Fehlstarts der neuen Regierung,
Konsequenzen zu ziehen, indem sie bei der Steuerre-
form, deren Ansätze bisher nur andiskutiert wurden, eine
klare Linie verfolgt und keine Verunsicherung entstehen
läßt?
Zweitens. Bei der Entwicklung der Lohnstückkosten
sind zwar Fortschritte und Verbesserungen festzustellen,
wir liegen aber international immer noch zu hoch.
Müßte dies nicht stärker in den Dialog innerhalb des
Bündnisses für Arbeit einbezogen werden? Es hieß ja
zunächst, das sei völlig tabu, und dann, man könne es
vielleicht doch machen. Meines Erachtens kann man
nicht zusammensitzen und über diese Frage nicht reden.
Drittens. Sie haben auch propagiert, daß man die Be-
schäftigungspolitiken auf europäischer Ebene stärker
synchronisieren solle. Ist es aber, da unbestritten 80 Pro-
zent bis 90 Prozent unserer Problemstellungen struktu-
reller Natur sind und deshalb nur vor Ort gelöst werden
können, nicht eine falsche Erwartung, daß dies auf euro-
päischer Ebene angepackt werden kann?
Letzte Anmerkung. Sie haben angekündigt, daß Sie
die Beteiligungsveräußerung, die Privatisierung von
Unternehmensanteilen fortsetzen werden. Das ist gut so.
Aber ich habe nichts von der Aufgabenprivatisierung
gehört. Auf diesem Feld könnte man gerade mittelstän-
dischen Kleinunternehmen neue Chancen eröffnen. Wie
sehen die Vorstellungen zur Aufgabenprivatisierung aus,
die vielleicht auch im Jahreswirtschaftsbericht stehen?
Damit hätte ich keine Probleme, aber bitte. – Zunächstzum Handwerk. Es ist richtig, daß sehr kritische Stim-men vom Handwerk kommen. Das können wir nicht be-streiten. Beim Handwerk muß man zunächst einmal aufdie relative Höhe der Lohnkosten hinweisen. Daher ha-ben wir die Initiative ergriffen, die Lohnnebenkosten zuverringern. Dies ist ein erster Schritt. Wir würden diesgerne verstärken. Natürlich ist die Belastung aus derökologischen Steuerreform dagegenzusetzen. Was Ge-winne und Verluste angeht, stellt sich das im Einzelfallunterschiedlich dar. Aber aus unserer Sicht ist es wich-tig, die Lohnnebenkosten zu senken. Dabei betone ichnoch einmal, daß es mit Umfinanzierung alleine nichtgetan ist.Bezüglich des Handwerks möchte ich Ihnen noch ei-nen wichtigen Hinweis geben. Die Europäische Kom-mission diskutiert zum ersten Mal die Möglichkeit,Mehrwertsteuersätze für Dienstleister und Handwerkergesondert auszuweisen. Diese Neuerung haben HerrMonti und Herr Santer in der letzten Ecofin-Beratungvorgestellt. Ich will Ihnen aber auch gleich die Summenennen: Etwa 36 Milliarden DM würde das fürDeutschland ausmachen, würden wir diesen Weg gehen.In diesem Zusammenhang verweise ich auf die Maa-stricht-Restriktionen und die Bestimmungen des Bun-deshaushaltes. Wer sagt, diese Summe sollten wir spa-ren, den bitte ich um Hinweise, wo. Ich bin immerdankbar für Hinweise. Leider habe ich nicht sehr vielebekommen.
– Das ist auch einer, der immer vom Sparen redet, sichaber dann nicht die Mühe macht, zu sagen, wo gespartwerden soll. Dies ist eine weit verbreitete Krankheit.Nun zum Ifo-Konjunkturtest. Auch dies ist nicht be-streitbar. Aber im Jahreswirtschaftsbericht können Sienachlesen – das sage ich zur Versachlichung der De-batte –, daß das Abknicken im Ifo-Konjunkturtest aufdas Frühjahr letzten Jahres zurückgeht. Insofern könnenSie sich die Debatte des letzten Jahres in Erinnerung ru-fen.Wir können das gar nicht bestreiten: Wenn Sie, HerrKollege Brüderle, mit den beiden Fragen intendieren,daß man hier einiges tun muß, um die Dinge zu verbes-sern, so ist dies völlig richtig. Ich komme gleich nochauf einzelne Punkte zurück.Nun zu den Lohnstückkosten. Sie haben – das ist fürdie Versachlichung der Debatte wichtig – dankenswer-Bundesminister Oskar Lafontaine
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terweise darauf hingewiesen, daß sie bei uns zurückge-gangen sind. Verglichen mit Italien, Großbritannien,Frankreich und den Vereinigten Staaten und dem euro-päischen Durchschnitt sind wir in den letzten drei Jahrendas einzige Großindustrieland gewesen, in dem sie ge-sunken sind. Wenn Sie sagen, in anderen Ländern seiensie stärker gesunken, so gilt das nur für Holland. – ImEuroraum, wohlgemerkt. – Das sind die Zahlen, die ichim Kopf habe.Was Holland angeht, möchte ich darauf hinweisen,daß sich ein Land mit einem Exportanteil von etwa 55Prozent in der Lohnpolitik, auch was die Lohnstückko-stenentwicklung angeht, anders bewegen kann als einLand, das so wie wir einen Exportanteil von etwa 25Prozent aufweist. Bei einer solchen Verteilung gilt, daßSie bei einem starken Forcieren der Senkung der Lohn-stückkosten zwar beim Export gewinnen, aber im Bin-nenmarkt in einem gewissen Umfange verlieren müssen.Wir können das nicht zu Ende diskutieren. Insofern binich der Auffassung, daß diese Strategie einer forciertenLohnstückkostensenkung, wie sie ein so kleines export-orientiertes Land wie Holland betrieben hat, für diedeutsche Volkswirtschaft nicht zur Verfügung steht unddaß diese Strategie insbesondere europäisch äußerstproblematisch wäre.Sie haben auch gesagt, 80 Prozent bis 90 Prozent derArbeitsmarktprobleme seien strukturell bedingt.
– Wirtschaftsprobleme. Sie haben gesagt, 80 Prozent bis90 Prozent seien strukturell bedingt. Ich spreche in die-sem Zusammenhang auch die Arbeitsmarktprobleme an.Diese Debatte führen wir seit fast 20 Jahren. Es gibtauch andere Untersuchungen, so etwa des Ifo-Instituts inMünchen. Ich spreche dieses Institut an, damit es nichtheißt, ich orientierte mich ökonomisch nur an einer Sei-te. Dieses Institut hat einen konjunkturellen Anteil von40 bis 45 Prozent ausgemacht, also nicht einen struktu-rellen Anteil in dieser Größenordnung. Dieser Streitzieht sich durch die gesamte Wirtschaftspolitik.Wir brauchen den Streit aber gar nicht zu vertiefen.Im Dialog mit einem anderen Partner haben wir gesagt:Selbst wenn es nur 10 oder 20 Prozent wären, die kon-junkturell zu steuern sind, wären wir verpflichtet, das zutun. Bei uns geht es dabei um immerhin 400 000 bis800 000 Arbeitsplätze. Insofern brauchen wir uns dar-über gar nicht großartig zu streiten.Das heißt nicht, daß wir keine strukturellen Reformenmachen wollen. Die Frage ist nur, ob Sie bei ökologi-schen Strukturreformen mitgehen und in welcher Formder Niedriglohnbereich strukturell neugeordnet werdenmuß, wobei ich darauf hinweise, daß die jetzige Novellenicht das Ende der Diskussion sein kann. Der Nied-riglohnbereich bei uns muß in größerem Umfang neuge-ordnet werden. Der Bundeskanzler hat dies bereits an-gedeutet. Aber das läßt sich nicht alles innerhalb vonzwei Monaten realisieren.Zu den Privatisierungsaufgaben: Was die großen Ge-sellschaften angeht – dazu haben Sie sich in kleineremUmfang geäußert –, bräuchte man eine größere Debatte.Im Zusammenhang mit der Flexibilität der Gütermärktebeispielsweise verweise ich auf einen Bereich unseresDienstleistungsangebotes, in dem wir normierte Preisehaben. Ich will das nicht vertiefen, aber dort würde icheine größere Flexibilität begrüßen. Wenn man versucht,staatliche Aufgaben zu übertragen, gibt es immer kon-troverse Meinungen. Ich meine, daß jetzt im Detail dis-kutiert werden muß, was die Übertragung kleinerer Auf-gaben angeht.Was die großen Gesellschaften angeht, ist unsere Po-litik klar, aber bei den Privatisierungen sogenannterkleinerer Staatsaufgaben müssen wir in einen Dialogeintreten. Ich stehe dem nicht ablehnend gegenüber. Ichhabe aber schon bei meiner politischen Arbeit in derGemeinde die Erfahrung gemacht, daß dann, wenn wirdas gemacht haben, etwa im Versicherungsbereich, querdurch alle Parteien Widerspruch kam. Also lassen Sieuns das im Detail diskutieren.
Es ver-
bleiben nur noch wenige Minuten. Deswegen bitte ich
jetzt um kurze Fragen und kurze Antworten.
Die nächste Frage hat Herr Kollege Fuchtel von der
CDU/CSU-Fraktion.
Ich komme
zurück auf Ihre Eingangsbemerkung zum Arbeitsmarkt,
Herr Minister. Sie haben verkündet, daß es im nächsten
Jahr im Durchschnitt 150 000 Arbeitslose weniger auf
dem Arbeitsmarkt geben wird. Das ist nichts Neues; das
hätten wir auch unter der Regierung Kohl gehabt. Aber
was hier interessiert und der Öffentlichkeit gesagt wer-
den sollte: Sie pumpen jetzt, wie Sie sagen, 6 Milliarden
DM – wenn Sie den Rückgang um 150 000 Arbeitslose
dazurechnen, sind es insgesamt 10,5 Milliarden DM –
für Ihre sogenannte aktive Arbeitsmarktpolitik in diesen
Bereich. Wieviel Arbeitslose weniger wird es auf Grund
dieser Maßnahme geben?
Eskommt darauf an, wie diese Mittel eingesetzt werden.
– Moment! Ich will hier den Unterschied deutlich ma-chen. Wir halten nichts davon, die Arbeitsmarktmittelentsprechend der Wahldaten hoch- und runterzufahren.Das haben wir vor den Wahlen versprochen. Deshalbhaben wir direkt nach Regierungsantritt gesagt: Bei –auf Grund Ihrer Entscheidungen – auslaufenden Verträ-gen wird jetzt die Möglichkeit eröffnet, diese zu verlän-gern. Aber im einzelnen müssen das die Arbeitsverwal-tungen vor Ort aushandeln, denn wir glauben, daß eineBundesminister Oskar Lafontaine
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gewisse Dezentralisierung der Entscheidungen hierdurchaus vernünftig ist.Ich möchte zu den Arbeitsmarktmitteln grundsätzlichsagen, daß es nicht die Absicht der Bundesregierung ist,es dabei zu belassen, lediglich den zweiten Arbeitsmarktzu finanzieren. Wir brauchen hier Strukturreformen.Daher ist im Bericht der Bundesregierung ausdrücklichauf die englische und auf die skandinavische Praxisverwiesen, wo es in stärkerer Form als bisher darumgeht, eine Struktur der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmenzu schaffen, die tatsächlich eine stärkere Verpflich-tungskomponente beinhaltet, um den Übergang in denersten Arbeitsmarkt zu gewährleisten.Die genauen Zahlen liegen mir jetzt nicht vor. Wirwerden sie aber gerne nachliefern, wenn Sie dies wün-schen. Die Arbeitsverwaltungen können die von Ihnenvorgeschlagenen Maßnahmen auf Beschäftigungsver-hältnisse umrechnen.
Als
nächster Fragesteller hat der Kollege Friedhoff von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Ich habe eine Frage zu
den neuen Bundesländern, Herr Finanzminister. Ist es er-
stens so, daß Sie das, was Sie hier niedergeschrieben ha-
ben, als Konzeption für die neuen Bundesländer ansehen?
Können Sie zweitens vielleicht kurz die Schwerpunkte
erläutern, die anders sind als in der Vergangenheit? Das
würde mich sehr interessieren. Wo würde sich dieses
möglicherweise im Bundeshaushalt niederschlagen?
Zunächst einmal ist im Saldo festgestellt worden, daß
der Bundeshaushalt für die neuen Länder etwa 100 Mil-
liarden DM ausweist; da sind alle Haushalte mit einge-
rechnet. Das ist eine deutliche Steigerung von etwa
8 Milliarden DM. Da sind eine ganze Reihe von Maß-
nahmen zusammengerechnet.
Erstens zur Methode. Beginnen wir zunächst noch
einmal bei der Lohnpolitik. Bei dieser Frage kann ich,
soweit ich das recht in Erinnerung habe, Ihrer Partei
keine größeren Vorwürfe machen. Die Plakate: „Glei-
cher Lohn für gleiche Arbeit“, prangten in Berlin schon
im Jahre 1990 an den Wänden. Das geht teilweise auch
weiter. Wer also den Menschen in den neuen Ländern
ohne Betrachtung der Produktivität und des Beschäfti-
gungsstandes pro Kopf der Bevölkerung – ich mache
darauf aufmerksam, daß der Beschäftigungsstand pro
Kopf der Bevölkerung dort teilweise höher ist als im
Westen – sagt: Ihr habt innerhalb kürzester Frist auch
die Westlöhne, der gibt völlig falsche Ratschläge. Das
möchte die neue Regierung nicht tun.
Deshalb halte ich es für sinnvoll, den Beschäftigungs-
stand pro Kopf der Bevölkerung immer in unsere De-
batte mit einzubeziehen. Ich erinnere in diesem Zusam-
menhang an eine Aussage des ehemaligen Mitglieds des
Sachverständigenrates, Pohl, der erklärt hat: Wer sagt
„Westlöhne sofort“, der muß auch sagen: Beschäfti-
gungsstand wie im Westen. Und dann kommt man
gleich in eine Konfliktsituation.
Ich nehme also in Anspruch, daß wir differenzierter
und wahrhaftiger vorgehen und solche Versprechungen,
die ich vorhin markiert habe und die immer noch ge-
macht werden, nicht in die Welt setzen.
Zweitens. Wir haben gesagt, wir machen etwas gegen
die Jugendarbeitslosigkeit. Das will ich nicht noch ein-
mal wiederholen. Wir haben dort auch im Detail einen
Schwerpunkt im Osten gesetzt.
Drittens. Auch bei den Arbeitsmarktmitteln ist ein
Schwerpunkt im Osten gesetzt. Das brauche ich eben-
falls nicht zu wiederholen. Das ergibt sich aus der Sa-
che.
Viertens haben wir gesagt: Wir konzentrieren die
Mittel, die wir ausweisen, auf die gewerbliche Produkti-
on. Im Jahreswirtschaftsbericht können Sie nachlesen,
daß die gewerbliche Produktion den Produktivitätsrück-
stand mittlerweile aufgeholt hat. Das war beim Bauge-
werbe schon seit einiger Zeit der Fall und ist jetzt auch
bei der übrigen gewerblichen Produktion so. Aber die
gewerbliche Produktion insgesamt hat noch nicht die
breite Basis wie im Westen und muß deshalb weiter
ausgebaut werden. An dieser Stelle wollen wir auch die
Förderwege konzentrieren.
Das sind die vier Antworten, die ich kurzfristig geben
möchte. Wenn ich lediglich darauf hinweisen würde,
daß selbst bei Kultur und Sport gewisse Akzente gesetzt
werden, würden Sie das nicht unbedingt als direkt zu-
friedenstellend ansehen. Aber diese vier Antworten sind,
glaube ich, auch von der Summe her nachvollziehbar.
Ich habe erklärt: Wir werden die Mittel verstetigen. Wir
haben nicht die Aussage gemacht: Wir werden gewaltig
aufstocken. Das ist zu belegen; ich habe Ihnen die Zah-
len genannt.
Darf ich noch etwas fra-
gen?
Nein,ich muß jetzt leider zum Ende kommen.Ich beende den Themenbereich der heutigen Kabi-nettssitzung. Gibt es darüber hinaus sonstige Fragen? –Das ist nicht der Fall. Dann beende ich die Befragung derBundesregierung. Vielen Dank, Herr Bundesminister.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:Fragestunde– Drucksache 14/306 –Zunächst kommen wir zum Geschäftsbereich desBundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Die Fra-ge 1 wird schriftlich beantwortet.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmini-steriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. ZurBeantwortung steht der Parlamentarische StaatssekretärDr. Gerald Thalheim zur Verfügung.Bundesminister Oskar Lafontaine
Metadaten/Kopzeile:
1206 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
(C)
Als erstes wird die Frage 2 der Abgeordneten UlrikeFlach beantwortet.Kann die Bundesregierung die Angaben des Bundes fürUmwelt und Naturschutz über die deutliche Steigerungdes Anteils der kranken Waldbäume (z. B. bei Fichten 64% ge-schädigt gegenüber 53% im Vorjahr) bestätigen, und welcheMaßnahmen gedenkt die Bundesregierung zur Verbesserung desWaldzustandes zu ergreifen?Dr
Sehr geehrte Kollegin Flach, die aktuellen Ergeb-
nisse der Waldschadenserhebung 1998 deuten im Ver-
gleich zum Vorjahr auf einen leichten Aufwärtstrend bei
der Waldgesundheit hin. Allerdings verläuft die Ent-
wicklung nicht einheitlich. Zuverlässigere Aussagen er-
laubt allerdings eine Betrachtung der langjährigen Zeit-
reihe. Spürbar zurückgegangen sind die sogenannten
deutlichen Schäden von 30 Prozent 1991 auf einen An-
teil von 21 Prozent 1998. Nach den Auswertungen der
Waldschadenserhebung 1998 nehmen bei der Kiefer die
deutlichen Schäden seit 1991 kontinuierlich ab. Kiefern
haben unter allen Baumarten den niedrigsten Anteil ge-
schädigter Bäume.
Aufwärts geht es langsam auch bei der Eiche. Nach-
dem die Schäden bis 1995 noch angestiegen waren, sta-
gnierte zunächst 1996 und 1997 der Anteil kranker
Bäume. In diesem Jahr konnte eine auffallende Be-
standserholung registriert werden. Der Kronenzustand
der Buchen hatte sich zwischen 1990 und 1992 erheb-
lich verschlechtert. Seitdem werden keine zusätzlichen
Schäden mehr beobachtet. Buche und Eiche sind aber
nach wie vor die am stärksten geschädigten Baumarten.
Bei Fichten dünnen die Baumkronen seit zwei Jahren
wieder etwas stärker aus.
Die Angaben des BUND zum Waldzustand können
insofern nicht bestätigt werden. Die unterschiedlichen
Aussagen zum Waldzustand sind wie folgt zu begrün-
den: Der Bericht des Bundesernährungsministeriums
über den Zustand des Waldes 1998 beruht in diesem
Jahr erstmals auf einer länderübergreifenden Auswer-
tung im sogenannten 16-mal-16-km-Erhebungsnetz.
Auf dieser Basis berichtet auch die Europäische Union
über den Waldzustand in Europa. In früheren Jahren
waren die Ergebnisse der Bundesländer flächenge-
wichtet zu einem Bundesergebnis zusammengeführt
worden. Mit der Umstellung wird eine weitere, über-
fällige Angleichung an die europäische Ebene durch-
geführt.
Die Umstellung ermöglicht sichere Aussagen zu Ver-
änderungen des Waldzustandes, da immer dieselben
Bäume verrechnet werden. In früheren Berichten änderte
sich die Baumbestandszahl wegen wechselnder Erhe-
bungsdichten in den Ländern stark. Damit die Ver-
gleichbarkeit mit den Ergebnissen früherer Jahre ge-
währleistet ist, wurden diese nach der 1998 angewand-
ten Methode neu berechnet. Der BUND aber hat bei sei-
ner Darstellung des Waldzustandes die BML-Ergebnisse
1998 mit den für die vergangenen Jahre bereits veröf-
fentlichten Zahlen aus dem Waldzustandsbericht 1997
verglichen. Auf diesen methodischen Bruch hat der
BUND allerdings nicht hingewiesen.
Weiterhin unterscheidet der BUND im Gegensatz
zum BML nicht zwischen Bäumen der Warnstufe, also
Bäumen mit einer Kronenverlichtung von über 10 Pro-
zent bis 25 Prozent, und denen der Schadstufen 2 bis 4,
also Bäumen mit einer Kronenverlichtung von über 25
Prozent. Die sogenannte Warnstufe umfaßt Bäume, de-
ren Kronenverlichtung sich noch in einem natürlichen
Schwankungsbereich befindet und die daher nicht zu
den geschädigten Bäumen gezählt werden. Dies geht auf
eine Empfehlung im 3. Bericht des Forschungsbeirates
Waldschäden aus dem Jahre 1989 zurück. Die Zusam-
menfassung der beiden Schadstufen durch den BUND
führt zu dem hohen Schadniveau, wie es in der Frage
genannt wird.
Zusatz-
frage? – Bitte schön.
Gehen Sie davon aus, daß der
BUND in Zukunft Ihrem Berechnungsmodus folgen
wird? Oder müssen wir damit rechnen, daß auch in Zu-
kunft ganz unterschiedlich argumentiert wird und damit
ganz bewußt eine gewisse Verunsicherung in der Bevöl-
kerung hervorgerufen wird?
Dr
Verehrte Kollegin, darf ich Sie darauf aufmerksam
machen, daß es sich nicht um unsere Berechnung han-
delt. Es handelt sich vielmehr um eine Berechnung ge-
mäß einer EU-Verordnung –, um die Ergebnisse hin-
sichtlich der Schadensbelastungen der Wälder in Europa
am Ende vergleichen zu können.
Natürlich kann ich Sie in Ihrer Meinung nur unter-
stützen, daß es hilfreich wäre, wenn der BUND die glei-
che Berechnungsmethode anwenden würde, damit am
Ende die Ergebnisse vergleichbar sind.
Zweite
Zusatzfrage, bitte schön.
Sehen Sie, ähnlich wie die
Schutzgemeinschaft Deutscher Wald, ein großes Pro-
blem in der Versauerung der Böden? Welche Maßnah-
men von Ihrer Seite her sehen Sie in diesem Bereich
vor?
Dr
Die sogenannten neuen Waldschäden haben eineganze Reihe von Ursachen. Eine Ursache ist natürlichdie Versauerung der Böden. Die Versauerung – das mußman an dieser Stelle ganz offen sagen – ist die Folge vonjahrzehntelangen Emissionen, vor allen Dingen eineFolge von Stickstoffemissionen. Die Maßnahmen, dieVersauerung zu beseitigen – zum Beispiel die Kalkungdes Waldes –, werden auch in Zukunft in erheblichemUmfang durchgeführt. Wir hoffen, daß die Waldschädendadurch Stück für Stück zurückgehen. Der Bericht sagtVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1207
(C)
(D)
ja aus, daß an dieser Stelle am Ende gewisse Erfolge er-zielt werden.Auf den Punkt gebracht: Auf diesem Gebiet wirdweitergearbeitet. Aber die lange Zeit, innerhalb derendie Schäden entstanden sind, werden wir auch brauchen,um diese Schäden zurückzuführen.
Sie ha-
ben nur das Recht auf zwei Zusatzfragen, Frau Kollegin.
Gibt es weitere Fragen von anderen Kollegen? – Das
ist nicht der Fall. Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Dann kommen wir zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische
Staatssekretärin Gila Altmann zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 3 des Kollegen Walter Hirche auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Betriebsrats-vorsitzenden des Kernkraftwerks Stade, daß das KKW Stade,,sicher und betriebswirtschaftlich erfolgreich“ arbeitet und sich,,jederzeit mit modernen Anlagen vergleichen“ kann, und hältdie Bundesregierung seine Bewertung des angestrebten Aus-stiegs aus der Atomenergie als ,,Arbeitsplatzvernichtung“ fürnachvollziehbar?
Gi
Die Bundesregierung teilt nicht die hier angespro-
chene Auffassung des Betriebsratsvorsitzenden des
Atomkraftwerkes Stade. Auch ist die Bundesregierung
der Ansicht, daß die Bewertung des angestrebten Aus-
stiegs als „Arbeitsplatzvernichtung“ nicht haltbar ist.
Ihre Zu-
satzfrage, Herr Kollege Hirche.
Frau Staatssekretärin, wie
wollen Sie denn angesichts der vorgesehenen Politik des
Plattmachens von Arbeitsplätzen eine Kompensation in
der Region ermöglichen?
Gi
Die Bundesregierung hat in Anerkennung des
Wählerwillens den Ausstieg beschlossen und wird des-
halb die gesetzlichen Verfahren dazu einleiten. Die Be-
fürchtungen des Betriebsrates des Atomkraftwerkes
Stade und auch anderer Betriebsräte deutscher Atom-
kraftwerke in diesem Zusammenhang sind der Bundes-
regierung bekannt.
Was die Arbeitsplätze in Stade angeht, ist grundsätz-
lich zu sagen: Durch den Ausstieg aus der Atomenergie
und die Förderung regenerativer Energien, durch Ver-
besserung der Energieeffizienz und Maßnahmen zur
Energieeinsparung werden neue Arbeitsplätze geschaf-
fen. Alle relevanten Studien errechnen angesichts des
Ausstiegs aus der Atomenergie einen Zuwachs an Ar-
beitsplätzen. Der Vorwurf der Arbeitsplatzvernichtung
ist deshalb grundsätzlich nicht haltbar.
Zu Stade kann ich Ihnen sagen, daß im Rahmen der
Stillegung des Atomkraftwerkes seit Jahren als Ersatz
ein modernes Gas-Dampf-Turbinenkraftwerk mit hoher
Energieeffizienz in Planung ist, das vor Ort einen großen
Teil der langfristig wegfallenden Arbeitsplätze kompen-
sieren könnte. Die letzte Diskussion dazu hat es 1997
gegeben. Damals war dieses Gaskraftwerk von der Dow
Chemical zusammen mit einem amerikanischen Investor
geplant. Aus Sicht der Bundesregierung empfiehlt es
sich, in Anknüpfung an die bereits seit Beginn der 90er
Jahre geführte Diskussion die Planung wieder aufzugrei-
fen, einschließlich der Ansiedlung neuer Betriebe.
Eine
weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Hirche.
Habe ich Sie richtig ver-
standen, Frau Staatssekretärin, daß aus Ihrer Sicht weder
sicherheitstechnische noch betriebswirtschaftliche, noch
volkswirtschaftliche Belange im Zusammenhang mit der
Schließung von Kernkraftwerken eine Rolle spielen,
obwohl die Interpretation der Öffentlichkeit hinsichtlich
der Entscheidungen des Bundeskanzlers in diesen Tagen
eine völlig andere ist? Welche Meinung gilt? Bleiben
Sie bei Ihrer Meinung im Unterschied zu dem, was in
den Begründungen des Bundeskanzlers durchgeschienen
ist?
Gi
Herr Hirche, ich habe meinen vorherigen Ausfüh-
rungen nichts hinzuzufügen.
Eine
weitere Frage des Kollegen Koppelin.
Frau Staatssekretärin,
gibt es bereits Termine von Ihnen persönlich, bei denen
Sie den Betriebsräten und den Mitarbeitern des Kern-
kraftwerkes Stade die Auffassung darlegen wollen, die
Sie hier soeben gegenüber dem Kollegen Hirche vertre-
ten haben?
Gi
Herr Koppelin, ich kann den Zusammenhang mit
der Frage 3 nicht erkennen.
Es wurde in dieser Fragenach der Auffassung des Betriebsrates gefragt. Sie ha-ben dazu eine bestimmte Stellungnahme abgegeben, undich habe gefragt, wann Sie dem Betriebsrat dieseParl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim
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1208 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
(C)
Auffassung, die Sie hier dargelegt haben, persönlichüberbringen werden. Der Zusammenhang ist wohl klar,Frau Staatssekretärin.
Bitte,
Frau Staatssekretärin, Ihre Beantwortung.
Gi
Es steht Ihnen natürlich frei, sich in meinem Büro
meinen Terminplan zur Kenntnis geben zu lassen.
Nichtsdestotrotz sehe ich noch immer keinen Zusam-
menhang mit der ursprünglichen Frage.
Gibt es
weitere Fragen zu diesem Punkt? – Das ist nicht der
Fall.
Wir kommen dann zur Frage 4 des Abgeordneten Dr.
Jürgen Gehb:
Wie schätzt die Bundesregierung die Dauer der behördlichenGenehmigungsverfahren für und der sich regelmäßig anschlie-ßenden verwaltungsgerichtlichen Streitverfahren gegen die Er-richtung und den Betrieb von Zwischenlagern für abgebrannteBrennelemente am jeweiligen Standort deutscher Kernkraftwer-ke ein?
Gi
Die Genehmigungsverfahren nach § 6 oder § 7
Atomgesetz zur Aufbewahrung von abgebrannten
Brennelementen können nach Einschätzung der Bundes-
regierung innerhalb von ein bis drei Jahren durchgeführt
werden.
Zusatz-
frage, Herr Kollege Gehb.
Nach dieser erschöp-
fenden Antwort stelle ich meine erste Zusatzfrage. Ich
habe heute in der „Süddeutschen Zeitung“ gelesen, daß
die Kollegin Heyne nicht damit leben könnte, wenn die
Verfahren vier bis fünf Jahre dauerten. Nun kenne ich
mich aus meiner Tätigkeit als Richter am Hessischen
Verwaltungsgerichtshof bei den Verfahrensdauern sehr
gut aus, und ich stelle erneut die Frage: Was passiert,
wenn alle Träger öffentlicher Belange – vom Ornitholo-
gischen Verband bis hin zum Verband zur Rettung der
Kreuzspinne – angehört und mehr als ein Jahr oder drei
Jahre ins Land gegangen sind? Heißt das, daß Sie dann
nach derselben Strategie vorgehen wie jetzt, also die Ge-
fahr in Kauf nehmen, daß die Wiederaufbereitung ver-
boten wird, aber alternative Zwischenlagerungsmöglich-
keiten nicht bestehen?
Gi
Die Antwort bezieht sich auf den grundsätzlichen
Verfahrensablauf, der auf Erfahrungswerten der Bundes-
regierung beruht. Die Abwicklung der Genehmigungs-
verfahren ist zum einen davon abhängig, ob der Antrag-
steller vollständige Unterlagen eingereicht hat, und zum
anderen davon, ob zum Beispiel die Behälter, deren
Zwischenlagerung beantragt wird, geeignet sind. Für
den Fall, daß das unwiderruflich feststeht, geht man von
einer Verfahrensdauer von ein bis drei Jahren aus.
Da das Thema Streitverfahren die nächste Frage be-
trifft, wäre meine Frage, ob ich die Antwort darauf mit
einbeziehen kann.
Herr
Kollege Gehb, es könnte gleich die nächste Frage be-
antwortet werden, und Sie könnten anschließend Zusatz-
fragen stellen.
Gerne.
Wir
kommen also zur Frage 5 des Abgeordneten Dr. Gehb:
Sieht die Bundesregierung die Gefahr und nimmt sie diesebilligend in Kauf, daß nach einem Ausstieg aus der Wiederauf-bereitung abgebrannter Brennelemente im Ausland die beab-sichtigte Zwischenlagerung des ,,Atommülls“ am Standort derjeweiligen deutschen Kernkraftwerke durch die zu erwartendeDauer der behördlichen Genehmigungsverfahren und der sichregelmäßig anschließenden verwaltungsgerichtlichen Streitver-fahren faktisch verhindert und damit der vorzeitige Ausstieg ausder friedlichen Nutzung der Kernenergie herbeigeführt wird?
Frau Staatssekretärin, bitte schön.
Gi
Die Bundesregierung strebt die geordnete Beendi-
gung der Nutzung der Atomenergie an. Sie sieht in die-
sem Kontext weder die Gefahr noch würde sie billigend
in Kauf nehmen, daß sich nach einem Ausstieg aus der
Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente im
Ausland durch die Dauer der behördlichen Genehmi-
gungsverfahren und der sich möglicherweise daran an-
schließenden Streitverfahren eine vorzeitige Stillegung
von Atomkraftwerken ergeben würde.
Herr
Gehb, bitte schön.
Frau Staatssekretärin,sind Ihnen Fälle bekannt, in denen rotgrüne Landesregie-rungen bei von ihnen selbst erteilten Genehmigungsbe-scheiden in Verwaltungsstreitverfahren nicht nur keinenKlageabweisungsantrag gestellt haben, sondern nachgera-de das klägerische Petitum gestreichelt haben?Jürgen Koppelin
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1209
(C)
(D)
Gi
Diese Frage muß ich in diesem Zusammenhang mit
Nein beantworten, weil Sie sich nicht direkt auf die Fra-
ge beziehen. Aber ich würde Ihnen die Antwort gerne
schriftlich nachreichen.
Weitere
Zusatzfrage, Herr Kollege Gehb. Herr Kollege Gehb hat
insgesamt vier Zusatzfragen, weil er zwei Fragen ge-
stellt hat.
Können Sie sich für
den Fall, daß so etwas in einem Verwaltungsstreitver-
fahren wieder passierte, daß also das beklagte Land den
eigenen Bescheid aus durchsichtigen Gründen nicht un-
terstützt, vorstellen, daß Sie den zuständigen Landes-
atombehörden durch bundesaufsichtliche Weisung mit
auf den Weg geben, wie sie sich im Verwaltungsstreit-
verfahren einzulassen haben?
Gi
Herr Kollege, ich möchte Sie zum einen darauf
hinweisen, daß konkrete gesetzliche Regelungen in den
derzeit laufenden Konsensgesprächen erarbeitet werden,
denen ich nicht vorgreifen möchte. Zum anderen wären
solche Einzelfälle dann auch in Einzelverfahren zu re-
geln.
Gibt es
weitere Fragen? – Bitte schön, Kollege Hinsken.
Frau Staatssekretärin
Altmann, sind Sie sich bewußt, daß Sie mit Ihrer Kern-
energiepolitik viele Mitbürger verunsichern und insbe-
sondere im Tourismusbereich bleibende Schäden verur-
sachen? Das beziehe ich darauf, daß zwischenzeitlich
zum Beispiel Fremdenverkehrsorte wie Saldenburg als
Standorte für Endlagerungsstätten genannt werden.
Weiter möchte ich fragen: Wie wollen Sie diesem Pro-
blem begegnen?
Gi
Auch bezüglich dieser Frage möchte ich Sie bitten,
die Konsensgespräche abzuwarten. Es ist verfrüht, jetzt
dazu Stellung zu nehmen. Ich bitte um Verständnis.
Eine
weitere Frage des Kollegen Hinsken.
Man muß warten, bis
das Mikrophon Strom bekommt. Wir brauchen ja Strom.
Er kommt ja nicht aus der Steckdose; deshalb meine
Nachfrage.
Frau Kollegin Altmann, ich möchte Sie nochmals
fragen: Können Sie definitiv ausschließen, daß Salden-
burg als Standort einer Endlagerstätte für abgebrannte
Kernbrennelemente in Frage kommt?
Gi
Herr Kollege, ich muß leider darauf verweisen, daß
das nicht Gegenstand der ursprünglichen Frage ist. Sie
können das gern als schriftliche Frage einreichen.
Weitere
Fragen? – Kollege Kubatschka.
Frau Kollegin Altmann,
können Sie bestätigen, daß der Standort Saldenburger
Granit durch die alte Bundesregierung und nicht durch
die jetzige ins Gespräch gebracht wurde?
Gi
Ich vermag mich dunkel daran zu erinnern.
Gibt es
weitere Fragen? – Das ist nicht der Fall. Ich bedanke
mich bei Ihnen, Frau Staatssekretärin, für die Beant-
wortung.
Ich rufe jetzt den Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amtes auf. Zur Beantwortung steht Herr Staatsminister
Dr. Ludger Volmer zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 6 der Kollegin Cornelia Pieper auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Auswirkung derNichtauslieferung von Abdullah Öcalan auf die demokratischenKräfte innerhalb der Kurden?
Herr Staatsminister, bitte schön.
D
Die Auswirkung der Nichtauslieferung bzw. der
Ausreise aus Italien von Abdullah Öcalan, dem Vorsit-
zenden der in Deutschland als terroristische Organisati-
on verbotenen PKK, auf die Kräfteverhältnisse zwischen
verschiedenen kurdischen Gruppen kann zu diesem
Zeitpunkt von der Bundesregierung noch nicht abschlie-
ßend beurteilt werden.
FrauKollegin Pieper, keine Zusatzfrage? – Gibt es weitereFragen? – Das ist nicht der Fall.
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1210 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
(C)
Ich rufe jetzt die Frage 7 des Kollegen Dr. EdzardSchmidt-Jortzig auf:Welche Fortschritte sind bei dem von Bundeskanzler Ger-hard Schröder und dem Bundesminister des Auswärtigen, Jo-seph Fischer, angekündigten Unterfangen erreicht worden, Ab-dullah Öcalan vor ein internationales Gericht zu stellen, odersind die Überlegungen hierzu auf Grund der Ausreise von Ab-dullah Öcalan aus Italien eingestellt worden?D
Die Bundesregierung hat in den zuständigen Aus-
schüssen des Deutschen Bundestages ausführlich die
Möglichkeiten und Probleme dargelegt, die mit den ver-
schiedenen Modellen für die Schaffung eines internatio-
nalen Gerichts für ein Strafverfahren gegen Öcalan ver-
bunden sind. Die Tatsache, daß Herr Öcalan Italien nun
verlassen hat, ist für uns kein Grund, von diesen Bemü-
hungen abzulassen. Allerdings ist die Lösung des Pro-
blems durch seine Abreise nicht leichter geworden.
Eine Zu-
satzfrage, Kollege Schmidt-Jortzig.
Ich schicke
voraus, daß die Bundesregierung eben nicht alle Gele-
genheiten wahrgenommen hat, die Parlamentarier in den
Ausschüssen zu unterrichten – im Innenausschuß ist das
jedenfalls bisher verweigert worden – , und frage, ob es
denn überhaupt solche Anstrengungen gegeben hat.
D
Es hat auf der internationalen Ebene intensive An-
strengungen gegeben, mit all den Ländern, die in diesen
Fall involviert waren, zu einer internationalen Lösung zu
kommen. Das setzt allerdings den Kooperationswillen
der beteiligten Länder voraus. Er war leider nicht gege-
ben.
Eine
weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Schmidt-Jortzig.
Wenn ich
davon ausgehe, daß es ein Ad-hoc-Gerichtshof hätte sein
müssen und der UN-Sicherheitsrat dafür zuständig ge-
wesen wäre, möchte ich fragen: Mit welchem Sicher-
heitsratsmitglied sind denn Gespräche geführt worden?
D
Es sind mit all den Ländern Gespräche geführt
worden, die von Öcalan, seiner Ausreise oder den An-
klagen gegen ihn unmittelbar betroffen waren. Einbezo-
gen waren auch die USA, obwohl sie in dem von mir
genannten unmittelbaren Sinne nicht betroffen waren.
Ich kann nur wiederholen, was ich gerade sagte, nämlich
daß es bei anderen Ländern an der Bereitschaft mangel-
te, zu einer Übereinstimmung in bezug auf ein interna-
tionales Verfahren zu kommen.
Zu einer
weiteren Frage die Kollegin Ulla Jelpke.
Herr Staatsminister, man mag zu
Herrn Öcalan stehen, wie man will. Aber nach Italien zu
gehen war ein Versuch, den friedlichen Dialog nach
Westeuropa zu tragen.
Wie wird sich die Bundesregierung jetzt verhalten,
nachdem Herr Öcalan nicht mehr in Italien ist? Wird es
eine Konzeption geben, was den Frieden im Zusammen-
hang Türkei, Kurdistan angeht?
D
Die Beurteilung der Politik von Herrn Öcalan, die
Sie gerade dargelegt haben, teilt die Bundesregierung
nicht.
Die Bundesregierung wird sicherlich mit der türki-
schen Regierung und mit allen anderen europäischen
Regierungen darüber einen intensiven Dialog führen,
wie erstens die Türkei langsam an die Europäische
Union herangeführt werden kann und wie zweitens die
Türkei in diesem Zuge die Menschenrechtssituation in
ihrem Land verbessern kann.
Zu einer
weiteren Frage der Kollege van Essen.
Herr Staatsminister, wel-
che Logik steckt hinter der Politik der Bundesregierung,
zunächst sehr frühzeitig auf eine endgültige Ausliefe-
rung Öcalans aus Italien zu verzichten und nunmehr für
ein internationales Gericht zu plädieren, das seiner hab-
haft werden und ihn verurteilen soll?
D
Die Bundesregierung hat nicht endgültig auf die
Auslieferung verzichtet. Sie hat das Auslieferungsbe-
gehren zurückgestellt, um zu einer internationalen Eini-
gung zu kommen.
Die Lage ist durch die Ausreise von Herrn Öcalan
eher noch komplizierter geworden.
Gibt esweitere Fragen? – Das ist nicht der Fall.Dann rufe ich Frage 8 des Kollegen Dr. Max Stadlerauf:Hat die Bundesregierung nähere Erkenntnisse, um welchenVerdachtssachverhalt es sich bei dem von Staatsminister GünterVerheugen am 20. Januar 1999 im Fernsehsender „Phoenix“ an-gedeuteten EU-Korruptionsfall unter angeblicher Beteiligungeiner deutschen Landesregierung handelt?Bitte, Herr Staatsminister.Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1211
(C)
(D)
D
Mit Ihrer Zustimmung, Herr Stadler, würde ich
Ihre beiden Fragen zusammen beantworten, weil sie in
einem unmittelbaren Zusammenhang stehen.
Bitte.
Dann
rufe ich auch die Frage 9 des Kollegen Dr. Stadler auf:
Auf welche Landesregierung hat sich die Äußerung vonHerrn Staatsminister Günter Verheugen bezogen?
D
Staatsminister Verheugen hat am 20. Januar 1999
im Fernsehsender „Phoenix“ darauf hingewiesen, daß
80 Prozent der Mittel, über die die Kommission verfügt,
in den Mitgliedstaaten ausgegeben werden und daß des-
halb der ganz überwiegende Teil der jetzt untersuchten
Betrugs- und Korruptionsfälle zwangsläufig auch in die
Verantwortung der Mitgliedstaaten fällt.
Der in diesem Zusammenhang erwähnte Personalfall
– damit komme ich zu Ihrer zweiten Frage – steht in
keinerlei Zusammenhang mit den Korruptionsvorwür-
fen. Ob sich dieser Fall tatsächlich finanziell zum
Nachteil der Steuerzahler auswirken wird, ist Gegen-
stand einer eingehenden Überprüfung.
Da es sich um einen Personalfall handelt, kann die
Bundesregierung keine näheren Angaben machen.
Eine Zu-
satzfrage, Herr Kollege Stadler.
Herr Staatsminister, Sie
haben Frage 9, um welche Landesregierung es sich han-
delt, noch nicht beantwortet. Ich bitte um die Beant-
wortung auch dieser Frage.
D
Mein Kollege Verheugen hatte nicht die Absicht
– dies hat er auch nicht getan –, eine bestimmte Landes-
regierung zu beschuldigen oder in Mißkredit zu bringen.
Er hat vielmehr darauf hingewiesen, daß all die Fälle,
die vom Europäischen Parlament beklagt worden sind,
nicht nur die Kommission im engeren Sinne betreffen,
sondern auch die gesamte Beamtenschaft, für deren Ent-
sendung Mitgliedstaaten und, was die Bundesrepublik
angeht, einzelne Länder mitverantwortlich sind. Ein
spezifisches Land ist nicht gemeint.
Eine Zu-
satzfrage, Herr Stadler.
Es ist schwer nachzuvoll-
ziehen, daß, wenn man von einem bestimmten Land
spricht, kein spezifisches Land gemeint sein soll. Des-
wegen frage ich Sie, ob Sie die Darstellung in der
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom Montag zu die-
sem Vorgang bestätigen können.
D
Die Darstellung ist mir persönlich nicht bekannt.
Eine
weitere Zusatzfrage.
Dann möchte ich Sie
schließlich noch fragen, ob Sie meine Auffassung teilen,
daß es ein eigenartiger politischer Stil ist, einen Ver-
dacht öffentlich in die Welt zu setzen, dann aber nicht
bereit zu sein, klar zu antworten, um was genau und um
wen es sich handelt.
D
Die Bundesregierung unterstützt auf der Basis des
Vorschlages, den unter anderem der Bundeskanzler un-
terbreitet hat, die Bemühungen der Europäischen Kom-
mission, die Vorwürfe rückhaltlos aufzuklären. Wenn es
daneben auch noch Personalfragen gibt, die geklärt wer-
den müssen, dann ist auch dies zu tun. Man muß aber
zwischen diesen beiden Ebenen nicht zwingend einen
Zusammenhang herstellen.
Keine
Zusatzfrage, Herr Stadler? – Eine Frage des Kollegin
Koppelin.
Herr Staatsminister, sind
Sie, nachdem Sie eingestanden haben, daß Ihnen der
Artikel nicht bekannt ist, bereit, ihn nachzulesen und
dann dem Kollegen Stadler auf seine Frage schriftlich zu
antworten?
D
Ich bin bereit, jeden Zeitungsartikel zu lesen, den Sie
mir vorschlagen, und mit jedem darüber zu diskutieren.
– Schriftlich zu antworten selbstverständlich auch.
Gibt esweitere Fragen? – Das ist nicht der Fall. Vielen Dank,Herr Staatsminister.Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministe-riums des Innern auf. Zur Beantwortung steht der Par-lamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper zurVerfügung.Die Frage 10 des Abgeordneten Benno Zierer sollschriftlich beantwortet werden.
Metadaten/Kopzeile:
1212 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
(C)
Ich rufe die Frage 11 des Abgeordneten HartmutKoschyk auf:Wie wird gemäß der Ankündigung des Beauftragten derBundesregierung für Aussiedlerfragen die Zahl der in die Bundesrepu-blik Deutschland kommenden Aussiedler begrenzt, und wie be-gründet sich dessen Vorwurf, die vorherige Bundesregierunghabe ,,unbegrenzt neue Aussiedler“ ins Land gelassen?F
Ich beantworte die Frage des
Kollegen Koschyk wie folgt: Die Vereinbarungen sind
klar und eindeutig und Ihnen auch bekannt. Im Jahre
1991 wurde die jährliche Aufnahme von 220 000
Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern plus/minus
10 Prozent beschlossen; das ist unstreitig. Die Aussagen
des Aussiedlerbeauftragten, Jochen Welt, bezogen sich
auf die aktuellen Zugangszahlen der zurückliegenden
Jahre, die von diesen Zahlen abweichen. In diesem Zu-
sammenhang ist auch die Zahl 100 000 gefallen und zu
verstehen.
Wenn Kollege Welt zitiert wird, sollte dies vollstän-
dig getan werden. Sein Vorwurf in dem besagten Zei-
tungsartikel, die alte Bundesregierung habe „unbegrenzt
neue Aussiedler ohne Rücksicht auf Integrationspro-
bleme nach Deutschland gelassen“, zeigt, worum es ihm
gegangen ist, nämlich darum, daß das Problem im Be-
reich der Aussiedlerpolitik in der unbefriedigenden Inte-
gration besteht.
Eine Zu-
satzfrage, Herr Koschyk.
Herr Staatssekretär,
stehen die Vorwürfe und die Ankündigung des Herrn
Kollegen Welt als Aussiedlerbeauftragten, man wolle
den weiteren Zuzug begrenzen, im Hinblick auf die an-
gepeilte Zahl von 100 000 pro Jahr überhaupt mit der
Wirklichkeit in Einklang, nachdem wir durch die von
Ihnen genannten Maßnahmen im Zuge des Asylkom-
promisses, aber auch durch Sprachtests in den Her-
kunftsgebieten vor Eröffnung des Zugangs zur Bundes-
republik Deutschland seit 1995 einen Rückgang der
Aussiedlerzahlen von damals 217 000 auf 103 080 im
Jahr 1998 gehabt haben, also deshalb keine weiteren
Maßnahmen erforderlich sind?
Was die Integrationsanstrengungen der alten Bundes-
regierung anbelangt: Teilen Sie nicht die Auffassung,
daß das im Konsens auch mit der damaligen Opposition
zustande gekommene Wohnortzuweisungsgesetz zu ei-
ner besseren Verteilung und zu Entspannungen in Bal-
lungsgebieten geführt hat und daß gerade von der alten
Bundesregierung im letzten Jahr ein Integrationsfonds
beim Bundesverwaltungsamt geschaffen wurde, aus dem
30 Millionen DM für 1 500 Projekte an 600 Orten der
Bundesrepublik Deutschland ausgegeben worden sind,
wobei 35 Prozent der Fördersumme für Projekte mit
jungen Menschen bestimmt waren? Wenn Herr Kollege
Welt als Aussiedlerbeauftragter hier Kritik übt: Was
sind die Maßnahmen der jetzigen Bundesregierung, um
diese Integrationsanstrengungen der alten Bundesregie-
rung weiter zu verstärken?
F
Herr Kollege Koschyk, die Bun-
desregierung beabsichtigt nicht, die Vereinbarung aus
dem Jahre 1991 in irgendeiner Form beiseite zu schie-
ben. Das von Ihnen angesprochene Wohnortzuwei-
sungsgesetz hat deutlich gemacht, daß wir in der Tat
Integrationsprobleme hatten und haben; sonst hätten wir
ein solches Gesetz nicht beschlossen.
Was will die neue Bundesregierung tun? Wir sind der
Auffassung, daß insbesondere dem Thema „Sprache und
Sprachförderung“ ein sehr großes Augenmerk geschenkt
werden muß; denn ohne die Beherrschung der deutschen
Sprache ist eine Integration nur schwer möglich.
Eine
weitere Zusatzfrage.
Heißt das, Herr
Staatssekretär, daß Sie anstreben, die Dauer der Sprach-
förderung für Aussiedler, die aus Haushaltszwängen
auch zu meinem Bedauern von der alten Bundesregie-
rung gekürzt werden mußte,
zu erhöhen?
Heißt der erste Teil Ihrer Antwort, daß Sie den Kon-
sens im Kriegsfolgenbereinigungsgesetz nicht in Frage
stellen wollen, daß die neue Bundesregierung nicht auf
Überlegungen zurückgreifen will, die das Land Rhein-
land-Pfalz zur weiteren Begrenzung des Aussiedlerzu-
zugs in den Bundesrat eingebracht hat und die der Bun-
desrat mit Mehrheit angenommen hat?
F
Herr Kollege Koschyk, was das
Kriegsfolgenbereinigungsgesetz anbelangt, haben wir
überhaupt nicht die Absicht, den Konsens aufzugeben.
Das wissen Sie ganz genau; Sie kennen auch die Hal-
tung der Bundesregierung und der SPD-Bundestags-
fraktion zu der Initiative des Landes Rheinland-Pfalz.
Was die Notwendigkeit einer Verbesserung der
Sprachförderung anbelangt, kann ich Ihnen nur soviel sa-
gen, daß wir im Rahmen der uns zur Verfügung stehen-
den Haushaltsmittel versuchen, die Förderung zu intensi-
vieren und effektiver zu machen. Da sind ein bißchen
Kreativität und Phantasie gefragt. Jedenfalls wird deut-
lich, daß derjenige, der wirkliche Integration will, der
Sprache einen sehr hohen Stellenwert beimessen muß.
Jetzt ru-fe ich die Frage 12 des Kollegen Koschyk auf:Verfügt die Bundesregierung über Daten, die über die amtli-che Repräsentativstatistik für das Jahr 1997 hin-ausgehen, über die Zahl und herkunftsmäßige Zusammensetzungvon in Deutschland lebenden deutschen Staatsangehörigen, dieeine weitere Staatsangehörigkeit besitzen, und, wenn ja, überwelche?Bitte, Herr Staatssekretär, zur Beantwortung.Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1213
(C)
(D)
F
Ich beantworte Ihre Frage wie
folgt: Der Bundesregierung stehen über die Daten der
amtlichen Repräsentativstatistik aus dem Jahre 1997
hinaus keine weiteren Zahlen zur Verfügung.
Ich möchte aber noch ein paar Hinweise geben, weil
ich annehme, daß Sie aus einem bestimmten Grund ge-
fragt haben. Insbesondere in zwei Fallgruppen, bei de-
nen in großer Zahl Mehrstaatigkeit entstehen kann, läßt
sich nicht feststellen, inwieweit Mehrstaatigkeit tatsäch-
lich entstanden ist. Es handelt sich hierbei zum einen um
die eheliche Abstammung von einem deutschen und ei-
nem ausländischen Elternteil und zum anderen um die
Einbürgerung als Deutscher ohne deutsche Staatsange-
hörigkeit im Sinne des Art. 116 Abs. 1 des Grundgeset-
zes. Hier geht es um den Bereich der Aussiedler oder
Spätaussiedler. Daher liegt kein aussagefähiges statisti-
sches Material vor.
Eine weitere Information: Nach der vom Statistischen
Bundesamt zusammengestellten Einbürgerungsstatistik
wurden von 1981 bis 1997 insgesamt 158 010 Auslände-
rinnen und Ausländer unter Hinnahme von Mehrstaatig-
keit eingebürgert. Dieses Kriterium hat vor 1981 keine
Rolle gespielt. Deshalb liegen aus dem Zeitraum vor
1981 keine Zahlen vor. Eine Aufschlüsselung nach Her-
kunftsstaaten ist nicht sinnvoll, da es in der Vergangen-
heit im Hinblick auf die Hinnahme bzw. Vermeidung
von Mehrstaatigkeit bei einzelnen Herkunftsstaaten zu
Fehlerfassungen in beträchtlicher Größenordnung ge-
kommen ist.
Eine Zu-
satzfrage, Herr Kollege Koschyk.
Herr Staatssekretär,
Sie haben ja mit Ihrer Antwort eingeräumt, daß der
Bundesregierung keine anderen Zahlen von deutschen
Staatsangehörigen, die daneben eine andere Staatsange-
hörigkeit innehaben, vorliegen als die, die das Statisti-
sche Bundesamt über den Mikrozensus zur Verfügung
stellen kann.
Den zweiten Teil Ihrer Antwort habe ich zur Kenntnis
genommen, möchte mir aber trotzdem die Nachfrage
erlauben: Wenn im Mikrozensus-Bericht des Statisti-
schen Bundesamtes für 1997 für Deutsche, die neben ih-
rer deutschen Staatsangehörigkeit über eine andere
Staatsangehörigkeit verfügen, insgesamt die Zahl
544 000 ausgewiesen worden ist, wenn Sie sagen, daß
sich im Hinblick auf Anspruchseinbürgerungen nach
Art. 116 eine größere Zahl ergeben kann und wenn im
Mikrozensus-Bericht für 1997 für Menschen in
Deutschland, die neben ihrer deutschen Staatsangehö-
rigkeit die Staatsangehörigkeit eines GUS-Staates ha-
ben, die Zahl 88 000 und für Menschen aus den Staaten
Mittel- und Osteuropas die Zahl 23 000 genannt wird,
dann frage ich mich doch, ob der von Ihnen genannte
Beurteilungsspielraum so weit geht, daß man zu einer
Zahl von 2 Millionen deutschen Doppelstaatlern, die auf
die Anspruchseinbürgerung nach Art. 116 zurückgegrif-
fen haben, kommen kann, wie sie in der politischen Dis-
kussion auch gestern von der Vorsitzenden des Landes-
verbandes Bayern einer großen Regierungspartei in An-
wesenheit eines stellvertretenden Vorsitzenden einer
großen Regierungsfraktion genannt worden ist.
F
Wenn man in diesem Zusam-
menhang Zahlen nennt, dann sollte man der Fairneß hal-
ber immer von Schätzungen ausgehen. Ich kann Ihnen
jetzt nicht genau sagen, welche Schätzung an welcher
Stelle korrekt ist.
Wichtig ist aber der Hinweis, daß es Mehrstaatigkeit
in Deutschland gibt. Sie wissen auch, daß sich gerade im
Verfahren für Aussiedlerinnen und Aussiedler nach
1981 einiges, was die Hinnahme von Mehrstaatigkeit
anbelangt, verändert hat – das hängt nicht so sehr mit
der Bundesrepublik Deutschland, sondern mit den Ent-
sendestaaten zusammen –, so daß die Wahrscheinlich-
keit groß ist, daß wir mehr Fälle von Mehrstaatigkeit
haben, als man allenthalben nachweist.
Sie haben recht: Statistisch exakt ist dies nicht nach-
zuweisen. Deswegen habe ich der Fairneß halber an den
zwei Fallgruppen deutlich gemacht, wie schwer es ist,
mit solchen Zahlen zu argumentieren.
Eine
weitere Zusatzfrage, Herr Koschyk.
Herr Staatssekretär,
können Sie bestätigen, daß trotz dieses, wie Sie sagen,
erschwerten Verfahrens für Deutsche, die als Aussiedler
aus den GUS-Staaten zu uns kommen, aus der Staatsan-
gehörigkeit ihres Herkunftslandes entlassen zu werden,
sehr viele Deutsche dieses Verfahren auf sich nehmen
und dafür Kosten in Höhe von 700 DM bis weit über
1 000 DM in Kauf nehmen? Wäre es deshalb nicht sinn-
voll und richtig, wenn die Bundesregierung, nachdem
Sie selbst, Herr Staatssekretär, davon gesprochen haben,
daß bis in die 80er und 90er Jahre hinein von der dama-
ligen Sowjetunion und den MOE-Staaten ein anderes
Verfahren praktiziert wurde – bei Verlassen des Her-
kunftslandes war der automatische Verlust der fremden
Staatsangehörigkeit der Fall –, außenpolitische Anstren-
gungen unternehmen würde, um mit diesen Staaten wie-
der zu einem pauschalisierten Entlassungsverfahren oh-
ne Kosten für die Betroffenen und ohne bürokratischen
Aufwand, wie es von den betreffenden Staaten bis Ende
der 80er Jahre praktiziert worden ist, zu kommen?
F
Lieber Herr Kollege Koschyk,ich wäre froh gewesen, wenn Sie sich einmal unserenersten Entwurf zur Reform des Staatsangehörigkeits-rechts angeschaut hätten. Darin steht unter anderem, daßwir das Verfahren der Einbürgerung im Aussiedlerbe-reich vereinfachen und auch verkürzen wollen. Das wäreim übrigen auch ein Beitrag zur Verwaltungsvereinfa-chung.Ich würde mich freuen, wenn Sie zumindest dies andiesem Reformentwurf positiv würdigten.
Metadaten/Kopzeile:
1214 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
(C)
Ich rufe
die Frage 13 des Kollegen Ernst Hinsken auf:
Was will die Bundesregierung dagegen tun, den verstärktsteigenden Wechsel von illegal in die Bundesrepublik Deutsch-land Einreisenden an der deutsch-tschechischen Grenze einzu-dämmen?
Herr
Staatssekretär, bitte schön.
F
Herr Kollege Hinsken, die Bun-
desregierung wird verstärkt Personal, aber auch Material
an den deutschen Ostgrenzen, insbesondere an der
deutsch-tschechischen Grenze einsetzen. Der besonders
sensible Abschnitt des Bundesgrenzschutzamtes Chem-
nitz – ich weiß nicht, ob er Sie interessiert – wird derzeit
mit vier zusätzlichen Einsatzzügen aus den BGS-
Verbänden verstärkt. Zur Bekämpfung der unerlaubten
Einreise an der grünen Grenze im Lande Bayern im Zu-
ständigkeitsbereich des Bundesgrenzschutzamtes Schwan-
dorf wird neben den Regelkräften zusätzlich ein Ein-
satzzug der BGS-Verbände für Lageverschärfungen
ständig bereitgehalten.
Darüber hinaus erfolgt die Bekämpfung der uner-
laubten Einreise und der Schleusungskriminalität – dar-
auf legen wir sehr viel wert – in enger Abstimmung mit
den Polizeien der Länder, den Einsatzkräften der Bun-
deszollverwaltung sowie den Bediensteten der tschechi-
schen Grenzbehörden.
Eine Zu-
satzfrage, Herr Hinsken.
Gerne, Herr Präsident.
Herr Staatssekretär, mit Ihrer Aussage befinden Sie
sich auf dem richtigen Weg. Allerdings würde mich na-
türlich schon interessieren – ich bin unmittelbar betrof-
fen; mein Wahlkreis befindet sich dort –, wie viele zu-
sätzliche Stellen z. B. in Bayerisch Eisenstein, in
Schwandorf – das haben Sie eben genannt – oder in
Deggendorf gegebenenfalls neu geschaffen werden
könnten, um den Problemen, die augenscheinlich auf-
treten, begegnen zu können.
F
Lieber Herr Kollege Hinsken,
Sie müssen hierbei zwischen der Verstärkung des Ein-
zeldienstes und der Unterstützung des Einzeldienstes
durch Verbandskräfte unterscheiden; denn es ist beab-
sichtigt, daß wir in bestimmten Fällen flexibel reagieren
können. Was die Zahlen bezüglich der Personalsituation
anbelangt: Ich werde Ihnen die Zahlen zu jeder Stelle,
die Sie genannt haben, gerne im einzelnen nachreichen.
Ich denke, daß Sie dann auch zufrieden sind.
Eine
weitere Zusatzfrage, Herr Hinsken, bitte schön.
Herr Staatssekretär, be-
findet sich die Bundesregierung auf Grund dieser An-
gelegenheit mit der tschechischen Regierung in Kon-
takt? Und wenn ja: Ist bei diesbezüglichen Gesprächen
schon etwas herausgekommen?
F
Der Kontakt besteht. Sie haben
mit Ihrer Frage insofern einen wichtigen Punkt getrof-
fen, als wir zur Zeit die größten Probleme an dem betref-
fenden Grenzabschnitt haben.
Eine
weitere Frage der Kollegin Ulla Jelpke.
Herr Staatssekretär Körper, Sie
werden mir sicherlich bestätigen, daß – wie heute in den
Medien zu lesen ist – von den rund 40 000 illegal ein-
wandernden Menschen – das betrifft gerade die deutsch-
tschechische Grenze – viele Flüchtlinge aus dem Ko-
sovo kommen. Beabsichtigt die Bundesregierung, den
Flüchtlingen aus dem Kosovo einen anderen Status zu
geben? Sie wissen wahrscheinlich genauso gut wie ich,
daß diese Flüchtlinge wieder abgeschoben werden. Mei-
nes Erachtens besteht ein Regelungsbedarf, um diesen
Menschen einen legalen Aufenthaltsstatus zu ermögli-
chen. Gibt es dazu irgendwelche Planungen seitens der
Bundesregierung?
F
Liebe Frau Kollegin Jelpke, er-
stens ist festzuhalten, daß die Bundesregierung kein In-
teresse daran hat, mit irgendeiner Maßnahme illegale
Einreisen in die Bundesrepublik Deutschland zu fördern.
Es ist unsere Zielsetzung, illegale Einreisen einzudäm-
men. Deswegen haben wir beispielsweise auch be-
stimmte Konzeptionen geändert, was das Thema Bun-
desgrenzschutz und dessen Tätigkeit an der Grenze an-
belangt.
Was das Problem der Flüchtlinge aus dem Kosovo
anbelangt, so ist, wie ich denke, nicht nur die Bundes-
regierung gefragt. Vielmehr ist auch auf europäischer
Ebene die Frage zu stellen, wie man mit diesem Flücht-
lingsproblem umgehen soll und welche Entscheidungen
man zu treffen hat.
Eine
weitere Frage vom Kollegen Rose.
Herr Staatssekretär,
auf Grund Ihrer freundlichen Zusage an den Kollegen
Hinsken, Zahlen zu nennen, darf ich Sie fragen, ob Sie
auch so freundlich wären, dem Kollegen Kalb, der dafür
ebenfalls zuständig ist, und mir selber die entsprechen-
den Zahlen zum Grenzübergang Philippsreut zu nennen?
F
Lieber Herr Kollege Rose, Sie
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1215
(C)
(D)
haben schon die Erfahrung gemacht, daß ich, wenn ichhier die Zusage gegeben habe, eine detaillierte schrift-liche Antwort zu geben, dies auch tue. Sie waren mitmeiner Antwort auch zufrieden. Ich hoffe, auch dieseAnfrage befriedigend beantworten zu können; Sie be-kommen die Antwort umgehend. Sie sollten mir nurgemeinsam mit dem Kollegen Hinsken aufschreiben, umwelche Grenzübergänge und -abschnitte es sich genauhandelt. Dann bekommen Sie auch – „in alter Manier“,möchte ich fast sagen – ordentliches Zahlenmaterial.
Eine
weitere Frage des Kollegen Koschyk.
Herr Staatssekretär,
welche Rolle wird denn die Nähe zur deutsch-
tschechischen Grenze und das Problem der illegalen
Einwanderung bei den Überlegungen der Bundesregie-
rung zur BGS-Strukturreform spielen, und wann wird
die Bundesregierung ihre diesbezüglichen Überlegungen
abgeschlossen haben und die Gremien des Deutschen
Bundestages umfassend unterrichten?
F
Lieber Herr Kollege Koschyk,
diese Frage habe ich erwartet. Die neue Bundesregie-
rung hatte im Wahlkampf zugesagt, das BGS-Konzept
zu überprüfen. Deswegen haben wir beispielsweise alle
Personalentscheidungen ausgesetzt. Sie wissen, daß das
Personalkonzept in fünf Schritten hätte erfolgen sollen.
Die ersten zwei Schritte waren getan, als das sogenannte
Moratorium erfolgte.
Sie haben mich heute morgen schon einmal danach
gefragt. Ich werde Ihnen auch an dieser Stelle nichts
Genaues zum Standort Bayreuth sagen; denn die Bun-
desregierung wird ihr Ergebnis in der Woche nach dem
8. Februar ordnungsgemäß bekanntgeben. Ich lade Sie
heute schon ein, sich an diesen Informationen zu beteili-
gen. Sie werden von mir alle Informationen bekommen,
und ich werde versuchen, Ihnen jede Frage ordnungs-
gemäß und objektiv zu beantworten.
Weitere
Zusatzfragen liegen nicht vor.
Der Kollege Zeitlmann bittet, die Frage 14 schriftlich
zu beantworten.
Ich rufe die Frage 15 der Kollegin Pieper auf.
Wie viele Kurden halten sich in der BundesrepublikDeutschland gegenwärtig auf?
Herr Staatssekretär, bitte schön.
F
Liebe Frau Pieper, ich antworte
wie folgt: Die Herkunftsländer der in Deutschland
lebenden Kurden sind im wesentlichen fünf: Türkei,
Syrien, Irak, Iran und Armenien. Im Ausländerzentralre-
gister werden Ausländer aber nur mit ihrer Staatsange-
hörigkeit und nicht mit ihrer Volkszugehörigkeit erfaßt.
Aus diesem Grunde ist eine genaue Aussage über die
Zahl der in Deutschland lebenden Kurden nicht möglich.
Wollten Sie diese haben, müßten Sie die gesetzliche
Grundlage zum Ausländerzentralregister ändern.
Eine Zu-
satzfrage, Frau Pieper.
Trotzdem, Herr Staats-
sekretär, möchte ich die Bundesregierung gern fragen,
ob ihr die Zahl der sich in der Bundesrepublik Deutsch-
land aufhaltenden Kurden, die als militant eingestuft
werden, bekannt ist.
F
Herr Präsident, ich habe jetzt ein
Problem.
Die
nächste Frage habe ich gestellt. Ich bitte Sie, sie gleich-
wohl zu beantworten. Ich werde keine Zusatzfragen
stellen.
Ich rufe also die Frage 16 auf.
Wie viele Kurden schätzt die Bundesregierung als militantein?
F
Ich schließe die Frage des HerrnPräsidenten, der sie wortwörtlich so gestellt hat, ein. Wirsind eine gut vorbereitete Bundesregierung, deshalbkann ich Ihnen auch diese Antwort geben.
– Ich hoffe, daß Sie überhaupt keine Klagen darüberhaben, was unsere Vorbereitung anbelangt. Der KollegeKoschyk ist, glaube ich, jedenfalls ganz zufrieden.
Frau Kollegin Pieper, die PKK verfügt in Deutsch-land zur Zeit über einen Mitgliederbestand – das sindnatürlich Schätzungen, das sind keine objektiven Zah-len, die statistisch erfaßt sind – von zirka. 11 500 Perso-nen. Aus den europäischen Nachbarländern – Skandina-vien, Benelux, Frankreich, Großbritannien, Österreichund Schweiz – kommen nochmals ungefähr 5 000 Per-sonen hinzu. Eine Aufgliederung dieser Zahl in militanteund nicht gewaltbereite Personen ist schlichtweg nichtmöglich; allerdings ist davon auszugehen, daß die fest indie Organisation der PKK eingebundenen Personen aufAnweisung – Sie kennen die Strukturen – auch zu Ge-walttaten bereit sind.Soweit meine Antwort; konkreter ist sie nicht zu fas-sen.Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper
Metadaten/Kopzeile:
1216 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
(C)
Eine
weitere Zusatzfrage, Kollegin Pieper.
Ist der Bundesregierung
bekannt, wie viele von den militanten Kurden Mitglied
in der PKK sind?
F
Ich möchte sagen, daß der
größte Teil dieses Personenkreises auch Verbindungen
zur PKK hat.
Eine
weitere Zusatzfrage, Kollege Ramsauer.
Herr Staatsse-
kretär, ist Ihre vorletzte Antwort so zu interpretieren,
daß die 11 500 in Deutschland plus die 5 000 in den An-
rainerländern lebenden Kurden als potentiell militant
einzuschätzen sind?
F
Ich habe ja eben schon in meiner
Antwort deutlich gemacht, daß es sehr schwierig ist,
diesen Personenkreis in diejenigen, die potentiell ge-
walttätig sind, und in diejenigen, die es nicht sind, ein-
zuteilen. Das hängt natürlich auch von dem Grade ab,
inwieweit jemand in die Strukturen der PKK eingebun-
den ist. Im Anschluß an die Frage von vorhin könnte ich
sagen: Nicht jeder Kurde unterrichtet die Bundesregie-
rung über die Mitgliedschaft in der PKK. Das macht es
so schwierig, in dieser Frage eine Beurteilung vorzu-
nehmen. Es gibt aber einen engen Zusammenhang zwi-
schen der Einbindung in die Strukturen der PKK und der
Bereitschaft, zur Durchsetzung bestimmter politischer
Ziele Gewalt anzuwenden.
Gibt es
weitere Fragen dazu? – Das ist nicht der Fall. Damit ist
die Frage 16 ebenfalls beantwortet.
Wir kommen zur Frage 17 des Abgeordneten Dr. Ed-
zard Schmidt-Jortzig:
Wie beurteilt die Bundesregierung die jüngsten ÄußerungenAbdullah Öcalans im Hinblick auf mögliche gewalttätige Aktio-nen der PKK im Ausland sowie insbesondere in der Bundesre-publik Deutschland und gegen sonstige deutsche Einrichtungen,vor allem durch die Empfehlung Abdullah Öcalans an die PKK,den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen?
F
Herr Kollege Schmidt-Jortzig,
eine Ausweitung des bewaffneten Kampfes in der Tür-
kei erscheint insbesondere mit Blick auf die weiterhin
gegensätzlichen Positionen zwischen der PKK einerseits
und der türkischen Regierung andererseits nicht ausge-
schlossen. Es gibt derzeit aber keine Erkenntnisse, die
Anlaß zu der Vermutung geben, daß eine Wiederauf-
nahme von personen- oder objektbezogenen Anschlägen
in Westeuropa, besonders aber in der Bundesrepublik
Deutschland, zu erwarten ist.
Zusatz-
frage? – Bitte.
Herr Staats-
sekretär, das mag so sein. Ich möchte aber doch noch
auf die Person Öcalan zurückkommen. Sie kennen die
Äußerung, die er von außerhalb, nicht auf die Bundesre-
publik gemünzt, getan hat. Muß nach dieser Äußerung
die von ihm ausgehende Gefahr für den Rechtsfrieden
anders als bis dato eingeschätzt werden?
F
Herr Kollege Schmidt-Jortzig,
ich habe die Antwort vor dem Hintergrund der derzeiti-
gen Situation gegeben; darin waren auch die Aussagen
von Herrn Öcalan berücksichtigt. Ich kann hier nicht
mehr als eine Einschätzung der derzeitigen Lage kund-
tun. Danach haben Sie gefragt; dazu habe ich Ihnen eine
Antwort gegeben.
Zu einer
weiteren Zusatzfrage Herr Kollege Schmidt-Jortzig.
Ich würde
gerne noch einmal nachhaken: Es geht ja bei den Fragen
der F.D.P., die leider etwas auseinandergerissen wurden,
weil sie unterschiedlichen Ressorts zugeordnet wurden,
um den Komplex der Auslieferung Öcalans wegen der
ihm vorgeworfenen Rechtsbrüche. Die Art und Weise,
wie man da reagiert hat, war, wie wir finden, unzuläng-
lich. Danach ist ein neuer Sachverhalt eingetreten, weil
er nach seiner Ausreise aus Italien Äußerungen von sich
gegeben hat, die jedenfalls nicht der Stärkung des
Rechtsfriedens gedient haben. Könnten Sie sich dazu
äußern, ob man bei Kenntnis der Äußerungen, die er
nach seiner Ausreise aus Italien – wahrscheinlich Rich-
tung Nordosten – getan hat, seine Gefährlichkeit anders
eingeschätzt hätte als zu den Zeiten, als man darauf ver-
zichtete, einen Auslieferungsantrag zu stellen?
F
Ich will jetzt anderen Fragen
nicht vorgreifen, aber ich glaube, daß man bei einer Ein-
schätzung Öcalans vor und nach seiner Ausreise aus Ita-
lien nicht zu unterschiedlichen Ergebnissen kommt. Ich
glaube auch nicht, daß es im Hinblick auf die Sicher-
heitssituation der Bundesrepublik Deutschland große
Unterschiede zwischen vorher und nachher gibt.
Gibt esweitere Fragen dazu? – Das ist nicht der Fall.Wir kommen zur Frage 18 des Kollegen Detlef Parr:Wie beurteilt die Bundesregierung die Äußerung des Bun-desministers des Innern, Otto Schily, wonach die AuslieferungAbdullah Öcalans an die Bundesrepublik Deutschland den„Rechtsfrieden“ gefährdet hätte?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1217
(C)
(D)
F
Bundesminister Otto Schily
führte am 25. November 1998 im ZDF zum Fall Öcalan
wörtlich folgendes aus:
… da haben wir zunächst einmal gesagt, wir stellen
das Auslieferungsersuchen zurück, und man muß
prüfen, in welchem Rahmen Herr Öcalan vor Ge-
richt gestellt werden kann. Da gibt es ja verschie-
dene Möglichkeiten. Sie werden verstehen, daß das
Dinge sind, die einer sehr sorgfältigen Prüfung be-
dürfen, und auch die Tatsache berücksichtigt wer-
den muß, ob der Rechtsfrieden in Deutschland ge-
fährdet wäre,
ich bitte, den Konjunktiv zu beachten –
wenn das Verfahren hier stattfindet.
Dieses Zitat zeigt, daß die in der Frage enthaltene Unter-
stellung so nicht zutrifft.
Ich möchte aber noch ein paar Bemerkungen darüber
hinaus machen:
Die Gesamtzahl der Kurden in der Bundesrepublik
Deutschland beträgt derzeit etwa 500 000. Aber – dar-
über haben wir ja vorhin geredet – dies ist eine Schät-
zung. Es wird davon ausgegangen, daß etwa 10 Prozent
der kurdischen Bevölkerung in Deutschland bereit sind,
sich für Belange der PKK in Demonstrationen einzuset-
zen. Der Mitgliederbestand der PKK in Deutschland be-
trägt zur Zeit 11 500 Personen. Hinzu kommen – das
habe ich vorhin auch schon einmal gesagt – noch einmal
5 000 Personen aus den europäischen Nachbarländern.
Ich würde mich wiederholen, wenn ich noch einmal et-
was zu der Aufteilung in militante und nicht gewaltbe-
reite Personen sagen würde. Aber vor diesem Hinter-
grund ist die Entscheidung der Bundesregierung zu be-
urteilen, von einem Auslieferungsersuchen abzusehen.
Möchten
Sie eine Zusatzfrage stellen, Herr Parr? – Das ist nicht
der Fall. Gibt es weitere Fragen? – Bitte sehr, Herr Pro-
fessor Schmidt-Jortzig.
Lieber Herr
Kollege Körper, könnten Sie nicht doch noch einmal
erläutern, weshalb es den Rechtsfrieden – ich betone
ausdrücklich: den Rechtsfrieden – in Deutschland be-
einträchtigen sollte, wenn ein ordnungsgemäß ange-
klagter Straftäter, dessen Haftbefehl die zuständige
Staatsanwaltschaft noch einmal ausdrücklich bestätigt
und aktualisiert hat, tatsächlich vor Gericht gestellt wür-
de?
F
Lieber Herr Kollege Schmidt-
Jortzig, erstens ist es mir bei der Antwort darum gegan-
gen, Herrn Bundesminister Otto Schily korrekt zu zitie-
ren. Das war in der Frage nicht der Fall. Im zweiten Teil
meiner Antwort habe ich versucht, noch einmal deutlich
zu machen, vor welchem Hintergrund sich die Situation
dargestellt hat und mit welchen Motiven beispielsweise
auf das Auslieferungsbegehren verzichtet worden ist. Im
übrigen gehe ich davon aus, daß auf diese Rechtsfragen
bei der Beantwortung weiterer Fragen noch ausführlich
eingegangen werden wird.
Gibt es weitere
Fragen? – Bitte sehr, Herr Gilges.
Herr Parlamentarischer
Staatssekretär, gehen Sie denn davon aus, daß die alte,
die vergangene Bundesregierung unter dem ehemaligen
Justizminister und dem ehemaligen Innenminister eine
Auslieferung beantragt hätte, oder gehen Sie davon aus
– vielleicht wissen Sie es sogar –, daß die alte Regierung
genauso gehandelt hätte wie die neue und dem Opportu-
nitätsprinzip den Vorrang gegeben hätte, um den
Rechtsfrieden zu sichern?
F
Lieber Herr Kollege Gilges, Sie
wissen, daß ich mich von Berufs wegen im Alten Te-
stament ganz gut auskenne. Aber ich muß Ihnen sagen:
Trotzdem besitze ich nicht die prophetische Gabe, dar-
über zu entscheiden, ob der Fragesteller in seiner alten
Funktion als Justizminister diese Frage genauso ange-
gangen wäre, wie er es heute tut. Das müssen Sie ihn
wohl selbst fragen.
Vielen Dank,
Herr Staatssekretär Körper.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums der Justiz. Zur Verfügung steht der
Parlamentarische Staatssekretär Dr. Eckhart Pick.
Ich rufe die Fragen 19 und 20 des Abgeordneten Dr.
Peter Ramsauer auf:
Billigt die Bundesregierung das Inkasso der Gesellschaft fürmusikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungs-rechte , insbesondere der Bezirksdirektion München,für Musik anläßlich von Hochzeitsfeiern, und wenn nicht, wasgedenkt sie dagegen zu unternehmen?
Auf welcher Rechtsgrundlage kann die GEMA in Deutsch-land Gebühren für derartige Veranstaltungen erheben, geradeauch vor dem Hintergrund der grundlegenden Entscheidungdes Obersten Gerichtshofes Österreichs vom 27. Januar 1998– 4 Ob 347/97 a – zu Musikaufführungen bei Hochzeiten?
D
Herr Präsident, Herr KollegeDr. Ramsauer, die Wiedergabe von Musikwerken Dritterdurch Aufführungen oder mit Hilfe von Tonträgern istgenerell nur erlaubnis- bzw. vergütungspflichtig, wennsie öffentlich erfolgt. Eine Gruppe von Zuhörern ist je-doch nicht öffentlich im Sinne des Urheberrechts, wennder Personenkreis abgegrenzt ist und die Zuhörer „durchgegenseitige Beziehungen oder durch Beziehung zumVeranstalter persönlich untereinander verbunden sind“;so § 15 Abs. 3 des Urheberrechtsgesetzes.In der Regel ist davon auszugehen, daß bei Hoch-zeitsgesellschaften derartige persönliche Beziehungenzwischen Gästen und Veranstaltern bestehen. Die
Metadaten/Kopzeile:
1218 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
(C)
Wiedergabe von Musikwerken auf Hochzeitsveranstal-tungen ist daher regelmäßig nicht öffentlich. Im Einzel-fall ist es allerdings denkbar, daß eine Hochzeit bewußtöffentlich veranstaltet wird, zum Beispiel um eine ge-wisse Werbewirkung zu erreichen.Der Bundesregierung sind die Umstände des der Fra-ge offenbar zugrunde liegenden Einzelfalles nicht be-kannt, so daß zu dem in Ihrer Frage angesprochenen In-kasso der GEMA nicht näher Stellung genommen wer-den kann.Sie haben dann nach dem Urteil des österreichischenObersten Gerichtshofs gefragt. Wir haben uns bemüht,dieses Urteil zu erhalten. Es ist heute morgen eingegan-gen. Nach einer ersten Durchsicht scheint sich auch derOberste Gerichtshof in die Richtung zu bewegen, die Siemit Ihrer Fragestellung angestoßen haben. Auch hierging es um den Fall einer Hochzeit, allerdings mit 120geladenen Gästen. Davon waren rund 40 Personen Ver-wandte und rund 80 Personen Berufskollegen, Nachbarnoder Bekannte des Brautpaares. Die Hochzeitsfeier hatin einer Gaststätte stattgefunden, die auch öffentlich zu-gänglich war; sie war also nicht hermetisch abgeschlos-sen.Der Oberste Gerichtshof hat auch in diesem Fall dieÖffentlichkeit verneint. Insofern ist er zu dem Ergebnisgekommen, daß hier keine Zahlungsverpflichtung derbetreffenden Personen bestehe.Ich darf mit Ihrer Erlaubnis aus dem Urteil zitieren, indem es sehr markante Sätze gibt, die auf unsere Situati-on übertragbar sind:Eine Hochzeitsfeier ist typischerweise auf einen insich geschlossenen, nach außen abgegrenzten Per-sonenkreis abgestellt. Auch im vorliegenden Fallwaren sämtliche Gäste eingeladen worden und da-her mit dem einladenden Brautpaar verbunden.Weiter heißt es:Eine Hochzeitsfeier dient typischerweise ideellenZwecken.
Das deckt sich, Herr Kollege, völlig mit unserer Auffas-sung. Ich denke, daß diese Entscheidung in die Richtunggeht, die wir für richtig halten.
Zusatz-
frage, Herr Kollege Ramsauer.
Herr Staatsse-
kretär, angesichts der besonderen Hochzeitsgepflogen-
heiten im Freistaat Bayern möchte ich nachfragen, ob –
nach dem, was Sie dargelegt haben – auch bei Hochzei-
ten mit 500 oder in Einzelfällen sogar mehr Gästen, die
in Bayern durchaus üblich sind, von einer GEMA-
Gebührenfreiheit auszugehen ist?
D
Herr Kollege Dr. Ramsauer, ich
sagte Ihnen schon: Es kommt immer auf den Einzelfall
an. Das ist sicher die typische Antwort eines Juristen. Es
kommt darauf an, ob eine solche Hochzeitsfeier auf den
Bereich der Familie und der Freunde gerichtet ist oder
ob darüber hinaus, zum Beispiel zu Werbezwecken, die
Öffentlichkeit mit einbezogen wird. Man kann dabei
natürlich keine zahlenmäßige Begrenzung nennen. Ich
denke, daß bei der Entscheidung auch die Ortsüblichkeit
eine gewisse Rolle spielen wird.
Weitere
Zusatzfrage? – Bitte.
Das heißt, die
landesüblichen Gepflogenheiten müßten auch in die
Rechtsfindung mit einbezogen werden?
D
Ich gehe davon aus, daß nicht
nur die GEMA, sondern auch die Gerichte diese Ge-
sichtspunkte mit würdigen werden.
Dann möchte ich
noch eine zusätzliche Frage stellen. Sehen Sie eigentlich
das faktische Monopol der GEMA durch das Kartellamt
im Sinne des Verbraucherschutzes noch hinreichend
kontrolliert?
D
Sie wissen, daß die GEMA wie
andere Gesellschaften, die die Interessen von Urhebern
wahrzunehmen haben, dies natürlich auch im Interesse
der Betroffenen machen, die nicht in der Lage sind, im
Einzelfall zu kontrollieren, ob ihre Werke – zum Bei-
spiel musikalischer Art – öffentlich wiedergegeben wer-
den oder nicht. Insofern haben wir diese Konstruktion,
die ja auf gesetzlicher Basis besteht, hinzunehmen. Wir
werden die Entwicklung beobachten. Im Moment sehen
wir keine Veranlassung – wenn das Ihre Frage inten-
diert –, hier gesetzgeberisch einzugreifen.
Eine
weitere Zusatzfrage des Kollegen Brähmig.
Herr Staatssekretär,
zwei Zusatzfragen, die nicht den Freistaat Bayern betref-
fen, sondern das gesamte Bundesgebiet: Teilt die Bun-
desregierung die Auffassung, daß Hochzeitsfeiern und
andere Familienfeiern nicht öffentlich im Sinne des § 15
Abs. 3 des Urheberrechtsgesetzes sind – Sie sprachen
davon – und daß die GEMA diese Vermutung widerle-
gen muß?
D
Wenn die GEMA Gebühreneinfordert, muß sie natürlich nachweisen, daß eine öf-fentliche Veranstaltung stattgefunden hat. Insofern, den-ke ich, habe ich die Frage vorhin schon beantwortet. EsParl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1219
(C)
(D)
kommt auf den Einzelfall an. Es kommt insbesonderebei Hochzeitsfeierlichkeiten darauf an, daß es den fami-liären und den Freundeskreis betrifft und daß andere Ge-sichtspunkte – wie gesagt, zum Beispiel der Werbung –keine Rolle spielen.
Beabsichtigt die Bun-
desregierung, insbesondere auch unter dem Gesichts-
punkt des Verbraucherschutzes und der Familienförde-
rung, Hochzeitsfeiern und sonstige Familienfeiern, wie
nach dem genannten Urteil des Obersten Gerichtshofes
vom 27. Januar 1998 in Österreich bereits praktiziert,
von urheberrechtlichen Vergütungsansprüchen, insbe-
sondere der GEMA, freizustellen bzw. auf die Verwer-
tungsgesellschaften insoweit einzuwirken?
D
Die Entscheidung des Obersten
Gerichtshofes in Österreich ist eine parallele Entschei-
dung, die hier nicht unmittelbar Bindungswirkung ent-
faltet. Sie ist allerdings ein Hinweis, wie man diese Be-
stimmung auch in Deutschland auslegen könnte. Anson-
sten ist es zunächst Sache der GEMA und im Streitfall
der zuständigen Gerichte, über die Grundlage und die
Angemessenheit des Begehrens der GEMA zu entschei-
den.
Weitere
Zusatzfrage des Kollegen Hinsken.
Herr Staatssekretär, gilt
das, was Sie ausgeführt haben, jeweils nur für die erste
Hochzeit? Oder wie ist es, wenn jemand – ein Kollege
aus dem Bundestag zum Beispiel – das fünfte Mal hei-
ratet? Können wir dann alle geladen werden? Wird es
dann doch nicht als offizielle Veranstaltung deklariert?
D
Herr Kollege Hinsken, bei der
Auslegung des § 15 Abs. 3 des Urheberrechtsgesetzes –
um diese Bestimmung geht es ja – kommt es nicht dar-
auf an, ob es sich um die erste, die zweite oder im Ein-
zelfall die nachfolgenden Hochzeiten handelt. Entschei-
dend ist, ob diese Hochzeitsfeier so, wie vorhin be-
schrieben, im Freundeskreis stattfindet. Wenn ein Ehe-
paar dann den gesamten Bundestag einlädt, kann das
durchaus noch eine private Feier sein, ohne daß Vergü-
tungen fällig werden.
Weitere
Fragen? – Das ist nicht der Fall, so reizvoll diese Frage-
stellung ist.
Wir kommen zur Frage 21 des Kollegen Dr. Martin
Welche Regelungen hinsichtlich des sogenannten elektroni-schen Pressespiegels strebt die Bundesregierung im Rahmen dervorgesehenen Novellierung des Urheberrechtsgesetzes an?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
D
Zur Beantwortung Ihrer Frage,
Herr Dr. Mayer, möchte ich zunächst auf den vom Bun-
desministerium der Justiz vorgelegten Diskussionsent-
wurf eines fünften Gesetzes zur Änderung des Urheber-
rechtsgesetzes verweisen, welcher den Bundestagsfrak-
tionen bereits im Juli 1998 übersandt wurde.
Nach der derzeitigen Rechtslage dürfen Sprachwerke
wie Rundfunkkommentare und Zeitungsartikel in Zei-
tungen und in anderen den Tagesinteressen dienenden
Informationsblättern vervielfältigt und öffentlich wie-
dergegeben werden, soweit sie politische, wirtschaftli-
che oder religiöse Tagesfragen betreffen; § 49 des Urhe-
berrechtsgesetzes. Vervielfältigen bedeutet dabei aller-
dings die Herstellung von Papierkopien. Dies betrifft
darüber hinaus nur Beiträge mit einem eigenen, indivi-
duell schöpferischen Gehalt. Bloße Nachrichten und In-
formationen genießen ohnehin keinen urheberrechtli-
chen Schutz, da sie keine Werke im Sinne von § 2 Abs.
2 des Urheberrechtsgesetzes sind. Zum Ausgleich für
diese Nutzungen der Beiträge haben die Rechteinhaber
grundsätzlich einen Anspruch auf angemessene Vergü-
tung.
Mit der vorgeschlagenen Gesetzesänderung soll im
wesentlichen zusätzlich der sogenannte elektronische
Pressespiegel ermöglicht werden, das heißt die Weiter-
verbreitung der betreffenden Sprachwerke mit Hilfe von
elektronischen Datenträgern und Datennetzen. Zum
Schutz der Interessen der Rechteinhaber ist jedoch vor-
gesehen, daß die Online-Übertragung elektronischer
Pressespiegel nur gegenüber der sogenannten kleinen
Öffentlichkeit zulässig sein wird, das heißt nur gegen-
über einem bestimmten abgegrenzten Personenkreis. In
diesem Zusammenhang nenne ich das Stichwort „In-
house-Pressespiegel“. Die Rechteinhaber können außer-
dem die Nutzung ihrer Beiträge auch künftig durch An-
bringung eines entsprechenden Rechtevorbehaltes ver-
meiden. Insoweit soll die schon derzeit geltende
Rechtslage unverändert bleiben.
Die Einführung dieses elektronischen Pressespiegels
ist nach Auffassung der Bundesregierung erforderlich,
da es angesichts der Fülle der schon jetzt online ange-
botenen Informationen nicht mehr ausreicht, wenn sich
Nutzer im Wege von Online-Abfragen selbst Inhalte zu
bestimmten Themen heraussuchen können. Der elektro-
nische Pressespiegel entspricht damit auch den Forde-
rungen der Industrie, der Banken und der öffentlichen
Verwaltung. Er wird auch von Journalistenverbänden
akzeptiert.
Zusatz-
frage, Herr Kollege Mayer.
HerrStaatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß dieParl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick
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1220 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
(C)
gegenwärtige Rechtslage – oder vielleicht besser ausge-drückt: die gegenwärtige Rechtsunsicherheit – hinsicht-lich der elektronischen Pressespiegel dazu führt, daß de-ren Entwicklung in Deutschland wesentlich behindertwird?D
Es ist richtig, daß im Moment
Unsicherheit über die Rechtslage besteht. Deswegen
sieht dieser Entwurf eine entsprechende Regelung vor,
die ich angedeutet habe. Wir wollen mit dieser Regelung
für Rechtsklarheit sorgen.
Weitere
Zusatzfrage, Herr Mayer.
Herr
Staatssekretär, ist Ihnen bewußt, daß auch die Wieder-
gabe in öffentlichen Bibliotheken – also nicht nur die
Wiedergabe in Behörden, öffentlichen Einrichtungen
und Betrieben – einer öffentlichen Regelung bedarf?
Diese Rechtssicherheit ist eine wichtige Voraussetzung
dafür, daß die Information für den einzelnen Bürger zu-
gänglich wird.
D
Herr Dr. Mayer, ich stimme Ih-
nen zu: Es ist an der Zeit, daß Rechtsklarheit geschaffen
wird. Der Entwurf, von dem ich sprach, versucht, einen
Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Interessen
herzustellen. Er stammt ja bekanntlich von der vorheri-
gen Bundesregierung.
In diesem Zusammenhang wird natürlich auch die
Frage zu klären sein, inwieweit besondere Interessen öf-
fentlicher Einrichtungen, insbesondere Interessen der
Bibliotheken, zu berücksichtigen sind. Die Diskussion
über den entsprechenden Gesetzentwurf wird dies zei-
gen.
Gibt es
weitere Fragen? – Das ist nicht der Fall.
Wir kommen zur Frage 22 des Kollegen Andreas
In welcher Weise und wann war die Bundesregierung mitderangestrebten Auslieferung des im September 1998 in Frankreichgefaßten, in den Medien als Exterrorist bezeichneten Hans-Joachim Klein befaßt?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
D
Herr Kollege Schmidt, das Er-
suchen um Auslieferung von Hans-Joachim Klein aus
Frankreich ist zuständigkeitshalber vom hessischen Mi-
nisterium der Justiz gestellt worden. Die Bundesregie-
rung hat auf der Grundlage von § 74 Abs. 2 des Geset-
zes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen die
Ausübung ihrer Befugnis zur Entscheidung über die
Stellung von Auslieferungsersuchen an bestimmte ande-
re Staaten auf die Landesregierungen übertragen. Nach
der Zuständigkeitsvereinbarung zwischen der Bundesre-
gierung und den Regierungen der Länder vom 1. Juli
1993 war daher für die Stellung des Auslieferungsersu-
chens an Frankreich die Hessische Landesregierung zu-
ständig, da der Fahndungsausschreibung im Schengener
Informationssystem ein Haftbefehl des Amtsgerichts
Frankfurt am Main vom 6. Juli 1995 zugrunde lag.
Die Bundesregierung ist von der Festnahme und dem
Auslieferungsersuchen nach Maßgabe von Nr. 7 der Zu-
ständigkeitsvereinbarung unterrichtet worden, die vor-
sieht, daß sich die Landesregierungen in Fällen besonde-
rer politischer Bedeutung mit der Bundesregierung ins
Benehmen zu setzen haben.
Ihre Zu-
satzfrage, Herr Kollege.
Herr
Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, wann die Hessische
Landesregierung zum erstenmal mit dem Auslieferungs-
begehren befaßt war?
D
Darüber kann ich Ihnen im
Moment keine Auskunft geben. Ich sage Ihnen aber zu,
daß ich versuche, diese Zusatzfrage schriftlich zu be-
antworten.
Gibt es
eine weitere Zusatzfrage? – Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 23 des Kollegen Schmidt
auf:
Weshalb ist Hans-Joachim Klein bisher nicht nach Deutsch-land ausgeliefert worden, obwohl seine Festnahme über vierMonate zurückliegt?
D
Die französischen Justizbehör-
den haben die Erteilung einer Auslieferungsbewilligung
nach ihrem innerstaatlichen Recht zu prüfen. Eine Sach-
standsanfrage des hessischen Justizministeriums hat er-
geben, daß das zuständige Gericht in Frankreich voraus-
sichtlich in Kürze eine Entscheidung fällen werde. Die
mehrmonatige Verfahrensdauer ist im Hinblick auf
Frankreich nicht als ungewöhnlich zu bezeichnen.
Eine Zu-
satzfrage? – Das ist nicht der Fall. Gibt es weitere Fra-
gen dazu? – Auch das ist nicht der Fall.
Ich rufe die Frage 24 des Kollegen Norbert Geis auf:
Hat die Bundesregierung ein Interesse an einer schnellenAuslieferung von Hans-Joachim Klein nach Deutschland?
Herr Staatssekretär, bitte schön.
D
Sehr geehrter Herr KollegeDr. Martin Mayer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1221
(C)
(D)
Geis, die Bundesregierung ist an einer zügigen Ab-wicklung des Auslieferungsverfahrens mit Frankreichund an einer Überstellung des Verfolgten nachDeutschland interessiert. Die französischen Justizbehör-den und Gerichte haben über die Erteilung einer Auslie-ferungsbewilligung nach innerstaatlichem Recht zu ent-scheiden. Dies kann sich erfahrungsgemäß über mehrereMonate hinziehen. Von hier aus sind die Möglichkeiten,auf die Dauer des Verfahrens in Frankreich einzuwirken,begrenzt.
Eine Zu-
satzfrage, Herr Geis? – Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 25 des Kollegen Geis auf:
Erwartet die Bundesregierung von der Vernehmung vonHans-Joachim Klein nach seiner Auslieferung nach Deutschlandeine Aufklärung des Mordes an dem hessischen Wirtschafts-minister Heinz-Herbert Karry?
D
Welche konkreten Erkenntnisse
von einer Vernehmung Hans-Joachim Kleins erwartet
werden können, kann erst nach der Überstellung des
Verfolgten an die dortigen Justizbehörden beurteilt wer-
den.
Herr
Geis, bitte.
Ich habe eine Zusatzfra-
ge: Aus den Medien geht hervor, daß auch Österreich
ein Auslieferungsverlangen gestellt hat. Gibt es insoweit
Gespräche seitens unserer Regierung mit den zuständi-
gen Stellen der österreichischen Regierung und, wenn ja,
seit wann?
D
Herr Kollege Geis, mir sind
keine Gespräche mit der österreichischen Regierung be-
kannt. Es ist ja, wie ich soeben ausgeführt habe, das hes-
sische Justizministerium zuständig. Die Bundesregie-
rung ist insoweit im Moment nicht am Zuge, um mit den
österreichischen Behörden oder auch anderen in Kontakt
zu treten.
Gibt es
weitere Fragen dazu? – Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 26 des Kollegen Jörg van Es-
sen auf:
Welche Begründung gibt es dafür, daß die BundesrepublikDeutschland auf Konsultationen mit den Mitgliedstaaten desVN-Sicherheitsrates verzichtet hat, die über ein Ad-hoc-Tribunalim Falle von Abdullah Öcalan hätten entscheiden können?
D
Herr Kollege van Essen, die Er-
richtung eines Ad-hoc-Tribunals durch den VN-
Sicherheitsrat ausschließlich für ein Strafverfahren ge-
gen Abdullah Öcalan erschien nach eingehender Unter-
suchung und Gesprächen mit der italienischen Regie-
rung aus zeitlichen, rechtlichen und politischen Gründen
nicht als eine durchführbare Option für ein Strafverfah-
ren gegen Abdullah Öcalan.
Herr Staatssekretär, hat es
– außer mit der italienischen Regierung, die Sie gerade
erwähnt haben – überhaupt mit einer ausländischen Re-
gierung Konsultationen über die Lösung des Falles ge-
geben?
D
Es hat nicht nur mit der italieni-
schen Regierung, sondern auch auf der Ebene des Euro-
parats Gespräche gegeben. Insofern sind auch die Mit-
glieder des Europarats in diesen Prozeß einbezogen
worden, als es darum ging zu überprüfen, ob ein Ge-
richtshof verfügbar ist, der in einer überschaubaren Zeit
ein Verfahren gegen Herrn Öcalan betreiben könnte. Es
sind also sehr viele Gespräche mit unseren europäischen
Nachbarn geführt worden.
Weitere Zusatzfra-
ge? – Bitte, Herr Kollege van Essen.
Herr Staatssekretär, teilen
Sie die Auffassung von Staatsminister Volmer, der vor-
hin in dieser Fragestunde kundgetan hat, daß die Bun-
desregierung nicht endgültig auf die Auslieferung ver-
zichtet hat? Sind damit die Pressemitteilungen und auch
die entsprechenden Pressemeldungen falsch, nach denen
der, Bundeskanzler dem italienischen Ministerpräsiden-
ten Ende des letzten Jahres mitgeteilt hat, daß die Bun-
desregierung auf die Auslieferung verzichte?
D
Zu Ihrer Frage möchte ich sa-
gen, daß der Bundeskanzler gegenüber dem italienischen
Ministerpräsidenten – nach meiner Erinnerung war es
am 27. November letzten Jahres – die Aussage gemacht
hat, daß Deutschland auf ein Auslieferungsersuchen ge-
genüber Italien verzichte.
Bedeutet Ihre Aussage,
daß Sie die Aussage, die Staatsminister Volmer hier vor
wenigen Minuten gemacht hat, korrigieren?
D
Die Bundesregierung spricht
mit einer Stimme. Das, was ich gesagt habe, entspricht
meinem Kenntnisstand und übrigens auch meinem Ge-
wissen.
Das provoziert eineweitere Frage. Bitte sehr.Parl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick
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1222 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
(C)
Herr Staatssekretär, stimmen
Sie mir zu, daß die Aussagen zumindest als unterschied-
lich aufgefaßt werden könnten, wenn der Staatsminister
Volmer behauptet, die Bundesregierung habe nicht end-
gültig auf eine Auslieferung verzichtet, Sie aber be-
haupten, die Bundesregierung habe dies getan? Stimmen
Sie mir zu, daß man das mißverstehen kann?
D
Herr Kollege, ich habe ausge-
führt, daß der Bundeskanzler – und damit die Bundesre-
gierung – gegenüber seinem italienischen Kollegen die
Aussage getroffen hat, daß das Auslieferungsersuchen
gegenüber Italien nicht mehr relevant ist.
Vielen Dank. – Wir
kommen zur Frage 27 des Kollegen van Essen:
Welche gegenwärtigen Anstrengungen unternimmt die Bun-desregierung, um doch noch eine rechtsstaatliche strafrechtlicheVerfolgung der gegen Abdullah Öcalan erhobenen Vorwürfe zuerreichen?
Herr Staatssekretär, bitte sehr.
D
Herr Kollege van Essen, die
Bundesregierung hat sich bis zur Ausreise Abdullah
Öcalans aus Italien darum bemüht, ein Forum für ein
Strafverfahren gegen Herrn Öcalan zu finden. Im Rah-
men des Europarats wird derzeit im zuständigen Fach-
ausschuß an Regelungsmechanismen gearbeitet, die für
derartige Fälle Lösungen anbieten.
Möchten Sie eine
Zusatzfrage stellen? – Bitte sehr, Herr van Essen.
Herr Staatssekretär, mit
welchen Vorschlägen nimmt die Bundesregierung an
diesen Beratungen teil?
D
Wie Sie wissen, gibt es im
Rahmen des Europarats einen Ausschuß, der sich mit
internationalem Strafrecht beschäftigt. Dort wurde in
mehreren Runden – nach meiner Erinnerung zuletzt am
22. Dezember – die Frage erörtert, ob es im Rahmen des
Europarats eine Möglichkeit gibt, Herrn Öcalan vor Ge-
richt zu stellen. Das ist nach den bisherigen Eruierungen
nicht der Fall.
Herr van Essen, eine
weitere Zusatzfrage. Bitte schön.
Herr Staatssekretär, wel-
ches der denkbaren Modelle, zu einer rechtsstaatlichen
strafrechtlichen Verfolgung Öcalans zu kommen, präfe-
riert die Bundesregierung im Augenblick?
D
Die Bundesregierung über-
prüfte verschiedene Modelle. Sie wissen, daß es unter-
schiedliche Möglichkeiten gibt. Vorhin ist schon die
Möglichkeit angesprochen worden, daß auf Grund einer
Entschließung der Vereinten Nationen oder wenigstens
des Sicherheitsrats ein internationaler Gerichtshof einge-
setzt wird. Das hat aber die bekannten Schwierigkeiten.
Im übrigen müßten die betroffenen Länder auch entspre-
chende völkerrechtliche Vereinbarungen treffen.
Es gibt ferner das sogenannte Lockerbie-Modell, das
besagt, daß sich ein Staat bereit erklärt, auf Grund einer
Beschlußfassung der Vereinten Nationen einen solchen
Gerichtshof einzusetzen. Die Bundesregierung hat sich
auch in dieser Richtung bemüht.
Eine weitere Option ist – diese Möglichkeit haben wir
eben diskutiert –, daß man unter dem Dach des Europa-
rates einen Gerichtshof – nicht nur für Herrn Öcalan;
denn das wäre vermutlich ein Sondergericht und mit dem
Grundgesetz sehr schwer zu vereinbaren – einrichtet, der
künftig für solche Fälle zuständig wäre. In diese Richtung
gehen im Moment unsere besonderen Bemühungen.
Eine weitere Zusatz-
frage. Herr Schmidt-Jortzig, bitte.
Herr Staatsse-
kretär, wenn es so schwierig ist – darin stimme ich Ihnen
ausdrücklich zu –, einen solchen internationalen Strafge-
richtshof für Herrn Öcalan zu finden – sei es, daß man ihn
ad hoc bildet, dafür aber vorweg alle möglichen Sicher-
heitsratsmitglieder konsultieren müßte; sei es, daß man
ein entsprechendes Übereinkommen zu einer Errichtung
schließt; sei es, daß erst entsprechende Verhandlungen
seitens des Europarates geführt werden –: Ist es dann
nicht von vornherein ein wenig blauäugig oder zumindest
unrealistisch gewesen, auf diese Karte zu setzen, wo doch
die Frist für eine Auslieferung auf Grund des deutschen
Haftbefehls Ende September ablief? War es überhaupt
möglich, in dieser Zeitspanne die Errichtung eines für
Öcalan zuständigen Gerichts zu erreichen?
D
Ich glaube, ausschlaggebend
war nicht so sehr der Ablauf der Frist. Diese Frist hätte
von italienischer Seite nach innerstaatlichem Recht Itali-
ens durchaus verlängert werden können. Man hatte die
Hoffnung – auch die italienischen Behörden hatten sie –,
daß es in einer überschaubaren Zeitspanne gelänge,
einen solchen Gerichtshof zu finden. Dann wäre es na-
türlich auch für die italienischen Behörden leichter ge-
wesen – auch für die Gerichte –, Herrn Öcalan weiter in
Haft zu behalten, und man hätte ihn nicht in eine Art
lockeren Vollzug entlassen müssen.
Ich rufe nun Frage28 des Kollegen Walter Hirche auf:Ist die Bundesregierung der Ansicht, daß der internationaleHaftbefehl gegen den PKK-Führer Abdullah Öcalan aufrechter-halten bleiben soll?Herr Staatssekretär, bitte.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1223
(C)
(D)
D
Herr Hirche, gegen Herrn Ab-
dullah Öcalan besteht ein Haftbefehl des Ermittlungs-
richters beim Bundesgerichtshof wegen verschiedener
Tötungsdelikte. Dieser Haftbefehl ist nicht international
zur Fahndung ausgeschrieben.
Eine Zusatzfrage.
Herr Hirche, bitte.
Welche rechtsstaatliche
Kon
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Jetzt wollen
wir ihn vor Gericht stellen und möchten darauf bestehen,
daß er hier verurteilt wird“?
D
Ich glaube, es ist schon ein
Unterschied, ob eine Person auf Grund eines inter-
nationalen Haftbefehls zur Fahndung ausgeschrieben
ist oder ob es einen nationalen Haftbefehl gibt, sofern
der Gesuchte sich wieder in dem Land aufhält. Es han-
delt sich um eine grundsätzliche Entscheidung, ob man
nur mit einem nationalen Haftbefehl arbeitet oder ob
man den Gesuchten international zur Fahndung aus-
schreibt.
Im übrigen, Herr Hirche, war es ja nicht so, daß
Öcalan auf Grund des internationalen Haftbefehls welt-
weit zur Fahndung ausgeschrieben war; das hat auch
unsere Vorgängerregierung nicht gemacht. Vielmehr be-
schränkte sich der Haftbefehl zunächst auf bestimmte
Staaten. Er ist dann in das Informationssystem von
Schengen eingestellt worden, beschränkte sich also auch
von daher auf bestimmte Länder. Ich entnehme diesem
Vorgang, daß auch die Vorgängerregierung den interna-
tionalen Haftbefehl ganz bewußt auf bestimmte Staaten
beschränkt hat.
Herr Hirche, Ihre
zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, die
Bundesregierung hat sich bei der Behandlung des Falles
Öcalan in der Vergangenheit immer auf das Stichwort
„Rechtsfrieden“ berufen und deswegen auf einen Aus-
lieferungsantrag verzichtet. Sind Sie mit mir der Mei-
nung, daß nachträglich das Bestehen auf Rechtsverfol-
gung in Sachen Mykonos genauso hätte in Frage gestellt
werden können?
D
Ich denke, daß es durchaus
sachlich begründbar ist, einen Haftbefehl nur national
wirksam werden zu lassen; denn es gibt außenpolitische
und auch andere Gründe, die dafür sprechen, daß man
einen Haftbefehl nicht international verankert, sondern
auf den Bereich der Bundesrepublik beschränkt.
Herr Kollege Funke
zu einer Zusatzfrage. – Bitte sehr.
Herr Kollege Pick, ich teile
Ihre Auffassung, daß man dieses Opportunitätsprinzip
anwenden sollte. Warum aber haben Sie diesen Haftbe-
fehl nach der Konkretisierung – schon unter Ihrer Regie
– nicht international erweitert? Er war bereits internatio-
nal ausgeschrieben, beschränkte sich aber auf einige
Länder. Wenn auch die Frage des Rechtsfriedens viel-
leicht nicht die Rolle spielt wie im Fall Mykonos, so
sind hier in Deutschland doch eine ganze Reihe von
Straftaten begangen worden. Hier leben Kurden, die von
der PKK ganz besonders bedroht sind.
D
Der deutsche Haftbefehl ist am
19. November auf Antrag des Generalbundesanwalts
vom Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs erwei-
tert worden. Er ist unter anderem auf weitere Tötungs-
delikte erstreckt worden.
Schon damals ist die Diskussion um die Person Öca-
lans zwischen Italien und Deutschland sehr intensiv ge-
führt worden und die Entscheidung gefallen, ihn noch
nicht in das internationale Fahndungssystem einzustel-
len. Diese Auffassung hat sich auch durch die acht Tage
später erfolgte Erklärung der Bundesregierung gegen-
über Italien bestätigt.
Sie haben noch eine
Zusatzfrage? – Bitte sehr, Herr Schmidt-Jortzig.
Herr Kollege
Pick, ich komme noch einmal auf die Frist zurück. War es
nicht wenig realistisch, darauf zu setzen, daß die Italiener
mit eigenen Mitteln eine Verhaftung Öcalans betreiben
würden, da Öcalan in Italien auf Grund des deutschen
Haftbefehls verhaftet worden ist und er in Italien keine
Straftaten begangen hat, also keine Vorwürfe ihm gegen-
über existierten? War es nicht realistischer, weil nur der
deutsche Haftbefehl die Verhaftung ausgelöst hat, daß mit
Ablauf dieser Frist auch die Freilassung erfolgen würde?
D
Herr Kollege Schmidt-Jortzig,
es bestand von Anfang an Einigkeit zwischen den ita-
lienischen und den deutschen Behörden, eine internatio-
nale Lösung zu suchen. Auf Grund dieser gemeinsamen
Auffassung sind die unterschiedlichsten Überlegungen
vorgenommen worden.
Im übrigen hätte aus unserer Sicht auch nach dem in-
nerstaatlichen Recht Italiens die Möglichkeit bestanden,
Herrn Öcalan vor ein italienisches Gericht zu stellen.
Wir kommen nun zuFrage 29 des Kollegen Rainer Funke:Trifft es zu, daß die Bundesregierung auf ein Auslieferungs-ersuchen gegenüber Italien verzichtet hat, weil der PKK-FührerAbdullah Öcalan in keinem Falle einer Strafverfolgung entgehenwerde?Herr Staatssekretär, bitte.
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1224 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
(C)
D
Herr Kollege Funke, die Bun-
desregierung hat auf ein Auslieferungsersuchen an die
italienische Regierung aus einer Reihe von Gründen
verzichtet. Insbesondere sollte der türkischen Regierung
der Vortritt gelassen werden, eine rechtsstaatliche Straf-
verfolgung Öcalans zu gewährleisten, weil ihm in der
Türkei die schwersten Straftaten vorgeworfen werden.
Darüber hinaus waren Belange der inneren Sicherheit
in Deutschland zu berücksichtigen. Außerdem hat sich
die Bundesregierung gemeinsam mit der italienischen
Regierung darum bemüht, eine internationale Lösung zu
finden, um Herrn Öcalan umfassend zur Rechenschaft
zu ziehen.
Eine weitere Frage,
Herr Kollege Funke.
Herr Staatssekretär, Sie ha-
ben vorhin ausgeführt, daß es keine realistischen Mög-
lichkeiten gibt, hier einen internationalen Strafgerichts-
hof einzusetzen. Man ist sich darüber im klaren, daß ei-
ne Auslieferung in die Türkei wegen der möglichen
Verhängung der Todesstrafe nur schwer möglich ist. In-
soweit verstehe ich nicht ganz die Auffassung der Bun-
desregierung, daß Herr Öcalan in keinem Fall einer
Strafverfolgung entgehen würde. War es von der Bun-
desregierung realistisch, zu glauben, daß in irgendeinem
Land der Welt eine Strafverfolgung möglich ist?
D
Herr Funke, ich sagte Ihnen
schon vorhin, daß in den vergangenen Monaten unter-
schiedlichste Optionen geprüft worden sind. Die Bun-
desregierung ist nach wie vor der Auffassung, daß es in
solchen Fällen eine Möglichkeit geben muß, in welcher
Frist auch immer, Personen zur Rechenschaft zu ziehen.
Insofern gehen unsere Bemühungen weiter. Es ist nicht
auszuschließen, daß Herr Öcalan eines Tages etwa vor
einen Gerichtshof zitiert wird.
Eine zweite Zusatz-
frage des Kollegen Funke. Bitte sehr.
Sie formulieren sehr hübsch:
Es „muß“ solch eine Möglichkeit der Strafverfolgung
geben. Vielleicht sollte es besser heißen: „müßte“; denn
es gibt noch keine. Die Bundesregierung ist noch im
Dezember davon ausgegangen, daß eine Strafverfol-
gungsmöglichkeit besteht. Das war auch die Erklärung
gegenüber dem italienischen Ministerpräsidenten. Wel-
che konkreten Strafverfolgungsmöglichkeiten hat der
Bundeskanzler damals gesehen?
D
Ich weiß nicht, was der Bun-
deskanzler ansonsten gesagt hat. Er hat für die Bundes-
regierung gegenüber der italienischen Regierung zum
Ausdruck gebracht, daß die Bundesrepublik Deutsch-
land auf ein Auslieferungsersuchen derzeit verzichtet.
Eine weitere Zusatz-
frage. Der Kollege von Klaeden, bitte sehr.
Herr Staatsse-
kretär, für die Bundesregierung hat in der Debatte zu
diesem Thema Kanzleramtsminister Hombach hier im
Plenum erklärt, daß sich die Alternative „Freilassung
oder Auslieferung“ im Falle Öcalan nicht mehr gestellt
habe. Das ist dem Protokoll zu entnehmen. Deswegen
möchte ich die Frage stellen: Auf welche Annahme hat
sich diese Aussage gestützt, und wie ist es dann doch zur
Freilassung gekommen?
D
Aus der Sicht der Bundesregie-
rung hätte der Verzicht der Bundesrepublik auf das
Auslieferungsbegehren nicht automatisch die Folge ha-
ben müssen, daß die italienischen Behörden Herrn Öca-
lan freilassen.
Eine weitere Zusatz-
frage. Der Kollege Schmidt-Jortzig, bitte sehr.
Da Sie, sehr
verehrter Herr Kollege, einräumen mußten, daß es in der
Tat keine andere realistische Möglichkeit der Strafver-
folgung von Herrn Öcalan gab, als die Auslieferung
nach dem deutschen Haftbefehl zu beantragen: Stimmen
Sie mir zu, daß bei der dann sehr schnellen Rücknahme
aller Strafverfolgungsanstrengungen der Bundesrepublik
Deutschland ein Schatten auf Deutschland hätte fallen
können, obwohl wir im Zusammenhang mit dem ständi-
gen internationalen Strafgerichtshof in Rom eine Hal-
tung an den Tag gelegt haben, mit der Deutschland auch
im internationalen Kreise viel Anerkennung gefunden
hat: alles zu tun, um strafbar gewordene Politiker einer
strafrechtlichen Verantwortung zuzuführen?
Zur Beantwortung,
Herr Staatssekretär.
D
Herr Schmidt-Jortzig, die Bun-desregierung befindet sich im Einklang mit ihren Part-nern, daß der Terrorismus international geächtet werdenmuß und daß entsprechende Straftaten verfolgt und dieTäter verurteilt werden müssen. Insofern sehe ich nicht,daß ein Schatten auf unser Verhältnis zu den ausländi-schen Partnern gefallen wäre.Wir bemühen uns nach wie vor – diese Bemühungenlaufen noch, insbesondere, wie ich sagte, auf der Ebenedes Europarates, weil es uns in dieser Richtung am sinn-vollsten erscheint –, hier einen Mechanismus zu instal-lieren, der künftig für solche Fälle zuständig ist. Es istalso nicht ausgeschlossen, daß sich Herr Öcalan in eini-ger Zeit einem Forum stellen muß.Im übrigen weise ich noch einmal darauf hin, daß dieEinstellung eines nationalen Haftbefehls in ein interna-tionales System keinen Anspruch darstellt, daß dieses
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1225
(C)
(D)
Auslieferungsersuchen später auch wirklich geltend ge-macht wird. Das ergibt sich aus allen Regeln des Völ-kerrechts. Es hängt immer von der rechtlichen und poli-tischen Entscheidung der Regierungen ab, ob sie voneinem Auslieferungsersuchen dann auch tatsächlich Ge-brauch machen. Es ist also eine eigenständige Entschei-dung, ob im Einzelfall an dem Auslieferungsersuchenfestgehalten wird.
Eine weitere Zusatz-
frage. – Herr Kollege, bitte sehr.
Würden Sie mir zustimmen,
Herr Staatssekretär, daß die von Ihnen eben geschilderte,
sowohl von der deutschen als auch von der italienischen
Regierung beabsichtigte Befassung der europäischen
Ebene mit der politischen Problematik überfällig war,
weil es auch um die Frage geht, wie die türkische Regie-
rung mit Minderheiten umgeht, und daß es hier erhebli-
che Versäumnisse in der deutschen Politik zu beklagen
gibt, es sei denn, man betrachtete in diesem Zusammen-
hang die Lieferung von Waffen in die Türkei als einen
politischen Segen?
Herr Staatssekretär.
D
Herr Kollege, ich mache noch
einmal deutlich, daß die Bundesregierung – wie übri-
gens auch ihre Vorgängerregierung – auch angetreten
ist, um den internationalen Terrorismus zu bekämpfen.
Insofern stehen wir sicher in einer Kontinuität. Wir wer-
den uns weiter bemühen, den Konflikt, um den es ja
hinter der Person des Herrn Öcalan geht, auch dort zum
Gegenstand zu machen, wo er eigentlich hingehört,
nämlich vor einen international bestimmten Gerichtshof.
Es besteht Einigkeit mit den italienischen Partnern, daß
das zumindest hinsichtlich der Person Öcalans die sinn-
vollste Lösung des Problems wäre.
Wir kommen nun
zur Frage 30 des Kollegen Rainer Funke:
Sieht die Bundesregierung weiterhin die Voraussetzung füreinen internationalen Haftbefehl gegen Abdullah Öcalan als ge-geben an?
Herr Staatssekretär, bitte.
D
Herr Kollege Funke, gegen
Abdullah Öcalan besteht ein Haftbefehl des Ermittlungs-
richters beim Bundesgerichtshof wegen verschiedener
Tötungsdelikte. Dieser Haftbefehl ist, wie ich schon ge-
sagt habe, nicht international zur Fahndung ausgeschrie-
ben.
Nachdem die Bundesregierung nach reiflicher Erwä-
gung des Für und Wider eines Auslieferungsersuchens
an Italien der italienischen Regierung mitgeteilt hatte,
auf eine Auslieferung Abdullah Öcalans nach Deutsch-
land zu verzichten, war die Aufrechterhaltung der inter-
nationalen Fahndungsausschreibung nicht mehr sachge-
recht. Eine internationale Ausschreibung zur Festnahme
ist nur dann zweckmäßig, wenn der ausschreibende
Staat die Absicht hat, um die Auslieferung des Verfolg-
ten zu ersuchen. Mit der Entscheidung, von einem Aus-
lieferungsersuchen in diesem Fall abzusehen, hat sich
insoweit die internationale Fahndungsausschreibung zur
Festnahme erübrigt.
Eine Zusatzfrage,
bitte sehr.
Für den Fall, daß – aus wel-
chen Gründen auch immer – Herr Öcalan in die Bundes-
republik Deutschland kommt, wäre der Haftbefehl in
Deutschland nach wie vor gültig. Würde er hier voll-
streckt werden?
D
Wir haben hier einen nationalen
Haftbefehl. Es wäre Sache der zuständigen Justizbehör-
den, der Staatsanwaltschaft und des zuständigen Ge-
richts, Herrn Öcalan hier vorläufig festzunehmen.
Zweite Zusatzfrage,
Herr Kollege. Bitte.
Warum würde die Bundes-
regierung, falls Herr Öcalan in einem befreundeten aus-
ländischen Staat gefaßt würde, beispielsweise in Italien,
nicht die Überstellung in die Bundesrepublik Deutsch-
land verlangen, um diesen nationalen Haftbefehl hier zu
vollstrecken?
D
Herr Funke, dann würde sich
dieselbe Situation ergeben, wie sie jetzt gegenüber un-
serem Partner Italien besteht. Auch in diesem Falle
müßte die Bundesregierung entscheiden, ob sie ein
Auslieferungsersuchen stellt. Im Moment besteht, wie
ich schon gesagt habe, kein internationaler Haftbefehl.
Es müßte gefragt werden, ob dieser Haftbefehl wieder
international eingestellt würde. Es wäre dann wieder
eine Entscheidung der Bundesregierung, ob sie von ei-
nem Auslieferungsersuchen Gebrauch macht oder
nicht.
Eine zweite Zusatz-
frage. Bitte sehr.
Warum würde die Bundes-regierung bei einer Überstellung, zum Beispiel ausFrankreich, von der Vollstreckung in der Bundesrepu-blik Deutschland keinen Gebrauch machen wollen? Ichsehe keinen Unterschied zwischen der Überstellung ausdem Ausland in die Bundesrepublik, der Verhaftung inder Bundesrepublik Deutschland und der anschließendenVollstreckung. Wo ist der Unterschied?Parl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick
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1226 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
(C)
D
Herr Funke, ich habe vorhin
darauf hingewiesen, daß einer der wesentlichen Gründe
dafür, den internationalen Haftbefehl zu löschen, war,
daß wir der Auffassung waren, daß eine internationale
Lösung angemessen ist, daß etwa ein internationaler
Gerichtshof die richtige Instanz wäre, um über Herrn
Öcalan, der nach wie vor die Unschuldsvermutung für
sich beanspruchen darf, zu urteilen. Insofern ist die
Situation ähnlich wie die im Falle Italiens zu beur-
teilen.
Nun kommen wir
zur Frage 31 des Kollegen Detlef Parr. Der Kollege Parr
ist nicht da. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsord-
nung vorgesehen.
Wir kommen zu Frage 32 des Abgeordneten Dr.
Westerwelle:
Seit wann ist die Bundesregierung darüber informiert, daßAbdullah Öcalan Italien verlassen würde bzw. verlassen hat?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
D
Herr Kollege Westerwelle, zu
Ihrer ersten Frage: Der Bundesregierung ist auf Anfrage
in der Nacht des 16. Januar 1999 von der italienischen
Regierung bestätigt worden, daß Abdullah Öcalan Ita-
lien verlassen hat. Zuvor wurde die Bundesregierung
von der italienischen Regierung nicht unterrichtet.
Erste Zusatzfrage,
Herr Dr. Westerwelle. Bitte.
Wenn die deut-
sche Bundesregierung nicht darüber unterrichtet wurde,
daß Herr Öcalan Italien verläßt: Ist es richtig, daß sich
ein Beauftragter der Bundesregierung am Tag der Aus-
reise von Herrn Öcalan in Rom zu Gesprächen mit der
italienischen Regierung aufgehalten hat?
D
Herr Westerwelle, diese Frage
kann ich nicht beantworten; ich kann das nicht bestäti-
gen. Ich weiß nur, daß die Bundesregierung in der Nacht
– möglicherweise von der von Ihnen angesprochenen
Person – unterrichtet wurde. Ich sage noch einmal: Die
Bundesregierung hat diese Frage an die italienische Re-
gierung gestellt.
Zweite Zusatzfrage,
Herr Dr. Westerwelle.
Wenn Sie sagen,
Sie könnten es nicht bestätigen, sagen Sie das dann des-
halb, weil Sie es aus eigener Anschauung nicht wissen?
Aber es stimmt, daß Sie es auch nicht ausschließen kön-
nen? Sie haben darüber also keinen eigenen Erkenntnis-
stand?
D
Richtig.
Ich rufe die Frage 33
des Abgeordneten Dr. Westerwelle auf:
Werden Abdullah Öcalan auch in anderen europäischenLändern Morde oder andere schwere Straftaten vorgeworfen,ohne daß diese Länder PKK-Chef Abdullah Öcalan internationalzur Festnahme ausgeschrieben hätten?
Zur Beantwortung steht wiederum der Parlamentari-
sche Staatssekretär Pick zur Verfügung.
Herr Staatssekretär, bitte.
D
Herr Kollege Dr. Westerwelle,
der Bundesregierung ist nicht bekannt, ob Abdullah
Öcalan außer in der Türkei in anderen europäischen
Ländern Morde oder andere schwere Straftaten vorge-
worfen werden.
Die erste Zusatz-
frage, Herr Dr. Westerwelle.
Wenn die Bundes-
regierung einen eigenen internationalen Haftbefehl aus-
geschrieben hat und ihn auch vollstrecken möchte – bis-
lang wollte sie ihn vollstrecken –, wie kann es dann sein,
daß der Bundesregierung keine Erkenntnisse über ent-
sprechende Strafverfolgungsvorhaben in anderen Län-
dern vorliegen?
D
Der Bundesregierung wäre es
natürlich ein leichtes, diese Dinge zu klären, wenn
solche internationalen Haftbefehle zum Beispiel in das
Schengener System eingestellt oder über Interpol be-
kannt geworden wären. Der Bundesregierung ist bis
heute nichts bekannt geworden.
Sie haben noch eine
Zusatzfrage, Herr Dr. Westerwelle.
Wann wird denn
der Bundesregierung voraussichtlich bekannt sein, ob
Herrn Öcalan auch in anderen Ländern – vor allen Din-
gen in anderen europäischen Ländern – Straftaten vor-
geworfen werden? Es ist doch eine außerordentlich rele-
vante Frage, ob man sich mit anderen Ländern abstim-
men muß. Ich bin, offen gestanden, ein wenig geplättet,
daß Sie sagen, Sie wüßten nicht, ob Herrn Öcalan auch
in anderen Ländern relevante Straftaten vorgeworfen
werden. Das wäre doch eigentlich das erste, was man
klären müßte.
D
Herr Dr. Westerwelle, für dieTürkei ist das zweifellos zutreffend. Der Bundesregie-rung ist im Rahmen ihrer Beratungen, die mit Italien
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1227
(C)
(D)
und, wie schon gesagt, mit der Türkei geführt wurden,nicht bekannt geworden, daß Herrn Öcalan auch inanderen europäischen Ländern entsprechende schwereVorwürfe gemacht wurden.
Das schließt nicht aus, daß die Bundesregierung solcheInformationen in Zukunft erhält. Bisher ist das jedenfallsnicht geschehen.
Jetzt kommt eine
Zwischenfrage des Kollegen Dr. Schmidt-Jortzig. Bitte
sehr.
Herr Staats-
sekretär, wenn es richtig ist, daß der Bundesregierung
kein anderer Staat bekannt ist, der eigene strafrechtliche
Vorwürfe gegen Öcalan erhebt, wie kann dann der feste
Glaube der Bundesregierung begründet werden, daß es
eine internationale Strafverfolgung von Öcalan geben
wird?
D
Herr Kollege Schmidt-Jortzig,
die Frage Ihres Kollegen Westerwelle bezog sich auf
Morde und andere schwere Straftaten. Dazu habe ich
ausgeführt, daß der Bundesregierung Begehren anderer
Staaten, außer der Türkei, nicht bekannt sind. Das
schließt nicht aus, daß es diese gibt. Der Regierung sind
sie aber nicht bekannt.
Unabhängig von dieser Frage bemühe sich die Bun-
desregierung, ein internationales Forum zu schaffen. Bei
einem solchen internationalen Forum würden sich dann
auch die entsprechenden Staaten melden. Bisher sind der
Bundesregierung keine Initiativen in dieser Richtung
bekannt.
Eine Zusatzfrage des
Kollegen Hirche.
Herr Staatssekretär, hat
denn die Bundesregierung im Hinblick auf die Rechts-
situation nicht nachgeforscht oder andere Staaten ge-
fragt, ob Haftbefehle vorliegen und wie die juristische
Auffassung zu diesem Fall ist?
D
Herr Hirche, mir ist nicht be-
kannt, ob eine solche Frage in irgendeinem Gremium
gestellt worden ist. Ich gehe davon aus, daß in Anbe-
tracht der vielfältigen Bemühungen der Bundesregie-
rung, zum Beispiel auf der Ebene des Europarats, be-
kannt geworden wäre, wenn es auch von anderen
Staaten entsprechende Haftbefehle geben würde. Ich
bin mir eigentlich sicher, Herr Hirche, daß uns das im
Rahmen unserer Konsultationen bekannt geworden
wäre.
Ich rufe die Frage 34
der Kollegin Ulrike Flach auf:
Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über den ge-genwärtigen Aufenthaltsort von PKK-Führer Abdullah Öcalan?
Auch zu deren Beantwortung steht Herr Staatssekre-
tär Pick zur Verfügung. Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
D
Frau Kollegin Flach, die Bun-
desregierung hat keine gesicherten Erkenntnisse über
den gegenwärtigen Aufenthaltsort von Herrn Abdullah
Öcalan.
Eine Zusatzfrage,
Frau Kollegin.
Herr Staatssekretär, erlauben
Sie mir als Nichtjuristin die Frage: Warum hat es kei-
nerlei Beschattung gegeben, so daß Herr Öcalan einfach
über Nacht verschwinden konnte?
D
Frau Kollegin, dafür sind nach
dem Völkerrecht zunächst einmal die italienischen Be-
hörden zuständig. Die Bundesregierung beteiligt sich
nicht an entsprechenden Spekulationen darüber, wer
wen wie überwacht.
Eine zweite Zusatz-
frage, Frau Kollegin.
Habe ich Sie richtig verstan-
den, daß es in diesem Falle auch keine Bitte um Amts-
hilfe gegeben hat?
D
Der Bundesregierung ist nicht
bekannt, wo sich Herr Öcalan aufhält. Das schließt auch
die Quellen ein, die Sie offensichtlich gemeint haben.
Vielen Dank.Die Frage 35 des Kollegen Otto Solms soll schriftlichbeantwortet werden.Ich rufe jetzt die Frage 36 des Kollegen Eckart vonKlaeden auf:Bis wann wird nach der Planung der Bundesregierung dasGesetzgebungsverfahren zu der von der Bundesministerin derJustiz auf der Justizministerkonferenz am 5. November 1998 er-folgten Ankündigung, durch die unverzügliche Änderung derbisher entgegenstehenden Vorschriften des Gesetzes über dasBundeszentralregister für die alsbaldige Übermittlung der für dieErfassung verurteilter Schwerstkrimineller erforderlichen Datenfür den Aufbau der Gen-Datei beim Bundeskriminalamt zu sor-gen, abgeschlossen sein, d. h. bis wann sollen neben Wissen-schaftlern auch Landespolizeien bzw. Staatsanwaltschaften beimBundeszentralregister einen Suchlauf beantragen können?Zur Beantwortung steht der Staatssekretär Pick zurVerfügung. Herr Staatssekretär, bitte.Parl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick
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1228 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
(C)
D
Herr von Klaeden, die Bundes-
regierung hat den Entwurf des Bundesministeriums der
Justiz zur Änderung des DNA-Identitätsfeststellungs-
gesetzes am 20. Januar 1999 beschlossen. Die Bundes-
regierung wird alles daransetzen, daß dieser Entwurf so
schnell wie möglich beraten und verabschiedet wird.
Angesichts der bestehenden Termine im Bundesrat und
im Bundestag sowie in den zu beteiligenden Ausschüs-
sen gehe ich derzeit davon aus, daß eine Verkündung
des Gesetzes etwa um die Jahresmitte erfolgen kann.
Dies setzt allerdings eine zügige Beratung – vor allem in
den Ausschüssen – voraus.
Es gibt keine Zu-
satzfragen. Vielen Dank.
Ich rufe die Frage 37 des Kollegen von Klaeden auf:
Wie viele Einzelanfragen insgesamt müßten schätzungsweisevon den Länderpolizeibehörden bzw. Staatsanwaltschaften beimBundeszentralregister zur Erfassung der sog. „Altfälle“ zumAufbau der DNA-Analyse-Datei gestellt werden, um abzuklä-ren, ob im Zusammenhang mit Straftaten von erheblicher Be-deutung die Möglichkeit und Notwendigkeit einer molekularge-netischen Untersuchung besteht, wenn der Suchlauf im Bundes-zentralregister nicht möglich wird?
Auch zur Beantwortung dieser Frage steht Herr
Staatssekretär Pick zur Verfügung. Bitte sehr, Herr
Staatssekretär.
D
Herr von Klaeden, die
Möglichkeit, daß der Suchlauf im Bundeszentralregi-
ster nicht ermöglicht wird, sehe ich derzeit nicht. Der
Frage kommt deshalb eine rein theoretische Bedeutung
zu.
Eine überschlägige Ermittlung des Bundeszentralre-
gisters derjenigen Personen, die mindestens eine Eintra-
gung nach dem von der Bundesregierung vorgeschlage-
nen Katalog aufweisen, hat ergeben, daß mehrere hun-
derttausend Datensätze vorhanden sind. In diesem Um-
fang müßten nach der derzeitigen Rechtslage in dem von
Ihnen unterstellten Fall Einzelanfragen unter Angabe der
Namen gestellt werden.
Es gibt keine Zu-
satzfragen.Vielen Dank.
Ich darf mich sicher in Ihrer aller Namen bei Herrn
Staatssekretär Pick für die Mühe bedanken, die er sich
mit der Beantwortung der Fragen gemacht hat. Das ist ja
ein schwerer Job. Herzlichen Dank dafür.
Ich darf noch hinzufügen, daß die Frage 14 schriftlich
beantwortet wird. Wahrscheinlich ist das schon akten-
kundig, aber ich erwähne es noch einmal.*)
Die Fragestunde ist damit beendet.
––––––––*) Die nicht behandelten Fragen werden schriftlich beantwortet. DieAntworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.
Haltung der Bundesregierung zum Noten-
wechsel mit Frankreich und Großbritannien
zur friedlichen Nutzung der Kernenergie und
zu seiner rechtlichen Bindungswirkung
Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat der Kollege Dr. Rexrodt. Bitte sehr.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Über den außenpolitischenund europapolitischen Schaden, den die Bundesregie-rung mit ihrem unkoordinierten und unverantwortlichenVorgehen in Sachen Atomausstieg angerichtet hat, ist indiesem Haus und vor allem bei unseren europäischenPartnern schon viel gesagt worden. Da ist ein Flurscha-den ersten Ranges entstanden.Bevor ich darauf eingehe, möchte ich aber zunächstnoch einmal die innenpolitische Dimension darstellen.Dabei geht es nicht um die Frage „Ausstieg ja odernein“. Ich halte den Ausstieg, wie er jetzt angelegt ist,sowieso für einen Fehler; da die Kernenergie 31 ProzentAnteil an der Stromerzeugung hat, ist das so gar nichtmachbar. Aber Sie, meine Damen und Herren von derOpposition, können ja sagen: Wir haben ein Mandat.
Ich sage hier allerdings mit aller Deutlichkeit: Sie ha-ben kein Mandat für die Szenarien, die Sie hier abgelie-fert haben.
Da kommt der Bundeskanzler und erhebt den An-spruch, der Architekt des Ausstiegs zu sein. Er will dieAuseinandersetzung um die Castor-Transporte beenden,die Verteuerung des Stroms abwenden und einenKonsens mit den Beteiligten erzielen. Währenddessenwill Herr Trittin, unbeeindruckt von all dem, zunächsteinmal die Zusammensetzung der Reaktorsicherheits-kommission verändern und Atomkraftgegner dort her-einbringen.
Während das verkündet wird, bereitet Herr Trittin ei-nen vorbereiteten Gesetzentwurf vor, nach dem der Aus-stieg in einem Jahr stattzufinden habe. Das ist einCrashkurs, ein Kurs des Ausstieges um jeden Preis. Dasollen die Zwischenlager vollaufen, da wird die soge-nannte Verstopfungstheorie gepflegt. So will man ganzschnell die grüne Klientel im fundamentalistischen La-ger bedienen. So geht das aber nicht. Zur gleichen Zeitsagt der Bundeskanzler im ZDF: Was der Herr Trittin daerarbeitet, ist so okay. Während dieses gesendet wird,erhält Herr Schröder per Fax den Gesetzentwurf und
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1229
(C)
(D)
stellt auf einmal fest: So geht das nicht. Ja, meine Da-men und Herren, wo leben wir denn?
Was tut denn diese Regierung? Daß hier jeder tunkann, was er will, haben wir bei den Gesetzentwürfen zuden 630-Mark-Jobs und zur Ökosteuer sowie bei denStellungnahmen zur NATO-Doktrin und zum Bundes-wehreinsatz im Kosovo und sonstwo erlebt. Es kann –das sage ich in Richtung des Bundeskanzlers – ja seinerSeelenlage entsprechen, daß er die Dinge laufen lassenwill, um sie dann als der große Matador wieder einzu-fangen. Das geht einmal, zweimal und am Anfang auchdreimal, aber dann geht das nicht mehr. Dieses Landverlangt nach Berechenbarkeit und Kontinuität.
– Herr Schlauch, wir sitzen hier nicht in irgendeiner Ba-sisversammlung der Grünen.
Von unserer Regierungsbank wird das wichtigsteLand Europas regiert. Dort werden Entscheidungen ge-troffen, auf die unsere Nachbarn schauen, mit denen wirauf vielfältigste Weise verbunden sind. Da können Siehier keine Basisversammlung veranstalten.Man kann auch nicht, wie das möglicherweise bei Ih-nen auf dem Parteitag üblich ist, sagen: Nun haue icheinmal drauf, und wenn es gutgeht, ist es gut, und wennes schiefgeht, habe ich Pech gehabt. – So geht das nichtauf einer Regierungsbank und in der Regierungsverant-wortung, meine Damen und Herren!
Wie soll denn dieser Atomausstieg überhaupt funk-tionieren? Die Atomenergie hat einen Anteil von31 Prozent an der Stromerzeugung. Ich sage ganz ruhig:Sicherlich gibt es erhebliche Sparpotentiale. Wir könnenauch mit regenerativen Energien eine Menge tun.
Möglicherweise werden wir von jetzt 3 Prozent auf 6 Pro-zent oder 7 Prozent kommen; aber niemals wird über ei-nen Ausstieg die Situation entstehen, daß wir auf den Zu-bau oder darauf verzichten können, Atomstrom oder wel-chen Strom auch immer anderswo zu kaufen. Da ist esnichts mit Arbeitsplätzen aus deutscher Kohle. Da ist esauch nichts mit dem Import von Gas. Ich sage auch zu Ih-nen, den Grünen: Gas ist eine Ressource, ein Brennstoff –viel zu schade, um daraus Strom zu erzeugen.
Herr Kollege, die
fünf Minuten sind um.
Das müßten Sie wis-
sen, meine Damen und Herren. Wir brauchen es für die
chemische Industrie.
Fünf Minuten sind
um, Herr Kollege. Wir sind in der Aktuellen Stunde.
Frau Präsidentin, ich
komme zum Schluß. – Ich will Ihnen nur sagen: Das,
was von der Debatte der letzten Tage bleibt, ist nicht die
Frage: Atomausstieg ja oder Atomausstieg nicht so? Das
ist vielmehr die Unzuverlässigkeit, das ist die Unsicher-
heit, die Sie gegenüber den Verbrauchern, gegenüber
unserer Industrie und gegenüber unseren Partnern in Eu-
ropa haben entstehen lassen.
So kann man keine Regierungspolitik machen. So kann
man nicht verantwortlich arbeiten. Lassen Sie deshalb
ab von solchem Tun! Das ist im Interesse dieses Landes
und der Arbeitsplätze in Deutschland.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich möchte darauf aufmerksam machen,
daß wir uns in der Aktuellen Stunde befinden. Ich unter-
breche Sie nur ungern, aber ich werde es tun, damit sich
alle gleichbehandelt fühlen.
Jetzt hat Monika Griefahn das Wort.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Der Notenwechsel mit Frankreichund England stellt eine Verwaltungsvereinbarung mitbeiden Ländern dar.
Alle Staaten haben durch die Wahl der Form des Ver-waltungsabkommens zu erkennen gegeben, daß sie deninnerstaatlichen Gesetzgeber gerade nicht binden wollen.Schon 1993 wurde in einem Gutachten, das ich inVorbereitung auf die ersten Konsensgespräche in Auf-trag gegeben habe, festgestellt, daß die Verträge dieBundesregierung nicht hindern, „Gesetzesinitiativen zurÄnderung des Atomgesetzes zu ergreifen“.
Das hat die Niedersächsische Landesregierung damalsauch in die Beratungen des Bundesrates zur Atomge-setznovelle eingebracht. Dies ist selbst dann der Fall,wenn die Rechtsfolgen im Ergebnis den Verträgen zu-widerlaufen. Die innerstaatliche Gesetzesinitiative ist„völkerrechtlich nicht relevant“.Die Koalitionspartner der Bundesregierung habensich, wie Sie alle wissen, in den Koalitionsvereinbarun-gen auf einen Ausstieg aus der Kernenergie festgelegt
Dr. Günter Rexrodt
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1230 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
(C)
und sind im übrigen auch von den Wählerinnen undWählern beauftragt worden, dieses politische Ziel zuverfolgen. Die Forderungen auf Schadenersatz unsererfranzösischen und britischen Nachbarn müssen natür-lich in der Diskussion aufgearbeitet werden. Wir sinddennoch ein souveränes Staatswesen und müssen in derLage sein, unsere Politikziele erstens zu formulierenund zweitens natürlich auch umzusetzen. Beschlüsseunserer gesetzgebenden Organe sind durch die bilate-ralen Vereinbarungen eben ausdrücklich nicht ausge-schlossen.Natürlich spielen bei diesen Fragen zwei Kompo-nenten eine wichtige Rolle. Das eine ist der Faktor Zeit,und das andere ist der Stil. Außerdem: In den Verträgenmit den EVUs und den Wiederaufarbeitungsanlagenwird dem Recht der Regierungen ausdrücklich zuge-stimmt. Akte von Regierungen und anderen Organen mitGesetzeskraft, also auch eines Parlamentes, werden indem Abkommen als „force majeure“ – teilweise unge-nau mit „höhere Gewalt“ übersetzt – definiert, die zu ei-ner Unterbrechung des Abkommens führen. Keine derParteien ist dann für finanzielle oder andere Konsequen-zen verantwortlich.Ich habe in diesem Zusammenhang bereits mit demfranzösischen Botschafter die Frage erörtert, wie das inder Praxis tatsächlich aussieht. Das heißt, daß in or-dentlichen Gesprächen zwischen Frankreich undDeutschland in einem Zeitraum, der länger sein mußals ein Jahr, einvernehmliche Lösungen gefunden wer-den können. Ähnliches, denke ich, wird mit Englandmöglich sein.Der Bundeskanzler hat bereits in dieser Woche erneutGespräche mit den Energieversorgungsunternehmen ge-führt. Gestern haben die Konsensgespräche begonnen.Dort haben die Energieversorgungsunternehmen signali-siert, daß sie erstens den Ausstieg akzeptieren undzweitens selbst die Vertragsveränderungen auf den Wegbringen werden. Das ist ein entscheidender Punkt. Wennsich diejenigen, die Verträge miteinander geschlossenhaben, darum bemühen, daß die Verträge geändert wer-den, dann kann man sie auch ändern.
Es kommt jetzt darauf an, den Verträgen entspre-chend Lösungsmöglichkeiten zu finden. Denn eines istklar: Der Ausstieg muß sein, und der Stopp der Wieder-aufarbeitung ist zwingend. Alleine durch die Wiederauf-arbeitung des Atommülls versechsundzwanzigfacht sichdie Menge des radioaktiven Mülls. Außerdem gibt es,wie es früher angedacht war, keine Verwertungsmög-lichkeiten mehr für die Produkte aus den WAAs.Schnelle Brüter existieren nämlich weder in Frankreichnoch in Deutschland. Dort wurde früher Plutonium ein-gesetzt. Auch MOX-Elemente wird es bei einem Aus-laufen der Kernenergie nicht mehr geben. Außerdemwird durch die Wiederaufarbeitung die Zahl der Atom-transporte erhöht. Wir wollen sie aber möglichst niedrighalten.
Wenn wir uns also das politische Ziel des Atomaus-stiegs gesetzt haben, dann müssen wir bei der Umset-zung die rechtlichen und wirtschaftlichen Konsequenzenbeachten. Dabei ist eine ganze Kette von Dingen zu be-rücksichtigen, und das werden wir auch tun.Natürlich ist es nicht so, daß Verträge und Vereinba-rungen einseitig außer Kraft gesetzt werden können undsollen. Wichtig ist, daß wir uns mit unseren französi-schen und britischen Partnern an einen Tisch setzen, dasProblem offen ansprechen und die neuen Bedingungenin Ruhe verhandeln. Das geht; das ist Ihre Erfahrung mitden Franzosen und den Engländern, und das wird auchunsere Erfahrung mit ihnen sein.Ich denke, daß innenpolitisch in den Gesprächen mitden EVUs Lösungen gefunden werden. Außenpolitischwerden wir mit Frankreich und Großbritannien weiter-hin die guten Beziehungen pflegen.
– Nein, das ist nicht wahr. Ich habe das selber nachgeprüft.
Die Abkommen sprechen eine klare Sprache. Auf de-ren Grundlage wird verhandelt. Es besteht auch keinGrund, dies in Zweifel zu ziehen.Die USA, die immer als großes Beispiel hingestelltwerden, haben schon lange kein neues AKW mehr ge-baut, weil die Energieform nicht wirtschaftlich ist. Eng-land hat aus denselben Gründen Probleme mit der Pri-vatisierung. Die neue WiederaufarbeitungsanlageTHORPE ist 1994/95 gegen den Widerstand aller Anlie-gergemeinden gebaut worden, aber sie ist mit Mittelnder Bundesrepublik finanziert worden. Sie arbeitet tech-nisch nicht zufriedenstellend und trägt zur Belastung derIrischen See bei; Leukämiefälle sind dort an der Tages-ordnung. Die Folgerung ist: Wir müssen schnellstenszum Konsens mit den EVUs kommen.
– Hören Sie einmal zu; das gehört alles dazu. – Wirbrauchen schnelle Anträge sowie die Genehmigung fürdie Zwischenlager an den AKWs –
Denken Sie an die
Redezeit.
– ich bin gleich am Ende –,um die Transporte zu vermeiden. Der Rücktransport so-wie die Einzelheiten der Änderungen der Verträge mitden WAAs und den Ländern werden im einzelnen be-sprochen werden. Ich bin mir ganz sicher, daß wir nachden ersten Aufgeregtheiten in Ruhe, aber auch mit Be-stimmtheit zu einer befriedigenden Lösung für alle Be-teiligten kommen werden.
Monika Griefahn
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1231
(C)
(D)
Nun hat das Wort
Herr Dr. Ruck, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Einen „politischen Super-
GAU“ hat gestern abend ein bekannter Radiosender aus
dieser Region das genannt, was die rotgrüne Bundesre-
gierung mit ihrem Wiederaufbereitungs- und Ausstiegs-
chaos im In- und Ausland angerichtet hat.
Zwar ist sie erst einmal auf dem Bauch gelandet, aber –
da helfen auch keine Beschönigungen von Frau Griefahn
– es ist viel Porzellan zerschlagen worden. Sie hätten
mit den Franzosen und Engländern vorher sprechen
müssen und nicht hinterher, wenn die Scherben am Bo-
den liegen.
Es ist traurig genug, daß Sie, Herr Trittin, für die Er-
reichung Ihrer Ziele nationales Recht und unsere Verfas-
sung ignorieren. Sie haben aber leider der Welt auch vor
Augen geführt, daß in der neuen Bundesregierung Poli-
tiker sitzen, die zur Verfolgung ihrer irrationalen Ideo-
logien
auch den Bruch internationaler Verträge und des Euro-
parechts billigend in Kauf nehmen.
Sie, Herr Trittin, haben der Bundesrepublik Deutschland
fahrlässig und inkompetent außenpolitischen Schaden
zugefügt. Dies gilt leider auch für den Bundeskanzler
Schröder.
Diesmal ging des Kanzlers doppeltes Spiel als
Knecht Ruprecht und Heiliger Nikolaus daneben. Herr
Schröder hat zu lange Däumchen gedreht, seinen Um-
weltminister gewähren lassen und den Unsinn nachge-
plappert, trotz der erheblichen Bedenken, die das Ju-
stizministerium längst geäußert hatte. Der Scherben-
haufen, den Trittin hinterläßt, ist auch der Scherben-
haufen des Kanzlers. Er kann diese Scherben nicht
mehr so schnell kitten; denn die außenpolitischen Irri-
tationen bleiben nicht auf Frankreich oder Großbritan-
nien beschränkt.
Rotgrün hat uns den Argwohn all unserer Nachbarn
und Freunde in Europa zugezogen. Sie sehen, daß die
traditionellen deutschen Tugenden der letzten Jahrzehn-
te, wie Vertragstreue und Berechenbarkeit, nun wieder
von politischen Abenteurern und Glücksrittern aufs
Spiel gesetzt werden.
Ihr Eiertanz um die Kernenergie ist aber nicht nur au-
ßenpolitisch, sondern auch umweltpolitisch aberwitzig.
Sie sind von einem schlüssigen umweltverträglichen
Energiekonzept nach wie vor Lichtjahre entfernt. Sie
wollen die sicheren deutschen Kernkraftwerke stillegen,
mit der Folge, daß wir dann in einem liberalisierten eu-
ropäischen Energiemarkt einen großen Anteil unseres
Stroms aus Kernkraftwerken des Auslands beziehen,
und zwar ohne unsere Sicherheitsstandards. Das ist eine
umweltpolitische Heuchelei.
Hinzu kommt, daß wir auch keine Chance mehr hät-
ten, zum Beispiel unseren Nachbarn im Osten unsere
deutschen Sicherheitsstandards abzuverlangen. Wir
werden außerdem nicht mehr in der Lage sein, unsere
ehrgeizigen, aber richtigen Klimaschutzziele zu errei-
chen. Allein die bayerischen Kernkraftwerke ersparen
uns jährlich 740 Millionen Tonnen CO2. Um dies an-derweitig einzusparen, müßten Sie beispielsweise den
gesamten bayerischen Straßenverkehr für zwei Jahre
stillegen.
Es ist ebenfalls Heuchelei, den Menschen weis-
zumachen, daß wir Kernenergie durch regenerative
Energien ersetzen könnten. Dazu bräuchten wir zum
Beispiel mehr als fünfzigmal soviel Windkraftanlagen
wie bisher. Wo in Deutschland wollen Sie die denn hin-
stellen?
Wie weit bei Ihnen Anspruch und Wirklichkeit aus-
einanderklaffen, zeigt ein Blick auf Ihren Haushalt für
1999. Für das vollmundig angekündigte 100 000-
Dächer-Programm haben Sie dabei die stolze Summe
von 1 Million DM ausgegeben. Für die Kohleförderung
aber werden allein für dieses Jahr zusätzlich 700 Millio-
nen DM bereitgestellt. Damit ist Ihr Klimaschutz, meine
Damen und Herren von der rotgrünen Koalition, zur
Farce geworden,
ebenso wie Ihr Naturschutz, mit dem Sie sich laut Trittin
überhaupt erst im nächsten Jahr befassen wollen, oder
die Ökosteuer, die sich zu einem echten Torpedo gegen
den Umweltschutz entwickelt.
Es ist an der Zeit, daß auch manche Umweltverbände
ihre Neutralität wiederfinden und ihren automatischen
Kniefall vor Rotgrün einstellen.
Denn was Rotgrün hier vollführt, ist nicht nur eine au-
ßenpolitische Irrfahrt und ein ökonomischer Irrsinn; es
ist auch eine Bankrotterklärung gegenüber dem natio-
nalen und internationalen Umweltschutz.
Das Wort hat nun
die Kollegin Hustedt, Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei derBundestagswahl haben die Wähler und Wählerinnen mitder Entscheidung für die rotgrüne Bundesregierung auchdem Ausstieg aus der Atomkraft eine Mehrheit gegeben.Aber das ist ein sehr schwieriger Auftrag. Der Atomaus-stieg ist juristisch, technisch und politisch außerordent-lich kompliziert. Wenn wir einen ganzen Technologie-bereich beenden wollen, ist das in einer außerordentlich
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1232 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
(C)
komplexen Gesellschaft auch ein sehr komplexes Unter-fangen.Die Angriffe und die Schadenfreude der Oppositionsind hier völlig fehl am Platze. Wer 16 Jahre die Pro-bleme in diesem Lande nur ausgesessen hat und wer dieRepublik unter dem Motto: Weiter so und nichts ändern!regiert hat, der hat nur einen einzigen Fehler macht. Die-ser war aber um so gravierender. Er hat unser Land ineinen beispiellosen Reformstau geführt und unser Landzurückgeworfen.
Wir wollen diesen Reformstau überwinden. Fehler imDetail machen wir vielleicht, aber Ihre Politik, der Still-stand, das Weiter-so, war insgesamt ein einziger Fehler.
Die Presse hat über die stattgefundenen Konsensge-spräche geschrieben, Gewinner seien die Stromkonzer-ne. Ich sehe das anders. Sicherlich: Die Wiederaufbe-reitung wird nicht punktgenau zum Jahre 2000 beendetwerden, aber sie wird beendet werden.Wenn man den Blick ein bißchen weiter faßt, dannkann man feststellen, daß es gestern auch etwas ganzNeues gegeben hat: Der gestrige Tag war ein Wende-punkt in der Geschichte der Energiepolitik in Deutsch-land; der gestrige Tag war der erste Tag des Einstiegs inden Ausstieg. Nach 40 Jahren Anti-AKW-Bewegung inWyhl, Brockdorf, Grohnde, Gorleben, Wackersdorf,Kalkar und Hanau haben die Stromkonzerne anerkennenmüssen, daß es ab sofort um den Ausstieg geht, weil esdafür eine Mehrheit gibt.
Jahrelang haben sie behauptet, ohne Atomkraft sei dieEnergieversorgung in Deutschland nicht sichergestellt.Jetzt müssen sie das Primat der Politik, das heißt: dieMehrheitsmeinung, akzeptieren. Es geht ab jetzt um dasWie und nicht mehr um das Ob.
Der Kern unserer rotgrünen Ausstiegsstrategie ist dabeider Kompromiß. Er beinhaltet akzeptable Restlaufzeitenfür das Betreiben der AKWs. Wir sind einer Einigung unddamit auch dem Atomausstieg ein Stück nähergekommen.Wir müssen in der Wahl des Weges – das haben wir ge-stern bewiesen – flexibel sein. Aber das Ziel, denAtomausstieg in diesem Lande durchzusetzen, werden wirnicht aus den Augen verlieren. Diesem Ziel sind wir – wiegesagt – gestern ein Stück nähergekommen.
Ich sage auch in Richtung Umweltbewegung ganzdeutlich: Konsens ist aus meiner Sicht kein Nonsens.Konsens ist auf Grund der Komplexität der Materiewahrscheinlich der erfolgversprechendste Weg, denAtomausstieg zu verwirklichen. Im Gegensatz zur altenBundesregierung – auch Sie, Herr Rexrodt, haben immerwieder Öl ins Feuer gegossen –, die das Thema Atom-kraft benutzte, die Gesellschaft immer weiter zu spaltenund die Gräben immer weiter zu vertiefen, polarisierenwir nicht, wie Sie das mit Unterschriftenlisten gegen diedoppelte Staatsbürgerschaft tun.
Wir wollen die Gesellschaft zu einem Konsens hinsicht-lich einer zukunftsfähigen Energiepolitik führen.Wir könnten auch anders handeln, wie die Debatteüber die Wiederaufbereitung sehr deutlich gezeigt hat.Wir könnten den Ausstieg auch im Dissens durchsetzen,
weil das Fehlen eines soliden Entsorgungskonzeptes dieAchillesferse der Stromkonzerne ist. Die Wiederaufbe-reitung ist eine jahrzehntelang von Ihnen kaschierteZwischenlagerung im Ausland.
Ich sage ganz deutlich: Die Wiederaufbereitung liegt ineiner rechtlichen Grauzone. Wenn wir die Wiederaufbe-reitung sofort verbieten würden, dann würde das bedeu-ten, daß wir auf Grund des fehlenden Entsorgungsnach-weises entschädigungslos aus der Wiederaufbereitungaussteigen könnten.Wir wollen das nicht tun; wir haben uns vielmehr dafürentschieden, den Ausstieg im Konsens durchzuführen,weil wir der festen Überzeugung sind, daß sowohl für dieBundesregierung als auch für die Stromkonzerne der ge-ordnete Ausstieg im Konsens ein besserer Weg ist als derungeordnete Ausstieg im Dissens. Deswegen sage ich:Gestern hat keiner verloren, sondern alle, die Stromkon-zerne und die Bundesregierung, haben gewonnen.
Gewinner ist auch die Gesellschaft, weil sie auf demWeg ist, die Spaltung in der Zukunft zu überwinden.
Wenn wir die Spaltung überwunden haben, dann könnenwir uns gemeinsam der großen Herausforderung desKlimaschutzes stellen.
Ihre Redezeit ist ab-
gelaufen.
Ein letzter Punkt: Gestern haben die Grünen, auch Jür-gen Trittin, durch flexibles Handeln gezeigt,
Michaele Hustedt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1233
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daß sie bereit sind, auf eine „Verstopfungsstrategie“ zuverzichten und voll und ganz auf den Konsens zu setzen.Wir haben den Stromkonzernen die Hand gereicht. Jetztist es an der Zeit, daß die Stromkonzerne diese Chanceergreifen. Es ist wahrscheinlich die letzte Chance, indiesem Lande zu einem Energiekonsens zu kommen.Ich danke.
Das Wort hat nun
die Frau Kollegin Marquardt, PDS-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsi-
dentin! Meine Damen und Herren! Für gewöhnlich er-
wartet man von der Opposition bzw. von uns kritische
Worte. Doch lassen Sie mich an dieser Stelle einfach
einmal feststellen: Ich glaube, die Grünen brauchen sich
für große Teile des Gesetzentwurfes ihres Umweltmini-
sters nicht zu schämen. Ich bin zwar nicht mit allen Re-
gelungen dieses Entwurfes einverstanden. Aber es ist
schon deutlich geworden, daß hier ein ernsthafter Ver-
such eines schnellen Atomausstieges unternommen
wurde. Das sollte man auch einmal anerkennen.
Doch ich sage ganz deutlich: Das, was jetzt als Kom-
promiß verkauft wird, ist ein Desaster! Einzig auf der
falschen Seite herrscht Freude. An den Aktienmärkten
werden die Energiekonzerne schon als klare Sieger ge-
feiert. Schön, daß der Bundeskanzler wenigstens diese
glücklich machen konnte.
Für alle anderen war das gestern ein schwarzer Tag.
Das Ende der Wiederaufarbeitung ist nicht in Sichtweite
gerückt. Auf Akzeptanz seitens der Anti-AKW-
Bewegung zu hoffen ist meines Erachtens illusionär.
Daß die Menschen gestern hier in Bonn mit großem Ein-
satz für die sofortige Abschaltung aller Atomanlagen
demonstriert haben – ich habe mich mit einigen unter-
halten –, zeigt: Dieser Widerstand wird weiter wachsen.
Und, Frau Hustedt: Konsens ist Nonsens, wenn es nur
darum geht, die Profitinteressen der Atomlobby zu be-
rücksichtigen, und wenn damit für viele Menschen das
Risiko, Opfer von Strahlenerkrankungen zu werden, auf
lange Sicht weiter in Kauf genommen wird.
Ich komme zu der Frage der Entschädigungsforde-
rungen. Bei den Noten, die 1990 zwischen der deutschen
Bundesregierung sowie der französischen und der briti-
schen Regierung ausgetauscht wurden, handelt es sich
um Verwaltungsabkommen, an deren Zustandekommen
der Deutsche Bundestag nicht beteiligt war. Solche
Verwaltungsabkommen entfalten gegenüber dem Ge-
setzgeber keine Bindungswirkung. So sieht es übrigens
auch die Atomindustrie. Einen Teil des Wortlautes der
Wiederaufarbeitungsverträge durften wir ja letzte Wo-
che der Presse entnehmen. Ich zitiere einmal:
Wenn die Wiederaufarbeitungsfirma durch deut-
sche Gesetze, Verordnungen oder politische Ent-
scheidungen an der Wiederaufarbeitung gehindert
ist, werden dem Vertragskunden die noch nicht
wiederaufgearbeiteten Brennelemente auf dessen
Kosten zurückgeschickt. Die Wiederaufarbeitungs-
firma wird dem Vertragskunden alle bereits ange-
zahlten Beträge für noch nicht erbrachte Dienstlei-
stungen dann zurückzahlen.
Ich denke, das macht deutlich, daß die nähere Unter-
suchung dieser Dokumente offenbar ganz aufschlußreich
sein könnte. Ich fordere daher die Bundesregierung auf,
dem Umweltausschuß unverzüglich Abschriften der ihr
vorliegenden Wiederaufarbeitungsverträge zukommen
zu lassen.
Auf dieser Grundlage – und nur auf dieser – läßt sich
dann qualifiziert diskutieren.
Zu guter Letzt bleibt natürlich die Frage: Was tun? In
einem Rechtsgutachten wird die Befürchtung geäußert,
daß die Einbringung einer Gesetzesinitiative zum Verbot
der Wiederaufarbeitung durch die Bundesregierung
selbst als Verstoß gegen die Verwaltungsabkommen ih-
rer Vorgängerin interpretiert werden könnte. Mögli-
cherweise würden dann Schadensersatzforderungen be-
rechtigt sein. Das, denke ich, wollen wir alle nicht. Die
Situation wäre aber eine andere, wenn die Initiative aus
dem Bundestag selbst käme, wobei alles zu vermeiden
wäre, was wie eine indirekte Initiative der Bundesregie-
rung aussähe. Mit anderen Worten: Wir Abgeordneten
sind gefragt. – Das lasse ich einfach einmal so im Rau-
me stehen.
Danke.
Das Wort hat jetzt
der Kollege Dr. Gehb, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Bundeskanzler Schröder undUmweltminister Trittin seien nach 92 Tagen aus derTraumwelt in die Wirklichkeit zurückgekehrt, ist heuteim „Algemeen Dagblad“ zu lesen. Aber, zu welchemPreis? Ich konzediere der Bundesregierung – auch wennich es für sachlich falsch halte –, aus der friedlichenNutzung der Kernenergie aussteigen zu wollen – abernicht unter Mißachtung völkerrechtlicher, verfassungs-rechtlicher, gemeinschaftsrechtlicher und einfachgesetz-licher Vorgaben und natürlich nur unter Einhaltung di-plomatischen Fingerspitzengefühls.Genau das scheint bei der gegenwärtigen Bundesre-gierung nicht selbstverständlich zu sein. Das ist festzu-stellen, wenn man sich die Äußerungen des Umweltmi-nisters Trittin, aber auch die des Bundeskanzlers Schrö-der anhört, die im Zusammenhang mit dem noch bisgestern für Ende dieses Jahres geplanten Verbots derWiederaufbereitung abgebrannter KernbrennelementeMichaele Hustedt
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1234 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
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allenthalben – leider auch im benachbarten Ausland –gemacht worden sind.
Die Wiederaufbereitung, die nach geltendem Atom-recht – und nicht rechtswidrig – als gleichberechtigterEntsorgungspfad neben der direkten Endlagerung steht,beruht auf bilateralen zivilrechtlichen Verträgen zwi-schen den einzelnen deutschen Energieversorgungs-unternehmen einerseits und der französischen FirmaCogema bzw. der britischen BNFL andererseits.
Diese zivilrechtlichen Verträge werden durch völker-rechtliche Vereinbarungen und nicht durch irgendwelcheVerwaltungsvereinbarungen – mit dieser Auffassung be-finde ich mich in bester Gesellschaft mit einem Rechts-gutachten der Bundesjustizministerin vom 15. Januardieses Jahres – abgesichert. In diese vertraglichen undvölkerrechtlichen Abmachungen, die auch die Rück-nahme des Abfalls durch die deutschen Betreiber umfas-sen, kann nicht, jedenfalls nicht folgenlos, durch staatli-che Akte eingegriffen werden.Lassen Sie mich die Konsequenzen eines solchenEingriffs kurz darstellen. Entweder löst eine vorzeitigeKündigung der zivilrechtlichen Verträge eine Schaden-ersatzpflicht der Energieversorgungsunternehmen aus –sei es aus vertraglich vereinbarter Pönale, sei es nachden Regeln des Zivilrechts wegen Nichterfüllung einesVertrages. Dafür könnten sich die Energieversorgungs-unternehmen an der Bundesrepublik Deutschland unterdem Gesichtspunkt des enteignungsgleichen Eingriffsim Sinne des Art. 14 GG schadlos halten.
Oder die deutschen Firmen können aus zivilrechtlichenVerträgen ohne Schadenersatzpflicht heraus, wenn sie einFall der in den Neuverträgen geregelten Force majeurevorliegt. Aber in diesem Falle müßte die Bundesregierungaus völkerrechtlicher Verantwortlichkeit Wiedergutma-chung an Frankreich und Großbritannien leisten.
Jenseits dieser auf Entschädigungsfragen verdichtetenFrage müssen natürlich auch die gemeinschaftsrechtli-chen Grundsatznormen des EURATOM-Vertrages ein-gehalten werden.Nun, meine Damen und Herren, die Rechtslage istdas eine, die außenpolitischen Auswirkungen des deut-schen Vorpreschens das andere. Vor allem durch dieAuftritte des auch in Deutschland wegen seiner – ichsage einmal: etwas arroganten – Art bei vielen unbe-liebten Umweltministers Trittin in Paris und London istnun wirklich einiges Porzellan zerschlagen worden.Aber auch der Kanzler ging auf Vorbehalte Frankreichsund Großbritanniens nicht ein und stellte den geplantenraschen Ausstieg aus der Wiederaufbereitung als alleini-ge Angelegenheit der souveränen und autonomen Bun-desrepublik dar.Also: Selbst wenn sich die Verträge rechtlich ein-wandfrei beenden ließen, stellt sich doch die Frage nachder Verläßlichkeit deutscher Politik. Das hinter demschroffen Bonner Vorgehen stehende außenpolitischeKalkül bleibt mir unverständlich.
Immerhin ist Deutschland nicht nur wegen seiner EU-Ratspräsidentschaft und der bis zum Sommer anstehen-den Reformprojekte der Gemeinschaft auf gute Bezie-hungen angewiesen. So wie Sie, Herr UmweltministerTrittin, auftreten, mit selbstsicherer Attitüde bei völligerAhnungslosigkeit in der Sache, mit vollmundigen juri-stischen Äußerungen, ohne auch nur den Unterschiedzwischen einem Notenschlüssel und einem Paragraphen-schlüssel zu kennen,
können Sie vielleicht in der Treibhausatmosphäre IhrerParteitage und Ihrer Wahlveranstaltungen noch Beifallerhaschen, aber nicht in der harten Realität.Dem Herrn Bundeskanzler werden wir auch nicht ge-statten, sich in seiner Lieblingsrolle zu sonnen, nämlicherst sein Enfant terrible sozusagen als Minensucher vor-anzuschicken, um dann sich selbst in der ihm eigenenselbstgefälligen Manier am Ende als Architekt eines hi-storisch-konsensualen Atomausstiegs zu gerieren. DieKoalition hat sich selbst ein Armutszeugnis ausgestelltund steht nun sowohl vor den Kernkraftgegnern als auchvor den Stromerzeugern gleichermaßen blamiert da.Auf die Frage, die mir neulich jemand gestellt hat,warum Herr Trittin Herrn Schröder nicht so mag, habeich die Antwort gehört, er strahle ihm zu viel.
Herr Kollege Dr.
Gehb, das war Ihre erste Rede. Ich gratuliere Ihnen da-
zu, und zwar auch deshalb, weil Sie die Redezeit einge-
halten haben.
Davon können sich ältere Kollegen noch etwas ab-
schneiden.
Nun hat das Wort die Frau Kollegin Lambrecht, SPD-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Prä-sidentin! Meine Damen und Herren! Offensichtlich füh-ren wir hier nun wöchentlich eine Generaldebatte überden Ausstieg aus der Atomenergie. Das ist auch gut sound dem Thema angemessen. Sie von der Oppositionscheinen aber nichts als klammheimliche Freude zuempfinden, wenn Sie von angeblichen Schadenersatz-forderungen aus Frankreich oder England hören. Wirwerden in dieser Frage eine rechtliche Klärung herbei-führen, und wir werden einen juristisch wasserdichtenEntwurf für eine Änderung des Atomgesetzes vorlegen.
Dr. Jürgen Gehb
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Als Rechtspolitikerin bin ich froh, daß nun genügendZeit vorhanden ist, die schwierigen privat- und völker-rechtlichen Fragen eingehend zu prüfen. Bevor wireinen konkreten Gesetzentwurf vorlegen, müssen wiraber wissen, welche der öffentlich vorgetragenenRechtsprobleme tatsächlich bestehen und welche Argu-mente nur vorgeschoben wurden, um das politische Zielzu verhindern. Aber es ist schon ein starkes Stück, wennSie der Auffassung sind, daß das, was eine Bundesregie-rung Anfang der 90er Jahre festgelegt hat, auf Dauerbindend sein soll.Meine Damen und Herren, hinsichtlich der Wieder-aufbereitung gibt es lediglich einen Austausch von No-ten auf der Ebene von Staatssekretären und Botschaftern– und zwar ohne Kündigungsklauseln. Diese wurden zueinem Zeitpunkt ausgetauscht, als die SPD bereits einVerbot der Wiederaufbereitung ausgesprochen hatte undklar war, daß dieses Ziel im Falle einer Regierungsüber-nahme in Angriff genommen werden würde. Da mußschon die Frage erlaubt sein, ob solche Notenwechselspätere Regierungen auf Dauer binden können oder obnicht nach einer bestimmten Zeit der Anspruch auf An-passung oder Aufhebung der Vereinbarung besteht. Fallstatsächlich eine völkerrechtliche Bindung bestehen soll-te, muß die Frage erlaubt sein, meine Damen und Herrenvon der Opposition – es gibt ja entsprechenden juristi-schen Sachverstand –, ob die damalige Bundesregierungdurch das Eingehen von so weitreichenden Bindungenohne Einschaltung des Gesetzgebers nicht Verfassungs-recht verletzt hat. Sie gerieren sich doch immer als Hü-ter der Verfassung.
Fragen Sie sich das doch einmal! Ich frage Sie, warumSie diese Vereinbarungen damals nicht ratifiziert haben.Dann hätte es nämlich hier eine Debatte gegeben, unddamit hätten Sie die öffentliche Meinung gegen sichaufgebracht. Wenn Sie damals ratifiziert hätten, dannerst hätten Sie die Verfassung beachtet.Dem Kollegen Grill, der letzte Woche ein Demokra-tiedefizit festgestellt haben will, weil der Ausstieg ausder Atomenergie von der neuen Regierung unumkehrbargemacht werden soll, kann ich nur entgegnen: In bezugauf die Ratifizierung haben Sie ein Demokratiedefizitbewiesen. Bei dieser Frage hätten Sie zeigen können,daß Sie gute Demokraten sind.
Es muß auch die Frage erlaubt sein, warum es dennin den letzten zehn Jahren zu einer solchen Zunahmevon Transporten in die Wiederaufbereitungsanlagenvon La Hague und Sellafield gekommen ist. Das liegtdoch daran, daß die damalige Bundesregierung 1989 inWackersdorf gescheitert ist und so der Wiederaufbe-reitung in der Bundesrepublik ein Ende gesetzt wurde.Nach dem Sankt-Florians-Prinzip haben Sie gefährli-che Wiederaufbereitung, die Sie zu Hause nicht durch-setzen konnten, in Frankreich und England durchfüh-ren lassen.
Als der Kollege Kubatschka in der Debatte am letztenDonnerstag darauf verwies, daß im Jahr 1997 um diefranzösische Wiederaufbereitungsanlage in La Hagueherum eine dreifach erhöhte Leukämierate bei Kindernund Jugendlichen festgestellt wurde, verzeichnet dasProtokoll den Zwischenruf des Kollegen Schockenhoffvon der CDU/CSU – jetzt zitiere ich –: „Das sind Beleh-rungen!“ Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDUund F.D.P., aber ganz besonders von der CSU, ichmöchte einmal wissen, ob Sie, wenn die Anlage in Wak-kersdorf in Betrieb gegangen wäre und man heute vonSchwandorf bis Regensburg ähnlich hohe Leukäumie-werte bei Kindern und jungen Menschen zu verzeichnenhätte,
sich dann noch einen solch zynischen Zwischenruf er-lauben würden. Ich glaube, nicht.
Aber dieser Zwischenruf zeigt die Unbelehrbarkeit, mitder Sie an der Kerntechnologie festhalten. Sie haben dieGegnerinnen und Gegner der Atomkraft als „Steinzeit-menschen“ und „technologiefeindlich“ gebrandmarkt.Dieser Vorwurf fällt jetzt voll auf Sie zurück. Sie ver-treten eine energiepolitische Steinzeitideologie;
an Ihnen sind 30 Jahre gesellschaftliche Diskussionspurlos vorbeigegangen.
– Danke für das Kompliment; ich stecke es mir an denHut.Selbst der Sprecher der Kraftwerksbetreiber, HerrManfred Timm, hat gestern in der ARD versichert, daßdie Kraftwerksbetreiber das Primat der Politik respektie-ren und den Ausstieg aus der Atomenergie mittragenwerden. Alle Achtung! Weiterhin hat Herr Timm dieSolarenergie als die Energieform der Zukunft bezeich-net, meine Damen und Herren von der Opposition.
Sie hingegen haben bis heute nicht begriffen oder be-greifen wollen, welche enormen Entwicklungspotentialein der Solarenergie liegen.
Frau Kollegin, den-ken Sie bitte an die Zeit.Christine Lambrecht
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1236 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
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Von einer richtigen
Förderung dieser Energie – leider haben Sie dies in den
letzten 16 Jahren nicht betrieben –
könnte ein positiver Einfluß auf Unternehmensgründun-
gen und Beschäftigungsentwicklungen ausgehen. Das
100 000-Dächer-Programm ist zumindest ein Schritt in
die richtige Richtung.
Bitte kommen Sie
zum Schluß.
Wir werden gemein-
sam mit den Betreibern, den Beschäftigten, der betroffe-
nen Wohnbevölkerung vor Ort und unseren europäi-
schen Nachbarn einen Weg finden, der in absehbarer
Zeit einen Ausstieg aus der Atomenergie ermöglicht und
eine Wende in der Energiepolitik einleitet. Ich weiß, daß
das nicht leicht ist. Ich komme aus dem Wahlkreis, in
dem das Kraftwerk Biblis steht. Ich weiß aber auch, daß
man dort auf ein offenes Ohr für zukunftsfähige Kon-
zepte stößt, und diese werden wir vorlegen.
Vielen Dank.
Auch die KolleginLambrecht hat, etwas die Zeit überschreitend, ihre ersteRede gehalten. Herzlichen Glückwunsch!
Nun erteile ich Herrn Bundesminister Trittin dasWort. Bitte sehr.Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit: Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Der gestrige Auftakt der Konsens-gespräche hat gezeigt: Der Ausstieg aus der Atomener-gie wird auch von den Betreibern der Anlagen, andersals von einigen Ewiggestrigen auf den Oppositionsbän-ken, als eine politische Entscheidung der Mehrheit derWählerinnen und Wähler in diesem Lande akzeptiert.
Darum verhandeln wir seit gestern – falls Sie das nochnicht gemerkt haben sollten – nicht mehr über das Ob,sondern über das Wie des Ausstiegs aus der Atomener-gie und des Einstiegs in eine andere Energiepolitik.
Ebenfalls akzeptiert haben die Betreiber das Ende derWiederaufarbeitung und damit das Ende der Plutoni-umwirtschaft.
Dies ist notwendig, wenn wir ein weiteres Anwachsendes Plutoniumbergs verhindern wollen. Das Verbot derWiederaufarbeitung soll wirksam werden, ohne daß derEntsorgungsnachweis – dieser beinhaltet immer die Si-cherheit der Entsorgung – für die Restlaufzeit derAtomkraftwerke willkürlich in Frage gestellt wird. Hier-über besteht Einvernehmen. Die Umsetzung muß nun ineiner Arbeitsgruppe geklärt werden. Ich bin sehr zuver-sichtlich, daß uns dies gelingt.
Ich habe gerade gehört, daß manche mit den Paragra-phen nicht klarkommen. Ich rate dringend, einen Blickin § 9a des Atomgesetzes zu werfen, werte Kolleginnenund Kollegen. Darin werden Sie nicht finden, daß dieWiederaufarbeitung eine sichere Form der Entsorgungist. Die Wiederaufarbeitung ist nur dann eine sichereForm der Entsorgung, wenn tatsächlich die Verwertungdes dabei angefallenen Materials gewährleistet ist.
Genau dies ist weder in Frankreich noch in Großbritan-nien der Fall. Deswegen rate ich Ihnen, ganz still zusein, wenn es um die Frage des Rechts, des internatio-nalen wie des nationalen, geht. Wer jahrelang illegaleZwischenlagerungen im Ausland geduldet hat, der solltejetzt bei der Frage von Rechtsbrüchen still sein.
Zu den – ich hätte fast gesagt: von Ihnen angespro-chenen – Notenwechseln: Herr Rexrodt hat es fertigge-bracht, eine Aktuelle Stunde zu beantragen und fünf Mi-nuten lang kein Wort zu dem von ihm selbst gestelltenThema zu sagen. Sie müssen vielleicht doch einmal ei-nen Blick in den sogenannten Notenwechsel werfen. Ichrate dazu.Sämtliche dieser Notenwechsel beziehen sich aufMusterverträge, die bereits vor dem Austausch der No-ten vorlagen. Auch wenn es sich nicht, wie hier vielfachzu Recht angeführt, auch von der Kollegin Lambrecht,um rein technische Verwaltungsabkommen handelte –davon ist allerdings nach unserer Auffassung auszuge-hen –, können selbst diese Verträge nur absichern, wasin den Musterverträgen vereinbart worden ist. Wenn wiruns ansehen, was darin steht, dann stellen wir fest, daßauch die Betreiber der Wiederaufbereitungsanlagen of-fensichtlich mit einem höheren Maß an Realitätssinnausgestattet waren, als Sie es sind.
Sie haben nämlich Vorsorge für den Fall getroffen, daßes einmal andere politische Entscheidungen gibt. Des-wegen ist in diesen Musterverträgen – das ist keine Er-findung eines Bundesumweltministers – selber das defi-niert, was „höhere Gewalt“, „Force majeure“, im Sinnedieser Verträge ist.
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Wenn Sie etwa Ziffer 9.1.2.1 des Mustervertrages mitCogema lesen, dann werden Sie feststellen, daß dieKollegin Marquardt dies korrekt aus dem Englischenübersetzt hat: Wenn der Wiederaufarbeiter an der Wie-deraufarbeitung durch deutsches Gesetz, durch Verwal-tung oder auch nur durch politische Willenserklärunggehindert wird, dann hat der deutsche Versorger dasMaterial auf eigene Kosten zurückzunehmen. Die Wie-deraufarbeitungsanlage hat ihm aber alle Kosten zu er-statten, die er vorab schon gezahlt hat. – Deswegen füh-ren der Ausstieg aus der Wiederaufbereitung und derWechsel zur direkten Endlagerung für die deutschenEnergieversorgungsunternehmen und die deutschenStromkunden in keinem Falle zu Mehrkosten. Vielmehrist dies kostengünstiger.
Im übrigen, meine Damen und Herren, sollten Sie mitder Infragestellung der völkerrechtlichen Reichweitedieser Verträge sehr vorsichtig sein. Denn hier geht esnicht nur um die Frage des Miteinanders von Staaten;hier geht es auch darum, wie ernst Sie in Ihrer Regie-rungszeit den Grundsatz der Gewaltenteilung genommenhaben. Wenn das zutrifft, was Sie heute en passant be-haupten, dann haben Sie über Jahre hinweg einen ver-fassungswidrigen Zustand geduldet, indem Sie diesesHaus gebunden haben, ohne es vorher gefragt zu haben.Wie Sie das mit Ihrem Verständnis von Verfassung inEinklang bringen können, sehe ich nicht.
Meine Damen und Herren, es ist richtig, daß die De-batte über den Ausstieg aus der Atomenergie inDeutschland – Deutschland ist eben nicht Österreich;Deutschland ist nicht die Schweiz – auch in anderenLändern eine Reihe von Diskussionen ausgelöst hat.
Manche Selbstgewißheiten sind auch dort in Frage ge-stellt worden. Das kann nicht verwundern. Aber ich willIhnen eines sagen: Wir legen Wert darauf, daß wir mög-lichst im Konsens mit den Betreibern aus dieser Ener-gieform aussteigen.
Wir streben deswegen an, daß die Betreiber von ihrenzivilrechtlichen Möglichkeiten der Kündigung der Wie-deraufarbeitungsverträge so schnell wie möglich Ge-brauch machen. Daß die Betreiber dann nicht auf denBegriff „höhere Gewalt“ zurückgreifen müssen, bedeu-tet nicht, daß es sie nicht gibt.
– Moment! Ich komme ganz ruhig zum Schluß. – Diesehöhere Gewalt existiert weiterhin.
In ihr drückt sich, werte Kolleginnen und Kollegen vonder Union und von der F.D.P., nichts anderes aus als diein Wahlen gefundene Mehrheit der Bevölkerung diesesLandes.
Letztendlich materialisiert sich die höhere Gewalt
in den Gesetzen, die Sie in diesem Hause verabschieden.
Ich habe letzte Woche gehört, daß der Kollege Grill –das ist auch so ein Erfahrungsjurist – unter Rückgriff aufein Lexikon „höhere Gewalt“ als Unglück definiert hat.Werter Kollege Grill, Sie mögen sich selbst für ein Un-glück halten. Aber Sie sollten das nicht auf alle anderenMitglieder dieses Hohen Hauses übertragen.
Das Wort hat nun
der Kollege Dr. Haussmann, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin!Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig, Rotgrünhat die Bundestagswahl gewonnen, und Unternehmerakzeptieren das Primat der Politik. Aber sie akzeptierennicht die neue Energiepolitik; das ist ein großer Unter-schied.
Richtig ist auch, Herr Trittin – das sage ich Ihnen vorweiteren Wahlen –, daß Ihr Stil, Ihre Arroganz, Ihre na-tionalen Alleingänge nicht von der Mehrheit inDeutschland getragen werden. Das wird zwischen unsausgetragen.
Wer heute den Vorwurf erhebt, daß die frühere Bun-desregierung verfassungswidrig gehandelt habe, HerrTrittin, wird es mit einer weiteren Aktuellen Stunde zutun haben; denn darüber muß geredet werden. Es ist jaauch erstaunlich, daß sich die SPD-Kollegen sehr zu-rückhalten. Es ist mehr eine Grünen-Veranstaltung.Herr Fischer ist bezeichnenderweise überhaupt nichtda. Wir hören von seiner Hundertstundenwoche. Wenneinem nachts eine dunkle Gestalt mit Rotlicht begegnet,dann ist es der Außenminister.
Es wäre gut, wenn der vielbeschäftigte Außenministertrotz Joggings – ich begrüße, daß er sich fit hält – einmaldie Zeit fände
Bundesminister Jürgen Trittin
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1238 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
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– Herr Schlauch, regen Sie sich ruhig auf –, mit seinemUmweltminister über die europäischen und internatio-nalen Auswirkungen seiner Arroganz und seiner Allein-gänge zu reden.
Herr Schlauch, es ist doch bezeichnend, daß Sie in derEuro-Stadt Frankfurt am Main einen Europatag abhal-ten, auf dem der Herr Fischer gar nicht auftritt.
Dominiert wird dieser Europatag von der innenpoliti-schen Diskussion, die Herr Trittin führt, und von fol-gender europapolitischer Programmatik: Forderungender Regierung gegen die Zentralbank, Verschiebung derOsterweiterung. Schließlich benutzt Herr Trittin denEuropatag der Grünen, um seine nationalen Alleingängezu rechtfertigen. So sieht derzeit grüne Europapolitik inder Praxis aus!
Meine Damen und Herren, man muß schon die Fragestellen, welche Bundesregierung hier am Werk ist. Zu-nächst geht Herr Trittin ins Ausland, und anschließendwird juristisch geprüft. Hier inszeniert die Regierung dieChaostage selbst. Früher fanden sie auf der Straße statt,heute werden sie live von der Bundesregierung inszeniert.
Was Herr Trittin hier verteidigt, verstößt nach viel-fältiger Aussage von Fachleuten gegen Europarecht, ge-gen völkerrechtlich verbindliche Erklärungen frühererRegierungen. Der Amoklauf von Herrn Trittin ist längstkeine innenpolitische Affäre. Es ist nicht mehr hinzu-nehmen, daß die rotgrüne Bundesregierung im Stile vonSelbsterfahrungsgruppen von Fehler zu Fehler rast unddabei die Beziehungen zu unseren wichtigsten PartnernFrankreich und Großbritannien beschädigt.Hören Sie sich einmal an, was ein wichtiger Sozialist,der frühere Kulturminister Jacques Lang, über Ihre Al-leingänge sagt: Frankreich kann es nicht mehr hinneh-men, daß „internationale Verträge brutal in Frage gestellt“werden. Lesen Sie, Herr Trittin, nicht nur deutsche Zei-tungen, sondern ruhig auch die „Neue Zürcher Zeitung“,eine der international angesehensten Zeitungen:Aus der Sicht der westeuropäischen Nachbarstaatengeht es nach dem Fauxpas des Außenministers mitder Ersteinsatzdiskussion der NATO erneut um Be-rechenbarkeit und Verläßlichkeit deutscher Politik.
Der eigentliche Skandal ist, daß durch diese Alleingängeim Jahr der EU-Präsidentschaft unsere bewährte, ver-trauensvolle Europapolitik in Frage gestellt wird.
Das Regierungschaos, die Alleingänge von Herrn Trit-tin, die Aussage des Bundeskanzlers, der ja nicht nurSPD-Mann, sondern auch EU-Ratspräsident ist, manmüsse jetzt mit der deutschen Scheckbuchpolitik aufhö-ren, und die Tatsache, daß Herr Lafontaine lieber Ferienmacht, als bei der Einführung des Euro in Brüssel dabei-zusein, all dies läßt Schlimmes für die EU-Präsident-schaft erwarten.An die Adresse der Bundesregierung kann ich nur sa-gen: Verfolgen Sie eine klare Linie und reden Sie miteiner Stimme nach außen! Herr Trittin, treten Sie entwe-der in die Kabinettsdisziplin oder treten Sie zurück!Europa ist für Ihre Eskapaden zu schade.
Das Wort hat nun
die Kollegin Margot von Renesse.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Als ich Ihnen, Herr Hauss-mann, zuhörte, konnte ich wirklich kaum glauben, daßSie sich auf einen völkerrechtlichen Zustand berufen,der noch nicht endgültig geprüft ist, während Sie sichgleichzeitig auf eine völkerrechtliche Bindung beziehen,die, falls sie existieren sollte, von Ihrer damaligen Re-gierung in einer unglaublichen, in einer verantwor-tungslosen Weise festgelegt worden sein könnte. Daskommt mir so vor, wie wenn jemand, der Vater undMutter umgebracht hat, anschließend sagt: Ich bin docheine Vollwaise, bestraft mich billiger.
Es kann doch wohl nicht wahr sein, daß sich derjenige,der Unrecht tut, zu seinem Vorteil darauf auch noch be-ruft.
– Wir reden von einem ganz bestimmten Notenwechsel.– Warum sage ich „Unrecht“? Es ist anerkanntes Recht– ich rede von formalem Verfassungsrecht –, daß eszwar möglich ist, sich unter Umständen auch durch No-tenwechsel völkerrechtlich zu binden, nicht nur eine Re-gierung, sondern auch ein Volk, ein Land – unser Land.Aber je stärker man damit die Möglichkeit des Gesetz-gebers ausschließt, sich anders zu entscheiden, um sodringender ist die Ratifizierung in diesem Parlamentnotwendig.
In diesem Punkt habe ich nichts erfunden. Das ist aner-kanntes Verfassungsrecht.Wenn es darüber hinaus um einen Sachverhalt geht,der in diesem Lande hochgradig umstritten ist,
bei dem jede Regierung, die auf diesem Gebiet han-delt, weiß, daß sie Macht auf Zeit hat, eine Prokura aufZeit – –
Dr. Helmut Haussmann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1239
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– Wir alle haben das nur. – Wenn eine solche Regierungeine solche Entscheidung mit einem völkerrechtlichenDornengestrüpp umgibt, so daß sich derjenige, der sichaus diesen Fesseln befreit, nur selbst verletzen kann,dann handelt sie verfassungswidrig, nach dem Prinzip:Nach mir die Sintflut.
Laßt doch unsere Kinder, vielleicht unsere Enkelkindersich mit dem herumschlagen, was wir ihnen ins Nest le-gen. – Ich kenne eine solche Haltung bei verantwortli-chen Menschen nicht. Schon gar nicht kenne ich beiverantwortlichen Menschen eine solche Haltung, die sieanschließend nicht schamrot werden läßt;
vielmehr erlebe ich hier eine Haltung, deren Vertretersich auch noch auf diesen Standpunkt berufen. Das istnun wahrlich die Höhe.Es ist richtig, daß diese Bundesregierung, wie gesagtworden ist, nicht mehr das Ob zweifelhaft sein läßt. Dasist ihr gutes Recht.
Vielmehr redet diese Bundesregierung nur noch über dasWie – und das im Konsens. Wie haben Sie Ihr Ja zurAtomenergie umgesetzt? Sie haben bürgerkriegsähnli-che Zustände und Glaubenskriege herbeigeführt.Wir reden im Konsens. Das ist ein großer Unterschied.Wir werden auch mit denjenigen, die für die Atomenergiesind, einen friedlichen Ausstieg auf den Weg bringen;denn diese Leute sind viel vernünftiger als Sie.
Sie kämpfen hier nur noch um eine Restgröße, vonder niemand mehr wünscht, daß sie bleibt. Weil wir –auch was die Entsorgung angeht – vor dem Scherben-haufen, den Sie geschaffen haben, stehen, werden wirunseren Kindern, unsern Enkeln und unseren Freundensagen müssen: Es ist Ihr Müll, den wir jetzt transportie-ren, nicht unserer.
Sie haben dafür gesorgt, daß er transportiert werdenmuß. Die Lebenslüge der Atomenergie ist aufgedeckt.Es ist vorbei mit Ihrem Selbstbetrügen und möglicher-weise auch mit Ihren lange geglaubten Erklärungen ge-genüber anderen.Dem Himmel sei Dank. Das Ob steht fest, über dasWie reden wir im Konsens.Danke sehr.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Vaatz, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Man sieht jetzt ab und zu ein Foto,das Herrn Trittin hinter den Rotorblättern eines Windge-nerators darstellt. Das zeigt, daß sich in Europa etwasgeändert hat: Die Don Quichottes haben nämlich imLaufe der Jahrhunderte gelernt, die Windkraft nichtmehr mit Mißtrauen zu betrachten. Das ist die guteNachricht. Die schlechte Nachricht ist: Die neuenWindmühlen sind die Atomanlagen. Damit müssen wiruns nun herumschlagen.Ich gebe zu – wie auch schon viele Vorredner –, daßsich eine Regierung natürlich ohne weiteres zum Aus-stieg aus der Kernkraft entscheiden kann, wenn sie daswill. Das wäre aber eine kapitale Fehlorientierung. Eswäre ein ziemlich billiger Triumph über den naturwis-senschaftlichen Sachverstand. Es wäre ein Schritt gegenForschung und Entwicklung und gegen die Stabilität desKlimas. Aber als Demokrat muß man eine solche Regie-rung – wenn sie demokratisch zustande gekommen ist –natürlich hinnehmen.Man muß aber nicht hinnehmen, daß diese Regierungdas geltende Recht ignoriert. Wenn eine Regierung et-was tun will, das geltendem Recht widerspricht, dann istder erste Schritt, daß sie das geltende Recht ändert, undder zweite Schritt, daß sie das geänderte Recht vollzieht.Aber den Anschein zu erwecken, man wolle es ignorie-ren, stellt in der Tat einen eklatanten Bruch mit demo-kratischen Prinzipien dar.
Im übrigen darf ich die sozialdemokratischen Kollegendaran erinnern, daß die Verträge, über die wir hier re-den, Fortsetzungen der Verträge sind, die 1979 von derRegierung Schmidt vereinbart wurden.
Die Scherbenhaufen, von denen der Kollege Ruck ge-sprochen hat, gibt es im Tagestakt. Herr Trittin schafftsich erst einmal lästigen naturwissenschaftlichen Sach-verstand vom Hals und löst nach Gutsherrenart dieKommission für Reaktorsicherheit und Strahlenschutzauf. Dann erzählt er seinen Kollegen in Frankreich undin Großbritannien von seinen Plänen. Dabei meinen Sie,Herr Trittin, Ihre Kollegen müßten in rotgrüner Soli-darität sagen: „Prima!“ und müßten hinnehmen, daßDeutschland zum Nulltarif internationale Rechtsnormenignoriert. Unsere französischen und britischen Freundesind aber seriöse Partner und keine Komplizen von deut-schen Hasardeuren.
Sie denken über die Kernkraft nicht in den Kategoriender K-Gruppen.
Margot von Renesse
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1240 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
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Sie staunen höchstens über den wilhelminischen Gestus,mit dem höhere Gewalt aus Deutschland in Europa Ord-nung schaffen will.
Sogar der französische Kommunistenchef sagt, DanielCohn-Bendit müsse sich ein für allemal klarmachen, daßdie Franzosen nicht für die Atompolitik des deutschenKanzlers gestimmt hätten.
Ich bin der Auffassung, daß Sie den Eindruck ver-mitteln wollen, Deutschland sei eine Insel der Weisen.Sie haben doch selbst gesehen, wie beispielsweise diejapanische Regierung auf die Konferenz in Kioto rea-giert hat. Sie hat erklärt, Japan werde als Beitrag zumSchutz des Weltklimas 20 neue Reaktoren bauen. Sosieht die dortige Meinung aus. Sie wissen, was in Japangeschehen ist.Das Schlimmste, was Sie tun, ist: Sie machen denguten Ruf der deutschen Umweltpolitik in der Welt zu-nichte.
Wir haben unsere Entscheidungen immer auf Verläß-lichkeit gegründet.
Wir haben enorme Erfolge vorzuweisen, begonnen vonFriedrich Zimmermann über Wallmann und Töpfer bishin zu Merkel. Die deutsche Umweltpolitik hat großeinternationale Kongresse über den Klimaschutz – in Riound in Berlin – zu Erfolgen geführt. Daran gilt es anzu-knüpfen.Das geht aber mit Ihnen nicht, Herr Trittin. Dasgrößte Risiko für den Schutz der natürlichen Lebens-grundlagen ist nicht die Kernenergie. Das größte Risikoist das verspielte Ansehen in der Umweltpolitik. Dafürtragen Sie die Verantwortung.
Das größte Risiko trägt Ihren Namen, Herr Trittin.Wenn Sie wirklich noch etwas für den Umweltschutztun wollen, rate ich Ihnen: Sie sollten die 100 Tage nochabwarten, dann aber gehen.
Das Wort hat nunder Kollege Dr. Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grü-nen.
Herr Kollege Vaatz hat mit Verve und Energie versucht,einen deutschen Sonderweg zu zeichnen. Von einemsolchen kann natürlich überhaupt nicht die Rede sein.Wir befinden uns europäisch und international in besterGesellschaft, wenn wir umlenken wollen. Das ist dochoffenkundig. Die Beharrungskräfte, die für Sklerose ste-hen, sind Sie – nicht wir.
Zunächst einmal muß man sagen: Wenn sich dasdrittgrößte Industrieland der Welt entschließt, seineEnergieversorgung schrittweise auf eine neue Basis zustellen, dann ist das zwangsläufig – ob wir wollen odernicht – ein internationales Ereignis. Ich bin wirklich er-staunt, daß sich darüber jemand wundert. Es ist doch ei-ne Selbstverständlichkeit: Wenn wir umsteuern, werdenandere das mit besonderer Aufmerksamkeit beobachten.Das Ziel der neuen Regierung, der neuen Mehrheit,ist klar: Wir wollen eine zukunftsfähige Energieversor-gung, die unseren Kindern weder Strahlenrisiken nochmenschgemachte Klimaveränderungen hinterläßt. BauenSie also bitte keinen Popanz auf! Die Energieversorgungsoll umweltverträglich, wettbewerbsfähig und sichersein.Die Schlüsselbegriffe des neuen Energiekonzeptssind: Energieeffizienz, Kraft-Wärme-Kopplung, Ener-gieeinsparung, erneuerbare Energien und neue Märktefür Energiedienstleistungen.Herr Rexrodt, wenn ich höre, wie Sie jetzt die Ener-giesparpotentiale preisen, und das mit Ihrer realen Re-gierungspraxis vergleiche, dann muß ich feststellen, daßdas bitter und dramatisch auseinander fällt. Das wollteich gesagt haben.
In einem solchen Konzept ist für die Atomenergie aufDauer kein Platz, und zwar vor allem aus einem Grund:Sie blockiert neue Märkte und neue Technologien, diezukunftsfähig sind.
– Genauso ist es.Im übrigen möchte ich darauf hinweisen – denn dasist interessant –: Die Hälfte der Mitgliedstaaten derEuropäischen Union ist schon heute kernenergiefrei.
Ich sagte das bereits: Wir befinden uns mit unsererStrategie keineswegs auf einem deutschen Sonderweg –Herr Haussmann, das war doch Ihre These; Sie sprachenvom deutschen Alleingang –, sondern wir befinden unsin guter europäischer Gesellschaft. Man muß schonwirklich vor der Realität die Augen verschließen, wennman das als Sonderweg bezeichnet.
– Ja, wir werden ja sehen, wie lange das dauert.Arnold Vaatz
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Auch in anderen großen Industriestaaten – blickenwir auf Amerika – hat die Atomenergie ihre Zukunft be-reits hinter sich. Wo immer im Strommarkt Wettbewerbzugelassen worden ist, hat die Atomkraft keine Chancegehabt.Herr Rexrodt, natürlich wird das Erdgas eine Rollespielen. Das wissen Sie ganz genau. Das Erdgas ist eineganz wichtige Energieform für den Übergangszeitraum,wenn wir aus dem fossilen Energiezeitalter in das Solar-zeitalter gehen. Wir brauchen das Erdgas nicht nur fürdie Chemieindustrie, sondern wir brauchen es für die ge-samte Energiepolitik. Sie wissen das ganz genau.Es erstaunt auch überhaupt nicht, daß die Auftragsbü-cher fast aller Atomkraftwerksbauer leer sind. Die Leutehaben nämlich begriffen, daß dort die Musik ganz sichernicht spielen wird. Die letzten, die das noch nicht begrif-fen haben, sind Sie. Sie haben es nicht verstanden.
Ich möchte jetzt noch einmal zu den Vereinbarungenzwischen der deutschen Atomwirtschaft und der Coge-ma und der British Nuclear Fuels eingehen. Einiges istdazu bereits gesagt worden. Der Minister und die Kolle-gin von Renesse haben das Notwendige zur juristischenSeite gesagt.
Trotzdem glaube ich, daß man die juristische und diepolitische Ebene trennen muß. Es ist vollkommen rich-tig, daß die politische Ebene gesondert zu betrachten ist.Wir müssen mit unseren britischen und französischenFreunden Arrangements treffen; denn wir brauchen ein-ander in vielen Politikfeldern: bei der Agenda 2000 undbei der einheitlichen Besteuerung von Energie. Insofernkönnen wir nicht einfach nur sagen: Das ist das juristi-sche Problem, es gibt keine Schadensersatzansprüche. –Denn das ist nur die eine Wahrheit. Die andere Wahrheitlautet: Wir müssen versuchen, uns so gütlich wie ebenmöglich zu einigen.Der Schlüssel könnte vielleicht in dem Vorschlag desbereits zitierten Kollegen Daniel Cohn-Bendit liegen. Eswar übrigens interessant, daß Sie ausgerechnet HerrnHue als denjenigen anführen, der Cohn-Bendit in diePfanne haut. Studieren Sie einmal seine Motive, dannkommen Sie vielleicht zu einem anderen Ergebnis.
Cohn-Bendit hat einen vernünftigen Vorschlag gemacht.Er hat das „industrielle Kompensation“ genannt.Es muß ja nicht so sein, daß in La Hague der deutscheAtommüll wieder aufbereitet wird, er könnte ja auchkonditioniert, für die Endlagerung vorbereitet werden.Man könnte das auch „Abarbeiten statt Wiederaufbe-reitung“ nennen. Das wäre die richtige Devise.
Auch in einem Europa des zügigen Atomausstiegs, fürdas wir streiten, wird es noch Arbeit für die Cogema ge-ben.Was unsere angelsächsischen Freunde betrifft, sohängen sie mit ihrer Seele weit weniger an der Atom-kraft als unsere französischen Nachbarn. Ich glaube, hiersollte eine einvernehmliche Lösung möglich sein. Da-nach strebt die Regierung auch.Ich will zum Schluß noch zu zwei Punkten kommen,die mir wichtig sind und die bereits angesprochen wur-den, die aber umweltpolitisch noch einmal hervorgeho-ben werden müssen.
Lieber nur einen,
Herr Kollege.
danken. – Der erste ist: Durch La Hague und Sellafield
haben wir eine erhebliche nukleare Strahlenbelastung
der Irischen See und des Ärmelkanals. Weil wir hier von
Völkerrecht reden, darf ich darauf hinweisen, daß die
Schließung von Sellafield ein Hauptstreitpunkt zwischen
der Republik Irland und dem Vereinigten Königreich ist.
Es ist also keineswegs irgend etwas Irrationales, was
hier gefordert wird.
Ich komme jetzt zu meinem allerletzten Punkt und
damit zum Ende: Der Zielkonflikt zwischen Klima-
schutz und Atomenergie ist nur dann einer, wenn wir
alle Atomkraftwerke ausschalten würden und sie durch
Kohlekraftwerke ersetzen würden. Die Wahrheit ist
aber, daß wir im Laufe der Zeit neue Strategien entwik-
keln müssen. Ich nenne Verbesserung der Effizienz und
Einstieg in das Solarzeitalter. Dafür müssen wir kämp-
fen und dürfen nicht Scheingefechte von gestern führen.
Danke schön.
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Grill, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Dem „Stader Tageblatt“ ent-nehme ich eine bemerkenswerte Presseerklärung derKollegin Wetzel, dort steht:„Bundesweit ist das alles richtig“, meint Wetzelzum Atomausstieg.Sinngemäß heißt es weiter: Wetzel unterstützt abernatürlich den Stader Verwaltungsausschuß, der mitStimmen von CDU und SPD das Ende des Atommeilersin Stade für das Jahr 2012 fordert.Meine Damen und Herren, da, wo Sie mit den Ar-beitnehmern, die unter Ihrer Politik leiden müssen, kon-Dr. Reinhard Loske
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frontiert werden, gehen Ihnen die Mitglieder Ihrer eige-nen Fraktion auf Grund einer seltsamen Definition vonMoral und richtiger Politik von der Fahne, weil sieAngst vor den Folgen Ihrer Politik vor Ort haben.
Frau von Renesse, ich habe ja mit Interesse gehört,was Sie über das Verfassungsrecht gesagt haben. WasSie aber über den Atommüll gesagt haben, ist an Unver-frorenheit nicht mehr zu überbieten. Jemand, der weiß,daß die Kernenergie in diesem Lande unter einer SPD-Regierung entstanden ist, der kann sich hier nicht hin-stellen und sagen, es gehe um den Kernenergieabfall derCDU/CSU-Fraktion.
Die Mehrheit der Kernkraftwerke sind von einerSPD-Regierung genehmigt worden. Die Wiederaufbe-reitung, über die wir heute reden, ist ein Produkt derSPD-geführten Regierungen der 70er Jahre. Ich darf Sienur daran erinnern, daß Ihre Vorgänger in Gorleben eine1 400-Tonnen-Anlage bauen wollten. Als Folge davonorganisierten sich diejenigen, die heute mit Ihnen in die-ser Koalition sitzen. Sie versuchen sich im Grunde ge-nommen von dem Erbe freizusprechen und beschimpfenden Erblasser, der in 16 Jahren versucht hat, aus dieserPolitik etwas Vernünftiges zu machen.
Es geht um zentrale Fragen der Energiepolitik, aberder Wirtschaftsminister nimmt an der Debatte nicht teil.Herr Trittin, wenn ich das sagen darf: Ich habe nur dasBGB herangezogen und mich ausdrücklich von Juristenberaten lassen. Das tun Sie ja nicht. Deswegen bleibe ichbei meiner Behauptung, daß nach dem BGB eine höhereGewalt, die Sie für sich in Anspruch genommen haben,nur eine Katastrophe ist.
Ich wiederhole: Die Katastrophe steht außerhalb desRechts wie auch Sie. Man könnte auch sagen: SeitMontag oder Dienstag ist aus der Force majeure Trittineine Quantité négligeable geworden.Man könnte sich, Frau Hustedt, sicherlich darüberverständigen, daß der Wählerauftrag da ist. Aber durchden Wählerauftrag haben Sie doch keinen Freibrief fürRechtsbruch, Arbeitsplatzvernichtung und unglaubwür-dige Klimapolitik.
Ihre Moral, Herr Loske, reicht gerade bis zur deut-schen Grenze. Sie und Ihre Parteifreunde bekämpfen dieKonditionierungsanlage in Gorleben. Gleichzeitig besit-zen Sie die Unverfrorenheit, zu sagen: Wenn die Fran-zosen konditionieren, dann ist das richtig. – Was solleneigentlich französische Bürger über deutsche Politikerdenken, wenn diese sagen: „Bei uns ist das fürchterlichund gefährlich und die Menschen leiden darunter, aberwenn das in Frankreich passiert, dann ist das alles wohl-gelitten, weil dort Arbeitsplätze erhalten werden“?
Die gesellschaftlichen Konflikte, die Sie durch dieArt und Weise, wie Sie vorgehen, hervorrufen,
sind ein Beispiel dafür, daß Sie nicht gesellschaftlichenKonsens herbeiführen wollen, sondern den Unterneh-men diktieren wollen, was in diesem Lande zu gesche-hen hat.Ihnen, Frau Lambrecht, empfehle ich dringend, sichzu all dem, was Sie hier zur Wiederaufbereitung vorge-tragen haben, einmal die Entscheidungen anzuschauen.Sie werden feststellen, daß sich das Atomrecht in einerZeit einseitig auf die Wiederaufbereitung festgelegt hat,in der Sie die Regierungsverantwortung trugen. Ich fügehinzu: Die Verträge, die Sie hier kritisiert haben, und derNotenwechsel sind eine Konsequenz aus dem, wasschon die Regierung Schmidt in die Wege geleitet hat.Deswegen stehen wir an dieser Stelle in einer guten Tra-dition. Außerdem haben alle SPD-regierten Länder ge-wußt, daß es diesen Notenwechsel gibt.Frau Griefahn, die im Aufsichtsrat der Preussen-Elektra gesessen hat, hat nicht ein einziges Mal prote-stiert, als die Castor-Transporte nach La Hague undSellafield gingen, aber sie hätte protestiert, wenn sienach Gorleben gegangen wären. Das ist ihre Moral.
Außerdem, meine Damen und Herren, haben wirniemals behauptet, daß die Wiederaufarbeitung ein Ent-sorgungsweg sei. Sie ist unter einer Reihe von Gesichts-punkten ein Schritt in die Entsorgung hinein.Ich schließe mit zwei Bemerkungen. Erstens. Das,was Sie, Herr Loske, als Energiewende ankündigen, sindplus 2 Millionen DM gegenüber dem Etat von HerrnRexrodt zur Markteinführung, 1 Million DM für Solar-studien, und den Titel „Weltmeister in Windenergie“ hatHerr Trittin von Frau Merkel übernommen.Zweitens hat Herr Trittin am Donnerstag letzter Wo-che gesagt: Wir wollen eine Verdoppelung der erneuer-baren Energien bis 2010. Exakt dies steht im Zukunfts-programm von Wolfgang Schäuble.Sie machen keine neue Politik. Sie verursachen nurSchaden für dieses Land. Die Energiewende jedenfallshaben Sie diesem Land noch nicht belegbar und nach-vollziehbar vorgestellt.Eines sollten Sie sich im Zusammenhang mit derKernenergie abschminken.
Gleichwohl müssenSie zum Schluß kommen.Kurt-Dieter Grill
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Ja. – Wenn Sie hier
an diesem Pult Amerika als Beispiel für die Nutzung der
Kernenergie anführen, dann frage ich Sie, warum wir
eigentlich bisher gemeinsam mit großem Ärger zur
Kenntnis genommen haben, daß sich auf den internatio-
nalen Konferenzen ausgerechnet die Amerikaner der
Konsequenz aus der CO2-Politik verweigern. Wenn SieAmerika hier an diesem Pult als Vorbild zitieren, dann
sollten Sie vorher die Fakten prüfen. Ich sage Ihnen –
und damit schließe ich –: In dem Gutachten des BMJ
steht, daß die völkerrechtlichen Verbindlichkeiten dieser
Regierung ordnungsgemäß zustande gekommen sind
und daß Sie diese Rechtssituation zu berücksichtigen
haben. In Wahrheit ist die späte Einsicht des Bundes-
kanzlers in diese Rechtssituation die Ursache dafür, daß
Sie am Dienstag noch rechtzeitig die Kurve gekriegt ha-
ben.
Nun erteile ich dem
Kollegen Arne Fuhrmann von der SPD-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich habe einmal versucht,festzuhalten, wie oft mein Kollege Grill in seiner Rededas Wort „unverfroren“ benutzt hat. Ich habe es nichtzählen können; denn es geht immer alles so schnell.Außerdem hat er in seiner Rede dem Umweltministervorgeworfen, er stehe außerhalb des Rechts, und er hatMitglieder dieses Hohen Hauses des Rechtsbruchs, derArbeitsplatzvernichtung und anderer Dinge bezichtigt.Ich kann gar nicht alles aufzählen. Das kann jeder nach-her im Protokoll nachlesen.
Mich wundert, daß er nicht sagt, es sei unverfrorenvon den Wählern, daß sie uns beauftragt haben, auch inder Energiepolitik neue Wege zu gehen. Darüber habeich gestaunt. In der Chronologie seiner Rede wäre dieseigentlich logische Konsequenz gewesen.
– Wissen Sie, Herr Hirche, wenn wir anfangen, uns dar-über zu unterhalten, sollten wir uns auch über Ihre Ein-würfe unterhalten, die Sie pausenlos machen.Es gibt grundsätzlich unterschiedliche Vertragslagen.Im Jahre 1979 gab es Verträge, die die Klausel beinhal-teten, daß wir jederzeit aussteigen können. In den Jahren1990/91 gab es dann Notenwechsel, mit denen das, wasmeine Kollegin von Renesse vorhin ausgeführt hat, ein-getreten ist, nämlich ein Dickicht um all das herum, wasinnen- und außenpolitisch von der damaligen und vonder jetzigen Regierung hätte gemacht werden können,aber immer unter dem Damoklesschwert eines mögli-chen Bruchs völkerrechtlicher Art. Sie sollten also still-schweigen, sich ein bißchen zurückhalten
und ansonsten auf das achten, was geschrieben wurdeund was in diesem Hohen Hause beredet wird.
Das Erstaunliche ist ja, daß die Diskussion, die heuteaufbricht und gerade von Ihrer Seite mit großer Vehe-menz geführt wird – Sie sind ja geradezu –
– Danke. – Diese Diskussion ist in den vergangenen 16Jahren von Ihrer Seite nicht ein einziges Mal so geführtworden, daß die Menschen, die sich davon betroffenfühlen, und die Mehrheit in diesem Lande, die seit Jahr-zehnten den Ausstieg aus der Kernenergie wünscht, dasGefühl gehabt hätten: Hier sind wir an der richtigenStelle und werden auch zur Kenntnis genommen. – Nunpassiert das Ihrer Meinung nach viel zu schnell, viel zuflott. Ja, hol's der Geier! Was hätte denn passieren sol-len, als daß der Umweltminister als erstes all das inGang setzt, was, nachdem das Kabinett darüber gespro-chen hat, in kontinuierlicher Reihenfolge diesem HohenHause in Gesetzesform vorgelegt wird? Wir haben danndie Möglichkeit, gemeinsam darüber zu beraten undgemeinsam in das Gesetzgebungsverfahren einzutreten.
– Wie hätten Sie es denn gern? Hätten Sie gerne, daß esgenauso bleibt, wie es unter Ihrer Ägide war, daß derKanzler eine Entscheidung trifft
und alle, die da sitzen, dazu nicken, während die Oppo-sition nur gelegentlich eine Chance hat, sich an der Be-ratung über einen Gesetzentwurf oder einen Antrag, densie auf den Tisch bekommt, zu beteiligen?
– Ach, Herr Grill, wissen Sie: Die EVUs, die Engländerund die Franzosen haben alle ihre durchaus legitimenund nachvollziehbaren Wünsche.
– Sie haben Interessen. Mit diesen Interessen kann mansich identifizieren; man kann das Ganze aber auch imInteresse der Bundesrepublik Deutschland und der Men-schen, die hier leben, sowie im Interesse eines vernünf-tigen und geregelten Ausstiegs aus der Kernenergie zuden Akten legen und sagen: Das ist nicht so wichtig;wichtiger ist das, was wir in den nächsten Jahren zielori-entiert hier erreichen werden.
Wenn das in Ihren Köpfen ist, werden Sie sich auchdem nicht verweigern und entziehen, was innerhalb dernächsten Wochen und Monate auch auf Sie zukommt,nämlich eine konstruktive Mitarbeit, und sich nicht im-
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1244 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 18. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
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merfort zurücklehnen und sagen: „Ja, aber in den letztenJahren haben wir…“ und „Ja, aber da könnte dieses oderjenes Risiko entstehen“. Ich denke, daß wir alle die Ri-siken der Atomenergie einzuschätzen vermögen. DasRisiko eines Ausstieges aus dieser Energie ist in derZwischenzeit von der Mehrheit der europäischen Staatenerkannt worden. Den Nachweis der Risikolosigkeit einerweiteren Energienutzung von den EVUs über die AKWsmüßten Sie, Herr Hirche, und die gesamte Oppositionhier erbringen, damit wir uns dann damit auseinander-setzen können. Aber ich denke, diesen Schritt haben wirgemeinsam schon hinter uns.
– Herr Rexrodt, die Menschen haben dafür gesorgt, daßdas Theater von Ihrer Seite dadurch zumindest etwasgedämpft wird, daß Sie nun aus der Opposition herausreagieren und nicht mehr in der Regierung sitzen.
Das Theater, das Sie veranstaltet haben, solange Sie aufder Regierungsbank saßen, ist allen noch immer in guterErinnerung.Ich komme zum Schluß, Frau Präsidentin. – Worüberwir hier noch nicht gesprochen haben, was aber drin-gend in die Köpfe der Beteiligten gebracht werden muß,sind die Bedürfnisse und die Wunschvorstellungen derbetroffenen Menschen.
Es geht nicht darum, einen Stecker in die Steckdose zustecken, sondern es geht um das Gefühl für eine zu-kunftsorientierte, sichere Energiepolitik. Wenn Sie ein-mal hinterfragen, warum so viele junge Leute in diesemLand heute in Zukunftsängsten leben, werden Sie fest-stellen, daß das nicht ausschließlich mit der Situation aufdem Arbeitsmarkt zu tun hat, sondern auch damit, daßdie Perspektiven einer Zukunft, einer zukunftsorientier-ten Umweltpolitik und damit das Gefühl von Sicherheitfür die Betroffenen eine Rolle spielen.
Umweltpolitik und Energiepolitik sind nicht nur Auf-gabe von Wirtschaftsfachleuten, sondern eine Quer-schnittsaufgabe, die ebenso etwas mit Familienpolitik undSozialpolitik zu tun hat. Wenn dieser Bundestag das end-lich begreift, kommen wir gemeinsam einen Schritt weiter.Schönen Dank.
Wir sind damit am
Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Bundestages auf
morgen, Donnerstag, den 28. Januar 1999, 9 Uhr ein. Ich
wünsche Ihnen allen einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.