Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 und die Zusatzpunkte 8 bis 14 auf:
13. Abrüstungsdebatte
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zum Stand der Bemühungen um Rüstungskontrolle und Abrüstung sowie der Veränderungen im militärischen Kräfteverhältnis
- Drucksache 13/4450 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß Verteidigungsausschuß
ZP8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta Zapf, Gernot Erler, Volker Kröning, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Umfassendes Atomteststoppabkommen
- Drucksache 13/4567 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß Verteidigungsausschuß
ZP9 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Gert Weisskirchen (Wiesloch), Brigitte Adler, Dr. Ulrich Böhme (Unna), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verhandlung vor dem Internationalen Gerichtshof zur Frage der völkerrechtlichen Legalität des Einsatzes oder der Androhung des Einsatzes von Atomwaffen
- Drucksachen 13/1879, 13/3661 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Friedbert Pflüger Gert Weisskirchen
Dr. Helmut Lippelt ZP10 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Ludger Volmer, Angelika Beer, Dr. Helmut Lippelt und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Neue europäische Sicherheitsarchitektur und
die Rolle der französischen Atomwaffen
- Drucksachen 13/2456, 13/3897 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Friedbert Pflüger Karsten D. Voigt
ZP11 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Keine Atomwaffentests durch China und Frankreich
- Drucksache 13/2443, 13/4467 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Friedbert Pflüger Dr. Eberhard Brecht
Ludger Volmer
Dr. Olaf Feldmann
ZP12 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union
- zu dem Antrag der Abgeordneten Heidemarie Wieczorek-Zeul, Dr. Jürgen Meyer , Michael Müller (Düsseldorf), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Vertragsverletzung des EURATOM-Vertrags durch Frankreich
- zu dem Antrag des Abgeordneten Christian Sterzing und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Frankreich wegen Mißachtung des Artikels 34 Abs. 2 des EURATOM-Vertrags
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Willibald Jacob, Rolf Köhne, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS
EURATOM-Vertrag im Zusammenhang mit
den geplanten Atomtests im Mururoa-Atoll
- Drucksachen 13/2749, 13/2270, 13/2200, 13/4470 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Jürgen Meyer
Christian Sterzing
Ulrich Irmer
ZP13 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Friedbert Pflüger und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Dr. Helmut Haussmann, Dr. Olaf Feldmann, Jörg van Essen und der Fraktion der F.D.P.
Den KSE-Vertrag achten, die Rüstungskontrolle in Europa neuen Herausforderungen anpassen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gernot Erler, Volker Kröning, Uta Zapf, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Abrüstung konventioneller Streitkräfte in Europa: Sicherung und Fortentwicklung des KSE-Vertrages
- Drucksachen 13/3711, 13/3134, 13/4565 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Friedbert Pflüger Gert Weisskirchen Ludger Volmer
Dr. Olaf Feldmann
ZP14 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Friedbert Pflüger, Hans-Dirk Bierling, Claus-Peter Grotz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Olaf Feldmann, Ulrich Irmer, Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann und der Fraktion der F.D.P.
Umsetzung des ÜbereinkommenS zur Abrüstung chemischer Waffen
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD Abrüstung chemischer Waffen
- Drucksachen 13/3231, 13/2595, 13/4569 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Dirk Bierling Gert Weisskirchen Ludger Volmer
Dr. Olaf Feldmann
Zum Jahresabrüstungsbericht 1995 liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesaußenminister Kinkel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Fall von Mauer und Stacheldraht hat die Welt grundlegend verändert. Die seither erfolgten dramatischen Abrüstungsdurchbrüche sind Teil dieses historischen Wandels. Europa war während des Kalten Krieges ein einziges bedrohliches Waffenlager. Seitdem sind zwischen Atlantik und Ural fast 50 000 Panzer, Artillerie, Hubschrauber und Kampfflugzeuge verschrottet worden. Weltweit waren noch 1990 weit über 60 000 nukleare Sprengköpfe einsatzbereit. Heute zerstören die USA und Rußland zusammen jedes Jahr 4 000 Atomsprengköpfe. Bis zum Jahre 2003 werden diese gefährlichsten Waffen auf etwa ein Drittel, also zirca 20 000, reduziert sein.
Ja, das ist immer noch viel zu viel. Aber trotzdem ist es im Vergleich zu dem, was war, ein gewaltiger Erfolg. Wir hätten uns das vor zehn Jahren nicht träumen lassen.
Heute geht es der Abrüstung gerade wegen ihrer großen Erfolge ein klein wenig wie der NATO: Einige meinen, sie sei nun weniger wichtig, wenn nicht gar überflüssig geworden. Dazu kann ich nur sagen: Das Gegenteil ist der Fall. Weitere Fortschritte bei Abrüstung, Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung sind eine entscheidende Voraussetzung dafür, daß die Welt nicht erneut in feindliche Lager zerfällt und daß die Menschheit ihre ganze Kraft endlich der großen Friedensaufgabe unserer Zeit zuwenden kann: der Bekämpfung von Armut und Umweltzerstörung.
Deshalb dürfen wir in unserem Abrüstungsengagement nicht nachlassen.
Viele der schlimmsten Waffen, zum Beispiel die noch vorhandenen rund 45 000 nuklearen Sprengköpfe und die über 70 000 Tonnen chemischer Kampfstoffe allein in Rußland und den USA, können nicht einfach überwacht, abgerüstet und vernichtet werden. Das ist vielmehr ein technisch komplizierter, langwieriger und auch unwahrscheinlich teuerer Prozeß. Wir Deutschen helfen dabei, so gut es geht.
Mit Rußland und der Ukraine laufen langjährige Programme zur Beseitigung nuklearer und chemischer Waffen; in Kürze wird auch Weißrußland dazukommen.
Jede Mark, mit der wir zur Beseitigung dieser gefährlichen Hinterlassenschaft des Kalten Krieges bei-
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
tragen, ist, wie ich meine, wirklich gut angelegtes Geld.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nächste Woche beginnt die Überprüfungskonferenz zum KSE-Vertrag. Dabei geht es um einen Eckpfeiler europäischer Sicherheit. Die fast 50 000 zerstörten Waffensysteme, das enge Netz an Verifikation und gegenseitiger Information, breit angelegte vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen - all das steht hinter der völlig umgewandelten Situation, in der wir uns heute in Europa befinden. Es hat den Alptraum eines strategischen Überraschungsangriffs auf unser Land beseitigt; Grund genug für uns, bei dieser bevorstehenden Konferenz alles zu tun, damit die Wirkungskraft dieses Vertrages bewahrt wird.
Während die einstigen Gegner in der Ost-WestAuseinandersetzung abrüsten, wird in anderen Teilen der Welt weiter aufgerüstet.
Dieses verlagerte Wettrüsten unterminiert nicht nur die Stabilität wichtiger Regionen, es entzieht vor allem auch die Gelder für den dringend notwendigen und ungeheuer wichtigen wirtschaftlichen Aufbau dort.
Die Rüstungsausgaben der Entwicklungsländer werden auf jährlich 150 bis 200 Milliarden Dollar geschätzt, soviel wie die Ausgaben für Gesundheit und Erziehung zusammen. Das muß man sich einmal vorstellen.
Wer die Krisenherde dieser Welt von Bosnien bis Ruanda betrachtet, weiß: Oft sind es Waffen primitivster Art, mit denen ganze Regionen und Landstriche im wahrsten Sinne des Wortes terrorisiert werden.
Allein im letzten Jahr wurden weltweit 20 000 Menschen durch Minen getötet oder verstümmelt. Die geschätzten 10 Millionen versteckten Minen kennen keinen Waffenstillstand. Sie unterscheiden eben nicht zwischen Soldaten, Männern, Frauen, Kindern. Diese heimtückischen Mordwerkzeuge machen auch nach dem Ende von Feindseligkeiten ganze Landstriche, ganze Regionen auf Dauer unbewohnbar.
Ich habe mich deshalb persönlich sehr stark für einen deutschen Verzicht auf Antipersonenminen eingesetzt, und mit der Entscheidung, künftig auf diese Waffen vollständig zu verzichten, ist die Bundesregierung mit wahrhaft gutem Beispiel vorangegangen.
Das war auch gerade vor Beginn der dritten Genfer Verhandlungsrunde über eine Verschärfung des Landminenprotokolls ein ganz, ganz wichtiges Signal. Ich hoffe, daß das weltweit Schule macht.
In Genf wurden jetzt erheblich schärfere und teilweise völlig neue Verbote und Beschränkungen für
Einsatz und Export von Landminen vereinbart. Natürlich wären wir gern weitergegangen, besonders bei den Antipersonenminen. Dennoch glaube ich, ein erster und wichtiger Erfolg zur Ächtung dieser Menschheitsgeißel ist erreicht, und wir dürfen uns nicht entmutigen lassen.
Jetzt muß das neue Minenprotokoll möglichst rasch in Kraft treten und weltweit Geltung erlangen. Dafür müssen wir uns mit Nachdruck einsetzen.
Ich appelliere auch an alle Länder, dem Beispiel der Staaten zu folgen, die, wie Deutschland, ein einseitiges Exportmoratorium beschlossen haben. Die Länder, die das UN-Waffenübereinkommen bisher noch nicht unterzeichnet haben, fordere ich zum baldigen Beitritt auf.
Genf ist noch nicht das Ende des Kampfes, den wir gemeinsam in dieser Richtung führen müssen.
Auch im ehemaligen Jugoslawien, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist Abrüstung einer der Schlüssel für eine friedliche Zukunft. Das militärische Ungleichgewicht zwischen bosnischen Serben und der Föderation Bosnien und Herzegowina liegt bei den meisten schweren Waffen bei 3:1. Bei einigen Waffenkategorien ist das Verhältnis sogar noch schlechter. Dieses Ungleichgewicht darf jetzt nicht durch Aufrüstung ausgeglichen werden.
- Wir versuchen es ja zu verhindern.
Die Rüstungskontrollvereinbarungen des Dayton-Abkommens sind vor allem deutscher Initiative zu verdanken. Ich erinnere daran, daß auf meine Initiative am 18. Dezember 1995 auf dem Petersberg hierzu die Auftaktkonferenz im OSZE-Rahmen stattgefunden hat.
Ende Januar ist das Abkommen über Vertrauensbildung in Bosnien und Herzegowina abgeschlossen worden. Es wird umfassende militärische Transparenz schaffen. Der OSZE - das ist ein Novum - wird dabei bei Verifikation und Streitschlichtung eine wichtige Rolle zugewiesen. Aber wir müssen den Konfliktparteien zurufen - sie müssen das wissen -: Rüstungskontrolle und Wiederaufbau gehören zusammen. Wer rüsten will und weiter aufrüstet, verwirkt die Hilfe beim Wiederaufbau.
Wir sind an sich bei der Abrüstungsproblematik im früheren Jugoslawien im Vergleich zu anderen Bereichen der Umsetzung des Daytoner Abkommens relativ weit gekommen. Ich habe vor zwei Tagen in den USA wieder ausführliche Gespräche zu diesem Themenkreis geführt. Wenn ich mir die Gesamtimplementierung des Daytoner Abkommens ansehe, dann
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
darf ich feststellen: Der Abrüstungsbereich - zumindest so, wie es bisher aussieht - ist relativ weit gediehen. Aber ich räume ein: Das ändert nichts daran, daß wir mit großer Sorge darauf achten müssen, daß jetzt nicht sozusagen über andere Kanäle eine Wiederaufrüstung erfolgt.
Meine Damen und Herren, der vorliegende Abrüstungsbericht der Bundesregierung zeigt: 1995 war ein Jahr von bemerkenswerten Fortschritten auf dem Weg, unsere Welt mit weniger Waffen sicherer zu machen. Fast auf den Tag genau vor einem Jahr konnten wir in New York zusammen mit 174 anderen Staaten den Atomwaffensperrvertrag unbefristet verlängern. Das war ein großer Erfolg. Wenn wir auch den atomaren Geist nicht in die Flasche zurückzwingen können - das werden wir wohl jedenfalls auf absehbare Zeit nicht schaffen -, so müssen wir doch alles tun, um ihn wenigstens zu zähmen.
Unser Beitrag war für den positiven Ausgang dieser Konferenz außerordentlich wichtig. Entsprechend war auch unser Engagement. Ich glaube, daß unsere besondere Glaubwürdigkeit als ein Staat, der ein für allemal auf Massenvernichtungswaffen verzichtet hat, dabei eine große Hilfe war. Das ist etwas, was uns bei dieser Konferenz und bei anderen Konferenzen dieser Art außerordentlich entgegenkommt.
Meine Damen und Herren, das nächste vordringliche Ziel ist jetzt das generelle Verbot von Atomtests. Die Verhandlungen über einen umfassenden nuklearen Teststopp müssen spätestens im Herbst dieses Jahres erfolgreich abgeschlossen werden. Ich rufe alle Staaten auf, auch in der Zeit bis zum Inkrafttreten einer solchen Vereinbarung keinerlei Atomtests mehr durchzuführen.
Die internationale Überwachung des Teststopps wird auch von uns einen erheblichen finanziellen Beitrag erfordern. Ich bitte Sie alle hier im Deutschen Bundestag um Verständnis und sehr herzlich um Unterstützung.
Mit der unbegrenzten Verlängerung des Atomwaffensperrvertrags und dem erwarteten umfassenden Verbot von Atomtests sind zwei wesentliche Forderungen meiner Zehn-Punkte-Initiative vom Dezember 1993 erfüllt. Was sind nun die nächsten Schritte?
Es geht um die Umsetzung des Verhandlungsmandats zum Produktionsstopp für Spaltmaterial zu Waffenzwecken, dem sogenannten Cut-off. Es geht um die Aushandlung eines Verifikationsprotokolls auf der Überprüfungskonferenz zur B-Waffen-Konvention Ende 1996. Es geht um die Ratifizierung des START-II-Vertrages auch durch die russische Duma, nachdem der US-Senat dies getan hat. Es geht um die rasche Inkraftsetzung des Chemiewaffen-Übereinkommens sowie des Vertrags über den Offenen Himmel.
Bei den Gesprächen in Washington ist wieder deutlich geworden, daß wir bei den Überlegungen, die zur Erweiterung der NATO angestellt werden, von russischer Seite verstärkt mit Einwendungen zum KSE-Vertrag und zur START-Problematik zu rechnen haben. Das ist etwas, was wir in unsere Überlegungen einbeziehen müssen und was bei der Diskussion der NATO-Erweiterung, so glaube ich, in der Zukunft eine relativ große Rolle spielen wird.
Meine Damen und Herren, Abrüstung bleibt auch nach dem Ende des Kalten Krieges für unsere Außenpolitik von absolut zentraler Bedeutung.
Ich bin froh - ich sage das deutlich und klar -, daß wir hier einen parteiübergreifenden Konsens haben. Daß das so ist, hilft in den internationalen Verhandlungen außerordentlich und hat unsere deutsche Position im internationalen Dialog zur Abrüstung ganz entscheidend gestärkt.
Ich erinnere nur an die Ratifikation des Chemiewaffen-Übereinkommens, an die Entschließung zur Verlängerung des Atomwaffensperrvertrages und an die Entschließung zum Verbot von Antipersonenminen. Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Kolleginnen und Kollegen des Bundestages für diese Unterstützung.
Europa und die Welt sind in den vergangenen Jahren sicherer geworden. Dazu haben Abrüstung, Rüstungskontrolle und natürlich auch die Nichtverbreitung wesentlich beigetragen.
Die Bilder von den Krisenherden dieser Welt beweisen jedoch Tag für Tag: Es bleibt noch unendlich viel zu tun. Die Widerstände am Verhandlungstisch sind oft sehr groß, aber ich versichere Ihnen, daß die Bundesregierung in ihren Anstrengungen nicht nachlassen wird. Unseren Kindern und Enkeln eine friedliche und bewohnbare Welt zu hinterlassen ist jede Anstrengung wert. Deshalb muß die Abrüstung als ganz, ganz wesentliches Thema auf unserer Tagesordnung bleiben.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort der Abgeordneten Uta Zapf.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe voll Befriedigung, Herr Außenminister, Ihre Betonung gehört, daß Abrüstung von zentraler Bedeutung bleibt und daß die Bundesregierung sich mit ihrer ganzen Kraft in diesem Bereich engagieren will.
- Wir werden das ganz sicher unterstützen; wir haben das in der Vergangenheit heftig unterstützt, ja sogar angetrieben, Herr Nolting. Sie werden das sicher nicht vergessen haben.
Uta Zapf
Trotzdem muß ich sagen: Ich bedaure, daß das Thema Abrüstung in der allgemeinen politischen Diskussion und in den Debatten des Deutschen Bundestages einen geringen Stellenwert einnimmt. Das läßt sich sehr genau an dem mühsamen Zustandekommen dieser Abrüstungsdebatte aufweisen - immer wieder verschoben, immer wieder verkürzt -, auch daran, wie mit den eingebrachten Anträgen umgegangen worden ist: Sie wurden spät in der Nacht aufgerufen, und dann haben die Redner und Rednerinnen ihre Beiträge zu Protokoll gegeben, weil niemand im Saale war. Auch heute sehe ich den Saal nicht überbesetzt, meine Damen und Herren.
Heute steht der Abrüstungsbericht 1995 auf der Tagesordnung. Ich möchte allerdings daran erinnern, daß wir den Abrüstungsbericht für das Jahr 1994, der heute nicht auf der Tagesordnung steht, überhaupt noch nicht verabschiedet haben. Formal gesehen ist dies ein Mangel, inhaltlich allerdings nicht,
weil es ja wenig Sinn macht, einen völlig veralteten und überholten Bericht zu diskutieren.
Beschämend ist das Desinteresse deshalb, weil die Feststellung im Abrüstungsbericht der Bundesregierung, die Herr Kinkel eben noch einmal bestätigt hat, richtig ist, daß Rüstungskontrolle, Abrüstung und vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen dazu beigetragen haben, Europa in den vergangenen Jahren sicherer zu machen. Deshalb sollten Abrüstungsthemen ganz vorn auf der Tagesordnung stehen.
Der Abrüstungsbericht der Bundesregierung verdient Aufmerksamkeit. Er ist ein umfassender, interessanter, materialreicher Bericht und ein wichtiges Arbeitsinstrument für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auch einmal die ausgezeichnete Zusammenarbeit im Bereich des Unterausschusses Abrüstung und Rüstungskontrolle positiv hervorheben. In kooperativer Anstrengung der Fraktionen ist es gelungen, wichtige Abrüstungsverhandlungen mit gemeinsamen Initiativen parteiübergreifend zu unterstützen, und auch heute liegen zwei solche gemeinsamen Initiativen - die eine zum KSE-Vertrag und die andere zum ChemiewaffenÜbereinkommen - hier vor.
Wir bedanken uns auch ausdrücklich bei den Abrüstungsabteilungen der Ministerien für die gute Zusammenarbeit.
Damit komme ich auch schon zum Ende des Lobens.
- Doch, doch, jetzt kommen all die Einschränkungen. Die müssen erwähnt werden, Herr Nolting.
- Es hat Ihnen gefallen. Aber jetzt kommt das, was mir besser gefällt.
Ein solches Lob kann allerdings nicht dazu führen, die Unterschiede zwischen meiner Fraktion und den Fraktionen der Regierungskoalition zu verwischen. Ein ganz wichtiger Unterschied liegt darin, daß wir uns mit dem bislang in der Abrüstung Erreichten weniger leicht zufriedengeben als die Koalition. Als Abgeordnete haben wir nicht die Aufgabe, die Regierung zu loben, sondern auf Mängel deutlich hinzuweisen.
Einen allgemeinen Mangel der Abrüstungspolitik der Bundesregierung offenbart dieser Bericht überdeutlich. Es mangelt ihr an Kreativität und an neuer Initiative:
kein Wort zu möglichen Perspektiven präventiver Abrüstung oder der Verhinderung qualitativer Aufrüstung; kein Ansatz zur Fortentwicklung der konventionellen Abrüstung in Europa - dazu wird mein Kollege Gernot Erler noch Stellung nehmen -; bei den Positionen zu laufenden Verhandlungen ein ängstliches Anpassen an den Konsens der Großmächte und westlicher Industriestaaten.
Die vielgelobte Zehn-Punkte-Initiative von Herrn Außenminister Kinkel
enthält keinen einzigen Vorschlag, der nicht schon vorher durch die USA abgesegnet wurde.
Auch bei den Landminen, Herr Außenminister, wozu Sie eben lobend hervorgehoben haben, was die Bundesregierung in der letzten Zeit gemacht hat, nämlich völlig auf Antipersonenminen zu verzichten, sind Sie nicht in der Vorreiterrolle gewesen; sondern eine ganze Reihe europäischer Staaten und NATO-Staaten haben diese Rolle übernommen
- nicht nur kleine - und ihren Verzicht erklärt. Ich denke, das muß man hier deutlich machen, auch
Uta Zapf
wenn wir dankbar sind, daß der Verzicht doch erklärt wurde - wenn auch spät.
Wo bleiben die Vorschläge zum Ausbau und zur Stärkung der OSZE im Bereich der friedlichen Konfliktregelung? Wo bleibt der Beitrag der Bundesregierung, wenn es um die Einrichtung eines zivilen Friedensdienstes geht? Sie haben im Zusammenhang mit Dayton auf die Wichtigkeit des zivilen Aufbaus hingewiesen.
Es gibt einen interfraktionellen Antrag, der sogar mit den Kirchen abgestimmt ist. Er hängt in der CDU/CSU-Fraktion und wird blockiert. Ich fordere Sie auf, diesen Antrag in den Bundestag einzubringen und zur Diskussion zu stellen, damit wir über die Ausgestaltung einer solchen Institution reden können.
Lassen Sie mich als weiteres Beispiel die C-Waffen-Konvention anführen. Das Abkommen ist noch immer nicht in Kraft. Sie haben es beklagt, Herr Minister. Bisher haben zwei wichtige Staaten, Rußland und die USA, dieses Abkommen noch nicht ratifiziert. Es ist offenkundig, daß auch die bisherigen Bemühungen der Bundesregierung nicht ausgereicht haben. Die Bundesregierung muß mehr tun.
Wer ständig vor der Gefahr chemischer Waffen warnt, aber noch nicht einmal in der Lage ist, seine engsten Partner und Freunde zur Ratifizierung zu drängen oder seinen ganzen politischen Einfluß, den eine Männerfreundschaft aufzubringen vermag, einzusetzen, bringt wohl zuwenig Mut vor seinen Männerfreunden auf.
- Das war auch nicht so, sondern politisch gemeint, Herr Feldmann.
Meine Damen und Herren, wir haben uns parteiübergreifend für die unbefristete und unkonditionierte Verlängerung der Geltung des Nichtverbreitungsvertrages eingesetzt. Die Glaubwürdigkeit eines solchen Einsatzes verlangt aber auch, daß man jetzt intensiv auf den Abschluß weiterer notwendiger Vereinbarungen dringt, die das Nichtverbreitungsregime stärken können und die in den Konferenzdokumenten zur Verlängerungskonferenz angesprochen sind.
Die Nichtkernwaffenstaaten knüpften an ihre Zustimmung hohe Erwartungen. Insbesondere forderten sie Fortschritte bei der verbindlichen Zeitplanung für nukleare Abrüstung und eine äußerste Zurückhaltung der Kernwaffenstaaten bei Atomwaffentests. Diese Erwartungen sind in hohem Maße durch die Kernwaffentests von China und Frankreich enttäuscht worden.
China hat erneut einen Atomwaffentest angekündigt und ist offensichtlich unerschütterlich willens, seine Tests bis zum Abschluß eines Teststoppvertrages auszuführen.
Frankreich hat die Serie seiner Tests abgeschlossen. Ich finde es aber bedauerlich, daß die Bundesregierung den Protest, den wir mit einem Antrag, der auf der heutigen Tagesordnung steht, angemeldet haben, nicht unterstützt hat. Auch dies halte ich für einen politischen Mangel.
Dieses Verhalten der Kernwaffenstaaten führte zu erheblichen Verärgerungen bei den nicht gebundenen Staaten. Der Konsens bei wichtigen Abrüstungsvorhaben ist gestört, und dadurch kann unter Umständen der Fortgang bei wichtigen Vereinbarungen behindert werden. Diese wichtigen Vereinbarungen sind: ein umfassendes Verbot von Atomtests, das in diesem Jahr abgeschlossen werden soll; ein Abkommen über das Verbot der Produktion waffenfähigen Spaltmaterials, das sogenannte Cut-off; die Verbesserung der Kontrollmöglichkeiten, also der „safeguards", der IAEO zur besseren Aufdeckung illegaler Atomprogramme und die Einrichtung eines internationalen Plutoniumüberwachungsregimes.
Meine Damen und Herren, ein Vertrag zum umfassenden Teststopp wäre nur dann ein wichtiger Schritt zur nuklearen Abrüstung, wenn er in der Tat die Weiterentwicklung von Nuklearwaffen bremsen oder verhindern würde - so steht es im Abrüstungsbericht. Dies. bedeutet als Mindestforderung nicht nur die sogenannte Zero Threshold Option, wie sie jetzt auf dem G-7-Gipfel vorgesehen worden ist, sondern auch das Verbot subkritischer Tests, also Tests, bei denen keine Kernsprengungen ausgelöst werden. Diese müssen ebenso in den Verbotstatbestand einbezogen werden.
Offensichtlich ist die Bundesregierung aber nicht bereit, diese weitergehende Forderung zu tragen.
Atomtests werden in Zukunft ohnehin durch Computersimulation ersetzt werden. Hier wird ein Problem deutlich: Die Kernwaffenstaaten wollen offensichtlich ihre Kernwaffenforschung fortsetzen. Sie argumentieren, daß diese Forschung aus Gründen der Sicherheit in bezug auf alternde Arsenale notwendig sei. Der Jason-Report, der in den USA im August vergangenen Jahres veröffentlicht worden ist, hat dieser Darstellung ausdrücklich widersprochen. Es ist offensichtlich, daß die Gesamtheit der neu geplanten Technologien sowohl für oberirdische Kernwaffenexperimente als auch für die Computersimulation von nuklearen Explosionen geeignet ist, die Erforschung und Entwicklung von neuen Kernwaffen zu ermöglichen. Ich denke, dies sollten wir nicht mittragen.
Durch diesen Ansatz entsteht bei den Nichtkernwaffenstaaten natürlich der Verdacht, daß das umfassende Teststoppabkommen dazu dient, den Kreis der kernwaffenbesitzenden Staaten auf die bisherigen zu begrenzen - wogegen ja nichts einzuwenden ist; das wollen wir ja alle. Der erhoffte Schritt hin zum Ende der Atomwaffenproduktion findet nicht statt. Herr Minister, Sie haben diesen erhofften Schritt zum
Uta Zapf
Ende der Atomwaffenproduktion im Abrüstungsbericht ausdrücklich angesprochen.
Wer also den Verdacht ausräumen will, hier werde ein Vertrag nur für die Habenichtse gemacht, ohne die eigene Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung einlösen zu wollen, muß endlich Fortschritte in weiteren Bereichen einfordern.
Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Teststoppabkommen und dem „ Cut-off"-Abkommen. Das „Cut-off " -Abkommen soll dazu dienen, die Herstellung von Kernwaffen sozusagen an der materiellen Wurzel abzuschneiden. Damit würde ein „Cut-off" -Abkommen einen wesentlichen Schritt zu einer kernwaffenfreien Welt darstellen. Bisher haben die Verhandlungen zu diesem „Cut-off" - obwohl ein Mandat vorliegt - noch nicht begonnen. Auch auf der Prioritätenliste der Bundesregierung, Herr Minister, habe ich das „Cut-off" vermißt.
Außenminister Kinkel hat in seiner Zehn-PunkteInitiative, die hier schon angesprochen worden ist, das „Cut-off" auch nur mit einem einzigen Satz unterstützt. Das scheint es ja wohl schon gewesen zu sein.
Wir fordern die Bundesregierung auf - um das „Cut-off"-Abkommen endlich in die Gänge zu bringen -, die Forderung der ungebundenen Staaten nach der Einrichtung eines neuen Ad-hoc-Ausschusses zum Thema „Nukleare Abrüstung" zu unterstützen. Die Kernwaffenstaaten lehnen die Koppelung dieser beiden Verhandlungsansätze ab. Wer aber Proliferationsgefahren ernsthaft bannen will, wer die Noch-Habenichtse von Atomwaffengelüsten abhalten will, muß auch mit dem im Atomwaffensperrvertrag festgeschriebenen Abrüstungsgebot Ernst machen. Die Einrichtung eines solchen Ad-hoc-Ausschusses ist eine berechtigte Forderung.
Im Zusammenhang mit dem Verhandlungsmandat zum „Cut-off" verlangen Pakistan und Ägypten auch die ausdrückliche Einbeziehung bereits existierender Lagerbestände von Spaltmaterial in das Verhandlungsmandat. Sie haben selber auf die große Menge an Abrüstungsplutonium hingewiesen, die herumliegt. Deshalb ließe sich meines Erachtens auch dieser Punkt im Rahmen eines internationalen Plutoniumregimes, das solche Bestände unter internationale Kontrolle stellt, lösen. Ich meine, auch das ist ein Punkt, auf den wir hinarbeiten müssen.
Ein weiterer Punkt in diesem Zusammenhang ist die Verbesserung der Safeguards. Es gibt Vorschläge der IAEO, die im sogenannten 93-plus-2-Paket enthalten sind, von denen einige schon umgesetzt wurden. Die weitestgehenden Vorschläge in Teil 2 des Paketes, die umfangreiche Inspektionen und ein Umweltmonitoring vorsehen, sind allerdings noch nicht umgesetzt. Hier scheint die Bundesregierung im Bremserhäuschen zu sitzen.
Damals haben Sie diese Maßnahmen auf unsere Kleine Anfrage hin positiv beurteilt. Um so mehr bin ich erstaunt, wenn ich nun in internationalen Publikationen lesen muß, daß sich die Bundesregierung offensichtlich heftig gegen die Umsetzung dieser Maßnahmen stemmt.
Herr Außenminister, ich fordere Sie auf, diesen Maßnahmen zuzustimmen. Das Beispiel Iran macht deutlich, daß die Entdeckung verdeckter Atomwaffenprogramme nur durch ein verbessertes Monitoring möglich ist und daß die vermuteten verdeckten Atomprogramme des Iran mit den bisherigen Kontrollmöglichkeiten nicht aufzuspüren waren. Deswegen sind diese Safeguards von höchster Wichtigkeit.
Zuletzt möchte ich ein Thema ansprechen, das auf der Tagesordnung der Abrüstungsagenda stehen muß, nämlich das Abkommen über das Verbot biologischer Waffen.
Obwohl die 4. Überprüfungskonferenz zum BWÜ in der Zeit vom 25. November bis 13. Dezember 1996 ansteht, wird das BWÜ in dem Prioritätenkatalog der Bundesregierung nicht erwähnt. Dabei ist es aus vielen Gründen notwendig, die Konvention über biologische Waffen zu verbessern und sie um vertrauensbildende Maßnahmen sowie ein funktionierendes Verifikationsregime zu ergänzen.
Der rasche Fortschritt in der Mikrobiologie und der Biotechnologie sowie die zunehmenden Proliferationsgefahren, die sich insbesondere am Beispiel Irak gezeigt haben, machen Transparenz und Kontrolle zu einer vordringlichen Aufgabe im Bereich der Eindämmung biologischer Waffen. Das Verifikationsregime, das im Zusammenhang mit dem Chemiewaffenübereinkommen erarbeitet worden ist, kann hier ein Vorbild sein.
Jetzt kommt wieder ein bißchen Lob; das muß zum Schluß auch noch einmal sein.
- Ja, Sie haben schon Entzugserscheinungen. Die Transparenz, die die Bundesrepublik -
Sie sind außerdem am Schluß Ihrer Redezeit.
- das ist mein letzter Satz - durch die öffentliche Abhaltung ihrer B-Schutz-Tagungen praktiziert, möchte ich in diesem Zusammenhang ausdrücklich lobend erwähnen.
Ich glaube, daß das für die Transparenz und die Vertrauensbildung hilfreich ist.
Ich danke Ihnen.
Nun gebe ich dem Abgeordneten Dr. Friedbert Pflüger das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kollegin Zapf beklagt, daß es für die Abrüstung einen zu geringen Stellenwert im öffentlichen Interesse gibt. Das liegt daran, daß sich die Menschen an den Abrüstungsprozeß gewöhnt haben,
daß sie ihn als etwas empfinden, was inzwischen wie selbstverständlich vonstatten geht.
Damit haben sie recht: Der Abrüstungsprozeß hat in den letzten fünf Jahren so dramatische Erfolge gehabt, daß die Öffentlichkeit nicht mehr jeden Schritt auf diesem Gebiet mit Posaunen und Trompeten begleitet. Das zeigt im Grunde nur, wie erfolgreich der Abrüstungsprozeß gewesen ist.
Wir haben fünf Jahre der dramatischen Abrüstung überall auf der Welt hinter uns.
Wir haben in den letzten Jahren einen enormen Transfer militärischer Ressourcen in den zivilen Bereich erlebt. Ich werde gleich versuchen, das im einzelnen zu quantifizieren.
Zunächst aber, so glaube ich, müssen wir uns für einen Moment vergegenwärtigen, was Abrüstung und Rüstungskontrolle heute genau bedeuten.
Wir haben in den 70er Jahren und auch noch Anfang der 80er Jahre vor allen Dingen Rüstungskontrolle gehabt, das heißt Obergrenzen, die vereinbart worden sind, um den Ost-West-Konflikt einigermaßen zu stabilisieren. Seit etwa Mitte der 80er Jahre ist zur Rüstungskontrolle das Element der Abrüstung gekommen, vor allen Dingen mit den Verträgen über die Vernichtung der Mittelstreckenraketen in Europa und mit den START-Vereinbarungen über den Abbau der strategischen Nuklearrüstung.
Dieser Prozeß hat durch das Ende des Kalten Krieges eine neue, große Dynamik erhalten. Gleichzeitig ist aber durch den Zusammenbruch der Sowjetunion ein neues Aufgabengebiet entstanden, nämlich die Verhinderung der Weiterverbreitung von Nuklearwaffen und von nuklearem Know-how. Das ist, wenn wir über Abrüstung reden, heute eine der ganz entscheidenden Aufgaben. Wir müssen darauf achten, daß auf dieser Welt nicht neue, andere Staaten, eventuell aggressive und fundamentalistische Staaten, in den Besitz von Massenvernichtungswaffen kommen und andere Teile der Welt bedrohen. Auch das gehört zur Abrüstungspolitik, und ich bin dankbar, daß das in der Bundesregierung erkannt worden ist.
Wir haben gerade vor wenigen Tagen die Unterzeichnung des Abkommens über eine nuklearwaffenfreie Zone Afrika erlebt.
Der Südpazifik ist ebenfalls nuklearwaffenfrei. Lateinamerika ist nuklearwaffenfrei. Alles zusammen gesehen, ist die Hälfte der Erde und fast die gesamte südliche Hemisphäre heute eine atomwaffenfreie Zone.
Wenn Sie, Frau Kollegin Zapf, sagen, dies sei alles weit weg, dann zeigt das nur den provinziellen Ansatz, den Sie bei diesen Dingen verfolgen. Es geht bei Abrüstung und Nonproliferation wirklich um die Welt und nicht nur um unsere Nabelschau hier in Europa.
Aber auch wenn wir nach Europa gucken, können wir heute feststellen, daß die einmalige Konzentration von Rüstungen und Soldaten auf der Welt, die wir hier in Zeiten des Kalten Krieges erlebt haben, der Vergangenheit angehört. Das ist ein Erfolg, den sich niemand, vor allem nicht die Friedensdemonstranten auf der Hofgartenwiese im Jahre 1983, hat vorstellen können. Es hat eine gigantische Abrüstung gegeben.
Ich finde, wir sollten auch einmal den Versuch machen - und ich bin dazu bereit -, unter uns darüber zu reden, was das in Pfennig und D-Mark im einzelnen bedeutet. Ich will versuchen, das hier deutlich zu machen.
Ich stelle die These auf - wir können dann darüber diskutieren -, daß es seit 1991 eine Friedensdividende von etwa 170 Milliarden DM gegeben hat.
Ich will versuchen, das im einzelnen aufzuzeigen, und Sie sind herzlich eingeladen, im weiteren Verlauf der Debatte dazu Stellung zu nehmen.
Wir haben im Jahre 1989, vor der Wiedervereinigung, einen Bundeswehrplan gehabt, der vorsah, wie sich der Haushalt der Hardthöhe in den folgenden Jahren entwickeln sollte. Das war der letzte Bundeswehrplan vor der Wiedervereinigung. Er ist auch im Parlament diskutiert worden.
Dieser Bundeswehrplan sah vor, daß zwischen 1991 und 1996 jedes Jahr Beträge von 55 bis
Dr. Friedbert Pflüger
56 Milliarden DM - zum Preisstand von 1988 - ausgegeben werden.
Wenn wir jetzt gucken, wie sich der Haushalt real entwickelt hat, dann stellen wir fest, daß wir in jedem Jahr zwischen 11 und 20 Milliarden DM gespart haben. Die Gesamtersparnis beträgt 87 Milliarden DM - immer Bundeswehrplan 1989 gegenüber den realen Ausgaben des Verteidigungsministeriums.
Hinzu kommen die enormen Ressourcen, die dadurch eingespart worden sind, daß der DDR-Haushalt für die NVA weggefallen ist. Ihn kann man bei 213 000 Soldaten einschließlich der Grenztruppen, die es damals auf dem Gebiet der ehemaligen DDR gab, auf etwa 20 Milliarden Mark quantifizieren.
Selbst wenn ich ganz konservativ schätze - und das will ich tun -, würde ich sagen, es sind 15 Milliarden Mark. Das ergäbe zusammen einen Betrag von 75 Milliarden DM, der an Ressourcen eingespart worden ist.
Hinzu kommen aber weitere Beträge. 1 Milliarde DM hat die Bundeswehr aufgewendet, um Material der ehemaligen NVA abzurüsten und zu zerstören. 300 Millionen DM sind für das Minenräumen an der innerdeutschen Grenze ausgegeben worden. Die Bundeswehr hat - völlig unbeachtet von der Öffentlichkeit - in den letzten vier Jahren 100 Millionen DM ausgegeben, um die Kontrolle und die Abrüstung von Massenvernichtungswaffen im Irak mitzufinanzieren,
eine ganz ausgezeichnete Leistung, die wir hier vollbracht haben und die überall in der Welt, nur nicht bei der Opposition, Anerkennung findet.
Wir haben trotz großer Haushaltszwänge bei uns 50 Millionen DM an Abrüstungshilfe für die Ukraine und für Rußland gezahlt, damit der technisch schwielige Prozeß in den Griff bekommen wird, diese enormen Bestände an Plutonium, an hochangereichertem Uran, an C-Waffen überhaupt umzuwandeln und zu beherrschen.
Herr Kollege Pflüger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lippelt?
Ja, sehr gern.
Herr Kollege Pflüger, ich will diese Zahlen hier überhaupt nicht bestreiten.
Aber wären Sie in der Lage, sie einmal auf die immer noch bestehenden jährlichen Gesamtausgaben zu beziehen? Sie kennen doch wahrscheinlich den Bericht von UNDP, Sie kennen die eindrucksvolle Graphik, die da vor uns liegt, und vielleicht tritt das ja deshalb so wenig in Erscheinung, weil die Erwartungen angesichts der jährlichen Ausgaben ganz andere sind.
Herr Kollege Lippelt, das einzige an Ihrer Zwischenfrage, was ich wichtig, interessant und verständlich fand, war, daß Sie gesagt haben, daß Sie die Zahlen nicht bestreiten wollen.
Das, finde ich, ist in der Tat das Entscheidende.
Natürlich können Sie sich drüber beklagen - ich gehe gem auf den anderen Teil auch ein -, daß angesichts dessen, was wir auf der Welt an Problemen zu lösen haben, von der Klimakatastrophe bis hin zu Hunger und Armut in der Dritten Welt, noch immer viel zu viel Ressourcen für Militär ausgegeben werden. Nur hilft es doch nicht, sich in die Welt zu stellen und zu sagen „Frieden schaffen ohne Waffen", sondern wir müssen sehen, in welchem politischen Umfeld wir uns befinden. Wir können doch nicht Abrüstung als Selbstzweck betrachten, sondern müssen doch immer sehen, was wir in einer gegebenen Situation leisten können!
Und da ist das, was hier von der Hardthöhe, vom Verteidigungsministerium geleistet worden ist, ganz exzeptionell.
Aber ich will Ihnen, da Sie die Zahlen nicht bestreiten, noch ein paar weitere geben, Herr Kollege Lippelt.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, Herr Kollege Pflüger?
Nein, ich möchte gerne fortfahren.
Ich möchte Ihnen noch ein paar Zahlen sagen. Wir haben hier in der Bundesrepublik Deutschland 600 Bundeswehrstützpunkte aufgelöst. 11 400 Hektar Bundeswehrterritorium wurden der zivilen Nutzung übergeben. Dabei ist für den Bundeshaushalt ein Erlös von 9 Milliarden DM entstanden. Wir haben hier in Deutschland vor 1989 1,5 Millionen Soldaten gehabt, die deutschen Soldaten, die Soldaten der Alliierten und die russischen Soldaten. Alle zusammen
Dr. Friedbert Pflüger
1,5 Millionen Soldaten! Heute, sieben Jahre später, haben wir weniger als 500 000 Soldaten auf unserem Boden stehen.
Der Kollege Kinkel hat darauf hingewiesen, wie viele Waffensysteme in Europa auf Grund der Vereinbarung über die konventionelle Sicherheit in Europa, des KSE-Vertrages, vernichtet worden sind. Allein wir als Bundesrepublik haben weit über 8 000 angriffsfähige Waffensysteme zerstört. Wer angesichts dieser Zahl - ich darf sie noch einmal nennen - von 170 Milliarden DM, nach konservativen Berechnungen, angesichts der wirklichen Auflösung von Konzentrationen von Waffen und Militär von einer Militarisierung der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland spricht, Frau Kollegin Beer, der hat die Realität nicht verstanden. Dieser Vorwurf ist absurd.
Wir streiten ja außerhalb des Kreises der Außen- und Verteidigungspolitiker im Bundestag derzeit über Sparprogramme und über wirtschaftliche und sozialpolitische Strukturveränderungen. Wir sehen alle, wie schwer das in unserem Lande ist, wo es Besitzstände und Lobbyorganisationen gibt. Ich glaube, man kann die These wagen, daß die Bundeswehr in den letzten fünf Jahren diesen Strukturwandel zu einem sehr großen Teil bereits vor der gesamten Gesellschaft hinter sich gebracht hat: eine enorme Leistung, mit immer weniger Geld die NVA zu integrieren, einen Abrüstungsprozeß - zum Teil auch in der Welt - mitzufinanzieren und trotzdem - das ist eben das, was uns unterscheidet, Frau Kollegin Beer - verteidigungsfähig zu bleiben und die Sicherheit unseres Landes nicht zu riskieren.
Wenn wir uns einmal einen Blick auf die nuklearen Kapazitäten erlauben, so haben wir allein in Westdeutschland in den achtziger Jahren 3 500 nukleare Sprengköpfe gehabt. Die ostdeutschen Zahlen sind uns nicht genau bekannt. Das war eine Konzentration von Massenvernichtungswaffen, oft auch Waffen, die nur wenige Kilometer weit fliegen - nukleare Artillerie, Kurz- und Mittelstreckenraketen; ein wesentliches Thema, das der Kollege Dregger immer wieder angesprochen hat -, eine ungeheure Gefährdung auf dem Boden unseres Landes, was damals als notwendig erachtet worden ist, um die Balance, um das Gleichgewicht des Schreckens zu erhalten und damit den Frieden zu sichern.
Aber damals sind Sie herumgezogen und haben gesagt: Jetzt müssen diese Waffen weg. Und Sie haben dafür demonstriert. Sie haben dafür demonstriert, und wir haben es gemacht, Herr Kollege Lippelt.
Von den 3 500 nuklearen Sprengköpfen gibt es heute weniger als 5 Prozent. Das ist eine Leistung, die Sie doch anerkennen sollten, wenn Sie selbst mit Ihren eigenen politischen Überzeugungen im reinen bleiben wollen.
Wir werden in Kürze ein Atomteststoppabkommen unterzeichnen. Ich finde es auch hier sehr bezeichnend, wie Sie argumentieren. Als die Franzosen vor kurzem in Mururoa Atomtests durchführten, haben Sie von der ökologischen Bedrohung gesprochen, die davon für die Menschheit ausgeht.
Jetzt, wo sich abzeichnet, vor allen Dingen auch nach dem Moskauer Nukleargipfel vom 20. April, daß wir das erste Mal - vor wenigen Jahren fast noch unmöglich - einen umfassenden, weltweiten Atomteststopp bis zum Sommer unter Dach und Fach bekommen, freuen Sie sich überhaupt nicht darüber und sagen nicht: gut für die Ökologie, gut für die Umwelt, sondern Sie beklagen sich darüber, daß in Labors weiterhin die Sicherheit von Kernkraft überprüft werden soll. Erkennen Sie doch einmal an, was für ein gewaltiger Fortschritt es ist, die Länder der Welt dazu zu bringen, einem umfassenden nuklearen Teststoppabkommen beizutreten. Das ist doch ein Fortschritt! Den sollten Sie doch wenigstens ansatzweise anerkennen, auch wenn er Ihnen vielleicht nicht weit genug geht.
Wir können auch in anderen Bereichen, zum Beispiel beim C-Waffen-Abkommen, sehen, daß wir natürlich Fortschritte gemacht haben. Die Amerikaner werden ratifizieren. Der Auswärtige Ausschuß des Senats hat in der letzten Woche dieses C-Waffen-Abkommen bereits passieren lassen. Und wir werden ganz sicher nach den russischen Wahlen auch aus Rußland ein solches Signal bekommen. Der Vertrag über Chemiewaffen - da sind wir alle zuversichtlich - wird bis zum Ende des Jahres in Kraft treten.
Im ganzen können wir folgendes festhalten: Abrüstung darf niemals ein Selbstzweck sein. Die These „Frieden schaffen ohne Waffen" hat niemals auf der Welt zu mehr Sicherheit geführt. Im Gegenteil, sie hat Aggressoren und Diktatoren eingeladen,
andere Länder, naive Regierungen in irgendeiner Weise zu bedrohen, zu erpressen oder gar zu besetzen. Dagegen ist die Politik der Union „Frieden schaffen mit weniger Waffen", nämlich die Abrüstung in einen Prozeß der Sicherheitspolitik einzubetten, erfolgreich gewesen.
Es kommt darauf an, auch in Zukunft diesen Abrüstungsprozeß mit großer Kraft voranzutreiben. Der Abrüstungsprozeß bleibt fragil, vor allen Dingen mit Blick auf die ehemalige Sowjetunion.
Dr. Friedbert Pflüger
Aber ich möchte heute der Bundesregierung - an der Spitze dem Bundesverteidigungsminister und dem Bundesaußenminister - für den großen Einsatz in den letzten Jahren danken. Die letzte Entscheidung, der Verzicht auf Antipersonenminen, den Sie immer wieder gering bewerten - gerade Sie, Frau Kollegin Beer -, wird in Amerika und auch von Organisationen in der Bundesrepublik, den kirchlichen und humanitären Organisationen, sehr hoch bewertet. Ich bin in der letzten Woche in Amerika gewesen, und dort hat man gesagt: Diese Entscheidung der Bundesregierung ist auch für uns von großer Bedeutung. Wir werden, was die Minenthematik angeht, auch nach der Genfer Konferenz, die sehr erfolgreich gewesen, weitere Erfolge haben.
Aber, wie gesagt: Alle diese Abrüstungsfragen stehen im Zusammenhang mit Sicherheit.
Sie müssen zum Schluß kommen.
Die Sicherheit unseres Landes steht an erster Stelle, und im Rahmen dieser Sicherheitsbemühungen haben wir sehr viel für die Abrüstung geleistet. Das wird auch in Zukunft so bleiben.
Ich erteile das Wort der Abgeordneten Angelika Beer.
Herr Präsident! Verehrter Herr Außenminister Kinkel! Verehrter Herr Verteidigungsminister!
Bündnis 90/Die Grünen können das hier eben gerade vorgetragene Eigenlob für die Abrüstungspolitik der Bundesregierung
nicht nachvollziehen und den gerade gehörten dogmatischen Beitrag erst recht nicht.
Vielmehr zeigt die Entwicklung der Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik seit 1990 eine aus unserer Sicht überaus besorgniserregende Tendenz zu einer qualitativen Umrüstung. Bei dem Versuch der Bundesregierung, der Öffentlichkeit Umrüstung als Abrüstung zu verkaufen, handelt es sich um Augenwischerei, die von dem politischen Willen geprägt ist, zukünftigen Konflikten mittels eines hochtechnisch qualifizierten Militärapparates auch militärisch zu begegnen.
Am Beispiel der Politik der Bundesregierung in bezug auf die Landminen und die Rüstungskontrolle bei Atomwaffen läßt sich aufzeigen, daß es der Bundesregierung nicht um humanitäre oder friedenspolitische Ziele geht. Vielmehr wird unter Verzicht auf technisch überholte Waffensysteme eine Umrüstung forciert, die einem zukünftigen Rüstungswettlauf, Herr Kinkel, in den nächsten Jahren Tür und Tor zu öffnen droht.
Mit dem längst überfälligen Verzicht auf Antipersonenminen, die Deutschland weder produziert noch exportiert, werden militärische Kapazitäten abgesichert. Auch wenn es als Abrüstungsmaßnahme deklariert wird, handelt es sich real um die Legitimation des Einstiegs in die Neuproduktion einer Generation von tödlichen Minen. Damit wurde nicht nur ein durchgreifender Erfolg der Genfer Minenkonferenz verhindert; damit trägt die Bundesregierung ebenfalls Verantwortung für das Scheitern der Konferenz und für den Rüstungswettlauf, der nun vor der Tür steht. Dieses Beispiel - aus unserer Sicht das moralisch erschütterndste Beispiel - macht deutlich: Militärische und wirtschaftliche Interessen haben humanitäre Aspekte und den Schutz der Zivilbevölkerung zur Seite gedrängt.
Als weiteres Beispiel der Rüstungskontrolle nenne ich die Atomwaffen. Es kann trotz zugegeben beeindruckender Abschlüsse in der Endphase des OstWest-Konfliktes inzwischen nicht mehr von einer substantiellen Abrüstung gesprochen werden. Denn die Kernwaffenstaaten sind nicht bereit, das Abrüstungsgebot des Nichtweiterverbreitungsvertrages, der hier so gelobt worden ist, umzusetzen. Vielmehr versuchen sie, ihr eigenes Atomwaffenmonopol auf Kosten der Nichtkernwaffenstaaten abzusichern.
Die Atomtestversuche Frankreichs und Chinas sind zu Recht auf internationalen Protest gestoßen, weil man die direkte Auswirkung, das Risiko für Umwelt und Menschen, verurteilt hat. Aber diese Kritik bleibt aus unserer Sicht schon etwas grotesk, wenn man sieht, was mit den Atomteststoppverhandlungen und dem Verbot erreicht werden soll. Es geht eben nicht um den Verzicht auf den Einsatz von Atomwaffen und auf die weitere Entwicklung der Technologie. Vielmehr werden nur die Tests, die technisch nicht mehr adäquat sind, durch Simulationstests ersetzt. Das heißt ja nichts anderes, als daß es weiter darum geht, die Verfügungsgewalt über Waffen, die die Menschheit zerstören können, abzusichern.
Der Bundesrepublik als Atommacht im Wartestand kommt in diesem Prozeß eine überaus zweifelhafte Rolle zu. Sie versucht - so muß es trotz aller Verzichtserklärungen scheinen -, sich die Option auf eine Verfügungsgewalt über Atomwaffen offenzuhalten.
Sie hätten auf Garching II verzichten sollen, statt es mit aller Gewalt gegen internationalen Protest durchzusetzen. Sie hätten die sogenannte Nuklear-
Angelika Beer
schutzgarantie Frankreichs eindeutig zurückweisen sollen.
- Gerade Sie, Dr. Pflüger, haben das versäumt.
Wir müssen befürchten, daß Deutschland zur Verfestigung nuklearer Strategien beiträgt. Denn der von Vertretern der Koalition zutreffend als fragil bezeichnete Rüstungskontrollprozeß in Europa wird durch die Politik der Bundesregierung und vor allen Dingen durch das Streben nach der NATO-Osterweiterung in seiner Substanz gefährdet. Gerade auf Grund der potentiellen Instabilität, die sich aus dem desolaten Zustand der osteuropäischen Transformationsprozesse ergibt, ist in diesem Bereich äußerste Sensibilität angesagt, die unserer Bundesregierung leider fehlt.
De facto würde die Osterweiterung der NATO eine Aufrüstung mitteleuropäischer Staaten bedeuten. Das wissen Sie sehr gut; denn alle NATO-Mitglieder müßten sich dem westlichen Standard technisch anpassen, zwar auf niedrigerem Niveau, aber eben qualitativ erhöht.
Das ist die Destabilisierung Osteuropas.
Ich möchte jetzt die Frage der Kontrolle des Exports von Rüstungs- oder rüstungsrelevanten Gütern ansprechen; denn dabei geht es zur Zeit lediglich darum, zu verhindern, daß Regionalmächte, deren Gefahr wir nicht unterschätzen wollen, die Möglichkeit bekommen, sich diese Massenvernichtungswaffen anzueignen. Trotzdem müssen wir sehen, daß bestimmte Strategien entwickelt werden, wie zum Beispiel die aus Amerika kommende Counter-Proliferation-Strategie, die äußerst bedenklich stimmen, weil sie militärische Komponenten beinhalten und bedenkenlos die Erfolge des ABM-Vertrags in Frage stellen.
Die Verquickung von ordnungspolitischen, militärischen und wirtschaftlichen Interessen ist äußerst problematisch und hemmt die möglichen positiven Effekte von Rüstungsexportkontrollen. Die Bemühungen, internationale Rüstungstransfers einzuschränken und zu kontrollieren, müssen erstens verstärkt und zweitens mit einer deutlichen friedenspolitischen Zielsetzung verfolgt werden. Das vermissen wir bislang.
Mit unserem Entschließungsantrag setzen wir uns deshalb unter anderem dafür ein, daß die Bundesregierung auch einseitig auf Rüstungsexporte verzichtet und daß sie sich in den internationalen Gremien für eine Verschärfung der Rüstungskontrollmechanismen einsetzt.
Ich komme jetzt zur sogenannten und oft gerühmten Abrüstung der Bundeswehr. Von Koalitionsseite wird ja - so auch gerade eben - die Reduzierung der Bundeswehr und der Nationalen Volksarmee gern als Abrüstung deklariert und verkauft. Sie verschweigen dabei zwei Dinge: Erstens. Wenn man den konkreten Integrationsprozeß der NVA mit der Bundeswehr nüchtern betrachtet, dann wurde weniger integriert, sondern vielmehr eine Armee von der anderen dichtgemacht.
Zweitens erfolgte die weitere Reduzierung der Bundeswehr nicht aus friedens-, sondern aus militärund finanzpolitischen Gründen.
Weil die neue Bundeswehr mit ihren teuren Waffensystemen, deren Finanzierung in Zukunft unseren Sozialstaat gefährdet, Mittel verschlingt, stößt die Bundesregierung ab, was nicht mehr zum Kämpfen taugt.
Die Kaderung der Armee, die Milliardenprojekte, die in den nächsten Jahren für Krisenreaktionskräfte ausgegeben werden sollen, sind das sicherheitspolitische Risiko, und das hat nichts mit Abrüstung, aber viel mit schleichender Umrüstung zu tun.
Ich fasse zusammen: Zur Zeit findet keine reale Abrüstung statt. Einzelne Abkommen und Reduzierungen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß nur solche Waffensysteme wegverhandelt werden, die niemanden mehr interessieren. Am deutlichsten ist das im Bereich der Anti-Personen-Minen geworden.
Wir brauchen nur nach Bonn zu schauen und uns die von vielen hier im Haus Sitzenden hofierte Rüstungsmesse,
diese High-tech-Messe, die am 13. Mai beginnt, anzusehen.
Dort werden die Zeichen der Zukunft gesetzt. Das sind keine friedenspolitischen Zeichen, das ist die Gefährdung einer Sicherheitspolitik hin zu einem Krisenszenario, bei dem man nur noch danach schielt, wirtschaftliche Rüstungsinteressen und natürlich die der militärischen Interventionsfähigkeit durchzusetzen.
Angelika Beer
Wir unterstützen den Protest der Friedensbewegung gegen diese Messe, und es wäre gut, wenn diese noch kurzfristig abgesagt würde; denn auch elektronische Krieger gehen über Leichen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kröning?
Herr Kollege Kröning, bitte schön.
Wir teilen Ihre Kritik an solchen Messen, und Sie kennen auch unsere Position, daß die Bundesrepublik Deutschland auf jeglichen Export von Minen verzichten sollte.
Ich frage Sie wegen Ihrer Kritik an der Entscheidung, auf Anti-Personen-Minen zu verzichten - Sie wissen, daß wir, beide Seiten dieses Hauses, diesen Verzicht gemeinsam erkämpft haben -, ob Sie diesen Verzicht der Bundesrepublik Deutschland, der bei der Genfer Konferenz und über sie hinaus eine erhebliche Wirkung gehabt hat, für glaubwürdig halten oder nicht.
Herr Kollege Kröning, mit dem Verbot des Exports, aber auch der weiteren Produktion von Anti-Personen-Minen hinkt die Bundesrepublik hinter anderen NATO-Staaten, die diesen Schritt längst vollzogen haben, hinterher. Die Doppelmoral der Bundesregierung, Anti-Personen-Minen zu verbieten und gleichzeitig neue Millionenbeträge für die Entwicklung neuer High-Tech-Minen einzustellen, ist menschenverachtend und gefährdet Menschenleben in der Welt. Das heißt, daß nicht nur die bisher etwa 120 Millionen Landminen weltweit eingesetzt werden können, sondern zukünftig auch jene Minen, die zu einem neuen Rüstungswettlauf und zu noch mehr grausamen Todesopfern führen werden.
Das ist unsere Kritik. Wir wollen die Ächtung von Landminen und keine Pseudolösung, wie sie hier leider auch von der SPD mitgetragen worden ist.
Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage von Herrn Kröning?
Ja, natürlich.
Ich stelle fest, daß Sie meiner Frage ausgewichen sind. Aber Sie haben im Vorbeigehen wieder eine Behauptung aufgestellt, die ich mich nachzuprüfen gezwungen sehe. Womit belegen Sie, daß die Bundesrepublik Deutschland noch Anti-Personen-Minen herstellt?
Ich habe das nicht behauptet. Ich habe nur gesagt, daß es ein Witz ist, auf die Herstellung von Minen zu verzichten, die wir längst nicht mehr produzieren. Da sollten Sie mir eigentlich recht geben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pflüger?
Herr Kollege Pflüger.
Frau Kollegin Beer, würden Sie bereit sein, zuzugestehen, daß die bundesweite Initiative gegen Landminen zwar gesagt hat, daß sie die Entscheidung der Bundesregierung, auf Anti-Personen-Minen zu verzichen, nicht weit genug geht, daß sie aber gleichzeitig im Konzert mit fast allen anderen humanitären Organisationen und allen Ländern, die in Genf dabeigewesen sind, den humanitären Fortschritt dieser Entscheidung eindeutig anerkennt, und finden Sie nicht, daß Sie aufhören sollten, sich in dieser Weise von allem, was politisch auf der Welt und in unserem Land debattiert wird, zu isolieren?
Herr Kollege Pflüger, Sie sollten Briefe der LandminenKampagne ganz durchlesen und nicht nur beliebige Sätze zitieren. Dann würde Ihnen nämlich auffallen, daß in dem gleichen Schreiben steht, daß eben das Beharren der Bundesregierung auf Weiterentwicklung von High-Tech-Minen, so wie es real der Fall ist, leider an der überzeugenden Humanität des ersten Schrittes Zweifel läßt.
Ich muß sagen, daß ich diese Kritik der LandminenKampagne zutiefst teile. Es ist eine inhumane Politik und eine Augenwischerei, die Sie bis heute immer noch versuchen zu betreiben.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte keine weiteren Zwischenfragen zulassen.
Da die Bundesregierung offensichtlich nicht lernfähig ist,
möchte ich noch einmal unsere Alternativen vorstellen.
Angelika Beer
Wir sind der Überzeugung, daß die Bundesrepublik einseitig selbstverpflichtende Schritte durchführen muß, die zeigen, daß Abrüstungswille und -fähigkeit vorhanden sind. Dies, Herr Kollege Pflüger, würde bedeuten, daß Sie sich dafür einsetzen, daß als erstes zum Beispiel ein Verbot sämtlicher Landminen ausgesprochen wird. Wir fordern die weitere Reduzierung der Bundeswehr und den Stopp der Umstrukturierung der Krisenreaktionskräfte, weil sie potentiell bedeuten, eine Interventionsarmee aufzubauen.
Wir fordern die sofortige Abschaffung der Wehrpflicht wie aller anderen Zwangsdienste und den Verzicht auf Rüstungsexporte.
Rüstungsexport ist Mord. Egal, wie Sie ihn nennen oder deklarieren, egal, wie hochentwickelt eine Mine ist, sie zu entwickeln heißt, sie wird angewandt, und das heißt, es sterben Menschen. Dazu werden Sie unsere Zustimmung nicht bekommen.
Wir fordern darüber hinaus, die Entwicklung von eigenständigen Satellitenaufklärungsmechanismen sofort zu beenden.
Den Verteidigungsminister, auch wenn er im Moment vielleicht den Einzelplan 05 mit dem Einzelplan 14 abgleicht, fordern wir angesichts der Schieflage in dieser Nation und vor der nächsten entscheidenden Debatte noch einmal auf: Verzichten Sie auf Ihre modernen Waffensysteme, reduzieren Sie den Einzelplan 14 bereits vor den nächsten Anträgen der Opposition! Sie wissen doch, daß Sie die 340 000 Mann nicht finanzieren können. Sie wissen, daß Traumprojekte wie der Jäger 90 und viele andere nie realisierbar sind. Rechtzeitig darauf zu verzichten würde bedeuten, daß nicht mehr diejenigen ausbluten, die im Moment für eine bankrotte Staatspolitik blechen müssen; so muß man es wohl bezeichnen
wenn Rentner, Arme und Arbeitslose für Rüstungsprojekte ihre letzten Pfennige hergeben sollen.
Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, zu sagen: Wir rüsten ab. Dann können Sie es tun. Wir unterstützen Sie dabei jederzeit.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Dr. Olaf Feldmann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die F.D.P. begrüßt den Abrüstungsbericht 1995. Die Ergebnisse unserer Abrüstungspolitik können sich sehen lassen. Wir haben auch 1995 große Fortschritte gemacht. Die F.D.P. ist stolz auf die Vorreiterrolle Deutschlands.
Wir verdanken dies auch den umsichtigen und hartnäckigen Abrüstern in den Ministerien, denen ich an dieser Stelle dafür danken möchte.
- Liebe Frau Zapf, der aktuelle Abrüstungsbericht, über den wir heute diskutieren, ist schon wieder überholt - so schnell geht Abrüstung -;
denn mittlerweile haben 55 Staaten das Landminenprotokoll unterzeichnet, auf das man sich auf der Genfer Landminenkonferenz geeinigt hatte. Auch wenn dort nicht alle unsere Vorstellungen verwirklicht werden konnten, sollten wir gemeinsam so schnell wie möglich auf eine Ratifizierung hinarbeiten; denn wir sollten hierbei weiterhin eine Vorreiterrolle spielen.
Das Landminenprotokoll ist eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Ächtung von Minen. Frau Beer, warum sind Sie denn kurzfristig aus der Informationsreise ausgestiegen? Da hätten Sie nämlich erlebt, welche Vorreiterrolle Deutschland hat, und Sie hätten erlebt, welche Drittländer diesen gemeinsamen Abschluß blockiert haben. Da wären Sie schamrot geworden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unbefristete Verlängerung des NVV ist ein wichtiger Schritt zur Verringerung der nuklearen Proliferationsgefahr. Nach dem Ende der französischen Atomtestserie muß es noch in diesem Jahr endlich zu einem umfassenden Teststoppvertrag für Atomwaffen kommen. Dieser Vertrag darf nicht durch Ausnahmeregelungen für sogenannte friedliche Testexplosionen ausgehöhlt werden. Ein umfassender Teststopp wird auch die Akzeptanz der Nichtverbreitungspolitik bei den Nichtkernwaffenstaaten erhöhen.
Die nukleare Abrüstung hat durch die Umsetzung des START-I-Vertrages an Dynamik gewonnen. Jetzt darf die Ratifizierung von START II durch Rußland nicht mit der NATO-Osterweiterung oder der ABM-Problematik verknüpft und verzögert werden; denn mit der Umsetzung von START II werden alle Staaten gewinnen.
Die Implementierung des KSE-Vertrages war ebenfalls ein großer Erfolg unserer Abrüstungspolitik. Bei der 1996 anstehenden Überprüfungskonferenz werden wir die Bemühungen unterstützen, eine einvernehmliche Flankenschutzregelung für Rußland zu erreichen. Dies darf aber keineswegs die völkerrechtliche Verbindlichkeit des Vertrages tangieren.
Dr. Olaf Feldmann
Herr Minister Kinkel, Sie haben darauf hingewiesen, daß sich aus diesen Abrüstungsverträgen große finanzielle Lasten für die betroffenen Staaten ergeben. Wir dürfen insbesondere die Nachfolgestaaten der Sowjetunion nicht mit den Lasten alleinlassen. Im Interesse unserer eigenen und der Sicherheit Europas müssen wir auch die Kooperationsbereitschaft Rußlands nutzen und stärken. Dazu leisten die 18 Millionen DM, die wir für Abrüstungshilfe in den Haushalt eingestellt haben, einen wichtigen Beitrag.
Ich unterstreiche das, Herr Minister, was Sie gesagt haben: Abrüstungshilfe ist eine Investition in unsere eigene Sicherheit.
Deswegen - die Konsequenz müssen wir dann auch ziehen - müssen wir diese Abrüstungshilfe trotz angespannter Haushaltslage fortsetzen.
- Noch besser! Herr Kollege Erler, da stimmen wir beide überein.
Die Bundesregierung hat durch ihr großes Engagement entscheidend zum erfolgreichen Abschluß des CWÜ-Abkommens beigetragen. Dafür gebührt ihr Lob. Leider haben bis heute erst 47 Staaten ratifiziert. Wir wissen, daß das Abkommen erst nach Hinterlegung der 65. Ratifizierungsurkunde in Kraft treten kann. Die F.D.P. fordert die Bundesregierung auf, weiterhin intensive Überzeugungsarbeit zu leisten, damit das CWÜ-Abkommen schnellstmöglich in Kraft treten kann.
Den Chemiewaffenbesitzern USA und Rußland kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Ihre Zustimmung wäre das entscheidende Signal für viele noch zögernde Staaten.
Die F.D.P. begrüßt auch, daß auf Initiative Deutschlands das Dayton-Abkommen wichtige rüstungskontrollpolitische Regelungen enthält. Wir hoffen, damit zu einer stabilen Friedensentwicklung im früheren Jugoslawien beizutragen. Dort, wie überall in der Welt, schaffen nur Offenheit und Transparenz das Klima, in dem weitreichende Abrüstungsschritte möglich sind. Diesen Weg wollen wir weitergehen. Wir wollen weitreichende Abrüstungsschritte machen - realistisch, aber konsequent.
Vielen Dank.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Heinrich Graf von Einsiedel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Selbstverständlich ist es zu begrüßen, daß es in den letzten Jahren zu einem nicht unerheblichen Abbau von Streitkräften und Waffensystemen gekommen ist. Immerhin wurde die Zahl der wichtigsten Waffensysteme - also Panzer, gepanzerte Kampffahrzeuge, Geschütze, Kampfflugzeuge, Kampfhubschrauber - in Europa um 62 000 reduziert und die Obergrenze für diese Systeme auf die - allerdings immer noch phantastische - Zahl von rund 150 000 begrenzt. Davon steht die Hälfte bei der NATO und nur ein Fünftel, rund 30 000, bei der Russischen Föderation, aber weitere 40 000 bei Staaten, die früher zum Warschauer Pakt gehörten, heute jedoch als Anwärter für den Beitritt zur NATO behandelt und angesehen werden - ein Kräfteverhältnis also von NATO und ihren potentiellen Verbündeten gegenüber Rußland von4:1.
Die Kollegen Pflüger und Lamers rechnen uns vor, die Bundesrepublik habe 8 700 Waffensysteme abgebaut.
Das ist wohl wahr, aber fast 6 800 davon waren Systeme der NVA und damit des Warschauer Paktes - also damals doch gegen uns gerichtet -, und nur etwa 1 900 gehörten zur NATO.
- Richtig, aber das ist doch keine Abrüstung auf unserer Seite.
Meine Damen und Herren, die NATO verfügt heute immer noch über fünfmal so viele Panzer, wie Hitlers Wehrmacht beim Überfall auf die Sowjetunion hatte. Ich frage mich und Sie - und ich bin überzeugt, die Mehrheit der Bürger der Bundesrepublik würde Sie fragen, wenn sie sich dieser Kräfteverhältnisse bewußt wäre -: Wozu dieser ungeheure Aufwand? Brauchen wir das, um „verteidungsfähig" zu bleiben, wie der Herr Kollege Dr. Pflüger behauptet?
Wer sich noch daran erinnern kann, wie seinerzeit im Deutschland der Weimarer Republik die durch die Versailler Rüstungsbeschränkungen bedingte militärische Unterlegenheit als unerträgliche nationale Demütigung empfunden und von den nationalistischen Kräften entsprechend ausgeschlachtet worden ist - bis hin zur Machtergreifung Hitlers -,
der kann sich vielleicht eine Vorstellung davon machen, wie dieses militärische Ungleichgewicht von russischen Nationalisten aller Couleur ausgeschlachtet werden könnte.
Wäre es angesichts dieses Kräfteverhältnisses und des daraus erwachsenden Risikos innerhalb Rußlands nicht angebracht, einmal eine Atempause in der Rüstung einzulegen und ernsthaft über den weiteren Abbau dieser immer noch ungeheuren Überkapazitäten mit ihren enormen Folgekosten nachzudenken?
Heinrich Graf von Einsiedel
Aber nein, nach den Plänen der Regierung steht uns eine Runderneuerung des Großgeräts der Bundeswehr ins Haus: 180 neue Kampfflugzeuge mit Kosten zwischen 30 und 50 Milliarden DM - so genau weiß das niemand; und noch immer waren die tatsächlichen Kosten dann weit höher als die Vorausschätzungen -; 15 Milliarden DM für neue Hubschrauber; ein neues Transportflugzeug, dessen Entwicklung die beteiligten NATO-Staaten 8 Milliarden DM kosten soll, von den immensen Anschaffungskosten nicht zu reden; 185 neue Haubitzen, mehr als 9 Millionen DM pro Stück - Gesamtkosten von 1,7 Milliarden DM -, die zu erwartenden üblichen Preissteigerungen nicht eingerechnet.
Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen: Aufklärungssatelliten, Raketenabwehr, neue elektronische Führungssysteme usw. Nennen Sie das Abrüstung?
Obendrein steht aber noch eine weitere gewaltige Aufrüstungsrunde vor der Tür: die leider auch von großen Teilen der SPD befürwortete NATO-Erweiterung, heute neuerdings auch verschämt „NATO-Öffnung" genannt. Die geschätzten Gesamtkosten belaufen sich nach einer Studie des Budgetbüros des US-Kongresses allein für die zunächst vier als neue NATO-Mitglieder vorgesehenen Staaten - Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei - auf irgend etwas zwischen 100 und 200 Milliarden DM.
- Ich war gerade, Herr Dr. Pflüger, beim Defense College der Nordatlantischen Versammlung. Dort ist das vorgerechnet worden.
Die Hälfte dieser Kosten sollen die Länder, die der NATO beitreten wollen, selbst tragen, und zwar 50 bis 100 Milliarden DM. Na, wenn sie es sich leisten können! Das alles wird uns - vor allen Dingen auch den Russen - als militärisch angeblich ganz unbedeutend, als reiner Werte- und Stabilitätsexport verkauft.
Wenn alle diese Planungen zur Realität werden sollten, dann werden in den nächsten 15 Jahren weit über 1 000 Milliarden in sogenannte militärische Sicherheit verpulvert. Wie das Kaninchen auf die Schlange, so starren Sie auf diese eingebildete Sicherheit. Das Schlimme dabei ist, daß Sie parallel zu dieser Verschleuderung von Ressourcen den Sozialstaat weitgehend demontieren und - das ist vielleicht noch schlimmer - daß Sie mit dieser Fixierung auf militärische Sicherheit den Kriegsgeist verewigen und die Entwicklung des Willens zum Frieden verhindern,
wie es 1930 in einem unter anderen von Einstein, Freud, Thomas Mann und Stefan Zweig unterschriebenen internationalen Manifest des Pazifismus gegen den Rüstungswettlauf hieß.
Lassen Sie mich ein zentrales und höchst akutes Sicherheitsproblem nennen, das Sie über all diese militärischen Klimmzüge sträflich vernachlässigen. Es ticken in Europa einige atomare Zeitbomben, die jederzeit hochgehen können, wie weit Sie auch immer die NATO erweitern wollen und wieviel neue, modernste Waffensysteme Sie einführen mögen. Das sind marode Kernkraftwerke - nicht nur, aber hauptsächlich in Rußland. Wenn eines davon hochgehen sollte - die Wahrscheinlichkeit dafür ist weiß Gott nicht gering -, dann würden die Folgen heute noch viel verheerender sein als vor zehn Jahren nach Tschernobyl, weil Rußland oder die Ukraine und andere Staaten, in denen solche Atommeiler stehen, bei weitem nicht mehr über die Mittel verfügen, die der Sowjetunion vor zehn Jahren noch zur Verfügung standen, um solche Katastrophen mehr schlecht als recht - eigentlich nur sehr schlecht - in den Griff zu bekommen.
Russische Experten haben errechnet, daß diese Reaktoren für weniger als 20 Milliarden DM durch mit Erdgas betriebene Kraftwerke zu ersetzen sind. Zweigen Sie diese 20 Milliarden DM von Ihren Rüstungsplanungen ab, indem Sie zum Beispiel den Jäger 90 streichen. Dann haben Sie mehr für unsere und unserer Kinder und Enkel Sicherheit getan, als Sie mit noch so viel Militär je erreichen könnten.
Danke.
Ich gebe dem Abgeordneten Claus-Peter Grotz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieser Tage bekamen wir aus Anlaß des 51. Jahrestages des 8. Mai 1945 eine Sendung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Sie wurde „Ein Aufruf gegen das Vergessen" genannt. Wie können wir diesem Aufruf besser Genüge tun im Bewußtsein der ungeheuren Opfer des Zweiten Weltkrieges, im Bewußtsein der Verantwortung der heutigen und der zukünftigen Generation, als eine Politik des Frieden-schaffen-mit-immerweniger-Waffen zu verfolgen?
Die Bundesregierung hat einen überzeugenden Jahresbericht vorgelegt. Ich habe sehr wohl registriert, daß Frau Kollegin Zapf aus den Reihen der SPD sehr differenziert Stellung genommen hat. Lassen Sie es mich einmal so sagen: Für jemanden, der aus Schwaben stammt und somit in der Regel sehr geizig ist, haben Sie wirklich viel Lob ausgesprochen.
Mir fällt aber bei den Ausführungen aus den anderen Reihen der Opposition auf, daß ein unbedarfter Zuhörer geradezu den Eindruck bekommen könnte, wir befänden uns inmitten eines neuen Rüstungswettlaufes. Sie, Graf Einsiedel und Frau Beer, hätten
Claus-Peter Grotz
Ihre Reden Anfang der 80er Jahre nicht anders zu halten brauchen, aber sie wären damals genauso falsch gewesen.
Am Ende dieses Jahrhunderts der Extreme, wie es ein Historiker nannte, nach Rüstungswettläufen, nach zwei Weltkriegen und nach einem Kalten Krieg, der mehr als einmal kurz vor einem heißen Krieg stand, sind wir jetzt mitten im Jahrzehnt der Abrüstung.
Nachdem der Bundesaußenminister von der historischen Dimension dieses Prozesses gesprochen hat,
möchte ich mir erlauben, einmal an die Ausgangssituation der 80er Jahre zu erinnern, an jene gespenstischen Szenarien, die das Aufziehen einer neuen Kriegsgefahr beschworen, als ob wir, die Bundesrepublik, und die NATO die eigentlichen Verursacher wären. Ich habe den Eindruck, daß sich nach wie vor ein Teil der Abgeordneten in diesem Haus in seinem Weltbild der 80er Jahre eingemauert hat.
Aber eines ist doch unumstößlich: Wir würden hier heute nicht über einen Jahresabrüstungsbericht debattieren, sondern vielleicht über einen Jahresrüstungsbericht, wäre seit Anfang der 80er Jahre diese Bundesregierung unter Helmut Kohl nicht so konsequent in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik geblieben.
Wir haben in der Abrüstung immer ein zentrales Ziel unserer Politik gesehen. Aber Abrüstung ist eingebettet, ist ein Teil, ist eine Funktion von Außen- und Sicherheitspolitik; sie ist an Voraussetzungen gebunden. Auf absehbare Zeit werden wir auch bewaffnete Streitkräfte brauchen. Denn die Hoffnung des Jahres 1989, wir könnten eine dauerhafte Friedenssicherung quasi zum Nulltarif bekommen - diese Hoffnung hatten wir ja alle -, hat sich leider nicht erfüllt. Dabei ist aber für uns die Verfügungsgewalt des demokratischen Rechtsstaates über militärische Machtmittel ethisch einzig und allein - aber darin eben sehr wohl - in der Pflicht begründet, den Frieden zu erhalten und die Freiheit zu sichern.
Unsere Abrüstungskonzeption hat sich in diesem Jahrzehnt der Abrüstung bewährt: gegenseitig, ausgewogen, gleichzeitig und kontrolliert. Vor 14 Tagen wurde in einer großen süddeutschen Tageszeitung eine Bilanz dieser Abrüstung aufgestellt. Die Überschrift lautete: „Deutschland führt bei der Abrüstung" .
Ich möchte die Zahlen gar nicht im einzelnen nennen; ich möchte vielmehr heute einmal den Blick auf
die Menschen richten, die von dieser Abrüstungspolitik betroffen waren, auf jene Hunderttausende, die als Soldaten Teil dieser Abrüstung wurden, und auf jene Millionen, die als Arbeitnehmer in der Industrie davon betroffen wurden, und möchte gerade diesen Menschen danken.
Der vorliegende Abrüstungsbericht ist auch eine Zwischenbilanz. Ich denke, wir müssen zwar auf weitere Abrüstungsschritte drängen; wir müssen aber daneben die Abrüstung etwas weg von einer rein quantitativen hin zu einer qualitativen Dimension orientieren. Was meine ich damit? Mir bereitet große Sorge, daß Zigtausende von Waffensystemen zwar - Gott sei Dank - nicht mehr in der Waffenstatistik auftauchen, daß aber bespielsweise in Nordeuropa, in russischen Häfen schwimmende Zeitbomben, nämlich die früheren Atom-U-Boote der russischen Marine, vor sich hindümpeln. Deswegen halte ich es für erforderlich, einen Schwerpunkt auf die qualitative Abrüstung zu legen.
Meine Damen und Herren, unsere Politik der Abrüstung hat sich bewährt. Wir unterstützen sie, und wir werden auf weitere Schritte drängen.
Vielen Dank.
Ich erteile dem Abgeordneten Gernot Erler das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich befürchte, daß in der Öffentlichkeit im Augenblick ein etwas falscher Eindruck entsteht, nämlich als ob es im Deutschen Bundestag tiefgreifende Meinungsunterschiede und Konflikte im Hinblick auf das Thema Abrüstung gibt.
Ich möchte als Vorsitzender des Unterausschusses für Abrüstung und Rüstungskontrolle hier feststellen: In den meisten Fällen arbeiten wir dort ausgezeichnet zusammen.
Dies ist auch wichtig, weil die Abrüstung ein für die Interessen der Bundesrepublik Deutschland zu wichtiges Thema ist, als daß man es in einem Parteienstreit zerfasern lassen sollte.
Ich war ein kleines bißchen darüber enttäuscht, Herr Kollege Dr. Pflüger, daß Sie sich hier ein wenig darauf beschränkt haben, Oberbuchhalter von Abrüstungserfolgen zu sein.
Gernot Erler
Ich war zwar beeindruckt von den vielen Zahlen. Aber es geht doch nicht darum, daß wir uns hier darauf verständigen, ob es Erfolge gegeben hat oder nicht, sondern wir müssen, wenn wir als Politiker darangehen, fragen: Sind wir auf dem richtigen Weg in der Fortsetzung des Erreichten, oder gibt es Gefahren, die Handlungsbedarf erzeugen? Es ist doch eigentlich unsere politische Verantwortung, darauf eine Antwort zu geben.
Ich möchte einmal ein Beispiel herausgreifen, wo ein bißchen nach dem Motto „Die Stimmung ist besser als die Lage" durchaus Handlungsbedarf zu erkennen ist. Niemand bestreitet, daß nach 1990 - überhaupt das interessanteste Jahr für Abrüstungsperspektiven, für Friedensperspektiven, mit der großen Charta von Paris und mit dem KSE-Vertrag -, nach diesem interessanten Jahr große Erfolge praktischer Art errungen worden sind.
In 40 Monaten über 50 000 Hauptwaffensysteme zu delaborieren, zu beseitigen ist ein großer Erfolg. Daß an dem Stichtag, dem 16. November letzten Jahres, 95 Prozent des vertraglich Vereinbarten tatsächlich weg war, ist ein großer Erfolg.
Natürlich gibt es Berechtigung für den Stolz der Bundesregierung, der ganzen Bundesrepublik, daß sie sogar ein halbes Jahr vorher - als das Land, das die zweitgrößte Verpflichtung hatte - dieser Verpflichtung nachgekommen ist.
- Ja, sage ich ja!
Was noch nicht so erwähnt worden ist: Es gibt ja noch einen anderen Teil des KSE-Prozesses. Das sind die vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen, das Wiener Dokument von 1994 - für die Fachleute -, das zu einer Fülle von praktischer Vertrauensbildung durch wechselseitige Inspektionen geführt hat.
Ich war selbst einmal der erste Abgeordnete, der an einer solchen Inspektion teilnehmen durfte, und kann sagen: Da passiert viel mehr, als in den Dokumenten steht. Es ist unerhört wichtig, daß sich diejenigen, die hier militärische Aufgaben haben, untereinander persönlich kennenlernen und sich austauschen. Da passiert viel mehr als die Zählung von irgendwelchem Waffengerät.
Das ist alles so schön, daß man doch eigentlich annehmen müßte: Wenn am 15. Mai, in der nächsten Woche, die Überprüfungskonferenz in Wien beginnt, müßte dort eigentlich eine hervorragende Stimmung sein, und man könnte dort dazu übergehen, diese Erfolge abzufeiern.
Meine Prognose ist - wir werden ja dabei sein; es zeigt das Interesse des Deutschen Bundestages, daß wir mit einer Delegation zur Eröffnung dieser Konferenz in Wien sein werden -, daß das leider nicht so sein wird. Wir werden dort feststellen, daß wir uns im
Augenblick über weite Strecken hinweg bei der Bewahrung des ganzen KSE-Prozesses ein bißchen mit dem Rücken an der Wand befinden.
Wir sind nicht deswegen mit dem Rücken an der Wand, weil es bei der Erfüllung noch Lücken gibt - in Aserbaidschan, in Armenien, in der Ukraine, in Belorus -, nicht, weil es noch darum geht, daß 14 500 Transuralsysteme Rußlands darauf warten, wirklich kontrolliert delaboriert zu werden.
Vielleicht ist es ja auch möglich, bei dieser schwierigen Frage der Flankenregelung in flexibler Auslegung des Vertrages eine Lösung zu finden. Hierzu hat es vernünftige Vorschläge gegeben, und ich bin eigentlich guter Hoffnung, daß das möglich ist.
Was aber dazu führt, daß man in Wirklichkeit defensiv in diese Konferenz hineingeht, das sieht man, wenn man einen Vergleich mit den Dokumenten von 1990 zieht. Da war nämlich durchaus vorgesehen, daß bei der Überprüfungskonferenz auch neue Ziele angepeilt werden.
Wir haben ja viele Bereiche, die durch den KSE-Vertrag noch gar nicht abgedeckt sind. Es gibt noch keine vertraglichen Obergrenzen im Sinne des KSE-
I-Prozesses bei den Personalstärken. Es gibt viele andere Waffensysteme, die noch gar nicht einbezogen sind - nur die fünf Hauptwaffensysteme. Es gibt noch keine Regelung für die Marine. 1990 war vorgesehen, daß das alles stufenweise noch kommt. Heute muß man sagen, es wäre bereits ein Erfolg, wenn der Status quo abgesichert würde.
Das zeigt doch, daß die Euphorie aus dem Beginn der 90er Jahre zu einem Ende kommt. Das heißt, daß hier etwas nicht mehr richtig stimmt, und zwar die Philosophie. Die Philosophie, auf der KSE aufgebaut wird, ist in einer gewissen Bedrohung, und diese Bedrohung kommt interessanterweise nicht von innen. Sie liegt nicht daran, daß die heutigen Abrüster weniger engagiert sind.
Ich möchte Ihnen, Herr Kinkel, einmal sagen, daß Sie in Ihrem Amt wirklich hervorragende, engagierte Diplomaten haben - einer der besten Exportartikel der Bundesrepublik Deutschland -, die da etwas tun.
Die Gefahr ergibt sich vielmehr aus dem politischen Kontext, der sich gewandelt hat. Ich will hier einmal deutlich sagen, daß dieser politische Kontext inzwischen auch zu einer Gefahr für die Fortsetzung des Abrüstungsprozesses geworden ist. Die Diskussion über die gesamteuropäische Sicherheit, die leider immer mehr reduziert wird auf einen einzigen Punkt, nämlich die NATO-Osterweiterung, hat uns in eine Sackgasse geführt, und sie führt auch dazu,
Gernot Erler
daß im Grunde genommen eine intellektuelle Verarmung stattfindet.
Ich kenne nur noch Konferenzen und Begegnungen, wo immer dieselben Statements sowohl vom Westen wie auch vom Osten ausgetauscht werden, was bewirkt, daß der Hintergrund für den Abrüstungsprozeß schwieriger wird.
Ich finde es überhaupt nicht akzeptabel, daß die russische Regierung anfängt, ein Junktim herzustellen zwischen der Ratifizierung von CWÜ, der Ratifizierung von START II und der Fortsetzung des KSE-Prozesses mit dem Hinweis auf einen veränderten Kontext in bezug auf die NATO-Osterweiterung. Ich finde es nicht akzeptabel und nutze jede Chance, um kritisch mit der russischen Seite darüber zu reden.
Es ist eine Realität, daß hier eine Gefahr droht, die uns herausfordert, die uns Phantasie abverlangt. Wir stellen fest, daß es nicht mehr darum geht, engagiert nur im Detail zu verhandeln; vielmehr müssen wir uns Sorgen über den Kontext machen. Wir können Abrüstung nur noch sicherstellen, indem wir den politischen Kontext verbessern, in dem Abrüstung stattfinden kann.
Das ist eine Herausforderung an die Politik, Herr Kollege Pflüger. Ich fände es gut, wenn wir in der Richtung weiterhin konstruktiv arbeiten und uns nicht Erfolgszahlen um die Ohren schlagen.
- Ja, Sie machen das eine, und ich konzentriere mich mehr auf das andere.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf einen anderen Punkt zu sprechen kommen, der mir ebenfalls große Sorgen macht. Herr Außenminister, Sie haben vorhin an die Stimmung erinnert, die zum Beispiel auf der Petersberger Konferenz am 18. Dezember letzten Jahres herrschte. Wir waren mit dem Unterausschuß auf Ihre Einladung hin dabei; ich habe die Reden noch in guter Erinnerung. Wir haben gedacht: Es ist doch gut, daß sich die Bundesregierung in besonders auffälliger Weise und im Unterschied zu anderen westlichen Verbündeten und Freunden für diesen rüstungskontroll- und abrüstungspolitischen Teil stark macht.
Im Appendix 1 B des Dayton-Abkommens sind die Perspektiven aufgezeigt, um die es geht, nämlich um vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen. Jeder sieht es als logisch an, daß man nach diesen Erfahrungen des Krieges mit Tausenden von unschuldigen Opfern im ehemaligen Jugoslawien nur auf eins setzen kann: auf Abrüstung, auf die Wegnahme von Waffen, von denen man sicher ist, daß sie immer gegen wehrlose Menschen eingesetzt werden. Diese Hoffnung, daß man tatsächlich zu niedrigeren Obergrenzen und zu einer flächendeckenden Abrüstung in diesem ganzen Bereich kommt, wird ja in Art. IV zum Ausdruck gebracht.
Herr Kinkel, Sie wissen ganz genau, daß wir heute, wenige Wochen vor D plus 180, vor dem 6. Juni, schon wissen, daß das Etikett nicht stimmt. In Wirklichkeit wird es zur Aufrüstung kommen, die bestenfalls noch als Rüstungskontrolle bezeichnet werden kann, weil es nur eine begrenzte Aufrüstung sein wird. Die Chancen sind heute schon nicht mehr vorhanden, daß es Ceilings, Obergrenzen unterhalb dieser berühmten 75 Prozent der bündnisjugoslawischen Bestände geben wird. Das heißt rechnerisch, daß die kroatischen Bestände und vor allen Dingen die bosnischen Bestände heraufgesetzt werden. Herkömmlich nennt man dies Aufrüstung.
Auch die folgende Feststellung ist ein Beitrag zu meinem Thema Kontext: Während Sie sich mit engagierten Leuten, zum Beispiel Herrn Eide aus Norwegen, bemühen, die Ceilings herunterzusetzen, veranstalten unsere amerikanischen Freunde internationale Konferenzen, um die schon von ihnen beschlossene Aufrüstung der bosnischen Seite zu finanzieren. Sie sagen: Wir geben 100 Millionen Dollar, die islamischen Staaten haben auch 100 Millionen Dollar gegeben, gebt ihr den Rest der 700 Millionen Dollar.
Ich könnte Ihnen hier aufzählen - in der amerikanischen Presse ist das zu lesen -, daß schon längst feststeht, mit welchen Waffensystemen die bosnische Seite aufgerüstet werden soll.
- Das ist eingehend besprochen worden; das höre ich gerne. Aber dahinter steckt doch eines: daß hier im Grunde genommen auf die aus Ihrer und aus unserer Sicht falsche Philosophie gesetzt wird. Ich habe mich über das, was Sie vorhin dazu gesagt haben, sehr gefreut.
Heißt das nicht, daß dieser Kontext für Abrüstung wirklich schwieriger wird, wenn es nicht einmal möglich ist, innerhalb der westlichen Wertegemeinschaft zu einer gemeinsamen Politik zu kommen? War das nicht auch der Hintergrund für die ganze Tragödie in Jugoslawien, und setzt sich das jetzt nicht fort in dieser Frage der Abrüstung, dem wichtigsten Teil des Dayton-Abkommens? Ergeben sich hier nicht groteske Mißverhältnisse, Herr Kinkel, wenn wir zum Beispiel 700 Millionen DM für 4 000 deutsche Soldaten in einem Jahr bezahlen? Das ist notwendig zur Unterstützung von Ifor; das bestreitet ja niemand.
Wenn jetzt 800 Millionen Dollar zur Aufrüstung von Bosnien sozusagen als die amerikanische Variante der Absicherung von Dayton zur Debatte stehen und wir gleichzeitig feststellen, daß 200 Beamte der OSZE mit einem Etat von 35 Millionen DM, die damit den wichtigsten Teil, nämlich die politische Umsetzung, die Vorbereitung von demokratischen Wahlen, bewältigen sollen, um Hilfe rufen, weil sie das nicht hinbekommen werden - Sie sagen, es sei völlig unmöglich, das mit diesen Mitteln zu realisieren -, dann muß ich sagen: Das sind die Verwerfungen in dem
Gernot Erler
politischen Kontext, die leider Abrüstung schwieriger machen.
Deswegen komme ich zu der Schlußfolgerung, daß wir, die wir in diesem Unterausschuß und insgesamt hierbei zusammenarbeiten, uns mehr um diese politischen Fragen kümmern müssen. Wir müssen uns auch als Fachleute für Abrüstung in die allgemeinpolitischen Fragen einmischen. Wenn es uns nicht gelingt, intelligenter, mit mehr Phantasie, mit mehr Vorstellungskraft die politischen Rahmenbedingungen zu beeinflussen - das gilt für die Frage der gesamteuropäischen Sicherheit, das gilt aber auch für die Zielvorstellungen im Dayton-Prozeß, für die Priorität der zivilen Absicherung von Dayton, die meilenweit hinter der erfolgreichen Arbeit von Ifor zurückbleibt -, dann verschlechtern sich die Rahmenbedingungen für Abrüstung.
Es kann nicht so sein, daß die Zukunft darin liegt - was am Horizont als eine negative Möglichkeit aufscheint -, daß wir wieder einmal Zeuge werden, wie Herr Gaddafi nach den Erfahrungen, die er mit der internationalen Reaktion auf seine Versuche, zu C-Waffen zu kommen, gesammelt hat, jetzt mit unterirdischen Anlagen in die Berge hineingeht und man darauf wieder hört, daß die Amerikaner mit Luftangriffen drohen. Das ist die schlechteste Variante von Abrüstung, das ist die hoffnungslose Variante von erzwungener Abrüstung.
Wir brauchen ein internationales System, in dem die Bedingungen für die Fortsetzung des seit 1990 aufgebrochenen Abrüstungsprozesses geschaffen werden. Ich mahne uns alle, in diesem Sinne tätig zu sein.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Hans-Dirk Bierling, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Erler, ich möchte mich ausdrücklich für das bedanken, was Sie gleich zu Beginn, aber auch an vielen anderen Stellen Ihrer Rede gesagt haben, für Ihre Aufforderung, Ihre Mahnung an uns alle, bei dieser wichtigen Thematik, in diesen wichtigen Fragen von nationaler und internationaler Abrüstungs-
und Rüstungskontrollpolitik zu einem möglichst hohen Grad an Gemeinsamkeit zu kommen.
Es hilft in Debatten wie dieser nicht, mit Schaum vor dem Mund Reden von vor zwanzig Jahren oder von 1980 zu halten, die damals schon falsch waren. Zwei solcher Reden haben wir heute gehört.
Ich meine, in der nationalen ebenso wie in der internationalen Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik
ist es notwendig, immer wieder mit Energie und mit Ausdauer das Wünschenswerte mit dem Machbaren zu vergleichen, es abzugleichen und dabei natürlich die Sicherheit des eigenen Landes und die Sicherheit unserer Partner im Auge zu behalten.
Ein Wort noch zu Frau Beer. Frau Beer, Sie haben von 1990 bis 1994 nicht die Gelegenheit gehabt, in diesem Hause, also auch an diesen Fragen, mitzuarbeiten. Ich glaube, Sie haben in dieser Zeit, die vorhin für den Prozeß von Abrüstung und Rüstungskontrolle schon als so wichtig beschrieben wurde, eine ganze Menge verpaßt.
Frau Beer, als Beispiel erinnere ich an Ihre Äußerungen zur Personalreduzierung des deutschen Militärs. Ich darf Sie erinnern, daß die Festlegungen Bestandteil der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen waren, das heißt die Festlegungen resultieren aus diesen Verhandlungen. Wenn Sie darüber nachdenken, sehen Sie das sicher schon anders, als Sie es vorhin gesagt haben.
- Ich war damals in der ersten frei gewählten Volkskammer einer derjenigen, die die „Zwei" der Zweiplus-Vier-Verhandlungen ausgemacht haben. Also waren auch wir daran beteiligt.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, seit Jahren bemüht sich diese Bundesregierung um das Zustandekommen internationaler Verträge, um damit die Staaten der Welt zu Fortschritten auf dem Gebiet der Ächtung chemischer und biologischer Waffen zu bewegen. Das ist mein eigentliches Thema.
Dieses Hohe Haus ist sich einig darin, daß es auf dem Gebiet der Abrüstung keine wichtigeren Ziele gibt als die ABC-Waffen unter Kontrolle zu bekommen und zu halten sowie die Bestände deutlich zu reduzieren. Die Bundesrepublik Deutschland besitzt selbst, wie bekannt, keine ABC-Waffen und hat darauf auch für die Zukunft verzichtet. Das ist natürlich eine gute Ausgangsbasis dafür, in der Staatengemeinschaft für Abrüstung und Verzicht auf ABC-Waffen zu werben. Die Bundesregierung tut dies, wie der Jahresabrüstungsbericht belegt, sehr intensiv, auch wenn das von einigen in diesem Hause immer wieder bestritten wird.
Wir sind uns aber - ich komme auf das zu sprechen, wozu uns unter anderem der Kollege Erler gemahnt hat - wohl dennoch einig darin, daß wir alle die Bundesregierung weiter ermutigen - und dies auch fordern müssen und werden -, international intensiv für Abrüstung und Rüstungskontrolle einzu-
Hans-Dirk Bierling
treten. Das ist eine der ganz wichtigen Aufgaben des Parlaments.
Der Deutsche Bundestag hat in den letzten Jahren, Monaten und Tagen insbesondere mit seinen dafür zuständigen Ausschüssen einiges dazu beigetragen, daß Abrüstung und Rüstungskontrolle in Deutschland und in der Staatengemeinschaft vorankommen. Ich erkläre für die CDU/CSU-Fraktion ausdrücklich unsere Genugtuung darüber, daß es immer wieder gelingt, über Fraktions- und Koalitionsgrenzen hinweg in abrüstungs- und rüstungskontrollpolitischen Fragen zu einem Konsens zu finden. Nur ein aktuelles Beispiel dafür ist der uns heute zur Beschlußfassung vorliegende interfraktionelle Antrag von CDU/ CSU, F.D.P. und SPD zum Chemiewaffenübereinkommen.
Ich bin auch froh darüber, daß unsere Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen diesem Antrag am Mittwoch im Auswärtigen Ausschuß zugestimmt haben, obwohl sie im Unterausschuß für Abrüstung und Rüstungskontrolle und im mitberatenden Verteidigungsausschuß noch nicht zugestimmt hatten.
Wieder einmal bleibt nur die PDS-Gruppe unverständlich, die im Unterausschuß für Abrüstung und Rüstungskontrolle und im mitberatenden Verteidigungsausschuß zustimmte, sich im federführenden Auswärtigen Ausschuß aber enthielt. Das ist schon schizophren. Aber wen wundert das?
Ich meine, daß wir, abgesehen von dieser Merkwürdigkeit, allen Grund haben, mit dem gemeinsam Erreichten zufrieden zu sein - obwohl wir an diesem Punkt keinesfalls aufhören dürfen - und auch der Bundesregierung für ihr unermüdliches internationales Eintreten zur Umsetzung unserer Vorstellungen zu danken.
Die Einlassung der USA, ihre erstmals der Menge nach angegebenen Chemiewaffenbestände bis zum Jahr 2004 vernichten zu wollen, ist ein positives Zeichen. Allerdings sind die Hürden bis zum Inkrafttreten des Chemiewaffenübereinkommens noch hoch. Gerade deshalb darf die Bundesregierung in ihren Bemühungen nicht nachlassen - ich glaube, das wird sie auch nicht tun -, die Staaten zur Solidarität in der Verantwortung für die Menschen dieser Welt zu bewegen.
Die Bundesregierung erklärt in ihrem Bericht, daß die Bundesrepublik große Anstrengungen in Richtung der ehemaligen Sowjetunion macht. Diese Hilfe ist angesichts der schrecklichen Hinterlassenschaft von 40 000 Tonnen chemischer Kampfstoffe notwendig.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es ist sicher nicht sinnvoll, alle Punkte dieses Berichtes zu wiederholen. Ich nehme an, Sie haben ihn gelesen.
Die Bundesrepublik hat auch auf dem Gebiet der Abrüstung chemischer Waffen einige Erfahrungen, die unseren Nachbarn zur Verfügung stehen. Zum Besuch der Versuchsanlage in Munster sind unsere östlichen Nachbarn immer eingeladen.
Sie müssen zum Ende kommen.
Mein letzter Gedankengang, Herr Präsident.
Was Zukunft, Inkrafttreten und Wirksamkeit solcher internationaler Rüstungskontrollen und Abrüstungsverträge anbelangt, muß noch sehr viel Druck auf die Mitglieds- oder Unterzeichnerstaaten ausgeübt werden. Wir fordern die Bundesregierung dazu auf. Das Chemiewaffenübereinkommen ist da nur ein aktuelles Beispiel. Lippenbekenntnisse allein tun es nicht; Taten müssen folgen. Wir haben gehandelt, wir haben ratifiziert und hinterlegt. Nun muß die Bundesregierung erreichen, daß andere Staaten den Vertrag ebenfalls ratifizieren und hinterlegen, damit er endlich wirksam werden kann. Besondere Verantwortung tragen dabei die USA und Rußland, aber auch einige unserer Partner in der Europäischen Union haben wohl noch Nachholbedarf.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Hans Raidel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es tut sicherlich gut, Herr Minister, insbesondere von der Koalition, aber auch von der SPD zu hören, daß es eine Erfolgsstory ist, was 1995 im Rahmen der Abrüstung geleistet worden ist.
Von den Grünen haben wir, Frau Kollegin Beer, eigentlich nichts anderes als Ihre Kritik erwartet. Vielleicht denken Sie aber einmal darüber nach: Es sind keine Engel, die den Teufel an die Wand malen, so wie Sie das getan haben. Erinnern Sie sich, was sich Ihre Partei in Sachen „Castor" alles geleistet hat und zuschulden hat kommen lassen!
- Das paßt vielleicht nicht hierher - meinen Sie -, deutet aber doch an, welcher Geist manchmal bei Ihnen herrscht.
Wir werden zu Recht als Musterknabe dargestellt. Wir haben uns diesen Titel nicht selbst gegeben. Die nationale und internationale Presse bescheinigt uns diese Vorreiterrolle im Bereich der Rüstungskontrolle.
Die vorzeitige Erfüllung der Reduzierungsverpflichtungen bei den schweren konventionellen Waffensystemen sowie die Indienststellung des Beobachtungsflugzeuges Tupolew sind wichtige Meilensteine auf unserem gemeinsamen Weg mit den anderen Staaten.
Hans Raidel
Auch wenn das Ergebnis kritisiert worden ist, so ist festzustellen: Unsere Rolle, unser Vorgehen bei der Abschaffung von Minen konnte sich weitgehend sehen lassen, wobei wir gerne einräumen - worauf Sie hingewiesen haben -, daß wir nicht alles auf einmal erreicht haben.
Meine Damen und Herren, sind es denn keine Erfolge, wenn insbesondere auf dem Budapester Gipfel weitere Fortschritte erreicht wurden, wenn es die Weiterentwicklung des Wiener Dokumentes gibt, wenn ein Verhaltenskodex zu politischen und militärischen Aspekten der Sicherheit erarbeitet worden ist, wenn wir mittlerweile im globalen Informationsaustausch weiterkommen, wenn OSZE-Prinzipien der Nichtverbreitung erarbeitet und anerkannt wurden?
Ist es denn kein Erfolg, wenn auf dem Budapester Gipfel insgesamt eine Rüstungskontrollagenda in Auftrag gegeben wurde mit den zwei Schwerpunkten: zum einen eine regionale Sicherheitskooperation zu erarbeiten und einzurichten mit dem Ziel des sogenannten regionalen Tisches - auf solche Fragen soll also bereits in den Regionen reagiert und eingegangen werden - und zum anderen ein Rahmenkonzept für die konzeptionelle Weiterentwicklung der konventionellen Rüstungskontrolle zu schaffen?
Ist es denn kein Erfolg, wenn im Ständigen Rat im Moment bereits über ein Sicherheitsmodell für das 21. Jahrhundert nachgedacht wird und die NATO aus ihrer Sicht einen ersten Entwurf erarbeitet und vorlegt? In diesen Fragen bewegt sich doch eigentlich sehr viel.
Wir sollten gemeinsam auf diesem Wege weitergehen und uns in den Zielsetzungen einig sein, daß viele Wege notwendig und differenzierte Betrachtungen wichtig sind; das bestreitet hier niemand. Herr Kollege Erler, ich unterstreiche das, was Sie dazu gesagt haben.
Lassen Sie mich als Beispiel noch den Vertrag über „Open Skies" hervorheben. Damit wurde etwas erreicht, was wir uns auf der Zunge zergehen lassen sollten: Es wurde ein Sicherheitsplan für die Luft geschaffen, der von Vancouver in Kanada bis zum russischen Wladiwostok reicht. „Open Skies" soll zu Offenheit und Transparenz beitragen. Die Vertragsstaaten haben sich verpflichtet, ihren Luftraum zur Beobachtung ihrer Territorien mit Sensoren und hochsensiblen Kameras zu öffnen. Ziel ist die Konfliktverhütung, die Krisenbewältigung, die Überwachung von Rüstungsabkommen sowie die Beobachtung der militärisch bedeutsamen Potentiale und Aktivitäten der Vertragspartner.
Mittlerweile, so muß man sagen, haben sich diese Ideen so weit entwickelt, daß auch andere Staaten, andere Länder und andere Regionen an diesen Modellen Gefallen finden und sie übernehmen wollen. Ich nenne die Länder Israel, Ägypten, China und Rußland, die ASEAN-Staaten und die Rio-Gruppe. Wir unterstützen die Bemühungen all dieser Länder mit einem vertieften Erfahrungsaustausch, wenn das gewünscht wird.
Wer wirklich guten Willens ist, der muß diese Politik unterstützen. Der Antrag, der von den Grünen eingebracht worden ist, ist bereits vom Kern und Grundsatz her abzulehnen. Wer Teil II Ihres Antrages auf Drucksache 13/2456 genau liest, wird feststellen müssen, daß es hier weniger um Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle geht, sondern wieder um die alte Leier, die Kraft der Bundeswehr zu mindern und die NATO in ihrem Kern zu destabilisieren.
Ich würde vorschlagen: Denken ohne Scheuklappen sollte hier auf der Tagesordnung stehen.
Meine Damen und Herren, wir sollten auf unserem guten Weg möglichst gemeinsam weitergehen - beharrlich, Schritt für Schritt und mit Augenmaß für das Machbare.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Es wird vorgeschlagen, den Jahresabrüstungsbericht 1995 auf Drucksache 13/4450, den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/4557, den Entschließungsantrag der Gruppe der PDS auf Drucksache 13/4580 und den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/4567 zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Verteidigungsausschuß zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Dies ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD, zur Verhandlung vor dem Internationalen Gerichtshof zur Frage der völkerrechtlichen Legalität des Einsatzes oder der Androhung des Einsatzes von Atomwaffen, Drucksache 13/3661. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/1879 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der gesamten Koalition gegen die Stimmen der gesamten Opposition angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur und zur Rolle der französischen Atomwaffen, Drucksache 13/3897. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/2456 abzulehnen. Wer stimmt dem zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen von Bündnis 90/ Die Grünen und der Gruppe der PDS bei Enthaltung der Fraktion der SPD angenommen.
Vizepräsident Hans Klein
Zusatzpunkt 11: Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der SPD zu den Atomwaffentests durch China und Frankreich, Drucksache 13/4467. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/2443 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheit der Europäischen Union zu den Anträgen der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie der Gruppe der PDS zur Verletzung des Euratom-Vertrags durch Frankreich, Drucksache 13/4470. Der Ausschuß empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlußempfehlung die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition und der SPD bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der SPD auf Drucksache 13/2749. Der Ausschuß empfiehlt unter Nr. 2 a, den Antrag für erledigt zu erklären. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/2270. Der Ausschuß empfiehlt unter Nr. 2 b, den Antrag für erledigt zu erklären. Wer stimmt dem zu? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der PDS auf Drucksache 13/2200. Der Ausschuß empfiehlt unter Nr. 2 c, den Antrag für erledigt zu erklären. Wer stimmt zu? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu den Anträgen der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. sowie der Fraktion der SPD zum KSE-Vertrag, Drucksache 13/4565. Der Ausschuß empfiehlt, die Anträge auf Drucksachen 13/3711 und 13/ 3134 zusammengefaßt in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der PDS angenommen.
Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu den Anträgen der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. sowie der Fraktion der SPD zur Abrüstung chemischer Waffen, Drucksache 13/4569. Der Ausschuß empfiehlt, die Anträge auf Drucksachen 13/3231 und 13/2595 zusammengefaßt in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer stimmt dem zu? - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 15 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Inkraftsetzen der 2. Stufe der Pflegeversicherung
- Drucksache 13/3811 -
- Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit
- Drucksache 13/2393 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
- Drucksache 13/4566 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Karl-Josef Laumann
Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Dr. Heiner Geißler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir verabschieden heute ein großes Werk unseres Sozialstaates. Heute bekommen bereits 1,2 Millionen Menschen, die pflegebedürftig sind, Leistungen aus der Pflegeversicherung, wenn sie zu Hause betreut werden.
Mit der Verabschiedung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung erweitert sich der Kreis der berechtigten Personen um rund eine halbe Million. Außerdem kommen ungefähr eine Million Menschen, die als Pflegepersonen die Pflegebedürftigen betreuen, einen besseren Schutz ihrer sozialen Sicherung, die Pflegezeiten werden der Rente angerechnet, sie haben den Schutz der Unfallversicherung.
Es ist die fünfte Säule unserer Sozialversicherung. Sie ist bis in die letzten Tage hinein umkämpft und auch angegriffen gewesen,
aber die Koalition hat sich als handlungsfähig erwiesen.
Daß wir diese fünfte Säule der Sozialversicherung in einer angespannten Zeit verabschieden können, ist vor allem einem Mann zu verdanken, der Mut gezeigt hat, Standfestigkeit, und der mit Recht als Vater
Dr. Heiner Geißler
der Pflegeversicherung bezeichnet werden kann: Norbert Blüm.
Man hat ihn auf dem Sozialgipfel vor zwei Tagen angegriffen und beschimpft.
Dieter Schulte, der DGB-Vorsitzende, den ich sehr schätze, ein Mann, der sicher große Verdienste hat, hat sich aber in der Wortwahl vergriffen. Er meinte, das Beschäftigungsprogramm verletze die Menschenwürde. Es ist gut, daß sich Bischof Lehmann von diesen Tönen distanziert hat und grundsätzlich weder den Sozialstaat noch die soziale Gerechtigkeit durch unser Programm für Beschäftigung angetastet sieht.
Die Menschenwürde wird in der Tat nicht verletzt, wenn wir in einer angespannten Zeit bei vier Millionen Arbeitslosen in der Lohnfortzahlung eine Selbstbeteiligung in Höhe von 20 Prozent einführen - man kann über alles diskutieren -, wenn wir bei den Medikamenten die Selbstbeteiligung um eine Mark erhöhen und durch die Härteklausel acht Millionen Menschen davon überhaupt nicht tangiert werden und die Erhöhung des Kindergeldes um ein Jahr verschieben bei Preisstabilität. Die Bekämpfung der Inflation, die uns gelungen ist, ist das wichtigste soziale Werk gerade für kleine Einkommen. Davon ist auf dem Sozialgipfel überhaupt nicht geredet worden.
Und die Menschenwürde ist auch nicht tangiert, wenn wir kleinen Betrieben bei vier Millionen Arbeitslosen die Einstellung von arbeitslosen Menschen erleichtern.
Die Menschenwürde wäre allerdings gefährdet gewesen, wenn wir die Hilflosesten, nämlich die Pflegebedürftigen, in dieser Zeit im Stich gelassen hätten. Das haben wir nicht getan.
Dann kommt die Frage mit der Kompensation. Da wird behauptet: Ja gut, das ist alles keine Sache, die Arbeitnehmer zahlen ohnehin alles. Aber ich stelle mir die Frage, gerade in dieser Zeit, oder sage deutlich als unsere Meinung: Es ist in einem Land mit 13 bezahlten Feiertagen und bis zu 32 bezahlten Urlaubstagen zumutbar, daß die Menschen acht Stunden im Jahr - nicht im Monat -, acht Stunden im Jahr mehr arbeiten, damit endlich die Hilflosesten in dieser Gesellschaft zu ihrem Recht kommen.
Deswegen sage ich: Nicht diejenigen, die über Droh-
und Störpotentiale wie Streik und Aussperrung verfügen, haben immer das Recht oder den Anspruch
auf soziale Gerechtigkeit auf ihrer Seite. Pflegebedürftige und Arbeitslose stehen heute im Mittelpunkt
unserer Sorge. Der Sozialstaat ist in einem Land nicht
gefährdet, dessen Parlamentsmehrheit die Kraft hat,
ein Beschäftigungsprogramm zu erstellen, um die
Zahl von 4 Millionen Arbeitslosen zu reduzieren und die soziale Sicherheit und die soziale Gerechtigkeit für über 2 Millionen Menschen durchzusetzen, die pflegebedürftig sind, und die sich einsetzt für diejenigen, die diese Hilfe brauchen. Deswegen darf ich Sie bitten, daß Sie dieses Gesetz der Koalition annehmen.
Herr Kollege Gerd Andres, Sie haben das Wort.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Geißler hat mit der Bemerkung begonnen: Die Koalition habe Verläßlichkeit bewiesen.
- Klatschen Sie nur. Für die betroffenen Menschen muß sich das erst noch erweisen. Wir werden weiter darüber reden.
Wer die Debatten in der Koalition in den letzten Monaten, gerade zu dem Kapitel Pflegeversicherung, miterlebt hat, muß sich doch über weite Strecken an ein Schurkenstück erinnert fühlen.
- Ja, ja, ganz ruhig. Ich habe einen Zeitungsausschnitt dabei, der überschrieben ist mit dem Titel: „Die CDU-Linke warnt vor der Pflegelüge". Hier will ich zunächst einmal zugestehen, daß das Inkraftsetzen der zweiten Pflegestufe möglicherweise verhindert, daß es zu einer Pflegelüge kommt. Das Ganze wird sich aber erst als wahr erweisen, wenn die zweite Stufe im Zusammenhang mit dem ersten SGB-XI-Änderungsgesetz, nämlich mit der Veränderung der Pflegeversicherung, als Paket zusammengesehen wird.
- Frau Dr. Babel ruft hier „Sehr wahr" .
Herr Geißler hat hier eine Rede gehalten, die weniger mit der Pflegeversicherung, sondern mehr mit dem Sozialgipfel zu tun hatte. Deswegen will ich dazu auch eine Bemerkung machen. Herr Geißler, Sie haben über den Vorsitzenden des DGB und Bischof Lehmann gesprochen. Ich halte es für außerordentlich bemerkenswert, daß die Gewerkschaften, daß sechs große Wohlfahrtsverbände, daß die evangelische und die katholische Kirche sich sehr massiv mit dem auseinandersetzen, was Sie als angebliches Konsolidierungsprogramm vorlegen. Wenn Sie Bischof Lehmann zitieren, dann empfehle ich Ihnen ganz dringend, nachzulesen, was dieser Bischof auf dem Kölner Sozialgipfel gesagt hat. Ich empfehle Ihnen dringend, noch einmal nachzulesen oder sich anzuschauen, was Bischof Lehmann abends in einem Interview im Fernsehen gesagt hat. Dieser Arbeitsminister hat eine Kindergeldlüge mit produziert, hat eine Sozialhilfelüge produziert.
- Ja, das sage ich Ihnen. Er hat eine Sozialhilfelüge produziert. Wer sich das Kommuniqué der Bundesre-
Gerd Andres
gierung mit den Sozialpartnern vom 23. Januar anschaut, wer sich anschaut, was da verabredet worden ist, der muß doch die Frage formulieren, ob beispielsweise Ihre geplanten Einschnitte in die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle noch irgend etwas mit Verläßlichkeit und dem Einhalten von Verabredungen zwischen Bundesregierung und den Sozialpartnern zu tun haben. Ich sage nein.
Herr Dr. Geißler, ich finde es richtig - Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege.
- nein, ich will zu diesem Teil reden, später vielleicht -, zu erwähnen, daß Norbert Blüm Verdienste um die Pflegeversicherung hat. Das finde ich völlig richtig. Aber ich finde, Norbert Blüm muß sich fragen lassen, ob das, was er an Zusagen gemacht hat, was er öffentlich erklärt hat, nicht nur in diesem Zusammenhang, sondern auch in anderen Zusammenhängen, noch Bestand hat. Denn ich kann zu der Kindergeldlüge die Rentenlüge gleich hintendran setzen.
Da schreibt Ihr Bundeskanzler vor dem 24. März Briefe an alle Rentnerinnen und Rentner. Die tolle Überraschung erfahren diese Rentnerinnen und Rentner nun in den Folgemonaten nach dem Wahltermin. Was das noch mit Solidität und mit vernünftigem Umgang mit Wahrheit zu tun hat, frage ich mich ganz entschieden. Wenn Sie solch ein Loblied hier singen, dann muß ich Ihnen sagen: Wir werden uns in den nächsten Monaten darüber noch kräftig unterhalten.
Herr Kollege Andres, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schemken?
Nein. - Ich komme jetzt zum Thema Pflegeversicherung, weil wir uns mit diesem Tagesordnungspunkt auseinandersetzen. Ich sage für meine Fraktion ganz ausdrücklich: Wir begrüßen es sehr, daß völlig überraschend und schnell die zweite und dritte Lesung des Gesetzesentwurfes zur Pflegeversicherung und damit die Umsetzung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung auf die Tagesordnung des Parlaments kommt. Damit stellen wir Sicherheit sowohl für die betroffenen Menschen und für ihre Angehörigen als auch für ganz, ganz viele, die in diesen Bereichen als Träger von Einrichtungen arbeiten und damit klarkommen müssen, her.
Wir mußten uns in den Ausschußberatungen mit zwei Gesetzentwürfen auseinandersetzen, da die SPD bereits frühzeitig im November vergangenen Jahres einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt hat. Ich will hier ganz deutlich sagen: Wir haben in den Ausschußberatungen - wir werden uns auch bei den weiteren Abstimmungen so verhalten - unserem Gesetzentwurf zugestimmt und haben den Gesetzentwurf der Koalition aus einer Reihe von wichtigen Gründen abgelehnt, auf die ich hier ganz knapp eingehen möchte.
Im Gesetzentwurf wird das Thema „Kompensation" beschrieben, und zwar nur in der Begründung. Ich will nicht verschweigen, daß es im Ausschuß zur Frage der Kompensation heftige Auseinandersetzungen gegeben hat. Wir halten eine zusätzliche Kompensation für die Einführung der zweiten Stufe nicht für notwendig. Auch in bezug darauf möchte ich ein Argument aufgreifen, das Herr Dr. Geißler eben brachte, daß nämlich die Menschen bei 13 bezahlten Feiertagen und 30 Urlaubstagen auch etwas aufbringen müssen.
Sehr geehrter Herr Dr. Geißler, ich kann überhaupt nicht verstehen - und viele Betroffene können das ebenfalls nicht verstehen -, was die Versorgung von Pflegebedürftigen und ihre berechtigte soziale Absicherung mit dem Feiertagsanspruch oder Urlaubsanspruch von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in dieser Gesellschaft zu tun hat. Sie wissen ganz genau, daß dies in der gesamten Auseinandersetzung um diese Gesetzentwürfe und um die Pflegeversicherung insgesamt ein ganz zentraler Punkt der Auseinandersetzung war. Beides hat überhaupt nichts miteinander zu tun. Sie haben im Grunde genommen mit Ihrer Konstruktion dazu beigetragen, daß die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Pflegeversicherung durch Kompensation und ihre Beiträge ganz alleine bezahlen müssen, während die Arbeitgeber von Leistungen für dieses große fünfte Werk der Sozialversicherung in unserem Lande völlig befreit worden sind.
Wir haben, meine sehr verehrten Damen und Herren, wegen der Kompensation dem Gesetzentwurf der Koalition nicht zugestimmt. Wir werden uns auch im weiteren Verfahren, bei der zweiten und dritten Lesung, so verhalten, daß wir bei der zweiten Lesung für unseren Gesetzentwurf stimmen und dem Gesetzentwurf der Koalition dann in der dritten Lesung zustimmen. Denn wir wollen wie Sie, daß die zweite Stufe der Pflegeversicherung in Kraft tritt.
Nun will ich zu einem weiteren Aspekt etwas sagen: Gestern hat der Vermittlungsausschuß getagt. Alle Betroffenen und insbesondere die Menschen aus den Verbänden wissen, daß das Erste SGB-XI-
Änderungsgesetz, also der Gesetzentwurf zur Veränderung der Pflegeversicherung, den wir im März verabschiedet haben, im Vermittlungsausschuß liegt. In diesem Gesetzentwurf werden eine Reihe von Veränderungen der Pflegeversicherung vorgenommen, die für die Umsetzung der zweiten Stufe und für die Pflegestufe zwei von besonderer Bedeutung sind.
Da ich weiß, daß der Kollege Laumann irgendwann im Laufe dieser Diskussion hier noch reden wird, will ich gleich ein ganz zentrales Problem aufgreifen. Herr Laumann hat in allen Debatten von dem sogenannten Eckrentner geredet und hat erklärt: Es muß uns mit der Pflegeversicherung gelingen, daß die Menschen in unserem Land, die mit einer durchschnittlichen Rente auskommen müssen, durch die Einführung der Pflegeversicherung aus der Sozialhilfe herausgenommen werden. Dem kann ich
Gerd Andres
nur zustimmen. Aber um sie aus der Sozialhilfe herauszubekommen, sind natürlich die materiellen Regelungen des Pflege-Versicherungsgesetzes und damit die Bestimmungen des Pflege-Versicherungsänderungsgesetzes
von einer ganz zentralen Bedeutung.
Der Bundesrat hat in neun zentralen Punkten das Pflege-Versicherungsänderungsgesetz abgelehnt und den Vermittlungsausschuß angerufen.
Zu diesen Punkten gehört unter anderem erstens die Frage: Wie wird mit Behinderten umgegangen? Werden die aus dem Gesetz ausgegrenzt, oder werden sie nicht ausgegrenzt? Wie verhalten wir uns zur Frage der Pflegeassistenz?
Wie verhalten sich der Gesetzgeber und diese Gesellschaft - Herr Schemken, das können Sie sich hinter die Ohren schreiben - bei der Bemessung des Pflegeaufwands, und welche Rolle spielt beispielsweise die Anerkennung der sozialen Betreuung in Pflegeheimen?
Der Bundesrat hat bemängelt: Wie ist die Frage der Vergütung und der Übergangsregelung der Vergütung in stationären Einrichtungen geregelt? Ich will Ihnen eines sagen: Es gibt in der Zwischenzeit keine Trägerorganisation - Caritas, Arbeiterwohlfahrt, die Parität, das Rote Kreuz und viele andere -, die uns sagt: Nach der begonnenen Einstufung durch den medizinischen Pflegedienst in den stationären Einrichtungen gibt es so verheerende Ergebnisse, auch was die Entgelte für die Einrichtungen angeht, daß es bei allen Trägern Riesenprobleme damit gibt, ob möglicherweise die Umsetzung der zweiten Stufe nicht zu ganz massiven Personalabbaumaßnahmen führen muß, ob eine vernünftige, ganzheitliche Pflege in den Einrichtungen überhaupt noch gewährleistet werden kann, ob wir nicht ein Pflegesystem bekommen, das dazu führt, daß sozusagen unter den Stichworten: satt, sauber und Verwahrung die stationär zu versorgenden Pflegebedürftigen mehr verwahrt als vernünftig gepflegt werden.
All diese Fragen werden eine ganz entscheidende Rolle im Vermittlungsausschußverfahren spielen. Die spannende Frage, ob die Umsetzung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung sowohl für die betroffenen Menschen als auch für die Organisation, als auch für unsere Gesellschaft zu einem Erfolg wird, hängt ganz entscheidend davon ab, wie die materielle Ausgestaltung dieses Gesetzeswerkes zum Schluß sein wird.
Deswegen sage ich sehr vorsichtig: Es bleibt abzuwarten, ob nicht neben der Kindergeldlüge, der Rentenlüge und ein paar anderen Lügen
am Schluß dieser Auseinandersetzung nicht für die betroffenen Menschen eine bittere Enttäuschung herauskommt, weil
die Pflegeversorgung in stationären Einrichtungen möglicherweise nach Einführung der Pflegeversicherung schlechter und schwieriger wird, als es nach dem bisherigen System der Fall gewesen ist.
Ich will ein paar Bemerkungen zum vorliegenden Entschließungsantrag der Grünen machen.
- Ich will Ihnen eines sagen: Wer mich kennt, der weiß, daß ich nicht zu den Oberbedenkenträgern gehöre, sondern daß ich zu denen gehöre, die sich bemühen, auch im Bereich der Sozialpolitik sach- und fachgerechte Entscheidungen zu treffen. Nicht jeder, der Sie kritisiert, gehört zu den Bedenkenträgern. Aber man muß nicht jeden Quatsch, den Sie machen, und jede soziale Ungerechtigkeit, die Sie formulieren, mitmachen. Das muß man auch aussprechen können.
Zum Antrag der Grünen sage ich ganz eindeutig: Die SPD wird diesen Entschließungsantrag ablehnen.
Das wundert überhaupt niemanden, insbesondere nicht Frau Fischer, weil die spannende Situation, die man in der letzten Zeit bei den Grünen erleben kann, darin besteht, daß man vor lauter Modernisierungseifer einen umwerfenden und überwältigenden sozialpolitischen Vorschlag nach dem anderen abläßt, und zwar immer vom Duo Fischer, einmal Joseph Fischer, einmal Andrea Fischer.
Betrachtet man diese genauer, muß man erheblich zweifeln, ob die sachliche und fachliche Qualität, die hinter diesen Vorschlägen steckt, über die Schlagzeile hinausreicht, die mit den jeweiligen Ankündigungen produziert wird.
Jetzt sage ich noch etwas zum Entschließungsantrag, Frau Fischer. Sie wissen sehr genau: Das, was Sie mit dem Entschließungsantrag vorschlagen, ist etwas ganz Schlichtes. Sie wollen die zweite Stufe aussetzen - das haben Sie bereits im April erklärt -, und Sie bringen jetzt einen Entschließungsantrag
Gerd Andres
ein, in dem Sie sagen, die Stufe eins haben wir, die Stufe zwei soll mit einer ganz anderen Systematik gemacht werden. Sie hat überhaupt nichts mehr mit der Sozialversicherung zu tun, sondern wir wollen die Stufe zwei steuerfinanziert gestalten.
Sie sagen: Die Stufe zwei - stationäre Versorgung - soll so gemacht werden; um nicht das Gießkannenprinzip einzuführen, wollen wir nur eine Grundversorgung haben.
Wir machen das einkommensbegrenzt, wir schreiben die Einkommensgrenzen vor, und dann schauen wir, was dabei herauskommt.
Liebe Frau Fischer, die Entscheidung, ob die Pflegeversicherung nach einem Sozialversicherungssystem oder ob sie steuerfinanziert gemacht wird, ist längst gefallen. Ich kann mich noch an Legislaturperioden erinnern, in denen Frau Trude Unruh für Sie im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung saß. Auch sie hat uns ein tolles Leistungsgesetz vorgelegt. Auf die schlichte Frage, wie man denn die 100 Milliarden DM bezahlen soll, die nach dem Gesetzentwurf zustande kommen, hat Frau Unruh immer erklärt, das muß doch die Gesellschaft irgendwie machen.
Ich sage Ihnen, Frau Fischer: Ich halte diesen Entschließungsantrag nicht für seriös, weil er nach der Melodie eingebracht wird: Die Mehrheit ist eh gesichert, und das wird eh nicht umgesetzt.
- Sie brauchen sich nicht so groß zu melden. Sie reden nach mir, dann können Sie auf mich eingehen.
Herr Kollege, ich muß Sie der Geschäftsordnung folgend offiziell fragen, ob Sie bereit sind, eine Zwischenfrage zuzulassen.
Herr Präsident, ich sage jetzt noch einmal: Ich lasse keine Zwischenfragen zu.
Ich muß Sie trotzdem jedesmal fragen.
Ich bitte Sie, mich nicht mehr zu fragen. Ich lasse keine zu.
Aber ich muß Sie fragen.
Frau Fischer und die Grünen formulieren das hier nach der Melodie: Wir wollen die zweite Stufe nicht, wir wollen sie nicht als Sozialversicherung, wir wollen sie steuerfinanziert: Da klar ist, daß es dafür sowieso keine Mehrheit gibt, bringt man damit sozusagen einen erneuten modischen Vorschlag ein und erklärt den Menschen nicht: Wie sieht unser Leistungskatalog aus? Wie sollen die Milliarden aufgebracht werden, die dahinterstecken? Welche Milliarden stecken denn dahinter?
Ganz toll, Frau Fischer, ist: Der komplette Finanzierungsvorschlag, der darinsteckt, ist im letzten Spiegelstrich zu finden. Es heißt dort:
Die Kosten für diese Maßnahmen werden im Rahmen einer ökologischen Steuerreform durch eine Erhöhung der Mineralölsteuer aufgebracht.
Ich will jetzt gar nichts zur ökologischen Steuerreform sagen und will auch diesen Gedanken nicht diskreditieren. Aber wenn man unter jeden praktischen Vorschlag, den man macht, immer „ökologische Steuerreform mit Mineralölsteuer" schreibt, dann erinnert mich das an manch andere Debatten.
Ich würde sie bitten, da etwas seriöser vorzugehen.
Ich will es zusammenfassen. Die SPD wird im Abstimmungsverfahren erstens in der zweiten Lesung für ihren eigenen Gesetzentwurf stimmen. Die SPD wird zweitens in der dritten Lesung dem Gesetzentwurf der Koalition zustimmen, weil wir wollen, daß die zweite Stufe umgesetzt wird. Wir werden in der Abstimmung den Entschließungsantrag der Grünen ablehnen, weil wir ihn nicht für seriös und im jetzigen Stand der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um die Pflegeversicherung auch nicht für praktikabel halten.
Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Heiner Geißler.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich stelle fest, daß die Renten wie versprochen und gesetzlich festgelegt in diesem Jahr pünktlich angepaßt werden,
daß sie im nächsten Jahr wie versprochen angepaßt werden, daß es mit dieser Koalition keine Rentenanpassung nach Kassenlage wie bei der SPD in den 70er Jahren
oder der SED in den Zeiten der DDR gibt und daß infolgedessen der Vorwurf der Rentenlüge auf ihre Urheber zurückfällt.
Ich erteile das Wort der Kollegin Andrea Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Andrea Fischer
Kollege Geißler hat gerade gesagt, wir debattieren heute über ein großes Werk und einen großen Fortschritt, die Einführung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung für die Pflege in den Heimen. Glauben Sie nicht, Sie könnten unsere Kritik am Sparpaket mit Verweis auf die Pflegeversicherung beschwichtigen! Selbst wenn die Pflegeversicherung so wohl geraten wäre, wie Sie es gern behaupten, die krassen sozialen Ungerechtigkeiten des Sparpakets werden damit nicht aufgehoben. Etwas anspruchsvoller ist eine sozial ausgewogene Konsolidierungspolitik schon. So leicht lassen wir Sie deswegen auch nicht davonkommen.
Aber das Problem ist größer, als daß uns nur ein Tauschgeschäft angeboten werden soll. Heute soll die zweite Stufe eingeführt werden, obwohl sich immer deutlicher abzeichnet, daß sie ihr Ziel nicht erreichen wird. Wir entscheiden heute über das Schicksal von einigen Hunderttausend schwachen und kranken Menschen. Aber die Koalition interessiert sich mehr dafür, ihr Gesicht zu wahren oder, wie Kollege Geißler sagt, Handlungsfähigkeit zu zeigen, als Konsequenzen aus den vielfältigen Einwänden zu ziehen.
Dabei ging es um unglaublich viel: endlich das Pflegerisiko in angemessener Form abzusichern, endlich die Pflegebedürftigen aus der Sozialhilfe herauszuholen, endlich ein Sicherungssystem zu haben, das auf die Pflegeversicherung wirklich paßt.
In diesem Sinne, meine Damen und Herren von der Koalition, ging es wirklich um ein wichtiges neues Element des Sozialstaats. Was aber haben Sie jetzt daraus gemacht? Weil Sie sich ein solidarisches Unterstützungssystem nur als umlagefinanzierte Sozialversicherung vorstellen können, haben Sie eine falsche ordnungspolitische Entscheidung getroffen. Mit dieser falschen Grundsatzentscheidung sind Sie in eine Falle gelaufen. Finanzierung über die Sozialversicherung bedeutet eine Erhöhung der Belastung der Beschäftigten und der Unternehmen. Es gibt wohl kaum eine Maßnahme, die derzeit wirtschaftspolitisch als weniger opportun gilt als das.
Damit haben Sie selber den Druck geschaffen, dem Sie seit der Diskussion um die Pflegeversicherung nachgeben. Bei der ersten Stufe haben Sie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer den doppelten Betrag zahlen lassen. Bei der zweiten Stufe machen Sie formal keine Kompensation mehr in direkter Verbindung mit deren Einführung; aber im Sparpaket finden sich reihenweise Finsterkeiten, die den Kompensationswünschen der Arbeitgeber entgegenkommen. Wir unterstützen selbstverständlich den Antrag der SPD zur Nichtkompensation der zweiten Stufe; aber er hat ja inzwischen fast etwas von einer zarten Erinnerung an bessere Zeiten. Mittlerweile überkompensiert die Bundesregierung die Pflegeversicherung in einem Ausmaß, wie es bei der Erstellung des Antrags kaum vorstellbar war.
Aber die eigentliche Falle entsteht aus der Verbindung vom Gebot der Beitragssatzstabilität mit der Versicherungslösung. Dies eröffnet Ihnen systematisch nur zwei Möglichkeiten: Entweder Sie reduzieren die Leistungen oder Sie schließen Menschen aus.
Sie nehmen beide Möglichkeiten wahr, was dramatische Folgen hat.
Einerseits werden die Pflegestufen rigide gefaßt, um die Inanspruchnahme zu begrenzen. Die gedekkelten Leistungen werden noch einmal gekürzt, indem die Kosten für die Behandlungspflege in den Leistungskatalog aufgenommen werden.
Andererseits planen Sie mit dem SGB-XI-Änderungsgesetz den kategorischen Ausschluß einer ganzen Personengruppe von den Leistungen des Pflegeversicherungsgesetzes. Behinderte in Heimen sollen, obwohl viele sogar selber Beiträge gezahlt haben, nicht in den Geltungsbereich fallen.
Ich möchte mich ausdrücklich dem Kollegen Andres anschließen und hoffe, daß es gelingt, dieses ungeheuerliche Vorhaben im Vermittlungsausschuß zu kippen. Hier geht es nämlich nicht nur um eine materielle, sondern um eine hochpolitische Frage. Der Ausschluß der Behinderten in Heimen von den Leistungen der zweiten Stufe der Pflegeversicherung ist der sinnfällige Ausdruck der neuen Linie in der Sozialpolitik der Bundesregierung: Immer davon reden, daß die Leistungen den wirklich Bedürftigen zugute kommen sollen, aber tatsächlich alles dafür tun, daß sie systematisch ins Abseits gedrängt werden. Der ganze Sinn dieser empörenden Politik erschließt sich mit Blick auf die geplanten gravierenden Änderungen im Sozialhilfegesetz, die die Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderungen dramatisch verschlechtern werden.
Allen Beteiligten, auch der Bundesregierung, wird immer deutlicher erkennbar, daß die Pflegeversicherung ihr Versprechen, die Pflegebedürftigen aus der Sozialhilfe zu holen, nicht annähernd wird erfüllen können. Das alleine ist ein Offenbarungseid. Aber es ist nicht so, daß Sie deshalb Ihre Grundsatzentscheidung überprüfen würden; nein, Sie setzen noch eins drauf: Durch die Veränderungen des Sozialhilfegesetzes verengen Sie den Begriff der Pflegeleistungen, die von der Hilfe zur Pflege in Einrichtungen übernommen werden, auf den engen Pflegebegriff der Pflegeversicherung.
Dies sei übrigens, Kollege Andres, auch zu Ihrer Sorge, gesagt, wir wollten nur eine Grundversorgung. Gerade die Pflegeversicherung hat explizit nur den Anspruch, eine Grundpflege zu gewährleisten; dieser Vorwurf fällt auf seinen Urheber zurück.
Sie eröffnen damit den Sozialämtern die Möglichkeit, die Ergänzung der mangelhaften Leistungen der Pflegeversicherung durch Sozialhilfe zu verweigern. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß sich die Bundesregierung vom Prinzip der Bedarfsdeckung in der Sozialhilfe verabschiedet, hier haben wir ihn glasklar auf der Hand.
Wir werden in den weiteren Beiträgen sicherlich noch etwas zu dem Anteil der Länder an den Investitionskosten zu hören bekommen. Selbstverständlich müssen sie sie übernehmen. Viele Länder haben trotz ihrer schwierigen Haushaltslage bereits einen Beitrag geleistet; aber dieser müßte sicherlich höher sein.
Andrea Fischer
Aber die lärmende Aufregung, mit der Sie über die Länder reden, soll doch nur Ihre eigenen Versäumnisse überdecken. Sie wollen von den Konstruktionsfehlern der Pflegeversicherung ablenken. Aber Sie werden niemandem in der Fachwelt und auch den Betroffenen nicht weismachen können, hier seien herzlose Bundesländer schuld. Alle Beteiligten wissen nur zu gut, daß die Ursachen bei Ihnen liegen.
Mit dem Entschließungsantrag, den wir heute hier vorgelegt haben, wollen wir eine Alternative zur gescheiterten Pflegepolitik der Bundesregierung aufzeigen. Wir schlagen ein steuerfinanziertes System der Pflegesicherung vor. Wir haben uns dabei an dem gesellschaftlich vereinbarten Volumen der Umverteilung für die Pflegeversicherung in Höhe von 12 Milliarden DM orientiert. Das wäre eine Erhöhung der Mineralölsteuer um 20 Pfennig. Wir haben auf das Ökosteuerkonzept verwiesen, weil wir bereits dort einen bestimmten Teil für Sozialversicherungsaufgaben vorgesehen hatten.
Eine Steuerfinanzierung ist deswegen wichtig, weil damit eine bedarfsgerechte Absicherung des Pflegerisikos möglich wird. Denn in einem Sozialversicherungssystem können Sie die Einkommens- und Vermögensverhältnisse nicht berücksichtigen. Angesichts der zu erwartenden und immer ungleicheren Einkommens- und Vermögensverteilung - die schon jetzt vorhanden ist - halte ich diese Berücksichtigung für immer wichtiger.
Sie haben die Pflegeversicherung so organisiert, daß die Leistungen ungeachtet der persönlichen Verhältnisse gewährt werden. Da es nicht für alle reicht, senken Sie die Leistungen immer weiter ab. Dieser Prozeß wird in den nächsten Jahren zunehmend verschärft werden. Bei gedeckeltem Ausgabevolumen bleibt Ihnen gar nichts anderes, als die Leistungen kontinuierlich zu senken.
- Von der Steuerfinanzierung versprechen wir uns ja gerade, daß die Leute, die auf die Sozialleistungen nicht angewiesen sind, sie auch nicht erhalten und damit andere die Möglichkeit haben, ausreichende Leistungen zu bekommen.
Nach allem, was wir bislang wissen, wird die zweite Stufe der Pflegeversicherung die Situation der Menschen in den Pflegeheimen nicht verbessern. Nein, sie wird sie sogar drastisch verschlechtern. Deshalb lehnen wir die Einführung der zweiten Stufe ab.
Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Barbara Hendricks das Wort.
Herr Kollege Geißler, Sie haben soeben den Vorwurf der Rentenlüge mit dem Hinweis auf die Rentenerhöhung nach der Rentenformel in diesem Jahr zurückgewiesen.
Ich erneuere den Vorwurf der Rentenlüge der Koalition und der Bundesregierung
mit folgendem Hinweis: Durch die von Ihnen beabsichtigte vorzeitige Anhebung des Rentenalters für Frauen schon ab dem Beginn des nächsten Jahres begehen Sie einen massiven Vertrauensbruch für Frauen in dem entsprechenden Lebensalter, jetzt für alle zwischen ungefähr 50 und 60 Jahren.
Wenn dies kein Belügen ist: Die ganze Lebensplanung von Menschen wird gegen Ende ihres Berufslebens völlig über den Haufen geworfen. Frauen sagen zu mir: Ich dachte, ich müßte noch zwei Jahre krükken, jetzt muß ich noch vier Jahre krücken.
- Ich habe das zitiert.
Wie Menschen ihre Arbeitswirklichkeit empfinden, müssen wir schon ihnen überlassen. Wenn sie sie als „krücken" empfinden, ist es bedauerlich genug, daß das so ist.
Ich kann nur wiederholen: Dieser massive Vertrauensverlust wird auf Sie, die Urheber dieser Rentenlüge, zurückfallen.
Möchten Sie antworten? - Bitte.
Verehrte Kollegin, die Frage ist nur, welche politischen Entscheidungen man mit welchen Begriffen belegt. Weil wir eine Heraufsetzung des Rentenalters auch für Frauen für richtig halten, ist das zusammen mit der SPD beschlossen worden, und zwar bei der Rentenreform.
Jetzt geht es angesichts der angespannten Finanzlage ausschließlich darum, den von Ihnen mitbeschlossenen Zeitrahmen nach vorne zu verlegen. Diesen Vorgang mit dem Begriff „Lüge" zu bezeichnen
Dr. Heiner Geißler
fällt auf Sie zurück und ist - ich wiederhole das Wort des Fraktionsvorsitzenden - eine Sauerei.
Es ist unglaublich, mit welchen Begriffen Sie Menschen verunsichern, die mit diesem Begriff natürlich etwas ganz anderes verbinden,
nämlich eine Rentenkürzung, ein Hinausschieben der Rentenanpassung. Sie wissen ganz genau, daß die Menschen so denken und sie nicht das damit verbinden, was Sie gerade meinen.
Sie haben der Heraufsetzung des Rentenalters auch für Frauen zugestimmt. Jetzt geht es nur darum, den Zeitraum zu verkürzen.
Deswegen bleibt es dabei, was ich gesagt habe: Hüten Sie Ihre Begriffe im Umgang mit dem politischen Gegner!
Ebenfalls zu einer Kurzintervention hat der Kollege Schreiner das Wort. Sie wissen, daß Sie jetzt nicht auf Herrn Geißler antworten dürfen, sondern sich auf den Redebeitrag beziehen müssen!
Ich wollte auf den Redebeitrag antworten, allerdings auch darauf hinweisen, daß es völlig falsch ist, wenn hier wiederholt gesagt wird, die SPD habe einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit ab dem Jahr 2001 ohne Punkt und Komma zugestimmt.
Richtig ist, daß die SPD bei den entsprechenden Vereinbarungen ausdrücklich durchgesetzt hatte, daß eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit ab dem Jahre 2001 nur dann in Frage kommen könnte, wenn die Arbeitsmarktsituation dies zuläßt. Diese Vereinbarung, Herr Kollege Geißler und liebe Kolleginnen und Kollegen, ist im Jahre 1989 getroffen worden, also zu einer Zeit, als die Arbeitslosigkeit in Deutschland weitaus geringer war als heute, im Jahre 1996.
Das heißt, die Vereinbarung ist so auszulegen, daß die SPD unter den Bedingungen hoher Massenarbeitslosigkeit keinen Grund sieht, die Lebensarbeitszeit ab dem Jahre 2001 zu verlängern. Deshalb ist das, was hier vom Kollegen Geißler gesagt worden ist, nicht nur eine Bestätigung des Vorwurfs der Rentenlüge, sondern zusätzlich eine Geißler-Lüge.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Gisela Babel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es wird hinlänglich Gelegenheit geben, sich über die Notwendigkeit und die Angemessenheit der Veränderungen im Rentenrecht zu unterhalten. Der Deutsche Bundestag wird dann sicher der richtige Ort für dieses Thema sein. Heute geht es aber um das Inkrafttreten der zweiten Stufe der Pflegeversicherung.
Mehrere hunderttausend Pflegebedürftige und ihre Angehörigen können sicher sein, daß ab dem 1. Juli 1996 Leistungen der Pflegeversicherung in den Heimen gezahlt werden. Die Pflegekassen und der Medizinische Dienst wissen nun, daß sie ihre Vorbereitungen nicht umsonst getroffen haben. Die Pflegeversicherung kann pünktlich zum 1. Juli 1996 mit ihren Leistungen beginnen. Die Kämmerer in den Kommunen müssen für 1996 keinen Nachtragshaushalt erstellen. Die dort schon verankerten Einsparungen sind wirklich realistisch. Nunmehr wird die errechnete Einsparung also kommen. Die Beitragszahler können sich darauf verlassen, daß ihren ab Juli erhöhten Beiträgen ein Anspruch auf stationäre Leistungen gegenübersteht.
Die Bürger und Bürgerinnen sehen also, daß sozialer Fortschritt in schwierigen Zeiten möglich ist. Aber ich gebe zu, daß wir heute eine Zeit erleben, die eine Veränderung unter Umständen gerechtfertigt hätte. Deswegen kann ich alle diejenigen verstehen, die dafür plädiert haben, über diese Frage noch einmal nachzudenken. Wir haben uns diese Entscheidung also nicht ganz leichtgemacht.
Die F.D.P. hat darauf bestanden, daß rechtzeitig vor Inkrafttreten der zweiten Stufe das vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung festgestellte Kompensationsvolumen in der Größenordnung von 2,5 Milliarden DM erbracht wird. In dieser Höhe müssen Arbeitgeber von der mit der Pflegeversicherung verbundenen Beitragsbelastung entlastet werden. Diese Entlastung ist ein wesentlicher Baustein der weitergehenden Anstrengungen, die die Arbeitgeber im Bereich der Lohnzusatzkosten entlasten sollen.
Wir haben das Paket für mehr Wachstum und Beschäftigung beschlossen. Die Fraktionen haben diesem Paket heute zugestimmt. Ich stelle fest, daß hier mehr an Entlastung beschlossen werden wird als dieses festgestellte Volumen. Aber für uns ist es wichtig, das hier noch einmal deutlich zu machen. Wir werden mit diesem Paket noch vor der Sommerpause in die parlamentarische Beratung kommen. Ich will dieses Junktim hier nur noch einmal ganz klar hervorheben.
Ich will auch nicht verschweigen, daß das Unternehmen der Pflegestufe zwei dennoch gewisse Risiken mit sich bringt, und zwar sind das Risiken, für die in erster Linie die Länder Verantwortung tragen.
Erstes Risiko sind die Investitionskosten. Die Länder haben hier eine Bringschuld; denn sie haben im Gesetzgebungsverfahren die politische Zusage gegeben, einen Teil der gesparten Sozialhilfeaufwendungen für die Finanzierung der Investitionskosten der Pflegeeinrichtungen zu übernehmen.
Dr. Gisela Babel
Es ist nicht angängig, daß die Länder jetzt dazu übergehen, in den Bereichen, die unmittelbar damit zusammenhängen, zum Beispiel die Finanzierung von Sozialstationen, ihre Zusage, Kosten zu übernehmen, zurückziehen. Sie treiben das Spiel: Wenn wir jetzt über eine beitragsfinanzierte Pflegeversicherung Entlastungen bei den Sozialhilfeträgern haben, dann können wir es uns auf Länderebene leisten, in diesem Bereich einzusparen. Dieses Spiel halte ich für hochunanständig.
Die Pflegebedürftigen werden hier in der Größenordnung von 500 bis 600 DM monatlich belastet. Ich sage noch einmal: Der politische Schwerpunkt der Pflegeversicherung liegt sicherlich beim Arbeitsminister; aber sie wurde - auch aus einigen Sätzen des Kollegen Andres geht das hervor - nachher nicht nur als ein parteiübergreifendes politisches Gemeinschaftswerk auf Bundesebene, sondern auch als ein Gemeinschaftswerk zwischen Bund und Ländern begriffen. Deswegen finde ich das einseitige sozusagen Sichherausstehlen aus der finanziellen Verantwortung nicht in Ordnung.
Das zweite Risiko betrifft das SGB-XI-Änderungsgesetz und den Vermittlungsausschuß. Gestern beschäftigte sich der Vermittlungsausschuß damit. Meine Befürchtungen vom März dieses Jahres scheinen sich zu bewahrheiten. Damals habe ich davor gewarnt, daß der Vermittlungsausschuß mit seinen Vorschlägen den finanziellen Rahmen der Pflegeversicherung sprengen könnte. Die Ländermehrheit will, daß die Milliardenkosten für die Behandlungspflege in die Krankenversicherung hineinkommen. In der Krankenversicherung gäbe es dann einen Kostendruck, der die Entlastungen gefährden würde.
Ferner will die Ländermehrheit - auch die SPD klagt das ein - die Abgrenzung gegenüber den Behinderten wieder rückgängig machen. Meine Damen und Herren, daß wir in der Sozialpolitik lieber weichherzig, gutmütig und sozial sensibel handeln und lieber mehr als weniger tun,, ist uns allen gemeinsam. Es ist sehr schwierig, Abgrenzungen vorzunehmen, von denen wir glauben, daß sich dadurch soziale Sicherungssysteme insgesamt im Rahmen halten können. Ich halte nichts davon, daß wir jetzt hier eine Erweiterung hin zu den Heimen der Eingliederungshilfe für Behinderte vornehmen; denn wir würden sie in diesem Kostenrahmen nicht halten können und vor der Frage stehen: Sollen wir dann allgemein für alle Pflegebedürftigen die Leistungen der Pflegeversicherung kürzen? Unter diesem Aspekt ist das für mich nicht annehmbar.
Sollten sich die Länderinteressen im Vermittlungsausschuß durchsetzen, müßten wir in den Koalitionsfraktionen nach neuen Mitteln und Wegen suchen, um die Risiken zu begrenzen. Es muß jedenfalls alles darangesetzt werden, daß zum 1. Juli keine Rechtsunsicherheit herrscht. Die Sozialhilfeträger haben zuletzt bei der Besitzstandsregelung für Pflegegeld bewiesen, daß sie unklare Rechtslagen oder Rechtslagen, die sie entgegen dem Wortlaut des Gesetzes für unklar halten, zu ihrem Vorteil zu nutzen verstehen.
Das darf sich nicht wiederholen. Wir müssen verhindern, daß zu Lasten der Pflegeversicherung Fakten geschaffen werden, die nur schwer rückgängig zu machen sind. Deshalb muß die Abgrenzung zwischen Pflege und Eingliederungshilfe mit Inkrafttreten der zweiten Stufe der Pflegeversicherung wasserdicht sein.
Ich warne die SPD davor, daß sie über die Länderkammer versucht, die unerfüllbaren Forderungen, die sie in den Ausschüssen des Bundestages gestellt hat, durchzusetzen, und damit die Pflegestufe zwei gefährdet.
Meine Damen und Herren, mit dem Inkrafttreten der zweiten Stufe der Pflegeversicherung erfüllen wir gegebene Zusagen. Wir entlasten damit die Familien und die von ihnen betreuten Pflegebedürftigen sowie die Kommunen. Das ganze Haus sollte diesem Gesetzentwurf meiner Ansicht nach zustimmen.
Frau Fischer, ich möchte mich mit Ihrem Antrag nicht auseinandersetzen, weil ich glaube, daß Sie nicht überblickt haben, was Sie - ich formuliere es einmal so - im Handwerklichen mit einem solchen Vorschlag alles einreißen lassen würden, wenn wir uns - das ist nun ja hoffentlich nie der Fall - mit Mehrheit diesem Antrag zuwenden würden.
Ich bedanke mich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin gebeten worden, noch kurz auf das Wortgefecht zurückzukommen, das es vor dem Beitrag der Kollegin Babel gegeben hat. Wir sollten doch im Interesse des Hauses und unseres eigenen Ansehens Begriffe vermeiden, die anwesende oder auch abwesende Mitglieder dieses Hauses beleidigen oder herabsetzen.
- Das ist ein Sachverhalt. Es geht um Ausdrücke, die auf Personen bezogen sind.
Jetzt hat die Kollegin Petra Bläss das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Risiken und Nebenwirkungen des Gesetzes erkundigen Sie sich bitte bei der Waigelschen Sparpaketausgabe. Bekanntlich befindet sich lediglich in der Begründung dieses Gesetzentwurfs ein kurzer Verweis darauf, daß hier in der Tat die Katze im Sack verkauft wird. Das Kompensationsvolumen für die zweite Stufe der Pflegeversicherung soll - Zitat - „als Teil eines noch zu beschließenden sozialen Konsolidierungspakets erbracht" werden.
Inzwischen ist das Paket der sozialen Grausamkeiten aufgeschnürt. Vor wenigen Stunden erst haben die Koalitionsfraktionen dieses in Gesetzesvor-
Petra Bläss
schläge gebracht. Es sind einmal mehr die sozial Schwachen in diesem Lande, auf deren Kosten gespart werden soll.
Die Unverfrorenheit, mit der die Regierungskoalition die Frage der Kompensation der angeblichen Belastungen der Arbeitgeber durch die Pflegeversicherung diskutiert, spricht Bände. Die angebliche Sorge um den Wirtschaftsstandort Deutschland ist doch nur vorgeschoben. Die Gewinne der Unternehmen wachsen kräftig, der Export läuft gut, und die Aktienkurse machen einen Höhenflug.
Die Kompensationsregelung ist unsolidarisch, unsozial und arbeitsmarktpolitisch überflüssig.
Mit ihr werden Arbeitsplätze gefährdet und nicht gesichert. Seit dem Inkrafttreten der ersten Stufe der Pflegeversicherung wuchs die Zahl der Arbeitslosen um knapp 400 000, und es gibt keine Anzeichen dafür, daß wenigstens im Bereich der Pflege Arbeitsplätze in erwähnenswertem Umfang neu entstehen.
Wir sehen uns in unserer Entscheidung, die Kompensationsregelung von Anfang an entschieden abzulehnen, bestätigt. Wir fordern erneut die unverzügliche Aufhebung der Kompensation und die Herstellung halbwegs solidarischer Regelungen zur Finanzierung der Pflege zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen.
Zur Beförderung der Diskussion über die von der Bundesregierung betriebene Politik der Entsolidarisierung und Umverteilung wird die PDS in den nächsten Wochen einen Gesetzentwurf zur Aufhebung der Kompensationsregelung in den Bundestag einbringen.
Betroffen macht mich, mit welcher Ignoranz die Bundesregierung die Vorschläge der Betroffenen- und Behindertenorganisationen zur Umsetzung der Pflegeversicherung beiseite wischt. Nach wie vor steht der Alternativvorschlag der Verbände als Kompromißvorschlag zur Lösung der drängendsten Probleme der auf Hilfe, Pflege und Assistenz angewiesenen Menschen im Raum. Es ist wahrlich bewundernswert, daß die Verbände immer noch auf eine positive Reaktion der Bundesregierung hoffen.
Wie schon vor einem Jahr ignoriert die Bundesregierung die mit dem Inkraftsetzen der zweiten Stufe verbundenen verwaltungsmäßigen und organisatorischen Fragen vollständig. Ein immenser Verwaltungsaufwand ist zu bewältigen - per Hand.
Die meisten pflegebedürftigen Menschen werden zunächst ihre Rente erhalten, die dann unter Berücksichtigung der Pflegestufe erneut eingezogen wird. Die Sozialleistungsträger werden in Größenordnungen vorleisten müssen, aber niemand weiß, wie, in welchem Umfang und wie lange. Die Begutachtung wird vielerorts noch nicht abgeschlossen sein. Fast ein Drittel wird in die Pflegestufe Null eingeordnet, viele werden heruntergestuft, was zusätzliche Fragen der Betreuung aufwirft.
Diese und viele andere Probleme und offene Fragen werden die Beschäftigten in den Einrichtungen lösen müssen. Sie werden von der Bundesregierung allein gelassen. Und alle diese Probleme gehen zu Lasten der Menschen in den Heimen und Einrichtungen.
Wütend macht mich auch der erneute Schwall demagogischer Behauptungen, die die Betroffenen irreführen, ja, ich möchte sagen, absichtlich fehlinformieren. So steht im Bericht des Abgeordneten Laumann: „Ambulante und stationäre Pflege sicherten den einzelnen gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit." Genau das passiert aber mit dieser Pflegeversicherung nicht. Wir haben es auf Grund der Bedarfsdeckelung mit einer schlecht ausgestatteten Grundversorgung für ältere, pflegebedürftige Menschen zu tun.
Da wird wieder und wieder betont, das zentrale Ziel der Pflegeversicherung sei, „möglichst viele stationär Pflegebedürftige aus ihrer bisher regelmäßig gegebenen Abhängigkeit von Sozialhilfe herauszuführen". Doch schon heute ist absehbar, daß die Sozialhilfe die Regelfinanzierung bei Pflegebedürftigkeit bleiben wird.
Und, meine Damen und Herren, es ist unredlich, den Ländern den Buhmann in dieser Frage zuzuschieben.
Die geringeren und in keinem Verhältnis zu den versprochenen Einsparungen in der Sozialhilfe stehenden Beträge werden durch die höhere Arbeitslosigkeit mehr als aufgesogen.
Die Entscheidung für diese Pflegeversicherung war für das Sozialversicherungssystem der Bundesrepublik verhängnisvoll. Wir lehnen nach wie vor diese Pflegeversicherung ab. Doch wenn schon eine Pflegeversicherung, dann müssen weitere Stufen zur schrittweisen Sicherung einer bedarfsdeckenden Pflege vorgesehen werden.
Der heute eingebrachte Entschließungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen zur Schaffung einer steuerfinanzierten Pflegeversicherung im stationären Bereich findet unsere uneingeschränkte Unterstützung.
Die PDS hält nach wie vor ein steuerfinanziertes Pflege-Assistenz-Gesetz für die gerechteste und angemessenste Lösung der Pflegeproblematik. Wie Sie wissen, haben wir in der 12. Legislaturperiode hierzu einen Gesetzesvorschlag gemacht. Im Vorschlag von Bündnis 90/Die Grünen sehen wir den richtigen Schritt in die richtige Richtung.
Das Wort hat jetzt der Kollege Karl-Josef Laumann.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nun habe ich schon fast eine Stunde verfolgt, wie die Diskussion über die Einführung einer neuen Sozialversicherung von seiten der Opposition geführt wurde. Ich sage Ihnen
Karl-Josef Laumann
ganz offen: Dabei habe ich die Welt nicht mehr verstanden.
Frau Bläss, kein Wort davon, daß wir in den nächsten sieben Jahren 5,6 Milliarden DM für die Pflegeeinrichtungen in den neuen Ländern aufbringen werden! Kein Wort davon, wie die Pflegeeinrichtungen in diesem Gebiet aussahen, als Sie dort noch politische Verantwortung trugen!
Kein Wort bei der Opposition davon, daß mit der heutigen Verabschiedung für 450 000 Menschen, die hilflos und bettlägerig in Heimen untergebracht sind, Leistungen in Höhe von 2 000 DM, 2 500 DM oder 2 800 DM erbracht werden! Ich habe mich gefragt: Wird das eigentlich alles nicht mehr gesehen, wird das alles mies und dreckig gemacht, wenn man solche Dinge in unserem Land durchsetzt?
Heute sind drei Nachrichten wichtig: Erstens, die zweite Stufe der Pflegeversicherung tritt in Kraft, zweitens, auf CDU/CSU ist Verlaß, sie hält Wort,
drittens, die Leute können sich auf das verlassen, was wir immer zugesagt haben.
Meine Damen und Herren, ein Weiteres möchte ich sagen: Sie kehren gleich genauso wie meine Freunde in Ihre Wahlkreise außerhalb der Bannmeile von Bonn zurück. Dann beginnt, wie an jedem Wochenende - jetzt haben wir sogar eine sitzungsfreie Woche vor uns -, überall in unserem Land die politische Auseinandersetzung. Wenn Sie in dieser Woche, wie ich das bei Ihnen befürchte, davon reden, daß CDU/CSU und F.D.P. dabei wären, eine andere Republik zu schmieden, wenn Sie davon reden, daß wir dabei wären, von der Sozialen Marktwirtschaft wegzugehen, und wenn Sie gar von „Thatcherismus" reden, dann denken Sie bitte an das, was heute bei einem der letzten Tagesordnungspunkte dieser Sitzungswoche beschlossen wird: ein neues Sozialgesetz.
Das ist doch kein Beweis dafür, daß wir dabei sind, eine neue Republik zu machen. Das ist vielmehr der Beweis dafür, daß wir nach wie vor dabei sind, einen vernünftigen, sozialen und demokratischen Staat zu gestalten.
Die Menschen wissen ganz genau, was mit diesem Gesetz in Kraft tritt. Deswegen wird das, was Sie in den nächsten Wochen alles über uns und meine Partei sagen werden, bei den Menschen nicht ankommen. Es wird als bloßes Kriegsgeschrei in die politische Auseinandersetzung eingehen.
Ich meine, wir sollten uns bei der Diskussion, die wir heute führen, auch darüber unterhalten, wie wir möglichst viele Leute mit den in Wahrheit begrenzten Leistungen der Pflegeversicherung - ich habe niemand gehört, auch nicht bei der SPD, der der Meinung ist, wir könnten über einen Beitragssatz von 1,7 Prozent hinausgehen; es steht also nur eine begrenzte Menge an Geld zur Verfügung - aus der Sozialhilfe holen können.
Neben der Diskussion über die Behandlungspflege ist, so finde ich, auch die Frage der Investitionskosten ein ganz gewichtiger Punkt. Bei einem neuen Haus unterhalten wir uns schnell über 600, 700 oder 800 DM Investitionskosten im Monat.
Ich glaube - das sage ich ganz deutlich -, daß es für die Länder eine Aufgabe sein muß, in diesem Bereich für die Investitionskosten einzustehen. Ich sage Ihnen ganz offen: Ich halte die Auffassung der Länder, in diesem Punkt nicht springen zu wollen, für unsozial. In Wahrheit lassen sie bettlägerige Menschen für die Investitionskosten bezahlen. Das ist ein mieser Stil von unseren Bundesländern.
Ich denke, daß wir mit der heutigen Verabschiedung eine der letzten sozialversicherungsrechtlichen Lücken schließen. Vielleicht ist es sogar die letzte der großen Lücken, die das menschliche Leben mit sich bringt, die wir heute durch eine Sozialversicherung schließen. Ich bin glücklich darüber, daß wir das in einer äußerst schwierigen Zeit tun können.
An die Grünen und an unsere verehrte Kollegin Andrea Fischer vielleicht nur ein Wort noch: Hören Sie doch auf zu glauben, man könne die großen Lebensrisiken über steuerfinanzierte Sicherungssysteme finanzieren. Ich glaube, die Antwort, die man schon in der katholischen Soziallehre nachlesen kann, dieses versicherungsrechtlich zu tun, indem die Menschen eine Vorsorge für diese Risiken durch ihre Beiträge treffen, ist allemal der richtigere Weg, weil an erster Stelle die Leistung in Form von Beiträgen und später ein Anspruch steht. Das halte ich auf jeden Fall für besser als ein steuerfinanziertes System.
Zum Schluß möchte ich, nachdem ich diese Diskussion in den fünfeinhalb Jahren, in denen ich hier im Bundestag bin, aus allernächster Nähe mitgemacht habe, sagen: Norbert Blüm hat sich wie kaum ein anderer, oder man kann ruhig sagen: wie kein anderer in diesem Land für die Pflegeversicherung eingesetzt.
Er hat, ohne Rücksicht auf die eigene Person zu nehmen, auch gegen Widerstände, die es in diesen Jahren im eigenen Lager gegeben hat - darüber kann man ja heute ganz offen reden -, gestanden, um eine sozialversicherungsrechtliche Lösung durchzusetzen.
Ich glaube, Norbert Blüm kann heute, wenn diese Sitzung vorbei ist, getrost einmal ein Fläschchen Sekt trinken auf das, was er in der letzten Zeit für die pfle-
Karl-Josef Laumann
gebedürftigen Menschen in unserem Land erreicht hat.
Schönen Dank.
Der eben Angesprochene hat aber zunächst hier das Wort. Bitte, Herr Bundesminister Blüm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist richtig, es sind nur noch wenige Minuten, bis dieser Bundestag - so hoffe ich - den letzten Stein im Gebäude der Pflegeversicherung gesetzt haben wird. Das ist ein guter Tag für die Pflegeversicherung.
Ohne die zweite Stufe hätte das Dach der Pflegeversicherung ein großes Loch. Die . ambulante und die stationäre Pflege gehören nämlich zusammen. Viele Menschen, die ambulanter Pflege bedürfen, müssen in späterer Zeit stationäre Pflege in Anspruch nehmen.
Insofern taugt es nicht, mit zwei unterschiedlichen Systemen mit unterschiedlichen Zuständigkeiten zu arbeiten, Frau Fischer, auch deshalb nicht, weil wir den Ausbau jenes Zwischenraumes zwischen ambulant und stationär brauchen. Ich glaube, das ist das eigentliche Niemandsland unserer Infrastruktur - Kurzzeitpflege, Tagespflegeplätze. Insofern bitte ich, die heutige Entscheidung nicht nur als Entscheidung über Geld und Geldverteilung zu sehen, sondern auch als eine Entscheidung für eine neue Chance einer nachbarschaftlichen Kultur und für eine Unterstützung der Familie.
Man kann die Familie in zweierlei Weise gefährden, und zwar einerseits durch Unterforderung, aber man kann sie andererseits auch durch Überforderung gefährden, und viele Familien sind durch Pflegebedürftigkeit in ihren eigenen Reihen überfordert. Insofern ist das eine Politik für die Hilfsbedürftigen und auch für deren Familien.
Ich sage jetzt eines voraus: Die zweite Stufe der Pflegeversicherung kommt, und es werden drei Dinge geschehen. Erstens. Es wird Anlaufschwierigkeiten geben. Das ist bei dem Bezug jedes neuen Hauses so. Zweitens. Nicht alle Erwartungen werden erfüllt. Auch das ist bei der Einführung jedes neuen Gesetzes so. Drittens. Viele Menschen, die bisher alleingelassen wurden, werden jetzt eine handfeste Unterstützung bekommen. Über die beiden ersten Punkte werden Sie viel lesen, über den dritten Punkt weniger.
Die zweite Stufe kommt mit dann insgesamt 1,7 Prozent Beitrag, und ich kann die Beruhigung aussprechen, daß sie gut abgesichert ist. Wir haben sorgfältig gewirtschaftet, und es ist ja auch ganz wichtig, daß wir ein Sicherheitspolster haben -, und keine Mark geht verloren. Es ist ein Irrtum, Frau Fischer, daß die Leistungen im Zeitverlauf absinken. Wir halten den Beitrag fest bei 1,7 Prozent. Wenn wir diesen Beitrag beibehalten, heißt das nicht, daß die Leistungen sinken. Das wäre nur der Fall, wenn bei gleicher Beitragshöhe die Einnahmen sinken würden.
Deshalb: Es bleibt bei einem Beitragssatz von 1,7 Prozent. Es bleibt dabei, daß wir sorgfältig wirtschaften müssen. Gerade dieses neue Haus bedarf einer Absicherung, um etwaige kommende Stürme auszuhalten.
Bitte, Frau Fischer, wenn es die Frau Präsidentin erlaubt.
Ja.
Herr Minister Blüm, auch wenn der Beitragssatz stabil bleibt und damit das Volumen langsam steigt - entsprechend der Entwicklung der Lohnsumme, die Bemessungsgrundlage für den Beitragssatz ist - : Können Sie sich meiner Vermutung und vielleicht auch der Behauptung von Professor Schmähl anschließen, die er in seinem Gutachten aufgestellt hat, daß angesichts einer demographischen Entwicklung, nach der wir mit einer Zunahme der Pflegebedürftigkeit zu rechnen haben, diese sich weiterentwickelnden Leistungen auf immer mehr Menschen verteilt werden müssen?
Frau Fischer, können Sie sich meiner Einschätzung anschließen, daß bei der Pflegeversicherung das demographische Risiko anders zu werten ist als in der Rentenversicherung? Die Älteren zahlen nämlich auch Beitrag zu der Pflegeversicherung. Wenn es mehr Ältere gibt, gibt es auch mehr Beitragsleistungen. Können Sie sich meiner Einschätzung anschließen, daß mit steigender Lebenserwartung die Pflegebedürftigkeit nicht proportional zunimmt? Die Alten werden nämlich jünger; auch das ist eine Erfahrung.
Wie auch immer: Es bleibt dabei, daß die Pflegeversicherung jetzt, um ans Ziel zu kommen, den letzten Schritt tut. Das ist ein guter Tag. Aber alle müssen ihre Hausaufgaben machen.
Wir können die Hände jetzt nicht in den Schoß legen.
Lieber Herr Kollege Andres, wenn ich das weitergeben darf: Die Länder hatten ihr Wort gegeben, die Investitionskosten zu übernehmen. Je weniger die Länder an Investitionskosten übernehmen, desto
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
mehr Pflegebedürftige werden in der Sozialhilfe bleiben.
Damit wir das klarstellen: In allen Rechnungen wird der investive Anteil ausgewiesen. Dann weiß jeder Pflegebedürftige, welcher Betrag ihm fehlt, um aus der Sozialhilfe rauszukommen. Die Diskussion führen wir zu gegebener Zeit. Wir werden auch im Vermittlungsausschuß unsere Hausaufgaben machen müssen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns das Thema Pflegeversicherung nicht auf die Geldverteilung beschränken. Lassen Sie die Möglichkeit vermehrter sozialer Dienste in unserer Gesellschaft zu. Dies sollte auch in Kombination mit einem Ehrenamt möglich sein. Lassen Sie uns einen Anstoß geben für eine Gesellschaft, die sich mehr um diejenigen kümmert, die hilflos sind.
Wer in diesem Zusammenhang negativ von der Pflegeversicherung redet, dem möchte ich sagen: Bisher wurden im Rahmen der Sozialhilfe 10 Milliarden DM und im Rahmen der Krankenversicherung 4 Milliarden DM ausgegeben. 30 Milliarden DM sind es für die Pflegeversicherung. Kann mir mal jemand sagen, wieso es, wenn man 30 Milliarden DM - kein kleiner Betrag - für die Pflegebedürftigen ausgibt, angeblich schlechter wird als zu einer Zeit, in der die Sozialhilfe nur 10 Milliarden DM gezahlt hat?
An der Pflegeversicherung kann es nicht liegen. Im Rahmen der Pflegeversicherung wird dreimal soviel Geld ausgegeben wie im Rahmen der Sozialhilfe. Bei aller Wertschätzung mathematischer Kenntnisse: Jeder kann doch ausrechnen, daß 30 Milliarden DM dreimal soviel sind wie 10 Milliarden DM.
Lassen Sie die Kirche im Dorf und machen Sie die Leute nicht mit solchen Kalauern verrückt!
Ich habe in dieser Woche an manchen Veranstaltungen teilgenommen. An einer Veranstaltung nahmen auch der DGB und die Kirchen teil. Wie auch immer: Kritik muß in einer Gesellschaft möglich sein. Wir stehen ja nicht unter Denkmalschutz. Natürlich müssen wir uns der Kritik stellen - auch mit den Vorschlägen, die wir machen. Es darf keine Empfindlichkeit geben.
Ich will am heutigen Tag alle Beteiligten fragen - Bischöfe und Gewerkschafter -, ob es berechtigt ist, bei dem Programm, das wir vorlegen, von Kahlschlag, von Kapitalismus pur zu sprechen.
Angesichts einer Woche, in der wir nicht nur Einsparungen vornehmen wollen -, um Neueinstellungen möglich zu machen -, sondern auch 30 Milliarden DM für die Pflegeversicherung beschließen können,
sage ich: Liebe Bischöfe - mit und ohne Hirtenstab -, vorsichtig mit so kräftigen Worten! In unserer Gesellschaft entsteht ein Klima,
in dem die Menschen Angst bekommen und in dem mit Demagogie Politik gemacht wird. Das kann weder der kirchliche noch der gewerkschaftliche Dienst sein.
Das, was jetzt zu tun ist, fällt uns doch nicht leicht. Wir machen es doch nicht aus Lust und Laune. Wir machen es, weil wir das für einen Weg halten, um aus der Arbeitslosigkeit herauszukommen. Andere können das bestreiten; das ist ihr gutes Recht. Niemand hat die Wahrheit, die Weisheit und die Patente gepachtet - natürlich darf kritisiert werden -, und wir erheben diesen Anspruch auch nicht; kein Einspruch. Aber seid mit solchen polemischen Bemerkungen vorsichtig!
Durch unsere Sparmaßnahmen sinkt die Soziallastquote im nächsten Jahr von 33,4 auf 33 Prozent - also um 0,4 Prozent. Vor diesem Hintergrund kommen Leute daher und reden von purem Kapitalismus. Wissen Sie, wie purer Kapitalismus aussieht? Sehen Sie sich einmal in der Dritten Welt um. Wir sind ein Sozialstaat, und wir bleiben es. Wir beweisen heute, daß wir nicht nur sparen, sondern denen, die in Not sind, auch in schwerer Zeit helfen können. Und das ist richtig so!
Das Wort hat jetzt noch einmal der Kollege Gerd Andres.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich will so leise und nachdenklich beginnen, wie es auch der Bundesarbeitsminister getan hat. Ich sage für mich und meine Fraktion: Wir haben durch entsprechende Mitarbeit im Vermittlungsausschuß nach schwierigen Verhandlungen die Einführung der Pflegeversicherung als Sozialversicherung mitgetragen und halten sie auch für richtig.
Ich habe in früheren Debatten dargestellt, daß ich es für völlig richtig halte, daß mit der Einführung der ambulanten Pflegestufe sehr vielen Menschen in unserem Lande geholfen wird, daß Familien, Pflegebedürftige Unterstützung erhalten, die sie vorher nicht bekommen haben. Ich halte dies für einen gewaltigen sozialpolitischen Fortschritt.
Gerd Andres
Ich halte es auch für einen Fortschritt, daß die zweite Stufe der Pflegeversicherung umgesetzt wird. Ich füge hier jedoch ein „Aber" an: Es kommt ganz entscheidend darauf an, wie die Umsetzung der 2. Pflegestufe inhaltlich, materiell gesetzlich abgesichert wird.
Lieber Kollege Laumann, du hast dich hier hingestellt und gesagt: Mit dem heutigen Tage werden in den stationären Einrichtungen 450 000 Menschen eine vernünftige Versorgung erhalten. Meine Erfahrung mit vielen Trägern sieht in der gegenwärtigen Situation ein wenig anders aus. Wer mit Trägern unterschiedlicher Struktur redet - ob es kirchliche Träger, Wohlfahrtsverbände oder freie Träger sind -: Überall entstehen große Probleme durch die Einstufung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen und durch die Eingruppierung derjenigen Menschen in Pflegestufen, die jetzt stationär versorgt werden.
Ich empfehle sehr, sich anzusehen, wie viele Menschen unter die Pflegestufe null fallen. Ich empfehle sehr, sich anzusehen, wie viele Menschen den einzelnen Stufen zugeordnet werden - ob das die Pflegestufe I, II oder III ist - bzw. der Härtefallregelung unterfallen. Ich sehe das riesengroße Problem, Kollege Laumann, daß wir eine große Zahl von Menschen mit insbesondere geronto-psychiatrischen Veränderungen haben, deren Betreuung und soziale Absicherung in der Pflegeversicherung ganz wichtig ist, die aber durch die Definition der Pflegestufen und durch die Art und Weise der Regelung möglicherweise sehr viel schlechter dastehen als vorher. Hier ist eine Aufgabe, der man sich stellen muß.
Wenn der Bundesarbeitsminister hier formuliert, jeder habe etwas beizutragen, dann formuliere ich hier ausdrücklich die Aufforderung an den Bundesarbeitsminister, im vor uns liegenden Vermittlungsausschußverfahren mit dafür zu sorgen, daß die Versorgung dieser Menschen vernünftig vorgenommen wird und andere Regelungen gefunden werden, als Sie sie im bisherigen Gesetzgebungsverfahren vorgenommen haben.
Ich möchte eine weitere Anmerkung machen. Es ist richtig: Wir haben beiden Stufen der Pflegeversicherung mit einem Beitragssatz von 1,7 Prozent zugestimmt. Auch wir sind der Auffassung, daß die Beitragsbelastung für die Menschen nicht willkürlich verändert und weiter erhöht werden kann.
Das bedeutet: Auch wir sind der Auffassung, daß man mit Beitragseinnahmen vernünftig umgehen muß.
In der politischen Auseinandersetzung diskutieren wir zwischenzeitlich darüber, wie viele fremdfinanzierte Leistungen Bestandteil der Sozialversicherungssysteme sind. Ich will deshalb den Meinen Hinweis machen, daß eine vernünftige Finanzierung dieser Leistungen es ermöglichen könnte, die Beitragslasten für Arbeitnehmer und Arbeitgeber ganz entscheidend abzusenken. Es ist Ihre Aufgabe, hier etwas zu tun.
Ich möchte noch etwas zu einem anderen Problem sagen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Es wird immer über die Behandlungspflege gesprochen. Ich möchte das, was der Bundesrat dazu gesagt hat, einmal für das Protokoll des Deutschen Bundestages zitieren; wir können uns danach ausführlich darüber streiten. Er formuliert:
Der Bundesrat weist darüber hinaus darauf hin, daß der allgemeine Teil der Begründung des Gesetzentwurfs bezüglich der Übernahme der Investitionskosten der Pflegeeinrichtungen durch die Länder eine unzutreffende Interpretation der im Vermittlungsverfahren abgegebenen Erklärungen enthält, für die es zudem keine Grundlage in den gesetzlichen Regelungen gibt. Eine Zusage zur vollen Übernahme aller Investitionskosten der Pflegeeinrichtungen konnte es schon wegen der bisher von Land zu Land unterschiedlichen Förderung von Pflegeeinrichtungen und der sich daraus ergebenden Differenzierungen hinsichtlich der Übernahme der sogenannten alten Last nicht geben.
Nun mache ich eine letzte Anmerkung. Die Frage der Behandlungspflege - Herr Kollege Laumann und Herr Blüm, Sie mogeln sich immer freundlich darüber hinweg - ist im Vermittlungsverfahren zur Einführung der Pflegeversicherung beraten worden. Sie, Herr Bundesarbeitsminister, haben sich über Monate hinweg dafür eingesetzt, daß die Behandlungspflege, wie es sachlich und fachlich richtig wäre, in den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen wird. Sie sind Ihrem eigenen Gesundheitsminister, Herrn Seehofer, unterlegen, der diese Belastung schlicht der Pflegeversicherung zuschiebt. Die gedeckelten Beträge und Leistungen der Pflegeversicherung werden aber mit dazu beitragen, daß wesentlich weniger Menschen aus dem Empfängerkreis der Sozialhilfe herauswachsen, als es ursprünglich vorgesehen war.
Ich halte es für eine Frage der Redlichkeit, darauf hinzuweisen, daß dies eine nicht korrekte Regelung ist und daß sich dahinter ein fauler Kompromiß verbirgt, bei dem der Bundesarbeitsminister, wie ich aus meiner Sicht sagen muß, leider unterlegen ist. Ihre inhaltlichen Positionen waren andere; auch die von Herrn Laumann. Die Leidtragenden sind die stationär zu versorgenden Pflegebedürftigen.
Zum Abschluß sage ich: Die spannende Frage, ob mit der Umsetzung der zweiten Stufe zusätzliche Enttäuschung bei den Menschen im Lande einhergeht, wird erst dann beantwortet werden können, wenn die zweite Stufe im Zusammenhang mit dem geänderten Pflege-Versicherungsgesetz wirksam wird. Ich bitte alle in diesem Hause, mit dazu beizutragen, daß aus dieser Enttäuschung keine öffentliche Interpretation wird, die da lautet: Wir haben es mit einer Pflegelüge zu tun.
Gerd Andres
Es gibt Erwartungen an dieses Gesetz. Ich finde, wir alle - Bund, Länder, der Bundestag und der Bundesarbeitsminister - müssen dazu beitragen,
daß ein solcher Effekt im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung nicht eintritt.
Schönen Dank.
Zur Kurzintervention der Kollege Laumann.
Lieber Herr Kollege Andres, ich halte es schon für eine bemerkenswerte Tatsache, daß wir heute in Anwesenheit von elf sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten eine neue Stufe der Sozialversicherung beschließen.
Ich sage in aller Deutlichkeit: Man kann die Welt nicht verstehen: Wir machen eine Versicherung, mit deren Hilfe es möglich ist, daß zweimal täglich eine Krankenschwester pflegebedürftige Menschen zu Hause aufsucht, um den Leuten bei der Pflege zu helfen und die Mutter zu waschen, zu baden und zu betten.
Ist es eigentlich gar nichts, daß junge Leute, die ihre Eltern oder Familienangehörige pflegen, dadurch Rentenanwartschaften in der sozialen Rentenversicherung erwerben? Ist es nichts, daß eine Mutter, die unter Umständen ein Leben lang ihr behindertes Kind pflegt, am Ende eine Rente hat, die 75 Prozent der Durchschnittsrente in diesem Land beträgt?
Ist es eigentlich gar nichts, daß ein Eckrentner, wenn er auf eine stationäre Einrichtung angewiesen ist, neben 2 000 DM Rente in der Pflegestufe 1 zusätzlich 2 000 DM aus der Pflegeversicherung bekommt? Das heißt, der Mann oder die Frau hat 4 000 DM in der Hand, um sich Pflegeleistungen einzukaufen. In der Pflegestufe 2 bekommt der Eckrentner 4 500 DM in die Hand, in der Pflegestufe 3 4 800 DM.
Ich sage Ihnen ganz offen, daß ich als Arbeitnehmer zu den Leuten gehöre, die in diesem Bundestag dafür dankbar sind, daß wir in der Lage sind, eine solche Versicherung für die bedürftigen Menschen in diesem Land abzuschließen.
Ich bin mir ganz sicher: Viele Menschen in den Pflegeheimen, die diese Debatte am Radio verfolgen, werden der Union und Norbert Blüm für das, was wir heute verabschieden, dankbar sein. Die Zukunft wird es zeigen.
Zur Antwort der Kollege Andres.
Kollege Laumann, ich finde es etwas billig, die Bedeutung eines sozialpolitischen Werkes, über die wir uns nicht streiten - das wissen Sie so gut wie ich -,
- daran aufzuhängen, wie viele Abgeordnete hier sind.
Dann, lieber" Kollege Laumann, kann ich auch fragen, wo der Rest Ihrer Fraktion ist. Zu ihr gehören ja auch viel mehr Abgeordnete, als hier sitzen.
Im übrigen muß ich Ihnen sagen, daß ich Ihre Argumentation etwas billig finde, weil auch die Koalitionsfraktionen wissen, daß wir heute die Eröffnung unseres neuen Parteihauses in Berlin haben. Und da klar ist, daß wir diesem Gesetz zustimmen, halte ich das, was Sie hier gemacht haben, schlicht für billige Effekthascherei.
Ich bitte um Ruhe und schließe jetzt die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit, Drucksache 13/2393. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 13/4566 unter Nr. 2, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich lasse über den Gesetzentwurf der SPD auf Drucksache 13/2393 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt worden.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Inkraftsetzung der 2. Stufe der Pflegeversicherung. Das ist Drucksache 13/3811. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 13/ 4566 unter Nr. 1, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS bei einigen Gegenstimmen aus der F.D.P. angenommen worden.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung mit demselben Stimmenverhältnis angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/4584. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS abgelehnt worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und b auf:
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Oberleitung der Deutschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 des Grundgesetzes in die deutsche Staatsangehörigkeit
- Drucksache 13/4249 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß Rechtsausschuß
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cem Özdemir, Kerstin Müller , Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Stimmungsmache gegen Aussiedler zulassen
- Drucksache 13/3892 —Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat war dafür eine halbe Stunde vorgesehen. Es ist aber darum gebeten worden, die Reden zu Protokoll geben zu können.*) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/4249 und 13/3892 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Knoche und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
*) Anlage 2 Rücknahme der Mikro-Antibabypillen der dritten Generation vom Markt
- Drucksache 13/4274 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Die Kolleginnen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Frau Dr. Fuchs haben darum gebeten, ihre Reden zu Protokoll geben zu dürfen.*) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat war für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne jetzt die Aussprache. Als erste hat die Kollegin Monika Knoche das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Wären die Personen, die von den wissenschaftlichen und ökonomischen Bewertungen des vorliegenden Sachverhalts betroffen sind, nicht Frauen, sage ich, gäbe es dieses Pharmaprodukt nicht.
Durch die Untätigkeit des Gesundheitsministers gedeckt, hat sich das BfAM trotz heftiger fachlicher Widersprüche im eigenen Haus von Anfang an geweigert, die Konsequenzen aus den Kenntnissen über die erhöhten Risiken dieser Mikro-Antibabypille der dritten Generation zu ziehen. Präventive Maßnahmen sind seit Contergan für jedes Zulassungsverfahren Bedingung.
Mehrere hundert schwere venöse Thrombosen von Frauen in Deutschland hätten vermieden werden können, wenn nach Maßgabe des Arzneimittelgesetzes gehandelt worden wäre. Entschädigungen für die betroffenen Frauen werden nicht gezahlt. Von rund 7 Millionen Frauen in Deutschland, die Kontrazeptiva nehmen, sind etwa 2 Millionen Konsumentinnen der sogenannten sanften Pille oder Pille ohne Risiko. Unter diesem Markenzeichen wird diese neue Pillengeneration verkauft.
Dieses Präparat hat ein doppelt so hohes Risiko, daß es zu einer venösen Thrombose kommt, wie die Präparate der vergangenen Generation. Das ist Fakt, und daran besteht kein Zweifel mehr. Am 17. April 1996 bestätigte das Europäische Arzneimittelspezialitätenkomitee dies auf Grund neuester Auswertungen.
Wenn schon 1990 vorbeugend gehandelt worden wäre und Femovan und Minulet nicht auf den Markt gekommen wären, dann hätten 300 schwere Fälle von Embolien und wahrscheinlich sechs Todesfälle vermieden werden können.
Schon vor der Zulassung im Jahre 1989 gab es Bedenken gegen diese Pille. Verantwortliche im BfAM,
*) Anlage 3
Monika Knoche
die schon eine große Last im HIV-Skandal auf sich geladen hatten, entschieden gegen den fachlichen Rat zugunsten der Pharmaindustrie. Hausinterne Schikanen gegen Kritiker sind bekannt.
1991 erhob ein renommierter Arzneimittelkritiker eine Dienstaufsichtsbeschwerde wegen Untätigkeit. Wir wissen, daß spätestens ab April 1994 alle Informationen vorhanden waren, um die Schlußfolgerung zu ziehen, dieses neue Präparat vom Markt zu nehmen, denn die Risiken sind beachtlich: Lungenembolien und Hirnschlag können die Folgen sein, die bei ordnungsgemäßem Gebrauch bei Frauen entstehen können und die laut BfAM als tolerierbar eingeschätzt worden sind.
Ich möchte sagen, daß ich im Verlaufe niemals erlebt habe, wie Sachverständige, wie Öffentlichkeit, wie Pharmalobby funktionieren, wenn es darum geht, die monetären Interessen gegen die gesundheitlichen Interessen der Konsumentinnen zu verteidigen. In unseriösen Rehabilitationskampagnen wurden fachlich absolut unhaltbare Vergleiche gezogen zwischen den Risiken, die durch die Einnahme der Pille entstehen, und den Risiken einer ungewollten Schwangerschaft bzw. eines Abortes. Man hat sich sogar dazu verstiegen, nicht bewiesene, völlig fiktive Präventionseffekte dieses Präparates hinsichtlich der Herzinfarktanfälligkeit gegen das reale doppelt so hohe Thromboserisiko gegenzurechnen. Ich kenne keinen Fall in der Nebenwirkung- und der Risikoabschätzung, in dem es derart unlautere und wissenschaftlich unhaltbare Kriterien gegeben hätte. Hier handelt es sich ausschließlich um eine frauenspezifische Bewertung. Und die Wissenschaftskreise und die Gynäkologen, die als Sachverständige gehört worden sind, waren nicht in der Lage, darzutun, aus welchen Gründen sie ausgerechnet bei dieser objektiven Faktenlage Frauen zumuten, ein doppelt so hohes Risiko zu tragen, obwohl durch den Verzicht auf dieses Medikament in keiner Weise eine Versorgungslücke entstehen würde.
Vor diesem Hintergrund - und das ist das Anliegen, das ich sehr deutlich vertrete - muß dieses Medikament vom Markt genommen werden. Da am 30. nächsten Monats die Maßnahmen auslaufen, die das BfAM getroffen hat, und zu befürchten ist, daß dieses Präparat nach Verstreichen einer Schamfrist weiterhin auf dem Markt ist, wird der Bundesgesundheitsminister aufgefordert, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, damit diese Pille vom Markt kommt.
Danke.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Anneliese Augustin.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Knoche, ich weiß nicht, was Sie zu diesen Ausführungen geführt hat. Ist das eventuell Ihre fachliche Kompetenz, die hier zutage trat? Ich habe vorhin im Handbuch nachgeschaut und gesehen, daß Sie im Fernmeldedienst tätig waren. Vielleicht war etwas an der Leitung kaputt.
- Nein, jetzt werden Sie nicht das Wort haben. Es sind so ungeheuerliche Horrormeldungen, die Sie hier gebracht haben, daß man sich wirklich nur wundern kann.
Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es darum geht, Unruhe zu verursachen und unverhältnismäßige Ängste zu schüren, schreckt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - und insbesondere Frau Knoche - vor nichts zurück. Erst stirbt der Wald, dann sterben wir. - Das ist doch die Melodie, die wir uns seit Jahren von Ihnen anhören müssen. Die Kernkraft, die Gentechnik, gestern war es die Magnetschwebebahn: Alles, was für unser Land Prosperität und Fortschritt bedeutet, ist Ihnen aus tiefstem Herzen zuwider.
Nun bemächtigen Sie sich auch noch des Arzneimittelsektors. Sie fordern die Rücknahme der MikroAntibabypille der dritten Generation vom Markt. Der Gesundheitsminister soll das Arzneimittelinstitut in Berlin einfach anweisen - diesem Institut haben wir ja gerade erst mehr Unabhängigkeit gegeben -, das zu tun, was Sie, hochverehrte Frau Knoche, gerade für richtig halten.
Heute ist die Mikropille dran. Ich bin gespannt, was morgen kommt. Hauptsache: spektakulär und angstmachend. Aber Panikmache ist kein angemessenes Verhalten in diesem hochsensiblen Bereich. Oder anders formuliert: Auch vorschnelle Warnungen sind nicht risikofrei. Tatsache ist, daß im vergangenen Jahr, als die Diskussion aufbrach, rund 480 000 Frauen spontan die Pille abgesetzt haben und sich damit dem Risiko einer ungewollten Schwangerschaft und damit auch einem höheren Thromboserisiko ausgesetzt haben.
Frau Knoche, Behutsamkeit ist angesagt. Wäre es daher nicht besser, solche Probleme den Fachleuten zu überlassen? Aber nein, Sie wünschen die Diskussion hier, und so werden wir es halt hier diskutieren.
Dabei lohnt es sich, daran zu erinnern, warum die Pillen der dritten Generation entwickelt wurden. Sie sollten uns Frauen weniger unerwünschte Nebenwirkungen bescheren und auch all jenen Frauen, für die die Pillen der zweiten Generation als zu gefährlich erschienen, zur Verfügung gestellt werden. Das sind gerade diejenigen Frauen, die gewisse Risikofaktoren in sich tragen, wie Übergewicht, Thrombose aus früheren Zeiten oder was auch immer. Folglich waren es auch gerade die risikobehafteten Frauen, denen die Pille der dritten Generation verordnet wurde. Ist es nicht vielleicht denkbar, daß gerade hierin der Grund zu finden ist, daß die Zahl der unerwünschten Nebenwirkungen bei der Mikropille zwar geringfügig - Sie sprechen immer von 50 Prozent; aber wenn man die geringen Zahlen nimmt, dann relativieren sich auch diese 50 Prozent -, aber immerhin nachweisbar höher liegt als bei der Pille der zweiten Generation?
Anneliese Augustin
Der CPMP, das europäische Fachgremium, dessen Kompetenz auch Sie hoffentlich nicht bezweifeln, hat im April nach intensiver wissenschaftlicher Prüfung festgestellt - ich zitiere jetzt wörtlich; Sie hatten offenbar ein anderes Buch -:
Eine venöse Thromboembolie ist ein schwerwiegendes, jedoch seltenes Risiko im Zusammenhang mit der Anwendung oraler Kontrazeptiva. Da diese Komplikation selten auftritt, sind entsprechende Untersuchungen schwierig und Schätzungen der Inzidenz
- also der Häufigkeit - ungenau.
Man sieht, wie schwierig selbst für Fachgremien die Beurteilung von Chancen und Risiken eines Medikaments, in unserem Fall der Mikropille, ist. Entsprechend vorsichtig formuliert dann auch der CPMP seine Position. Jedenfalls fordert der CPMP mit keinem Wort die Aufhebung der Zulassung der Mikropille. Das bleibt Ihnen vorbehalten. Ganz im Gegenteil: Im Herbst vergangenen Jahres hat der CPMP den Widerruf der Zulassung dieser oralen Kontrazeptiva abgelehnt - ich sage ausdrücklich: abgelehnt -, und auch beim Bundesinstitut für Arzneimittel ist vom Widerruf der Zulassung keine Rede.
Der CPMP weist aber in seiner aktuellen Stellungnahme Ärzte und Anwenderinnen darauf hin, daß es angezeigt ist, orale Kontrazeptiva unter akuten Bedingungen abzusetzen, die mit einem erhöhten Risiko für venöse thromboembolische Ereignisse verbunden sind. Dabei denkt er an Operationen oder an größere Verletzungen. Er ermahnt auch die Ärzte und die Anwenderinnen, sich über Risikofaktoren zu informieren und sie zu beachten.
Ich erlaube mir einen Hinweis, den ich unterstreichen möchte: Arzneimittel sind nicht mit der gleichen Leichtfertigkeit wie Bonbons zu lutschen oder zu schlucken; Arzneimittel - damit auch keines der oralen Kontrazeptiva - sind nicht nebenwirkungsfrei. Auch hier gilt selbstverständlich der Satz: Zu Nebenwirkungen und Risiken fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Diesen Satz hört man so oft, daß man schon etwas lächelt. Aber dieser Satz ist ernst gemeint, und er ist auch ernst zu nehmen.
Dies sollte auch in diesem Hohen Hause Beachtung finden. So war ich neulich schon ein bißchen erstaunt, eine Aussage des Kollegen Schmidbauer zu lesen, die er in einer Kleinen Anfrage kolportierte, nach der Pillen der zweiten Generation risikofrei seien. Purer Unsinn ist die Vorstellung, es gebe auf der einen Seite die risikoreichen, auf der anderen Seite die risikofreien Pillen.
Auch hier ist immer eine Nutzen-Risiko-Abwägung zu treffen. Diese Nutzen-Risiko-Abwägung sieht im übrigen auch das Arzneimittelgesetz bei der Frage der Zulassung respektive des Widerrufs der Zulassung von Arzneimitteln vor.
Für die geforderte Nutzen-Risiko-Abwägung gibt es fachlich kompetente Gremien. Auf europäischer
Ebene ist das die Europäische Arzneimittelagentur mit dem CPMP. In unserem Land ist es das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, das nach dem Arzneimittelgesetz auch die Kompetenz zur Entscheidung hat.
Wir sollten diesen Gremien daher auch die Entscheidung überlassen und uns als Parlament etwas mehr Zurückhaltung in diesen sensiblen Fragen auferlegen. In diesem Sinne empfehle ich die Behandlung des vorliegenden Antrags in den Gremien.
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Monika Knoche das Wort.
Frau Augustin, Sie sind Kollegin, Sie sind gewählte Vertreterin wie ich. Ich weiß, Sie haben einen anderen Beruf. Die Qualität und die Qualifikation der Anträge von Fraktionen von der beruflichen Herkunft der Abgeordneten abhängig zu machen, ist - lassen Sie mich das so einfach sagen - unter Niveau.
Was wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier auf jeden Fall leisten müssen, ist, die Fähigkeit zu entwickeln, eine unabhängige Bewertung vorzunehmen und sich nicht von Expertenmeinungen und Expertinnenmeinungen entmündigen zu lassen. Das ist in einer hochkomplexen Situation, in der wir in der Politik sehr oft stehen, sehr wesentlich.
Ich möchte Ihnen ein aktuelles Beispiel, aus England kommend, nennen. Wir haben im Falle von BSE, in dem wir bis heute noch nicht sagen können, ob die Übertragung auf den Menschen gegeben ist, umfassende Sicherheitsvorkehrungen getroffen; ein Exportverbot wurde europaweit ausgesprochen, uni präventiven Gesundheitsschutz zu leisten.
Im Falle der Mikropille hat ein europäisches Gremium eindeutig erklärt, daß die von mir genannten doppelten Risiken in diversen Studien bis hin zur WHO bestätigt worden sind. Ihre Anmerkung, es sei nicht Aufgabe des Parlaments, ein Medikament vom Markt zu nehmen, muß ich deshalb in Relation zu dem setzen, was uns in der Bundesrepublik in der Frage von BSE beschäftigt hat. Ich muß das vor dem Hintergrund sehen, zu welchen Handlungen wir auch auf europäischer Parlamentsebene bereit sind.
Noch ein Gedanke, der sehr wichtig ist: In England hat man eine sehr restriktive Maßnahme ergriffen. Dort darf dieses Medikament kaum verordnet werden. Ich möchte Ihnen, die Sie Pharmakologin sind, noch einmal in Erinnerung rufen, daß unser Arzneimittelgesetz - ich verweise auf § 25 Abs. 2 Nr. 5 und § 30 Abs. 1 - sagt: Die Zulassung eines Medikamentes ist dann aufzuheben, wenn der begründete Verdacht besteht, daß bei korrekter Einnahme Nebenwirkungen nicht auszuschließen sind. - Vielleicht schauen Sie einmal ins Gesetz; dann könnten wir uns sachgemäß unterhalten.
Monika Knoche
Danke schön.
Zur Antwort die Kollegin Augustin.
Frau Kollegin Knoche, ich hatte keineswegs vor, Ihre berufliche Qualifikation zu zitieren. Aber nach dem, was Sie als Tatsachenbehauptungen unserem Parlament vorgeführt haben, blieb mir überhaupt nichts anderes übrig, als zu fragen, wie Sie zu diesen Behauptungen eigentlich kommen.
Frau Knoche, Sie haben in Ihrem Beitrag kritisiert, daß wir auf die Meinungen von Experten hören. Ich frage Sie: Woher wollen Sie Ihre Weisheit sonst nehmen? Wir sind doch in vielen Fällen auf die Experten selbstverständlich angewiesen.
Aber, Frau Knoche, ich hätte ganz bestimmt nichts gesagt, doch ich fand es unglaublich, daß Sie hier Behauptungen im Sinne von Tatsachen aufgestellt haben, die einfach nicht wahr sind.
Jetzt hat der Abgeordnete Horst Schmidbauer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, Kollegin Augustin, welche Interessen Sie vertreten. Aber ich habe den Eindruck, die Interessen der Frauen sind es nicht.
Jeden zweiten Tag könnte eine tiefe Venenthrombose bei Frauen vermieden werden, wenn diese Frauen nicht die Pillen der dritten Generation, sondern - das möchte ich gleich korrigierend hinzufügen - die weniger riskanten Pillen der zweiten Generation einnehmen würden. Jetzt verstehen Sie vielleicht auch unseren Ärger über den Umgang mit diesem Risiko, den wir auch bereits öffentlich zum Ausdruck gebracht haben. Klar ist doch: Die Risikodaten, über die wir sprechen, signalisiert auch unsere bundesrepublikanische Oberbehörde, die von einem doppelten Thromboserisiko spricht. Sie gibt dies erst jetzt bekannt, obwohl es seit 1989 bekannt ist.
Noch klarer wurde es 1995. Insgesamt vier internationale Studien bestätigten unabhängig voneinander das doppelte Risiko. Dieses Ergebnis war - völlig klar - bei der Pharmaindustrie nicht erwünscht. Dieses Ergebnis führte bei den Gesundheitsbehörden nur zu halbherzigen Konsequenzen. Deswegen müssen wir heute darüber reden und klarmachen: Was bedeutet diese Risikoverdoppelung?
In der Bundesrepublik nehmen mehr als 6 Millionen Frauen die Pille, davon ungefähr 2 Millionen die Pille der dritten Generation. Das bedeutet, bei diesen Frauen müssen wir mit etwa 400 tiefen Venenthrombosen im Jahr rechnen. Etwa 80 bis 100 betroffene Frauen erkranken an einer Lungenembolie, und etwa 8 bis 10 Fälle verlaufen tödlich. Daran ist, so finde ich, überhaupt nichts zum Lachen. Das ist eine ernste Geschichte, bei der es auch darum geht, daß ich, auch wenn es eine noch so geringe Zahl ist, Opfer an Menschenleben zu vermeiden habe. Das ist, glaube ich, die Aufgabe, die wir haben.
In allen vier Studien wird unabhängig voneinander bestätigt, daß dieses Risiko halbierbar wäre. Um diese Halbierbarkeit des Risikos geht es uns doch letztendlich. Einer solchen möglichen Risikominderung steht kein Verlust an therapeutischem Nutzen entgegen. Wir nehmen doch den Frauen in der Bundesrepublik damit nichts weg. Wir sagen vielmehr: Sie haben eine therapeutische Möglichkeit. Es wird nicht, „entweder oder" gesagt. Es wird auf den Sicherheitsaspekt eingegangen, also eine Risikominimierung angestrebt. Das würde bedeuten, daß wir 40 bis 50 Lungenembolien vermeiden könnten oder vier bis fünf Frauen mehr am Leben hätten, wenn wir dies erreichen würden. Man darf dies nicht hinnehmen und so tun, als ob es eine akademische Frage, eine Frage von Wissenschaftlern wäre. Ich denke, es ist eine gesundheitspolitische Entscheidung von denjenigen zu treffen, die dafür in der Bundesrepublik die Verantwortung haben.
Zwei Grundsätze, die bei der Arzneimittelsicherheit prägend für unser Handeln sind, möchte ich für unsere Seite noch einmal deutlich machen. Es sind zwei Grundsätze, die auch für das Handeln des Bundesinstituts für Arzneimittel und das Gesundheitsministerium maßgeblich sein müssen: erstens der Grundtenor des Contergan-Einstellungsbeschlusses und zweitens die Empfehlungen des 3. Untersuchungsausschusses von 1994, denen wir hier einhellig gefolgt sind. Diese Grundsätze sind einfach und klar. Ich will sie in diesem Zusammenhang in Erinnerung rufen.
Erstens. Die Gesundheit des Patienten ist das höchste Rechtsgut. Dahinter haben die Vermarktungsinteressen der Hersteller zurückzustehen. Zweite Erkenntnis aus dem Contergan-Fall und dem 3. Untersuchungsausschuß: Der Schwebezustand der wissenschaftlichen Unsicherheit, ob ein Arzneimittel einen Schaden auslöst oder nicht, darf sich nicht zu Lasten des Patienten auswirken. Im Verdachtsfall muß das Medikament vom Markt. Von dieser Zielsetzung müssen wir ausgehen. Dies ist der Maßstab, an dem wir Handeln zu prüfen haben, Denn damit gewinnt man Zeit, um sich ohne Risiko für die Menschen Klarheit zu verschaffen. Wird der Verdacht widerlegt, muß das Medikament wieder zugelassen werden. Das ist völlig klar.
Horst Schmidbauer
Die Gesundheitsbehörden haben nicht den Handlungsspielraum, für sich zu entscheiden, ob sie nach diesen Grundsätzen verfahren wollen oder nicht. Diese Grundsätze sind letztendlich auch Grundlage des Arzneimittelgesetzes. Ich möchte nur noch einmal auf den bereits zitierten § 5 des Gesetzes hinweisen, der klipp und klar sagt, daß es verboten ist, bedenkliche Arzneimittel auf den Markt zu bringen.
Niemand von uns wird sich deshalb vorhalten lassen wollen, daß trotz der Kenntnisse, die uns zugegangen sind, und mit unserer Einwilligung gegen diese Grundsätze verstoßen wird, und zwar auch und gerade nicht bei Pillen, die keine gewöhnlichen, vielleicht auch keine harmlosen Arzneimittel sind.
Auf der anderen Seite ist es nicht die Aufgabe des Parlaments, die Entscheidung über den Widerruf oder das Ruhen der Zulassung dieser Mikropillen zu treffen. Das ist Aufgabe des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte bzw. des Gesundheitsministeriums.
Deshalb stelle ich fest: Es kann nicht angehen, daß wir Parlamentarier die Handlungspflichten der Exekutive an deren Stelle übernehmen. Wir haben die Aufgabe, zu kontrollieren, daß die Exekutive ihren Handlungspflichten nachkommt. Wir wollen deshalb, daß über die Rücknahme auf dem Weg der Verantwortlichkeit entschieden wird. Dieser Weg heißt Bundesinstitut und Ministerium. Diesen Weg werden wir weiterhin aufmerksam und kritisch verfolgen; denn was die Pille der dritten Generation angeht, so bestehen massive Zweifel, ob die bisherige Tätigkeit der Gesundheitsbehörden mit den oben beschriebenen Grundsätzen der Arzneimittelsicherheit zu vereinbaren ist. Die Vielzahl der Meldungen über schwere thromboembolische Ereignisse bei gestodenhaltigen Pillen der dritten Generation in den Jahren 1989 und 1990 begründete einen Risikoverdacht, der bereits damals das Ruhen der Zulassung gerechtfertigt hätte. Wären bereits 1990 die gestodenhaltigen Pillen der dritten Generation aus dem Handel gezogen worden, wären bis heute etwa 1 000 Thrombosen und damit 20 Todesfälle vermieden worden.
Im Ministerium selbst war über all die Jahre hinweg zu diesem Thema nur Funkstille zu verzeichnen, obwohl auch der Minister das Recht und die Pflicht hat, bei einem begründeten Verdacht tätig zu werden. Auf § 6 Satz 1 des Arzneimittelgesetzes ist bereits hingewiesen worden.
Vor dem Hintergrund der bisherigen Untätigkeit ist es zu begrüßen, daß wenigstens das Institut Ende 1995 aus der Deckung gekommen ist, als die internationalen Studien ihre eigenen Risikobewertungen bestätigten. Doch die dann getroffenen Entscheidungen zur Risikoabwehr haben einen doppelten Haken: erstens die unzureichende Indikationseinschränkung auf Erstanwenderinnen unter 30 Jahre und zweitens die Befristung dieser Indikationseinschränkung auf den 30. Juni 1996. Das Verbot der Anwendung bei Erstanwenderinnen greift zu kurz. Die Kliniker, mit denen ich mich unterhalten habe, wissen: Blutgerinnsel treten plötzlich und unerwartet auch bei Frauen auf, die jahrelang problemlos Pillen mit diesen Substanzen vertragen haben. Die Entscheidung der Oberbehörde ignoriert diese Datenlage und ist deshalb irreführend und gefährlich für die Patientinnen sowie für die Behörde selbst; denn die Fehlerhaftigkeit dieser Entscheidung kann im Schadensfalle eine Staatshaftung begründen.
Außerdem: Es gibt keine wissenschaftlich gesicherte Begründung dafür, daß Frauen über 30 Jahre weniger gefährdet sind. Vollends absurd ist schließlich der Versuch, mit der inzwischen widerlegten Behauptung über eine mögliche Verringerung des Herzinfarktrisikos dieser Gruppe von Anwenderinnen eine Beibehaltung des doppelten Thromboserisikos zu rechtfertigen. Ein solcher unbelegter Verdacht eines möglichen therapeutischen Nutzens darf bei der Risiko-Nutzen-Abwägung der Behörde gegenüber dem belegten doppelten Risiko nicht ins Gewicht fallen.
Die Frist 30. Juni läuft in wenigen Wochen ab. Die Europäische Arzneimittelkommission hat im April in London getagt und die Datenlage - doppeltes Risiko - noch einmal bestätigt. Die Kommission hat den Behörden der einzelnen Mitgliedsländer bei der Entscheidung über risikomindernde Maßnahmen freie Hand gelassen. Das heißt, nationales Handeln ist möglich und - so füge ich hinzu - nötig.
Nun wird es höchste Zeit, daß diese Pillen aus dem Markt genommen werden. Nun erwartet die Öffentlichkeit, nun erwarten vor allem die betroffenen Frauen zu Recht eine klare Entscheidung vom Ministerium und vom Bundesinstitut.
Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Bergmann-Pohl hat gebeten, ihre Rede zu Protokoll geben zu dürfen.*) Sind Sie einverstanden? - Dann schließe ich damit die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/4274 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie auch damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages ein auf Mittwoch, 22. Mai 1996, 12 Uhr. - Ich wünsche allen ein schönes Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.