Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.Bevor wir zur Regierungserklärung kommen, habe ich noch einige amtliche Mitteilungen zu verlesen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt.1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Haltung der Bundesregierung zu Vorschlägen, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu kürzen *)2. Beratung des Antrags der Bundesregierung: Deutsche Beteiligung an den militärischen Maßnahmen zur Absicherung des Friedensvertrages für Bosnien-Herzegowina - Drucksache 13/3122 -3. Beratung des Antrags der Gruppe der PDS: Kein Einsatz der Bundeswehr im früheren Jugoslawien - Drucksache 13/3127 -4. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes über den Abbau von Salzen im Grenzgebiet an der Werra - Drucksache 13/3138 -b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Angelica Schwall-Düren, Susanne Kastner, Heidi Wright, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Verhinderung weiterer Gewässerverunreinigungen durch das Totalherbizid DIURON - Drucksache 13/ 2518 -c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Susanne Kastner, Ulrike Mehl, Michael Müller , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Notwendige Grundsätze der guten fachlichen Praxis belm Düngen in der Düngeverordnung - Drucksache 13/2524 -d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Höfken, Steffi Lemke und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Erforderliche Maßnahmen zur Umsetzung der EU-Nitratrichtlinie im Rahmen der Düngeverordnung - Drucksache 13/3064 -e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Fischer und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sozial verträgliche Abschmelzung der Auffüllbeträge und Rentenzuschläge in Ostdeutschland - Drucksache 13/3141 -*) In der 73. Sitzung am 29. November 1995 behandelt; siehe Seite 6397CVon der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit es bei einzelnen Punkten der Tagesordnung und der Zusatzpunktliste erforderlich ist, abgewichen werden.Weiterhin ist vereinbart worden, die unter Tagesordnungspunkt 18a bis e stehenden Sammelübersichten zu Petitionen mit verbundenen Ausschußempfehlungen sowie den Tagesordnungspunkt 20 c „Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz 1995" abzusetzen.Ich mache darauf aufmerksam, daß die Beratungen ohne Aussprache heute nach der Beratung des Entsendegesetzes gegen 15 Uhr aufgerufen werden.Außerdem weise ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste hin:1. Der in der 47. Sitzung des Deutschen Bundestages am 29. Juni 1995 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Ausschuß für Wirtschaft überwiesen werden:Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes - Drucksache 13/1207 -Überweisung:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten2. Der in der 63. Sitzung des Deutschen Bundestages am 25. Oktober 1995 überwiesene nachfolgende Antrag soll nachträglich dem Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus überwiesen werden:Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Verbesserungen des Naturschutzes in Deutschland - Drucksache 13/2743 -Überweisung:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für GesundheitAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und StädtebauAusschuß für Fremdenverkehr und TourismusSind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir entsprechend.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c sowie die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:
Metadaten/Kopzeile:
6426 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth3. a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur Friedensvereinbarung für BosnienZP2 Beratung des Antrags der BundesregierungDeutsche Beteiligung an den militärischen Maßnahmen zur Absicherung des Friedensvertrages für Bosnien-Herzegowina- Drucksache 13/3122 —Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß RechtsausschußVerteidigungsausschußHaushaltsausschußZP3 Beratung des Antrags der Gruppe der PDSKein Einsatz der Bundeswehr im früheren Jugoslawien- Drucksache 13/3127 —Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß RechtsausschußVerteidigungsausschußHaushaltsausschußb) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/ CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.Die Lage der Menschen in den Staaten des ehemaligen Jugoslawien und die Bedingungen für die rasche Hilfe beim Wiederaufbau nach einem Friedensschluß- Drucksache 13/2978 —Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß
InnenausschußVerteidigungsausschußAusschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklungc) Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Lederer, Heinrich Graf von Einsiedel, Willibald Jacob, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDSFrieden und Wiederaufbau im früheren Jugoslawien- Drucksache 13/3078 -Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß
InnenausschußVerteidigungsausschußAusschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungZur Regierungserklärung liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/ Die Grünen vor. Über den Entschließungsantrag der SPD stimmen wir im Anschluß an die Aussprache namentlich ab.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Wir verfahren so.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister des Auswärtigen Dr. Klaus Kinkel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Friedensabkommen von Dayton hat die Grundlage geschaffen für die Beendigung des längsten und grausamsten Konflikts in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Nach fast vier Jahren Krieg mit 250 000 Toten und über 2 Millionen Flüchtlingen hat der Friede im ehemaligen Jugoslawien erstmals eine realistische Chance. Endlich wieder normal leben und keine Angst mehr haben müssen, das ist der sehnlichste Wunsch der Menschen dort. Damit er sich erfüllt, bedarf es jedoch weiterer großer Anstrengungen der internationalen Staatengemeinschaft. Heute und am 6. Dezember debattieren wir in diesem Hause über den deutschen Beitrag hierzu.
Das Bundeskabinett hat am Dienstag entschieden: Deutschland wird sich auch weiterhin an der Seite seiner EU- und NATO-Partner der Mitverantwortung für das Schicksal dieser Region stellen, weil wir wissen: Frieden in Bosnien heißt auch Stabilität in Europa.
Mein Appell an die Opposition: Unterstützen Sie die Entscheidung der Bundesregierung! Stehen Sie zur deutschen Mitverantwortung für Frieden und Menschenrechte in Europa! Wir müssen und wollen auch im Bereich der Friedenssicherung ein zuverlässiger, vollwertiger europäischer und transatlantischer Partner sein.
Die Europäische Union hat sich seit Beginn des Konflikts um eine politische Lösung bemüht und den Friedensplan der Kontaktgruppe maßgeblich mitgestaltet. Dieser Friedensplan ist der Kern des Abkommens von Dayton. Dennoch besteht kein Zweifel: Es war das politische und das militärische Engagement und Gewicht Amerikas, das für den jetzt endlich erreichten Friedensschluß den Ausschlag gab.
Ich möchte an dieser Stelle der amerikanischen Regierung, ganz besonders aber Außenminister Warren Christopher und seinem Team, für diesen Einsatz sehr, sehr herzlich danken.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der Friede in Europa ist auch ein vitales Interesse der USA. Dennoch dürfen wir Europäer das Engagement Amerikas für den Frieden in Bosnien nicht für etwas Selbstverständliches halten. Es handelte sich und handelt sich um einen europäischen Konflikt.
Mit meinem Dank an die amerikanische Regierung verbinde ich die Hoffnung, daß auch der amerikanische Kongreß zur Mitverantwortung der USA für die Verwirklichung des Friedensabkommens durch die
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
geplante Entsendung amerikanischer Soldaten nach Bosnien steht und zustimmen wird.
Präsident Clinton wird am Wochenende zusammen mit dem Bundeskanzler in Ramstein amerikanische Soldaten besuchen, die in Bosnien zum Einsatz kommen sollen. Er ist uns hier wie immer herzlich willkommen.
Europa und Amerika brauchen einander in vielfacher Beziehung auch in Zukunft. Die amerikanische Rolle bei der Erreichung des Friedensabkommens wird nicht geschmälert, wenn ich sage, daß der Erfolg von Dayton vor allem durch die Vorarbeit der Kontaktgruppe mit maßgeblicher europäischer und auch russischer Beteiligung möglich wurde. Hier ist außerdem der große Beitrag Frankreichs, Großbritanniens, aber auch kleinerer Partner wie Belgien, Dänemark, der Niederlande zu erwähnen, den diese durch die Entsendung ihrer Blauhelmsoldaten für den Frieden in Bosnien geleistet haben. Vergessen wir nicht: Allein Frankreich hat im ehemaligen Jugoslawien über 50 tote Soldaten und über 300 Verletzte zu beklagen.
Von Anfang an, meine Damen und Herren, hat die Bundesregierung auf die Einbeziehung Rußlands in den Friedensprozeß größten Wert gelegt. Die Bundesregierung sieht in der weiteren - auch militärischen - Einbindung Moskaus, die jetzt gesichert zu sein scheint, eine wichtige Voraussetzung für den Frieden in der Region.
Die vereinbarten regelmäßigen 16-plus-1-Konsultationen in Brüssel und der russische Beitrag zur internationalen Friedenstruppe in Bosnien schaffen eine neue Qualität der Beziehungen zwischen der NATO und Rußland. Das kann, ja ich sage: es wird über Bosnien hinaus positive Auswirkungen auf die angestrebte Sicherheitspartnerschaft haben, auch im Kontext der geplanten NATO-Erweiterung.
Die Bundesregierung legt auch weiterhin großen Wert auf die Einbindung der islamischen Staatenwelt in den Friedensprozeß. Bosnien ist ein islamisches Land. Wir brauchen diese Länder. Sie sind mit ihren Soldaten im Einsatz gewesen, und wir brauchen sie auch für die Wiederaufbauleistung und für die Gesamtregelung in der Region.
Meine Damen und Herren, mein Dank geht natürlich ganz besonders auch an die deutsche Delegation, an meine Mitarbeiter und den Vertreter des Bundesministeriums der Verteidigung. Sie haben unter größter Belastung gerade in den letzten drei Wochen in Dayton im wahrsten Sinne Tag und Nacht mitgearbeitet und bei einigen für uns besonders wichtigen Fragen maßgeblich zum Erfolg beigetragen. Herzlichen Dank!
Der amerikanische Außenminister hat mich am Tag
nach der Paraphierung des Friedensabkommens in
Dayton angerufen und sich ausdrücklich für das deutsche Engagement bedankt.
Unsere Vertreter haben in besonderer Weise beim Abschluß des Föderationsabkommens, bei der Vereinbarung über die Rückkehr der Flüchtlinge, im Bereich der Rüstungskontrolle und Abrüstung sowie nicht zuletzt bei der Formulierung der bosnischen Verfassung mitgewirkt. In diesem Zusammenhang möchte ich auch dem früheren Verfassungsrichter Professor Steinberger sehr herzlich für sein Engagement und seinen ganz wesentlichen Beitrag Dank und Anerkennung aussprechen.
Meine Damen und Herren, die Ergebnisse von Dayton entsprechen der von Deutschland und Frankreich entscheidend mitformulierten Position der Europäischen Union:
Erstens. Bosnien-Herzegowina bleibt als Völkerrechtssubjekt in seinen 1992 international anerkannten Grenzen erhalten. Im Verhältnis der Nachfolgestaaten des früheren Jugoslawiens zueinander gelten die internationalen Standards der UN-Charta und der Helsinki-Schlußakte, das heißt: der Grundsatz der Achtung souveräner Gleichheit, territorialer Integrität, der politischen Unabhängigkeit und der friedlichen Streitbeilegung.
Zweitens. Die Verfassung sieht eine Präsidentschaft, einen Ministerrat, ein Parlament, eine Zentralbank, e in Verfassungsgericht und eine Staatsbürgerschaft des Gesamtstaates vor. Die Wahlen für die Präsidentschaft und das Parlament sollen wie die Wahlen in der Föderation und auch in der serbischen Republik innerhalb der nächsten neun Monate stattfinden und von der OSZE überwacht werden. Diese Wahlen sind für den gesamten Friedensprozeß von ganz entscheidender Bedeutung und für die OSZE eine ganz wichtige Bewährungsprobe.
Die kroatisch-bosniakische Föderation muß mit Leben erfüllt werden. Die in Dayton auf deutsche und amerikanische Initiative hin erzielte Vereinbarung zur Rückkehr von kroatischen und bosnischen Vertriebenen in ihre Heimatorte muß schnell umgesetzt werden.
Mostar ist das Symbol für das Ziel des friedlichen Zusammenlebens von Kroaten und Bosniaken. Ich möchte heute hier zum wiederholten Male Hans Koschnick für seinen Mut und seinen Einsatz sehr herzlich danken.
Ihm ist in Dayton ein entscheidender Schritt zur Normalisierung in dieser Stadt gelungen. Die Bewegungsfreiheit in Mostar soll ab 1. Dezember dieses Jahres für die gesamte nicht militärdienstfähige Bevölkerung in der Stadt gelten - ein wesentlicher Fortschritt.
Drittens. Sarajevo wird nicht zur geteilten Stadt. Wir Deutsche freuen uns darüber besonders, weil wir wissen, was die unmenschliche Trennung Berlins für uns bedeutet hat.
Zu den Äußerungen aus Pale, wonach die bosnischen Serben diesen Teil des Friedensabkommens
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
nicht respektieren würden, sage ich mit aller Deutlichkeit: Das Abkommen wurde von Präsident Milosevic als dem autorisierten Vertreter der bosnischen Serben paraphiert und bindet ganz eindeutig auch Pale. Es fordert von allen Seiten schmerzliche Zugeständnisse, auch von den Bosniaken, den Moslems, auch von den Kroaten. Leider Gottes ist die Geschichte der Friedensbemühungen der letzten vier Jahre auch eine Geschichte gebrochener Vereinbarungen. Deshalb muß das Friedensabkommen von Dayton unter allen Umständen eingehalten und respektiert werden. Nachverhandlungen kann und wird es nicht geben!
Viertens. Die Menschenrechte werden durch einen umfassenden Grundrechtekatalog entsprechend der Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert. Es wird eine Menschenrechtskommission eingerichtet, die aus dem OSZE-Ombudsmann und einer Menschenrechtskammer besteht. Sie fällt für die Parteien bindende Entscheidungen. Dies soll den Menschen wieder Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit geben.
Fünftens. In Art. IX des Rahmenabkommens wird die volle Zusammenarbeit der Parteien bei der Untersuchung und Verfolgung von Kriegsverbrechen zugesagt. Diese Zusage - darauf müssen wir besonders drängen - muß eingehalten werden.
Der Deutsche Bundestag fordert zu Recht in seiner Entschließung die ungehinderte Aufklärung aller Kriegsverbrechen durch internationale Kommissionen, die Aufklärung des Schicksals von Vermißten und Verschwundenen und die Auslieferung von Beschuldigten an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Die schlimmen Verbrechen in Srebrenica und anderswo dürfen nicht unter den Teppich gekehrt werden!
Karadzic, Mladic und andere, die sich strafrechtlich schuldig gemacht haben, gehören vor den Internationalen Gerichtshof.
Über all das Furchtbare, das geschehen ist, darf eben nicht der Mantel des Vergessens gebreitet werden. Der katholische Bischof von Banja Luka hat recht, wenn er sagt: „Der Friede muß mit Vergebung und Nächstenliebe verbunden sein, aber auch mit Gerechtigkeit." Wirkliche Versöhnung kann es nicht geben ohne Wahrheit und Gerechtigkeit für die Opfer von Mord, Folter, Vertreibung und Vergewaltigung.
Sechstens. Die Parteien sind verpflichtet, die Voraussetzungen für eine baldige und sichere Rückkehr der Vertriebenen und Flüchtlinge zu schaffen. Deutschland hat mit der Aufnahme von über 400 000
Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien einen herausragenden Beitrag geleistet. Die UNO-Hochkommissarin für Flüchtlingsfragen Ogata hat ein Konzept für die Rückführung vorgelegt. Wir werden mit ihr zusammenarbeiten, weil das gerade für uns besonders wichtig ist.
Eine schnelle Rückführung ist im Interesse der Betroffenen, ist im Interesse unserer Bürger wie auch im Interesse des Wiederaufbaus der Region. Aber natürlich werden wir niemanden vor die Tür setzen, bevor die Verhältnisse vor Ort geklärt sind.
Meine Damen und Herren, der Abschluß des Friedensabkommens von Dayton war das Ergebnis einer großen gemeinsamen Anstrengung. Hierzu zählen nicht nur die politischen Bemühungen der Kontaktgruppe; hierzu zählt auch die Präsenz von 35 000 Blauhelmen aus über 30 Ländern. Hierzu zählt vor allem aber auch die enorme humanitäre Unterstützung, die die internationale Staatengemeinschaft über vier Jahre geleistet hat.
Von der Aufnahme der über 400 000 Flüchtlinge abgesehen, hat Deutschland seit 1991 im ehemaligen Jugoslawien mit zirka 1 Milliarde DM geholfen. Unzählige Bürger und freiwillige Helfer haben genauso wie vor allem natürlich unsere Bundeswehrsoldaten und, nicht zu vergessen, auch Angehörige des Bundesgrenzschutzes außerordentlich viel für die Menschen in Bosnien geleistet.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich auch das Engagement vieler unserer Kollegen und Kolleginnen aus dem Deutschen Bundestag erwähnen. Oft ist es nach draußen gar nicht so bekanntgeworden. Ich nenne den Kollegen Schwarz-Schilling, den Kollegen Duve, die Kollegin Beck sowie Frau Schwaetzer und andere aus meiner Fraktion. Ihnen allen sollten wir auch heute im Deutschen Bundestag Dank und Anerkennung zollen. Sie alle haben gezeigt, daß unser Land ein Herz hat, und die betroffenen Menschen danken uns das.
Meine Damen und Herren, nach Dayton bedarf es jetzt einer erneuten großen internationalen Anstrengung, um den Frieden in Sarajevo, in Banja Luka, in Gorazde und anderswo auch Wirklichkeit werden zu lassen. Der Fahrplan sieht wie folgt aus:
Erstens. Förmliche Unterzeichnung des Friedensabkommens wohl am 14. Dezember in Paris. Ich schränke das ganz leicht ein.
Zweitens. Darauf folgend ein neues Mandat des UN-Sicherheitsrates für die militärische Absicherung des weiteren Friedensprozesses.
Drittens. Die Londoner Implementierungskonferenz für die zivilen Aufgaben voraussichtlich am 8. und 9. Dezember.
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Viertens. Danach der Auftakt für die Rüstungskontrollverhandlungen zwischen den Parteien auf dem Petersberg in Bonn. Dieses Treffen soll möglichst bald nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens stattfinden.
Die militärische Absicherung des Friedensprozesses wird besonders zu Beginn des Prozesses eine ganz entscheidende Rolle spielen. Das wird gerade auch von den Konfliktparteien so gesehen, und das ist wichtig. Für einen dauerhaften Frieden entscheidend wird jedoch vor allem die politische und wirtschaftliche Entwicklung sein, weil die Menschen spüren, fühlen müssen, was ihnen persönlich der Friede bringt. Von den Kriegsereignissen sind immerhin rund 3,5 Millionen Menschen betroffen. Hinter dieser Zahl steckt unendliches menschliches Leid. Diese Zahl macht auch deutlich, daß der Wiederaufbau der Region, die Wiedereingliederung der Flüchtlinge und die Schaffung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen nur als internationale Gemeinschaftsleistung bewältigt werden können. Das bedeutet eine angemessene Lastenverteilung zwischen allen potentiellen Gebern und Helfern, der EU, den USA, Japan, den islamischen Staaten und vor allem natürlich auch den internationalen Finanzinstitutionen.
Die Weltbank schätzt den Gesamtbedarf an Wiederaufbauhilfe auf 3 bis 4,5 Milliarden US-Dollar über einen Dreijahreszeitraum. Die EU-Kommission denkt an einen europäischen Gesamtbeitrag von einer Milliarde ECU für das nächste Jahr, den wir im Rat beschlossen haben.
Deutschland wird sich natürlich auch finanziell weiterhin seiner Verantwortung für den Frieden in der Region stellen. Allerdings war unser bisheriger Beitrag bereits beachtlich. Die Bundesregierung hat neben dem etwa 30prozentigen Anteil an den EU- Leistungen von 1993 bis 1995 erhebliche bilaterale technische Hilfe in Bosnien-Herzegowina geleistet. Unter anderem wurden der Wiederaufbau von Eisenbahnbrücken bei Mostar, Saatgutlieferungen, die Wiederaufnahme der Nahrungsmittelproduktion, die Ausstattung des Kosevo-Hospitals in Sarajevo, der Bau von Wohnungen für Flüchtlinge und Vertriebene und die Energieversorgung von Sarajevo finanziert.
Diese Art projektbezogener Hilfe wollen wir fortsetzen, und ich möchte hier auch einmal hervorheben, was unsere Landkreise und Kommunen in diesem Zusammenhang geleistet haben. Sie haben für die Flüchtlinge Leistungen in Milliardenhöhe erbracht.
Eine gerechte Lastenverteilung beim Wiederaufbau ist deshalb für uns von um so größerer Bedeutung.
Es kann nicht so sein, daß Europa und in Europa Deutschland weiter sehr viel allein auf ihre Schultern laden sollen. Die Europäische Union hat durch humanitäre Hilfe in Höhe von 1,6 Milliarden ECU, ihr Engagement in Mostar, die Entsendung ihrer Beobachter und die Unterstützung der UNO- und
NATO-Maßnahmen ihr großes Engagement und ihre Verantwortung für Notleidende, Flüchtlinge und Vertriebene bewiesen. Sie wird ihr weiteres Vorgehen eng mit den Gebern, insbesondere mit der Weltbank und dem IWF, abstimmen.
Die EU-Kommission wird gemeinsam mit der Weltbank zu einer Geberkonferenz Mitte Dezember nach Brüssel einladen.
Ganz große Bedeutung, meine Damen und Herren, wird der wirksamen Koordinierung der zivilen Friedensaufgaben zukommen. Mit dieser Aufgabe wird auf der Implementierungskonferenz in London ein hoher Repräsentant beauftragt werden. Wahrscheinlich wird es der frühere schwedische Ministerpräsident Carl Bildt sein. Er wird mich im übrigen heute mittag besuchen. Die Bundesregierung wird ihm bei seiner schwierigen Aufgabe, wenn er es werden sollte und selber gewillt ist, diese schwierige Aufgabe zu übernehmen, auch personell unterstützen. Wir werden das, was an Koordinierungsmaßnahmen innerhalb der Bundesrepublik notwendig ist, durchführen, denn es fließen ja außenpolitische und sehr viele innenpolitische Aufgaben, die da auf uns zukommen, ineinander über.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat sich von Anfang an für die Verknüpfung von Menschen- und Minderheitenrechten, der Flüchtlingsrückführung und der Inanspruchnahme von Wiederaufbauleistungen eingesetzt. Ich glaube, daß das wichtig ist.
Dieser im Friedensabkommen festgelegte Zusammenhang wurde von den Außenministern der Europäischen Union am 30. Oktober 1995 in Luxemburg bekräftigt:
Nothilfe und humanitäre Hilfe gehen an alle Bedürftigen.
Wiederaufbauhilfe wird vorrangig an die kriegsgeschädigten Gebiete, das heißt an Bosnien-Herzegowina und teilweise an ehemals serbisch besetzte Gebiete Kroatiens gehen.
Wer jedoch Menschen- und Minderheitenrechte verletzt, wer Autonomie- und Minderheitenrechte mißachtet und wer für Flüchtlinge keine Rückkehrmöglichkeiten schafft, soll und wird keine Wiederaufbauhilfe bekommen.
Aggression kann und darf insoweit nicht belohnt werden.
Die Europäische Union strebt im Verhältnis zu den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens eine baldige politische und wirtschaftliche Normalisierung an. Im Verhältnis zu Belgrad haben die EU- Außenminister am 30. Oktober die Normalisierung an eine Reihe von Voraussetzungen geknüpft. Im Vordergrund stehen dabei die Respektierung und der Schutz von Menschen- und Minderheitenrechten. Ich möchte betonen, daß eine Autonomieregelung im Kosovo und in der Vojvodina langfristig
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
auch im wohlverstandenen Eigeninteresse Belgrads liegt. Das Schicksal der Menschen dort darf nicht vergessen oder verdrängt werden. Es ist in Dayton aus Zeitgründen leider etwas zu kurz gekommen.
Noch ein wichtiger Punkt: Deutschland war nie Partei gegen das serbische Volk, sondern wir standen an der Seite der Opfer von Krieg, Vertreibung und Vergewaltigung. Wir wollen allerdings auch, daß das serbische Volk wieder seinen Platz in Europa findet. Auch das gehört zu einem dauerhaften Frieden in der Region.
Meine Damen und Herren, diesen Frieden kann es nicht geben, wenn sich auch in Zukunft bis an die Zähne bewaffnete Konfliktparteien gegenüberstehen. Deshalb war die Bundesregierung von Anfang an der Überzeugung, daß der Friedensprozeß eine rüstungskontrollpolitische Flankierung benötigt. Auf unser Drängen wurde das zum Vertragsbestandteil. Zum Erfolg von Dayton gehören auch die weitreichenden Bestimmungen über militärische Vertrauensbildung, Abrüstung und Rüstungskontrolle, insbesondere die Festlegung von Höchstgrenzen für schwere Waffen und die Verpflichtung zu ihrer Reduzierung.
Die Verhandlungen über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen, Rüstungsbeschränkungen und Abrüstungsschritte nach dem Muster des KSE-Vertrages und entsprechender OSZE-Vereinbarungen sollen durch eine Konferenz auf dem Petersberg eingeleitet werden. Die Fortsetzung soll dann in Wien unter dem Dach der OSZE stattfinden. Wir müssen auf jeden Fall einen erneuten Rüstungswettlauf verhindern. Ich begrüße die zentrale Rolle, die der OSZE dabei zukommt, und erhoffe mir dadurch eine weitere Stärkung dieser Organisation und damit auch einen Impuls für die kooperative gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur, die wir anstreben.
Meine Damen und Herren, zum Kabinettsbeschluß dieser Woche: Die Bundesregierung hat beschlossen, zur Unterstützung der NATO-Friedenstruppe rund 4 000 Soldaten zu entsenden, in erster Linie Pionier-, Stabs- und Sanitätskräfte sowie Transport- und Aufklärungsflugzeuge. Die Luftkomponente wird integraler Bestandteil auch von IFOR sein. Unsere Partner erwarten von uns zu Recht, daß wir uns gerade auch mit dieser Komponente nicht ausklinken, sondern uns mit den für Aufklärung und Begleitschutz besonders geeigneten Tornados beteiligen. Die Tornados, die seit dem 21. Juli in Piacenza stationiert sind, haben in zahlreichen Flügen zum Schutz von UNPROFOR und der Schnellen Eingreiftruppe beigetragen. Sie werden auch im Rahmen von IFOR ihren Beitrag leisten.
Ich frage die Opposition: Sollen denn die Soldaten der Friedenstruppe - unsere eigenen wie die der Verbündeten - nicht den bestmöglichen Schutz erhalten?
Wie wollen wir eine andere Entscheidung gegenüber den Familien der Soldaten vertreten? Ich jedenfalls empfinde das als schwierig.
Es geht um den Schutz der Flugzeuge und Soldaten, die in der Luft und am Boden die Einhaltung des Friedensschlusses überwachen. Es geht also nicht um Kriegsführung, sondern um Kriegsverhinderung, um den Schutz von Menschenleben. Auch hier werden unsere Kräfte gebraucht, genauso wie im Sanitäts- und Logistikbereich. Deshalb können und werden wir hier nicht „ohne uns" sagen. Mein Appell geht an die SPD und Bündnis 90/Die Grünen: Überdenken Sie nochmals Ihre Haltung. Geben auch Sie unseren Soldaten am 6. Dezember die politische Unterstützung, die sie für ihren Einsatz brauchen und auch verdient haben, und zwar uneingeschränkt und unzweideutig.
Meine Damen und Herren, unsere Soldaten sollen in Kroatien stationiert werden, aber - wenn nötig - vorübergehend auch in Bosnien zum Einsatz kommen. Die Kontingente werden zu 70 Prozent aus Berufs- und Zeitsoldaten bestehen, und kein Wehrpflichtiger wird gegen seinen Willen eingesetzt.
Es ist jetzt ganz wichtig, daß ein Wiederaufflammen der Auseinandersetzungen auf jeden Fall unterbunden wird. Deshalb ist es auch so wichtig, daß die NATO-Verbände so schnell wie möglich in die Region entsandt werden. Um dies möglich zu machen, soll ein Vorauskommando von rund 2 500 Soldaten noch vor der Unterzeichnung des Friedensabkommens in Paris nach Sarajevo und an andere Orte geschickt werden. Darunter sind 170 bis 180 deutsche Offiziere und Soldaten in den integrierten Stäben. Diese Soldaten wollen und werden wir nicht ohne einen Beschluß des Deutschen Bundestages in ihren Einsatz schicken,
weil wir der Meinung sind, daß sie eine feste politische, aber auch rechtliche Absicherung und Einbindung brauchen.
Deshalb haben wir uns - auch nach Gesprächen mit der Opposition - entschieden, den Deutschen Bundestag, Sie, bereits am 6. Dezember um Zustimmung zu bitten.
Die Unterzeichnung des Daytoner Verhandlungsergebnisses wird wohl erst um den 13./14. Dezember möglich sein, aber die drei Konfliktparteien haben in Dayton - ich habe das gestern auch im Auswärtigen Ausschuß vorgetragen - vereinbart, daß das Abkommen bereits jetzt für sie völkerrechtlich verbindlich und bindend ist.
Unmittelbar nach der Unterzeichnung in Paris wird der UN-Sicherheitsrat das Mandat beschließen; da bin ich sicher. Entscheidend ist: Die Entsendung unserer Soldaten bleibt eindeutig an die Unterzeich-
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
nung des Abkommens und an das Mandat des Sicherheitsrats geknüpft. Deshalb ist dieses Vorgehen auch verfassungsrechtlich und politisch abgesichert.
Meine Damen und Herren, der jetzt vorgesehene Einsatz unserer Soldaten markiert einen weiteren historischen Einschnitt. Er wird der größte Auslandseinsatz für unsere Bundeswehr in ihrer bisherigen Geschichte sein. Ich bin sicher, daß wir alle zutiefst hoffen, daß unseren Soldaten das Schicksal von zahlreichen ihrer Kameraden aus anderen Ländern erspart bleibt. Aber dieser Einsatz ist nicht gefahrlos, und er kann auch Opfer fordern. Das müssen wir unseren Bürgern und auch den Soldaten klar und deutlich sagen.
Die Bundesregierung geht an diesen Einsatz mit Umsicht und mit Bedacht heran. Wir wissen um die Verantwortung, die wir für unsere Soldaten haben. Natürlich werden und müssen wir alles tun, um sie bestens ausgerüstet in diesen Einsatz zu schicken.
Die Sorge der Eltern um ihre Söhne ist verständlich; wir teilen sie. Aber wir dürfen und wir können nicht beiseite stehen, wenn die Soldaten unserer Partner und Freunde für die geschundenen Menschen im ehemaligen Jugoslawien endlich den erhofften Frieden durchsetzen.
Die USA werden wohl 20 000, Großbritannien zirka 13 000, Frankreich zirka 11 000 Soldaten entsenden. Wir Deutsche konnten uns in schwierigsten Zeiten der Teilung Deutschlands und Berlins auf unsere Partner und Freunde verlassen. Jetzt wollen und müssen wir auch Solidarität zeigen.
Bei dieser Entscheidung geht es aber nicht allein um Dank und Solidarität, sondern es geht auch um ein vitales deutsches und europäisches Interesse, weil Europa in seinem eigenen Haus verhindern muß, daß Nachbarstaaten überfallen und Menschenrechte mit Füßen getreten werden.
Wir alle sollten gemeinsam dafür sorgen, daß Deutschland seiner Verantwortung für den Frieden und die Menschenrechte in Europa gerecht werden kann. Das ist die europäische Dimension und Verantwortung der von diesem Haus am 6. Dezember zu treffenden Entscheidung.
Die Bundesregierung hat vor allem nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 1994 die deutsche Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit Augenmaß in Richtung regionaler Friedenssicherung weiterentwickelt. Damit haben wir die Bündnis- und Europafähigkeit unserer Politik erhalten. Die breite Zustimmung in unserer Öffentlichkeit zu dieser Politik und die wachsende Unterstützung auch hier in diesem Hause unterstreichen, daß wir auf dem richtigen Weg sind.
Meine Damen und Herren, die Menschen im ehemaligen Jugoslawien haben jetzt erstmals seit vier Jahren die Hoffnung auf ein friedliches Weihnachtsfest. Ich glaube, wir alle sollten dazu beitragen und mithelfen, daß diese Hoffnung in Erfüllung geht, damit dieses Fest für alle Menschen in Europa, insbesondere aber im früheren Jugoslawien, ein friedliches wird.
Das Wort hat der Kollege Günter Verheugen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion begrüßt die Ergebnisse der Friedensverhandlungen in Dayton. Das Abkommen ist noch nicht der Frieden selbst, aber es sorgt dafür, daß die Waffen schweigen, und es eröffnet die Chance, einen Friedensprozeß in Gang zu setzen, an dessen Ende, wie wir alle wohl gemeinsam hoffen, ein dauerhaft gesichertes friedliches Zusammenleben der Völker im ehemaligen Jugoslawien stehen wird.
Es ist ein bewegender Moment, wenn man sagen kann: Ein Krieg ist vorbei. Ich rate, sich bei den Debatten, die wir in diesem Zusammenhang zu führen haben, immer die Bilder der Menschen vor Augen zu halten, die in den letzten Jahren unter diesem Krieg so schwer gelitten haben, wie alle diejenigen ermessen können, die in unserem eigenen Land die Schrecken des Krieges noch erlebt haben. Bei allen Gefahren und Risiken, die nicht verschwiegen werden dürfen, sollte dieses Ergebnis nicht für selbstverständlich gehalten werden.
Als wir zuletzt am 30. Juni in einer sehr leidenschaftlichen, aufgewühlten Debatte den Krieg in Bosnien und unsere deutsche Verantwortung diskutiert haben, war nicht vorauszusehen, daß wenige Monate später die Umsetzung eines Friedensvertrages hier zur Debatte stehen könnte. Ich möchte deshalb im Namen meiner Fraktion allen danken, die den Friedensschluß möglich gemacht haben. Dieser Dank richtet sich an erster Stelle an den amerikanischen Präsidenten Clinton, der ein hohes politisches Risiko eingegangen ist.
Der Präsident hat sich seiner weltpolitischen Verantwortung gestellt, und wir sollten nun das Unsere tun, um ihm die Zustimmung des Kongresses zu erleichtern.
Ich schließe in unseren Dank die Verhandlungsdelegationen der Kontaktgruppenstaaten ein und möchte auch die wichtige und positive Rolle der deutschen Delegation hervorheben. Das Abkommen von Dayton beruht in der Tat in wesentlichen Teilen auf Vorarbeiten der Kontaktgruppe; Dayton war keine rein amerikanische Veranstaltung, auch wenn es in der Präsentation so erscheinen mochte. Aber darüber muß man sich wohl nicht beklagen. Letztlich zählt nur das Ergebnis.
Günter Verheugen
Meine Damen und Herren, es ist jetzt notwendig, die richtige Beziehung zwischen den zivilen und den militärischen Aspekten der Vereinbarungen von Dayton herzustellen. Die militärische Absicherung des Friedensprozesses ist eine notwendige Bedingung; sie steht aber nicht im Zentrum. Sie hat eine dienende Funktion.
Der Einsatz der Soldaten dient einem politischen Zweck. Im Kern geht es darum, in der Konfliktregion der Demokratie und den Menschenrechten zum Durchbruch zu verhelfen. Dafür steht nur ein Jahr zur Verfügung. Das ist bitter wenig. Darum müssen wir verlangen, daß die Umsetzung des zivilen Teiles der Vereinbarungen nicht hinter dem militärischen zurückbleibt. Ich sehe, daß die militärischen Vorkehrungen mit Tempo und mit Energie getroffen werden. Auf der zivilen Seite vermisse ich ein solches entschlossenes Herangehen.
Es ist auch nach der Regierungserklärung des Bundesaußenministers nicht klar geworden, zu welchen Leistungen die Bundesregierung bereit sein wird. Vom Bundeskanzler habe ich nur gehört, daß er nicht der Zahlmeister sein will.
Da stellt sich allerdings die Frage, was denn der Milliardenaufwand für die internationale Friedenstruppe bringen soll, wenn die materiellen Voraussetzungen für den Frieden selber fehlen.
Es darf kein Mißverhältnis entstehen zwischen der Bereitschaft, für das militärische Engagement zu zahlen, und der Bereitschaft zum politischen Engagement.
Das sage ich auch im Interesse der Soldaten, die in das ehemalige Jugoslawien geschickt werden sollen. Wir dürfen sie nicht in die UNPROFOR-Falle laufen lassen: hineinzugehen und dann nicht wieder heraus zu können. Das militärische Engagement ist nur gerechtfertigt, wenn der politische Zweck mit allem Nachdruck verfolgt wird.
Wir können eine Menge gerade dort tun, wo es nicht in erster Linie um materielle Hilfe geht. Den Menschen in Bosnien zu helfen, wieder Vertrauen zueinander zu gewinnen, der Aufbau demokratischer Strukturen und Förderung von Selbsthilfeprogrammen, das alles muß nicht am Geld scheitern - und darf es auch nicht. Was Hans Koschnick in Mostar vollbringt, ist nicht in erster Linie dem Geld geschuldet, sondern dem Einsatz der Person.
Wir wollen, soweit es irgend geht, zivile Organisationen und ihre freiwilligen Helfer ermutigen, am Aufbau des Friedens mitzuwirken. Ich appelliere vor allem an die junge Generation unseres Landes, sich für einen konkreten Friedensdienst zur Verfügung zu stellen. Ich appelliere an die Städte und Gemeinden, mit Patenschaften und Partnerschaften einen Beitrag zu leisten. Die Hilfe von Mensch zu Mensch wird mindestens so wichtig sein wie das, was die Soldaten tun müssen.
Ich möchte ein Wort zu den Bürgerkriegsflüchtlingen sagen. Wir wollen, daß sie in ihre Heimat zurückkehren können. Aber wir wollen nicht, daß sie jetzt in Angst und Schrecken versetzt werden und ihnen mit Abschiebung gedroht wird.
Wir sehen in dieser Gruppe ein Potential von Menschen, die wir schon hier darauf vorbereiten können, in ihrer Heimat verantwortungsvoll den Wiederaufbau zu leisten.
Entsprechende Ausbildungsförderprogramme müssen schnell beginnen, wenn sie Wirkung entfalten sollen. Es reicht nicht aus, sich zu rühmen, daß wir mehr Flüchtlinge aufgenommen haben als alle übrigen EU-Staaten zusammen. Das war unsere Pflicht gegenüber bedrängten Mitmenschen.
Meine Damen und Herren, das Friedensabkommen von Dayton und seine Umsetzung enthalten einige Elemente, die über das aktuelle Ereignis hinaus große Bedeutung haben. Da ist zunächst die Mitwirkung Rußlands an einer von der NATO geführten Operation. Das kann ein ganz neues, positives Verhältnis zwischen Rußland und der NATO schaffen
und den sicherheitspolitischen Dialog entspannen und fruchtbar machen.
Ebenso positiv sehe ich die Rolle, die der OSZE zugewiesen wird. Ihr fällt die schwierige Aufgabe zu, demokratische Wahlen zu ermöglichen und den Rüstungskontrollprozeß zu organisieren. Für die OSZE ist das eine Bewährungsprobe, die sie aber nur bestehen kann, wenn sie auch die nötige Ausstattung zur Erfüllung ihres Auftrages erhält. Wir wünschen uns eine starke Rolle der OSZE bei der Konfliktprävention und beim Konfliktmanagement. Sie muß aus der Rolle eines vernachlässigten Waisenkindes heraus. Sie bietet schon jetzt große Möglichkeiten und würde noch größere bieten, wenn man ihre rechtlichen Grundlagen stärken und ihre Handlungsfähigkeit auch materiell ausbauen würde.
Das dritte wichtige Element ist die Rolle der Europäischen Union. Wir wollen uns nichts vormachen: Die Europäische Union ist im Jugoslawien-Konflikt vor allem an sich selber gescheitert. Ihre gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik könnte sich aber jetzt in einer anderen Weise bewähren. Die Stabilität
Günter Verheugen
der gesamten Balkanregion wird ohne aktive Mitwirkung der Europäischen Union nicht zu erreichen sein.
Hier stellt sich eine der großen, leider - Herr Kinkel hat darauf hingewiesen - noch offenen Fragen. Der Frieden in Bosnien ist wichtig, für die betroffenen Menschen gewiß das Wichtigste; aber er ist noch nicht alles. Im ehemaligen Jugoslawien haben wir es mit weiterem, gefährlichem Konfliktpotential zu tun. Ich nenne nur ein Beispiel: Vor allem Kosovo ist ein Sicherheitsrisiko ersten Ranges mit Auswirkungen weit über Kosovo hinaus. Wenn Konfliktprävention keine Phrase ist, dann muß das Kosovo-Problem im Dialog mit Belgrad und den Kosovo-Albanern jetzt entschlossen angepackt werden.
Wir wollen, daß auch unsere Beziehungen zu Belgrad normalisiert werden. Wir wollen, daß Serbien seinen Weg zurück in europäische und internationale Strukturen findet. Ich stimme dem Außenminister aber ausdrücklich darin zu, daß dann Bedingungen erfüllt sein müssen. Das wird nur gelingen, wenn zum Beispiel die Autonomiefragen für Kosovo und die Fragen in der Vojvodina gelöst sind. Diese Forderung richtet sich nicht nur an die politische Führung in Belgrad, sondern auch an die Kosovo-Albaner, die wissen müssen, daß Sezessionsbestrebungen in Europa keine Unterstützung finden werden.
Ungelöst ist das ebenfalls konfliktträchtige Vojvodina-Problem. Auch das darf nicht liegengelassen werden. Prinzipiell gilt: Überall im ehemaligen Jugoslawien müssen die Menschenrechte und der Schutz der Minderheiten gesichert sein.
Das ist die Voraussetzung dafür, daß man den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens den Weg in die europäische Integration öffnen kann.
Die Bundesregierung setzt sich jetzt für ein ziviles Minimalprogramm ein, das nur die Kriegsgebiete Bosniens erfaßt. Dieser Ansatz greift zu kurz. Dauerhafter Friede auf dem Balkan wird nur möglich sein, wenn über einen Wiederaufbau der Kriegsgebiete hinaus den Menschen in allen Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens die gleiche Chance eines Neubeginns gegeben wird.
Bei aller Erleichterung über den Erfolg von Dayton darf nicht übersehen werden, daß die nur noch formale Rolle der Vereinten Nationen im Friedensprozeß und der Implementierung ein Rückschritt ist. Ich halte es nicht für richtig, zu sagen, die Vereinten Nationen hätten sich als unfähig erwiesen, das Problem zu lösen. In den entscheidenden Momenten sind es die Mitglieder des Sicherheitsrates selbst gewesen, die die Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen eingeschränkt haben.
Aber man muß zwei Dinge anerkennen: Ohne die von den Vereinten Nationen verhängten Sanktionen wäre die serbische Politik nicht auf Friedenskurs gegangen. Ich halte diesen Punkt für wichtig, da Bundesregierung und Koalition immer davon reden, daß Sanktionen noch nie etwas bewirkt hätten. Hier haben sie sogar sehr viel bewirkt. Das sollte Anlaß genug zum Nachdenken darüber sein, ob die Trennung von Politik und Handel in bestimmten Konfliktsituationen nicht doch nur eine bequeme Ausflucht ist.
Das andere Element ist die Leistung von UNPROFOR. UNPROFOR hat hohe Verluste gehabt, besonders beim französischen Kontingent. Wir würden unseren französischen Nachbarn und den anderen Truppenstellern nicht gerecht, wenn wir ihre Opfer als vergeblich betrachten würden. Ohne die Blauhelme wäre der Krieg noch viel mörderischer und schrecklicher gewesen, vor allem für die wehrlose Zivilbevölkerung.
Die SPD-Bundestagsfraktion hält daran fest, daß die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit die Aufgabe des kollektiven Sicherheitssystems Vereinte Nationen ist. Nur ein voll entwickeltes, handlungsfähiges, kollektives Sicherheitssystem ist in der Lage, zuverlässig dafür zu sorgen, daß nicht das Recht des Stärkeren, sondern die Stärke des Rechts die internationalen Beziehungen bestimmt.
Über die Lehren aus der jugoslawischen Katastrophe muß auch hier noch einmal in Ruhe und gründlich gesprochen werden. Die für den Bosnien-Konflikt gefundene Lösung einer internationalen Friedenstruppe unter Leitung der NATO wird als Modell für die Zukunft nicht taugen.
Es würde - man muß das klar sehen - sowohl bei außereuropäischen Konflikten als auch bei Konflikten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion nicht funktionieren. Deshalb muß eine stabile Friedenspolitik die vorhandenen Institutionen miteinander verbinden und sinnvoll aufeinander beziehen. Dabei werden sowohl die Europäische Union als auch die NATO ihre Rolle haben. Aber es geht nicht ohne eine UNO, die so handeln kann, wie es ihrem Gründungszweck entspricht.
Wir sollten das nie vergessen: Die Vereinten Nationen sind entstanden, weil sich die Staatengemeinschaft kollektiv vor Aggression und Völkermord schützen wollte. Die Welt ist jedenfalls heute noch so beschaffen, daß ein solcher Schutz auch nötig ist. Selbstverständlich muß unser Land den Vereinten Nationen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben helfen.
Günter Verheugen
Wenn ich die Diskussion in den Reihen der Bündnisgrünen richtig wahrnehme, so geht es dort um die Frage, ob Friedenssicherung allein mit den Mitteln der Konfliktprävention und der friedlichen Streitbeilegung betrieben werden kann oder ob als letztes und äußerstes Mittel auch militärisch eingegriffen werden darf.
Auch für uns sind die nichtmilitärischen Mittel die wichtigeren. Aber wir können nicht leugnen, daß diese Mittel versagen können und daß sie nicht immer ausreichen. Es muß eine Instanz geben, die das Recht und die Fähigkeit hat, Gewalt zu einem Ende zu bringen, nicht anders als in Rechtsstaaten die Polizei.
Kollege Fischer ist jetzt in seiner Partei mit einer Form von Realitätsverweigerung konfrontiert, die ich gut kenne. Ich will mich über niemanden erheben, sondern es soll nur der Klarheit der Debatte dienen, wenn ich anmerke, daß Herr Kollege Fischer seine Partei auf eine Position bringen will, die in der SPD schon seit vielen Jahren gilt.
- Ich kann ja nicht dafür, wenn Sie die Texte nicht lesen. Das läßt sich nachweisen.
Unsere Position ist seit Jahren: Hilfe bei der Friedenssicherung: ja, Kriegführen gegen irgendwen: nein.
Ich würde es begrüßen, wenn hier ein Stück Gemeinsamkeit entstünde, sowohl in der Anerkennung dessen, was die Vereinten Nationen tun sollen, als auch in der Zurückhaltung, was deutsche militärische Beteiligung angeht, aber keine prinzipielle Verweigerung.
Damit komme ich zum Beschluß der Bundesregierung, die internationale Bosnien-Friedenstruppe mit Bundeswehreinheiten zu unterstützen. Ich stelle zunächst fest, daß damit das vom Bundeskanzler auf gestellte Dogma „Keine deutschen Soldaten auf jugoslawischem Boden" endgültig aufgegeben ist. Es ist immer ein fragwürdiger Lehrsatz gewesen; denn er bedeutete, daß früheres Unrecht heute zu unterlassener Hilfeleistung führen könnte. Man sollte über die Aufgabe dieses Grundsatzes nicht einfach hinweggehen, weil die historische Belastung im Einzelfall natürlich doch gegeben ist.
Ich sehe für das moralische Dilemma, das sich daraus ergibt, nur eine einzige handhabbare Lösung: Ein Bundeswehreinsatz im Rahmen einer Friedensmission in Gebieten, wo Hitlers Armeen waren, ist nur möglich, wenn alle Beteiligten ihn ausdrücklich wollen.
Es ist uns aufgegeben, die Risiken für unsere Soldaten ganz sorgsam abzuwägen. Die internationale Friedenstruppe für Bosnien dient der Sicherung eines Friedensvertrags. Sie basiert auf dem Ersuchen der Konfliktparteien. Mithin hat sie keinen Gegner, den es zu bekämpfen gilt, sondern sie übt Ordnungsfunktionen aus.
Meine Fraktion hält es für notwendig, daß unser Land seinen Beitrag zur Sicherung des Friedens im ehemaligen Jugoslawien auch auf diese Weise leistet. Wir verstehen den Charakter der Mission als strikt friedenserhaltend und friedenssichernd, und wir sprechen uns deshalb für eine deutsche Beteiligung aus.
Das liegt auf der Linie des bisherigen Verhaltens der SPD-Bundestagsfraktion. Anders als von der Koalition dargestellt, haben wir uns bisher notwendiger deutscher Hilfe nicht verweigert. Wir haben den Einsatz in Kambodscha gebilligt, wir haben nach Klärung der Rechtsfrage durch das Bundesverfassungsgericht dem AWACS-Einsatz und dem Adria-Einsatz zugestimmt. Wir haben den Somalia-Einsatz aus politischen Gründen abgelehnt und damit recht behalten; denn der Einsatz wurde bekanntlich ergebnislos abgebrochen.
Wir haben den Bosnien-Einsatz seit dem 30. Juni ebenfalls gebilligt und nur ein einziges Element abgelehnt: die Verwendung von ECR-Tornados. Das war auch berechtigt; denn die ECR-Tornados sind bekanntlich nicht gebraucht worden.
Wir halten auch jetzt die Beteiligung von ECR-Tornados für falsch und haben deshalb einen Antrag vorgelegt, der ihren Einsatz ausschließt. Wir werden allerdings niemandem den Gefallen tun, die Gesamtwürdigung der internationalen Friedenstruppe von diesem einzigen technischen Detail abhängig zu machen. In der Gesamtwürdigung überwiegen die Zustimmungsgründe, die außen- und sicherheitspolitischen Notwendigkeiten, die internationale Solidarität, die moralische Verpflichtung zur Hilfe, kurz: die Mitwirkung an einem Friedensprozeß.
- Ihre Unruhe an dieser Stelle steht in einem merkwürdigen Gegensatz zum Appell des Außenministers an die Opposition mitzuwirken. Man gewinnt den Eindruck, daß es Ihnen nicht paßt, daß die sozialdemokratische Bundestagsfraktion mitwirken will. Wenn Sie uns auffordern mitzuwirken, dann hören Sie uns auch in Ruhe zu, wenn ich begründe, warum wir das tun.
Günter Verheugen
Wir haben Ihrem Außenminister auch in Ruhe zugehört. Ich verbitte mir das.
Ich will ein Bedenken nicht verschweigen, das viele von uns haben: Der Bundestag soll seine Zustimmung geben, bevor das Mandat des Sicherheitrates vorliegt. Die Bundesregierung führt dabei außenpolitische Gründe an: den schnellen Beginn der Implementierung, damit in der Zwischenzeit nicht erneut Gewalt ausbricht, das Signal an den amerikanischen Kongreß, daß ein wichtiger europäischer Verbündeter seinen Beitrag leisten will, das Signal an die Konfliktparteien.
Der Kabinettsbeschluß ist an das Mandat des Sicherheitsrates unauflösbar gebunden. Wir wissen, wie das Mandat aussehen wird, und wir wissen, daß es kommt. So führt auch hier die Abwägung dazu, die Zustimmung an dieser Frage nicht scheitern zu lassen. Aber ich stelle es deshalb ausführlich dar, weil niemand dem Deutschen Bundestag vorwerfen können soll, daß er leichtfertig mit dem von uns erstrittenen Parlamentsvorbehalt bei Bundeswehreinsätzen umgeht.
Maßgeblich ist nicht zuletzt aber auch, daß der Bundeswehreinsatz, um den es geht, der bisher größte und risikoreichste ist und daß es im Interesse der Soldaten liegt, daß ein breiter Rückhalt im Parlament gegeben wird.
Wir verschweigen die Risiken nicht. Der Einsatz ist gefährlich. Wir wissen, daß wir mit der Zustimmung auch die Mitverantwortung für die Unversehrtheit und das Leben der eingesetzten Soldaten übernehmen. Vor diesem Hintergrund erwarten wir, daß der Bundeskanzler heute oder in der nächsten Woche persönlich für die Politik der Bundesregierung einsteht und sich nicht wie am 30. Juni dieses Jahres in Schweigen hüllt. Der Bundeskanzler kann sich nicht auf Festansprachen beschränken, wenn es um die Bundeswehr geht. Die Soldaten erwarten auch von ihm ein klares Wort.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion spricht dieses klare Wort.
Im weiteren Verlauf der Debatte wird noch über viele Einzelfragen zu reden sein. Ich beschränke mich auf den Grundsatz, der unsere Entscheidung bestimmt: Es reicht nicht aus, Frieden zu fordern, man muß alles tun, was man kann, damit er möglich wird.
Es spricht jetzt der Kollege Rudolf Seiters.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Hoffnung, Erleichterung und Dank kennzeichnen die Diskussion, die wir heute führen: Hoffnung auf Frieden nach vier Jahren
Kriegsterror mit Hunderttausenden von Toten und Vertriebenen. Bei mancher Skepsis, ob das Abkommen auf Dauer trägt: Es bedeutet jedenfalls zunächst den Anfang vom Ende des grausamsten Konflikts in Europa seit 50 Jahren.
Jetzt wird die wichtigste Aufgabe der Staatengemeinschaft darin bestehen, den Frieden dauerhaft und sicher zu machen.
Unsere Erleichterung über das Erreichte und unsere Hoffnung auf eine friedliche Zukunft für die Menschen im ehemaligen Jugoslawien ist vom Dank für diejenigen begleitet, die dieses Ergebnis möglich gemacht haben. Auch wir nennen allen voran die USA. Ohne ihre politische Führung auch gegen Widerstände, ohne ihre Beharrlichkeit und ohne ihre Entschlossenheit zum Einsatz der militärischen Potentiale der NATO hätte es diese historische Chance zum Frieden nicht gegeben.
Die Lehre, die wir ziehen müssen - das sage ich in alle Fraktionen hinein -, ist zwingend: Wir werden auch in Zukunft Frieden nur sichern können, wenn jeder Aggressor, der zur Durchsetzung seiner Ziele Gewalt anwenden will, mit dem entschiedenen und überlegenen Widerstand der zivilisierten Welt rechnen muß.
Dazu brauchen wir - auch das wird uns in der Europa-Debatte der nächsten Woche noch beschäftigen - ein handlungsfähiges Europa im engen Schulterschluß mit Amerika.
Wenn es je einen Zweifel über die künftige Rolle der NATO gegeben hat: Bosnien hat uns auch gelehrt, daß die NATO und damit eingeschlossen der amerikanische Nuklearschutz unverzichtbare Grundlage auch europäischer Sicherheit bleiben.
Allerdings - das füge ich hinzu - werden wir das amerikanische Engagement in Europa nur sichern können, wenn Europa künftig selbst einen größeren Beitrag zur Bewältigung von Krisen und Konflikten auf unserem eigenen Kontinent leistet.
Es gibt zwei große Aufgaben: erstens die militärische Absicherung des Abkommens von Dayton durch die NATO-Friedenstruppen und zweitens die Hilfe zum Wiederaufbau Bosniens und die Rückführung der Flüchtlinge.
Ich sagte schon - die letzten Tage und Stunden, auch die Drohungen und Forderungen der bosnischen Serben zeigen es sehr deutlich -: Der Friede bleibt gefährdet. Wer die Chancen des Friedensprozesses in Bosnien realistisch und nüchtern einschätzt, der weiß, daß nach vier Jahren brutalem Krieg und Völkermord größtes Mißtrauen zwischen den Volksgruppen und bei vielen auch Haß besteht.
Rudolf Seiters
Es wird Menschen und Gruppen geben, die versuchen werden, diesen Friedensprozeß zu stören und aus ihrer Sicht noch offene Rechnungen zu begleichen. Deswegen übernehmen die Friedenstruppen, die NATO-Streitkräfte, russische Soldaten, Truppen aus anderen europäischen und islamischen Staaten einen schwierigen und gefährlichen, für den Frieden und die Sicherheit in Europa aber unverzichtbaren Auftrag. Deshalb danken auch wir den Soldaten dieser Friedenstruppen und insbesondere auch den Soldaten der Bundeswehr für ihre Bereitschaft und ihren Mut, diese nicht ungefährliche Friedensarbeit zu leisten.
Ich möchte im Namen meiner Fraktion auch nachdrücklich begrüßen, daß es der NATO und Rußland gelungen ist, eine Vereinbarung über ihre Zusammenarbeit im Rahmen der Friedensmission zu erreichen. Dieses konkreteste Beispiel einer russischamerikanischen militärischen Zusammenarbeit seit Überwindung des kalten Krieges ist für den Friedensprozeß im ehemaligen Jugoslawien außerordentlich wichtig und notwendig. Dieses Beispiel ist hoffentlich auch ein erfolgreicher Präzedenzfall für den Aufbau der von uns angestrebten besonderen Partnerschaft zwischen der NATO und Rußland.
Die Friedenstruppen müssen nicht nur zu ihrer eigenen Verteidigung in der Lage sein. Sie müssen notfalls auch die Parteien zwingen, den im Friedensabkommen enthaltenen Verpflichtungen nachzukommen. Das ist das sogenannte robuste Mandat, das die Friedenstruppen erhalten sollen und das auch notwendig ist. Wie anders soll Peace-keeping gewährleistet, wie anders soll der Friede sonst gesichert werden, wenn nicht durch die Entschlossenheit, Vertragsverletzungen gar nicht erst zuzulassen?
Wir begrüßen, daß die SPD-Bundestagsfraktion dem Konzept der Bundesregierung zur Entsendung von deutschen Friedenstruppen zustimmen will. Es gibt in Wahrheit ja auch keine realistische Alternative zur Beteiligung der Bundeswehr an den von UNO und NATO gemeinsam gewünschten und geforderten und für notwendig erachteten Maßnahmen.
Aber es muß, Herr Kollege Verheugen, damit keine Mißverständnisse entstehen, an dieser Stelle auch ein klares Wort gesagt werden zu Ihrem Entschließungsantrag und Ihren Parteitagsbeschlüssen von Wiesbaden und Mannheim, deren Verwirklichung - das wissen viele von den Kollegen in Ihren eigenen Reihen - uns letztendlich europaunfähig und bündnisunfähig machen. Das muß an dieser Stelle klar gesagt werden.
Man kann keine Trennlinie ziehen zwischen Peace-keeping-Missionen und Maßnahmen zur Durchsetzung von Friedensvereinbarungen. Das Prinzip kann nicht - wie Sie es erneut in Mannheim formuliert haben - die rein defensive Bewaffnung sein. Notwendig ist die robuste Bewaffnung zum Schutz der Friedenstruppen und notfalls auch zur Durchsetzung der Friedensvereinbarungen, wenn das Mandat erfolgreich erfüllt werden soll. Prinzip kann auch nicht die von Ihnen geforderte strikte Neutralität gegenüber den Konfliktparteien sein, sondern muß die strikte Parteilichkeit für diejenigen, die die Friedensvereinbarungen einhalten, und gegen diejenigen, die sie verletzen, sein.
Deswegen brauchen wir nicht nur den Einsatz von Aufklärungsflugzeugen über Bosnien, sondern wir brauchen auch deren Schutz durch ECR-Tornados. Wer nach Bosnien Aufklärungsflugzeuge und Transportflugzeuge zu schicken bereit ist, zugleich aber diesen Schutz durch ECR-Tornados verweigert, der nimmt bewußt ein Sicherheitsrisiko in Kauf. Das aber wäre außen- und sicherheitspolitisch nicht vertretbar und ist mit uns nicht zu machen.
Sie müssen auch die Frage beantworten, was denn geschehen würde, wenn Ihr Entschließungsantrag heute angenommen würde und die Bundesregierung ihre Zusage für die ECR-Tornados zurückziehen müßte.
Sie können doch hier nicht einfach Anträge stellen in der Erwartung, daß diese Anträge abgelehnt werden, ohne Rücksicht darauf, was dann hinterher die Wirkung einer solchen Annahme wäre. Das geht doch nicht!
Ich kann auch nicht verstehen, daß Sie vom 30. Juni 1995 gesprochen haben. Am 30. Juni haben Sie in der Tat im Deutschen Bundestag gegen den Einsatz der Tornados im Zusammenhang mit der Schnellen Eingreiftruppe gestimmt. Später, am 6. September, als die Aktion erfolgreich gewesen ist, hat der Kollege Scharping in der Haushaltsdebatte gesagt, die Antwort der Staatengemeinschaft mit dem Einsatz der Schnellen Eingreiftruppe sei klar, eindeutig und richtig gewesen und habe uns den Frieden näher gebracht. An dieser Eingreiftruppe waren die Tornados beteiligt.
Sie waren doch schon auf dem richtigen Weg. Was dieser Entschließungsantrag in Wirklichkeit zum Hintergrund hat, ist der Spagat zwischen Lafontaine und Scharping; er ist das Produkt der innerparteilichen Auseinandersetzung.
So, wie das Verfassungsgericht 1993 von einem großen außenpolitischen Schaden gesprochen hat, der entstehen würde, wenn Deutschland der SPD folgen und seinen Bündnisverpflichtungen hinsichtlich der Einsatzfähigkeit der NATO-AWACS-Flugzeuge
Rudolf Selters
nicht nachkommen würde, würde auch jetzt großer außenpolitischer Schaden im Bündnis entstehen. Wir müssen und werden Ihren Entschließungsantrag heute ablehnen, um Schaden abzuwenden von uns und vom Bündnis.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt, daß Europäische Union und Weltbank schon am 18. und 19. Dezember 1995 über eine Soforthilfe für Bosnien-Herzegowina beraten wollen. Für uns ist selbstverständlich, daß diese Hilfe nicht nur die kroatischen und muslimischen Bevölkerungsteile BosnienHerzegowinas, sondern auch die serbischen Bevölkerungsteile erreichen muß.
Die deutsche Politik - das ist vom Außenminister schon völlig zu Recht gesagt worden - war nie antiserbisch. Wir haben aber mit gutem Recht unterschieden zwischen der Bevölkerung, den Politikern, die bereit waren und sind, konstruktive Beiträge für einen dauerhaften Frieden zu leisten, und serbischen Politikern, die wegen ihrer Kriegsverbrechen und menschenverachtenden Politik vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gehören. Darauf werden wir bestehen müssen; denn Kriegsverbrechen dürfen nicht ungesühnt bleiben.
Hilfe für den Wiederaufbau Bosnien-Herzegowinas und bestimmter Teile Kroatiens müssen wir allerdings davon abhängig machen, daß das in der Friedensvereinbarung von Dayton garantierte Rückkehrrecht der Vertriebenen und Flüchtlinge in ihre frühere Heimat uneingeschränkt gewährt wird.
- Richtig. Es wäre nicht akzeptabel, wenn rückkehrwilligen Krajina-Serben die Wiederansiedlung in ihrer früheren kroatischen Heimat erschwert oder sogar verwehrt würde. Gleiches gilt selbstverständlich für die aus Banja Luka von den Serben vertriebenen Katholiken oder die Menschen aus anderen ethnisch gesäuberten Gebieten im ehemaligen Jugoslawien.
Es muß einen ausreichenden Schutz ethnischer Minderheiten geben. Dies gilt nicht nur für Bosnien und Kroatien, sondern auch für die Situation in Serbien selbst. Deswegen fordern wir auch die serbische Regierung auf, befriedigende Regelungen für ihre Minderheiten zu garantieren.
Die Bundesrepublik Deutschland hat seit 1992 über 1 Million Bürgerkriegsflüchtlinge aus Jugoslawien aufgenommen, von denen heute noch etwa 400 000 bei uns leben. Wir werden auch künftig unsere Grenzen für Menschen, die vor einem Bürgerkrieg fliehen müssen, offenhalten. Dies kann aber immer nur eine Aufnahme auf Zeit sein.
Zu unserer Politik muß es auch gehören, Bürgerkriegsflüchtlingen eine rasche und sichere Rückkehr in ihre Heimat zu ermöglichen und uns gleichzeitig am Wiederaufbau zu beteiligen. Herr Kollege Verheugen, das ist eine Perspektive: Rückkehr in die Heimat, an die niemand mit Angst und Schrecken denken muß, und Hilfe beim Wiederaufbau. Deswegen sollten wir darüber nicht so sprechen, wie Sie das getan haben.
Beteiligung am Wiederaufbau - dies kann allerdings nicht nur eine deutsche Aufgabe sein. Kein Land der Erde wird derartig hohe Belastungen, wie wir sie in Deutschland in den vergangenen Jahren getragen haben, auf Dauer aushalten und übernehmen können. Notwendig ist eine faire und bessere europäische Lastenteilung und die Hilfe der gesamten internationalen Gemeinschaft.
Wir hoffen alle darauf, daß sich die jugoslawische Tragödie auf dem europäischen Kontinent nicht wiederholt. Aber niemand kann sicher sein, daß diese Hoffnung aufgeht. Deshalb müssen wir alles tun, damit Europa im Fall eines Konflikts besser vorbereitet ist und der politischen Krisenbewältigung auch mit militärischen Mitteln Glaubwürdigkeit verleiht, wenn es ohne den Einsatz militärischer Mittel nicht geht.
Wir wissen: Die Entscheidung, die wir treffen, ist nicht einfach, und der Einsatz unserer Soldaten ist nicht ohne Risiko und ohne Gefahr. Um so mehr müssen unser Dank und unsere volle Unterstützung heute und in den kommenden Wochen und Monaten unseren Soldaten gehören - für ihre persönliche Bereitschaft, einen wichtigen und unverzichtbaren Dienst für Humanität und für den Frieden in Europa zu leisten.
Das Wort hat jetzt der Kollege Gerd Poppe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit vier Jahren debattieren wir nun über Aggressionskrieg und Völkermord mitten in Europa. Mehr als eine Viertelmillion Menschen sind gefallen oder ermordet worden. Mehr als zwei Millionen Menschen sind geflohen oder vertrieben worden.
Mit dem Verhandlungsergebnis von Dayton besteht nun zum erstenmal die Chance für einen Frieden in Bosnien-Herzegowina. Indes gibt es wenig Anlaß zur Beruhigung. Skepsis hinsichtlich der Umsetzung des Friedensplans ist mindestens ebenso angebracht wie Hoffnung. Der Frieden wird brüchig, wird ständig in Gefahr sein. Wir sollten uns aber darin einig sein, daß es im Augenblick weniger
Gerd Poppe
darauf ankommt, einzelne Positionen des paraphierten Verhandlungspaketes in Frage zu stellen. Wir sollten es in seiner Gesamtheit vielmehr als Chance begreifen.
Diese Bemerkung sei aller Kritik vorangestellt.
Eine solche Chance ist vier Jahre lang nicht zustande gekommen. Dafür wurden immer wieder die Vereinten Nationen verantwortlich gemacht. Ihnen wurde vorgeworfen, versagt zu haben. Versagt aber haben eine Reihe ihrer wichtigen Mitgliedstaaten.
Deutschland kann von dieser Feststellung nicht ausgenommen werden.
Die größten europäischen Staaten haben zugelassen, daß mitten in Europa Verbrechen begangen wurden, wie es sie seit dem Ende des Nazi-Regimes in Europa nicht mehr gegeben hat. Diese Staaten haben eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik vertraglich vereinbart. Im ehemaligen Jugoslawien aber haben sie ihre kurzsichtigen nationalen Interessen verfolgt oder das, was sie dafür hielten. Sie haben sich nicht verhalten, als stünden sie an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, sondern so, als befänden sie sich noch im 19. Jahrhundert.
Sogar die Formulierung der sogenannten nationalen Interessen entsprach eher der des 19. Jahrhunderts.
In dieses anachronistische Denkmuster paßt es, daß es ein gemeinsames Interesse am Erhalt eines nicht ethnisch oder religiös definierten Staates Bosnien-Herzegowina nicht gegeben hat.
Auch deswegen konnte dieser schreckliche Krieg so lange dauern.
Wenn es nun doch zu dem Verhandlungsergebnis von Dayton gekommen ist, dann wohl weniger wegen einer erfolgreichen Politik der EU-Staaten, sondern vor allem wegen des - wenn auch mit großer Verspätung einsetzenden - Engagements der USA.
Es gibt also Grund genug für äußerste Bescheidenheit bei der Bewertung der Leistung Europas, auch Deutschlands. Allerdings haben auch viele Deutsche dazu beigetragen, daß die Menschen im früheren Jugoslawien wieder auf Frieden hoffen können. Dazu gehören zum Beispiel diejenigen, die die humanitäre Hilfe organisierten, und vor allem diejenigen, die sie vor Ort leisteten.
Dazu gehören auch die Angehörigen der Bundeswehr, die sich zur Zeit im ehemaligen Jugoslawien befinden.
Ich möchte einige Menschen nennen - sie sind zum Teil schon genannt worden -: Hans Koschnick, aber auch Kolleginnen und Kollegen aus unserem Hause, so zum Beispiel Frau Beck, Herr Duve und Herr Schwarz-Schilling. Ich möchte auch Ihren persönlichen Einsatz, Herr Außenminister, würdigen und insbesondere die Leistung im Rahmen der Kontaktgruppe und der deutschen Verhandlungsdelegation. Stellvertretend für andere seien hier Herr Ischinger und Herr Steiner genannt.
Meine Damen und Herren, Millionen von Menschen sind aus ihren Städten und Dörfern vertrieben worden oder geflüchtet. Hunderttausende von ihnen kamen nach Deutschland. Viele Menschen in der Bundesrepublik, die Kommunen, die Länder, alle sind mit diesen Problemen konfrontiert. Auch das gehört zu den Folgen des Krieges, die den engen Rahmen nationaler Interessen sprengen und dementsprechend behandelt werden müssen.
Wir haben in Sorge wegen einiger Äußerungen aus der jüngsten Zeit, auch von deutschen Politikern, heute noch einen zusätzlichen Antrag eingebracht. Er soll die Bundesrepublik darauf verpflichten, den Vorschlägen des UNHCR über die Prioritäten und den Zeitablauf für die Rückkehr der Flüchtlinge und Vertriebenen zu folgen. Die meisten von ihnen wollen schnell in ihre Heimat zurückkehren. Aber niemand in Deutschland sollte sie dazu nötigen oder zwingen, solange die elementaren Voraussetzungen für die Rückkehr nicht gegeben sind.
Der Frieden von Dayton ist nach den Worten des bosnischen Präsidenten Izetbegovic ungerecht, aber er ist besser als Krieg. Mit dieser Einschätzung ist das Problem hinreichend beschrieben. Es steht viel Gutes in den umfangreichen Papieren; ausdrücklich möchte ich den zivilen Teil, der viel zuwenig erwähnt wird, hervorheben: eine demokratische Verfassung, das Rückkehrrecht der Flüchtlinge, ihre materielle Entschädigung, die politische Isolierung von Kriegsverbrechern und der Anspruch auf ihre Auslieferung an das Gericht in Den Haag, ein differenziertes Wahlrecht samt Terminplan sowie vielfältige zivile Aufbauprogramme unter der Beteiligung internationaler Institutionen.
Dennoch fußt die Chance der Umsetzung all dessen auf einem äußerst fragilen Fundament. Zwar bleibt der Staat Bosnien-Herzegowina formal erhalten, wird aber in zwei Teile gespalten, die nach Nationalitäten definiert sind. Jeder Teil behält seine
Gerd Poppe
eigene Armee, die sich in das jeweilige Gebiet zurückziehen muß. Getrennt werden sollen beide durch die Implementation Force unter Führung der USA und der NATO, die in der Lage sein muß, sich effektiv zu verteidigen.
Ich betrachte das als eine friedenserhaltende Aufgabe. Ich möchte aber hinzufügen, daß wir einen über diese Aufgabe hinausgehenden Kampfauftrag ablehnen, daß es einen solchen nicht geben darf. Die Lage ist gefährlich; denn alle Kriegsparteien sind unzufrieden mit dem Ergebnis, allen voran die bosnischen Serben. Sie sind nur unter dem Druck vieler Faktoren, darunter des Embargos, der Zerstörung der Wirtschaft, des drohenden Winters und natürlich auch des Bombardements zum Einlenken gezwungen gewesen. Ausgerechnet in dieser Situation wird unverzüglich oder in wenigen Wochen das Waffenembargo für alle Seiten aufgehoben. Ich finde, das ist ein gefährlicher Schritt und ein falsches Signal,
während wir auf der anderen Seite natürlich die Rüstungsobergrenzen und die vereinbarten Abrüstungsverhandlungen sehr begrüßen.
Die Verhandlungsdelegationen konnten nur vor einem von vornherein sehr problematischen Hintergrund agieren. Das Ergebnis von Dayton unterscheidet nicht zwischen Tätern und Opfern, und es würdigt nicht die multiethnische und multikulturelle Selbstdefinition des Staates Bosnien-Herzegowina. Eine solche Trennung, wie sie mit Dayton sanktioniert wird, hat es in Bosnien-Herzegowina nie gegeben. Sie war eben deswegen nur mit brutaler Gewalt durchsetzbar.
Herr Kinkel, Bosnien ist kein islamisches Land, wie Sie vorhin gesagt haben.
Es ist immer noch kein islamisches Land. Wir sollten alles versuchen, daß dieser Rest von Multikultur auch wirklich erhalten bleibt.
Der interfraktionelle Antrag, den wir heute verabschieden, war gewissermaßen als eine Aufgabenstellung für Dayton gedacht. Trotzdem hat er sich nicht erledigt. Vieles von dem, was alle Fraktionen dieses Hauses in dem interfraktionellen Antrag fordern, ist nicht erfüllt. Dort steht, daß die gewaltsame Eroberung von Territorien nicht anerkannt werden dürfe. In Dayton wurde sie anerkannt. Dort steht, daß ethnisch definierte Armeen nicht bestehenbleiben dürfen. In Dayton wurden sie festgeschrieben. Die Rückkehr vieler Flüchtlinge wird dadurch erheblich erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht. Im Antrag steht natürlich auch die Forderung nach Rückkehr der Krajina-Flüchtlinge. Auch diese ist bisher nicht geregelt worden. Es steht dort, daß ohne eine Lösung für potentielle Krisenherde außerhalb Bosniens, wie beispielsweise das Kosovo, kein dauerhafter Frieden in der Region möglich sein wird. In den von Milosevic unterzeichneten Dokumenten von Dayton wird das Kosovo nicht erwähnt.
Die Liste von Defiziten ließe sich fortsetzen. Sie sind nicht die Folge mangelnden Verhandlungsgeschicks, sondern die Folge der jahrelang gemachten Fehler und falscher Kriterien.
Nationale Interessen können der heutigen Realität nicht gerecht werden. Sie müssen als europäische, als transatlantische, als globale Interessen formuliert werden. Dazu gehört die Einhaltung internationaler Normen des Zusammenlebens, und dazu gehört, diese nicht nur zu fordern, sondern sie im Rahmen der UN mit Hilfe der OSZE auch durchzusetzen, und vor allem rechtzeitig, damit letztlich auf die Anwendung militärischer Gewalt verzichtet werden kann.
Solange das Völkerrecht und die Menschenrechte nicht Vorrang erhalten vor kleinkarierten nationalstaatlichen Interessen, kann es immer wieder ein neues Bosnien geben und Aggressoren, die sich ermutigt fühlen.
Mit Dayton ist der Friede noch lange nicht gesichert. Es gibt keinen oder nur einen teilweisen Konsens zwischen den Kriegsparteien.
Es herrscht weniger der Wille der Kriegsparteien als der Zwang zum Frieden. Aber es gibt keine Alternative. Wenn dieser Frieden nicht hält, wenn er nicht stabilisiert wird, wird es wieder Krieg geben. Um das zu verhindern, muß jenseits der Bewertung des Ergebnisses von Dayton alles Erforderliche getan werden.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir wissen alle: Der Friedensschluß von Dayton war keine leichte Geburt und stand lange auf des Messers Schneide. Er ist auch noch nicht der Frieden selbst; er ist die Chance zu einem Frieden. Aber wir wollen nicht in Vergessenheit geraten lassen und heute nicht zulassen, daß darum herumgeredet wird: Die eigentliche kluge politische Entscheidung und der deutsche Beitrag, die ihn überhaupt möglich gemacht haben, war die Mehrheitsentscheidung dieses Hauses am 30. Juni dieses Jahres.
Wir haben damals einige selbsternannte Wahrsager in diesem Hause erlebt, die uns etwas ganz anderes vorhergesagt haben als die Chance, über die wir heute debattieren.
Das muß schon noch einmal in Erinnerung gerufen werden. Denn damals gab es viele, die eigentlich niemals an die Chance geglaubt haben, daß wir heute
Dr. Wolfgang Gerhardt
darüber überhaupt sprechen können. Damals gab es einige, die den Weg des Nicht-Resignierens, des Drinbleibens, der UNPROFOR-Unterstützung für falsch hielten, die ihn für politisch dem Abgrund entgegengehend erklärt haben und niemals ein Fünkchen Hoffnung unter die Menschen gebracht haben, daß wir vielleicht auf die Chance eines Friedens zugehen könnten. Es war die Mehrheit auf unserer Seite des Hauses, die daran geglaubt und es politisch durchgesetzt hat, die es offen diskutiert und die schwierige Frage entschieden hat. Das ist heute in die Erinnerung zurückzuholen.
Der damalige und der heutige Beitrag auch unserer Soldaten und vieler anderer hat niemals etwas mit Interventionismus oder mit militärischer Aggression zu tun gehabt. Damals wie heute erfüllen die Soldaten eine zutiefst humanitäre Aufgabe. Sie schützen Menschenleben und helfen notleidenden Menschen.
Wichtig ist, daß die internationale Gemeinschaft und wir mit ihr damals nicht vor Aggression kapituliert haben, den Rückzug angetreten und den Konfliktparteien das Feld überlassen haben. Das war die große, wichtige und richtige politische Grundentscheidung dieses Hauses.
Angesichts dieser Grundentscheidung möchte ich für mich selbst und für meine Fraktion Bundesaußenminister Klaus Kinkel für sein Engagement und für das seiner Mitarbeiter und auch dem Bundesverteidigungsminister und den Soldatinnen und Soldaten und im übrigen auch vielen Menschen in Deutschland, die Flüchtlinge in ihren Wohnungen aufgenommen haben, danken. Das ist ein großartiger Beitrag gewesen,
der zeigt, daß wir schon das richtige Gewicht in der internationalen Verantwortung eingesetzt haben, indem wir im Innern unseres Landes die Kraft der Gesellschaft mobilisiert haben, Flüchtlinge aufzunehmen, und in der äußeren politischen Verantwortung maßvoll einen deutschen Friedensbeitrag mit anderen Demokratien zusammen geleistet haben. Wir können, glaube ich, über diese richtige Entscheidung dieses Hauses ganz glücklich sein.
Der amerikanische Präsident hat in seiner Fernsehansprache am Montag gesagt:
Nach vier Jahren Krieg mit über 250 000 Toten, Millionen von Flüchtlingen und Scheußlichkeiten, die die Menschen auf der ganzen Welt abgestoßen haben, hat das bosnische Volk endlich eine Chance, sich einem hoffnungsvollen Frieden zuzuwenden ... Die Kriegsparteien in Bosnien haben sich zum Frieden verpflichtet. Jetzt ist es unsere Aufgabe, bei der Durchsetzung des Friedens zu helfen.
Genau darum geht es, um nicht weniger und um nicht mehr.
Wir haben die Chance, mit unserer Hilfe und mit der ganzen Palette von Entscheidungen, die wir treffen, ein vom Krieg zerstörtes Land wiederaufzubauen, den Menschen die Angst und die Furcht vor Vertreibung, vor Hunger und Demütigung zu nehmen. Wir haben die einzigartige Chance, auch mit deutschen Soldaten einem Land einen Funken Hoffnung zu geben, in dem früher einmal deutsche Soldaten waren, die keine Hoffnung für dieses Land waren. Auch dies ist im übrigen eine Chance für unser Land, wenn wir sie klug anpacken und unsere Anwesenheit dort offen vertreten.
Das ist auch deshalb wichtig, weil die Zusage der Entsendung einer multinationalen Friedenstruppe die Voraussetzung für den Friedensschluß und für das Zutrauen in den Friedensschluß selbst war. Dieser Friedensschluß wäre nicht zustande gekommen ohne die eindeutigen Signale: Jawohl, wir sind bereit, dort zu helfen - humanitär, beim Wiederaufbau, aber auch bei der Sicherung gegen Aggression, gegen diejenigen, die den Frieden nicht akzeptieren wollen. Das gehört zusammen und ist überhaupt nicht zu trennen.
Der Bundesaußenminister hat den deutschen Beitrag zur Absicherung des Friedensabkommens nach dem Beschluß der Bundesregierung für Bosnien-Herzegowina überzeugend dargelegt. Er baut konsequent auf den früher getroffenen Entscheidungen der Mehrheit dieses Hauses auf. Er basiert auf materieller Unterstützung, auf Logistik, auf medizinischer Hilfe. Unser Unterstützungsangebot für den Frieden ist nicht gering; es ist teuer, aber es ist angemessen. Ich erkläre hier für die gesamte F.D.P.-Fraktion: Wir unterstützen die Bundesregierung nachdrücklich auf diesem politischen Weg. Er ist richtig.
Das Friedensabkommen beruht in vielfältiger Hinsicht auf Vorläufern. Ich erinnere an die KinkelJuppé-Initiative für einen fairen Ausgleich und an die Chancen, die jetzt im Hinblick auf eine demokratische Regierung, ein gemeinsames Parlament, einen direkt gewählten Präsidenten und eine gemeinsame Verfassung bestehen. Sarajevo muß eine offene Stadt sein. Das ist für einen dauerhaften Frieden der ethnischen Gruppen unerläßlich.
Wir wollen und werden diesen Prozeß des Friedens nachhaltig unterstützen. Er ist mit einem Wiederaufbauprogramm verbunden. Wir wollen dazu rasche Entscheidungen, aber auch klare Kriterien im Hinblick auf die Verhaltensweise von Empfängern. Es muß ganz deutlich werden, daß für unrechtmäßiges, für intolerantes und für aggressives Verhalten keine Dotation mit finanziellen Mitteln erfolgt. Wer dort den Frieden sichern will, wer sich an den Vertrag hält, soll auf unsere Hilfe Anspruch haben. Wer ihn zerstören will, wer ihn im Innern seiner Gesellschaft nicht baut, wird von uns keine Hilfe erwarten können. Das muß überaus deutlich werden.
Dr. Wolfgang Gerhardt
Im übrigen halte ich fest, daß wir es für besonders wichtig halten, daß Rußland gesagt wird: Es wird in der Zukunft für die Sicherung des Friedens in Europa gebraucht. Wir bitten dieses Land, an der Sicherung des Friedens in Europa konstruktiv mitzuwirken. Das ist ein ganz wichtiger Gesichtspunkt.
Herr Kollege Verheugen, unsere Fraktion unterscheidet nicht von Ihrer, daß wir nicht auch wüßten, daß Deutschland, wie Ihr neuer Vorsitzender gesagt hat, eine Friedensmacht sein müsse. Uns unterscheidet, daß Friedensmacht auch Verantwortungsbereitschaft bedeuten muß -
nicht nur im humanitären Bereich, in der Aufnahme von über 400 000 Flüchtlingen, sondern auch dann, wenn es in der internationalen Verantwortung ernst wird, Völkerrechtsbrechern entgegenzutreten und keine Filibusterdiskussion zu führen, ob Tornados dazu gebraucht würden oder nicht.
Tornados sind keine generalstabsmäßig von Ihnen zu diskutierende diskriminierende Brücke zwischen der klaren Differenz von Herrn Lafontaine und der Mehrheit der Fraktion, die hier sitzt.
Tornados sind dort von uns eingesetzt worden, um humanitäre Hilfe auf dem Boden abzusichern und Menschenleben der UNPROFOR-Truppen bei dieser Hilfe zu sichern. Das war kein aggressiver Auftrag. Das war die Notwendigkeit der Sicherung. Ihr Hinweis, die Entscheidung sei falsch gewesen, weil sie nicht gebraucht worden seien, ist die absurdeste Begründung, die ich je zu einem solchen Einsatz gehört habe.
Sie wissen das im übrigen genauso gut wie ich. Sie stellen diesen Antrag, um nicht in direkte Konfrontation mit Ihrem neuen Vorsitzenden zu kommen.
Außenpolitik ist äußerst unbequem. Man kann nicht allem ausweichen, wenn man zu Kernfragen der internationalen Verantwortung gefragt wird. Dieser Kernfrage ist Konrad Adenauer damals in der Koalition mit uns nicht ausgewichen. Wir sind den Kernfragen, wenn es unbequem wurde, nicht ausgewichen, als wir mit Ihnen in der Koalition waren, und Sie können heute dieser unbequemen Frage auch nicht ausweichen.
Die Kernfrage lautet heute nämlich: Bleiben wir im Elfenbeinturm, entziehen wir uns internationalen Verpflichtungen, wenn es konkret wird, oder ist dieses Land erwachsen genug, um heute, 50 Jahre nach Kriegsende, zusammen mit anderen Demokratien
ganz natürliche völkerrechtliche Verpflichtungen einzugehen? Wir meinen: Ja, wir können es.
- Sie konzentrieren es auf Tornados; aber im Kern ist es die gleiche Frage wie beim Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Kollege Fischer, wir beide haben ja am 30. Juni - ich erinnere mich daran - ganz kontrovers über die Frage der Verpflichtungen diskutiert, die dieses Haus seinerzeit zu beschließen hatte. Sie haben vier Wochen später in einem persönlichen Brief Ihre Meinung geändert. Sie haben in dieser Woche aufwühlend an Ihre Partei geschrieben und gefragt, ob die Grünen sich auf der Flucht vor der Wirklichkeit befänden. Ich habe Respekt vor Ihrem Meinungswandel. Es kann hier kein persönlicher Schlagabtausch darüber stattfinden, daß Sie gesagt haben, Sie hätten Ihre Meinung nach den dramatischen Ereignissen und dem Morden in Srebrenica geändert. Es wäre auch zu kleines Karo, wenn ich das so persönlich sähe.
Aber eines erwarten wir doch: Wir erwarten von einer Gruppierung programmatische Klarheit im Kern.
Wir können uns nicht damit abfinden, daß Sie Briefe schreiben und daß ein Teil Ihrer Fraktion zustimmt. Wir erwarten schon programmatische Klarheit, wie Sie letztlich Menschen, die international in Not sind, helfen wollen, und ob Sie bereit sind, Rechtsbrechern entgegenzutreten.
Sie wissen genauso gut wie wir, daß wir international keinen Frieden schaffen können, wenn wir nicht bereit sind, notfalls mit Soldaten Völkerrecht zu schützen, weil sich Völkerrecht selbst nicht durchsetzt, wenn es niemanden gibt, der es in der Völkergemeinschaft realisiert.
Wenn eine Chance zum Frieden besteht, Herr Kollege Fischer, dann ist sie auch durch Entscheidungen und Haltungen herbeigeführt worden, die hier bisher bei Ihnen keinen Anklang fanden, weil Ihnen im Kern die ethische Dimension internationaler Verantwortung und damit ein Stück Fähigkeit zur Grundorientierung der deutschen Außenpolitik fehlt, die dieses Land braucht. Dieses Land ist am dringendsten auf Bündnisfähigkeit angewiesen und hat über Jahrzehnte mit Hilfe dieser Bündnisfähigkeit seine eigene Sicherheit stabilisiert.
Es darf nicht dabei bleiben, daß, wenn es brenzlig wird, die einzige Antwort der Grünen heißt, sie seien mit Beschluß des Parteitages in der Lage, alle freiwil-
Dr. Wolfgang Gerhardt
ligen Feuerwehren zusammenzurufen. Das reicht als internationale Antwort nicht aus.
Meine Damen und Herren, Europa hat lange gebraucht, um zu einer gemeinsamen Haltung zu kommen. Wir haben beobachtet, daß lange Schatten der Vergangenheit die jeweils nationalen Bewertungen des Zerfalls und der Konflikte im ehemaligen Jugoslawien geprägt und verdunkelt haben. Wir haben gesehen, daß längst totgeglaubte Ideologien wieder auferstanden sind, alte Landkarten wieder vorgelegt und ethnische Unverträglichkeiten neu belebt worden sind. Alte Dämonen - das haben wir festgestellt - haben einen verdammt leichten Schlaf.
Dieser Konflikt ist auch eine Lehre für uns. Es gibt keine Alternative zu Europa. Es gibt keine nennenswerte Alternative zu Toleranz. Es gibt keine lebensfähige Demokratie ohne Minderheitenschutz. Es darf , keine Lösung eines politischen Konflikts im europäischen Kulturkreis oder irgendwo anders auf der Welt mit anderen als gewaltfreien Spielregeln geben. Wer zu Europa gehören will, muß diese politisch gewachsene Verfassung Europas respektieren. Wir sollten darauf drängen, daß diese kulturell gewachsene Verfassung überall in Europa und auf der Welt gesellschaftliche Wirklichkeit wird. Dafür darf uns keine Mühe zuviel sein.
Herzlichen Dank.
Es spricht jetzt die Kollegin Andrea Lederer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind alle gespannt, Herr Kollege Gerhardt, auf die programmatische Klarheit der F.D.P.-Fraktion in Sachen Lauschangriff.
Ich finde, ehrlich gesagt, Ihre Ansicht absurd, die Einhaltung des Völkerrechts sei durch militärisches Engagement zu gewährleisten. Da sollten Sie doch einige Nachhilfestunden in Sachen Grundlagen des Völkerrechts nehmen.Ich bedauere es sehr, daß heute hier nicht zunächst einmal eine Debatte ausschließlich zu den zivilen Anforderungen im Friedensprozeß im ehemaligen Jugoslawien stattfindet.
Das haben wir der Bundesregierung zu verdanken, die heute einen Antrag mit in die Debatte einbringt, der sich wieder einmal mit dem Einsatz der Bundeswehr im Rahmen der NATO-Truppen beschäftigt. Ich komme zum Schluß darauf zurück und möchte zunächst auf das Abkommen von Dayton eingehen.Auch wir begrüßen es, daß die Waffen schweigen und daß dieses Abkommen zumindest eine Chance für eine friedliche Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien bedeuten kann. Skepsis gegenüber einzelnen Regelungen des Abkommens darf wirklich nur davon geleitet sein, bessere Vorschläge, eine sicherere Gewährleistung der Abwesenheit von Krieg zu ermöglichen als Voraussetzung für eine soziale, ökonomische, kulturelle und politische Perspektive der Menschen in diesem kriegsgeschüttelten Land.Zweifellos gibt es auch in diesem Abkommen einige Punkte, die zu Sorge, zu Skepsis und auch zu berechtigter Kritik Anlaß geben. Das betrifft nicht nur die komplizierte Verfassungskonstitution für Bosnien-Herzegowina, eine faktische Teilung eines formal ungeteilten Staates. Es stellt sich auch hier die Frage: Wie kann gewährleistet werden, daß nach wie vor vorhandenes Konfliktpotential nicht wieder gewalttätig gegeneinander losgeht? Es ist bedauerlich, daß von einem wirklichen Zusammenleben der Völker zunächst einmal, was die verfassungsrechtliche Konzeption anbelangt, so jedenfalls nicht die Rede sein kann.Es gibt eine ganze Reihe anderer Punkte, an deren Umsetzbarkeit Zweifel angebracht sind. Allerdings bin ich der Meinung, daß es nun darauf ankommt, die Menschen in Bosnien-Herzegowina so zu unterstützen, daß sie in die Lage versetzt werden, ihren eigenen Weg zu gehen. Wir wünschen ihnen, daß sie Krieg propagierenden nationalistischen Führern den Boden entziehen, ihnen keine Chance für politische Einflußnahme geben. Wir wünschen ihnen aber auch, daß sie sich frei machen können von äußeren Einflüssen, die nicht ausschließlich von der Unterstützung des Friedensprozesses, sondern unter Umständen auch von der Verfolgung eigennütziger Nationalinteressen geleitet sind. Hier gab es in der Vergangenheit eine Reihe negativer Beispiele.Ich will auf eine spezielle Regelung des Abkommens von Dayton eingehen, die mir die meisten Probleme zu schaffen scheint. Sie wird als „Rüstungskontrolle" bezeichnet. Herr Außenminister Kinkel ist hierauf eingegangen, und ich glaube, es ist einigermaßen bezeichnend, daß die Regierungskoalition zu seinen diesbezüglichen Ausführungen nicht sonderlich klatschen konnte.Wenn nämlich nun in Verhandlungen Obergrenzen für schwere Waffen für die Armee in BosnienHerzegowina festgelegt werden sollen, ist doch klar, daß offenkundig die Waffenarsenale jetzt noch nicht erreicht sind, sondern daß man Grenzen festlegen will, die neu aufgefüllt werden sollen. Das allerdings erscheint mir wirklich absurd. Was Bosnien-Herzegowina braucht, sind nicht Waffen, sondern sind Frieden und ziviles Engagement.
In diesem Kontext überrascht auch nicht die Aufhebung des Waffenembargos. Aus unserer Sicht ist diese Aufhebung abzulehnen.Die problematischste Angelegenheit in diesem Punkt ist für mich aber, daß ausgerechnet die Bundesrepublik zum Ort der Konferenz über Rüstungskontrolle wird. Ein Land, das auf Platz 2 der Liste der waffenexportierenden Staaten weltweit steht, ist mei-Andrea Lederernes Erachtens denkbar ungeeignet, ausgerechnet solche Regelungen zu treffen.
Das nennt man den Bock zum Gärtner machen.Dringend erforderlich - hierauf ist auch schon eingegangen worden - sind Regelungen, die die kroatische Regierung binden, denn auch den Flüchtlingen, die aus der Krajina und auch aus anderen Orten Kroatiens vertrieben wurden, muß die Rückkehr ermöglicht, eine Entschädigung für verlorenes Eigentum gewährleistet werden. Hier ist entsprechender Druck auf die kroatische Regierung möglich, der nicht deshalb geringer sein darf, weil man möglicherweise hier wirtschaftliche Beziehungen knüpfen will. Ich sage das bewußt in Anspielung auf die Debatten zum Thema wirtschaftliche Interessen und Menschenrechte in der vergangenen Woche.Darüber hinaus mißfallen mir, ehrlich gesagt, manche Töne bei der Erörterung der Frage der Rückkehr von Flüchtlingen. Wenn hier wiederum betont wird, wie viel der Aufenthalt dieser Flüchtlinge in der Bundesrepublik kostet, dann meine ich, daß solche Argumente in dieser Debatte nichts zu suchen haben.
Es kann wohl kaum darum gehen, wiederum aus kostenminimierenden Gründen möglichst bald eine Rückkehr, womöglich noch zwangsweise, ins Auge zu fassen; es muß wohl darum gehen, den Menschen eine Perspektive, die ihr Leben dort lebenswert macht, zu eröffnen
- Herr Kollege Duve, das, was die UNO machen soll, ist, im Sicherheitsrat einen Beschluß zu fassen, und dann hat sich das Ganze auch und ist eine NATO- Aktion. Darüber werden wir sicherlich auch morgen in den Ausschüssen noch diskutieren.Die NATO ist nicht etwa hilfreich humanitär eingesprungen, wie zum Teil hier von der Regierungskoalition suggeriert werden soll. Vielmehr war es von den NATO-Staaten und da insbesondere denjenigen, die auch ständiges Mitglied im UNO-Sicherheitsrat sind, von Anfang an gewollt und beabsichtigt, die NATO vor die UNO zu schieben, die NATO also eigentlich jetzt mit einer klassischen UN-Aufgabe, nämlich der Überwachung eines Friedensabkommens im Einverständnis mit allen Konfliktparteien, unparteiisch und rein defensiv zu betrauen.
Zweck des Ganzen ist, das Gewicht der NATO gegenüber und zu Lasten der UNO zu verstärken, und ich komme gleich, Herr Irmer, auf die Beteiligung Rußlands zu sprechen.Das ist die konsequente Fortsetzung einer Politik, die bevorzugt auf einen Militärpakt setzt.
Die UN werden bewußt desavouiert, diskreditiert, und ihnen werden die Mittel entzogen und vorenthalten, um rein defensiv und durch zivile Aktivitäten solche Aufgaben zu übernehmen.Wenn Sie nun auch noch die Verabredung mit Rußland für die Ausdehnung der NATO gen Osten heranziehen wollen, um hier eine Perspektive aufzumachen, dann stelle ich fest: Mit diesen Äußerungen brüskieren Sie Rußland erneut, und zwar genau in einer Art und Weise, bei der Sie - und das nicht etwa nur von Vertretern der Kommunistischen Partei Rußlands, sondern durch die Bank - immer wieder zu hören bekommen, daß Rußland eine solche Interpretation als bedrohlich, eine solche Ausdehnung der NATO gen Osten als bedrohlich empfindet.
Rußland kann wohl kaum in Fragen der europäischen Sicherheitsarchitektur ein Stellvertreterplatz angeboten werden. Rußland muß dann gleichberechtigt beteiligt werden.Die NATO ist ein Militärpakt, und ihren Truppen robustes Eingreifen zuzugestehen, soll vielleicht beruhigen, kann es aber nicht. Herr Kollege Seiters hat hier dankenswert offen mitgeteilt: Es handelt sich um einen Kampfeinsatz, Kampfeinsätze sind eingeschlossen zur Durchsetzung des Abkommens, sie sind mit Bestandteil des Auftrages der Vorbereitung und des Selbstverständnisses dieser Truppen, und wir bezweifeln, ob das dem Frieden dienlich ist.Nun zur Beteiligung der Bundeswehr. Wir lehnen diese ab. Die Argumente, die auf die historische Verantwortung Deutschlands verweisen, sind nach wie vor gültig. Deutsche Soldaten haben auf dem Balkan nichts zu suchen.
Die Bundeswehr hat bei Auslandseinsätzen nichts zu suchen, egal unter welchen Helmen.Ich möchte zum Schluß, weil leider die letzten zweieinhalb Minuten unserer Redezeit noch einmal geteilt werden müssen, noch kurz auf das Vorgehen der SPD eingehen.Ich halte die Unterscheidung zwischen Tornadoeinsätzen und der sonstigen Bejahung von Bundeswehreinsätzen für ziemlich technizistisch, ehrlich gesagt. Ich halte da die Diskussion bei den Grünen für einigermaßen ehrlicher.Erklären Sie mir doch bitte eines: Heute wollen Sie hier einen Entschließungsantrag beschließen, in dem Sie Tornadoeinsätze und Kampfaufträge ablehnen,
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6444 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 34. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995
Andrea Ledererund morgen im Ausschuß und nächste Woche im Plenum wollen Sie mehrheitlich der Regierungsvorlage zustimmen, die genau das einschließt.Wenn also jetzt eine Wählerin unbedingt einen Bundeswehreinsatz mit Tornadoeinsatz will, dann muß sie CDU wählen. Da kann sie ganz sicher sein, daß sie das und noch viel mehr bekommt.
Wenn sie das nicht unbedingt will, dann muß sie die PDS wählen, weil sie dann sicher sein kann, daß sie es nicht bekommt.
Was macht aber beispielsweise eine überzeugte Sozialdemokratin, die einen Bundeswehreinsatz nicht will? Und was macht eine überzeugte Sozialdemokratin, die einen Bundeswehreinsatz will? Sie kann zumindest die Partei, die sie eigentlich wählen will, nicht wählen, weil sie nicht weiß, was Sache ist.
Entscheiden Sie sich doch bitte über Nacht, wenn es geht, oder bis nächste Woche für ein klares Nein zu Bundeswehreinsätzen auf dem Balkan. Sie haben zu Recht immer Argumente dafür angeführt. Sie wissen genau, daß das der falsche Weg, ein falsches Signal ist. Überlegen Sie sich, wie Sie diese Wirrnisse aufklären.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Bundesminister für Verteidigung, Volker Rühe.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war ein weiter Weg von den unbestreitbaren Grausamkeiten und Verbrechen im Krieg im ehemaligen Jugoslawien bis hin zum Friedensschluß von Dayton.
Der Kollege Verheugen hat recht: Wir dürfen die Bilder der Menschen im Krieg nicht vergessen. Ich glaube, wir werden sie auch nicht vergessen, wenn ich an die schrecklichen Massaker auf dem Marktplatz von Sarajevo denke oder daran, daß an einem Sommerabend 50 junge Menschen um die 20 Jahre in einem Straßencafe in Tuzla von einer Sekunde auf die andere ausgelöscht wurden. Sie wollten nur, wie die jungen Menschen in unseren Städten, eine freie Stunde haben. Zehnjährige Jungs in Sarajevo, die im Winter wenigstens eine Stunde den Krieg vergessen wollten und versuchten, von den Trümmerbergen Schlitten zu fahren, wurden von serbischen Heckenschützen erschossen. Wir kennen auch noch die Massaker von Srebrenica. Ich glaube, wir werden das nicht vergessen. Wir haben noch einen schwierigen Weg vor uns. Aber daß diese Bilder der Vergangenheit angehören, ist ein großer Erfolg. Die Wende war nur möglich, weil wir die Logik des Schlachtfeldes durchbrochen haben, weil wir eine rote Linie gezogen haben, weil wir nicht mehr bereit waren, all dieses hinzunehmen. Dieses war nur durch den Einsatz von Soldaten möglich. Das dürfen wir nie vergessen.
Es ist hier viel über die große Leistung der Vereinigten Staaten von Amerika gesagt worden. Das ist richtig. Aber ich möchte daran erinnern, daß im Mai dieses Jahres die UNO-Mission vor dem Scheitern stand. Die UNO-Soldaten waren angekettet an Brükken, an militärische Objekte. Der französische Präsident Chirac stand vor der Entscheidung, alle Soldaten abzuziehen. Viele haben ihm zu dieser Entscheidung geraten und gesagt: Mach das und heb das Waffenembargo auf. Er hat dann entschieden: Unsere Soldaten bleiben, aber sie werden von der Schnellen Eingreiftruppe geschützt. Ich bin stolz darauf, daß wir am 30. Juni den Beschluß gefaßt haben, Frankreich zu unterstützen. Das war der Beginn der Wende.
50 französische Soldaten sind gestorben. In Wirklichkeit sind sie als europäische Soldaten gestorben, auch für uns. Das dürfen wir nie vergessen.
Die NATO hat sich danach aus den Fesseln widersprüchlicher UN-Mandate befreit, und schließlich haben die Vereinigten Staaten ihr ganzes Gewicht in die Waagschale geworfen. Es ist Warren Christopher und Richard Holbrooke zu Recht gedankt worden. Ich möchte noch jemanden anderen nennen: Joseph Kruzel, den engsten Mitarbeiter meines Freundes, des amerikanischen Verteidigungsministers. Herr Scharping und andere kennen ihn auch. Er ist mit anderen amerikanischen Diplomaten und Soldaten im September dafür gestorben, als man begann, die Grundlagen für dieses Friedenswerk zu schaffen. Deswegen sollten wir gerade auch ihn in einer solchen Stunde nicht vergessen und ihm und allen danken, die ihr Leben für diesen Friedensprozeß gegeben haben.
Amerikanische Truppen sind unverzichtbar für den Erfolg. Ich bin dankbar, daß auf allen Seiten des Hauses begriffen wurde, daß ein schneller Beschluß des Deutschen Bundestages diesmal sein Gewicht in Washington haben wird. Wer hätte gedacht, daß der Bundestag einmal ein Teil der Lösung wird und nicht ein Teil des Problems, was wir lange gewesen sind?
Wichtig ist aber auch, daß sich Rußland beteiligt. Vorgestern haben wir mit dem russischen Verteidigungsminister Gratschow eine praktikable Vereinbarung erzielt. Sie ermöglicht, daß Rußland politisch und militärisch an der NATO-Operation zur Absicherung des Friedens beteiligt wird. Diese Vereinbarung schafft einen völlig neuen Konsultationsmechanismus.
Bundesminister Volker Rühe
Liebe Frau Lederer: Das einzige, was ich sagen möchte: Wenn der Herr Gratschow und Rußland zufrieden sind, sollten auch Sie mit dieser Vereinbarung zufrieden sein.
Die Bedeutung dieser Vereinbarung geht weit über die Absicherung des Friedens in Bosnien hinaus. Sie gibt der Partnerschaft zwischen einer neuen NATO und Rußland praktischen Inhalt. Konkrete und erfolgreiche Zusammenarbeit entzieht altem Denken in Moskau die Grundlage, das es ja noch gibt. Für viele dort ist die NATO noch ein Begriff aus der Zeit des Kalten Krieges. Die politische Führung tut auch zuwenig, um zu erläutern, daß wir es längst mit einer neuen NATO zu tun haben. Aber darauf sind wir in der Zukunft nicht mehr angewiesen. Die Bürger in Rußland werden sehen, wie die Soldaten der NATO und die russischen Soldaten zusammenwirken, gemeinsam handeln. Gemeinsam müssen wir den Erfolg in Jugoslawien suchen, und das ist ein riesiger Fortschritt, auch für die europäische Sicherheitsstruktur.
Die Dynamik des Friedensprozesses muß jetzt aufrechterhalten werden. Für die Region ist rasch ein Zeichen zu setzen, daß die Staatengemeinschaft bereit ist, den Frieden militärisch abzusichern. Deshalb verlegt die NATO Hauptquartiere und Führungskräfte sehr rasch in die Region. Zugleich werden damit die Voraussetzungen geschaffen, daß die Friedenstruppe wenige Tage nach der Pariser Friedenskonferenz verlegt werden kann.
Für die Vorausverlegung von Kräften liegen die wesentlichen Bedingungen vor. Die Abkommen mit den betroffenen Ländern zur Stationierung und zum Transit von Truppen zwischen der NATO und den entsprechenden Staaten sind geschlossen. Wir bitten um die Zustimmung des Bundestages sowohl für die Vorausverlegung von Führungskräften und Hauptquartieren als auch für die Entsendung der Hauptkräfte. Das sind wir, denke ich, den Soldaten, die in wenigen Tagen in den Einsatz gehen sollen, schuldig. Die Entsendung der Hauptkräfte erfolgt natürlich erst nach Unterzeichnung des Friedensvertrages, Erteilung eines UN-Mandats und einem entsprechenden Beschluß des NATO-Rats.
Die Dauer der Operation - das ist gestern noch einmal, nachdem ich auch sehr deutlich darauf hingewirkt habe, in Brüssel von allen NATO-Verteidigungsministern bekräftigt worden - ist auf ein Jahr begrenzt. So sieht es übrigens das Vertragswerk von Dayton auch vor. Das heißt, für das Bündnis gilt: Wir gehen gemeinsam hinein, wir handeln gemeinsam, und wir gehen auch gemeinsam aus dieser Operation wieder heraus.
In den ersten Monaten muß die Hauptaufgabe der militärischen Operation erledigt sein: die Entflechtung der Truppen, ihre Rückführung hinter die vereinbarten Linien und die Kasernierung der Verbände.
Anschließend muß sich die Friedenstruppe darauf konzentrieren, ein stabiles und sicheres Umfeld für die politischen Prozesse und die Normalisierung des Lebens zu schaffen. Das kann man gar nicht deutlich genug sagen - Kollege Gerhardt und andere haben das gesagt -: Das ist zwar eine militärische Operation, aber doch nicht für militärische Ziele, sondern für zivile Ziele, für politische Ziele, damit der Wiederaufbau beginnen kann, damit dort gewählt werden kann, damit die Flüchtlinge zurückkehren können. Wie kann man da von einer Militarisierung sprechen? Es sind militärische Mittel, um zivile und politische Ziele zu erreichen, die wir alle anstreben.
Aber man muß auch sagen, daß die Anwesenheit dieser Truppen begrenzt werden muß. Am Anfang muß der Frieden von außen kommen. Aber dann muß er auch von innen kommen, und die politischen und sonstigen Eliten dieser Länder müssen bereit sein, wieder zusammenzuleben. Darauf kommt es letztlich an. Das kann nicht auf Dauer durch fremde Soldaten abgesichert werden.
Deswegen darf die Mission der NATO nicht ausfasern. Wir dürfen keine Aufgaben annehmen, die aus gutem Grund in den zivilen Strukturen angesiedelt werden. Deswegen ist es wichtig, und ich denke, da sind wir uns alle einig, daß mit der Londoner Konferenz jetzt auch mit Nachdruck der zivile Aufbau vorangetrieben wird.
Zugleich mit der Entsendung bewaffneter Kräfte zur Absicherung des Friedens erfolgt das politische Signal zur Abrüstung. Das ist ein Vorstoß des deutschen Außenministers, wofür er, glaube ich, alle Unterstützung verdient. Wir haben festgestellt, daß das am Anfang unter „ferner liefen" behandelt wurde. Ich darf sagen, daß das gestern bei der Sitzung der Verteidigungsminister in Brüssel ganz oben auf der Tagesordnung stand, weil jeder gespürt hat, wie wichtig es für das Gelingen dieser Friedensmission ist, daß wir diese Monate nutzen, um zu einer Abrüstung zu gelangen. Wir wollen nicht, daß alle auf das serbische Niveau hochrüsten, sondern wir wollen, daß die Serben herunterrüsten auf das Niveau der Muslime, damit es einen verläßlichen Frieden gibt.
Im übrigen ist die effektive Rüstungskontrolle - das wird noch vor Weihnachten in Bonn beginnen, sieben Tage nach der Pariser Konferenz - nicht nur wichtig für das Gelingen der gesamten Mission, sondern auch für die Sicherheit der eigenen Truppen, die wir dort einsetzen.
Die Chancen für Frieden im früheren Jugoslawien sind günstig. Alle Konfliktparteien haben sich verpflichtet, auf jede feindselige Handlung zu verzichten, ihre Truppen zurückzuziehen, miteinander zu arbeiten und die Friedenstruppe zu unterstützen. Aber natürlich kann und wird es Probleme geben. Wir müssen festhalten: Es geht nicht darum, prinzi-
Bundesminister Dr. Volker Rühe
piell einen Frieden gegen die Konfliktparteien durchzusetzen, sondern es geht darum, ihnen zu helfen, den Frieden ins Werk zu setzen, den sie selbst in Dayton unterschrieben haben. Dabei muß jede Parteinahme unterlassen werden. Allen muß klar werden, daß sich die Friedenstruppe strikt darauf konzentriert, die ehemaligen Konfliktparteien zu trennen und den Aufbau friedlicher Strukturen zu sichern.
Deutschland muß sich nach seinen Möglichkeiten angemessen und solidarisch beteiligen. Aber deutsche Soldaten sollen nicht zwischen den Konfliktparteien eingesetzt werden; daraus ergeben sich Konsequenzen für die Stationierung und die Art der Verbände. Unser Beitrag entspricht dem erklärten Bedarf der Allianz. Transporteinheiten, Pioniere und Sanitäter sind ein knappes Gut. Wir werden helfen, die Friedenstruppe zu unterstützen und zu versorgen. Diese Truppenteile werden in Kroatien stationiert sein, aber auch zeitlich begrenzt in BosnienHerzegowina eingesetzt werden. Solange das Waffenembargo in Kraft bleibt, wird sich die Marine an der Überwachung beteiligen. Wir werden der NATO weiterhin unsere Aufklärungs- und ECR-TornadoFlugzeuge zur Verfügung stellen. Unsere Aufklärungsflugzeuge überwachen die nach dem Friedensvertrag vorgesehenen Truppenbewegungen und die Truppenentflechtungen. Aber neben alldem, was hier sehr richtig gesagt worden ist, möchte ich feststellen: Wir müssen doch unsere eigenen Flugzeuge schützen, übrigens auch unsere Soldaten auf dem Boden, notfalls durch den Einsatz der Luftwaffe, der NATO. Hier spielen die ECR-Tornados eine ganz wichtige Rolle.
Aber, Herr Scharping - in dem Falle sollte ich vielleicht sogar sagen: Herr Lafontaine -: In dem Friedensvertrag von Dayton können Sie nachlesen, daß vereinbart ist, daß mit dem Friedensschluß alle Raketensysteme abgeschaltet werden, mit denen man Flugzeuge abschießen kann. Jetzt ist es eine entscheidende Aufgabe der ECR-Tornados, dieses zu überwachen. Wenn auch nur ein Raketenabwehrsystem eingeschaltet wird, bedeutet das nicht nur einen kriegerischen Akt, sondern einen Bruch des Friedensvertrages von Dayton,
für den schwere Sanktionen vorgesehen sind. Zu diesen Flugzeugen kann man noch sagen: Sie dienen dem Schutz unserer Soldaten, und sie dienen der Durchsetzung des Friedensvertrages von Dayton, damit die tödlichen Raketenabwehrsysteme der Serben nicht eingesetzt werden können.
Unsere Transporteinheiten, Pioniere und Sanitäter werden bei ihrem Einsatz wirksam geschützt und gesichert. Deshalb werden Sicherungskräfte mitgeschickt. Aber wir halten uns die Möglichkeit offen, diese Sicherungskräfte angemessen zu verstärken, wenn es die Lage erfordert. Außerdem sind unsere Verbände in die internationale Streitmacht eingebunden und stehen unter dem Schutz von NATO- Kampftruppen. Hier gibt es gelegentlich in Deutschland eine etwas merkwürdige Diskussion. Es wird dort keine deutsche Armee hingeschickt, die alle möglichen Kampfverbände enthält; vielmehr handelt es sich um einen Spezialverband mit einer logistischen Rolle. Wenn wir insgesamt 60 000 deutsche Soldaten dort hätten, wäre dieser Verband genauso als Logistikverband zugeschnitten. Er muß natürlich im Zusammenhang mit den Kampfverbänden der anderen gesehen werden. Das heißt: Wenn er zum Beispiel im Raum der englischen Division tätig wird, dann wirkt er ganz selbstverständlich mit den Kampfverbänden dieser Division zusammen und steht auch unter dem Schutz der Panzer. Deswegen kann ich die Diskussion nicht verstehen, in der versucht wird, uns einzureden, wir müßten diese Spezialtruppe, diese Logistiktruppe, nun auch noch durch eigene deutsche Panzer schützen, so, als ob das organische Zusammenwirken mit den Kampfverbänden, auch mit den Panzerverbänden der Alliierten nicht ausreichen würde. Man muß das im Zusammenhang sehen. Ich hoffe, daß diese törichte Diskussion bald beendet ist.
Unser Kontingent wird eine Größenordnung von rund 4 000 Soldaten haben. Etwa 70 Prozent werden Berufs- und Zeitsoldaten sein. Wehrdienstleistende können nur teilnehmen, wenn sie sich freiwillig melden. Jeder Vater, jede Mutter eines Wehrpflichtigen kann sicher sein: Kein Wehrpflichtiger in Deutschland wird gegen seinen Willen im früheren Jugoslawien eingesetzt.
Unser Beitrag hat Gewicht. Das bemißt sich nicht nur nach der Zahl, sondern auch nach der Qualität der militärischen Fähigkeiten. Im Verhältnis zum amerikanischen, britischen und französischen Engagement ist unser Beitrag maßvoll. Wir stehen wahrlich nicht in der Gefahr, mit dem deutschen Einsatz zu übertreiben.
Wir können und müssen nicht alles machen; aber wir müssen tun, was wir können. Im Bündnis gibt es keine Mehrforderungen. Im Gegenteil - das haben meine Gespräche auch gestern in Brüssel gezeigt -: Unser Beitrag wird als angemessen und als sehr positiv gewürdigt.
Wer Frieden auf dem Balkan will, der muß auch die Friedenstruppe wollen. Wer den Wiederaufbau eines gequälten Landes will, der muß wollen, daß die Friedenstruppe dafür Sicherheit schafft. Wenn Bosnier, Serben und Kroaten, wenn Rußland, Europa und Amerika, wenn UNO, NATO und die Europäische Union sich zur militärischen Absicherung des Friedens verpflichten, dann kann keiner abseits stehen. Das sollten sogar Sie von der großen Friedensmacht Bündnis 90/Die Grünen begreifen. Sie sind nicht nur isoliert, sondern es gibt überhaupt niemanden auf der ganzen Welt, der nicht zu der Friedenstruppe steht. Wer den Frieden will, wer verhindern will, daß die Bilder des Krieges, an die ich am Beginn meiner Rede noch einmal erinnert habe, wiederkeh-
Bundesminister Dr. Volker Rühe
ren, der muß ja sagen zur Friedenstruppe. Alles andere wäre unmoralisch.
Wenn der Satz „Es kann sehr unmoralisch sein, sich dem Unrecht nicht entgegenzustellen durch den Einsatz von Soldaten" nach den Ereignissen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts - Auschwitz und anderes - jemals eine Bedeutung gehabt hat, dann jetzt, wo es einen Friedensvertrag, eine Friedenstruppe und den geschlossenen internationalen Willen gibt, sich Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen entgegenzustellen. Da heißt es nicht nur, dies politisch zu unterstützen. Alles andere wäre unmoralisch. Es wäre schlicht unmoralisch, sich hier zu verweigern. Das muß man ganz deutlich sagen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Nickels?
Bitte, ja.
Danke, Herr Minister. Herr Minister, ich möchte Sie fragen, ob Sie zur Kenntnis nehmen können, daß Sie ais Verteidigungsminister in dieser Situation zwar sehr gut begründete Argumente haben, deutsche Soldaten mit einzubeziehen - das ist für uns als eine Partei, die aus der Friedensbewegung kommt, eine schwierige Situation; das ist Ihnen klar, das haben Sie jetzt zum Ausdruck gebracht -, daß aber, historisch gesehen, weder die Ultima ratio Militär noch die Ultima ratio besteht zu sagen: Wir setzen auf Friedenswillen, auf zivile Verteidigungsmacht und auch auf Menschen, die mit Gewaltfreiheit, mit ihrem Leben für die Sache einstehen. Können Sie akzeptieren, daß beide Optionen nicht imstande sind, als Alternativen, die gegeneinanderstehen, Frieden zu sichern?
Hier ist soeben richtigerweise gesagt worden - auch Sie haben das gesagt -, daß der Frieden im ehemaligen Jugoslawien letztendlich erst beginnen kann, wenn die zutiefst verfeindeten und verhaßten Gruppen wieder anfangen, miteinander zu reden. Dazu brauchen Sie Wehrdienstverweigerer, die vor Ort diese Arbeit machen.
Sie müssen eine Frage stellen.
Ich möchte Sie bitten, das Wort „unmoralisch" zurückzunehmen, und ich möchte Sie fragen, ob Sie nicht akzeptieren können, daß man die widerstreitenden Positionen in diesem Konflikt - dies ist ein wirklich ernsthafter Konflikt; er ist historisch wichtig - gegenseitig mit Respekt zur Kenntnis nimmt und das Ganze nicht mit dem Etikett „unmoralisch" belegt.
Frau Kollegin, ich glaube, schon die Länge Ihrer Frage hat gezeigt, wie schwer Sie sich tun. Ich muß Ihnen sagen: Moral ist immer konkret. In dieser Situation, wo es die Chance auf den Frieden gibt, muß sich die ganze Welt beteiligen. Weil sie diese Chance sieht, wäre es unmoralisch, nicht zu helfen, den Frieden auch mit deutschen Soldaten durchzusetzen.
Herr Minister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Volmer?
Ich kann doch nicht die ganze Bandbreite der Grünen bedienen. Herr Kollege Fischer hat sich schon weiter zurückgesetzt, was leider dem Stellenwert seiner Positionen, die er vertritt, in seiner Partei entspricht.
Den Frieden in Bosnien sichern heißt Ende eines blutigen Bürgerkriegs, Ende der Massaker an unschuldigen Zivilisten, Ende der ethnischen Säuberungen, Ende von Terror und Vergewaltigung. So hat es Präsident Clinton den Amerikanern gesagt, der darum ringen muß, 20 000 amerikanische Soldaten einzusetzen. Deswegen habe ich gesagt, es sei eine Frage der Moral, weil all dieses beendet werden kann.
Es geht nicht um Worte, sondern es geht um Taten.
- Ich würde mir wünschen, daß der jetzige Sitzplatz, Herr Kollege Fischer, Ihrer Durchsetzungskraft bei den Grünen am Wochenende auf dem Parteitag entsprechen wird.
- Entschuldigung. Ich sagte, ich würde mich freuen, wenn Sie sich in der Weise durchsetzen können.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin mir der Größe der Aufgabe für unsere Soldaten bewußt. Sie kommen aus verschiedenen Truppenteilen und Garnisonen. Sie müssen in kurzer Zeit zu einem Verband zusammenwachsen. Sie haben eine schwierige Mission zu erfüllen. Das Umfeld birgt Risiken und Gefahren. Das Gelände ist schwierig und unbekannt. Die Witterungsverhält-
Bundesminister Dr. Volker Rühe
nisse sind extrem. Ich habe daher auf die gründliche Ausbildung der Soldaten und Truppenteile, allen voran der militärischen Führer, besonderen Wert gelegt und mich auch davon überzeugt.
Die Frauen und Männer, die in diesen Einsatz gehen, wissen, wofür. Ich denke, die heutige Debatte hat ihnen gezeigt, wofür. Ich bin auch dankbar dafür, daß in der Art und Weise der Debatte deutlich geworden ist, daß wir verstehen, was wir von unseren Soldaten an Einsatz und Risikobereitschaft verlangen. Sie wissen, wofür sie in diesen Einsatz gehen. Sie wollen endlich Frieden sichern und so den notleidenden Menschen helfen. Sie wollen solidarisch zu unseren Bündnispartnern stehen, die schon so oft so viele Opfer, auch für uns, gebracht haben. Ich denke, unsere Soldaten haben die Unterstützung des ganzen Deutschen Bundestages verdient.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Karsten Voigt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hinter uns liegen Krieg, Vertreibung, Mord und Völkermord. Aber heute debattieren wir voller Hoffnung auf ein Ende der Gewalt, voller Hoffnung auf die Chance der Versöhnung nach den Exzessen des Hasses, voller Hoffnung auf Wiederaufbau nach den Jahren der Zerstörung. Aber noch herrscht kein Friede, sondern nur Waffenstillstand. Noch stehen wir erst am Beginn eines gewaltfreien Gegeneinanders und noch lange nicht am Beginn eines friedlichen Miteinanders. Noch brennen in einigen Teilen Bosniens Häuser, während in anderen Teile zurückkehrende Flüchtlinge ihre Häuser bereits wieder bewohnen. Aber die Freude der Rückkehrer auf ihre Heimat wird durch den Blick auf Massengräber in Tränen erstickt.
Europa hat lange Zeit in Bosnien zwar Menschen geholfen, aber es ist gegen Verbrechen und Verbrecher nicht eingeschritten. Dies erinnert uns an unsere Geschichte. Nicht nur wer handelt, sondern auch wer wegschaut, kann Schuld auf sich laden.
Europa hat die Eskalation des Krieges über die Grenzen des ehemaligen Jugoslawien hinaus erfolgreich verhindern können. Aber der Frieden ist erst durch das gemeinsame Engagement der Europäer einschließlich der Russen zusammen mit den Amerikanern gesichert worden. Ich danke unserer Verhandlungsdelegation in Dayton, insbesondere ihrem Verhandlungsleiter, Herrn Ischinger. Ich begrüße die Unterschriften aller Konfliktparteien. Ich würdige die bedeutsamen Beiträge aller Mitglieder der Kontaktgruppe. Mein Dank gilt aber vor allem dem amerikanischen Engagement, wobei aber die Amerikaner begreifen müssen, daß auch sie nur im multilateralen
Team und nicht als unilaterale Einzelkämpfer erfolgreich sein können.
Meine Frage an die Europäer lautet jetzt: Werden die Europäer jetzt bei der Festigung des Friedens erfolgreicher als bei der Verhinderung des Krieges zusammenwirken? Wird Deutschland, unter dem im Zweiten Weltkrieg alle Völker Jugoslawiens leiden mußten und das inzwischen von einigen Völkern des ehemaligen Jugoslawien als Partner und Freund akzeptiert wird, die Kraft besitzen, im Friedensprozeß zum Partner und Freund aller Völker des ehemaligen Jugoslawien zu werden?
Das ist vor allem eine Frage nach unserem Verhältnis zu den Serben. Hunderttausende von ihnen leben friedlich zusammen mit ihren deutschen Nachbarn, wohlgelitten in unserem Land. Ich möchte, daß diese Serben, die hier unsere Nachbarn sind, zu Botschaftern einer guten Nachbarschaft zwischen Deutschland und Serbien werden.
Über 1 Million Kroaten, Serben, Bosnier, Makedonier und Albaner leben in Deutschland friedlich nebeneinander. Sollten wir nicht mehr darüber nachdenken, wie Erfahrungen, die sie hier in unserer demokratischen Gesellschaft sammeln, nach Sarajevo, Belgrad, Zagreb und Mostar vermittelt werden können? Ist das nicht viel wichtiger, als allein darüber nachzudenken, wie man die über 400 000 Flüchtlinge so schnell wie möglich wieder abschiebt?
Ich glaube, wir sollten durch die Art und Weise der Behandlung dieser Flüchtlinge jetzt nicht wieder das zerstören, was wir durch die Freundschaft zu ihnen und die gastliche Aufnahme bei uns bewirkt haben. Sie müssen auch bei der Rückkehr merken, daß wir die Voraussetzungen für ihre Rückkehrmöglichkeit mit zu schaffen versuchen.
Wir Sozialdemokraten werden dem Einsatz der Bundeswehr trotz Bedenken gegen den ECR-Tornado zustimmen, aber wir verlangen, daß mehr Geld für den Wiederaufbau als für die Soldaten ausgegeben wird.
Zur Absicherung des Friedensprozesses in Bosnien-Herzegowina wird die Völkergemeinschaft 60 000 Soldaten in das ehemalige Jugoslawien entsenden. Diese Soldaten gehen ebenso wie Zivilisten ein hohes persönliches Risiko ein. Sie sind nicht Soldaten des Krieges, sondern sie sind Polizisten einer internationalen Friedens- und Rechtsordnung. Sie sind nicht Mörder, sondern sie sollen vor Mord und Völkermord schützen.
Karsten D. Voigt
Ihre Gewaltmittel sind Instrumente der Gegengewalt. Dieses Militär ist als potentielles Sanktionsmittel leider unvermeidlich, damit die Völkergemeinschaft die Einhaltung der Bestimmungen des Friedensvertrages nicht nur anmahnt, sondern notfalls auch gewährleisten kann. Diese Sanktionsmittel werden dann am erfolgreichsten gewesen sein, wenn sie ihre Wirkung erzielen, ohne jemals eingesetzt worden zu sein.
In Bosnien brauchen wir keine Kommißköppe, sondern politisch hochsensible Soldaten, denen bewußt ist, daß ihre Aufgabe nicht der Sieg im Krieg ist, sondern der Sieg des Völkerrechts und der Menschenrechte. Bei einer solch sensiblen Aufgabe muß und - ich bin davon überzeugt - wird sich die Bundeswehr und insbesondere das Konzept des Soldaten als Bürgers in Uniform besser bewähren als jede sich an autoritären Vorbildern vollziehende Ausbildung von Soldaten.
Die Bundeswehr steht nicht nur vor dem größten, sondern auch vor dem risikoreichsten Einsatz ihrer Geschichte. Das sind Risiken für Leib und Leben. Aber es ist auch das politische Risiko von Fehlentscheidungen und Mißerfolg. Die großen Risiken vor Ort tragen die Soldaten, aber auch die zivilen Helfer. Aber wir als Parlamentarier müssen mit unserem Abstimmungsverhalten letzten Endes auch bereit sein, diese Risiken politisch zu verantworten. Niemand soll das auf die leichte Schulter nehmen.
Es ist nicht nur ein großes persönliches Risiko für die in das ehemalige Jugoslawien entsandten Soldaten und Zivilisten, sondern es ist auch ein hohes politisches Risiko für das Bild vom Deutschen und von Deutschland, wenn wir nun zur Unterstützung dieses Auslandseinsatzes die Bundeswehr auf Grund eines Mandats der Vereinten Nationen, aber unter Führung der NATO in ein ehemals von Deutschen besetztes und zerstörtes Land entsenden. Die Ziele dieses Friedenseinsatzes sind eine Antithese zu den Kriegszielen Hitlers. In der Berufung auf ein Mandat der Vereinten Nationen suchen wir die Synthese mit den Friedens- und Völkerrechtsnormen, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Antwort auf die HitlerBarbarei formuliert wurden. Ich persönlich bin davon überzeugt, daß unsere Beteiligung an diesem Friedenseinsatz gemeinsam mit unseren Freunden und Partnern in den Vereinten Nationen und in der NATO trotz aller nicht zu leugnenden Risiken die richtige Antwort auf unsere Geschichte ist,
und zwar deshalb, weil sich Deutschland mit dieser Entscheidung, mit seinen ihm zur Verfügung stehenden zivilen, aber auch militärischen Fähigkeiten nicht primär national, sondern als unterstützender Teil der Völkergemeinschaft definiert.
Als Jungsozialist hätte ich früher mehr pathetisch, mehr martialisch und auch mehr ideologisch gesagt: „Die Internationale erkämpft das Menschenrecht", was in Bosnien heißt: auch das Völkerrecht. Heute sage ich - das bleibt wahr -: Die Zustimmung zu diesem Friedenseinsatz entspricht guten linken, guten internationalistischen und guten sozialdemokratischen Traditionen.
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält jetzt die Abgeordnete Nickels.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte noch einmal auf das eingehen, was Sie gesagt haben, Herr Rühe. Ich stelle fest, daß Sie mir in meiner Einlassung nicht widersprochen haben, daß eine dauerhafte Sicherung des Friedens im ehemaligen Jugoslawien unabdingbar davon abhängt, daß die verfeindeten und sich hassenden Menschen wieder miteinander reden und wieder etwas miteinander tun können. Es erfordert unglaublich viel Mut, wenn Menschen in einer solchen aufgehetzten Atmosphäre nach soviel Blutvergießen und soviel Greuel die Kraft haben, Brücken zu betreten und aufeinander zuzugehen. Das braucht Begleitung. Das braucht Menschen, die das begleiten und initiieren. Es braucht auch viel Geld, damit so etwas zustande kommt.
Ich weise entschieden zurück, wenn Sie das Dilemma, in das wir geraten sind, mit dem Etikett „unmoralisch" versehen. Die Grünen als politische Kraft definieren die Erkenntnisse der Friedensbewegung, daß militärische Gewalt historisch in eine Sackgasse geraten ist, ganz klar. Es ist bei allen Schwierigkeiten, die wir damit haben, unsere Aufgabe, das in die Politik einzupflanzen und in Realpolitik umzusetzen. Sie haben Schwierigkeiten mit der militärischen Verteidigung und damit, den militärischen Einsatz zu zähmen und zu bändigen; das wissen Sie ganz genau. Ich wehre mich ganz entschieden dagegen, daß Sie uns mit dem Etikett „unmoralisch" belegen und dies damit gleichsetzen, wir würden nichts tun. Die Friedensbewegung hat in diesem Konflikt unendlich viel getan. Die Evangelische Frauenhilfe hat den Frauen vor Ort, die vergewaltigt und geschändet worden sind, uneigennützig beigestanden. Es gab viele Spendengelder und wenig öffentliche Mittel, mit denen das gefördert wurde.
Es waren Pax-Christi-Mitglieder, Leute von der „Aktion Sühnezeichen", Leute der internationalen Friedensdienste, junge und alte Menschen, die in die Flüchtlingslager gegangen sind, ohne abgesichert zu sein, ohne einen Rentenanspruch zu haben, wenn ihnen etwas passiert wäre. Diese Leute haben die unabdingbar nötigen Mittlerdienste zwischen den verfeindeten Menschen geleistet. Hier ist gefordert, daß Sie viel mehr finanzielle Mittel geben und etwas tun.
Christa Nickels
Hier ist auch die Bereitschaft aller politischen Parteien und auch der Bundesregierung gefragt, Ansätze, die es schon seit langem gibt, zum Beispiel der Evangelischen Kirche Brandenburg, einen zivilen Friedensdienst einzurichten, zu fördern und solche Dienste außerhalb der Wehrdienstpflicht endlich zu etablieren und die Dienstleistenden finanziell mit den Wehrdienstleistenden gleichzustellen. Das wäre ganz wichtig. Es wird hier viel getan. Sie können der Friedensbewegung nicht das Etikett „untätig", „abseitsstehen" und „unmoralisch" aufkleben. Das weise ich entschieden zurück.
Zur Antwort Minister Rühe.
Frau Kollegin Nickels, die Arbeit, die dort von einzelnen geleistet worden ist, übrigens unter der Gefahr des Krieges, wird von uns allen anerkannt. Aber wir möchten, daß diese Arbeit in Zukunft geleistet wird, ohne daß der Krieg im ehemaligen Jugoslawien tobt.
Es geht nicht darum, die Friedensbewegung insgesamt als unmoralisch zu bezeichnen. Wie käme ich denn dazu? Ich habe gesagt, Moral sei immer konkret. Es kann sehr unmoralisch sein, Soldaten einzusetzen. Dafür gibt es weiß Gott genug Beispiele in diesem Jahrhundert. Aber in dieser konkreten Situation haben alle drei Konfliktparteien die NATO gebeten, eine solche Friedenstruppe zu stellen. Sie sagen: Wir wollen zwar den Frieden, aber wir schaffen es nicht alleine, wir brauchen Hilfe.
In dieser konkreten Situation, in der die Friedenstruppe international legitimiert und von den drei Konfliktparteien erbeten ist, damit der Frieden durchgesetzt wird, wäre es unmoralisch, sich zu verweigern.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Christian Schwarz-Schilling.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Friedensvereinbarung von Dayton ist sicherlich kein Anlaß zu überschwenglicher Freude. Dafür ist den Betroffenen zuviel Unrecht geschehen. Dafür ist das Leid zu groß. Das, was geschehen ist, ist noch lange nicht aufgearbeitet.
Aber sie ist auch nicht Anlaß, nun mit Verbitterung nur Negation zu betreiben. Bedenken wir allein die Tatsache, daß es der erste Waffenstillstand war, der bis heute gehalten hat und zu konstruktiven Friedensverhandlungen echt genutzt werden konnte, daß das Blutvergießen zunächst einmal wirklich eingestellt wurde und daß es bei den furchtbaren Kämpfen gegen die Zivilbevölkerung - mit den Raketen, mit den Splitterbomben -, bei Massenmord, Völkermord, Vergewaltigung und Vertreibungen zumindest eine Pause gibt.
Was Präsident Izetbegovic gesagt hat, ist richtig: Der Friede ist nicht gerecht, aber letztendlich gerechter, als wenn der Krieg fortgesetzt worden wäre. Man fragt sich natürlich, warum dies erst so spät zustande gekommen ist, so daß es 250 000 Tote gab, daß es zur Liquidierung Tausender von Gefangenen und Zivilisten bei Massenerschießungen und in Todeslagern und kürzlich erst zu dem Abgrund von Srebrenica hier in Europa kommen konnte.
Auch der große kulturelle Verlust wiegt schwer, der Verlust von einmaligen historischen Gebäuden, von annähernd 1 000 Moscheen, auch vielen Priestern, von christlichen Kirchen und Klöstern, die nicht etwa von Muslimen, sondern von sogenannten Christen, vor allen Dingen aber von Atheisten zerstört wurden. Dieser Völkermord und diese Kulturbarbarei auf europäischem Boden - wer hätte gedacht, daß 50 Jahre nach der Besiegung der nationalsozialistischen Morddiktatur so etwas überhaupt möglich ist! So haben wir uns schon die Frage zu stellen, wie so etwas überhaupt möglich war. Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen und sagen: Jetzt ist es ja vorbei, wir machen es künftig besser.
Der Westen und insbesondere die Europäer wurden Gefangene ihrer eigenen Täuschungen. Es war nicht irgendein „Bürgerkrieg". Vielmehr gab es einen Aggressor mit einer fanatischen nationalistischen Ideologie, mit einem kommunistisch-militaristischen Macht- und Militärapparat. Die Opfer waren die Bosnier mit ihrer Lebensweise, mit ihrem Vielvölkerstaat. Im Grunde genommen waren wir alle Opfer; denn wir vertreten den Bürgerstaat, den Vielvölkerstaat.
Das haben wir aber nicht zur rechten Zeit begriffen. Vielmehr haben wir geglaubt: Da drüben ist ein Bürgerkrieg, den man möglichst nicht beachtet.
Bosnien ist auch kein muslimischer Staat, Herr Außenminister,
sondern Bosnien ist ein Staat, in dem alle Völkerschaften und Religionen friedlich miteinander gelebt haben und leben wollen.
Die Menschen, Frau Nickels, haben nicht von sich
aus diese fürchterlichen Aversionen gegeneinander,
sondern sie sind von oben, von den Politikern, von
Dr. Christian Schwarz-Schilling
außen, von Aggressoren in diese Hölle hineingezwungen worden.
Wer dort war, der weiß, daß die Menschen friedlich miteinander gelebt haben, leben und leben wollen.
Die zweite Täuschung war, daß wir in einem „Bürgerkrieg" keine Interventionen betreiben dürften. Die Implementierung des Waffenembargos war die größte Intervention, die sich der Westen, die Vereinten Nationen und insbesondere die Nationalstaaten Europas geleistet haben. Es gab keine größere Intervention. Wenn Sie auf der einen Seite dem Betroffenen, der ohne Waffen ist, die Möglichkeit nehmen, sich selber zu verteidigen, und auf der anderen Seite nicht bereit sind, für seine Sicherheit einzustehen, ist das eine untragbare Verletzung der UN-Charta und des Völkerrechts, über die noch zu reden sein wird.
Ich möchte dazu nur eines sagen. Herr Kinkel, ich stimme in weiten Teilen mit Ihnen überein; wir haben darüber gesprochen. Aber zu sagen, die „Kriegsparteien" seien alle bis auf die Zähne bewaffnet, ist falsch. Die Bosnier sind nicht bis auf die Zähne bewaffnet. Sie würden heute ganz andere Möglichkeiten haben, wenn man ihnen dieses Waffenembargo nicht aufoktroyiert hätte. Dann wäre es früher zu der militärischen Balance gekommen, und es hätte weniger Tote, Verwundete und Krüppel gegeben. Das muß man heute auch hier deutlich sagen.
Auch hinsichtlich der Abrüstung bin ich vollkommen Ihrer Meinung. Aber es gehört dazu, daß die Aufhebung des Waffenembargos den bosnischen Serben klarmacht, daß, wenn sie nicht abrüsten, auf der anderen Seite aufgerüstet wird. Nur durch diesen Druck kann es überhaupt Aussicht auf eine Abrüstung geben. Insofern sind die Amerikaner auch in dieser Hinsicht wieder klüger; denn sie schließen Abrüstung und Waffenembargo nicht gegeneinander aus, sondern benutzen sie als eine sinnvolle Doppelstrategie.
Ich wünsche mir sehr, daß wir diese richtige Überlegung der Amerikaner gerade bei der Moderation der Abrüstungsgespräche sehr beachten; denn wenn die NATO in einem Jahr abzieht, müssen die Bosnier in der Lage sein, ihren Staat allein verteidigen zu können. Wenn die Serben nicht abrüsten, ist das aber nur möglich, wenn den Bosniern rechtzeitig die Möglichkeiten der Verteidigung an die Hand gegeben werden.
Meine Damen und Herren, die dritte Täuschung war das falsche Mandat der UN. Von Europa wurde vorwiegend vertreten, Frieden da zu bewahren, wo es keinen Frieden gab. Nie wieder sollten Politiker Soldaten in eine solche Zwangssituation bringen. Dabei denke ich insbesondere an die niederländischen Blauhelme. Nicht sie sind schuld, sondern die Politiker, die sie in eine Lage hineingebracht haben, die unvertretbar ist.
Insofern kann ich nur sagen: Gott sei Dank haben wir für unsere Bundeswehr ein richtiges Mandat - entsprechend der Realität und mit der Klarheit, die der Verteidigungsminister hier ausgesprochen hat.
Dayton bedeutet dennoch eine gewaltige Zäsur. Angesichts dessen, was sich noch vor einigen Monaten abgespielt hat - 70 Prozent des Landes waren von den Serben besetzt, die überwältigende Kraft war also auf dieser Seite -, ist es fast wie ein Wunder, daß sich das so schnell ändern konnte. Was waren die Voraussetzungen dafür?
Erstens - auch das muß man hier einmal sagen -: Die Kroaten und Bosnier haben sich selber geholfen, indem sie in der Föderation bei der Befreiung von Bihac und bei der Rückeingliederung der Krajina erstmals militärisch zusammen gekämpft haben. Letzteres mag - auch ich sehe das so - mit sehr vielen bösen Dingen verbunden gewesen sein. Die Kriegsverbrecher müssen auch hier in Kroatien genauso zur Rechenschaft gezogen werden, wie das bei den anderen der Fall ist.
Es war diese Aktion, die Bihac vor dem Tod gerettet hat; denn Bihac hätte das gleiche Schicksal wie Srebrenica gehabt, wenn sie nicht in die Offensive gegangen wären. Denn wir haben bei der Offensive gegen Bihac nicht eingegriffen, weder durch die UNO oder NATO noch sonstwie.
Zweitens. Die harte Gangart des französischen Präsidenten - der Verteidigungsminister hat schon darauf hingewiesen - hat eine entscheidende Wende herbeigeführt. Durch die Verstärkung mit der schnellen Eingreiftruppe hat auch in Europa endlich ein Umdenken begonnen. Das Wichtigste aber war das Erwachen der USA. Die Weltmacht mußte ihre Führungsrolle wieder wahrnehmen, auch gegenüber Europa.
Wir dürfen eines nicht vergessen: Christopher, der Außenminister der USA, hat im Mai 1993, als er durch Europa fuhr, gesagt: Aufhebung des Waffenembargos, damit wir recht schnell ein Gleichgewicht bekommen! Militärschläge durch die Luftwaffe gegenüber den belagerten Städten! - Darauf haben wir gesagt: Nein, nein, laßt das bloß bleiben! Wir holen den Frieden um die Ecke ab. Lord Owen ist schon unterwegs!
Das war eine der schlimmsten Entscheidungen der Europäer. Sie hat Tausenden von Menschen das Leben gekostet. Damit nämlich haben wir den Krieg nicht um zwei Jahre verkürzt, sondern um zwei Jahre verlängert. Auch das muß hier einmal gesagt werden. Insofern haben die Amerikaner schon ein Recht darauf, zu sagen: Jetzt nehmen wir die Sache in die Hand. Sie haben sie so in die Hand genommen, wie man das als Führungsmacht tun muß.
Dr. Christian Schwarz-Schilling
Sie betrieben eine kluge Mischung von diplomatischer Offensive und Einsetzung der Machtmittel, die dem westlichen Bündnis zur Verfügung stehen. Es gibt eben nicht diesen unsäglichen Gegensatz, von dem wir immer reden: Wir sind für „die politische", nicht für „die militärische Lösung". Es ist genau umgekehrt richtig: Gerade durch die dienende Funktion - das haben Sie, Herr Verheugen, gesagt -, militärische Drohungen auch tatsächlich wirksam werden zu lassen, konnten politische Lösungen erarbeitet werden. Diese beiden Dinge als Gegensätze zu sehen ist die Crux europäischer Diplomatie. Die Amerikaner haben dies endlich wieder richtiggestellt.
Meine Damen und Herren, wenn sich die Amerikaner in Berlin so verhalten hätten, dann hätten wir heute kein freies Berlin. Die Garantie, selbst mit einem Atomschlag einzutreten, wenn Berlin angegriffen wird - das wäre ein Angriff auf die Vereinigten Staaten gewesen -, hat dazu geführt, daß kein Schuß gefallen ist und Berlin überlebt hat. Das ist doch die Wirklichkeit.
Was Dayton gebracht hat, haben wir hier schon besprochen. Ich möchte darauf nicht weiter eingehen; der Außenminister hat das sehr deutlich gesagt. Ich möchte nur auf zwei Punkte hinweisen.
Erstens. Wir haben in einem Zeitraum von bis zu neun Monaten freie und geheime Wahlen. Es wird darauf ankommen, daß diese Wahlen nicht zur Legitimierung der Vertreibung werden.
Das heißt, daß Hunderttausende von Vertriebenen und Flüchtlingen an diesen Wahlen in ihren Kommunen teilnehmen können.
Für die Bundesregierung bedeutet dies zweierlei: zum einen die Möglichkeit, die Wahl auch hier zu gestatten, wobei es noch einige legale Schwierigkeiten gibt - das muß rechtzeitig veranlaßt werden -, zum anderen, daß diejenigen, die in ihre Heimatorte gehen, auf diese Weise nicht die Duldung in Deutschland verwirken, so daß sie sozusagen gleichzeitig abgeschoben werden. Das kann nicht der Sinn freier und geheimer Wahlen durch diese Menschen in ihrem leidgeprüften Land sein.
Hier muß eine Anpassung erfolgen. Wir können eine Duldung nicht so praktizieren, wie es im Moment geschieht.
Zweitens. Hinsichtlich der Flüchtlingsfragen möchte ich mich voll dem anschließen, was Karsten Voigt gesagt hat: Es kann nicht wahr sein, daß wir meinen, hier gehe es um ein Abschiebedatum. Die
Flüchtlingsrückführung ist ein Prozeß mit sehr vielen klugen Voraussetzungen.
Ich bin froh, daß in dem Abkommen von Dayton viele Dinge, über die wir früher in der Föderation verhandelt haben, wörtlich übernommen worden sind und damit entsprechende Möglichkeiten einer solchen Kommission mit internationaler Begleitung gegeben sind. Ich hoffe, daß wir das nutzen werden.
Lassen Sie mich noch etwas zu den Menschenrechtsvereinbarungen sagen. Meine Damen und Herren, wir müssen verstehen, daß diese Vereinbarungen für viele noch nicht überschaubar sind. Letzten Sonntag gab es ein europäisches Forum der Flüchtlinge in Frankfurt. Dort schrie ein Mann laut auf und sagte: Ich soll nach Prijedor zurückkehren, um dort zu wählen? Dort laufen noch 500 Kriegsverbrecher und Völkermörder frei herum, die unsere Einwohner systematisch umgebracht haben! Und ich soll dorthin gehen und angsterfüllt meinen Wahlzettel abgeben? Wie stellen Sie sich das vor?
Es wird eine Nagelprobe für die westliche Staatengemeinschaft sein, zu sehen, daß den Menschen Gerechtigkeit widerfährt, und zu merken, daß Recht und Ordnung wieder auf der Seite der Menschenrechte und des internationalen Rechts stehen. Die Menschen müssen schneller wieder Vertrauen bekommen. Das ist die Voraussetzung. Aber wenn diese Ordnung nicht hergestellt wird, dann kann man kein Engagement für den Rechtsstaat verlangen, denn die Menschen haben zu Schlimmes erlebt. Wer hätte sich denn in Srebrenica, nachdem die Menschen schon zweimal geflohen waren und es zu einer UN-Schutzzone erklärt worden ist, je vorgestellt, wie sie dort unter Zuschauen der westlichen Länder abgeschlachtet wurden! Sie wissen, daß die Anforderungen an die NATO-Luftschläge einfach abgelehnt worden sind.
Meine Damen und Herren, die Wiederaufbauhilfe ist einer der wichtigsten Punkte. Ich stimme hier voll mit anderen überein. Ich glaube, es ist nicht nur eine Frage des Geldes. Gehen wir bitte an die Sache heran mit weniger Bürokratie, mit mehr Phantasie und mit mehr Menschlichkeit!
Das ist das Allerwichtigste. Wenn wir das praktizieren, dann werden wir auch den guten Klang, den Deutschland in diesen Fragen hat, bewahren, auch wenn sich dort jetzt von internationaler Seite her alles tummelt, wahrscheinlich weniger beim Fördern und Helfen als beim Geschäftemachen.
Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Wir sollten uns freuen, daß Präsident Clinton in seiner großen Rede wieder an die amerikanischen Tugenden der amerikanischen Geschichte angeknüpft hat. Er wollte diese Werte wieder in den Mittelpunkt stellen. Er sagte allerdings, daß er die Werte natürlich auch für
Dr. Christian Schwarz-Schilling
Mitteleuropa wiederhergestellt hat und daß das im vitalen Interesse der Vereinigten Staaten ist. Keine gute Note für Europa.
Deswegen kann ich nur sagen: Wir müssen den Konsens auch in der geistigen Übereinstimmung unserer Werthaltung und unserer politischen Ziele wiederfinden. Es geht nicht nur um materielle Interessen, um nationale Interessen, um europäische Interessen; es geht darum, daß wir wieder an unsere Tugenden und unsere Ideale anknüpfen, die uns die 50 Jahre Frieden gemeinsam mit den Vereinigten Staaten gebracht haben.
An dieser Stelle möchte ich genau das wiederholen, was der Außenminister und der Verteidigungsminister gesagt haben: Wir müssen die Ideen zu unserem Menschenbild wieder ernst nehmen, bis zum vollen Engagement. Jede Generation muß sich darüber im klaren sein, daß sie, wenn sie nicht bereit ist, Frieden und Freiheit zu verteidigen, diese Werte verlieren wird, egal, wo diese nicht verteidigt werden. Sie sind unteilbar.
Aus diesem Grunde habe ich die Hoffnung, daß Dayton einen Weg zu einer besseren Zeit im 21. Jahrhundert darstellt, nachdem das 20. Jahrhundert nun auch an seinem Ende wieder in Abgründe geführt hat.
Lassen Sie mich zum Schluß daran erinnern: Es gibt eine Inschrift am Eingang des HolocaustMuseums, das im April 1993 in Washington eröffnet wurde, gerade zu der Zeit, als die schlimmsten Dinge in Bosnien passierten und der Präsident darauf aufmerksam gemacht wurde und deswegen Außenminister Christopher nach Europa geschickt hat. Dort heißt es:
Aus der Erfahrung des Holocaust heraus müssen wir mit allen zivilisierten Völkern einen heiligen Eid schmieden, daß die Welt niemals wieder schweigend zuschaut, daß die Welt niemals wieder versäumt, zur rechten Zeit zu handeln, um das schreckliche Verbrechen des Völkermords zu verhindern.
Am Ende dieses Jahrhunderts haben wir dieses Versprechen nicht gehalten. Ich möchte hoffen, daß Dayton den Weg dazu ebnet, daß künftige Generationen diesem Wort klaren Auges entgegensehen können und das 21. Jahrhundert dadurch geprägt wird.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ludger Volmer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir alle sind über den Friedensschluß von Dayton erleichtert. Er bietet die Chance, daß das grauenhafte Morden endgültig beendet wird. Wir alle sollten uns so intensiv wie möglich dafür engagieren, daß die Friedensperspektiven, die in Dayton vorgezeichnet sind, umgewandelt werden in einen selbsttragenden Friedensprozeß, der die militärische Begleitrolle, die heute geplant ist, immer geringer ausfallen läßt.
Wir möchten darauf hinweisen, daß Dayton einige Probleme beinhaltet, in deren Bearbeitung wir mit der Bundesregierung bestimmt keine generellen Differenzen haben werden, sondern vielleicht graduelle Unterschiede sehen. Das betrifft die Bearbeitung der Probleme, wie denn die Staatsbürgerschaft definiert werden kann, wie die Wahlen organisiert werden können, wie die Flüchtlingsfrage sowie die Minderheitenfrage geklärt werden und einiges andere mehr. Darüber werden wir noch viel diskutieren, aber uns nicht im Grundsatz streiten müssen.
Es gibt jedoch ein Grundproblem im Vertrag von Dayton, das uns sehr, sehr skeptisch stimmt. Das ist der Grundwiderspruch zwischen der Aufrüstung in der Region, die auf der einen Seite zugelassen wird, und auf der anderen Seite dem Willen, militärische Kräfte dorthin zu schicken, die stark genug sind, um in jeder Phase der Aufrüstung noch stärker zu sein als die dort immer noch vorhandenen bewaffneten Nationalstaaten. Das ist ein außerordentlich großes Problem, selbst wenn man sagt, daß es Rüstungskontrollverhandlungen geben soll, die bestimmte Obergrenzen festlegen. Wir sehen bei den KSE-Verhandlungen bei der Festlegung von Rüstungsobergrenzen für das heutige Europa, daß fast alle Nationalstaaten mit ihrer Rüstung unterhalb dieser Obergrenzen liegen; aber die beiden europäischen Staaten, die im massiven politischen Konflikt miteinander stehen, nämlich Griechenland und die Türkei, liegen weit darüber.
Deswegen haben wir überhaupt keinen Optimismus, daß in dem Moment, in dem das Waffenembargo aufgehoben wird und Aufrüstung über den Waffenmarkt zugelassen wird, die Politik diesen fatalen Prozeß über Rüstungskontrollverhandlungen
wieder einholen kann.
Das ist ein Strukturdefekt in der gesamten DaytonPragmatik.
Sie werden gezwungen sein, die Waffen, die Sie jetzt wieder liefern lassen, später mit Militär einzusammeln, weil völlig offen ist, ob der selbsttragende Friedensprozeß, von dem wir alle hoffen, daß er stattfindet, überhaupt implementiert werden kann. Denn vieles davon ist bis jetzt reine Absichtserklärung, und weniges ist in Mechanismen eingegossen, denen man Funktionsfähigkeit unterstellen darf.
Es gibt ein zweites gravierendes Problem: Was passiert denn eigentlich nach einem Jahr, wenn das IFOR-Mandat ausläuft und dieser selbsttragende Prozeß nicht in Gang gekommen ist und die US-Soldaten abziehen?
- In dem Moment werden Waffen geliefert, wie Sie,
Herr Verheugen, gerade sagen. Die Gerüchte neh-
Ludger Volmer
men doch zu, daß in diesem Moment das neue EuroCorps an die Stelle der US-Truppen treten soll, ein Euro-Corps, an dem die Bundesrepublik sehr stark beteiligt ist. Ich frage mich, mit welcher moralisierenden Argumentation der Verteidigungsminister der Opposition dann die Pistole auf die Brust setzen wird, um einen über internationale Truppen weiter erhöhten deutschen Waffeneinsatz auf dem Balkan einzufordern. Auch dies stimmt uns mehr als skeptisch.
Wir begrüßen im Prinzip, daß sich die Bundesrepublik auch an der Wahrnehmung der Ordnungsfunktionen beteiligt. Sie wissen, daß wir darüber eine intensive Debatte in unserer Partei führen. Aber für viele von uns gibt es Grenzen.
Wir stimmen zu, wenn Sie Sanitätshilfe geben; wir stimmen zu, wenn Sie Transporthilfe geben; wir stimmen zu, wenn Sie die Infrastruktur aufbauen. Die Grenze ist für uns da gegeben, wo eindeutig ein militärischer Kampfauftrag erteilt wird. Dieser ist abzusehen; er ist nicht nur bei den Tornados abzusehen. Denn die Einsatzbeschränkungen, die bei den ECR- Tornados in der UNPROFOR-Mission gegeben waren, sollen jetzt völlig wegfallen. Die ECRs sollen die gesamte NATO-Strategie tragen können.
Ferner gibt es in der Kabinettsvorlage eine Klausel, nach der es möglich sein soll, beliebig viele und beliebig bewaffnete Truppen nachzuziehen, wenn es die Situation denn erfordert. Es ist eine kleine, unscheinbare Klausel; aber sie eröffnet der Bundesregierung die Möglichkeit, so viele Truppen und so stark bewaffnete Truppen, wie sie nur will, nachzuziehen. Das halte ich für außerordentlich problematisch. Hier gibt es gar keine vorweggenommene Einsatzbegrenzung mehr, sondern Sie wollen quasi einen Vorratsbeschluß durch das Parlament, der jede beliebige Einsatzstärke im vorhinein legitimiert. Darüber werden wir uns sehr kritisch unterhalten müssen.
Ein weiterer Punkt: Wer definiert denn eigentlich den deutschen Beitrag? Laut UNO-Charta kann jedes einzelne Mitgliedsland seinen Beitrag selbst definieren. Über den Mechanismus, der in Dayton gefunden worden ist, wird allerdings die NATO als Friedensgarantin eingesetzt, und der deutsche Beitrag leitet sich aus der Strategieplanung der NATO ab. Ich frage mich in diesem Zusammenhang: Welche Möglichkeiten hat das Parlament dann eigentlich noch, Einfluß zu nehmen? Warum führen wir diese Diskussion hier noch? Das Bundesverfassungsgericht verlangt dies. Aber wo sind in der Substanz die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Opposition? Die Regierung hätte gerne unsere Zustimmung; sie wird sicherlich auch Teile der Opposition auf ihre Seite ziehen. Aber es gibt sehr, sehr viel Skepsis.
Wenn der Bundesregierung wirklich daran gelegen ist, größere Teile der Opposition von der Richtigkeit ihrer Politik zu überzeugen, müßte sie sich auf einen Diskussionsprozeß über einzelne Mechanismen in ihrer Kabinettsvorlage einlassen, die man durchaus anders beurteilen kann.
Deshalb sage ich, Herr Rühe: Es gibt einen ganz eindeutigen und nicht wegzudefinierenden Unterschied bei der Frage, worüber eigentlich abgestimmt wird.
Der Bundestag wird nicht über den Dayton-Friedensvertrag abstimmen. Der Bundestag wird über die Kabinettsvorlage zur Gestaltung des deutschen Beitrags abstimmen. Das sind zwei grundsätzlich unterschiedliche Fragestellungen. Man kann mit großer Leidenschaft den Friedensvertrag verteidigen und dennoch massive Skepsis gegenüber dem Beitrag äußern, wie ihn das Bundeskabinett formuliert hat.
Diese Freiheit werden wir uns nehmen. Den gleichen Respekt, den wir den Teilen der Opposition entgegenbringen, die meinen, sie müßten zustimmen, erwarte ich auch denen gegenüber, die die skeptische Haltung nicht nur verbal äußern, sondern eventuell auch im Abstimmungsverhalten sichtbar machen.
Deshalb noch ein letztes Wort zu Ihren Bemerkungen, Herr Rühe: Es ist nicht mehr die Zeit, sich die gesamte Konfliktgenese anzuschauen. Aber manches muß man noch festhalten. Es waren doch insbesondere die Kräfte der Friedensbewegung, die sehr frühzeitig gesagt haben: Schaut euch den Balkan an. Da spitzt sich ein heißer Konflikt zu. - Sie haben nicht auf uns gehört.
Es waren die Kräfte der Friedensbewegung, die gesagt haben: Es muß der politische europäische Wille dasein, dort von Anfang an massiv politisch einzugreifen. - Sie haben nicht gehört.
Wir haben gefordert, daß konsequente Wirtschaftssanktionen eingesetzt werden. Sie haben nicht gehört. Nun, da das Kind in den Brunnen gefallen ist, sollen wir auf Sie hören und Ihre Politik legitimieren. Das ist etwas zuviel verlangt.
Wir tun das ja. Wir machen uns Gedanken. Wir machen uns Gedanken, wie eine Politik, die nicht nach unserer Logik verlief, sondern nach Ihrer Logik, die Sie mit zu verantworten haben und die zu dem Desaster beigetragen hat, nun zu beenden ist.
Herr Rühe, in einer Zeit, in der sich große Teile der Friedensbewegung leidenschaftlich darüber unterhalten, wie sie die Fehler, die Sie und Ihre Regierung in der Vergangenheit gemacht haben, in der jetzigen Situation ausbügeln helfen können, wäre von Ihrer
Ludger Volmer
Seite aus Demut angesagt und nicht Häme und Hohn gegen die Friedensbewegung.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Irmgard Schwaetzer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dayton war ein Kraftakt, aber die Zukunft wird ungleich schwieriger sein, und zwar für alle Beteiligten, für diejenigen, die sich entschlossen haben, den Frieden miteinander zu versuchen, die sich entschlossen haben, den Frieden miteinander zu gestalten, aber auch für diejenigen, die aufgerufen sind und selbstverständlich an der Seite der ehemaligen Konfliktparteien stehen müssen, um den Frieden zu gestalten. Das ist unsere Aufgabe.
Deswegen, Herr Volmer, habe ich für die Ausführungen, die Sie hier gemacht haben, weil sie in bezug auf das gesamte Spektrum dessen, was hier auf dem Spiele steht, so unangemessen sind, eigentlich nur die Erklärung, daß Sie schon einmal für den Parteitag geübt haben, wie Sie dort Ihrem Fraktionsvorsitzenden Paroli bieten wollen.
Ihnen ist wohl auch kein Argument zu schade, selbst nicht das Argument des Mißtrauens gegenüber diesem Parlament. Die Bundesregierung wird keinen Soldaten ohne Zustimmung dieses Parlaments irgendwo ins Ausland schicken, ohne daß das gründlich diskutiert und erwogen und dann auch entschieden worden ist.
Deswegen verstehe ich Sie nicht. Ihnen ist offensichtlich kein Argument zu schade.
Worüber hier abgestimmt wird, ist ja wohl klar. Deswegen stimmt Herr Fischer auch zu, der schon frühzeitig Anschluß an die Realität gesucht und gefunden hat.
- Etwas später als ihr, das ist wahr, aber vielleicht doch noch frühzeitig genug.
Natürlich ist nach einem Jahr auch Bilanz zu ziehen, meine Damen und Herren, aber dieses eine Jahr muß in der Tat dafür genutzt werden, daß die ehemaligen Konfliktparteien miteinander ins Gespräch kommen - das ist richtig -, daß die Infrastruktur wieder aufgebaut wird, daß überhaupt erst Frieden möglich ist. Frieden ist nur möglich, wenn Vorurteile überwunden, wenn Toleranz gezeigt wird.
All dies geht und ginge nicht, wenn nicht eine starke Friedenstruppe vor Ort stationiert ist. Es ist doch eine Illusion, zu glauben, daß sich alle diejenigen, die den Friedensprozeß nicht wollen, zurückhalten würden, nur weil irgendein Dokument unterzeichnet worden ist. Es braucht eine solche Implementierungstruppe.
Die Voraussetzung für den Frieden ist allerdings auch, daß in Bosnien-Herzegowina eine mulitethnische und multireligiöse Gesellschaft entsteht, daß ein Staat entsteht, eine Demokratie entsteht, die auf diesen Voraussetzungen und Strukturen aufgebaut ist.
Eine funktionierende Demokratie respektiert Religionen, respektiert Minderheiten, aber sie muß auch Respekt verschaffen für die Minderheiten. Hier ist in der Tat in der Vorbereitung der Wahlen, in der Vorbereitung der endgültigen Verfassung noch eine resige Aufgabe, für die selbstverständlich auch die OSZE gefordert ist.
Die Tradition der Region ist eben nicht, einen religiösen Staat zu haben, sondern die Tradition der Region ist, einen laizistischen Staat zu haben, in dem allerdings der Schutz der Religionen gewährleistet ist. Das müssen wir durchsetzen helfen.
Ein Thema, dem sich alle heute nur sehr verhalten und in allgemeinen Erklärungen genähert haben, ist das Thema der Kriegsverbrecher. Wir werden sehr bald sehen, meine Damen und Herren, daß wir gefordert sind, hier konkretere Schritte zu unternehmen. Wie sollen wir den Angehörigen der Mordopfer von Srebrenica gegenübertreten, wie sollen wir den vergewaltigten Frauen gegenübertreten, wenn wir nicht dafür sorgen können, daß Kriegsverbrecher tatsächlich ihrer verdienten Strafe zugeführt werden?
Hier gibt es eine Verpflichtung im Dayton-Abkommen, aber es gibt noch keinerlei Ansatzpunkte dazu, wie diese Verpflichtung auch umgesetzt werden kann. Hier bitte ich die Bundesregierung nachdrücklich, bei den Verantwortlichen der Friedensparteien weiterhin auch dafür Sorge zu tragen, daß sie ihren Einfluß wahrnehmen, damit Kriegsverbrecher tatsächlich dem Haager Tribunal zugeführt werden. Hier geht es um eine Nagelprobe auf die Glaubwürdigkeit der internationalen Menschenrechtspolitik. Sollten wir diese Nagelprobe nicht bestehen, gibt es wieder Anlässe für neue Konflikte.
Es ist auch eine Frage der Menschlichkeit, eine sichere und schnelle Rückkehr der Flüchtlinge zu garantieren. Ich sage hier den Grünen noch einmal: In Dayton ist das Prinzip der schnellen Rückkehr von allen gewünscht und festgeschrieben worden. Das ist auch im Interesse derer, die in ihre Heimat zurückkehren wollen. Aber es müssen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß diese Rückkehr sicher gestaltet werden kann. Deswegen muß das Sekretariat schnellstens eingerichtet werden, das Informationen über Vertriebene, Geflohene und Vermißte sam-
Dr. Irmgard Schwaetzer
melt und an Interessierte weitergibt, und deswegen muß die Bundesregierung sofort geeignete Rückkehrprogramme vorbereiten und auflegen, damit diese sichere Rückkehr erfolgen kann.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Nickels?
Ja, bitte.
Frau Schwaetzer, stimmen Sie mit mir überein, daß das Wörtchen „schnell" nicht bedeuten darf, daß die Menschen in Gebiete zurückgeschickt werden, in denen es keine Infrastruktur mehr gibt, und daß umgekehrt es angezeigt wäre, für die Zeit, in der die Flüchtlinge hoffentlich noch bei uns sein dürfen, hier im Rahmen der Aufbauhilfe für das dann friedlich werdende Jugoslawien Ausbildungsmöglichkeiten für die Jugendlichen und andere Qualifizierungsprogramme für die Flüchtlinge aufzulegen?
Daß es eines Rückkehrpogrammes auch der Bundesregierung bedarf, ist doch überhaupt keine Frage. Natürlich, dazu bekennt sich auch die Bundesregierung. Das wird auch geschehen, das muß geschehen. Aber es kann ja nicht sein, daß eine solche Rückkehr erst dann vorbereitet und durchgeführt wird, wenn auch die letzte Infrastruktur wiederaufgebaut sein wird, was viele Jahre in Anspruch nehmen wird. Überhastung darf es nicht geben.
Richtig ist auch, was hier der Kollege SchwarzSchilling angesprochen hat. Wir erwarten vom Innenminister, daß er entsprechende Regelungen vorbereitet, die es ermöglichen, daß diejenigen, die hier bei uns leben, an den Wahlen, die in sechs bis neun Monaten stattfinden, sicher teilnehmen können, ohne ihren Aufenthaltsstatus in der Bundesrepublik Deutschland zu verlieren. Das muß einfach sein, und wir erwarten entsprechende Schritte des Innenministers.
Ich kann nicht nachvollziehen, was Sie, Herr Verheugen, eben in Ihrem Beitrag unterstellt haben, daß nämlich die Bundesregierung am zivilen Aufbau kein Interesse habe und auf diesem Gebiet nicht entschieden arbeite. Wer sich allein die Programme der Treffen der Außenminister, der Verteidigungsminister, der Finanzminister vor Weihnachten ansieht, muß feststellen, daß hier in der Tat die notwendigen Dinge sofort in Angriff genommen werden. Die Geberkonferenz Mitte Dezember in Brüssel, die Londoner Konferenz, die Einsetzung eines hohen Repräsentanten, die Vorbereitung von Wahlen in sechs bis neun Monaten als Auftrag an die OSZE genauso wie die Vorbereitung einer internationalen Polizeitruppe, die entscheidend dafür ist, den Frieden auch mit den Kräften vor Ort zu garantieren, all dies zeigt ja schon, daß die notwendigen Dinge in Angriff genommen worden sind.
Es muß ein multilaterales Hilfsprogramm, an dem vor allen Dingen die Europäische Union, die USA, Rußland und die islamischen Staaten beteiligt sind, geben. Aber was mir bisher fehlt, ist die Diskussion und die Verpflichtung der Europäischen Union, Partnerschaft über das Kriegsgebiet hinaus zu üben.
Wir haben im Frühsommer einen Antrag der Grünen debattiert, ein Angebot auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union zur Beendigung des Krieges zu unterbreiten. Da haben wir alle gesagt, daß es das nicht sein könne; wer Krieg führen wolle, werde mit einem solchen Programm nicht Frieden machen. Jetzt, wo die Voraussetzungen gegeben sind, daß Frieden geschaffen werden kann, ist es an der Zeit, daß die Europäische Union Verträge mit allen Nachfolgestaaten mit der Perspektive eines Beitritts zur Europäischen Union abschließt, wie auch mit anderen Staaten dieser Region schon früher geschehen. Deswegen, meine Damen und Herren, ist das ein Punkt, der über das eigentliche Kriegsgebiet hinaus noch verwirklicht werden sollte.
Insgesamt gibt es eine Chance auf Frieden, aber es ist bisher eine Chance, die noch sehr, sehr viel Mut und Kraft von allen Beteiligten bis zu einem tatsächlichen Frieden in dieser Region erfordert, der für das Überleben unseres Kontinents, für Menschenrechte und Demokratie auf unserem Kontinent entscheidend ist.
Danke schön.
Es spricht jetzt der Abgeordnete Gerhard Zwerenz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da meine Kollegin Andrea Lederer nicht 121/2 Minuten sprechen durfte, sondern nur zehn Minuten, komme ich in den Genuß, die 21/2 Minuten noch nachliefern zu dürfen. Ich werde versuchen, mich in den Sätzen kurz zu fassen.
Wenn man etwas älter ist und ein etwas ungemäßes Leben geführt hat, weiß man nicht mehr genau, wie viele Verteidigungsminister man durchlebt habt. Ich kann mich an die einzelnen Verteidigungsminister meines Lebens jedenfalls nicht genügend genau erinnern. Ich weiß nur eines: Jeder Verteidigungsminister hat sich nicht auf eine Verteidigung innerhalb der Landesgrenzen eingerichtet, sondern es wurde stets außerhalb der Landesgrenzen verteidigt. Das sind ja seltsame Verteidigungsministersitten, die wir da haben!
- Es tut mir leid, ich kann auf Zwischenrufe nicht eingehen, ich habe ja nur 21/2 Minuten.
Der jetzige Verteidigungsminister Rühe ist davon ausgegangen, daß Verweigern unmoralisch sei. Ich bin erst ein Jahr in diesem Hause, aber ich weiß noch sehr genau, daß er die Devise ausgegeben hat, deutsche Soldaten in Jugoslawien wären nicht eine
Gerhard Zwerenz
Lösung, sondern ein Teil des Problems. Welchem Verteidigungsminister soll ich nun glauben, dem von vor einem halben Jahr oder dem von heute? Das ist schließlich auch eine Frage des Zutrauens.
- Es tut mir leid, auch Zurufe von den Grünen kann ich im Moment nicht akzeptieren; ich muß pausenlos durchsprechen, ich will mich hier artikulieren.
Es gibt von meinem Freund Karsten Voigt - -
- Wir haben eine gute, große gemeinsame Vergangenheit, und da waren die Fronten noch klarer, als sie heute sind. Es gibt gewisse Annäherungen, die bestimmte Leute wie ich jedenfalls nicht mitmachen.
Aber, mein lieber Karsten - er ist ja hier, sehe ich -, wenn es eine gute SPD-Tradition ist, gewissermaßen den Kriegskrediten zuzustimmen - du verstehst, was ich meine -, dann will ich damit in aller Kürze sagen: Es gab stets zwei gute sozialdemokratische Traditionen, und eine Tradition hat zu etwas geführt, was wir am besten nicht mehr so genau und so laut sagen. Da gab es nämlich in der Tat im Ersten Weltkrieg die Tradition der Zustimmung zu den Kriegskrediten, und dann gab es die Teilung: Liebknecht einerseits und Noske andererseits. Wir möchten, daß das auf alle Ewigkeit nicht wiederkehrt. Deswegen wird es so schwierig, wenn wir uns hier miteinander unterhalten müssen.
Herr Kinkel, der Außenminister, will keinen Mantel des Vergessens über das, was in Jugoslawien geschehen ist, breiten. Einverstanden! Versöhnung geht nicht ohne Wahrheit. Aber es soll hier vergessen werden - das haben Ihre Reaktionen auf das, was die Grünen gesagt haben, gezeigt -, daß in der Tat die Friedensbewegung jahrelang ganz einsam, ganz allein versucht hat, in Jugoslawien Frieden zu stabilisieren.
Eine einzige Friedensgruppe hat privat 1991/1992 7 Millionen DM gesammelt, hat in Jugoslawien Friedensmärsche organisiert, hat die Mütterbewegung geschaffen. Alles dies ging im Maße des Anwachsens des Nationalismus zugrunde. Insbesondere Sie von der rechten Seite, meine wenigen Damen und vielen Herren, müssen sich einmal überlegen, was das für eine Gesellschaft ist, die Sie da schaffen wollen, wenn der Übergang von einem Sozialismus, der keiner war, ein Übergang zu einer Demokratie wird, die keine ist, weil Kriege dazwischengeschaltet werden. Weshalb entstehen denn diese Kriege? Das sollten Sie sich einmal überlegen. Wir, die Gruppen der Friedensbewegung sind jedenfalls nicht daran beteiligt gewesen. Lassen Sie mich noch eines sagen.
Nein, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Das Massaker von Srebrenica, auf das Herr Rühe - -
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist schon überzogen.
Ich bin schon am Ende, wird mir gesagt.
Es tut mir furchtbar leid, aber Sie können sicher sein: Sie hören in dieser Frage noch von mir.
Für die PDS kann ich sagen: Wir sind der Meinung, die der Verteidigungsminister vor einem halben Jahr gehabt hat: Ein deutscher Soldat - jeder deutsche Soldat - in Jugoslawien ist keine Lösung sondern ein Teil des Problems. Sie werden das noch sehen und bereuen.
Das Wort zur Kurzintervention erhält der Abgeordnete Voigt.
Drei kurze Bemerkungen.
Erstens. Es ist interessant, daß Gerhard Zwerenz, der sich selber als Antikommunist bezeichnet, die alte kommunistische These vom Verrat der Sozialdemokraten im Ersten Weltkrieg wieder aufwärmt.
Zweitens. Es ist prinzipiell ein Unterschied, ob man wie Wilhelm II. imperialistische Ziele verfolgt und wie Hitler einen Aggressionskrieg betreibt oder ob man wie die Alliierten die KZs befreit, damit Deutschland befreit sein konnte, weil es sich nicht selber befreien konnte.
Diesen prinzipiellen Unterschied zwischen dem Einsatz bewaffneter Gewalt zur Herstellung von Menschenrecht und Völkerrecht oder zur Unterdrükkung von Menschen kennen Leute, die aus der Befreiungsbewegung kommen, sehr genau.
Drittens. Karl Kautsky hat 1937 im Prager Exil die Alliierten aufgefordert, gegen Deutschland frühzeitig zu intervenieren. Daß die internationale Völkergemeinschaft das nicht gemacht hat, hat zig Millionen Tote gekostet. Ich bitte die PDS, diesen Unterschied zwischen Militarismus und Antimilitarismus zu beachten.
Zur Antwort der Abgeordnete Zwerenz - Er verzichtet.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Dann erhält als nächster der Abgeordnete KarlHeinz Hornhues das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Voigt, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie den elementaren Unterschied zwischen dem, was heute ist, und dem, was einmal war, hier noch einmal deutlich gemacht haben. Das erspart es mir, dies zu tun.
Herr Zwerenz, ich wollte eigentlich auf Sie überhaupt nicht reagieren, aber man muß hier wohl einige Dinge klarstellen, damit sie sich nicht öffentlich festsetzen. Dazu gehört, daß der Verteidigungsminister niemals gesagt hat, was Sie behauptet haben, sondern er hat gesagt: Deutsche Soldaten dürfen dort nicht Teil des Problems werden, sondern müssen Teil einer Lösung des Problems sein. Das ist die logische Konsequenz, vor der wir im Juni gestanden haben und heute und in der nächsten Woche mit unserer Beschlußfassung erneut stehen werden.
Da ich schon beim Klarstellen bin: Herr Kollege Volmer, Sie haben so nach dem Motto, daß es sich ganz gut macht und vielleicht mal wieder einer glaubt, ein bißchen Gift in die Gegend geträufelt und die Behauptung aufgestellt: Dieser unglaubliche Verein hier beschäftigt sich zwar per Beschlußfassung mit Soldaten, mit so etwas Unanständigem, aber zum Frieden von Dayton faßt er keinen Beschluß. Das war der Sinn Ihrer Ausführungen eben. -
Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, Herr Kollege Volmer, daß wir einen Antrag aller Fraktionen dieses Hauses vorliegen haben, in dem wir das Ergebnis von Dayton begrüßen. Unter diesem Antrag steht, nebenbei bemerkt, auch die Unterschrift Ihres Fraktionsvorsitzenden. Dies nur zur Erinnerung, bevor Sie hier weitere falsche Behauptungen in die Welt setzen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, in den gesamten Debatten über dieses Thema über viele Jahre haben viele von uns alles andere als ein gutes Gefühl gehabt. Manchmal hat man sich der eigenen Hilflosigkeit geschämt. Deswegen bin ich dem Kollegen Christian Schwarz-Schilling ausgesprochen dankbar für das, was er hier gesagt hat. Ich hoffe, daß sich alle, die ihm Beifall gezollt haben, der einen oder anderen Verzagtheit, des einen oder anderen Besserwissens, was sich als falsch erwies, bewußt waren; denn ich glaube, wir haben aus allem, was sich entwickelt hat, Entscheidendes zu lernen.
Das Entscheidende für mich ist, daß man begreifen muß - und auch wir haben es begreifen müssen -, daß, auch wenn man es als unangenehm empfindet, auf Gewalt oft nur mit Gewalt reagiert werden kann, wenn man Frieden wiedergewinnen will. Dies ist eine entscheidende Erkenntnis. Herr Kollege Verheugen, ich hätte mir heute gewünscht, Sie hätten bei der Gelegenheit der allmählichen Annäherung etwas ausgeräumt, und zwar Ihren Begriff der „Militarisierung der Außenpolitik" den Sie in diesen Zusammenhängen wiederholt als Kampfinstrument in die Debatte eingeführt haben. Dies ist keine „Militarisierung der Außenpolitik", sondern das verzweifelte Bemühen, Frieden zu gewinnen und Fileden zu sichern.
Lassen Sie mich noch ein Weiteres anfügen, Herr Kollege Verheugen: Sie haben zwei Argumente angeführt, warum Sie die ECR-Tornados als besonders häßlich empfinden. Erstens haben Sie erklärt, sie seien überflüssig. Ich glaube, der Verteidigungsminister hat hinreichend deutlich gemacht, wie wenig überflüssig sie sind. Sollten Sie weiteren Informationsbedarf haben, fragen Sie einige sachverständige Kollegen Ihrer eigenen Fraktion, die Ihnen dazu etwas Genaueres sagen können.
Zweitens haben Sie, Herr Kollege Verheugen, gesagt, daß die SPD bei ihrem Grundsatz bleibe: Frieden - ja, Kriegführen - nein. Sie haben in dem Zusammenhang weiter gesagt, der ECR-Tornado sei - so habe ich es verstanden - ein Teil von Kriegführen.
- Aber Sie haben es in diese Nähe gebracht; lassen Sie mich das mit Klarheit sagen.
- Dann stimmen Sie doch mit Ja! Ziehen Sie Ihren Antrag zurück! Dann sind alle Zweifel hinsichtlich Ihrer Meinung beseitigt, dann ist das vom Tisch. Aber ist denn das, was unsere Verbündeten tun, die sich zwischen die Fronten stellen müssen, für Sie Kriegführen und damit moralisch minderwertiger und verwerflicher als unser Beitrag? Was soll denn dann Ihr Antrag? Ich bitte um etwas mehr Klarheit!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist von vielen Seiten deutlich gemacht worden, wie wichtig es ist, daß wir die Chance zum Frieden jetzt ergreifen. Ein entscheidender Beitrag dazu wird sein, daß wir ihn zunächst einmal militärisch absichern, damit das, was wünschenswert ist, überhaupt erfolgreich gemacht werden kann. Notwendig wird sein - das ist von vielen angesprochen worden; ich will es nicht wiederholen, sondern nur unterstreichen -, daß wir an dem Kernproblem arbeiten. Das Kernproblem ist: Wie kann man nach so viel Blut, Not, Elend und Tränen, nach so viel Gewalt und Aggression die Menschen wieder zusammenführen? Aber - das unterstreiche ich für alle, die das gesagt haben - es darf nicht sein, daß Kriegsverbrechen ungesühnt bleiben. Wer den Frieden in dieser Region auf Dauer gewinnen will, muß der Gerechtigkeit eine Chance geben.
Dr. Karl-Heinz Hornhues
Dies halte ich für die Voraussetzung dafür, daß Versöhnung unter den Menschen Platz greifen kann. Sie müssen wieder miteinander leben. Ich glaube, die meisten wollen das auch. Dabei müssen wir helfen. Wir können bei den Menschen, die in unserem Lande leben, anfangen. Da ich sicher bin, daß viele von ihnen heute auch am Fernseher sitzen und zuhören, möchte ich all den Kroaten, Bosniern und Serben, die in Deutschland leben, ein herzliches Dankeschön dafür sagen, daß sie uns glücklicherweise erspart haben, Ihre Konflikte auf unserem Boden auszutragen.
Ich appelliere an sie, sich in die vorderste Front derjenigen einzureihen, die den Versöhnungsprozeß in ihrer Heimat voranbringen. Denn eines ist klar: Der Wiederaufbau in ihrer Heimat kann nur gelingen, wenn alle Seiten daran mitwirken.
Wenn Frau Kollegin Schwaetzer eben gesagt hat, wir sollten die Option für Europa anbieten, dann habe ich nichts dagegen. Aber man muß klar sagen: Das setzt voraus, daß dort die Zersplitterung in Nationalitäten, in Konfessionen, daß Haß und Gewalt beendet werden, bevor dieses Miteinander à la longue möglich sein wird.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist viel über die Menschen, über die Flüchtlinge, die in Deutschland leben, gesprochen worden. Ich möchte die Gelegenheit ergreifen und den Kommunen danken, die - zwar nicht immer mit Begeisterung, aber doch in dem Wissen darum, was zu tun notwendig ist - schwierigste Aufgaben bei der Unterbringung von Flüchtlingen übernommen haben.
Ich möchte auch all denjenigen in unseren Städten und Gemeinden danken - ob hauptamtlich, ob ehrenamtlich -, die geholfen haben, daß dies, so gut es denn machbar war, gemacht werden konnte.
Für viele Flüchtlinge besteht jetzt bald - für andere vielleicht erst später - die Möglichkeit, in ihre Heimat zurückzukehren. Ich habe eine herzliche Bitte an alle, dabei zu helfen, daß diese Rückkehr in die Heimat so schnell wie möglich erfolgen kann. Es ist viel darüber gesprochen worden, was an Voraussetzungen dafür geschaffen werden muß. Ich bitte unsere Mitbürger herzlich darum, nicht zu glauben, daß mit dem Friedensschluß von Dayton nun alle Probleme gelöst seien. Auch wir sollten bei der Lösung der Probleme dort weiter helfen.
Mich hat ein sehr seltsamer Anruf erreicht. In ihm hieß es: Erst machen die da alles kaputt, schlagen sich die Köpfe ein, brennen jetzt noch ihre Häuser ab, und wir sollen dann bezahlen und wieder hellen. - Ich kann verstehen, wie angesichts dieser Situation auch bei uns manche Frage in diese Richtung aufkommt, ich kann vieles in diesem Zusammenhang verstehen, aber ich möchte an alle unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger appellieren, bei allem eines nicht zu vergessen: Auch unser Land war vor 50 Jahren - nach einem Krieg, der den Verlust an Ehre, der Chaos zur Folge hatte - in einer schlimmen Situation. Diejenigen, die mit Gewalt die Gefangenen aus den KZs befreit haben, die in deutschem Namen dort inhaftiert waren, haben nicht gezögert, diesem Deutschland zu helfen. Helfen also jetzt auch wir, so gut wir können. Ich bitte Sie herzlich darum.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Walter Kolbow.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Zur Absicherung des Friedensvertrages für das ehemalige Jugoslawien, für die Ausgestaltung des Ergebnisses von Dayton ist der Einsatz bewaffneter Streitkräfte notwendig. So hat es auch diese Aussprache vorwiegend ergeben. Dieser Einsatz ist als vorbeugende Maßnahme geradezu eine unerläßliche Voraussetzung für den Friedensprozeß. Nur eine starke Truppenmacht - nicht so ohnmächtig wie häufig UNPROFOR - kann den bisher nur auf dem Papier bestehenden Frieden von Dayton zum Leben erwecken. So ist es richtig, daß diese unter deutscher Beteiligung dorthin zu sendende IFOR-Truppe einen politischen Zweck hat, keinen Selbstzweck. Dieser politische Zweck schafft die äußeren Bedingungen für die Wiederherstellung der Zivilisation im ehemaligen Jugoslawien.
Meine Fraktion hat es sich beim Ringen um die richtige Lösung für die deutsche Beteiligung an diesem Friedensprozeß wirklich nicht leichtgemacht. Manche ringen noch, und manche werden im Ergebnis zum Vorschlag der Bundesregierung nein sagen.
Sie, Herr Bundesminister der Verteidigung, haben in diesem Zusammenhang auch von Moral gesprochen. - Wir sollten auf niemanden hier den moralischen Zeigefinger richten;
denn hier halte ich es mit Gustav Heinemann, der gesagt hat: Dabei zeigen immer drei Finger der eigenen Hand auf einen selbst. -
Sie, Herr Verteidigungsminister, haben gesagt: Moral ist sehr konkret. - Jawohl, Moral ist sehr konkret. Sie findet auch an den Türen dieses Plenarsaales statt, als Kolleginnen und Kollegen hineingehen wollten, um gegen den Besuch des iranischen Außenministers Welajati zu protestieren. Sie wurden zum Teil daran gehindert.
Walter Kolbow
Ich bin nicht gehindert worden, als ich am 30. Juni nicht mit meiner Fraktion, sondern für den Antrag der Bundesregierung gestimmt habe.
Also, meine Damen und Herren, seien Sie hier redlich!
Wir gehen auf Grund der bisherigen Erfahrungen, der Ergebnisse von Dayton und der Wünsche und Verpflichtungen der Konfliktparteien davon aus, daß Deutschland jetzt einen angemessenen Beitrag zum Frieden im ehemaligen Jugoslawien leisten muß. Dazu gehört auch, daß sich die Bundeswehr an der Umsetzung des Friedens beteiligen soll. Auch wir wollen, daß unser Land die militärische Sicherung des Friedensabkommens durch Sanitäter, Pioniere, Logistiktruppen, Transport- und Aufklärungsflugzeuge unterstützt. Die zur Verfügung gestellten deutschen Einheiten erhalten keinen Kampfauftrag, sondern haben den Auftrag, den Frieden zu sichern. So ist der Unterstützungseinsatz unserer Soldaten im Rahmen von IFOR klar; er ist begrenzt, und er ist auch konzentriert. Wir meinen, daß der Entschließungsantrag meiner Fraktion ihn besser trifft als der Antrag der Bundesregierung an das Parlament. Er ist im übrigen auch, Herr Kollege Gerhardt, verantwortungsbereit,
zumindest verantwortungsbereiter, als Sie versucht haben, hier glauben zu machen.
Unser Land leistet - bei sicherlich überwiegender Unterstützung meiner Fraktion - mit dem Einsatz der Bundeswehr einen notwendigen Schritt, den die betroffenen Menschen im ehemaligen Jugoslawien genauso wollen, wie ihn unsere Verbündeten und die Vereinten Nationen von uns erwarten. Dies ist - das ist gesagt worden - mit zirka 4 000 Soldaten der größte Einsatz unserer Streitkräfte seit ihrem Bestehen. Wir halten diese Größenordnung aus zwei Gründen für angemessen: Zum einen gibt es genügend Staaten, die den Vereinten Nationen und auch der NATO Sicherungstruppen für die Friedenstruppe „Implementation Force" zur Verfügung stellen wollen. Diese werden aber, wie wir gehört haben, gar nicht alle gebraucht. Wie die Bundesregierung auch auf unsere Fragen im Verteidigungsausschuß mitgeteilt hat, entspricht der deutsche Beitrag, die logistische Unterstützung und die sanitätsdienstliche Versorgung der - voraussichtlich - französischen und britischen Truppen, genau dem Anforderungsprofil der NATO. Die zusätzlich zur Sicherung in Deutschland vorgehaltenen Kräfte, Herr Kollege Volmer, sind nicht beliebig, sondern sie sind lediglich bis zu einer Größenordnung von 200 Soldaten flexibel, und das ist Vorsorge für den Schutz der in Jugoslawien befindlichen Soldaten.
Zum anderen waren wir uns in diesem Hohen Haus auch darin einig, daß wir unsere Geschichte zu berücksichtigen haben, insbesondere was das Gebiet des ehemaligen Jugoslawien anbelangt. Sie erinnern sich - es ist auch heute von unserer Seite darauf hingewiesen worden -, daß wir anfänglich gemeinsam die Auffassung hatten, keine deutschen Soldaten nach Jugoslawien zu senden. Der Bundeskanzler hat es uns häufig im Auswärtigen Ausschuß dargelegt. Doch haben uns die schrecklichen Ereignisse überholt; Völkermord und ethnische Säuberungen verlangen andere Entscheidungen. Srebrenica zeugt dramatisch davon. Auch deshalb halten wir die vorgesehene Unterstützung und den dafür vorgesehenen Umfang unserer Streitkräfte grundsätzlich für geeignet und angemessen. Auch wir können nicht alles tun; aber was wir tun können, müssen wir tun.
Der Tornado, insbesondere der ECR-Tornado, wird hier immer wieder in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen gerückt. Ich glaube, daß der ECR-Tornado im Vergleich zu seiner praktischen Bedeutung in der Situation nach dem Friedensvertrag politisch überbewertet ist, möglicherweise auch - ich sage bewußt: möglicherweise - in diesem Antrag als parteipolitischer Reflex auf einen Vorgang an einem Freitag nachmittag gesehen werden muß, als wir abgestimmt haben und Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, in Schwierigkeiten gekommen sind. Denn die ECR-Tornados sind nicht unbedingt für den Einsatz im ehemaligen Jugoslawien notwendig.
Im übrigen schützen sie auch nicht die Transall-Flugzeuge in der vorgesehenen Art und Weise. Sie lassen sie ohne ECR-Tornado-Begleitung fliegen. Diese Inkonsequenz spricht für meine Einschätzung, die ich soeben vorgetragen habe.
Wir dürfen unsere Außenpolitik - darüber müßte in diesem Hause Einvernehmen herrschen - nicht auf einen Flugzeugtyp reduzieren.
Davon hängt auch nicht, Herr Kollege Gerhardt, unsere Bündnis- und Europafähigkeit ab. Im übrigen, meine Damen und Herren, ist die Kernfrage, um die es hier geht, der endgültige Frieden im ehemaligen Jugoslawien. Dafür sollten wir alle gemeinsam eintreten.
Von großer Wichtigkeit ist für meine Fraktion, ob Grundwehrdienstleistende an diesem Einsatz teilnehmen sollen oder nicht. Wir begrüßen die Zusicherung der Bundesregierung, die bereits in der gestrigen Sitzung des Verteidigungsausschusses gegeben und heute noch einmal unterstrichen worden ist, daß dies nicht der Fall sein wird, sondern daß an dem Einsatz Zeit- und Berufssoldaten sowie freiwillige Wehrpflichtige teilnehmen sollen, die einen freiwilligen Wehrdienst von 12 bis 23 Monaten Dauer leisten wollen.
Von gleicher Bedeutung für die Sozialdemokratinnen und die Sozialdemokraten ist, daß unsere Soldaten für ihren Einsatz gründlich vorbereitet und aus-
Walter Kolbow
gebildet werden, daß sie die geeignete Ausrüstung und Bekleidung für den Einsatz im Winter erhalten und daß sie für ihre schwierige Aufgabe vor Ort den optimalen Schutz bekommen werden. Darauf haben unsere Soldaten Anspruch. Die militärische und die politische Führung, aber auch das Parlament müssen das in ihren Kräften Stehende tun, um diesem Anspruch gerecht zu werden.
Wir werden die morgige Sondersitzung des Verteidigungsausschusses dazu nutzen, im einzelnen die Schutzvoraussetzungen zu besprechen, auch in dem Wissen, daß dieser Einsatz nicht ohne Risiko sein wird. Vor uns liegt eine schwierige Mission, die auch Opfer kosten kann. Wir wissen leider, daß bei den typischen Blauhelmeinsätzen die meisten Opfer nicht durch Kampfhandlungen zu beklagen sind, sondern durch Unfälle. Deswegen ist hier besondere Ausbildungsvorsorge zu treffen. Wir wissen durch Ihre Berichte, auch von der verantwortlichen militärischen Führung, daß das so in Vorbereitung ist und geschehen wird.
Dies wird also alles andere als ein Manöver in Friedenszeiten. Das gilt auch für den deutschen Einsatz. Der Ernst der Lage verlangt geradezu, daß der Deutsche Bundestag mit großer überparteilicher Mehrheit für die Beteiligung unserer Soldaten an der Friedensmission stimmt. Auf diese überparteiliche Mehrheit haben unsere Soldaten einen Anspruch. Sie dürfen erwarten, daß ihr am Ende auch mit ganz persönlichem Risiko behafteter Einsatz für den Frieden eine breite Rückendeckung im Parlament und in der Öffentlichkeit findet.
Wir wünschen von ganzem Herzen, daß alle gesund in die Heimat zurückkehren. Möge dann der Frieden im ehemaligen Jugoslawien von innen heraus entstehen. Erst dann ist die jetzt vorgenommene militärische Einhegung der Konfliktparteien erfolgreich gewesen.
Ich danke für die Geduld.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt, Fürth.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es fällt mir etwas schwer, auf die Ausführungen des Kollegen Kolbow in der Form zu antworten, in der es eigentlich geschehen müßte, weil ich weiß, daß er bei den entscheidenden Abstimmungen, wie er es schon am 30. Juni mit einigen Kollegen seiner Fraktion getan hat, zustimmen wird. Ich werde mich - um im militärischen Bild zu bleiben - eher den Nebelkerzen, die Herr Verheugen heute vormittag in die Debatte geworfen hat, zuwenden. Ich bin allerdings nicht ganz sicher, ob sie Desorientierung oder den Beginn eines taktischen Rückzugs verdecken sollen. Ich würde es begrüßen, wenn es so wäre.
Der Antrag der SPD ist wohl daraus entstanden, daß gewissen Anforderungen des Parteitags Rechnung getragen werden muß. Sicherlich werden nicht alle Mitglieder der SPD-Fraktion die notorische
Abwesenheit ihres Parteivorsitzenden unbedingt als Schaden für diese Debatte betrachten.
Es ist eine politische Camouflage, wenn Sie, Herr Verheugen, davon sprechen, es gehe um die technische Frage der Tornados. In Wahrheit geht es darum, daß Sie als führender Verteidigungs- und Außenpolitiker der SPD dazu beitragen müßten, Klarheit in Ihren eigenen Reihen zu schaffen. Dazu hätten Sie auch auf Parteitagen die Möglichkeit.
Neben dem, was uns in der Debatte trennt, gibt es durchaus auch Verbindendes. Ich will ausdrücklich auf den Antrag zu sprechen kommen, der interfraktionell vorgelegt worden ist und der sich mit den Fragen der materiellen Hilfe, der Wiederaufbauhilfe, der Unterstützung und eines Paketes befaßt, zu dem die internationale Gemeinschaft verpflichtet ist. Ich hoffe, daß alle diese Anforderungen, die wir aufgelistet haben, die dankenswerterweise zum großen Teil im Dayton-Vertrag bereits ihren Niederschlag gefunden haben, noch nachgebessert werden können. Insbesondere dort, wo es um die Zukunft von Flüchtlingen, um die Wiedereinsetzung von Menschen in ihr Eigentum und in ihre Rechtsposition und um die Achtung der Minderheiten geht, müssen wir gut Obacht geben.
Ich hoffe, daß wir mit dem gleichen Engagement, wie es Kollege Schwarz-Schilling und Kollege Duve - ich erwähne bei dieser Gelegenheit Stefan Schwarz und andere, die in der letzten Legislaturperiode noch in diesem Hause waren - gezeigt haben, an die Sache herangehen. Das wollen wir auch zukünftig gemeinsam ernsthaft weiter tun.
In der Stunde der positiven Wende sollten wir vier Lehren nicht vergessen, die wir aus dieser europäischen Katastrophe der 90er Jahre ziehen müssen.
Die erste Lehre ist, daß ethnisch bedingte Konflikte in Europa auch am Ende des 20. Jahrhunderts möglich, aber auch absehbar sind und daß Europa in Zukunft nie mehr so zögernd und zaudernd, so uneinig und so spät reagieren darf. Allen Mitgliedern der Europäischen Union, allen, die im nächsten Jahr in der Revisionskonferenz darangehen müssen, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Europa straffer, besser und effizienter zu machen, muß dies im Gedächtnis sein.
Vor einigen Tagen hat ein Kommentator im „Figaro" dies völlig zutreffend so formuliert:
Wie schade, daß Europa vor den USA in den Hintergrund rücken mußte. Hatte doch Chirac das Signal für die neue Entschlossenheit gegeben, und Juppé war es, der gemeinsam mit dem Chef der deutschen Diplomatie, Kinkel, den Lösungsplan ersonnen hatte, der von den Unterhändlern in Dayton aufgegriffen wurde. Solange die 15 EU-Staaten nicht den Willen zu einer gemeinsamen Sicherheit aufbringen, wird Washington auch in Zukunft leider allein entscheiden.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Christian Schmidt
Leider sind wir aus dieser Erkenntnis heraus in die gegenwärtige Situation gekommen. Leider ist noch nicht absehbar, daß alle 15 Staaten der Europäischen Union den Weg zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik konsequent genug gehen. Ich appelliere von dieser Stelle an alle - von Nord bis Süd, von Ost bis West -, sich daran zu beteiligen. Aber eines ist auch klar: Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wird es nicht geben, wenn sich Deutschland gemeinsamen, militärisch notwendigen Aktionen mehr oder minder versagt, sich zum Sonderling entwickelt, so wie es Herrn Volmer, Frau Wieczorek-Zeul und Herrn Gysi vorschwebt.
Zweite Lehre: Dieser Konflikt wird nur mit dem Gestaltungswillen der USA in seiner jetzigen Phase befriedet werden können. Deswegen brauchen wir die Amerikaner und ihre politischen, wirtschaftlichen und militärischen Möglichkeiten. Die Entscheidung von Präsident Clinton, 20 000 Soldaten zu stellen, ist richtig. Da der Kongreß der Vereinigten Staaten noch zögert, möchte ich alle Kollegen in diesem Hause, die über persönliche Kontakte zu unseren Kollegen im Repräsentantenhaus und im Senat der Vereinigten Staaten verfügen, auffordern, diese in den nächsten Tagen anzurufen und sie dringend zu bitten, für die Truppenentsendung zu stimmen.
Dies ist für die NATO ein Testfall, der zwar nicht zu einer neuen Weltordnung führen wird, der aber die Grundlage - im Guten wie im Schlechten - für ein sicheres Europa und für eine stabile Weltordnung in Zukunft legen kann.
Um noch einmal auf Herrn Zwerenz einzugehen: Die Friedensbewegung hat nichts zur Lösung der Probleme beigetragen. Die Friedensbewegung hat abgedankt, weil sie gezeigt hat, daß sie nur dann für etwas demonstriert, wenn es gegen die USA geht. Hier wäre die Möglichkeit, Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen, gemeinsam mit den USA für die Durchsetzung dieses Friedens auch mit militärischen Mitteln zu demonstrieren.
Dritte Lehre: Jeder Konflikt in Europa, der mit Bevölkerungsbewegungen, Vertreibungen und „ethnischen Säuberungen" in Verbindung gebracht wird, hat einen unmittelbaren Reflex auf Deutschland.
Als begehrtes Einreiseland werden auch bei zukünftigen Konflikten Flüchtlinge in großer Zahl den Weg nach Deutschland suchen. Wir haben den Flüchtlingen die Tür nicht versperrt. Eines muß jedoch deutlich sein: Es handelt sich um die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen und nicht um die Errichtung eines dauerhaften Wohnsitzes.
Sobald die Voraussetzungen einigermaßen geschaffen sind - nicht erst dann, wenn die letzte Tapete wieder an den Wänden klebt -, müssen die Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren. Sie sollten und müssen das auch deswegen tun, weil ihr Land sie beim Aufbau braucht und weil die Finanzmittel, die von uns auch in Zukunft eingesetzt werden, besser für den Wiederaufbau in Bosnien und nicht hier für den Unterhalt der Flüchtlinge investiert sind.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Rönsch?
Ja.
Herr Kollege Schmidt, stimmen Sie mit mir überein, daß wir die Bürgerkriegsflüchtlinge bitten und auffordern müssen, sich sehr intensiv am Aufbau in ihrem eigenen Land zu beteiligen? Stimmen Sie mit mir überein, daß diejenigen, die den Krieg dort überlebt haben, sehr oft die Kriegsversehrten, die Alten, die Behinderten, die Schwachen und die Elenden sind, die diese Aufbauarbeit aus eigener Kraft nicht leisten können und die immer wieder diejenigen Familienmitglieder brauchen, die das Glück hatten, in Deutschland den Kriegswirren zu entgehen?
Frau Kollegin, ich stimme Ihnen deswegen zu, weil in der Tat in erster Linie denjenigen, die zwar auch nicht unter optimalen Umständen, aber doch unter nicht vergleichbar schlechten Umständen hier in Deutschland in Sicherheit die Zeit abwarten konnten - das ist gut gewesen -, die Aufgabe erwächst, in ihrem Land denjenigen, die dort geblieben sind, zu helfen.
Ich hoffe nicht, daß wir über die Frage von Rückkehrverpflichtungen diskutieren müssen. Eigentlich müßte es für die betroffenen Bürger aus diesem Land ein eigener Ansporn sein - ich bin davon überzeugt, es wird so sein -, zurückzukehren und beim Wiederaufbau des Landes zu hellen, so wie es 1945 in Deutschland geschehen ist.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Nickels?
Ja.
Herr Kollege, ich möchte Sie fragen, ob es nicht wichtig ist, daß wir alles vermeiden, den hier überlebenden Flüchtlingen ein viel schlechteres Gewissen einzureden, als sie es schon haben; denn sehr viele leben in einer riesengroßen Not und Zerrissenheit und fühlen sich schuldig, daß sie überlebt haben.
Wenn man argumentiert, daß sie jetzt die Pflicht haben, sofort zurückzukehren und zu helfen, selbst wenn die geringsten Möglichkeiten nicht gegeben sind - sie unterstützen ihre Angehörigen von hier aus
Christa Nickels
mit dem wenigen, das sie haben, so intensiv, wie sie können -, schafft man neue Unsicherheiten. Stimmen Sie mit mir überein, daß man alles tun muß, um den fatalen Eindruck zu vermeiden, daß man die innere Not noch vergrößern will? Wir müssen beides im Kopf haben: Wir müssen die Rückkehr ermöglichen, aber zu vernünftigen Konditionen, und in dem Zeitraum, in dem sie nicht zurückkehren können, müssen wir sie hier qualifizieren, damit sie dann, wenn sie zurückkehren, dort um so bessere Aufbauhilfe leisten können.
Frau Kollegin, ich glaube - ich habe das in der Antwort auf die Frage der Kollegin Rönsch ausgeführt -, daß dies ein eigener Ansporn der bosnischen Bürger, die in unserem Lande leben, sein wird.
Jeder von uns hat in seinem Wahlkreis Anfragen von bosnischen Flüchtlingen erhalten. Daß auf die humanitäre Situation - Stichwort: Familienzusammenführung - und auf die Bedürfnisse von Familien, die zusammen geflüchtet sind, Rücksicht genommen werden muß, steht außer Zweifel.
Es darf nur nicht dazu führen - in meinem Wahlkreis gab es einen ganz konkreten Fall -, daß man bereits über Kirchenasyl diskutiert, weil eine Familie nun wieder zurückgehen muß, was natürlich Trennung von der Schule und Abschied vom Leben in Deutschland heißt. Das allein kann der Grund nicht sein. Da, meine ich, muß die Notwendigkeit überwiegen, im eigenen Lande für den Wiederaufbau mit zu sorgen.
Ich komme zum Schluß, Kolleginnen und Kollegen, und damit zur vierten Lehre. Wer glaubt, allein mit Geld, guten Worten und edler Gesinnung solche Konflikte eindämmen zu können, der ist auf dem Holzweg. Ich hoffe, daß Jacques Chirac dies Herrn Lafontaine gestern noch einmal erklärt hat, damit er nicht weiter auf diesem Holzweg fährt.
Genauso falsch ist die Vorstellung, die Anerkennung Kroatiens, Sloweniens und Bosniens habe den Konflikt erzeugt. Der Krieg war vorher da, und er war nachher da, weil die Völkergemeinschaft aus der Anerkennung nicht die notwendigen Schlüsse gezogen hat.
Dieser Krieg ist auch nicht durch Waffenimporte ausgelöst oder geschürt worden, wie manche es sich bei uns zur Einpassung in das eigene Weltbild zurechtlegen. Man darf sich eben nicht auf den „ohne mich" -Standpunkt zurückziehen. Das ist die wichtigste Lehre aus dem Konflikt, der hoffentlich der letzte kriegerische Konflikt in Europa nicht nur in diesem Jahrhundert gewesen ist, sondern auch im nächsten Jahrhundert sein wird. Es liegt an uns, mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik etwas dafür zu tun.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Freimut Duve. Ich bitte insgesamt um etwas mehr Ruhe.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt hat dieser Krieg ein Schlußdokument, aber wir wissen: Er ist noch nicht wirklich beendet. Der künftige Frieden hat jetzt ein Anfangsdokument, aber wir wissen: Der Frieden bleibt gefährdet. Es gibt wohl Tausende von Menschen in Bosnien, die von dem Treffen in Dayton gar nichts wissen. Tausende von Verschleppten und Verwundeten werden noch gesucht, und Hunderttausende hoffen, daß sie noch leben. Wenn sie noch leben, dann werden ihre Verschlepper ihnen von Dayton nichts gesagt haben. Generalsekretär Boutros-Ghali hat gestern noch einmal die Verbrechen bestätigt, derentwegen der Gerichtshof in Den Haag Anklage erhebt. Die Suche nach den Verschwundenen, das Aufspüren der Verschleppten ist im DaytonAbkommen festgehalten. Das Internationale Rote Kreuz und Amnesty International haben sich an uns gewandt. Ich finde es sehr gut, daß Amnesty hier sehr aktiv geworden ist und schon einige Punkte zu Dayton veröffentlicht hat.
Beide Organisationen müssen rasch den ungehinderten Zugang für ihre Sucharbeit in allen drei Machtgebieten bekommen.
Der Gerichtshof in Den Haag muß den durch Dayton Gott sei Dank nicht versperrten Auftrag zu Ende führen können. Es ist das erstemal seit Nürnberg, daß Elemente eines übernationalen Strafrechts angewandt werden. Dieser Schritt darf nicht gebremst werden.
Ich bin vor einigen Wochen in der Gemeinde Vanovici in einem Lager von Frauen und Kindern aus Srebrenica gewesen. 47 von ihnen lebten in einem Raum und erzählten von dieser Schreckensreise. Aber ihre größte Hoffnung war immer noch, daß ihr Bruder oder ihr Vater oder der 14jährige Sohn, der auch aus dem Bus herausgeholt wurde, noch lebt. Sie haben immer noch die schmerzliche Hoffnung, einige der Verschwundenen wiederzufinden. Dabei müssen wir helfen.
Bei 1,4 Millionen Vertriebenen innerhalb BosnienHerzegowinas und der Region ist die Diskussion über die Rückkehr, die wir jetzt führen müssen, das Wichtigste. Wir müssen auch mit den Flüchtlingen hier reden. Ich tue das sehr intensiv. Ich schlage vor, daß wir Runde-Tisch-Gespräche auch mit den Beamten und denjenigen führen, die mit ihnen zu tun haben. Aber die erste Rückkehrchance muß es für
Freimut Duve
die Menschen in der Region geben, denn sie sind, auch nach Dayton, in der schlimmsten Lage.
Der Terror dieses Krieges hat sich gegen den wichtigsten Grundwert des Westens gewandt - Herr Dr. Schwarz-Schilling hat darauf hingewiesen -: die Idee, die Praxis, die Kultur der nicht-völkischen, der nicht-ethnischen, religiös nicht gebundenen Demokratie, in der es um die Rechte der Bürger und nicht um die Sonderrechte bestimmter Gruppen geht.
Dieser Krieg war Terror gegen diese Idee der Zivilisation. Niemand darf sagen - das war auch nur ein Lapsus linguae des Außenministers heute -, Bosnien würde jetzt ein islamischer Staat. Nein, es wird wieder ein ziviler Staat, in dem die verschiedenen Religionen geschützt werden.
Der Friedensschluß von Dayton war zwingend notwendig, denn der Krieg mußte aufhören. Aber die Übereinkunft akzeptiert auch - das dürfen wir nicht vergessen - die Gewalt der Kriegsergebnisse, nämlich auch ethnisch oder völkisch verstandene neue Trennungslinien. Er akzeptiert sie mehr als eine große Anzahl von Menschen, die sich auch heute noch so fühlen, als ständen sie dazwischen, weil sie weder Muslime noch Serben noch Kroaten sein wollen - deren Eltern aber aus diesen Gruppen kommen -, sondern sich als Bürger Bosniens fühlen.
Ich freue mich, Herr Bundesaußenminister, daß die deutsche Delegation in der Kontaktgruppe - ich schließe mich mit meinem Dank an - so viele Positionen hat durchsetzen können. Natürlich freue ich mich persönlich mit meinen Kollegen, daß Elemente der fünf Körbe des KSZE-Prozesses, wie wir das auch im Ausschuß vorgeschlagen haben, in den Papieren wiederzufinden sind. In ihnen heißt es zwar nicht „Körbe", sondern „Annexe", aber die Struktur ist gleich: In Korb I werden Verfassungsfragen behandelt, in Korb II erfolgt die Festlegung der Grenzen, und in Korb III - der wichtigste Korb - ist die Verantwortung aller drei Staaten für ihre Bürger, unabhängig von ihrem derzeitigen Aufenthaltsort, klargestellt worden.
Auch die Idee des Flüchtlingssekretariats, aus dem Parlament heraus entwickelt, findet sich im DaytonPapier. Korb IV befaßt sich mit dem - das ist erwähnt worden - konditionierten Wiederaufbau. In Korb V hat die Bundesregierung wichtige Forderungen nach Abrüstung und Rüstungskontrolle eingebracht.
Was, meine Damen und Herren, ist in der nächsten Zukunft zu tun? Im Grunde genommen geht es um zwei Dinge: erstens die Rückkehr zur wirtschaftlichen und sozialen Vernunft in dieser Region, damit - zweitens - die Menschen zurückkehren können. Die meisten von ihnen - ich sagte es eben - befinden sich innerhalb dieser Region, nicht mehr in ihren Dörfern und Städten. Das bedeutet: Wiederaufbau der Heimat - im wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen Sinne -, Hoffnung schaffen und Angst beseitigen. Die Angst ist ungeheuer groß, auch bei den Menschen, die hier nach Bonn, nach Hamburg oder sonstwohin geflohen sind.
Es wäre gut - ich glaube, wir würden für einen entsprechenden Vorschlag sofort eine absolute Mehrheit hier im Hause bekommen -, wenn die enormen Kosten der Friedenstruppen gespart werden könnten. Wie viele Häuser könnten mit diesem Geld repariert werden, wie viele Fabriken könnten mit diesem Geld in Gang gesetzt werden! Aber wir können nicht beim Wiederaufbau helfen, wenn das Wiederzerstörungsrisiko nicht gebannt ist.
Wer das Wiederzerstörungsrisiko nicht bannt, darf jetzt nicht wiederaufbauen. Denn sonst baut er auf, was möglicherweise schon morgen wieder zerstört wird. Es handelt sich nicht um zwei Seiten der Medaille, sondern um einen zivilen Auftrag für die Welt, die sich dazu entschlossen hat. Dieser zivile Auftrag muß geschützt werden, damit das Wiederzerstörungsrisiko gebannt bleibt.
Was hat sich geändert? Worin liegt der Unterschied zwischen der bisherigen blauhelmgestützten humanitären Überlebenshilfe, in der sich viele zivile Gruppen engagiert haben, und der militärgeschützten Wiederaufbauhilfe jetzt? Die bisher geleistete Überlebenshilfe wurde von vielen Empfängern als Alimentation empfunden. Jetzt können wir auf den Zukunftswillen der Menschen setzen. Es geht um Aufbauhilfe, nicht mehr um Alimentation. Das darf niemand mißverstehen; darum die Konditionierung. Es geht nicht um die Bevorzugung einiger Machtgruppen. Darum kann und darf diese Hilfe nicht ohne Bedingungen gewährt werden.
Ein Beispiel: Die Rückkehr zur wirtschaftlichen Rationalität scheint mir der wichtigste Baustein für die noch offene Regelung des Brcko-Korridors. Das ist ja offengelassen worden. Wenn alle wirklich daran interessiert sind und sich als interessiert erweisen, die Wirtschaft und die Infrastruktur wieder funktionsfähig zu machen, dann lassen sich Fragen eines solch komplizierten Verkehrskreuzes wie das von Brcko vertraglich relativ leicht regeln. Wir Deutschen haben mit solchen Regelungen einige Erfahrungen.
Wenn aber eine Seite wieder auf Krieg setzt, dann instrumentalisiert sie das Verkehrskreuz zur Lähmung des Wiederaufbaus. Insofern finde ich es gar nicht so schlecht, daß dieses einem Schiedsprozeß vorbehalten bleibt. Dann kann nämlich jeder beweisen, ob er den Wiederaufbau wirklich will oder nicht. Dafür muß Brcko das Beispiel und das Symbol bleiben.
Der Wiederaufbau wird Jahre dauern. Das Modell des Marshallplans gibt eine gute Grundlage. Doch Aussicht auf langfristigen Erfolg entwickelt sich nur,
Freimut Duve
wenn von Anfang an eines klar ist: Der Marshallplan darf von niemandem als vergoldeter Marschallstab für die eigene militärische Karriere mißbraucht werden. Das heißt, die Mafia-Gefahren, die darin liegen - auch für die ehemals militärisch Mächtigen -, müssen von uns mit gebannt werden.
Auch die Rückkehr der Vertriebenen und Flüchtlinge wird Jahre dauern. Deshalb ist es so bedauerlich, daß wir vorzeitig diese für die Flüchtlinge falsche Debatte führen. Wir müssen mit ihnen, aber nicht hier im Parlament über sie reden.
Als der Krieg bei uns in Deutschland zu Ende gegangen war - viele von uns waren zu dem Zeitpunkt Kinder -, setzte sich irgendwann in den 50er Jahren der Satz durch: Zeit ist Geld. Ich erinnere mich, wie merkwürdig ich diesen Satz fand, als ich ihn zum erstenmal hörte. Für die Nachkriegssituation Bosniens muß gelten: Zeit ist Frieden. Dieser Prozeß braucht Zeit.
Zeit wird wichtiger sein als einzelne Landfragen. Je rascher der Wiederaufbau begonnen wird, je länger er projektiert wird, desto größer wird die Chance für einen dauerhaften Frieden.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas Kossendey.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich aus der Sicht unserer Fraktion einige abschließende Bemerkungen zum Thema der heutigen Debatte machen.
Erstens. Wir sagen ja zu einer Bundeswehrbeteiligung an der Friedensmission der Vereinten Nationen - nicht etwa, weil wir diese Regierung mit ihrem Antrag stützen wollen, sondern aus tiefer Verantwortung gegenüber den Menschen in dieser Region.
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wer die Möglichkeit hat, durch den Einsatz von Soldaten das Völkermorden in dieser Region zu beenden, diese Möglichkeit aber nicht nutzt, handelt zutiefst verwerflich.
Wenn sich die Völkergemeinschaft als unfähig erweisen sollte, in diesen und andere regionale Konflikte ordnend einzugreifen, dann werden wir erleben, daß die vielen sich neu bildenden Staaten in Mittel- und Osteuropa in Zukunft ihre Sicherheit selbst in die Hand nehmen wollen, daß sie den kollektiven Sicherheitssystemen nicht mehr vertrauen werden. Das wird in diesen Ländern zu einem Rüstungsboom führen, der Geld in falsche Kanäle lenkt. Das wird dazu führen, daß die Risiken in diesen neuen Ländern, die noch viele, zum Teil jahrhundertealte Konflikte miteinander haben, größer werden. Das wird zu einer Renationalisierung der Sicherheitspolitik führen, zu einer Renationalisierung, die wir in Europa seit Jahrzehnten überwunden glaubten. Das kann in diesem Hause doch wohl niemand im Ernst wollen. Auch aus diesem Grunde ist der Einsatz der Bundeswehr im Rahmen der Friedenstruppe der Vereinten Nationen wichtig und richtig.
Unsere Soldaten werden zunächst für zwölf Monate ihren Dienst am Frieden im Bereich des ehemaligen Jugoslawiens tun. Ich muß Ihnen ganz offen sagen: Mich haben in den letzten Tagen bei vielen Gesprächen mit den Soldaten der Einheiten, die dort hingehen werden, die Ernsthaftigkeit und die Besonnenheit beruhigt, mit denen sich die Soldaten auf diesen Auftrag vorbereiten. Wir sollten dabei nicht vergessen: 4 000 Soldaten bedeuten auch 4 000 Familien - Mütter, Väter, Kinder -, die von unserer Entscheidung direkt betroffen sind. Auch denen gegenüber übernehmen wir mit unserer heutigen Entscheidung Verantwortung - Verantwortung dafür, daß wir alles tun, um den Auftrag der Soldaten so sicher wie möglich zu gestalten.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch einen Satz sagen: Nicht zuletzt dank des Umstandes, daß wir eine Wehrpflichtarmee haben, können wir feststellen, daß die Diskussion um den Einsatz unserer Soldaten in viele Familien in unserem Lande getragen worden ist. Das macht die politische Entscheidung über diesen Einsatz sehr viel schwieriger. Das ist aber gut so. Es ist besser, als wenn wir eine Armee aus Zeit- und Berufssoldaten hätten.
Als Demokrat sage ich Ihnen: Jeder Einsatz von Soldaten unseres Landes verdient es, im Parlament ernsthaft diskutiert zu werden. Der Umstand, daß wir eine Wehrpflichtarmee haben, zwingt uns diese Diskussion geradezu auf; denn sie wird in jeder Familie geführt werden.
Herr Abgeordneter, einen Moment. - Ich bitte die Kollegen um etwas mehr Ruhe. Das ist zwar schwierig, wenn eine Abstimmung bevorsteht. Ich bitte aber darum, daß Sie auch diesem Redner zuhören und die Gänge frei machen.
Jetzt haben Sie wieder das Wort.
Der Einsatz unserer Soldaten, liebe Kolleginnen und Kollegen, wäre aber weniger wert, wenn es nicht gelänge, parallel zu der militärischen Aktion mit dem Frieden zwischen den ethnischen und den religiösen Gruppen zu beginnen. Dazu gehört auch, daß wir die Ursache für die Konflikte auf dem Balkan erkennen und analysieren.
Thomas Kossendey
Gestern vor 50 Jahren - das ist einigen entgangen - ist die Republik Jugoslawien gegründet worden, nach einem Bürgerkrieg in dieser Region, der mehr Opfer gefordert hat als der parallel dazu stattfindende Zweite Weltkrieg. Zu Beginn der Republik Jugoslawien sind diese zum Teil uralten Gegensätze verkleistert und verdrängt worden. Die Unterdrükkung der kulturellen, ethnischen und religiösen Identitäten hat zu dieser Explosivkraft geführt, mit der dort in den letzten fünf Jahren das Morden untereinander losgegangen ist.
Wenn die Vereinten Nationen jetzt versuchen, mit Militär die Kriegsparteien auseinanderzuhalten, dann ist das nur ein Teil der Arbeit. Der wesentlichere Teil besteht in der Friedensarbeit vor Ort. Die Soldaten sichern lediglich den Rahmen für diese Friedensarbeit.
Ich warne davor, die Friedensarbeit lediglich unter dem Gesichtspunkt des Geldes zu sehen. Friedensarbeit in Ex-Jugoslawien ist mehr als Investitionsförderung. Friedensarbeit in dieser Region heißt vielmehr: viele kleine Mostars mit vielen Menschen, die ein gleiches Engagement wie Hans Koschnick an den Tag legen. Friedensarbeit heißt aber auch, die Erfahrungen, die wir mit der Westeuropäischen Union, mit der NATO und der Europäischen Union in Westeuropa in den letzten Jahrzehnten machen konnten, an eine Region weiterzugeben, deren Menschen sich zutiefst nach Frieden sehnen.
Der Einsatz unserer Soldaten zielt darauf ab, die sich kriegerisch gegenüberstehenden Gruppen auseinanderzuhalten. Erfüllt wird der Sinn dieses Einsatzes aber erst dann, wenn es uns gelingt, den Frieden zu fördern. Frieden ist nämlich mehr als die Abwesenheit von Krieg.
Die Ansätze dazu, die in vielen Verträgen festgelegt worden sind, müssen ernsthaft und schnell mit Leben erfüllt werden. Zwölf Monate können eine verdammt kurze Zeit sein.
Lassen Sie mich zu den kritischen Stimmen, die von der PDS und auch von den Grünen gekommen sind, einiges sagen. Liebe Frau Nickels - wir kennen uns lange -, ich möchte eines sagen: Den Alleinvertretungsanspruch auf Friedenspolitik, den Sie und manche andere in Ihrer Partei erheben, halte ich für zutiefst unmoralisch, weil er alle anderen in diesem Parlament ausgrenzt.
Als ich in den letzten Jahren bei sogenannten Friedensdemonstrationen in Deutschland Aufkleber mit dem verstümmelten Brecht-Zitat „Stellt euch vor, es ist Krieg, und niemand geht hin" gesehen habe, habe ich gedacht: Das werden wir auf die Probe stellen. Ich habe mir wie auch viele andere Deutsche vorgestellt, was wohl in Jugoslawien passiert wäre, wenn sich niemand bereit erklärt hätte, dort hinzugehen. Jeder Deutsche hat das in den letzten Jahren abends am Fernseher verfolgen können.
Ich sage Ihnen: Wenn niemand hingeht, dann wird das Völkermorden weitergehen.
Wenn niemand eingreift, dann werden sich die Menschen aus ethnischen Gründen weiter zerfleischen. Wenn niemand hingeht, dann werden die Menschen wegen ihrer Rasse und Religion weiter verfolgt werden.
Das alles sollte die Zweifelnden bewegen, ihre ablehnende Haltung zu überdenken. Ich appelliere daher an Sie alle: Geben Sie unseren Soldaten auf diesem schwierigen Weg ein möglichst breites Votum dieses Parlaments mit. Stimmen Sie aus Verantwortung dem Antrag der Regierung zu, der von Vernunft und Augenmaß geprägt ist.
Schönen Dank.
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/3135. Gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Joschka Fischer das Wort zu einer Erklärung zur Abstimmung verlangt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir werden nächste Woche am Mittwoch eine sehr, sehr schwierige und sehr wichtige Entscheidung zu treffen haben. Ich bedaure, daß bereits in dieser Woche so etwas wie eine Vorabstimmung stattfindet, aber es ist das gute Recht jeder Fraktion hier im Haus, einen solchen Antrag zu stellen.
Ich möchte Ihnen nur mein Abstimmungsverhalten erklären. Wie Sie wissen, haben wir eine entsprechende Diskussion auf unserem Bundesparteitag. Jede jetzige Entscheidung in der Sache wäre eine Vorfestlegung dieser Diskussion. Die Fraktion hat sich entschieden, und auch ich habe mich entschieden.
- Hören Sie es doch erst einmal an.
Ich habe mich entschieden, mich in der Abstimmung jetzt zu enthalten. Das ist keine Festlegung in der Sache. Ich werde nächsten Dienstag meine abschließende Meinung bilden, ebenso andere in der Fraktion. Wir werden am Mittwoch dann gemeinsam unsere Entscheidung zu treffen haben.
Andere werden an dieser Abstimmung aus denselben Gründen nicht teilnehmen.
Die Fraktion der CDU/CSU verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich jetzt die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses da, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Kann ich davon ausgehen, daß alle Anwesenden abgestimmt haben? - Das scheint der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Meine Damen und Herren, das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekanntgegeben.*)
Wir setzen jetzt die Beratungen fort. Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 13/3136 zu überweisen, und zwar zur federführenden Beratung an den Innenausschuß und zur Mitberatung an den Rechtsausschuß sowie an den Auswärtigen Ausschuß. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/2978 , 13/3078, 13/ 3122 und 13/3127 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie auch damit einverstanden? - Das ist so. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 4 a und b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über zwingende Arbeitsbedingungen bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen
-Drucksachen 13/2414, 13/2839 -
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Hans Büttner , Leyla Onur, Ottmar Schreiner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Geänderter Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Rates über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Annelie Buntenbach und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Grundsätze für eine EU-Entsenderichtlinie sowie eine nationale Regelung bis zu deren Realisierung
*) Seite 6469 D zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen
- Drucksachen 13/768, 13/786, 13/725 Nr. 135, 13/3155 -
Berichterstattung: Abgeordnete Leyla Onur
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ottmar Schreiner, Hans Büttner , Rudolf Dreßler, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Angleichung der Arbeitsbedingungen bei der Entsendung von Arbeitnehmern (Entsendegesetz)
- Drucksache 13/2418 -
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Angleichung der Arbeitsbedingungen bei der Entsendung von Arbeitnehmern
- Drucksache 13/2834 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
- Drucksache 13/3155 - Berichterstattung:
Abgeordnete Leyla Onur
Zum Gesetzentwurf der SPD liegt ein Änderungsantrag der Gruppe der PDS vor.
Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die Aussprache über den Gesetzentwurf der SPD namentlich abstimmen werden.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Bundesminister Norbert Blüm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema, über das wir beraten, ist für die Bauwirtschaft, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer, ein elementares Thema, ein Überlebensthema. Wir antworten auf einen Notruf. Das Baugewerbe befindet sich in großer Bedrängnis.
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
1995 gab es im Baugewerbe einen Rückgang der Zahl der Beschäftigten um 5 Prozent. 40 000 Arbeitsplätze sind in einem Jahr verlorengegangen.
Eine Insolvenzwelle überflutet die Bauwirtschaft. Wir haben seit 1992 eine 24prozentige Steigerung der Insolvenzen in den alten Bundesländern und eine 90prozentige Steigerung in den neuen Bundesländern.
Wer es gut meint mit dem Mittelstand, und zwar nicht nur mit Lippenbekenntnissen, nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten, der muß dem Entsendegesetz zustimmen.
Wir waren und sind der Meinung, daß die europäische Lösung die bessere Lösung ist. Keine Regierung hat sich für diese europäische Lösung mehr eingesetzt als die unsrige - keine! Es gibt dafür aber aus naheliegenden Gründen keine Mehrheit, weil einige Länder an der Entsendung interessiert sind. Deshalb haben andere Länder - die Franzosen, die Belgier, die Österreicher und die Luxemburger - nationale Regelungen getroffen, und wir folgen ihnen. Ich bin sicher: Je mehr Länder die nationale Notbremse ziehen, um so größer wird die Chance für eine europäische Regelung.
Ich finde, daß dieses Entsendegesetz ganz besonders für die kleinen und mittleren Betriebe wichtig ist. Die großen können sich zur Not helfen. Sie gründen eine Tochterfirma im europäischen Ausland und kommen dann mit Billigtrupps hierher. Das Entsendegesetz ist ein Gesetz zur Rettung des Mittelstands und des Bauhandwerkes.
Da geht es nicht nur um Bau, sondern da geht es auch um Soziale Marktwirtschaft. Denn ohne eine Struktur, in der die kleinen und mittleren Betriebe eine Überlebenschance haben, gibt es keine Soziale Marktwirtschaft.
Ich bleibe bei dem Satz: Wenn es dem Mittelstand gutgeht, geht es den Arbeitnehmern gut, und wenn es den Arbeitnehmern gutgeht, geht es dem Mittelstand gut.
Insofern können wir uns da gar nicht auseinanderdividieren lassen.
Wir wollen Freizügigkeit und fairen Wettbewerb. Dies ist kein Gesetz, bei dem die Rolläden heruntergelassen werden. Dies ist kein Gesetz für die Festung Deutschland. Jeder kann hier arbeiten. Die Voraussetzung ist nur, daß er das zu den gleichen Bedingungen wie sein deutscher Kollege kann. Das ist fairer Wettbewerb. Es kann doch kein fairer Wettbewerb sein, wenn die einen für einen portugiesischen Stundenlohn von 4 DM arbeiten, während die anderen für das Fünffache arbeiten. Dann müßten auch die deutschen Bauarbeiter auf 4 DM runtergehen. Gibt es jemanden hier im Saal, der das für realistisch hält? Ein portugiesischer Bauarbeiter kann mit 4 DM Stundenlohn möglicherweise seine in Portugal lebende Familie ernähren, ein deutscher Maurer kann das nicht. Deshalb kann das nicht die Lösung des Problems sein.
Wir brauchen dieses Entsendegesetz auch, weil sonst die europäische Integration, für die wir sind, ein gigantisches Lohndumping bedeuten würde. Dagegen haben hierzulande Arbeitgeber und Gewerkschaften gemeinsam gekämpft. Wenn wir das Entsendegesetz nicht einführen, dann können wir die Tarifverträge in den Papierkorb werfen. Wenn das nicht geregelt wird, dann brauchen wir keinen Tarifvertrag mehr. Dann verliert der Tarifvertrag seine Regelungsmächtigkeit, weil ein Großteil der Arbeitnehmer und Arbeitgeber ihm dann nicht unterliegt.
Ohne das Entsendegesetz wird der deutsche Baubereich nicht wettbewerbsfähig. Ohne Entsendegesetz besteht die große Gefahr einer antieuropäischen Stimmung. Wer das nicht will, und wer nicht will, daß Europa in die Kritik gerät, weil es bewährte Mechanismen unserer sozialen Ordnung einschließlich des Tarifvertrages aushöhlt, der muß für eine Übergangszeit - um mehr handelt es sich nicht - ein Entsendegesetz wollen. Die beiden Alternativen zum Entsendegesetz wären, daß entweder der ausländische Kollege, der das gleiche arbeitet, um seinen gerechten Lohn betrogen würde oder daß der deutsche Kollege arbeitslos würde.
Der Regierungsentwurf ist praktikabel. Wir schlagen keine perfekte Regelung vor. Die unterste Lohngruppe wird festgeschrieben. Das ist sozusagen ein tarifvertraglicher Mindestlohn, kein staatlicher. Wir übernehmen nicht das gesamte Tarifgefüge, wie es im Gesetzentwurf der SPD enthalten ist. Wir nehmen nicht den ortsüblichen Lohn als Maßstab. Denn - das frage ich ohne jede Häme, sondern nur wegen der Praktikabilität die Sozialdemokraten -: Wie wollen Sie den ortsüblichen Lohn feststellen? Das ist ja nicht der Tariflohn. Es gibt ja auch Arbeitgeber, die dem Tarifvertrag nicht unterliegen. Wer soll das feststellen? Dann muß ja das gesamte komplizierte Tarifgefüge überprüft werden. Das halte ich, gelinde gesagt, für nicht praktikabel.
Liebe sozialdemokratischen Kolleginnen und Kollegen, ich halte Ihren Gesetzentwurf auch für europarechtlich bedenklich; denn an den ortsüblichen Lohn wäre dann der ausländische Anbieter gebunden, der deutsche Bauunternehmer, der nicht tarifgebunden ist, aber nicht. Dies wäre nach dem Europarecht eine Diskriminierung ausländischer Anbieter.
- Das ist kein dummes Zeug, sondern Europarecht. Das europäische Recht besagt relativ klar, daß kein ausländischer Anbieter diskriminiert werden darf. Es gibt deutsche Arbeitgeber, die nicht dem Tarifvertrag unterliegen und deshalb auch nicht den ortsüblichen Lohn zahlen müssen. Deshalb wäre ein Ausländer an diesen ortsüblichen Lohn gebunden, nicht aber ein deutscher Unternehmer, der nicht tarifgebunden ist. So einfach ist das. Wir dagegen bleiben beim
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
bewährten System des Tarifvertrages, und zwar mit seiner untersten Lohngruppe.
Ich kann auch nicht empfehlen, nach einem staatlichen Mindestlohn zu rufen. Das wäre nämlich die Abkehr von der bewährten Tradition, daß sich der Staat nicht ins Tarifgeschäft begibt.
Wenn er Mindestlöhne festsetzte, wäre es der Anfang der Unterhöhlung der Tarifautonomie. Dann müßte er nämlich nach jedem Tarifvertrag den Mindestlohn neu bestimmen und wäre sozusagen Partner von Lohnforderungen. Das haben wir uns in der Nachkriegszeit erspart, und das war gut.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich halte es für richtig, daß neben dem Bauhauptgewerbe auch das Bauausbaugewerbe einbezogen wird. Im Bauhauptgewerbe sind 1,4 Millionen Menschen beschäftigt, im Bauausbaugewerbe zwischen 500 000 und 700 000. Im Bauausbaugewerbe sind ganz besonders die kleinen und mittleren Betriebe betroffen.
Ich bitte auch wieder aus Gründen der Praktikabilität zu bedenken, daß ein Bau nicht nur der Rohbau ist. Ein Bau ist eine Arbeitsstätte, auf der Installateure, Elektriker, Glaser, Fußbodenleger usw. arbeiten. Die einen hätten also die Entsendegesetzgebung und die anderen nicht. Wer wollte es im Ernstfall auseinanderhalten, wenn jemand sagt, er lege gar keinen Fußboden, er sei Maurer?
Ich bin immer dafür, daß wir bei unserer Gesetzgebung nicht nur die Perfektion der Paragraphen im Auge halten, sondern das Leben. Deshalb halte ich es für gut, daß wir nach der Beratung - man kann ja auch im Zuge der Gesetzgebung klüger werden - nicht nur das Bauhauptgewerbe, sondern auch das Bauausbaugewerbe mit einbeziehen.
Es bleibt dabei: Es ist eine Übergangslösung.
Sie ist auch deshalb sachlich beschränkt, weil ein Unterschied besteht zwischen einem Billigimport, der im Ausland hergestellt wird, und einem Produkt, das in einem hier ansässigen Betrieb entsteht. Letzterer nimmt auch die deutsche Infrastruktur in Anspruch, angefangen von den Straßen bis hin zum Telefon. Insofern ist das Inland auch anders zu behandeln, zumal der alte Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort" ein elementares Gesetz unserer Lohnfindung ist. Wenn wir ihn nicht beachteten, würde über die Hintertür Europas eine große Verwirrung in Deutschland entstehen, die vermehrte Insolvenzen in einer bedrängten Branche, mehr Arbeitslose und höhere Ausgaben für Arbeitslose zur Folge hätte. Wer es gut meint, soll deshalb zustimmen.
Ich appelliere auch an die Arbeitgeber, sich nicht einer Allgemeinverbindlichkeit zu entziehen. Ich will doch einmal sehen, ob eine solche Solidaritätsverweigerung gegenüber einem Verband durchzuhalten ist. Das sage ich auch im Interesse des Arbeitgeberverbandes insgesamt. Ein Arbeitgeberverband, der ein in Not befindliches Mitglied im Stich läßt, leistet einen Beitrag zur Verbandsflucht. Ich bin nicht an Verbandsflucht interessiert, weder auf seiten der Gewerkschaften noch auf seiten der Arbeitgeber. Auf beiden Seiten brauchen wir starke, verabredungsfähige Partner. Aber die Mindestbedingung dieser Partnerschaft ist, daß es innerverbandliche Solidarität gibt und daß man auch in Notzeiten einem in Not befindlichen Mitglied beisteht. Deshalb mein Appell.
Gerade der Baubereich, der in Bedrängnis ist, der aber in der letzten Zeit auf beiden Seiten, auf Arbeitnehmer- wie auf Arbeitgeberseite, bewiesen hat, daß er zum Umbau fähig ist, und zwar mehr als andere, die darüber reden, die viele Worte machen, hat einen konkreten Beitrag zum Umbau geleistet. Er hat das Schlechtwettergeld mit Opfern von beiden Seiten selbst geregelt. Da wünsche ich mir, daß dieses gute Beispiel von Partnerschaft Schule macht. Diese Branche darf nicht im Stich gelassen werden.
Ich bitte um Ihre Zustimmung, damit wir den Baubereich nicht im Stich lassen.
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe, komme ich noch einmal zum Tagesordnungspunkt 3 zurück. Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/3135 bekannt. Abgegebene Stimmen: 615; mit Ja haben 207 gestimmt, mit Nein 351, Enthaltungen: 57.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 615; davon
ja: 207
nein: 351
enthalten: 57 Ja
CDU/CSU
Michael Wonneberger
SPD
Brigitte Adler
Gerd Andres
Hermann Bachmaier Ernst Bahr
Doris Barnett
Ingrid Becker-Inglau Wolfgang Behrendt Hans Berger
Hans-Werner Bertl Friedhelm Julius Beucher Rudolf Bindig
Dr. Ulrich Böhme Arne Börnsen (Ritterhude)
Anni Brandt-Elsweier Dr. Eberhard Brecht Edelgard Bulmahn Hans Martin Bury Marion Caspers-Merk
Wolf-Michael Catenhusen Peter Conradi
Dr. Herta Däubler-Gmelin Christel Deichmann
Karl Diller
Peter Dreßen
Rudolf Dreßler
Freimut Duve
Ludwig Eich
Peter Enders
Gernot Erler
Petra Ernstberger Annette Faße
Elke Ferner
Lothar Fischer Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski Dagmar Freitag
Anke Fuchs Katrin Fuchs (Verl) Arne Fuhrmann
Monika Ganseforth Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Dr. Peter Glotz
Günter Graf
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Angelika Graf Dieter Grasedieck
Achim Großmann Karl Hermann Haack
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann Manfred Hampel Christel Hanewinckel
Alfred Hartenbach Dr. Liesel Hartenstein
Klaus Hasenfratz
Dr. Ingomar Hauchler
Dieter Heistermann Reinhold Hemker Roll Hempelmann Dr. Barbara Hendricks
Monika Heubaum Reinhold Hiller
Stephan Hilsberg Gerd Höfer
Jelena Hoffmann Frank Hofmann (Volkach)
Ingrid Holzhüter Eike Hovermann Gabriele Iwersen Renate Jäger
Jann-Peter Janssen Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Volker Jung
Sabine Kaspereit Susanne Kastner Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Marianne Klappert
Dr. Hans-Hinrich Knaape
Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Nicolette Kressl Thomas Krüger Eckart Kuhlwein Konrad Kunick Christine Kurzhals Dr. Uwe Küster Werner Labsch Brigitte Lange Detlev von Larcher Robert Leidinger Klaus Lennartz
Dr. Elke Leonhard Klaus Lohmann
Dieter Maaß Winfried Mante Ulrike Mascher Christoph Matschie
Ingrid Matthäus-Maier
Heide Mattischeck Markus Meckel Ulrike Mehl
Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer
Ursula Mogg
Siegmar Mosdorf
Michael Müller Jutta Müller (Völklingen) Christian Müller (Zittau)
Volker Neumann
Dr. Edith Niehuis Dr. Rolf Niese
Doris Odendahl Günter Oesinghaus Leyla Onur
Manfred Opel Adolf Ostertag Kurt Palis
Albrecht Papenroth Dr. Willfried Penner Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein Dr, Eckhart Pick
Karin Rehbock-Zureich Margot von Renesse Renate Rennebach
Dr. Edelbert Richter Reinhold Robbe
Gerhard Rübenkönig Dr. Hansjörg Schäfer Gudrun Schaich-Walch Dieter Schanz
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Horst Schild
Otto Schily
Dieter Schloten
Günter Schluckebier Horst Schmidbauer
Ursula Schmidt Dagmar Schmidt (Meschede) Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Ottmar Schreiner
Dr. Mathias Schubert Richard Schuhmann
Reinhard Schultz
Volkmar Schultz Ilse Schumann
Dr. R. Werner Schuster Dietmar Schütz Dr. Angelica Schwall-Düren Ernst Schwanhold
Bodo Seidenthal
Lisa Seuster
Johannes Singer
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Wieland Sorge
Wolfgang Spanier Dr. Dietrich Sperling Jörg-Otto Spiller
Antje-Marie Steen Ludwig Stiegler
Dr. Peter Struck
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Dr. Bodo Teichmann Dr. Gerald Thalheim Wolfgang Thierse Dietmar Thieser
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher Hans-Eberhard Urbaniak Siegfried Vergin
Günter Verheugen Ute Vogt
Karsten D. Voigt Hans Georg Wagner
Hans Wallow
Dr. Konstanze Wegner Wolfgang Weiermann Reinhard Weis Matthias Weisheit Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
Jochen Welt
Hildegard Wester Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Norbert Wieczorek Heidemarie Wieczorek-Zeul Dieter Wiefelspütz
Dr. Wolfgang Wodarg Hanna Wolf Heidi Wright
Uta Zapf
Dr. Christoph Zöpel
Nein
CDU/CSU
Ulrich Adam
Peter Altmaier
Anneliese Augustin Jürgen Augustinowitz Dietrich Austermann Heinz-Günter Bargfrede Franz Peter Basten
Dr. Wolf Bauer
Brigitte Baumeister
Dr. Sabine Bergmann-Pohl Hans-Dirk Bierling
Dr. Joseph-Theodor Blank Renate Blank
Dr. Heribert Blens Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm Friedrich Bohl
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig
Paul Breuer
Monika Brudlewsky Georg Brunnhuber Hartmut Büttner
Dankward Buwitt
Manfred Carstens Peter Harry Carstensen
Wolfgang Dehnel Hubert Deittert
Gertrud Dempwolf Albert Deß
Renate Diemers Wilhelm Dietzel Werner Dörflinger Hansjürgen Doss Dr. Alfred Dregger Maria Eichhorn
Wolfgang Engelmann Rainer Eppelmann Heinz Dieter Eßmann Horst Eylmann
Anke Eymer
Ilse Falk
Jochen Feilcke
Dr. Karl H. Fell
Ulf Fink
Dirk Fischer
Leni Fischer
Klaus Francke Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Michaela Geiger Norbert Geis
Dr. Heiner Geißler Michael Glos
Wilma Glücklich
Dr. Reinhard Göhner Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer Joachim Gres
Kurt-Dieter Grill Wolfgang Gröbl Hermann Gröhe Claus-Peter Grotz Manfred Grund
Horst Günther Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein
Gottfried Haschke
Gerda Hasselfeldt Rainer Haungs
Otto Hauser Hansgeorg Hauser
Klaus-Jürgen Hedrich Manfred Heise
Dr. Renate Hellwig Ernst Hinsken
Peter Hintze
Josef Hollerith
Dr. Karl-Heinz Hornhues Siegfried Hornung Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Peter Jacoby
Susanne Jaffke
Georg Janovsky Helmut Jawurek Dr.-Ing. Rainer Jork Michael Jung Ulrich Junghanns
Dr. Egon Jüttner Dr. Harald Kahl Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter
Dr.-Ing. Dietmar Kansy Manfred Kanther Irmgard Karwatzki Volker Kauder
Peter Keller
Eckart von Klaeden Dr. Bernd Klaußner Hans Klein Ulrich Klinkert Hans-Ulrich Köhler
Manfred Kolbe
Norbert Königshof en Eva-Maria Kors Hartmut Koschyk Manfred Koslowski Thomas Kossendey Rudolf Kraus
Wolfgang Krause Andreas Krautscheid Arnulf Kriedner Heinz-Jürgen Kronberg Dr.-Ing. Paul Krüger Reiner Krziskewitz
Dr. Hermann Kues Werner Kuhn
Dr. Karl A. Lamers
Karl Lamers
Dr. Norbert Lammert Helmut Lamp
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Armin Laschet Herbert Lattmann Dr. Paul Laufs Karl-Josef Laumann Werner Lensing Christian Lenzer Peter Letzgus
Editha Limbach Walter Link Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Dr. Manfred Lischewski Wolfgang Lohmann
Julius Louven Sigrun Löwisch Heinrich Lummer Dr. Michael Luther
Erich Maaß Dr. Dietrich Mahlo
Erwin Marschewski Günter Marten
Dr. Martin Mayer
Wolfgang Meckelburg Rudolf Meinl
Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz
Rudolf Meyer
Hans Michelbach Meinolf Michels Dr. Gerd Müller
Elmar Müller Engelbert Nelle
Bernd Neumann Johannes Nitsch
Claudia Nolte
Dr. Rolf Olderog Friedhelm Ost Eduard Oswald Norbert Otto Dr. Gerhard Päselt Dr. Peter Paziorek Hans-Wilhelm Pesch Ulrich Petzold
Anton Pfeifer
Dr. Gero Pfennig
Dr. Friedbert Pflüger Dr. Winfried Pinger Ronald Pofalla
Dr. Hermann Pohler Ruprecht Polenz Marlies Pretzlaff
Dr. Albert Probst Dr. Bernd Protzner Dieter Pützhofen Thomas Rachel Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer Rolf Rau
Helmut Rauber Peter Harald Rauen Otto Regenspurger
Christa Reichard Klaus Dieter Reichardt
Dr. Bertold Reinartz Erika Reinhardt Hans-Peter Repnik Roland Richter Roland Richwien Dr. Norbert Rieder
Dr. Erich Riedl Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber Hannelore Rönsch
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Adolf Roth
Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Dr. Jürgen Rüttgers
Roland Sauer Ortrun Schätzle
Dr. Wolfgang Schäuble Hartmut Schauerte
Heinz Schemken Karl-Heinz Scherhag Gerhard Scheu Norbert Schindler Dietmar Schlee Ulrich Schmalz Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Andreas Schmidt Hans-Otto Schmiedeberg Hans Peter Schmitz
Michael von Schmude
Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Rupert Scholz Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt Wolfgang Schulhoff
Dr. Dieter Schulte
Gerhard Schulz (Leipzig) Frederick Schulze Diethard Schütze (Berlin) Clemens Schwalbe
Dr. Christian Schwarz-Schilling
Horst Seehofer Wilfried Seibel Heinz-Georg Seiffert
Rudolf Seiters Johannes Selle Bernd Siebert Jürgen Sikora
Johannes Singhammer Bärbel Sothmann Margarete Späte Carl-Dieter Spranger Wolfgang Steiger Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Dr. Gerhard Stoltenberg Andreas Storm
Max Straubinger Matthäus Strebl Michael Stübgen Egon Susset
Dr. Rita Süssmuth Michael Teiser
Dr. Susanne Tiemann
Dr. Klaus Töpfer Gottfried Tröger
Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Gunnar Uldall
Dr. Horst Waffenschmidt
Dr. Theodor Waigel
Alois Graf von Waldburg-Zeil
Dr. Jürgen Warnke Kersten Wetzel
Hans-Otto Wilhelm Gert Willner
Bernd Wilz
Willy Wimmer Matthias Wissmann Simon Wittmann
Dagmar Wöhrl
Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach Cornelia Yzer
Wolfgang Zeitlmann Wolfgang Zöller
SPD
Uwe Hiksch Horst Kubatschka
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Elisabeth Altmann
F.D.P.
Ina Albowitz
Dr. Gisela Babel Hildebrecht Braun
Günther Bredehorn Jörg van Essen
Dr. Olaf Feldmann Gisela Frick
Paul K. Friedhoff Horst Friedrich
Rainer Funke
Hans-Dietrich Genscher
Dr. Wolfgang Gerhardt Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Helmut Haussmann Ulrich Heinrich
Walter Hirche
Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Ulrich Irmer
Dr. Klaus Kinkel
Detlef Kleinert Roland Kohn
Dr. Heinrich L. Kolb Jürgen Koppelin
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann Heinz Lanfermann
Uwe Lühr
Jürgen W. Möllemann Günther Friedrich Nolting
Dr. Rainer Ortleb Lisa Peters
Dr. Klaus Röhl
Helmut Schäfer Cornelia Schmalz-Jacobsen Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Dr. Irmgard Schwaetzer
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler Carl-Ludwig Thiele Dr. Dieter Thomae Jürgen Türk
Dr. Wolfgang Weng
PDS
Wolfgang Bierstedt
Petra Bläss
Maritta Böttcher
Eva Bulling-Schröter
Dr. Ludwig Elm
Dr. Dagmar Enkelmann
Dr. Ruth Fuchs Dr. Gregor Gysi Dr. Uwe-Jens Heuer
Dr. Barbara Höll Ulla Jelpke
Gerhard Jüttemann
Dr. Heidi Knake-Werner
Rolf Köhne
Andrea Lederer Dr. Christa Luft Heidemarie Lüth
Dr. Günther Maleuda Manfred Müller
Rosel Neuhäuser Dr. Uwe-Jens Rössel
Christina Schenk Klaus-Jürgen Warnick
Dr. Winfried Wolf
Gerhard Zwerenz
Enthalten
SPD
Klaus Barthel Tilo Braune
Ursula Burchardt
Dr. Marliese Dobberthien Norbert Gansel Wolfgang Ilte
Barbara Imhof Ernst Kastning Hans-Ulrich Klose Volker Kröning Waltraud Lehn Christa Lörcher Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dorle Marx
Gerhard Neumann Otto Reschke
Bernd Reuter Günter Rixe
Gisela Schröter Horst Sielaff
Erika Simm
Margitta Terborg Jella Teuchner Adelheid Tröscher Josef Vosen
Helmut Wieczorek Berthold Wittich
Peter Zumkley
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Volker Beck
Matthias Berninger
Franziska Eichstädt-Bohlig Andrea Fischer Joseph Fischer (Frankfurt) Rita Grießhaber
Kristin Heyne
Ulrike Höfken
Michaele Hustedt
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Dr. Angelika Köster-Loßack
Vera Lengsfeld
Dr. Helmut Lippelt Oswald Metzger Kerstin Müller
Christa Nickels Cem Özdemir Gerd Poppe
Simone Probst Halo Saibold
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt Wolfgang Schmitt (Langenfeld)
Werner Schulz Rainder Steenblock
Dr. Antje Vollmer
Ludger Volmer
Helmut Wilhelm Margareta Wolf (Frankfurt)
Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Wir fahren jetzt mit den Tagesordnungspunkten 4 a und 4 b fort. Das Wort hat der Kollege Peter Dreßen, SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundesarbeitsminister, im Sprüche klopfen sind Sie ja groß, das ist bundesweit bekannt.
Wenn man Sie aber an den Taten mißt, dann ist manches geringer. Es ist doch beschämend, daß Sie hier den Eindruck erwecken, Sie hätten einen Gesetzentwurf vorgelegt, um damit die Probleme in der Bauwirtschaft zu regeln. Das Gegenteil ist doch der Fall.
Herr Bundesarbeitsminister, in Berlin, der größten Baustelle Europas, gibt es Baustellen, auf denen kaum noch deutsche Bauarbeiter zu finden sind. Dies hat uns die Berliner Sozialsenatorin bei der Anhörung sehr deutlich ins Stammbuch geschrieben. 20 000 Bauarbeiter sind dort arbeitslos, und wenn man das Umfeld noch dazunimmt, kommt man auf 30 000. Offiziell wird von rund 150 000 ausländischen Beschäftigten mit Dumpinglöhnen ausgegangen. Die Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden schätzt das Volumen sogar auf zirka 200 000. Die meisten stammen aus Portugal oder sind Scheinselbständige aus Großbritannien. Hinzu kommen noch einige aus dem Ostblock.
Wir alle wissen, woran das liegt, nämlich an der Möglichkeit, ausländische Arbeitskräfte zu ihren Heimattarifen in Deutschland zu beschäftigen. Dadurch können Bauaufträge von ausländischen Arbeitskräften zu Dumpingpreisen hier ausgeführt werden.
Gegen diese bedenkliche Entwicklung soll nun ein Entsendegesetz verabschiedet werden, mit dem das Lohngefälle zwischen aus- und inländischen Arbeitskräften am Bau eingeebnet werden soll. Es geht also
- und das wollen wir auch - um gleichen Lohn für gleiche Arbeit am selben Ort.
- Darauf kommen wir noch zurück.
Aber was tut die Bundesregierung? Sie legt einen Entwurf für ein Gesetz vor, daß unsere Arbeitnehmer eben nicht vor Dumpingpreisen aus Portugal, Polen und Großbritannien schützt - frei nach dem Motto: Auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
müssen sich den Grundsätzen der Marktwirtschaft unterordnen.
Nur haben Sie bei der ganzen Geschichte eines vergessen: Ein deutscher Arbeitnehmer kann sich auch nicht nach dem Prinzip des freien Wettbewerbs hier polnische oder portugiesische Mietpreise aussuchen, sondern er muß die Miete bezahlen, die ihm der Markt hier abverlangt.
Dasselbe gilt auch für die übrigen Lebenshaltungskosten.
Deshalb ist das, was hier die F.D.P. fordert, Unsinn. Die F.D.P. will, wie Graf Lambsdorff vor einigen Monaten im „Handelsblatt" deutlich verkündet hat, in Wirklichkeit die Tarifautonomie abschaffen und das Entsendegesetz als Hebel benutzen. Daß dabei Hunderttausende von Arbeitsplätzen hier verlorengehen, interessiert die F.D.P. anscheinend überhaupt nicht, obwohl wir gestern gehört haben, daß 100 000 Arbeitsplätze dem Bundesarbeitsminister 3 Milliarden DM Kosten in diesem Land verursachen.
Ja, welche Interessen hat eigentlich ein deutscher Volksvertreter in dieser Frage in diesem Hohen Hause? Angesichts von 3,5 Millionen registrierten Arbeitslosen in unserem Land ist es doch unsere verdammte Pflicht, Arbeitsplätze vor unseriösen Anbietern zu schützen und sie nicht dem freien Wettbewerb zu unterstellen.
Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Auch wir wollen, daß ein portugiesischer, ein griechischer oder ein englischer Arbeitnehmer aus dem EG- Raum hier arbeiten kann, aber bitte zu den Bedingungen, die Gewerkschaften und Arbeitgeber miteinander ausgehandelt haben.
Dazu gehört auch, daß pro Arbeitsplatz die Sozialleistungen erbracht werden, die wir hier in diesem Hohen Hause in den letzten Jahren beschlossen haben. Um nicht mehr, aber auch um nicht weniger geht es.
Was sind wir eigentlich für eine Gesellschaft, wenn wir einerseits zulassen, daß zu unmöglichen Arbeitsbedingungen von ausländischen Arbeitnehmern Leistungen erbracht werden, und wir andererseits unsere Arbeitnehmer dann zum Arbeitsamt schikken, wo sie dann auch noch die Segnungen des Sozialabbaus, den Sie hier permanent beschließen, auskosten dürfen? Dies - verzeihen Sie mir - ist Schwachsinn hoch drei.
Herr Heinrich, ich habe noch Ihren Spruch von gestern im Ohr: Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze - dreimal haben Sie es wiederholt. Hier kön-
Peter Dreßen
nen Sie es beweisen, daß Sie Arbeitsplätze schaffen und erhalten.
Es geht also nicht um osteuropäische Gastarbeiter, sondern um ein Problem, das aus der Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union herrührt. Hier zeigt sich eine Schwäche des Europavertrages, dem auf Betreiben der neoliberalen Wirtschaftsminister und der Arbeitgeberseite die soziale Dimension weitgehend fehlt. Deshalb dringt auch die Europäische Union nicht durch, denn in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bestehen nach wie vor große Unterschiede hinsichtlich der Einkommens- und der Lebensverhältnisse.
Das wird nun weidlich ausgenutzt, indem man Bauaufträge an ausländische Bauunternehmen vergibt; der Unternehmer wiederum befördert seine Arbeitskräfte hierher und entlohnt dann zu Heimattarifen. Damit werden die niedrigen Lebenshaltungskosten voll ausgenutzt.
Insofern zeigt sich, daß es dabei nicht etwa um eine Diskriminierung von Ausländern, sondern um einen Schutz gegen den diskriminierenden Import von ausländischen Lebenshaltungskosten geht.
Den Arbeitgebern aus der Metall- und der Chemieindustrie, die sich stets gegen dieses Gesetz stark gemacht haben, möchte ich dazu nur zweierlei entgegenhalten.
Erstens. Die Europäische Union ist ja nicht gerade ein Musterbeispiel für den freien Welthandel. Wenn es um Importbeschränkungen aller Art geht, arbeiten die Lobbyisten auch der deutschen Wirtschaft in hohem Maße effizient, um unliebsame Konkurrenz außen vor zu lassen.
Zweitens. Innerhalb der Union gibt es, wie gesagt, Unterschiede im Niveau von Löhnen und Lebenshaltungskosten. Wenn Branchen wie die Metall- und Chemieindustrie ihre Produkte hierzulande bei einem Niveau der Kaufkraft wie in Portugal absetzen müßten, dann könnten einige wirklich ihre Läden zumachen.
Da hier beim Entsendegesetz gern Wettbewerbsargumente ins Feld geführt werden, kann ich nur auf das jüngste Beispiel hinweisen, bei dem der Preiswettbewerb wieder einmal außer Kraft gesetzt wurde. Ich meine die Pharmaunternehmen in diesem Lande.
Diese Branche hat es gerade wieder einmal erreicht, daß der Gesundheitsminister die Positivliste einkassiert hat, obwohl Medikamente in diesem Land doppelt und dreifach so teuer sind wie in den Nachbarländern. Mit Wettbewerb hat das für mich jedenfalls nichts mehr zu tun.
Diesen Damen und Herren möchte ich folgendes ins Stammbuch schreiben: Wer jetzt beim Entsendegesetz nach Liberalismus und Wettbewerb ruft, den nehmen wir auch dann beim Wort, wenn es beispielsweise wieder einmal darum geht, die Kosten im Gesundheitswesen herunterzuschrauben.
Meine Damen und Herren, leider besteht in diesem Haus keinerlei Einigkeit darüber, wie dem Mißstand am Bau im einzelnen zu Leibe gerückt werden soll. Es gibt unterschiedliche Auffassungen zwischen Regierung und Opposition. Umstritten sind die Reichweite und die Dauer der Gültigkeit eines solchen Entsendegesetzes.
Die SPD und der Bundesrat treten für eine unbegrenzte Dauer ein. Die SPD fordert zu Recht weiter, daß dies nicht auf das Bauhaupt- und -nebengewerbe begrenzt wird, weil wir feststellen, daß auch in anderen Bereichen Lohndumpingpreise stattfinden.
Nun haben Sie sich ja erweichen lassen und haben in letzter Minute das Baunebengewerbe in Ihren Entwurf einbezogen.
Dagegen zielt der Entwurf der Koalition weiter darauf ab, daß das Gesetz auf nur zwei Jahre begrenzt wird. Meine Damen und Herren, wer eine solche Regelung auf zwei Jahre befristet, weiß, daß sich in zwei Jahren überhaupt nichts ändern wird. Ich frage mich deshalb: Warum diese Befristung?
Dieser Pferdefuß geht auf den liberalen Wirtschaftsminister Günter Rexrodt und dessen Deregulierungswahnsinn zurück. Aber auch das kann man nun konsequent zu Ende denken. Wie wäre es denn, wenn man in Berlin das Lohnniveau auf das von den neuen Ländern senken würde und Herr Rexrodt, ein aus Berlin stammender Abgeordneter, künftig nur das ostdeutsche Durchschnittseinkommen erhalten würde?
Das hätte man wahrscheinlich am besten schon getan, als er bei der Treuhand anfing. Dann hätte er aber den Job nicht angetreten.
Uns wäre dann allerdings viel Ärger und Unsinn erspart geblieben. - Aber zurück zur Sache.
Halten wir fest: Erstens. Die Befristung auf zwei Jahre macht wenig Sinn. Zweitens. Die Beschränkung auf das Bauhaupt- und -nebengewerbe ebenso.
Und damit nicht genug. Als Kontrollbehörde sollen ihrer Ansicht nach die Länder zuständig sein.
Der Hauptgeschäftsführer des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie, Dr. Friedrich Hassbach, hat das zu Recht in der Anhörung als ein „stumpfes Schwert" bezeichnet, weil es überhaupt keine Experten gibt, die so etwas machen können; denn die Länder haben weder die Kapazitäten noch die Erfahrungen.
Die einzig richtige Adresse für eine Kontrolle ist die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg, meine Damen und Herren. Wie stellen Sie sich das denn vor? Die Arbeitsämter kontrollieren die Baustelle an einem Tag auf illegale Leiharbeiter, und am Tag darauf kommt der Landesbeamte und überprüft die Lohnlisten. Wie soll das funktionieren?
Peter Dreßen
Aber, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, so weit wird es gar nicht erst kommen. Der Regierungsentwurf sieht vor, daß die Tarifparteien die unteren Lohngruppen am Bau für allgemein verbindlich erklären. Das wollen die Spitzenverbände der Arbeitgeber gegen das Votum der Bauindustrie nicht mitmachen. Sie haben das alle in der Anhörung vernommen. Aus deren Sicht würden damit auch solche Baufirmen an den Tarif gebunden, die nicht dem Tarifverband angehören. Außerdem fürchten diese Leute, daß damit ein Mindestlohn eingeführt würde.
Gestern mußten wir im Ausschuß erfahren, daß die Bundesregierung das auch noch als Stärkung der Tarifautonomie feiert. Umgekehrt, meine Damen und Herren, wird ein Schuh daraus. Gerade im Baunebengewerbe, Herr Bundesarbeitsminister, haben Sie fast ausschließlich regionale Tarifverträge, kein einziger ist bundesweit. Wollen Sie hier einen riesigen bürokratischen Aufwand entfachen?
Wenn Sie alle 16 Länder einbeziehen, müssen Sie die Allgemeinverbindlichkeit über die Länderarbeitsminister erreichen. Stellen Sie sich das einmal vor! Es gibt sogar noch Länder, die innerhalb ihres Landes verschiedene Bezirke mit eigenen Tarifverträgen haben.
Sie entwickeln hier einen riesigen bürokratischen Aufwand oder Sie greifen in die Tarifautonomie ein und schreiben den Gewerkschaften bundesweite Tarifverträge vor. Das wäre die Alternative. Aber dann wäre der Eingriff bei ihnen und nicht bei uns.
Bei der Anhörung hat Herr Göbel von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, der zugleich einer der drei Herren im Tarifausschuß ist, erklärt, daß die drei Arbeitgeber keinesfalls einen Allgemeinverbindlichkeitsantrag stellen werden. Im Endeffekt werden wir heute also ein Gesetz verabschieden, das, noch bevor die Stimmkarten ausgezählt sind, am Nein der Arbeitgeber im Tarifausschuß gescheitert sein wird. Es handelt sich also bei alledem um nichts anderes als um ein Gesetz mit einem Muster ohne Wert. Ihr ganzer Entwurf ist von vorne bis hinten vollkommen sinnlos.
- Darüber können wir später diskutieren.
Daß bei Ihren Gesetzentwürfen meistens etwas im argen liegt, ist hinlänglich bekannt. Aber daß hier das höchste gesetzgebende Organ dieser Republik mit einer Vorlage befaßt wird, von der man vorher weiß, daß sie das Papier nicht wert sein kann, auf dem sie geschrieben ist, ist in der Geschichte dieses Hauses noch nicht so oft vorgekommen.
Wenn Sie es bisher noch nicht gemerkt haben sollten: Sie sind auch in der Sache völlig isoliert. Ihnen und uns liegen massenhaft Resolutionen von Handwerkskammern, von Innungsverbänden, vom Zentralverband des Deutschen Handwerks vor, die unsere Argumente bestätigen, die zum Beispiel keine Befristung wollen und das Ausbaugewerbe einbeziehen wollen. Diese Leute gehören nicht zu unserer Klientel. Daß die Gewerkschaften sich dem angeschlossen haben, beweist, wie richtig unser Gesetzentwurf ist.
Die Ursachen für das, was uns geboten wird, sind klar. Der eigentliche Riß geht quer durch die Regierungskoalition: Die CDU/CSU ist eingequetscht zwischen der politischen Deregulierungswut des Auslaufmodells der F.D.P. auf der einen Seite und dem Arbeitgeberlager auf der anderen Seite. Herr Blüm, bis heute ist Ihnen kein Befreiungsschlag aus dieser Quetschmühle gelungen. Insofern muß ich Sie an Ihren Amtseid erinnern: Sie sind nicht der F.D.P., sondern den Wählern und den Wählerinnen in diesem Lande verantwortlich. Sie sollen Schaden von diesem Land abwenden. Was Sie hier tun, kann aber nur als vorsätzliche Herbeiführung von zusätzlichem Schaden bezeichnet werden.
Kommt es heute zu dem Gesetz im Sinne Ihres Entwurfs, dann müssen wir über 100 000 Arbeitsplätze am Bau abschreiben. Das ist die Situation. Das ist kein Horrorszenario von notorischen Protektionisten, sondern das haben die Arbeitgebervertreter der Bauindustrie in der Anhörung des Ausschusses unmißverständlich erklärt.
Insofern möchte ich die politisch verantwortlich Denkenden in dieser Koalition inständig bitten: Geben Sie dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung nicht Ihre Stimme! Dokumentieren Sie durch Ihr Stimmverhalten, daß von Mitgliedern des Parlaments eine tragfähige Beschlußfassung erwartet werden kann!
Ich fordere Sie auf, zumindest die Bedenken der Länder ernster zu nehmen, als Sie es tun.
Die Zeit, Herr Kollege.
Ich bin gerade beim Schlußsatz.
Der Bundesrat hat mit den Stimmen aller Länder erstens keine Befristung vorgesehen und zweitens die ideologische Allgemeinverbindlichkeitsklausel nicht vorgesehen. Das wäre zumindest ein großer Schritt in die richtige Richtung. Sie würden damit
Peter Dreßen
nicht mehr Hunderttausende Arbeitsplätze bewußt vernichten.
Das Wort hat der Kollege Julius Louven, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
- Die haben wir gestern diskutiert, und da haben Sie nicht allzugut ausgesehen.
Vor allen Dingen haben Sie gestern geglaubt, Sie könnten den Arbeitsminister, Heiner Geißler und mich auseinanderdividieren. Dieser Versuch ist gründlich mißlungen.
Herr Dreßen, nach Ihrer lauten Rede, in der Sie einmal mehr den Weltuntergang beschworen haben, sollten wir uns wieder sachlich mit dieser Frage auseinandersetzen. Uns beschäftigt heute das Problem, daß auf deutschen Baustellen immer mehr ausländische Arbeitnehmer zu anderen Bedingungen als ihre deutschen Kollegen beschäftigt sind. Dies führt zu Wettbewerbsverzerrungen und gerade auch bei nachlassender Konjunktur zu arbeitsmarktpolitischen Problemen. Deutsche Bauarbeiter werden vermehrt arbeitslos, während die Zahl ausländischer Bauarbeiter auf deutschen Baustellen steigt.
Diese legale Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer ist derzeit auf Grund des EG-Rechts möglich, wonach Subunternehmen aus dem EG-Bereich mit Arbeitskräften, von wo auch immer, in Deutschland arbeiten können.
Der Bundesarbeitsminister hat sich bemüht, diese Problematik auf EG-Ebene mit einer EG-Richtlinie in den Griff zu bekommen. Hierfür war in der EG eine Mehrheit leider nicht erreichbar. Eine nationale Regelung muß deshalb gefunden werden. Nachdem andere Länder dies schon gemacht haben, steht dies heute hier an. Dazu liegen drei Gesetzentwürfe vor: einer von der SPD, einer vom Bundesrat und einer von der Bundesregierung bzw. von der Koalition.
Um den besten Weg haben wir heftig gestritten; heute muß entschieden werden. Ich bin, meine Damen und Herren von der Opposition, fest davon überzeugt, daß Ihr Vorschlag, der ja im wesentlichen vom ortsüblichen Lohn ausgeht, der falsche Weg ist, insbesondere deshalb, weil nicht tarifgebundene Arbeitgeber hieran nicht gebunden wären. Zum anderen würde auch ständig gestritten, was ortsüblich ist. Im übrigen, Herr Dreßen - dies kennen wir ja -,
ist in Ihrem Gesetzentwurf viel zuviel Dirigismus festzustellen; Sie verfallen wie immer in eine Regelungswut.
Wir gehen den anderen Weg. Wir setzen darauf, den niedrigsten Lohn in der Baubranche für allgemeinverbindlich zu erklären.
Dies ist wesentlich einfacher zu handhaben.
- Ich lasse von Herrn Dreßen keine Zwischenfrage zu. Sie haben hier so laut und so lange gesprochen,
daß das erst einmal reicht.
Wir setzen auf die Tarifautonomie. Sie haben wiederholt davon gesprochen - auch eben wieder -, daß unser Gesetzentwurf schon deshalb Makulatur sei, weil die Bundesvereinigung der Arbeitgeber sich weigert, im Tarifausschuß dieser Allgemeinverbindlichkeit zuzustimmen.
Ich will dazu heute nur sagen - ich habe es auch gestern im Ausschuß gesagt -, daß ich nicht bereit bin, mir in dieser Frage den Kopf der Arbeitgeber zu zerbrechen.
- Warten wir doch einmal ab, Herr Dreßen, wie sie sich wirklich verhalten. Ich jedenfalls kann mir nicht vorstellen, daß die Bundesvereinigung der Arbeitgeber die gesamte Baubranche, die ja wie auch die Gewerkschaften in diesem Bereich eine Regelung will, im Regen stehenläßt.
Für gewisse ordnungspolitische Bedenken, die es im übrigen auch in meiner Fraktion gibt, habe ich durchaus Verständnis. Einen Stundenlohn von 20,23 DM allgemeinverbindlich festzuschreiben kann von daher auch nur befristet in Frage kommen.
Diese Befristung auf zwei Jahre wird ja von Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, aber auch von den Tarifpartnern kritisiert. Ich möchte jedoch in aller Deutlichkeit sagen, daß niemand darauf vertrauen soll, daß diese Frist verlängert wird. Ich halte sie für vertretbar. Ich bin der Meinung, daß wir Europa nicht verwirklichen, wenn wir langfristig Schutzzäune um gewisse Tarifbereiche ziehen. Die Tarifvertragsparteien müssen sich den neuen Gegebenheiten stellen. Es ist eine moderne Tarifpolitik gefragt. Hierunter verstehe ich, daß Tarifpartner ihre
Julius Louven
Handlungsspielräume verantwortlich nutzen und der Staat bei der gewaltigen Aufgabe der Umstrukturierung hilft. Dazu sind wir bereit.
Wir vertrauen auf die Tarifpartner, während Sie ihnen die Fähigkeit absprechen, sich eigenverantwortlich dem europäischen Wettbewerb anzupassen. Im übrigen sind die Gewerkschaften in dieser Hinsicht schon weiter als Sie. Das sehen Sie beim Arbeitszeitgesetz ebenso wie bei der Flexibilisierung der Arbeitszeit
und den Einstiegstarifen. Das sind alles Punkte, bei denen die Gewerkschaften Sie längst überholt haben.
Im übrigen gibt es eine Reihe ernstzunehmender Stimmen - das sind dann allerdings nicht die Funktionäre der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber -, die dahin gehen, daß eine weitergehende Befristung den Strukturwandel in dieser Branche, der dringend erforderlich ist, wenn man in Europa bestehen will, mit Sicherheit verlangsamen würde.
Hauptkritikpunkt des Kollegen Büttner, der ja in der ersten Lesung genauso gejammert hat wie Sie heute,
war die Beschränkung des Gesetzes auf das Bauhauptgewerbe. Dieser Punkt hat bei uns eine erhebliche Rolle gespielt. Auf Grund der Anhörung haben wir uns in der Koalition darauf verständigen können, auch das Baunebengewerbe in die Regelung einzubeziehen. Ich bin, obwohl ich die ursprüngliche Regelung verteidigt habe, hierüber sehr froh. Ich bleibe aber auch bei meiner Aussage, daß im Baunebengewerbe die Probleme nicht so eklatant sind wie im Bauhauptgewerbe. Wenn Sie, Herr Dreßen, eben gemeint haben, es werde zu erheblichen Tarifproblemen im Bereich des Baunebengewerbes kommen, kann ich Ihnen nur sagen: Wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer ein entsprechendes Gesetz wollen und wir dieses Gesetz heute beschließen, dann können sie ja auch entsprechend handeln. Ich gehe davon aus: Sie werden es tun.
Die Problematik, mit der wir es heute zu tun haben - dies habe ich in der ersten Lesung schon betont -, entsteht - dies kann wohl niemand bestreiten - aus dem teuren Arbeitsmarkt Deutschland. Gelang es uns früher, die Lohnstückkosten bei hohem Lohngefüge günstig zu halten, ist dies heute nicht mehr der Fall. Die internationalen Wettbewerber auch im Baubereich haben mächtig aufgeholt. Um am Markt zu bestehen, suchen sich die Unternehmen Nischen, um dem teuren Arbeitsmarkt auszuweichen. Die Scheinselbständigkeit ist ein Beispiel dafür, ebenso das Problem der geringfügig Beschäftigten, bei dem es zunehmend Mißbrauch gibt, wie auch die illegale Beschäftigung, bei der es schon ins Kriminelle geht.
Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD: Wir können noch soviel regeln, die Unternehmen werden neue Nischen finden, wenn sie ums Überleben kämpfen. Es führt deshalb kein Weg daran vorbei, in Deutschland Strukturen zu verändern. Mit dem Errichten von Schutzzäunen werden wir eine entsprechende Entwicklung jedenfalls nicht fördern.
Ich wünsche mir kein Europa, das ewig mit Entsenderichtlinien arbeiten muß.
Ich bin ganz zuversichtlich, daß unser Weg in die richtige Richtung weist.
Herzlich Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Präsident, ich habe meine Redezeit nicht ausgeschöpft. Vielleicht können wir es hier wie im Arbeitsleben machen, daß wir Redezeitkonten einführen. Sie könnten mir dann etwas gutschreiben.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Annelie Buntenbach, Bündnis 90/ Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Bei verschiedenen Gesetzen, die uns die Regierung in der letzten Zeit vorgelegt hat, haben wir immer auf die erschreckenden Auswirkungen hingewiesen, die diese Regelungen auf unser Sozialsystem haben werden, wenn sie Realität werden sollten: Bundessozialhilfegesetz, Arbeitslosenhilfe und Asylbewerberleistungsgesetz.
Bei dem Gesetz, über das wir heute abstimmen sollen, ist das Erschreckende, daß es überhaupt keine Wirkung haben wird, sondern daß es die katastrophalen Zustände auf den Baustellen genau so läßt, wie sie jetzt sind. Das ist schlicht nicht zu verantworten. Wie es auf den Baustellen im Moment aussieht, das wissen Sie. Dazu könnte ich endlos aus Ihren eigenen Reden zitieren.
Sie verpassen heute eine echte Chance. Wir hätten hier mit einer breiten Mehrheit eine Regelung verabschieden können, die dem Lohn- und Sozialdumping am Bau ein Ende setzt. Aber Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, konnten sich nicht einigen. Einige von Ihnen wollen ein wirksames Entsendegesetz, aber hatten nicht den Mut, Mehrheiten über die Regierungskoalition hinaus zu suchen. Andere aus Ihren Reihen wollen kein Gesetz. Das Ergebnis ist ein Entsendegesetz, das keines ist, das nichts bewirkt. Es ist schon gescheitert, bevor es hier verabschiedet ist.
Annelie Buntenbach
Diese Regierung ist offensichtlich unfähig, für konkrete soziale Probleme sachliche Lösungen anzubieten, die nach vorn weisen. Sie schleppt ihren ideologischen Deregulierungsballast hinter sich her und ist damit nicht imstande, politisch zu gestalten.
Ob es künftig gleichen Lohn für gleiche Arbeit auf den Baustellen gibt, das machen Sie davon abhängig, ob die Tarifparteien den Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären. Sie wissen genau, daß die Arbeitgeber dabei nicht mitziehen werden. Das hat die BDA längst beschlossen - das ist heute schon mehrfach gesagt worden -, das hat sie deutlich angekündigt.
In der Bauindustrie sind Arbeitnehmer und Arbeitgeber davon überzeugt, daß ein Entsendegesetz dringend nötig ist. Sie setzen sich engagiert für die Allgemeinverbindlichkeitserklärung ein. Aber ohne die Arbeitgeberverbände wird es diese nicht geben. Die Herren aus den Arbeitgeberverbänden haben offensichtlich ein Interesse daran, daß sich Lohn- und Sozialdumping weiter ausbreitet. Also wissen Sie von den Regierungsfraktionen schon jetzt, daß Ihr Gesetz gar nicht greifen kann, es sei denn, Sie glauben an Wunder, zum Beispiel daran, daß die BDA ihre Position wieder ändert. Möglich ist das; aber es ist eben ein Wunder.
Es liegen gute Alternativen vor: der Gesetzentwurf vom Bundesrat und der von der SPD. Diese Alternativen gehen statt von der Allgemeinverbindlichkeit von den ortsüblichen Tarifen als Grundlage aus, um gleichen Lohn und gleiche Arbeitsbedingungen am gleichen Ort herzustellen.
Ich möchte Ihnen, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, noch aus einem anderen Grund dringend anraten, auf die sehr sinnvolle und einzig praktikable Alternative der ortsüblichen Tarife einzuschwenken. Sie haben nach der Ausschußanhörung entschieden, Ihr Gesetz nicht mehr auf das Bauhauptgewerbe zu beschränken, sondern das Bauausbaugewerbe einzubeziehen. Das ist sachlich eindeutig zu unterstützen. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Nur geht es damit nicht mehr um den Tarifvertrag aus dem Baugewerbe, der für allgemeinverbindlich erklärt werden müßte, sondern - das wissen Sie genau - um eine Reihe weiterer Tarifverträge: Elektrohandwerk, Klempner, Maler, Lakkierer usw.
Die Arbeitgeber wollen schon einen Tarifvertrag nicht für allgemeinverbindlich erklären. Und jetzt kommen Sie mit einer ganzen Reihe von Tarifverträgen. Funktionieren wird es nicht. Ihr Wunderglaube scheint mir schier unerschöpflich zu sein.
Aber selbst wenn wir annehmen, daß das Wunder geschieht, sind Sie auch dann noch meilenweit davon entfernt, mit Ihrem Gesetz Lohn- und Sozialdumping auf dem Bau wirklich wirksam zu bekämpfen. Das steht und fällt nämlich mit den Kontrollen, mit denen die Einhaltung des Gesetzes auf den Baustellen vor Ort überprüft werden. Sie sagen in Ihrem Gesetz lapidar: Das sollen die Länder regeln. Was heißt das denn? Soll jedes Land eigene Ausführungsbestimmungen erlassen mit der Folge, daß wir in der Bundesrepublik europafreundlich und übersichtlich 16 unterschiedliche Regelungen anbieten? Wie sollen die Länder das ohne Unterstützung der Bundesanstalt für Arbeit, ohne Hauptzollämter, ohne klare Regeln darüber, welche Papiere der Arbeiter auf den Baustellen greifbar sein müssen, und darüber, wie die Sozialkassen in die Kontrollen einbezogen werden sollen, überhaupt leisten?
All diese ungelösten Fragen sind schon beantwortet worden; dazu gibt es gut ausgearbeitete Alternativen, zwar nicht in Ihrem Gesetz, aber in den Gesetzentwürfen von Bundesrat und SPD. Diese ignorieren Sie einfach und lasten die Verantwortung ausschließlich den Ländern an. Das kann gar nicht funktionieren, und das wissen Sie auch. Wenn Sie es nicht gewußt haben sollten, als Sie den Gesetzentwurf eingebracht haben, dann wußten Sie es spätestens nach der Anhörung, in der von Sachverständigen deutlich gemacht worden ist, daß Ihre Vorschläge zur Kontrolle effektiv nichts bewirken werden.
Um so überzeugter können Sie nach zwei Jahren sagen: Das schaffen wir wieder ab, das hat nichts gebracht. Daß Sie in das Gesetz eine Befristung auf zwei Jahre eingebaut haben, zeigt deutlich, wie faul die Kompromisse sind, die Sie innerhalb der Regierungsfraktionen eingegangen sind; denn wer ein Entsendegesetz will, der weiß auch, daß es in zwei Jahren noch genauso nötig ist wie heute.
Mit Sicherheit wird das Lohnniveau in Portugal in zwei Jahren nicht auf dem Niveau der Bundesrepublik sein. Die Standards in Europa werden sich bis dahin nicht angeglichen haben. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der F.D.P. und natürlich Herr Haungs und Herr Louven, fordern, daß sich die Baubranche in zwei Jahren auf die europäischen Standards umstellt, dann meinen Sie doch nicht menschenwürdige Arbeitsbedingungen für alle im europäischen Rahmen, sondern Lohn- und Sozialdumping als Normalität.
Sie haben sich mit diesem Gesetz so gründlich in den Fallstricken Ihrer ideologischen Borniertheit und faulen Kompromisse verheddert, daß wir uns als Opposition zurücklehnen und uns die nächsten Akte dieses zirkusreifen Kunststücks angucken könnten. Aber dafür ist das Problem, zu dessen Lösung Sie nicht in der Lage sind, viel zu ernst. Noch ein Sommer auf dem Bau unter diesen schlimmen Bedingungen ist einfach nicht zu verantworten. Ein immer größerer Teil der dort Beschäftigten arbeitet zu Dumpinglöhnen zwischen 5 und 10 DM pro Stunde. Die Unterbringung ist oft nicht einmal menschenwürdig, Unfall- und Arbeitsschutz gibt es überhaupt nicht mehr.
Zwischen scheinselbständigen Arbeitnehmern aus der EU und Werkvertragsarbeitnehmern aus Osteuropa blüht die Grauzone illegaler Leiharbeit. Obwohl zum Beispiel polnische Werkvertragsarbeitnehmer laut Arbeitserlaubnis Anspruch auf gleiche Bedingungen wie die hier beschäftigten inländischen
Annelie Buntenbach
Arbeitnehmer haben, sind sie ganz offensichtlich Lohn- und Sozialdumping ausgesetzt. Sie werden mit falschen Versprechungen angeworben und haben nichts Schriftliches in der Hand. Sie werden nach Strich und Faden ausgenutzt, was Arbeitszeiten und Niedriglöhne angeht. Ihre Konfliktfähigkeit und Rechtssicherheit müssen unbedingt gestärkt werden.
Das gilt auch für die Arbeitnehmer aus den Ländern der EU, deren Situation sich kaum von der geschilderten unterscheidet. Es gibt Berichte aus den Botschaften, daß die Leute im Krankheitsfall sofort hinausgeworfen werden, bei Unfällen die Existenz von Verträgen bestritten wird und die Leute dann über die Grenze gebracht werden.
Die Situation auf den Baustellen ist ausgesprochen explosiv. Die Kollegen werden gegeneinander nach unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichem Paß ausgespielt. So entstehen nationale Ressentiments und kein weltoffenes Europa.
Die Unternehmen der Baubranche, die sich korrekt verhalten und noch Tariflöhne zahlen, werden durch dieses Sozialdumping in den Konkurs getrieben oder gezwungen, ebenfalls unter Tarif anzubieten. Wenn Herr Murmann diesen Prozeß des freien Falls will - wir wollen ihn nicht, und die Baubranche, und zwar beide Tarifparteien, wollen ihn auch nicht.
Es ist inzwischen doch schon so, daß bei Ausschreibungen auch der öffentlichen Hand Angebote alternativ mit und ohne Kosten für die Sozialversicherung eingereicht werden. Die Preisunterschiede sind natürlich gerade bei größeren Bauvorhaben erheblich. Gerade die Kommunen, die dank der Bundespolitik immer weniger finanziellen Spielraum haben, geraten unter Druck. Die explosive Situation in Berlin ist uns im Ausschuß anschaulich geschildert worden: ein Bauboom unter den Bedingungen von Lohn- und Sozialdumping. Die Antwort auf die Frage, ob der Bund bei seinen Hauptstadtbauprojekten auch auf Billigarbeiter zurückgreift, steht noch aus.
In Ihre absurde und kurzsichtige Sparlogik würde das durchaus passen.
Der Bundestag steht als Gesetzgeber in der Pflicht, Lohn- und Sozialdumping ein Ende zu setzen. Wir müssen den ordnungsrechtlichen Rahmen schaffen, in dem Tarifautonomie Bestand haben kann. Wenn Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, Ihren unwirksamen Gesetzentwurf immer wieder im Namen der Tarifautonomie begründen, ist das schlichter Unsinn. Tarife auf dem Bau werden, wenn die Entwicklung so weiterläuft, in Zukunft nur noch eine Randerscheinung sein.
Was Sie hier aufführen, erinnert an eine Schmierenkomödie. Sie bejammern völlig zu Recht die elende Situation auf den Baustellen, aber Sie drükken sich vor der Verantwortung, menschenwürdige Arbeitsbedingungen zu schaffen, und zwar für Deutsche und für ausländische Kollegen. Statt dessen versuchen Sie mit Ihrem Gesetz verzweifelt, die Verantwortung wieder loszuwerden, natürlich möglichst ohne daß es auffällt, daß Sie handlungsunfähig sind. Aber wir spielen hier doch nicht Schwarzer Peter.
Diejenigen von Ihnen, die wirklich ein Ende des Lohn- und Sozialdumpings auf dem Bau wollen, haben gleich bei der Abstimmung die Chance, sich für einen tragfähigen Gesetzentwurf zu entscheiden, den der SPD oder den des Bundesrates. Der Entwurf des Bundesrates faßt einen sehr weitgehenden Konsens der Länder zusammen, übrigens auch von CDUregierten Ländern. Ich möchte Sie dringend auffordern, jenseits der Koalitionsräson in der Sache eine vernünftige Entscheidung zu treffen.
Das Wort hat Herr Kollege Heinrich, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die Vertreter der SPD und jetzt auch die Vertreterin der Grünen so hört, was für Regulierungen und staatliche Bevormundung wir in Zukunft zu erwarten haben, dann könnte einem schlecht werden.
Haben Sie dem Vertrag von Maastricht eigentlich nicht zugestimmt? Die Grünen haben es nicht, das weiß ich, die waren schon immer gegen Europa.
Aber die SPD hat doch zugestimmt.
Wir haben Dienstleistungsfreiheit. Wir müssen doch einmal deutlich ansprechen, welche Entwicklungen eingeleitet würden, wenn wir eine unbefristete Regelung, vor allen Dingen aber eine auf alle Bereiche ausgedehnte Regelung vornehmen würden.
Ich darf Sie schon bitten: Wer hier so redet, verspielt tatsächlich die Zukunft Europas.
Man muß die Dinge doch einmal über einen gewissen Kirchturmhorizont hinaus betrachten.
Wir haben die Dienstleistungsfreiheit in der Europäischen Union. Sie erlaubt nun einmal Bauunter-
Ulrich Heinrich
nehmen insbesondere aus Portugal, Griechenland, Großbritannien oder Irland, bei uns in der Bundesrepublik Deutschland Aufträge anzunehmen und diese ohne Arbeitserlaubnis auch auszuführen. Die Arbeitnehmer arbeiten in Deutschland nach den Tarifen ihres Heimatstaates, auch die Sozialabgaben richten sich nach dem Entsendestaat. Die ausländischen Unternehmen haben damit einen erheblichen Kostenvorteil; das ist unbestritten. Ein englischer Bauarbeiter zum Beispiel verdient gegenüber einem deutschen nur ein Drittel bis zur Hälfte.
Auf Grund dieser Tatsache gibt es natürlich eine Verdrängung deutscher Unternehmer unter Verlust von Arbeitsplätzen. Für diese Klage muß man Verständnis haben, man muß sie aufgreifen. Das haben wir mit diesem Entwurf eines Entsendegesetzes getan.
Nach dem Scheitern einer europäischen Richtlinie zur Lösung des Problems hat die Bundesregierung eine nationale Lösung vorgelegt, die ausländische Arbeitgeber bei der Entsendung von Arbeitnehmern an deutsche Löhne bindet. Hierzu sind zwei Schritte nötig: Erstens. Die deutschen Tarifverträge werden für die jeweils niedrigste Tarifgruppe allgemeinverbindlich erklärt. Zweitens. Die für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge werden auf ausländische Arbeitsverhältnisse erstreckt.
Aus der Sicht der F.D.P. - ich betone das ausdrücklich - gibt es aus ordnungspolitischen Gründen keine überschäumende Freude für dieses Gesetz. Nach wie vor erwarten wir, daß mit diesem Gesetz gravierende Nachteile verbunden sind. Diese Nachteile nehmen wir sehr ernst. Aber bei einer kritischen Gesamtbetrachtung glauben wir, daß die Vorteile letztendlich doch überwiegen. Dennoch sollten auch heute noch einmal die Nachteile, die mit diesem Gesetzesvorhaben verbunden sind, verdeutlicht werden. Denn nichts ist schlimmer, als die Augen zu verschließen vor Entwicklungen, die wir alle nicht wollen.
Um die Wirksamkeit des Entsendegesetzes zu gewährleisten, ist in Deutschland eine flächendekkende Allgemeinverbindlichkeitsregelung vorgesehen. Es tritt somit genau das Gegenteil dessen ein, was die F.D.P. eigentlich wollte, nämlich die Abschaffung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung.
Das deutsche Tarifsystem verkrustet zusätzlich, und Einstiegstarife für Arbeitslose sind nicht mehr möglich. Das sind Fakten, die man sehen muß.
Besonders schwierig kann die Situation in den neuen Bundesländern werden. Ich bin gespannt, wie sich die Dinge dort auswirken. Wo viele Bau- und Handwerksbetriebe nur dank einer Bezahlung unter Tarif existieren können, wird die Existenz dieser Verträge durch eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung bedroht. Diese Unternehmen sind bewußt aus dem Tarifverbund ausgeschieden, um überhaupt wettbewerbsfähig zu werden.
Ein weiteres Negativum: Die innerhalb der Europäischen Union mühsam errungene Dienstleistungsfreiheit wird erheblich eingeschränkt - ich habe dazu schon eingangs eine Bemerkung gemacht -, und wir werden selbstverständlich mit einem spürbaren Ansteigen der Baupreise zu rechnen haben. Auch das darf man nicht vergessen.
Man muß davon ausgehen, daß die Preise nach oben gehen, was sich für den Verbraucher, für denjenigen, der eine Wohnung sucht, für denjenigen, der in neue Lagerhallen, in neue Produktionsstätten investiert, negativ auswirkt.
- Wir warten es ab.
Es steht zu befürchten, daß nach Inkrafttreten des Entsendegesetzes womöglich die Arbeitnehmer, die aus EU-Ländern kommen - die bislang legal hier arbeiten konnten -, schwarzarbeiten.
Auch das ist uns natürlich nicht willkommen.
Trotz dieser langen Liste von Schwierigkeiten und Nachteilen ist in der Koalition unter Berücksichtigung dieser Erwägungen ein Kompromiß geschlossen worden.
Das Gesetz wurde ursprünglich auf das Bauhauptgewerbe mit seinen rund 1,5 Millionen Arbeitnehmern beschränkt. Die Geltungsdauer beträgt zwei Jahre. Auf extensive Kontrollbefugnisse wird ganz bewußt verzichtet.
In den vergangenen Wochen - das ist auch bei der Anhörung zutage getreten - wurde jedoch auch vom Handwerk verstärkt gefordert, das Entsendegesetz auf die Nebengewerbe zu erweitern.
Es ist ja logisch auch kaum nachvollziehbar, daß der Maurer und der Dachdecker Vorteile durch das Entsendegesetz haben sollen, der Klempner, der Installateur und der Elektriker aber nicht.
Wir müssen natürlich auch beachten, daß die Abgrenzungskriterien nicht transparent und nicht logisch sind. Wir müssen deutlich darstellen, daß es auch eine sehr starke Verkomplizierung innerhalb der Betriebe gäbe. Eine Begrenzung auf das Bauhauptgewerbe wäre für die Wirtschaft nicht nur nicht praktikabel, sondern es wäre auch nicht im Sinne der Erhaltung möglichst vieler Arbeitsplätze.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Zeit kommen Betriebe auch im Ausbaugewerbe - da sind immerhin 800 000 Arbeitnehmer beschäftigt - in große wirtschaftliche Schwierigkeiten. Die Insolvenzzahlen des Handwerks sprechen eine deutliche Sprache. Der baden-württembergische Handwerkstag hat mich erst vor kurzem wissen lassen, daß die Zahl der Insolvenzen bis zur Jahresmitte 1995 bereits höher
Ulrich Heinrich
war als im ganzen Jahr 1994. Dies läßt Schlimmes ahnen.
- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie wissen genau so gut wie ich, daß das Handwerk in den vergangenen Jahren überproportional gute Zuwächse hatte. Insgesamt haben wir eine Abschwächung der Baukonjunktur zu verzeichnen. Da folgen eben entsprechende Insolvenzen.
Alles deutet darauf hin, daß mit der Abschwächung der Konjunktur auch die Insolvenzwelle weiter steigt. Dies ist nicht nur auf Wettbewerbsnachteile zurückzuführen, sondern auch auf die Abflachung der Baukonjunktur. Deshalb war das Arbeitsplatzargument für uns mit ausschlaggebend dafür, daß wir der Ausdehnung des Entsendegesetzes auf das Baunebengewerbe zugestimmt haben.
Auch für unsere Bevölkerung ist es sicherlich nicht nachvollziehbar, wenn wir im Rahmen europäischer Harmonisierung immer nur negative Begleiterscheinungen mit zu vertreten haben. Auch aus diesem Grund müssen wir von unserer Seite aus mit dafür sorgen, daß die Dinge erträglich werden.
Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, mit denen die Betriebe zur Zeit kämpfen müssen, haben auch etwas mit der zu hohen Steuerbelastung sowie den zu hohen Lohnzusatzkosten zu tun.
Auch da können wir uns von der Verantwortung nicht freisprechen. Wenn die Lohnzusatzkosten und die Steuerbelastung zu hoch sind, dann müssen wir uns doch auch darüber im klaren sein, daß wir dafür zu sorgen haben, daß gegengesteuert wird. Ich sage Ihnen ganz offen: Mir wäre es lieber, wir könnten die Steuer- und Abgabenlast um 20 Prozent nach unten fahren; dann bräuchten wir dieses Entsendegesetz nämlich gar nicht.
Das ist entscheidend: Auf der einen Seite belasten wir die mittelständischen Unternehmen mit zusätzlichen Abgaben und Steuern,
und auf der anderen Seite sagen wir, wenn es Schwierigkeiten gibt: Nein, aus ordnungspolitischen Gründen können wir euch natürlich nicht helfen. So können wir allerdings auch nicht verfahren. Deshalb liegt es jetzt in der Verantwortung der Politik, den
Betrieben in dieser schwierigen Situation zur Seite zu stehen und dieses Gesetz - allerdings auf zwei Jahre begrenzt - politisch mitzutragen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß noch zwei Punkte ansprechen. Erstens. Sollte die Allgemeinverbindlichkeitserklärung nicht zustande kommen,
so sagen wir ganz deutlich, daß wir ein Mindestlohngesetz auch in Zukunft ablehnen werden.
Zweitens. Für uns kommt auch eine gesetzliche Allgemeinverbindlichkeitserklärung nicht in Frage. Die Zustimmung des Tarifausschusses muß zwingend vorliegen; denn die Politik darf nicht gegen den Willen der Tarifvertragsparteien selbstherrlich entscheiden.
Zum Schluß noch ein Satz zur Befristung. Ohne die Befristung auf zwei Jahre hätte es von uns keine Zustimmung gegeben; denn die ordnungspolitischen Sünden, die begangen worden sind, sollten zumindest zeitlich begrenzt werden. Das ist eine Begründung. Ich gebe zu: Sie ist nicht besonders stark.
Es liegt jetzt an uns, aus der Belastung der Betriebe durch Steuern und Abgaben die Konsequenz zu ziehen und hier in den nächsten zwei Jahren spürbare Erleichterungen durchzusetzen. Dann können wir auch die Befristung mittragen.
Somit wird es auch für die Betroffenen erträglich werden.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Heidi Knake-Werner, PDS.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Motiv, das Sie, Herr Heinrich, für die Befristung angeführt haben, ist ganz neu. Es wäre sehr interessant, hierüber weiterzudiskutieren.
Nein, Minister Blüm, Ihr Gesetzentwurf ist keine Antwort auf den Notruf. Sie lassen die Kolleginnen und Kollegen im Regen stehen. Selbst der Mittelstand, den Sie zu fördern vorgeben, lehnt Ihr Gesetz ab, wie Sie aus der Anhörung lernen konnten.
Es muß einen schon wundern, daß in den letzten Wochen in diesem Hause die Tarifautonomie sozusagen Hochkonjunktur feiert. Ich sage Ihnen: Ich werde Sie daran erinnern, wenn die nächsten Tarifabschlüsse erfolgen. Ich bin fest davon überzeugt,
Dr. Heidi Knake-Werner
daß die Tarifautonomie in dem Maße hier Konjunktur hat, wie Sie in Ihrem unsozialen Deregulierungsabsichten fortfahren und deshalb die zu lösenden Probleme auf die Schultern der Tarifpartner übertragen und damit abladen wollen,
so nach dem Motto, wie wir es schon im Ausschuß gehört haben: Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht; jetzt ist es der Job der Tarifpartner, sich mit diesem Gesetz auseinanderzusetzen. Das sagte wortgetreu der Kollege Laumann.
Das war schon beim Schlechtwettergeld so; die Kollegen am Bau haben die Zeche dafür zu zahlen. Das wird auch bei dem Entsendegesetz so sein. Wieder trifft es das Baugewerbe. Man muß schon fast vermuten, daß Sie gegen diesen Berufsstand etwas haben.
Trotz besserer Alternativen von SPD und Bundesrat - das ist hier schon gesagt worden - machen Sie ein Gesetz, das auf halbem Wege steckenbleibt. Es ist doch absehbar, daß Ihr Vorschlag der Allgemeinverbindlichkeitserklärung - auch das ist hier schon mehrfach gesagt worden - eben nicht das Ziel realisiert, gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort durchzusetzen.
Die Bundesvereinigung der Arbeitgeber hat ihre Ablehnung bereits beschlossen. Es gibt überhaupt kein Signal dafür, daß sie jetzt zu einem Gesinnungswandel kommen wird. Das heißt doch, daß Ihr Gesetzentwurf über eine nationale Entsenderegelung schon Essig ist, bevor es überhaupt losgegangen ist.
Ein Entsendegesetz, das von den Arbeitgebern nach Belieben ausgehebelt werden kann, fördert nicht die Tarifautonomie, jedenfalls nicht die, die ich mir vorstelle. Im Gegenteil: Wenn Tarifverträge unterlaufen werden können, ist die Tarifautonomie gefährdet und der Anstieg der Arbeitslosenzahl vorprogrammiert. Nur wenn gesichert ist, daß die von den Tarifparteien ausgehandelten Tarifverträge für alle Beschäftigten gelten, können Lohn- und Sozialdumping wirksam bekämpft werden. Deshalb bietet es sich förmlich an, alle entsandten Arbeitnehmer nach den ortsüblichen Arbeitsbedingungen zu beschäftigen.
Sie haben mit Ihrem gestrigen Änderungsantrag zwar die Ausdehnung des Geltungsbereichs beschlossen - das ist sehr löblich - und damit wenigstens eine Anregung der Sachverständigen aufgenommen, andere Anregungen aber massenhaft nicht berücksichtigt. Diese aber halte ich für mindestens genauso wichtig. Ich will sie kurz nennen.
Erstens. Sie haben Ihr Gesetz weiterhin auf die Baubranche beschränkt. Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum Sie die Kolleginnen und Kollegen in der Gastronomie nicht ebenfalls vor Lohn- und Sozialdumping schützen wollen. Es gibt noch viele andere Dienstleistungsbereiche, wo eine soziale Absicherung fehlt und mangelnder Arbeitsschutz und Niedrigstlöhne vorherrschen.
Sie beschränken zweitens die Lohngleichheit nach wie vor auf die untere Lohnstufe. Das ist hier gerade wieder begründet worden. Das Lohngefälle am Baugewerbe bleibt also bestehen.
Drittens haben Sie schließlich trotz der vielen wichtigen Hinweise der Sachverständigen stur an der Befristung auf zwei Jahre festgehalten, übrigens wider besseres Wissen.
Ich möchte noch einmal den Kollegen Laumann bemühen. Er hat uns in der gestrigen Sitzung wortreich erklärt, daß es noch eine unendlich lange Zeit brauchen wird, bis sich Portugal diese Sozialstandards leisten kann, die wir in der Bundesrepublik haben. Jawohl, Kollege Laumann, deshalb ist gar nicht einzusehen, daß wir das Entsendegesetz auf zwei Jahre beschränken, weil es bis dahin noch keine Angleichung von Sozialstandards geben wird,
abgesehen von Ihrem Bemühen als Regierungsparteien, Portugal entgegenzukommen, indem Sie ständig die Sozialstandards in der Bundesrepublik nach unten nivellieren.
Das kann man an der Stelle vielleicht auch einmal sagen.
Solange es also keine europaweite Regelung gibt, die wir, glaube ich, alle vorziehen würden, brauchen wir ein unbefristetes Entsendegesetz in der Bundesrepublik. Noch gestern hat uns allen eine Nürnberger Innung mitgeteilt, daß es müßig ist, ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das in der Praxis schon zum Scheitern verurteilt ist. Das ist keine Einzelmeinung. Das wissen Sie sehr wohl.
Sie schlagen eine nationale Regelung vor, die weit hinter die Forderungen der EU-Kommission für eine EU-Richtlinie zurückfällt; denn dort geht es um einen harten Kern von Mindestkonditionen und eben nicht nur um Lohn. Vielmehr spielen auch Fragen der Arbeitszeit, des Gesundheitsschutzes, der Arbeitssicherheit usw. eine Rolle. Wir haben gestern im Ausschuß darüber noch ausführlich diskutiert.
Aber jede gesetzliche Regelung - das will ich ebenfalls noch einmal sagen - in der Frage der Entsenderichtlinie, auch wenn sie noch so dürftig ist wie die Ihre, bleibt Makulatur, wenn nicht gleichzeitig wirksame Kontroll- und Sanktionsmaßnahmen vorgesehen sind. Hier stehlen Sie sich schlicht und ergreifend aus der Verantwortung.
Warum, bitte sehr, überlassen Sie nun ausgerechnet diesen Punkt der Regelung auf Länderebene? Warum ermöglichen Sie die Kontrollen nicht dort, wo die rechtlichen Zuständigkeiten für die Genehmigung der Arbeitsverhältnisse von ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern liegen, nämlich bei der Bundesanstalt?
Dr. Heidi Knake-Werner
Wenn Sie das auf Ihre Entscheidungsebene ziehen würden, könnten Sie Ihrem Lieblingshobby, der Mißbrauchsaufklärung, endlich frönen. Um das in aller Deutlichkeit zu sagen: Dabei geht es mir wirklich nicht darum, daß Sie mit Hundestaffeln den ausländischen Kollegen hinterherjagen, sondern daß Sie endlich die Machenschaften unseriöser Arbeitgeber und Arbeitsvermittler aufklären.
Daß Sie an dieser Stelle die Länder ins Boot holen, finde ich insofern befremdlich, als Sie sich mit Ihrem Gesetzentwurf konsequent gegen die Positionen der Länder stellen, an denen Ihre eigenen Leute in Berlin maßgeblich mitgearbeitet haben. Das müßten Sie wahrscheinlich noch einmal erklären.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir schlagen einen kleinen Änderungsantrag zu dem SPD-Gesetzentwurf vor. Wir möchten gern die Förderung von Anlauf- und Beratungsstellen für ausländische Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen durch den Bund. Ihre Aufgabe soll es sein, zielgerichtet Hilfen für ausländische Arbeitskräfte anzubieten, die Durchsetzung formal bestehender Rechte zu unterstützen und die betroffenen Beschäftigten umfassend praktisch zu orientieren, ihnen Handlungsmöglichkeiten aufzuweisen, ihre Rechtssicherheit sowie aber auch ihre Konfliktfähigkeit zu stärken. Am Beispiel der polnischen Vertragsarbeiterin wissen wir, wie notwendig das ist.
Die vorgeschlagenen Einrichtungen sollen dazu beitragen - das ist mir jetzt sehr wichtig -, die vielerorts ehrenamtlich und unbezahlt geleistete Vertrauensarbeit durch Vereine und Initiativen zu verstetigen, um die Rechte der vorübergehend Beschäftigten dauerhaft zu sichern.
Ansonsten will ich abschließend zu unserem Abstimmungsverhalten noch kurz etwas sagen. Wir werden dem Gesetzentwurf der SPD unsere Zustimmung geben.
Wir werden den Gesetzentwurf der Bundesregierung ablehnen. Das betone ich deshalb, weil wir uns gestern im Ausschuß enthalten haben.
Die Zeit, Frau Kollegin.
Das ist mein letzter Satz.
Wir haben die Entscheidung nicht unbedacht getroffen. Wir haben uns das sehr wohl überlegt, weil wir von der Annahme ausgingen, ein schlechter Entwurf kann besser sein als gar kein Entwurf. Wir haben uns gestern von den direkt Betroffenen noch einmal mit guten Argumenten überzeugen lassen, daß das keine vernünftige Regelung ist. Deshalb werden wir den Gesetzentwurf der Regierung ablehnen.
Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Leyla Onur, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem bedeutenden Beitrag von Herrn Heinrich von der F.D.P. möchte ich mich aus Höflichkeit nicht näher befassen -
aus Höflichkeit, denn sonst würde ich unter Umständen einige sehr unfreundliche Bemerkungen machen müssen.
Herr Bundesminister Dr. Blüm, Sie tun mir wirklich leid, einen solchen Partner in dieser Frage zu haben.
Ich möchte mich aber natürlich mit dein Hauptverantwortlichen befassen, und das sind Sie, Herr Dr. Blüm. Ich muß noch einmal auf die Wurzel des Übels zurückkommen, auf die Tatsache, daß wir, ich muß sagen: fast alle bis auf die F.D.P., nach wie vor vehement eine europäische Entsenderichtlinie fordern. Diese europäische Entsenderichtlinie haben wir aber bis heute nicht, weil Sie, Herr Blüm, während der deutschen Ratspräsidentschaft die Chance, die Sie hatten, nicht genutzt haben. Im Gegenteil, Sie haben sich in der Zeit zwischen August 1991 und Juli 1994 um diese Entsenderichtlinie nicht oder nicht genug gekümmert.
Erst kurz vor Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft sind Sie aufgewacht. Warum haben Sie die europäische Entsenderichtlinie erst im Juli 1994 zur Chefsache gemacht? Die Antwort ist einfach. Erstens. Der Bundestagswahlkampf hatte begonnen, und über 150 000 arbeitslose Bauarbeiter und ihre Familien sind auch Wählerinnen und Wähler. Ein weiterer Kommentar erübrigt sich wohl an dieser Stelle.
Zweitens. Jeder Minister, der etwas auf sich hält, möchte am Ende seiner Ratspräsidentschaft Erfolg vermelden können. Da alle Minister diesen Wunsch haben und alle nacheinander an die Reihe kommen, sind sie auch im eigenen Interesse bereit, ihren jeweiligen Kollegen einen Erfolg zu gönnen, nach dem Motto: Gibst du mir, geb ich dir. Unter dieser Voraussetzung hätten Sie, Herr Bundesminister Blüm, im zweiten Halbjahr 1994 unter deutscher Ratspräsidentschaft hervorragende Chancen gehabt,
Leyla Onur
sich am Ende der Präsidentschaft mit einer positiven Entscheidung zur europäischen Entsenderichtlinie schmücken zu können.
Aber leider hat Herr Bundesminister Blüm es nicht verstanden, diese Chance zu nutzen, im Gegenteil, er hat die Sache nach Strich und Faden vermasselt. Er hat nämlich auf das falsche Pferd gesetzt, das heißt, an einer Stelle Zugeständnisse gemacht, die nie strittig waren. Ich meine den Anwendungsbereich der Entsenderichtlinie. Sowohl in dem Entwurf von 1991 als auch in dem geänderten Richtlinienentwurf von 1993 ist ein uneingeschränkter Anwendungsbereich vorgesehen. Das heißt, die europäische Richtlinie soll für alle Unternehmen, die im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen im Sinne des EWG-Vertrages tätig sind, gelten und entsprechend für alle befristet entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ganz gleich welcher Branche.
- Regen Sie sich doch nicht auf, Herr Kollege Heinrich, wir kommen noch dazu.
Über eine Einschränkung des Anwendungsbereiches ist nie ernsthaft diskutiert worden. Von Beginn an bis heute strittig ist ein völlig anderer Punkt, nämlich die Schwellenfrist. Erst der Bundesminister Blüm hat die Beschränkung des Anwendungsbereichs auf die Baubranche im Juli 1994 als Morgengabe auf dem silbernen Tablett serviert, um - wie wir vermuten - die Blockierer dieser Richtlinie in das Boot zu bekommen, also die konservative britische Regierung, die irische, die portugiesische oder vielleicht auch die italienische Regierung. In völliger Fehleinschätzung der Situation hat er wohl gehofft, den britischen Sozialminister aus der Phalanx der Verhinderer herauszubrechen.
Auf welchem Baum, Herr Minister, haben Sie eigentlich 1994 geschlafen? Sonst hätten Sie wissen müssen, daß die europafeindliche britische Regierung bei einem strikten Nein bleiben würde, was auch immer Sie angeboten hätten. Diese britische Regierung hat aus ihrerseits guten Gründen als einziger EU-Staat nicht das Sozialprotokoll unterschrieben. Diese britische Regierung will soziale und arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen in der EU um jeden Preis verhindern.
Sie hat leider auf Grund der laschen Haltung der anderen - eben auch Ihrer laschen Haltung, Herr Bundessozialminister - damit Erfolg. Jeder, der sich auf dem europäischen Parkett auskennt, hätte Ihnen vorher sagen können, daß Sie ohne Not etwas preisgegeben haben, ohne eine Gegenleistung dafür zugesichert bekommen zu haben. Jeder Teppichhändler ist im Verhandeln geschickter als Sie.
Ihre Morgengabe wurde gerne angenommen, ohne Gegenleistung, ohne das ersehnte Ja zur Senderichtlinie, ohne Erfolg für die deutsche Ratspräsidentschaft. Sie haben dem Ansehen der deutschen Regierung und über 150 000 einheimischen Bauarbeitern damit sehr geschadet.
Sie werden sicherlich nachvollziehen können, daß Ihr persönlicher Reputationsverlust uns als Opposition nicht in tiefe Trauer stürzt. Zur Schadenfreude haben wir allerdings auch keinen Anlaß. Denn Ihr Versagen trifft andere, die ihre Hoffnung auf Sie als den verantwortlichen Minister gesetzt haben und schwer enttäuscht worden sind. Durch Ihr Versagen haben Sie kleine und mittlere Unternehmen und Handwerker um die Chance gebracht, sich unter fairen Bedingungen auf dem Markt zu behaupten. Eine dramatisch hohe Zahl von Pleiten und Konkursen ist das traurige Ergebnis Ihres dilettantischen Vorgehens.
Sie haben über 150 000 einheimische Arbeitnehmer in die Arbeitslosigkeit getrieben. Weitere 100 000 Arbeitsplätze sind gefährdet.
Sie haben durch Ihr Versagen zugelassen, daß entsandte Arbeitnehmer aus Portugal, Griechenland und aus anderen Mitgliedstaaten weiterhin wie Sklaven ausgebeutet werden. Dafür, Herr Sozialminister, tragen Sie die alleinige Verantwortung.
Was haben Sie nach Ihrem Versagen gemacht? Sie haben vollmundig ein nationales Entsendegesetz angekündigt. Nach Ihrem vollmundigen Ankündigen sollte dieses Entsendegesetz schnell kommen und wirksam sein. Neue Hoffnungen machten sich breit, doch welch eine Enttäuschung für die Betroffenen. Was Sie endlich im August 1995 vorgelegt haben, ist ein Reparaturgesetzchen, weit entfernt von einer umfassenden und durchgreifenden Lösung des Problems.
Sie kommen mir vor wie ein Feuerwehrmann, der vor einer lichterloh brennenden Scheune steht und mit einem Wassereimer das Feuer zu löschen versucht.
Derweil sind die Funken längst auf die Nachbargebäude übergesprungen. Aber um diese weiteren Brandherde, sprich: Branchen, kümmern Sie sich nicht, sondern warten, bis auch die Nachbargebäude lichterloh brennen, um dann eventuell einen zweiten oder dritten Wassereimer herbeizuholen. Ein echter Feuerwehrmann würde alle zur Verfügung stehenden Löschfahrzeuge einsetzen und in einer großan-
Leyla Onur
gelegten Aktion das Großfeuer und die kleineren Brände löschen, also das Feuer mit einem Schlag im Keim ersticken.
Genau so eine Aktion haben wir von Ihnen erwartet. Sie aber sind mit einem Eimerchen voll Wasser erschienen, um einen Großbrand zu löschen. Schenken Sie den Wassereimer Ihrem 2,5-Prozent-Koalitionspartner F.D.P., und setzen Sie endlich das notwendige schwere Gerät ein! Mit den Instrumenten des SPD-Vorschlages kann das Problem nämlich gelöst werden.
Ihr Reparaturgesetzchen ist schon vor der Verabschiedung gescheitert, weil die Arbeitgeber im Tarifausschuß in einem wesentlichen Punkt nicht mitmachen werden.
Ich möchte Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, gerne einen kurzen Text vorlesen.
- Ich mache es kurz.
Es heißt:
Nach Artikel 3 Abs. 1 Buchst. a sollen für die in Artikel 2 genannten Entsendefälle solche Arbeitsbedingungen des Arbeitsortes maßgeblich sein, die „in Rechts- oder Verwaltungsvorschriften, tarifvertraglichen Vereinbarungen oder Schiedssprüchen" enthalten sind, „die für die betreffende Tätigkeit und das betreffende Gewerbe insgesamt gelten und eine ErgaOmnes-Wirkung haben und/oder rechtsverbindlich für die betreffende Tätigkeit und das betreffende Gewerbe sind". Dieser Text bedeutet für die spezifische Situation in der Bundesrepublik Deutschland, daß von den Tarifverträgen nur die allgemeinverbindlichen zu berücksichtigen sind, weil andere in der Bundesrepublik Deutschland keine „Erga-Omnes-Wirkung" haben. Da in Deutschland allgemeinverbindliche Tarifverträge besonders im Bereich der Lohntarifverträge die große Ausnahme darstellen, würde die Richtlinie insoweit in Deutschland weitgehend leerlaufen.
Das ist nun keine Stellungnahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes, auch keine Stellungnahme der SPD, sondern das ist die Stellungnahme der Bundesregierung aus dem Jahr 1991.
Diese Stellungnahme ist überschrieben mit „Die Problematik der allgemeinverbindlichen Tarifverträge". Recht hatte die Bundesregierung bzw. der verantwortliche Bundesminister mit dieser Einschätzung, und recht hatte er auch mit der Forderung, daß „andere praktikable Anwendungskriterien vorgesehen werden" müßten. Lassen Sie es sich auf der Zunge zergehen, verehrte Kollegen!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
die Ortsüblichkeit. Sie wurde gemeinsam von SPD- und CDU/ CSU-Europaabgeordneten entwickelt, von der Europäischen Kommission aufgegriffen und in den veränderten Vorschlag von 1993 aufgenommen.
Sie, Herr Bundesminister, haben sich von dieser gemeinsamen Linie verabschiedet und damit ein Scheitern vorprogrammiert. Die Arbeitgeber im Tarifausschuß haben Ihnen die rote Karte schon gezeigt. Noch haben Sie jedoch die Möglichkeit, auf der Grundlage Ihrer realistischeren Einschätzung der Problematik von 1991 die richtige Schlußfolgerung zu ziehen und unseren Vorschlag, der dem Vorschlag des Europäischen Parlaments und der Kommission entspricht, also europakonform ist, zuzustimmen.
Abschließend möchte ich einige Bemerkungen zu dem kläglichen Rest Ihres Reparaturgesetzchens machen. Ich mache es mir leicht und ziehe aus dem dicken Paket kritischer Stellungnahmen zum Koalitionsentwurf beispielhaft die Stellungnahme des Zentralverbandes des Deutschen Baugewerbes heraus und zitiere die zwar höflich formulierten, aber dennoch vernichtenden Kritikpunkte dieses Verbandes. Dabei will ich nicht verschweigen, daß dieser Verband natürlich in bezug auf Mindestlohn und Urlaub durchaus positiv Stellung genommen hat; aber dafür haben Sie ja die schon häufig erwähnte rote Karte von den Arbeitgebern bekommen.
Ansonsten entsprechen die von diesem Verband angesprochenen Punkte unserer Meinung: „Das Bauhauptgewerbe reicht nicht aus." Okay, das haben Sie in letzter Sekunde repariert. „Die vorgesehenen Sanktionen bei Nichteinhaltung der zwingenden Arbeitsbedingungen reichen nicht aus." Völlig richtig. „... nicht erkennbar, daß die Regelungen mit geeigneten Mitteln durchgesetzt werden können." Völlig richtig. „Vorgesehene Ausnahmeregelungen lassen ein Unterlaufen des Gesetzes befürchten." Auch richtig. „Die zweijährige Geltungsdauer ist zu kurz." Ich würde sagen, sie ist ein Witz.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der SPD-Entwurf dagegen ist von allen Betroffenen mit Lob und Anerkennung überhäuft worden. Wir sind gern bereit, Lob und Anerkennung mit Ihnen zu teilen. Sie brauchen nur unserem Vorschlag zuzustimmen und Ihr „Reparaturgesetzchen" dahin zu befördern, wo es hingehört, nämlich in den Papierkorb.
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache. Die Kollegin Dr. Gisela Babel gibt eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung zu Protokoll. *)
Wir kommen zu dem von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Entsendegesetzes. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 12/3155 unter Nr. 2, den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Interfraktionell ist vereinbart, dennoch über den Gesetzentwurf der SPD abzustimmen.
Es liegt dazu ein Änderungsantrag der Gruppe der PDS auf Drucksache 12/3156 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Gruppe der PDS? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der Gruppe der PDS und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der SPD auf Drucksache 13/2418. Die Fraktion der SPD verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Ich gehe davon aus, daß alle Urnen besetzt sind. Das scheint der Fall zu sein. Ich eröffne die Abstimmung. -
Kann ich davon ausgehen, daß alle Mitglieder des Hauses ihre Stimme abgegeben haben?
Bei aller Bereitschaft, lange zu warten: Kann ich jetzt davon ausgehen, daß alle ihre Stimmen abgegeben haben? - Das scheint der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.*)
Bis zum Vorliegen des Ergebnisses dieser namentlichen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.Ich gebe das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den von der SPD eingebrachten Entwurf eines Entsendegesetzes - Drucksachen 13/2418 und 13/3155 Nr. 2 - bekannt. Es wurden 613 Stimmen abgegeben. Mit Ja haben 296 gestimmt, mit Nein 317, keine Enthaltungen.*) Anlage 2*) Seite 6485 CEndgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 608; davonja: 291nein: 317JaCDU/CSUErwin Marschewski SPDBrigitte Adler Gerd Andres Hermann BachmaierErnst BahrDoris Barnett Klaus BarthelIngrid Becker-Inglau Wolfgang BehrendtHans Berger Hans-Werner BertlFriedhelm Julius Beucher Rudolf BindigLilo BlunckDr. Ulrich Böhme
Arne Börnsen Anni Brandt-ElsweierTilo BrauneDr. Eberhard BrechtMarion Caspers-Merk Wolf-Michael Catenhusen Peter ConradiDr. Herta Däubler-Gmelin Christel DeichmannKarl DillerDr. Marliese Dobberthien Peter DreßenRudolf Dreßler Freimut Duve Ludwig Eich Peter Enders Gernot Erler Petra Ernstberger Annette Faße Elke FernerLothar Fischer Gabriele FograscherIris FollakNorbert FormanskiDagmar Freitag Anke Fuchs
Katrin Fuchs
Arne Fuhrmann Monika GanseforthNorbert Gansel Konrad Gilges Iris GleickeGünter Gloser Dr. Peter GlotzGünter Graf Angelika Graf (Rosenheim) Dieter GrasedieckAchim Großmann Karl Hermann Haack
Hans-Joachim HackerKlaus HagemannManfred HampelChristel Hanewinckel Alfred Hartenbach Dr. Liesel HartensteinKlaus HasenfratzDr. Ingomar HauchlerDieter Heistermann Reinhold Hemker Rolf HempelmannDr. Barbara Hendricks Monika Heubaum Uwe HikschReinhold Hiller Stephan HilsbergGerd HöferJelena Hoffmann Frank Hofmann (Volkach) Ingrid HolzhüterEike Hovermann Wolfgang IlteBarbara Imhof Gabriele Iwersen Renate JägerIlse JanzDr. Uwe JensVolker Jung Sabine Kaspereit Susanne KastnerErnst Kastning Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Marianne Klappert Hans-Ulrich KloseDr. Hans-Hinrich Knaape Walter KolbowFritz Rudolf Körper Nicolette Kressl Volker Kröning Horst Kubatschka Eckart Kuhlwein Konrad Kunick Christine Kurzhals Dr. Uwe Küster Werner Labsch Brigitte Lange Detlev von Larcher Waltraud Lehn Robert Leidinger Klaus LennartzDr. Elke Leonhard Klaus Lohmann Christa LörcherErika LotzDr. Christine Lucyga Dieter Maaß Winfried Mante Dorle MarxUlrike Mascher Christoph Matschie Ingrid Matthäus-Maier Heide Mattischeck Markus MeckelUlrike MehlAngelika Mertens Ursula MoggSiegmar MosdorfMichael Müller Jutta Müller (Völklingen) Christian Müller (Zittau) Volker Neumann (Bramsche) Gerhard Neumann (Gotha) Dr. Edith NiehuisDr. Rolf NieseDoris Odendahl Günter Oesinghaus Leyla OnurManfred OpelVizepräsident Hans-Ulrich KloseAdolf OstertagKurt PalisAlbrecht Papenroth Dr. Willfried Penner Dr. Martin PfaffGeorg Pfannenstein Dr. Eckhart PickJoachim PoßKarin Rehbock-Zureich Margot von Renesse Renate Rennebach Otto ReschkeBernd ReuterGünter RixeReinhold RobbeGerhard Rübenkönig Dr. Hansjörg Schäfer Dieter SchanzRudolf ScharpingBernd ScheelenDr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Horst SchildOtto SchilyDieter SchlotenGünter Schluckebier Horst Schmidbauer
Ursula Schmidt Dagmar Schmidt (Meschede) Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Regina Schmidt-ZadelHeinz Schmitt Dr. Emil SchnellWalter SchölerOttmar Schreiner Gisela SchröterDr. Mathias Schubert Richard Schuhmann
Brigitte Schulte Reinhard Schultz
Volkmar Schultz Ilse SchumannDr. R. Werner Schuster Dietmar Schütz
Dr. Angelica Schwall-Düren Ernst SchwanholdBodo SeidenthalLisa SeusterHorst SielaffErika SimmJohannes SingerDr. Sigrid Skarpelis-SperkDr. Cornelie Sonntag-Wolgast Wieland SorgeWolfgang Spanier Dr. Dietrich Sperling Jörg-Otto SpillerAntje-Marie Steen Ludwig StieglerDr. Peter StruckJoachim TappeJörg TaussDr. Bodo Teichmann Margitta TerborgJella TeuchnerDr. Gerald Thalheim Dietmar ThieserFranz ThönnesUta Titze-Stecher Adelheid Tröscher Hans-Eberhard Urbaniak Siegfried VerginGünter VerheugenUte Vogt
Karsten D. Voigt Josef VosenHans Georg WagnerHans WallowDr. Konstanze Wegner Wolfgang Weiermann Reinhard Weis Matthias Weisheit Gunter WeißgerberGert Weisskirchen Jochen WeltHildegard Wester Lydia WestrichInge Wettig-Danielmeier Helmut Wieczorek Dieter WiefelspützBerthold WittichDr. Wolfgang WodargHanna Wolf
Heidi Wright Uta ZapfPeter ZumkleyBÜNDNIS 90 / DIE GRÜNENGila Altmann Elisabeth Altmann
Volker Beck (Köln) Angelika Beer
Matthias Berninger Annelie Buntenbach Amke Dietert-Scheuer Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Uschi EidAndrea Fischer Joseph Fischer (Frankfurt) Rita GrießhaberKristin HeyneUlrike HöfkenMichaele Hustedt Monika KnocheDr. Angelika Köster-Loßack Steffi LemkeVera LengsfeldDr. Helmut Lippelt Oswald Metzger Kerstin Müller Winfried Nachtwei Christa NickelsCern ÖzdemirGerd PoppeSimone ProbstDr. Jürgen Rochlitz Halo SaiboldIrmingard Schewe-Gerigk Albert Schmidt Wolfgang Schmitt
Ursula Schönberger Werner Schulz Rainder Steenblock Manfred SuchDr. Antje VollmerHelmut Wilhelm Margareta Wolf (Frankfurt)PDSPetra BlässMaritta BöttcherEva Bulling-Schröter Dr. Ludwig ElmDr. Dagmar EnkelmannDr. Ruth Fuchs Dr. Gregor GysiDr. Uwe-Jens Heuer Dr. Barbara HöllDr. Willibald Jacob Ulla JelpkeGerhard JüttemannDr. Heidi Knake-Werner Andrea LedererDr. Christa Luft Heidemarie Lüth Manfred Müller Rosel NeuhäuserDr. Uwe-Jens Rössel Christina Schenk Klaus-Jürgen WarnickDr. Winfried Wolf Gerhard ZwerenzNeinCDU/CSUUlrich AdamPeter AltmaierAnneliese Augustin Jürgen Augustinowitz Dietrich Austermann Heinz-Günter Bargfrede Franz Peter BastenDr. Wolf BauerBrigitte BaumeisterDr. Sabine Bergmann-Pohl Hans-Dirk BierlingDr. Joseph-Theodor Blank Renate BlankDr. Heribert Blens Peter BleserDr. Norbert Blüm Friedrich BohlDr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen
Wolfgang Bosbach Dr. Wolfgang Bötsch Klaus BrähmigPaul BreuerMonika Brudlewsky Georg Brunnhuber Hartmut Büttner
Dankward Buwitt Manfred Carstens
Peter Harry Carstensen
Wolfgang Dehnel Hubert DeittertGertrud Dempwolf Albert DeßRenate Diemers Wilhelm Dietzel Werner Dörflinger Hansjürgen Doss Dr. Alfred Dregger Maria EichhornWolfgang Engelmann Rainer Eppelmann Heinz Dieter Eßmann Horst EylmannAnke EymerIlse FalkJochen FeilckeDr. Karl H. Fell Ulf FinkDirk Fischer Leni Fischer (Unna)Klaus Francke Herbert Frankenhauser Dr. Gerhard Friedrich Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Michaela GeigerNorbert GeisDr. Heiner Geißler Michael GlosWilma GlücklichDr. Reinhard GöhnerPeter GötzDr. Wolfgang Götzer Joachim GresKurt-Dieter Grill Wolfgang Gröbl Hermann Gröhe Claus-Peter Grotz Manfred GrundHorst Günther Carl-Detlev Freiherr vonHammersteinGottfried Haschke
Gerda Hasselfeldt Rainer Haungs
Otto Hauser Hansgeorg Hauser
Klaus-Jürgen Hedrich Manfred Heise
Dr. Renate Hellwig Ernst Hinsken Peter HintzeJosef HollerithDr. Karl-Heinz Hornhues Siegfried Hornung Joachim HörsterHubert Hüppe Peter JacobySusanne Jaffke Georg Janovsky Helmut Jawurek Dr.-Ing. Rainer JorkMichael Jung Ulrich JunghannsDr. Egon Jüttner Dr. Harald Kahl Bartholomäus Kalb Steffen KampeterDr.-Ing. Dietmar Kansy Manfred Kanther Irmgard Karwatzki Volker KauderPeter KellerEckart von Klaeden Dr. Bernd Klaußner Hans Klein Ulrich Klinkert Hans-Ulrich Köhler
Manfred Kolbe Norbert Königshofen Eva-Maria Kors Hartmut Koschyk Manfred Koslowski Thomas Kossendey Rudolf KrausWolfgang Krause Andreas Krautscheid Arnulf Kriedner Heinz-Jürgen KronbergVizepräsident Hans-Ulrich KloseDr.-Ing. Paul Krüger Reiner Krziskewitz Dr. Hermann Kues Werner KuhnDr. Karl A. Lamers
Karl LamersDr. Norbert Lammert Helmut LampArmin LaschetHerbert Lattmann Dr. Paul LaufsKarl-Josef Laumann Werner Lensing Christian Lenzer Peter LetzgusEditha Limbach Walter Link Eduard LintnerDr. Klaus W. Lippold
Dr. Manfred Lischewski Wolfgang Lohmann
Julius Louven
Sigrun LöwischHeinrich Lummer Dr. Michael LutherErich Maaß Dr. Dietrich MahloGünter MartenDr. Martin Mayer
Wolfgang Meckelburg Rudolf Meinl
Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich MerzRudolf Meyer Hans MichelbachDr. Gerd MüllerElmar Müller Engelbert NelleBernd Neumann Johannes NitschClaudia NolteDr. Rolf Olderog Friedhelm OstEduard OswaldNorbert Otto Dr. Gerhard Päselt Dr. Peter Paziorek Hans-Wilhelm Pesch Ulrich PetzoldAnton PfeiferDr. Gero PfennigDr. Friedbert Pflüger Dr. Winfried Pinger Ronald PofallaDr. Hermann Pohler Ruprecht Polenz Marlies PretzlaffDr. Albert Probst Dr. Bernd Protzner Dieter Pützhofen Thomas RachelHans RaidelDr. Peter Ramsauer Rolf RauHelmut RauberPeter Harald Rauen Otto RegenspurgerChrista Reichard Klaus Dieter Reichardt
Dr. Bertold ReinartzErika Reinhardt Hans-Peter RepnikRoland Richter Roland Richwien Dr. Norbert RiederDr. Erich Riedl Klaus RiegertDr. Heinz Riesenhuber Hannelore Rönsch
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose
Kurt J. RossmanithAdolf Roth
Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Dr. Jürgen RüttgersRoland Sauer Ortrun SchätzleDr. Wolfgang Schäuble Hartmut SchauerteHeinz Schemken Karl-Heinz Scherhag Gerhard Scheu Norbert Schindler Dietmar Schlee Ulrich Schmalz Bernd SchmidbauerChristian Schmidt Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Andreas Schmidt Hans-Otto Schmiedeberg Hans Peter Schmitz
Michael von Schmude
Birgit Schnieber-JastramDr. Andreas Schockenhoff Dr. Rupert Scholz Reinhard Freiherr vonSchorlemerDr. Erika Schuchardt Wolfgang SchulhoffDr. Dieter Schulte
Gerhard Schulz (Leipzig) Frederick Schulze Diethard Schütze (Berlin) Clemens Schwalbe
Dr. Christian SchwarzSchillingHorst Seehofer Wilfried Seibel Heinz-Georg SeiffertRudolf Seiters Johannes Selle Bernd Siebert Jürgen SikoraJohannes Singhammer Bärbel Sothmann Margarete Späte Carl-Dieter Spranger Wolfgang Steiger Erika SteinbachDr. Wolfgang Freiherr vonStettenAndreas Storm Max Straubinger Matthäus Strebl Michael Stübgen Egon SussetDr. Rita Süssmuth Michael TeiserDr. Susanne Tiemann Gottfried TrögerDr. Klaus-Dieter Uelhoff Gunnar UldallDr. Horst WaffenschmidtDr. Theodor WaigelAlois Graf von Waldburg-Zeil Dr. Jürgen WarnkeKersten WetzelHans-Otto Wilhelm Gert WillnerBernd WilzWilly Wimmer Matthias WissmannSimon Wittmann
Dagmar Wöhrl Michael Wonneberger
Elke WülfingPeter Kurt Würzbach Cornelia Yzer Wolfgang Zeitlmann Wolfgang ZöllerF.D.P.Ina AlbowitzDr. Gisela Babel Hildebrecht Braun
Günther Bredehorn Jörg van EssenDr. Olaf Feldmann Gisela FrickPaul K. Friedhoff Horst FriedrichRainer FunkeHans-Dietrich Genscher Dr. Karlheinz Guttmacher Dr. Helmut Haussmann Ulrich HeinrichWalter HircheDr. Burkhard Hirsch Birgit HomburgerDr. Werner HoyerUlrich IrmerDr. Klaus KinkelDetlef Kleinert Roland KohnDr. Heinrich L. KolbJürgen KoppelnDr.-Ing. Karl-Hans Laermann Heinz LanfermannUwe LührJürgen W. Möllemann Günther Friedrich Nolting Dr. Rainer OrtlebDr. Klaus RöhlHelmut Schäfer Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Dr. Irmgard Schwaetzer Dr. Hermann Otto Solms Dr. Max StadlerCarl-Ludwig ThieleDr. Dieter ThomaeJürgen TürkDr. Wolfgang Weng
Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, Drucksachen 13/ 2414, 13/2839 und 13/3155 Nr. 1.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen! - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.Wir kommen jetzt zum Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 13/2834. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 13/3155 unter Nr. 2, den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Metadaten/Kopzeile:
6488 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995
Vizepräsident Hans-Ulrich KloseWir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Fraktion der SPD zum Richtlinienvorschlag der Europäischen Union über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, Drucksache 13/3155 Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der SPD auf Drucksache 13/768 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu den Grundsätzen für eine EU-Entsenderichtlinie auf Drucksache 13/3155 Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt, auch den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/786 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Richtlinienvorschlag der Europäischen Union über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen auf Drucksache 13/ 3155 Nr. 3. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 19a bis i sowie die Zusatzpunkte 4 a bis e auf:19. Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung- Drucksache 13/2836 —Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß Rechtsausschußb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 19. Mai 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik über die gegenseitige Unterstützung der Zollverwaltungen- Drucksache 13/2985 —Überweisungsvorschlag: Finanzausschußc) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 4. Juli 1995 zur Änderung des Vertrages vom 23. November 1964 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Einbeziehung der Gemeinde Büsingen am Hochrhein in das schweizerische Zollgebiet- Drucksache 13/2986 - Überweisungsvorschlag:Finanzausschußd) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 15. März 1995 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Chile über die Seeschiffahrt- Drucksache 13/2987 —Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehre) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Mikrozensusgesetzes und eines Gesetzes zur Änderung des Bundesstatistikgesetzes- Drucksachen 13/3107, 13/3131 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
FinanzausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für GesundheitAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzungf) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für Spätaussiedler- Drucksache 13/3102 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß Ausschuß für Gesundheitg) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Rechts der Arbeitslosenhilfe
- Drucksache 13/3109 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung InnenausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für GesundheitAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOh) Beratung des Antrags der Abgeordneten Albert Schmidt , Gila Altmann (Aurich), Rainder Steenblock und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENErgänzende Kriterien zu den Leitlinien über die Transeuropäischen Verkehrsnetze
- Drucksache 13/1933 -
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6489
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
i) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung in die Veräußerung eines Grundstücks in Berlin gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung
- Drucksache 13/3027 -Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß
ZP4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes über den Abbau von Salzen im Grenzgebiet an der Werra
- Drucksache 13/3138 —
Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Angelica Schwall-Düren, Susanne Kastner, Heidi Wright, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verhinderung weiterer Gewässerverunreinigungen durch das Totalherbizid DIURON
- Drucksache 13/2518 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Gesundheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Susanne Kastner, Ulrike Mehl, Michael Müller , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Notwendige Grundsätze der guten fachlichen Praxis beim Düngen in der Düngeverordnung
- Drucksache 13/2524 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
d) Beratung des Antrages der Abgeordneten Ulrike Höfken, Steffi Lemke und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erforderliche Maßnahmen zur Umsetzung der EU-Nitratrichtlinie im Rahmen der Düngeverordnung
- Drucksache 13/3064 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
e) Beratung des Antrag der Abgeordneten Andrea Fischer und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sozial verträgliche Abschmelzung der Auffüllbeträge und Rentenzuschläge in Ostdeutschland
- Drucksache 13/3141 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuß
Zu diesen Punkten findet eine Debatte nicht statt. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 20a und b sowie d bis g auf:
Abschließende Beratungen ohne Aussprache
a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Resolution vom 15. Januar 1992 zur Änderung des Internationalen Übereinkommens vom 7. März 1966 zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung und zu der Resolution vom 8. September 1992 zur Änderung des Übereinkommens vom 10. Dezember 1984 gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe
- Drucksache 13/1883 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
- Drucksache 13/2962 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Altmaier Dr. Jürgen Meyer
b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. Juni 1993 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Ukraine über den Luftverkehr
- Drucksache 13/1886 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
- Drucksache 13/2976 -
Berichterstattung: Abgeordneter Lothar Ibrügger
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
d) Beratung des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu den Verfahren nach § 44b Abgeordnetengesetz (AbgG) (Überprüfung auf Tätigkeit oder politische Verantwortung für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik)
- Drucksache 13/2994 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dieter Wiefelspütz
e) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 82 zu Petitionen
- Drucksache 13/3073 -
f) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 83 zu Petitionen
- Drucksache 13/3074 -
g) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 84 zu Petitionen
- Drucksache 13/3075 -
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 20a: Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung der Übereinkommen zur Beseitigung von Rassendiskriminierung und gegen Folter auf Drucksache 13/1883.
Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/ 2962, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 20b: Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen mit der Ukraine über den Luftverkehr, Drucksache 13/1886.
Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 13/2976, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 20d: Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu den Verfahren nach § 44 b des Abgeordnetengesetzes, Drucksache 13/2994. Kann ich davon ausgehen, daß Sie den Bericht zur Kenntnis genommen haben? - Das ist der Fall.
Tagesordnungspunkt 20 e: Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 13/3073. - Es handelt sich um die Sammelübersicht 82. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD bei Stimmenthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 f: Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 13/3074. Es handelt sich um die Sammelübersicht 83. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 g: Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 13/3075. Es handelt sich um die Sammelübersicht 84. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
- Drucksache 13/2590 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
- Drucksache 13/3150 -
Berichterstattung: Abgeordneter Uwe Lühr
Dazu liegt je ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD und der Gruppe der PDS vor. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Keinen. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ulrike Mascher.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Bereits bei der ersten Lesung dieses Gesetzespaketes haben alle Fraktionen erklärt, daß sie einer Erosion der gesetzlichen Rentenversicherung nicht tatenlos zuschauen wollen; denn durch die Schaffung immer neuer berufsständischer Versorgungswerke und die Einbeziehung auch von abhängig Beschäftigten in diese Versorgungswerke drohten der gesetzlichen Rentenversicherung immer mehr Mitglieder verlorenzugehen. Wer die solidarisch finanzierte gesetzliche Rentenversicherung auch für die Zukunft erhalten will, muß dieser Abgrenzung zwischen gesetzlicher Rentenversicherung und berufsständischen Versorgungswerken zustimmen.
Ulrike Mascher
Die SPD begrüßt es deshalb, daß alle Fraktionen in diesem Hause diesen Beitrag zur Stabilisierung der gesetzlichen Rentenversicherung unterstützen.
Das zweite wichtige Thema dieser Änderung des Rentenversicherungsrechtes war der Versuch, im Vorgriff auf eine umfassende Neuregelung des Rechtes der Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten die steigende Zunahme der vorzeitigen Verrentung wegen Arbeitslosigkeit zu begrenzen. Die Regierung hat einen Vorschlag vorgelegt, um einer für die Zukunft zu erwartenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vorzubeugen. Für die SPD war dieser Vorgriff auf eine umfassende Regelung betreffend die Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten ein unzureichendes Stückwerk. Es war für uns auch fragwürdig, einer Rechtsprechung, die im Interesse der Betroffenen angesichts der steigenden Arbeitslosigkeit und der schwindenden Vermittlungschancen eine Verrentung ermöglicht, ein gesetzliches Nein entgegenzusetzen.
Mir sind die finanziellen Probleme für die gesetzliche Rentenversicherung sehr bewußt. Aber ich kenne auch die Schicksale von älteren Arbeitnehmern, die aus gesundheitlichen Gründen nur eingeschränkt beschäftigt werden können. Ihnen drohen nach einem langen Arbeitsleben Arbeitslosigkeit und als Endstation die Sozialhilfebedürftigkeit. Was ihnen bei dieser Zukunftsperspektive angesichts der von der Regierung geplanten Einschnitte und Kürzungen bei Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe droht, das wissen alle hier im Raum. Besonders gut müssen das die Vertreter der Regierungsfraktionen wissen.
Wir begrüßen es deshalb, daß die Regierungsfraktionen, nachdem die SPD ihre Ablehnung dieses Flickwerks bei der Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrente deutlich gemacht hatte, auf diese Regelung erst einmal verzichten. Ich möchte aber deutlich machen: Der SPD ist die Problematik des Verschiebebahnhofes zwischen Arbeitslosigkeit und Rentenversicherung sehr wohl bekannt. Wir wissen, daß wir hier eine Lösung brauchen. Bessere Arbeitsmarktchancen für Ältere würden wir uns alle wünschen - die SPD hat mit ihrem Arbeits- und Strukturförderungsgesetz hier Vorschläge gemacht -, wenigstens aber eine Kostenregelung, um der Rentenversicherung nicht zusätzliche Lasten aus der Arbeitslosigkeit aufzubürden. Ich denke, hier ist eine Lösung dringend notwendig.
Die SPD hat mit einem Änderungsantrag auch erreicht, daß Behinderte, die in Werkstätten für Behinderte arbeiten, bei der Einführung von Hinzuverdienstgrenzen bei verminderter Erwerbsfähigkeit ausgenommen werden. Uns haben die Einwendungen von Betroffenenverbänden überzeugt. Die Tätigkeit der Behinderten in Werkstätten ist primär nicht auf Erzielung von Einkommen gerichtet, sondern auf eine Eingliederung in ein Beschäftigungsverhältnis. Deswegen freuen wir uns, daß für diesen Personenkreis auf Antrag der SPD mit Unterstützung aller
Fraktionen eine Ausnahmeregelung getroffen wurde.
Ich hoffe, es wird von den Betroffenenverbänden als ein Signal verstanden, daß der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und der ganze Bundestag durchaus bereit sind, die besondere Lebenssituation von Behinderten bei ihren Entscheidungen zu beachten. Da hat es in den letzten Wochen und Monaten einige Irritationen gegeben.
Darüber hinaus möchte ich anregen, die Frage der Begrenzung des Hinzuverdienstes nicht nur bei erwerbsgeminderten Rentnern zu überprüfen und neu zu regeln, sondern auch bei anderen Personengruppen, die aus öffentlichen Kassen Gehälter oder Pensionen in erklecklicher Höhe erhalten.
Ich habe es bei der ersten Lesung begrüßt, daß in zwei Punkten eine Verlängerung der Sonderregelung im Arbeitsförderungsgesetz für die neuen Bundesländer vorgesehen ist.
Bei den Beratungen im Ausschuß hat die SPD noch zwei weitere Änderungsanträge gestellt, die von den Regierungsfraktionen leider abgelehnt wurden.
Im ersten Antrag ging es um eine Regelung zur Fortführung von noch nicht abgeschlossenen Großprojekten von ABS-Gesellschaften. Auch der Bundesrat hat einen entsprechenden Beschluß gefaßt. Wir hätten es sehr gut gefunden, wenn wir im Ausschuß eine Mehrheit für unseren Antrag bekommen hätten.
Aber offenbar sind die Realität in den neuen Bundesländern und die schwierige Finanzierungssituation für Beschäftigungsprojekte den Vertretern der CDU/ CSU und der F.D.P. nicht so gegenwärtig gewesen,
obwohl meine Kollegin Renate Jäger immer wieder versucht hat, sich durchzusetzen. Wir stellen diesen Änderungsantrag heute noch einmal zur Abstimmung. Sie haben also noch eine Chance, sich positiv im Interesse der Beschäftigten in diesen ABS-Gesellschaften in den neuen Bundesländern zu entscheiden.
(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Burkhard
Hirsch)
Ein zweiter Antrag hat trotz der Bemühungen meines Kollegen Hans Urbaniak auch in Gesprächen mit
Ulrike Mascher
dem Arbeitsminister, noch eine Änderung zu erreichen, auch keine Mehrheit gefunden.
Hier geht es um den Umstrukturierungsprozeß in der Stahlindustrie, vor allem in den ostdeutschen Ländern. Dieser Umstrukturierungsprozeß wird mit Montanbeihilfen der Europäischen Union gestützt. Wenn die Ausnahmeregelungen, die bisher galten, für die Montanindustrie nicht verlängert werden, drohen Kündigungen für jüngere Arbeitnehmer; bisher stießen die Vorruhestandsregelungen für die älteren Arbeitnehmer auf breite Akzeptanz. Auch hier hoffen wir, daß die Regierungskoalition ihre Chance nutzt, unseren Änderungsantrag doch noch zu unterstützen.
Ich denke, die wichtigste Botschaft des heute vorliegenden Gesetzentwurfs ist - ich habe das zu Beginn meiner Rede schon einmal gesagt -: Alle Fraktionen des Bundestages, CDU/CSU, F.D.P., SPD, die Grünen, und die PDS tun das Erforderliche, um die gesetzliche Rentenversicherung zu stärken. Das sollte die Botschaft sein, die von dieser Debatte ausgeht, um die Verunsicherung der Rentnerinnen und Rentner vielleicht etwas abzumildern.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile der Abgeordneten Birgit Schnieber-Jastram das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Mascher, das war ja wieder einmal ein richtig klassischer Schlagabtausch. Ich wünsche mir wirklich, es würde sich das Bild widerspiegeln, wie wir es im Ausschuß erlebt haben. Wir waren viel einiger, als Sie hier getan haben.
Wie dem Titel des vorliegenden Gesetzentwurfs zu entnehmen ist, soll nicht nur über das Sozialbuch VI entschieden werden, sondern auch, wie es heißt, über „andere Gesetze". In der Vorlage sind also eine Menge kleinerer Änderungen und Formalien zusammengefaßt. Ministeriumsintern nennt man so ein Gesetz Omnibusgesetz, das heißt, vieles, was auf der Strecke liegengeblieben ist, wird eingesammelt. Ich denke, die Anfertigung solcher Gesetzesvorlagen ist eher eine Sternstunde für Ministerialbeamte, die darin ihre ganze Akkuratesse und Sachkenntnis auf engstem Raum einbringen können. Für diese akribische Arbeit, die notwendig ist, möchte ich an dieser Stelle herzlichen Dank sagen.
Eigentlich sollten die Beamten hier ihre wohldurchdachten und minuziösen Änderungen darlegen und erläutern; denn im Grunde ist die Aufgabe von Politikern etwas anderes: nämlich die große Linie eines Gesetzentwurfs zu verteidigen oder zu attakkieren. Frau Mascher, das ist Aufgabe der Politiker.
Ich möchte auf die wesentlichen Punkte eingehen. In den meisten Punkten waren wir uns sehr einig. Bei den rentenrechtlichen Fragen dieser Vorlage gab es weitgehenden Konsens. Die Einführung einer Hinzuverdienstgrenze bei Erwerbsunfähigkeitsrenten in Höhe der Geringfügigkeitsgrenze etwa wurde sowohl von der SPD als auch von der Koalition begrüßt.
Durch die Hinzuverdienstgrenze wird es Fälle, in denen Versicherte mit Rente und Hinzuverdienst über ein wesentlich höheres Einkommen verfügen als vor Eintritt der Erwerbsminderung, nicht mehr geben. Daß dabei das Einkommen für Behinderte in den Werkstätten nicht als Verdienst angerechnet wird, ist gut und richtig. Ich freue mich, daß es in diesem Punkt Einigkeit gab.
Sicher ist es auch richtig, daß die Frage der Ansprüche auf Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrente im Rahmen der dies betreffenden Regelung zu einem späteren Zeitpunkt erneut diskutiert wird. Aber, Frau Mascher, das, was Ihnen vorgelegen hat, als Flickwerk zu bezeichnen ist doch etwas überzogen. Sie sollten sich wirklich ein Beispiel an den Gewerkschaften nehmen, die Ihnen nahestehen und in diesen Fragen häufig weiter sind als die SPD in ihrem jetzigen Stadium.
Wir sind noch immer der Meinung, daß eine Gesetzesänderung erforderlich ist, die festschreibt, daß für erwerbs- und berufsgeminderte, aber vollschichtig einsatzfähige Versicherte kein konkreter Nachweis einer Stelle nötig ist, um ihnen Rentenansprüche zu verweigern. Für eine Neuregelung sprechen nach unserer Meinung gute Gründe. Wir haben das in der Debatte schon einmal gesagt.
Ich will die drei wichtigsten Punkte gern nennen: Bei einem erweiterten Personenkreis Erwerbs- und Berufsgeminderter mit Rentenanspruch würden unter dem Druck der Arbeitsmarktlage noch mehr ältere erwerbsgeminderte Arbeitnehmer in die Frührente ausweichen, würde das Risiko der Arbeitslosigkeit noch mehr auf die Rentenversicherung übertragen werden und würde die Rentenversicherung mit Mehrkosten von 5 Milliarden DM belastet werden. Daß auch Sie das nicht wollen, weiß ich wohl. Aus diesen Gründen sehen wir unverändert die Notwendigkeit einer Gesetzesänderung.
Übereinstimmung herrscht auch über die Diskussion über die Friedensgrenze zwischen gesetzlicher Rentenversicherung und den berufsständischen Versorgungswerken. Sowohl Regierung wie auch Opposition haben betont, daß die Möglichkeit, als Nichtselbständiger die gesetzliche Rentenversicherung verlassen zu können, äußerst restriktiv gehandhabt werden muß.
Birgit Schnieber-Jastram
Klar und unbestritten ist, daß eine zu großzügige und aufgeweichte Abgrenzung zwischen beiden Altersversorgungssystemen für die gesetzliche Rentenversicherung fatale Folgen hätte. Millionen würden die Solidargemeinschaft der Rentenzahler verlassen, um den berufsständischen Organisationen beizutreten. Diese können nämlich zum Teil weitaus bessere Konditionen bieten. Die finanziellen Folgen für die Rentenversicherung - und damit auch für die Beitragssätze - gingen ebenfalls in zweistellige Milliardensummen.
Im großen und ganzen, Frau Mascher, gibt es also - das ist vielleicht beispielhaft für die Diskussion im sozialen Bereich - Einigkeit über die Notwendigkeit des vorliegenden Gesetzespakets. Ich halte es deswegen für eine gute Sache, daß wir uns in notwendigen Fragen der sozialen Sicherung verständigen konnten. Das gesetzliche Sozialsystem und vor allen Dingen das Rentensystem wollen wir hoffentlich gemeinsam stabilisieren und für das 21. Jahrhundert wetterfest machen.
Ich erteile das Wort der Abgeordneten Andrea Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die Opposition ist es ein außerordentlich seltenes Vergnügen, einem Gesetzentwurf der Bundesregierung zuzustimmen. Ich war über die heftige Reaktion der Kollegin Schnieber-Jastram auf die Rede der Kollegin Mascher jetzt gerade richtig verblüfft, die ich überhaupt nicht als so polarisierend wahrgenommen habe. Frau Kollegin, wenn sich die Opposition an einem Gesetzentwurf der Regierung beteiligt, sollte Sie das doch freuen, und Sie sollten uns dann schon zugestehen, daß wir noch die eine oder andere kritische Anmerkung dazu machen.
Wir Bündnisgrünen halten die vorgesehenen Regelungen für die Anrechnung von Hinzuverdienst auf Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten für sinnvoll und sachgerecht. Es ist den Beitragszahlern nicht zu vermitteln, daß Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrentner unbegrenzt zu ihrer Rente hinzuverdienen. Mit Renten, auch mit Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten, sichern wir den Verlust des Erwerbseinkommens ab. Wenn in einer anderen Tätigkeit ein Einkommen erzielt werden kann, darf deshalb die Versichertengemeinschaft nicht über Gebühr in die Verantwortung genommen werden. Die Zustimmung ist uns insbesondere deshalb erleichtert worden, weil die Bundesregierung schließlich auf die vielfachen Proteste reagiert hat und nun doch eine Ausnahmeregelung für die Beschäftigten in Werkstätten für Behinderte vorsieht. Es wäre geradezu zynisch gewesen, in dem Moment, wo den Behinderten nach 20 Jahren erstmals eine EU-Rente zusteht, sie ihnen im Hinblick auf ihren kargen Lohn zu kürzen.
Ebenfalls ist uns das Zurückziehen der vorgesehenen EU/BU-Regelungen sehr entgegengekommen.
Ganz kurz einige Anmerkungen zu den im Gesetzentwurf versteckten Änderungen des Arbeitsförderungsgesetzes. Sehen wir einmal davon ab, daß das Verstecken dieser Regelungen in einem Gesetz über die Rentenversicherung doch immer etwas überraschend ist. Wir halten die vorgeschlagenen Regelungen für einen zwar wichtigen, aber für einen unzureichenden Schritt. Die aktive Arbeitsförderpolitik kann nicht immer wieder kurzfristig auf neue Gesetzesgrundlagen gestellt werden. Wir brauchen eine grundlegende Überarbeitung der Förderlandschaft, die Planungssicherheit gewährt und in den entsprechenden Projekten nicht Arbeitnehmer verschiedener Entlohnung und Arbeitszeit erzwingt. Deswegen unterstützen wir die SPD-Änderungsanträge.
Eine der wichtigsten Regelungen des Gesetzentwurfs ist die sogenannte Festigung der Friedensgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung. Auch wir finden es äußerst problematisch, wenn sich Versicherte mit hohem Einkommen der Solidargemeinschaft entziehen. Die Gesetzesänderungen zwingen sie nun wieder zurück in die gesetzliche Rentenversicherung. Allerdings riecht die Ausnahmeregelung für Architekten in Niedersachsen und Hamburg verdächtig nach erfolgreicher Lobbyarbeit.
Ich glaube, Sie sollten aufpassen, meine Damen und Herren von der Koalition, daß Sie damit nicht Ihr ansonsten auch von uns geteiltes richtiges Anliegen diskreditieren.
Die grundsätzlichen Regelungen begrüßen wir jedoch mit gemischten Gefühlen. Es widerstrebt uns, daß wir ausschließlich mit Zwang auf ein politisches Problem reagieren. Was ist denn los, daß die Menschen von der Leistungsfähigkeit der Sozialversicherung nicht mehr überzeugt sind? Welche Argumente könnten die Menschen für die Solidargemeinschaft zurückgewinnen?
Minister Blüm, der jetzt leider nicht mehr teilnimmt, hat einen sehr bemerkenswerten Artikel in der „Woche" von heute geschrieben. Darin beschreibt er dieses Phänomen als Verlust an Gemeinsinn. Er befürchtet ein Single-Programm des Egoismus. Diese Sorgen kann man wohl teilen. Aber ich teile nicht die Beschreibung, daß wir es einfach nur mit einem Werteverlust zu tun haben.
Minister Blüm sieht die Kaputtrederei des Standorts Deutschland als eine Problemursache.
Das möchte ich ergänzen: Wir haben in den vergangenen Jahren eine beispiellose Demontage des Wertes der Sozialversicherungen erlebt. Das Zutrauen in die Leistungsfähigkeit, in die Qualität dieser Systeme ist tief erschüttert worden. Deswegen kann Zwang nicht unser einziges Mittel sein. Wir müssen die Menschen überzeugen. Wir müssen gute Argumente haben. Wir müssen das Angebot der gesetzlichen
Andrea Fischer
Rentenversicherung verbessern und den veränderten Lebensumständen anpassen, damit sich alle Menschen darin gut aufgehoben fühlen. Langfristig halte ich diese Strategie auch für zukunftsträchtiger, als immer nur Zwang auszuüben.
In diesem Sinne sehe ich die heutige Verabschiedung des Gesetzes als einen ersten, als einen wichtigen, aber auch als einen noch unzulänglichen Schritt.
Nun erteile ich das Wort der Abgeordneten Dr. Gisela Babel.
Herr Vizepräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach schwierigen Debatten im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung beraten wir heute ein SGB-VI-Änderungsgesetz - und beschließen es wohl auch -, das in zwei Schwerpunkten für die Rentenversicherung Änderungen mit sich bringt. Zum einen geht es um die sogenannte Friedensgrenze zwischen der Rentenversicherung und den berufsständischen Versorgungswerken, zum anderen geht es um wichtige Änderungen bei den Hinzuverdienstgrenzen bei EU- und BU-Renten.
Die berufsständischen Versorgungswerke sind nicht unbedingt das Lieblingskind aller Parteien, wenn es darum geht, daß die Altersversicherungen im Wettbewerb stehen. Aber die Liberalen - Sie werden es mir nachsehen - haben ein besonderes Faible für dieses Alterssicherungssystem, und zwar deswegen, weil es auf dem Kapitaldeckungsverfahren beruht - auch wenn es einige Elemente des Umlageverfahrens gibt. Das Kapitaldeckungsverfahren ist in der Zukunft wetterfest, weil es durch die Kapitalerträge die Sicherungen schon mit sich bringt.
Ein Alterssicherungssystem, das nach diesem Verfahren arbeitet, ist weniger anfällig für die Schwierigkeiten, die die demographische Entwicklung für die gesetzliche Rentenversicherung mit sich bringen wird. Daß davon mittlerweile auch die SPD, zumindest ein bißchen, überzeugt ist, zeigt sich in dem Entwurf zur Reform der agrarsozialen Sicherung.
Dort war es möglich, die berufsständischen Versorgungswerke in die Gesetzgebung mit einzubeziehen, was zunächst einmal nicht der Fall war.
Meine Damen und Herren, zum zweiten verzichten die berufsständischen Versorgungswerke weitgehend auf die großzügige Umverteilung innerhalb des Systems. Man hat ihnen schlichtweg weniger versicherungsfremde Leistungen aufgebürdet. Diese aber belasten ja gerade die gesetzliche Rentenversicherung. Ich glaube, in dieser Einschätzung sind wir uns einig. Im Ergebnis werfen berufsständische Versorgungswerke für jede Mark Beitrag einen höheren Ertrag, eine höhere Altersversicherung ab.
Diese schlichten ökonomischen Tatsachen verstärken bei denjenigen, die in eine Rentenversicherung einzahlen, den Anreiz, aus der gesetzlichen Rentenversicherung zu flüchten und diese höheren Alterssicherungen in einem berufsständischen Versorgungswerk zu erwerben. Das ist nicht unbedingt eine Flucht aus der Solidarität, aber es ist schon ein Mißtrauensvotum, weil man so um die zusätzlichen Lasten, die wir in die gesetzliche Rentenversicherung hineingedrückt haben - meist sind es die Wohltaten der Sozialpolitiker oder der Finanzpolitiker -, herumkommt. Das ist ein Vorgang, den wir im Ausschuß über alle Parteigrenzen hinweg bedauern und gegen den der Widerstand wächst.
Die Ingenieurkammern haben in Bayern - das war sozusagen der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen gebracht hat - am 1. Januar ein neues Versorgungswerk gegründet. Weitere Bauingenieurversorgungswerke waren geplant. Wir haben dieser Entwicklung einen Riegel vorgeschoben; denn sonst wäre das System der berufsständischen Versorgungswerke gefährdet worden.
Wir haben festgesetzt, daß es keine neuen berufsständischen Versorgungswerke geben darf - außer in den klassischen freien Berufen, bei denen sie in manchen Bereichen noch nicht errichtet worden sind. Ich appelliere an die SPD, die Voraussetzungen zu schaffen, daß man in allen Bundesländern berufsständische Versorgungswerke möglich macht.
Daß die Architekten in Niedersachsen und Hamburg außerhalb des „closed shop" in das System hinein wollen, ergibt sich aus der Tatsache, daß sie immer als freiwillige Mitglieder dabei waren. Wenn ihnen der Zustrom verweigert wird - wenn wir die Tür schließen -, wäre das ein Eingriff in die Zukunftsfähigkeit des Systems.
Insofern halte ich die Lösung, die man in diesem Bereich anstrebt, sie einvernehmlich - auch die SPD hat das signalisiert - mit in die Pflichtverkammerung hineinzunehmen, für geeignet; denn sie gibt ihnen die Möglichkeit, ihr Versorgungswerk für die Zukunft zu sichern.
Meine Damen und Herren, im Bereich der EU/BU-
Renten vollziehen wir eine kleine Reform, was ich ein bißchen bedauere. Denn dazu hatten wir uns vorgenommen, die Rechtsprechung, die zur Gefährdung der Rentenversicherung geführt hätte, einzudämmen. Dies ist leider nicht gelungen. Das scheiterte an der Zustimmung der SPD. Zumindest den Hinzuverdienst haben wir einvernehmlich regeln können.
Uns liegt daran, daß dieses Gesetz, das zustimmungsbedürftig ist, im Konsens nun möglichst rasch im Bundesrat verabschiedet wird. Dazu gehören natürlich auch die Bestimmungen, die die Maßnahmen nach § 249h verlängern können, woran wir ein gemeinsames Interesse haben. Es sollte gelingen, den 1. Januar 1996 zu erreichen.
Ich bedanke mich.
Ich erteile das Wort der Abgeordneten Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der heute zur Verabschiedung anstehende Gesetzentwurf mit seiner Vielzahl von Gesetzesänderungen ist für uns nicht unproblematisch.
Eines der Hauptanliegen, dem Bestreben berufsständischer Versorgungswerke, immer weitere Personengruppen aufzunehmen, die bisher in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert waren, einen Riegel vorzuschieben, ist im Interesse der Solidargemeinschaft zu begrüßen. Aber: In diesem administrativen Schritt sehen wir nicht die Lösung des sich dahinter verbergenden Problems. Gerade für die sich in den neuen Bundesländern im Aufbau befindlichen Versorgungswerke muß sich das als Eingriff in die Länderentscheidungskompetenz und als Ungleichbehandlung gegenüber Versorgungswerken in den alten Bundesländern darstellen.
Im Wesen verbirgt sich hinter der Ausweitung der berufsständischen Versorgungen doch, daß die öffentliche Diskussion über die Unsicherheit der Renten bereits gegriffen hat und einzelne Gruppen von Tätigen ihre Konsequenzen für eine kalkulierbarere Alterssicherung ziehen. Notwendig ist also, die Zukunft der Renten politisch seriös zu diskutieren und erforderliche Schlußfolgerungen zu ziehen.
Wir könnten uns zum Ausbau der Alterssicherung vorstellen, die allgemeine Versicherungspflicht einzuführen und berufsständische Versorgungswerke und andere Versorgungen zu zusätzlichen Leistungen umzugestalten. Das wäre eine solidarische und zugleich eine sozial gerecht differenzierende Variante der Alterssicherung.
Andere Punkte des Gesetzes lehnen wir ab. Mit dem Eingrenzen der Möglichkeiten für die sogenannte „Arbeitsmarktrente" erhöht sich die soziale Unsicherheit für leistungsgeminderte Menschen. Wenn der Arbeitsmarkt gesundheitlich Leistungsgeminderten keinen zumutbaren Arbeitsplatz bietet, spezielle Förderprogramme nicht existieren, der Rettungsanker Rente dennoch erschwert wird, werden diese Menschen als „Überflüssige" in die Sozialhilfe abgeschoben.
Bei der neuen Hinzuverdienstgrenze für die Berufsunfähigkeitsrente sind Behinderte in Werkstätten jetzt zwar ausgenommen; wir sehen aber weiterhin die Gefahr der Schlechterstellung für voll berufstätige Blinde und Querschnittsgelähmte.
Als positiv erkennen wir an, daß in der Rentenüberleitung vergessene Übergangsgelder rentenrechtlich anerkannt werden sollen; das betrifft insbesondere die „berufsbezogene Zuwendung" an Ballettmitglieder und die „befristete erweiterte Versorgung" für Sonderversorgte der ehemaligen Schutz- und Sicherheitsorgane der DDR.
Wir begrüßen, daß die Sonderbedingungen für ABM Ost um ein Jahr bis zum 31. Dezember 1996 verlängert werden. Wir befürworten zugleich den Änderungsantrag der SPD, es im Osten bei den Förderbedingungen des § 249h zu belassen und nicht auf den § 242s AFG umzustellen. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, obwohl wir weiterhin Vorschläge verfolgen werden, wie aus unserem arbeitsmarktpolitischen Sofortprogramm 1996 zu ersehen ist.
Der Änderungsantrag der PDS fordert, das Abschmelzen der Auffüllbeträge per Bescheid bekanntzugeben. Obwohl die ursprüngliche Änderung, das nur mit einer Mitteilung des Postrentendienstes zu tun, nun doch nicht in die §§ 315a und 319a eingeführt werden soll, ändert sich am Fakt nichts. Die Betroffenen werden lediglich eine Mitteilung über das Ergebnis des Abschmelzens und Hinweisblätter mit Beispielen erhalten. Uns fehlt die Rechtsmittelbelehrung. Die ist um so wichtiger, als wir den Beginn des Abschmelzens der Auffüllbeträge per 1. Januar 1996 für rechtswidrig halten.
Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag, der nur einen formalen Akt auslösen soll, zuzustimmen.
Selbstverständlich werden wir in unseren Bemühungen nicht nachlassen, das Abschmelzen der Auffüllbeträge noch zu stoppen. Deshalb haben wir diesbezüglich einen Antrag gestellt, der sich noch in der parlamentarischen Beratung befindet.
Sie haben gemerkt: Ich habe Pro und Kontra dieses Gesetzentwurfes betont, Vor- und Nachteile miteinander abgewogen.
Sie müssen zum Schluß kommen, Frau Kollegin.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die PDS wird sich bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten.
Ich erteile nun nachträglich zu der Rede der Abgeordneten Schnieber-Jastram dem Kollegen Hans Urbaniak zu einer Kurzintervention das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst geht es um eine gesetzestechnische Frage. Der Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 13/3153 muß unter Art. 10 Nr. 19 geändert werden. Unter Nr. 19 soll nicht § 249m, sondern § 242m stehen. Sie sehen also, wie wir bei unseren Änderungsanträgen aufpassen, Herr Präsident.
- Ich sage das aus dem Grund, weil dies ja mal passieren kann.
Nun zu den Änderungsanträgen, die wir im Ausschuß gestellt haben. Es ist bemerkenswert, daß weder die Kollegen von der CDU noch die Kollegen von der F.D.P. mit einem Wort auf diese wichtige Problematik eingegangen sind.
Hans-Eberhard Urbaniak
Sie haben hier kein Wort dazu gesagt. Das spiegelt Ihr Verhältnis zu den Stahlarbeitern und zu den Problemen, die wir in den neuen Ländern haben, wider. Das haben Sie ausgeklammert. Dazu haben Sie keine Beziehung.
Das, was Sie von sich gegeben haben, ist eine ganz schäbige Geschichte. Das sage ich hier mit aller Deutlichkeit.
Wir wollten eine Ausnahmeregelung für die Stahlindustrie, weil es notwendig ist, einen befristeten Zeitraum zur Verfügung zu stellen, um den Abschluß der Sanierung zu vollziehen. Wir leiden noch immer unter erheblichen Wettbewerbsverzerrungen. Art. 56 des Montanvertrages können wir nur dann in Anspruch nehmen, wenn auch Sozialpläne durchgebracht werden. Diese aber sind in großer Gefahr.
Ich sage Ihnen: Die Wirtschaftsvereinigung hat schon Entlassungen angekündigt, allerdings für jüngere Leute. Das werden Sie zu verantworten haben. Sie haben jetzt noch die Chance, unserem Antrag, den wir in dieser Situation mit großer Sorge gestellt haben, Ihre Zustimmung zu geben. Lassen Sie unsere Leute an den Stahlstandorten nicht im Stich!
Ich erteile nun dem Parlamentarischen Staatssekretär Horst Günther das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Entgegen allen Unkenrufen und allem Getöse der Systemgegner und Katastrophenspezialisten für die Rentenversicherung sage ich: Die Altersrenten bleiben in der heutigen Form auch bis weit in das nächste Jahrhundert hinein finanzierbar. Das haben zuletzt die Rentenversicherungsträger, das PrognosGutachten und der Sozialbeirat bekräftigt.
- Frau Kollegin Fuchs, wenn nicht jede Woche eine neue Meldung käme, wonach die Renten gefährdet sein sollen - -
- Nein, aber Sie haben einen Zwischenruf gemacht. Deshalb spreche ich Sie an.
- Ja, das ist in Ordnung. Da sind wir uns einig.
Es wäre gut, wenn nicht jede Woche eine neue Meldung käme, die die Rentner und die rentennahen
Jahrgänge verunsichert, ob sie ihre Rente überhaupt noch bekommen.
Ich bitte darum, daß das endlich eingestellt wird.
Wir dürfen uns dennoch nicht zurücklehnen, sondern müssen weiterhin dafür sorgen, daß unser gesetzliches Rentensystem nicht überfordert wird. Darum müssen wir unter anderem die Aufgabenabgrenzung zwischen den einzelnen Systemen der sozialen Sicherheit verbessern. Wir müssen eine Auszehrung der Solidargemeinschaft der Rentenversicherten verhindern. Entscheidend dafür ist, daß die Friedensgrenze zwischen gesetzlicher Rentenversicherung und berufsständischer Versorgung gefestigt werden muß.
Die jüngste Ausdehnung der berufsständischen Versorgung auf neue Berufsgruppen, zum Beispiel auf Bauingenieure, hat diese Abgrenzung zwischen den beiden Systemen grundsätzlich in Frage gestellt. Diese Entwicklung gefährdet auf längere Sicht die Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung und führt zu einem Erosionsprozeß, der für die Solidargemeinschaft nicht tragbar ist.
Deshalb haben wir das Recht zur Befreiung von der Versicherungspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung wegen Zugehörigkeit zu einem berufsständischen Versorgungswerk neu geregelt. Die langjährige Abgrenzung zwischen gesetzlicher Rentenversicherung und berufsständischer Versorgung wird beibehalten. Gleichzeitig wird aber verhindert, daß sich diejenigen Berufsgruppen, denen eine berufsständische Sicherung künftig vorteilhafter erscheint, zu Lasten der verbleibenden Mitglieder aus der Solidargemeinschaft verabschieden können.
Daneben, meine Damen und Herren, brauchen wir dringend notwendige Änderungen im Bereich der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Bis zur Verwirklichung der grundsätzlichen Neuordnung dieser Renten muß vorher klargestellt werden, daß leistungsgeminderte, aber noch vollschichtig einsatzfähige Versicherte weiterhin nicht erwerbs- oder berufsunfähig sind, wenn sie noch in einer zumutbaren Beschäftigung tätig sein können.
Mit einer Festschreibung würde der bestehende Status quo nur aufrechterhalten. Hierüber besteht allerdings noch Beratungsbedarf. Um aber das rechtzeitige Inkrafttreten des Gesetzes nicht zu gefährden, haben wir uns dazu entschlossen, die Angelegenheit in diesem Gesetzgebungsverfahren nicht weiterzuverfolgen. Aber ich sage ganz klipp und klar: Die Regelung ist nach wie vor dringend notwendig. Darum kommt das Thema ganz schnell wieder auf die Tagesordnung.
Ein Bereich ist bereits jetzt geregelt. Es werden Hinzuverdienstgrenzen bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit eingeführt, um die Lohnersatzfunktion dieser Renten wiederherzustellen, ausgenommen bei Schwerbehinderten in Werkstätten.
Das geltende Recht sieht nämlich derzeit keine Hinzuverdienstgrenzen vor. Wer berufs- oder erwerbsunfähig ist und eine entsprechende Rente
Parl. Staatssekretär Horst Günther
bezieht, kann unbegrenzt hinzuverdienen. Wir meinen, dem muß ein Ende gemacht werden. Das steht auch im Widerspruch zur Lohnersatzfunktion; denn die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit sollen entgangenen Arbeitslohn ersetzen.
Bei Erwerbsunfähigkeitsrenten führen wir darum bei Überschreiten der Hinzuverdienstgrenze die Rentenzahlungen auf die niedrigere Berufsunfähigkeitsrente zurück. Außerdem werden in Stufen gestaffelte Hinzuverdienstgrenzen für Renten wegen Berufsunfähigkeit eingeführt. Je höher der Hinzuverdienst, desto niedriger ist die Höhe der Berufsunfähigkeitsrente. In Zukunft wird es also keine Fälle mehr geben, in denen Berufsunfähige mit Rente und Hinzuverdienst über mehr Einkommen verfügen können als vorher, als sie noch vollständig erwerbstätig waren.
Herr Kollege Urbaniak, Sie haben eben gerügt, daß niemand von der Koalition - es ist auch nach mir kein Redner mehr vorgesehen - etwas zu Ihren Anträgen gesagt hat. Ich wollte dazu auch nichts sagen.
- Nun lassen Sie mich doch ausreden! Seien Sie doch einmal ruhig! Ich will doch gerade eine Erklärung abgeben. Regen Sie sich doch nicht so auf!
- Sind Sie jetzt fertig?
Also, niemand der Koalitionsfraktionen spricht mehr dazu. Sie haben das gerügt. Das ist Ihre Sache. Ich wollte dazu seitens der Bundesregierung auch nichts sagen, weil wir in unserem Gesetzentwurf eine solche Regelung nicht vorgesehen haben. Aber ich habe Sie gestern im Ausschuß auf das Schrekkensszenario hingewiesen - ich wiederhole das -, daß es keine Sozialpläne mehr geben könne. Daß die EGKS-Mittel daher nicht in Anspruch genommen werden können, stimmt nicht. Wenn nämlich die Stahlunternehmen bereit und in der Lage sind, Sozialpläne mit etwas höheren Mitteln abzuschließen, dann können sie auch EGKS-Mittel in Anspruch nehmen.
Im übrigen, Kollege Urbaniak und meine Damen und Herren, haben wir der Stahlindustrie vor drei Jahren klipp und klar gesagt, daß es das letzte Mal sein muß, daß eine Verlängerung in Frage kommt. Wir haben das nach einer Diskussion und nach einer entsprechenden Einigung nicht erst im Vermittlungsausschuß, wie Sie, Kollege Urbaniak, das verbreiten, sondern schon vorher durch die Koalitionsfraktionen festgelegt.
Die Stahlindustrie war also drei Jahre darauf vorbereitet. Ich kenne die Probleme. Ich kenne die Strukturkrisen. Ich wohne selber in einer Stadt, in der wir sehr viel mit Stahl zu tun haben. Aber man muß auch einmal eingegangene Versprechungen einhalten. Insofern, meine Damen und Herren, war die Stahlindustrie vorbereitet.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Urbaniak?
Ja, bitte schön, Kollege Urbaniak.
Herr Staatssekretär, können Sie mir bestätigen, daß wir es vor drei Jahren unternommen haben, eine Ausnahmeregelung herbeizuführen, die nur über den Vermittlungsausschuß möglich war? Sie waren damals dagegen. Können Sie mir zweitens bestätigen, daß die Wirtschaftsvereinigung heute angekündigt hat, es kämen keine Sozialpläne mehr in Frage, vielmehr müßten wir entlassen? Können Sie dies bestätigen?
Erstens, Herr Kollege Urbaniak: Ich kenne das aus anderen Gesetzgebungsverfahren. Auch beim Entsendegesetz haben wir das Szenario der Arbeitgeberverbände, daß sie so lange pokern, bis das Gesetz verabschiedet ist. Wir wollen einmal die Entwicklung, die in der Stahlindustrie stattfindet, abwarten. Auch ich stehe in Gesprächen mit den Herren der Stahlindustrie. Da können Sie ganz sicher sein. So schlimm, wie Sie das sehen, wird das nicht ausfallen.
Zweitens sage ich Ihnen: Es ist nicht richtig, daß erstmalig im Vermittlungsausschuß darüber gesprochen wurde. Nein, die Koalitionsfraktionen - ich war ja selber damals beteiligt - haben sich schon vorher sehr eindeutig dafür ausgesprochen, die Verlängerung vorzunehmen. Richtig ist, daß das dann im Vermittlungsausschuß festgeklopft worden ist. Das will ich Ihnen gerne zugestehen.
Vielen Dank.
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze, Drucksachen 13/2590 und 13/3150.
Dazu liegen Änderungsanträge der Fraktion der SPD und der Gruppe der PDS vor, über die wir zuerst abstimmen.
Wir stimmen zuerst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/3153 in der von Herrn Urbaniak vorgetragenen Fassung ab. Wer diesem Änderungsantrag der Fraktion der SPD zustimmt, bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der gesamten Opposition abgelehnt.
Dann stimmen wir über den Änderungsantrag der PDS auf Drucksache 13/3157 ab. Wer für diesen Änderungsantrag der PDS stimmt, bitte ich um das
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Änderungsantrag mit den Stimmen der Fraktionen der Koalition, des Bündnisses 90/Die Grünen und der SPD abgelehnt worden ist.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS angenommen worden ist.
Dann kommen wir zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf mit der gleichen Mehrheit wie in der zweiten Lesung angenommen worden ist.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 6 auf.
Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung des besonderen Kündigungsschutzes in den neuen Bundesländern
- Drucksache 13/2444 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
- Drucksache 13/3145 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Luther Hans-Joachim Hacker
Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die Aussprache über diesen Gesetzentwurf namentlich abstimmen werden.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Hans-Joachim Hacker.
Vielen Dank, Herr Präsident. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir heute nicht handeln, wenn die Mehrheit des Hauses heute dem Gesetzentwurf der SPD nicht zustimmt, läuft am 31. Dezember 1995 der besondere Kündigungsschutz in den neuen Ländern aus. Der Gesetzgeber hat bei der Verabschiedung des Einigungsvertrages erkannt, daß bei den Wohnungsmietverhältnissen in den neuen Ländern eine Sondersituation vorliegt, die den besonderen Schutz der Mieterinnen und Mieter durch entsprechende Übergangsfristen vor der vollen Inkraftsetzung der mietrechtlichen Bestimmungen des BGB verlangt.
Weder 1992, als der Bundestag die Frist bereits einmal verlängerte, noch heute hat sich die Situation auf dem Wohnungsmarkt in den neuen Ländern grundlegend verbessert.
Durch die Einführung erleichterter Kündigungsbedingungen gemäß BGB droht nun eine Welle von Eigenbedarfskündigungen und Kündigungen sogenannter Einliegerwohnungen, ohne daß der Wohnungsmarkt auf diese Situation eingerichtet ist. In dieser Einschätzung wird die SPD-Bundestagsfraktion von den Regierungen der neuen Länder durch ihr Abstimmungsverhalten im Bundesrat, aber auch durch an sie gerichtete Zuschriften unterstützt. Auch von CDU-Landesministern ist diese Notwendigkeit ausdrücklich unterstrichen worden.
Es geht bei dem Thema besonderer Kündigungsschutz für Mieter in Ein- und Zweifamilienhäusern nicht um irgendein Rechtsproblem, sondern es geht um die Grundfrage der Existenzsicherung für Familien, insbesondere in Ballungsgebieten. Es geht um sozialen Frieden, und es geht um Rechtsfrieden in den neuen Ländern. Der Einwand, daß bei Auslaufen des Sonderkündigungsschutzes die Sozialklausel des BGB greift, ist zwar richtig. Diese Klausel verhindert jedoch nicht die tausendfache Verunsicherung von Menschen. Sie verhindert nicht den vorprogrammierten tausendfachen Rechtsstreit.
Mit dem Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion reagieren wir auf die Situation in den neuen Ländern, zeigen wir einen Lösungsweg auf, der den Anpassungsprozeß befriedend, ausgleichend gestalten kann.
Mit dem Gesetzentwurf verbinden wir keine wahltaktischen Überlegungen wie die F.D.P., als sie 1994 vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt in der Koalition durchgesetzt hat, den sogenannten Datschenkündigungsschutz weit über die Vorschläge des Bundesrats hinaus auszudehnen. So haben wir heute in den neuen Ländern, ja in ganz Deutschland die groteske Situation, daß Nutzer von Erholungsgrundstükken, dieser sogenannten Datschen, weitergehenden Rechtsschutz genießen als Wohnungsmieter - eine einmalige Situation!
An dieser Stelle ist auch anzumerken, daß sich die SPD-Bundestagsfraktion bereit erklärt hatte, den zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf im Interesse seiner Akzeptanz in der Koalition zu präzisieren und die Schutzfrist lediglich um zwei Jahre zu verlängern. Dieser Vorschlag ist - genauso wie Überlegungen zu einem besonderen Kündigungsschutz für ältere Mieter - jedoch von der Koalition im Rechts-
Hans-Joachim Hacker
ausschuß nicht akzeptiert, sondern abgelehnt worden.
Die Gestaltung des Mieterschutzes in den neuen Ländern ist nicht allein und nicht in erster Linie eine juristische Frage. Wir können mit der Verabschiedung des SPD-Gesetzentwurfes auch ein Zeichen setzen, wie wir auf existentielle Sorgen reagieren. Dazu ist die Politik aufgefordert. Das kann und das muß sie leisten.
So falsch, wie das Zeichen war, das vom Besuch des Bundeskanzlers bei der chinesischen Armeeinheit ausging, so richtig und so ausgleichend wäre das Zeichen, das von der Annahme unseres Gesetzentwurfes heute ausgehen würde.
Die namentliche Abstimmung am heutigen Tage bietet erneut die Möglichkeit zu prüfen, wie es mit der Übereinstimmung von Anspruch und Realität bei der Vertretung von Bürgerinteressen hier in Bonn bestellt ist.
In der Koalitionsvereinbarung zwischen CDU und SPD in Mecklenburg-Vorpommern
ist der Kündigungsschutz wegen Eigenbedarfs und bei Einliegerwohnungen ausdrücklich aufgeführt. Zu der Verhandlungsdelegation auf der CDU-Seite gehörte unter anderem die CDU-Landesvorsitzende und Bundesministerin Frau Angela Merkel. Was in Schwerin in dieser grundsätzlichen Frage verabredet wurde, muß auch hier in Bonn gelten.
Ich appelliere an Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, aber ich appelliere insbesondere an die CDU-Abgeordneten aus Mecklenburg-Vorpommern: Stimmen Sie dem Gesetzentwurf zu!
Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Michael Luther das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Hacker, die CDU macht nie etwas aus wahltaktischen Gründen,
sondern weil sie glaubt, die Situation in den neuen Ländern richtig einschätzen zu können,
und weil sie etwas für die Menschen in den neuen Bundesländern tun will. Aber das kann sich ja möglicherweise von Ihrer Meinung unterscheiden.
Herr Kollege Luther, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hacker?
Ja, bitte schön.
Herr Dr. Luther, ich hatte in diesem Zusammenhang in keiner Weise die CDU kritisiert. Das hätte ich sicherlich in einem anderen Zusammenhang tun können. Sind Sie aber nicht mit mir der Auffassung, daß es sich um ein Wahlkampfmanöver der F.D.P. gehandelt hat, als der Sonderkündigungsschutz bei den Datschengrundstücken so extrem ausgedehnt wurde?
Herr Hacker, ich hatte gesagt, daß die CDU nie etwas aus wahltaktischen Gründen tut, sondern etwas für die Menschen tun möchte. Deswegen verstehe ich Ihre Frage in diesem Zusammenhang nicht. Ich empfehle Ihnen, die Frage einem späteren Redner zu stellen.
Meine Damen und Herren, ich möchte ganz kurz Rückschau halten: Wir haben uns am 5. November 1992 hier über dieses Thema unterhalten. Damals ging es auch schon um die Verlängerung des besonderen Kündigungsschutzes; seinerzeit haben wir ihn um drei Jahre verlängert. Lassen Sie mich aus meinem eigenen Redebeitrag zitieren:
Die Gründe dafür, die beim Abschluß des Einigungsvertrages vorlagen, bestehen jedoch größtenteils fort. Der Wohnungsmarkt in den neuen Ländern wird sich erst mit der Zeit fühlbar entspannen.
Dieselbe Begründung führt heute die SPD in ihrem Antrag aus, in dem sie schreibt, angesichts der aktuellen Wohnraumlage sei eine Verlängerung um weitere drei Jahre notwendig. Die Frage ist nun, ob das stimmt. Leider bleibt diese konkrete Frage im SPD- Antrag unbeantwortet.
Uns hat ein Brief des Deutschen Mieterbundes vom 12. September 1995 erreicht, in dem ähnlich argumentiert wird. Es heißt, an der Situation habe sich nichts geändert; davon seien mehrere 100 000 Mietverhältnisse betroffen. - Meine Damen und Herren, das ist starker Tobak; darüber muß man nachdenken, darüber muß man reden.
Wir haben das versucht. Mein Kollege Rolf Rau und ich haben mit Schreiben vom 21. September 1995 versucht, einen Gesprächstermin mit der Präsidentin des Deutschen Mieterbundes, Frau Anke Fuchs, zu vereinbaren. Offensichtlich war ihr der Weg zu weit, sich auf die niedere Ebene eines normalen Abgeordneten aus Sachsen, aus einem der neuen Bundesländer, zu begeben. Auf jeden Fall fand sie keine Zeit, mit uns ein Gespräch zu führen. Vielleicht
Dr. Michael Luther
hat sie ja noch die Sorge aus dem Jahr 1990, daß mit sächsischen Menschen schwierig umzugehen sei.
Wir hatten aber trotzdem ein Gespräch mit dem Direktor des Mieterbundes, Herrn Rips; es war ein sehr konstruktives Gespräch, in dem wir zu klären bemüht waren, inwieweit es stimmt, daß sich die aktuelle Wohnraumlage noch nicht entspannt habe. Er konnte das in dem Gespräch nicht beantworten und sagte uns ein Schreiben zu. Das Antwortschreiben haben wir erhalten. Ich will aber daraus nicht zitieren, weil es daraus nichts zu zitieren gibt. Der Inhalt des Schreibens ist einfach gleich Null. Meine Damen und Herren, hier stellt sich für mich natürlich die Frage, was man eigentlich von seiten der SPD will. Hat man überhaupt ein Interesse am konkreten Schutz der Mieter?
Im Ausschuß erklärten die Oppositionsfraktionen, daß es ihnen bis heute nicht möglich gewesen sei, konkretes Zahlenmaterial vorzulegen. Stellen Sie sich das bitte einmal vor! Fünf Jahre nach der deutschen Einheit - jeder weiß, wie schwierig dieses Thema ist; vor drei Jahren haben wir über dieses Thema hier im Deutschen Bundestag diskutiert - ist es dem Mieterbund nicht möglich, durch eine einfache Mitgliederbefragung festzustellen, wo es schwierige Wohn- und Mietverhältnisse gibt. Ich weiß nicht, was letztendlich mit diesem Antrag aus Ihrer Sicht gewollt ist.
Herr Kollege Luther, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Großmann?
Herr Großmann, bitte schön.
Herr Kollege Luther, sind Sie bereit, dem Plenum gegenüber zu bestätigen, daß ich im Bauausschuß aus den Briefen aller zuständigen Minister der neuen Bundesländer zitiert habe, in denen sie uns bestätigt haben, daß der besondere Kündigungsschutz verlängert werden müsse? Sind Sie ferner bereit, zu bestätigen - Sie haben den Brief ja auch gelesen -, daß mein Zitat aus dem Brief des sächsischen Innenministers Hardraht stimmte? Er schreibt:
Durch das derzeit geltende Mietenüberleitungsgesetz, das für die neuen Bundesländer das Miethöhegesetz in wesentlichen Punkten modifiziert, ist noch bis mindestens 31. Dezember 1997 von einer unterschiedlichen Sach- und Rechtslage auf dem Gebiet des Mietrechts auszugehen. Zumindest bis zu diesem Zeitpunkt sollte der Ausschluß der Kündigungsmöglichkeit in den neuen Bundesländern bestehenbleiben.
Sind Sie also bereit, dem Plenum hier zu bestätigen,
daß sich alle zuständigen Landesminister in den
neuen Bundesländern für die Verlängerung des
besonderen Kündigungsschutzes ausgesprochen haben?
Herr Großmann, ich bin gern bereit, zu bestätigen, daß Sie richtig vorgelesen haben. Ich möchte das auch kommentieren, was Sie aus dem Schreiben von Herrn Hardraht vorgelesen haben. Er spricht von einer unterschiedlichen Sach- und Rechtslage. Das ist natürlich wahr. Das Mietenüberleitungsgesetz erzeugt in den neuen Bundesländern - und das ist richtig so - noch eine völlig andere Sachlage. Darauf bezieht sich letztendlich das Schreiben, und das bringt ihn zu der Schlußfolgerung, daß, die Verlängerung des Kündigungsschutzes notwendig sei.
Nur, Herr Großmann, die Kardinalfrage ist damit nicht beantwortet, im übrigen auch nicht durch das Schreiben von Herrn Schuster, das ich auch zur Kenntnis genommen habe. Die Kardinalfrage ist dadurch nicht geklärt worden, nämlich die Begründung für eine Verlängerung des besonderen Kündigungsschutzes. Es müßte ja dann in diesem Schreiben darauf eingegangen werden, daß sich die Wohnraumsituation noch nicht gravierend verändert habe und deswegen nicht genügend Wohnraum zur Verfügung stehe, so daß die Verlängerung dieses besonderen Kündigungsschutzes notwendig sei. Davon ist in den Schreiben, die Sie gerade zitiert haben, nicht die Rede. Damit sind wir bei der Frage, ob wir dem SPD-Antrag zustimmen können, keinen Schritt weiter; denn wir haben keine Beweise, keine Unterlagen dafür zur Verfügung gestellt bekommen, daß sich die Situation nicht geändert hat.
Meine Damen und Herren, ich habe mich bemüht, darzustellen, welche Vorgespräche wir geführt haben, um uns mit dem Sachverhalt zu beschäftigen. Ich muß Ihnen an dieser Stelle vorwerfen, daß Sie nicht an der Lösung des Problems interessiert sind, daß Sie keinen Versuch unternommen haben, diesbezüglich Aufklärung zu geben. Sie haben auch nicht versucht, die Mieter oder die Vermieter aufzuklären bzw. zwischen den beiden Parteien zu vermitteln.
Herr Kollege Luther, zwei weitere Kollegen haben den Wunsch nach Zwischenfragen. Wollen Sie sie zulassen? Die erste stammt von Frau Eichstädt-Bohlig.
Die Zwischenfrage von Frau Eichstädt-Bohlig lasse ich gern zu.
Herr Kollege Luther, Sie haben eben gesagt, es gebe keine Beweise, ob die Argumentation der Opposition stimmt, daß es zu großen Kündigungswellen kommt, oder ob Ihre Behauptung, das sei überhaupt kein Problem, stimmt. Stimmen Sie mit mir überein, daß es dann, wenn das so ist, sinnvoll wäre, mit der Entscheidung über diese für die ostdeutschen Mieter sehr wichtige Sache wenigstens so lange zu warten, bis die jetzt beginnende Wohnungszählung darüber genauere Informationen gibt?
Ich glaube, dazu ist die Wohnraumzählung nicht notwendig. Ich habe das vorhin zu erklären versucht. Der Deutsche Mieterbund hat Mitglieder. Er könnte seine Mitglieder befragen und dann sagen: Wir haben in unserem Verband soundso viele Mitglieder, deren Mietverhältnis konkret bedroht ist. Das hat sich ja an vielen Stellen vorher angekündigt. - Der Deutsche Mieterbund war nicht in der Lage, uns dazu eine Antwort zu geben.
Das Wort zur nächsten Zwischenfrage hat der Kollege Warnick.
Diese Zwischenfrage möchte ich nicht beantworten.
Vielen Dank. Dann fahren Sie bitte fort.
Ich möchte in meiner Rede fortfahren.
Meine Damen und Herren, deswegen möchte ich Ihnen ganz einfach unterstellen, daß Sie etwas ganz anderes wollen als den Versuch, einheitliche Rechtsverhältnisse in unserem gemeinsamen Deutschland zu schaffen. Sie wollen letztendlich die Manifestierung eines Zustandes in den neuen Bundesländern, den ich aus der Zeit des Sozialismus in der DDR kenne.
Sie wollen dort das Eigentum zurückdrängen. Das will ich nicht!
Meine Damen und Herren, hat sich die Wohnraumsituation geändert? Ich habe Ihnen gerade ausgeführt, daß uns von denjenigen, die den Antrag gestellt haben, bzw. von denjenigen, die in dieser Frage am lautesten geschrieen haben, keine Informationen zugänglich gemacht worden sind, wie die Situation vor Ort konkret aussieht. Deswegen haben wir uns selbst sachkundig gemacht und eigene Informationen eingeholt.
Hat sich die Situation verändert? - Meine Damen und Herren, wer mit offenen Augen durch die neuen Bundesländer geht, wird feststellen, daß es gerade im Baubereich in den letzten Jahren enorm geboomt hat. Es sind sehr viele Wohnungen entstanden.
1994 und 1995 sind im Gebiet der neuen Bundesländer 130 000 bis 140 000 Wohnungen fertiggestellt worden bzw. werden fertiggestellt. Im ersten Halbjahr 1995 wurden 80 000 Genehmigungen für den Wohnungsbau erteilt. Das sind 47 Prozent mehr als im ersten Halbjahr des Jahres 1994, und im Einfamilienhausbereich sieht es ähnlich aus.
Ich denke, das zeigt deutlich, daß sich die Situation gegenüber 1992 drastisch verändert hat. Deswegen ist die Begründung, die Kündigungsschutzfrist müsse verlängert werden, weil die Wohnraumsituation unbefriedigend sei, nicht haltbar.
Meine Damen und Herren, ich habe schon auf das Schreiben von Herrn Hardraht Bezug genommen und auch die Gelegenheit genutzt, mich mit Herrn Hardraht persönlich sowie mit anderen Ministern aus den neuen Ländern zu unterhalten. Ich muß sagen, die Gesprächsergebnisse haben eher meine Erfahrungen bestätigt.
Meine Damen und Herren, es gibt ein anderes Problem; auch darauf möchte ich eingehen. Es ist unangenehm, wenn man eine angestammte Wohnung, ein Einfamilienhaus, das man gemietet hat, möglicherweise seit zehn und mehr Jahren, jetzt verlassen muß. Aber die Lösung, die Sie vorschlagen, die Kündigungsschutzfrist um drei Jahre zu verlängern, ist keine Hilfe. Das ist die Verschiebung des Problems auf einen Zeitpunkt, der drei Jahre später liegt, das ist reiner Verschiebebahnhof.
In diesem Punkt bin ich mit Herrn Hardraht nicht einer Meinung, wenn er schreibt, daß wegen der unterschiedlichen Sach- und Rechtslage das Mietenüberleitungsgesetz noch bis 1997 gelten und der Ausschuß der Kündigungsmöglichkeit bis dahin bestehenbleiben sollte. Im Gegenteil: Genau jetzt ist der richtige Zeitpunkt für das Auslaufen des besonderen Kündigungsschutzes gegeben; denn jetzt ist es so, daß, wenn man sich neuen Wohnraum im Bestand sucht, die Steigerung bei Neuvertragsmieten auf 15 Prozent beschränkt ist. Jetzt gelten noch die besseren Regelungen, die nach 1997 nicht mehr gelten.
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage von Herrn Schuhmann?
Von Herrn Schuhmann gern.
Herr Dr. Luther, trifft es zu, daß Teile Ihrer Fraktion, dem SPD-Antrag folgend, für ältere Bürger durchaus einem besonderen Mieterschutz zustimmen würden?
Herr Schuhmann, wir haben über dieses Problem diskutiert. Herr Hakker wollte mich eigentlich nach einem Interview
Dr. Michael Luther
befragen, das in der „Ostsee-Zeitung" teilweise abgedruckt wurde und in dem ich genau diesen Überlegungsstand dargestellt habe. Wir haben uns im letzten halben Jahr über diese Frage sehr viele Gedanken gemacht. Wir haben es uns nicht leichtgemacht und auch diese Möglichkeit erwogen. Wir sind aber letztendlich zu dem Ergebnis gekommen, daß es sehr schwierig sein wird, das gesetzlich zu fassen und es auch verfassungsrechtlich zu vertreten. Aus diesem Grunde haben wir davon Abstand genommen. Vielleicht darf ich auch noch die Begründung dazu geben, warum wir das am Ende nicht weiter verfolgt haben.
Es ist so, daß von vielen eine Untergangsstimmung verbreitet wurde. Es wurde gesagt, daß ab 1. Januar 1996 alle Mieter auf der Straße lägen, wenn der besondere Kündigungsschutz auslaufe. Aber ich glaube, gerade das soziale Mietrecht und die Rechtsprechung dazu, die sich für die neuen Bundesländer in besonderer Weise gestalten wird, nehmen speziell Bezug auf soziale Fälle und natürlich auch auf das Problem der älteren Bürger. Wir halten das aus Sicht der Koalition zumindest für ausreichend.
Meine Damen und Herren, Aufklärung ist aus meiner Sicht eine wichtige Aufgabe, und diese Aufklärung haben offensichtlich einige Personen in diesem Haus versäumt.
- Im Gegenteil, ich habe mit vielen gesprochen, die folgende Entwicklung festgestellt haben, gerade im Umfeld von Brandenburg: Dort gibt es viele Restitutionsfälle. Ich halte es durchaus für berechtigt, wenn Alteigentümer fünf Jahre nach der deutschen Einheit versuchen wollen, wieder in ihr Einfamilienhaus einzuziehen. Man hat sich also von seiten der Alteigentümer mit den Mietern hingesetzt, hat mit ihnen Gespräche geführt, hat versucht, zu Lösungen zu kommen. Die Lösungen sehen so aus, daß man Fristen bis zum Auszug vorgegeben hat, daß man Abfindungssummen vereinbart hat, daß man Umzugshilfen zugesagt hat, daß man bei der Suche nach Ersatzwohnraum Hilfe zugesagt hat.
Dieses Stimmungsbild - ich kann Ihnen viele Beispiele dafür nennen - hat sich leider drastisch verändert, weil die Mieter in den Einfamilienhäusern, offensichtlich von manchen Personen bewußt gesteuert, in dem Glauben gelassen wurden, ihr Zustand würde sich auf ewig so halten lassen. Das geht einfach nicht. Und deswegen wäre es besser gewesen, man hätte die letzten fünf Jahre genutzt, um aufzuklären.
Herr Kollege Luther, Herr Professor Heuer möchte noch eine Zwischenfrage stellen.
Nein, jetzt nicht mehr.
Danke.
Meine Damen und Herren, ich möchte mit meiner Rede langsam zum Ende kommen. Lassen Sie mich nur noch wenige Bemerkungen machen.
Erstens. Wir müssen den Mietern deutlich sagen, daß gerade im Einfamilienhausbereich Eigenbedarf angemeldet werden muß. Dieser muß begründet sein und nachgewiesen werden.
Zweitens. In den besonderen Fällen der Zweifamilienhäuser und der Einliegerwohnungen ist es so, daß es hier im wesentlichen nicht um Alteigentümer geht, sondern um Mietverhältnisse, in deren Rahmen Bürger, die auch schon zu Zeiten der DDR in diesen Häusern gelebt haben, zusammenleben. Ich denke, hier wird diese Streitfrage nicht so gravierend sein. Aus meinen Erfahrungen aus Bürgersprechstunden, in denen man die meisten konkreten Fälle kennenlernt, kann ich sagen: Es gibt Vermieter, die sich mistig verhalten. Es gibt aber genauso viele Mieter, die es ihren Eigentümern schwermachen. Ich denke, es ist keine Lösung, wenn wir nur den besonderen Kündigungsschutz verlängern.
Drittens. Da die Mieter mindestens fünf Jahre in diesen Häusern wohnen müssen und auch schon vorher darin gewohnt haben, also insgesamt mehr als zehn Jahre, beträgt die Kündigungsfrist ein Jahr. Ich glaube, die Zeit reicht noch, um auf die Mieter aufklärend einzuwirken. Sie ist auch ausreichend, daß sich die Mieter, die von Kündigungen betroffen sein könnten, eine neue Wohnung suchen.
Viertens. Die Sozialklausel habe ich schon erwähnt. Hier spielen Elemente wie Alter oder das Fehlen eines angemessenen Ersatzwohnraums eine Rolle.
Meine Damen und Herren, Sie verbreiten hier Kassandrarufe, wenn Sie in diesem Zusammenhang von Obdachlosigkeit sprechen, die als Welle auf uns zukomme.
Ich will nun noch kurz auf die verfassungsrechtlichen Fragen Bezug nehmen. Wir befinden uns im Bereich des Grundgesetzes - Gott sei Dank. Zunächst einmal: Die Verlängerung des besonderen Kündigungsschutzes berührt erstens die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes und zweitens den Gleichheitssatz des Grundgesetzes. Sie können nicht ungeachtet der Einkommensverhältnisse der Eigentümer und der Nutzer von Einfamilienhäusern eine Kündigungsschutzfrist zugunsten des Nutzers verlängern, ohne zum Beispiel auf Einkommen von Mietern in Ost und West Bezug zu nehmen, die durchaus nicht immer so unterschiedlich sind; denn Durchschnittszahlen sind eben nur Durchschnittszahlen.
Meine Damen und Herren, ich fordere Sie zum Schluß auf: Sagen Sie, was Sie wollen! Sie wollen in
Dr. Michael Luther
Deutschland ein anderes Mietrecht, und Sie wollen das Eigentumsrecht zurückdrängen. Meine Damen und Herren, ich habe das erlebt. Es nannte sich in dem Staat, in dem ich gelebt habe, Sozialismus. Ich habe genug Sozialismus gehabt. Deswegen möchte ich mich an dieser Stelle für Freiheit und Demokratie entscheiden.
Ich bitte, diesem Gesetzentwurf nicht zuzustimmen. Ich werde ihm auf jeden Fall nicht zustimmen. Bitte lehnen Sie diesen Gesetzentwurf ab!
Danke schön.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Professor Heuer das Wort.
Ich möchte zu den Ausführungen meines geschätzten Kollegen Luther zwei Anmerkungen machen. Die erste ist: Er verweist auf die Sozialklauseln des BGB. Er sollte sich aber darüber klar sein, daß es für die Ostdeutschen ein Unterschied ist, ob ihre Ansprüche gesetzlich dezidiert abgesichert sind oder ob sie darum über ihre Anwälte kämpfen müssen. Sie müssen bedenken, daß es für eine ganze Reihe von Menschen, die in ihrem Haus 10 oder 15 Jahre gewohnt haben, eine komplizierte Situation ist, wenn man jetzt von ihnen verlangt, darauf zu warten, ob sie hinausgeklagt werden, um dann in den juristischen Kampf zu gehen. Das sind die Westdeutschen vielleicht mehr gewohnt. Aber die Ostdeutschen wären in einer besseren Lage, wenn wir ihnen noch für einen bestimmten Zeitraum gesetzliche Sicherheit bieten. Das ist die Frage, um die es hier geht.
Der zweite Punkt ist folgender: Es ist der Vorschlag gemacht und in der Debatte auch diskutiert worden, ob man ab 65 Jahren einen absoluten Schutz geben sollte - mit der bekannten Begründung, daß man einen alten Baum nicht mehr verpflanzen darf. Ich meine, das ist ein vernünftiger Vorschlag, der aus den Reihen der Koalition kam.
Nun hat Herr Luther gesagt, daß sei Sozialismus. Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß die F.D.P. genau diesen Vorschlag im vorigen Jahr für die Datschenbesitzer gemacht hat, und die F.D.P. ist, glaube ich, keine sozialistische Partei.
Dieser Vorschlag der F.D.P. ist ja auch beschlossen worden, weil damals Wahlen drohten. Ich meine, was den Datschenbesitzern billig war, sollte den Wohnungsbesitzern recht sein, denn eine Wohnung ist schließlich noch etwas wichtiger als die Datsche.
Eine letzte Bemerkung: Herr Luther sagte im Ausschuß, die Ostdeutschen seien jetzt glücklich, das BGB zu besitzen. Aber sagen Sie einmal Leuten, die jetzt ihr Haus verlieren, daß sie statt dessen das BGB haben! Das wird sie nicht trösten.
Herr Kollege Luther, Sie können darauf antworten. - Nein. Dann erteile ich der Abgeordneten Franziska EichstädtBohlig das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben eben ein lebhaftes Beispiel dafür bekommen, daß die Mehrheit dieses Hauses immer noch nicht begriffen hat - und offenbar auch nicht begreifen will -, welch großen Schaden das Vermögensrecht mit dem Vorrang von Rückgabe vor Entschädigung im Osten ausgelöst hat
und wie sehr die Eigentumsstrukturen dort momentan in ständiger Veränderung sind. Gerade das ist das Problem, von dem wir letztlich heute reden.
Ich weiß nicht, ob die Schätzungen von mehreren hundertausend betroffenen Mietern zutreffen, aber ich weiß aus Ortskenntnis, aus beruflicher Erfahrung und aus den wöchentlichen Immobilienannoncen, daß sehr, sehr viele Mieter über kurz oder lang von diesen Regelungen, über die wir heute befinden, betroffen sein können, vor allem - und das muß man sich klarmachen - vom Zusammenspiel von drei Aspekten: nämlich erstens, daß sehr, sehr viele Grundstücke infolge der Restitution verkauft werden; zweitens, daß wir im Osten eine spezifische Nutzerstruktur und sehr viele Mieter in Kleinsiedlungen haben - Mieter, sage ich, im Unterschied zu Westdeutschland; und drittens, daß gerade in der letzten Sitzungswoche die erleichterten Kündigungsmöglichkeiten für Ein- und Zweifamilienhäuser verlängert wurden, also gerade für diese Kleinsiedlungen.
Das führt genau zu dem Problem, von dem wir reden. Da können Sie nicht drumherumreden, Herr Luther: Wir werden Kündigungs- und Prozeßwellen in einem sehr großen Ausmaß bekommen.
Ich würde mich freuen, wenn ich nicht recht haben würde. Ich wäre sehr dankbar dafür. - Dies sollten Sie also endlich zur Kenntnis nehmen.
Was mich ärgert, ist, daß es wirklich zynisch ist, wie Sie das Recht auf Wohnen und - das sage ich dazu - das Recht auf Heimat dem Recht auf Eigentum und auf Immobilienverwertung unterordnen.
Franziska Eichstädt-Bohlig
Ich sehe es anders als die SPD. Ich gebe Ihnen zu: Es gibt zur Zeit im Osten eine Reihe von freistehenden Wohnungen, sowohl im Bereich der kaputten Altbauwohnungen als auch im Bereich der neu erstellten Wohnungen. Ich halte es aber für eine völlig falsche Politik, von den Menschen, die jetzt in ihren Wohnungen als Mieter leben, zu verlangen, sie sollten sich doch auf dem Markt eine Wohnung suchen.
Ich halte das insbesondere im Hinblick auf die älteren Menschen für zynisch. Dazu hat Herr Heuer eben sehr deutlich etwas gesagt. Ich halte es aber auch für die anderen Menschen für unzumutbar. Erst haben wir ihnen die Orientierung im Gesellschaftssystem völlig durcheinandergebracht,
dann die Arbeit genommen, und jetzt betreiben Sie eine Politik, daß ihnen die Wohnung genommen wird.
Wozu das? Es ist völlig unnötig. Sie haben überhaupt keine Gründe dafür.
Beschämend finde ich auch, daß sich die Mehrheit dieses Hauses - wir diskutieren hier eigentlich über zwei Punkte - selbst den sehr bescheidenen und eigentlich dringend erforderlichen Milderungen aus dem unsäglichen Vermögensgesetz, die von der SPD und vom Bundesrat vorgeschlagen worden sind, verweigert. Ist das denn nötig? Es ist wirklich nicht zu begreifen, warum das eigentlich sein muß. Es wäre ein Baustein, um einen etwas gerechteren Ausgleich zwischen Nutzern und Eigentümern zu bringen. Warum nicht? Warum können wir das nicht beschließen?
Insofern bedauere ich sehr, daß heute wieder einmal ein Tag ist, an dem der Mauer der Resignation, die im Osten schon sehr hoch geworden ist, ein großer Baustein hinzugefügt wird, ein Baustein, der absolut nicht nötig ist. Es würde überhaupt nichts kosten, das so zu beschließen, wie es hier beantragt worden ist.
Von daher möchte ich auch ganz deutlich die ostdeutschen Abgeordneten auffordern, ihrem Wissen und ihrem Gewissen zu folgen
und den SPD-Anträgen zuzustimmen. Es wäre nämlich die richtige Lösung, wenigstens noch ein paar
Jahre einen deutlicheren Schutz für die ostdeutschen Mieter zu gewähren. Stimmen Sie also dem Gesetzentwurf der SPD zu! Wir werden das tun; wir haben keinen eigenen Antrag eingebracht, weil es albern gewesen wäre, da noch mit irgendwelchen Nuancen zu arbeiten. Es geht eindeutig um Ja oder Nein.
Einen letzten Satz möchte ich noch an die Adresse der Mieterinnen und Mieter in Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Ost-Berlin und Mecklenburg-Vorpommern richten: Ich schäme mich dafür, in einem Bundestag zu sein, dessen Mehrheit taub und blind gegenüber den Problemen der Menschen im Osten ist.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Heinz Lanfermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat war es weder für Bündnis 90/Die Grünen noch für die PDS nötig, eigene Anträge vorzulegen. Wir haben ja die vereinigte Linke jetzt erlebt.
- Ich habe bei den Beiträgen, die wir gehört haben, keine Mauern mehr zwischen Ihren Reihen feststellen können.
Tatsächlich - damit will ich den politischen Kern ansprechen; denn der Kollege Luther ist ja hier im Gegensatz zu den anderen Rednern auf die Sachlage und auf die Fakten eingegangen - verhält es sich ja so, daß in all diesen drei Reden bzw. der Kurzintervention des Herrn Heuer, der ja im übrigen von der Datschenregelung profitiert hat - das hat er gestern im Rechtsausschuß zu erkennen gegeben -, nichts zum Art. 14 des Grundgesetzes gesagt worden ist; es ist nichts zum Eigentum gesagt worden; es ist vor allen Dingen nichts zu einem vernünftigen Interessenausgleich zwischen Vermietern und Mietern gesagt worden. Es ist eindeutig nur Stimmung gemacht worden, indem Sie behauptet haben, Sie würden auf eine Situation reagieren. In Wirklichkeit agieren Sie aber, indem Sie anheizen und indem Sie verunsichern.
Herr Kollege Lanfermann, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Nach den Erfahrungen, die der Kollege Luther machen mußte, werde ich meine kurze Redezeit jetzt nicht zerhacken lassen.
Meine Damen und Herren, als man Ende 1992 feststellen mußte, daß die tatsächlichen und finanziellen Probleme in der Tat unterschätzt worden waren, hat der Bundestag eine Übergangsregelung des besonderen - ich betone: des besonderen - Kündigungsschutzes für weitere drei Jahre bis Ende 1995 beschlossen und damit auch endgültig befristen wollen. Im sechsten Jahr der deutschen Einheit hat sich die wohnungswirtschaftliche Gesamtlage eindeutig verbessert.
Ich will einmal feststellen, daß in den Jahren 1994 und 1995 jeweils 130 000 bis 140 000 Wohnungen in den neuen Bundesländern fertiggestellt worden sind und daß im ersten Halbjahr 1995 in den neuen Ländern einschließlich Berlin-Ost Genehmigungen zum Bau von über 80 000 Wohnungen erteilt worden sind, immerhin 47 Prozent mehr als im vergleichbaren Zeitraum 1994. Auch die Zahlen für die Ein- und Zweifamilienhäuser belegen den Wachstumskurs. Mit 24 300 genehmigten Wohnungen ist ein Zuwachs von einem Fünftel zu verzeichnen. Auf der anderen Seite, neben diesem boomenden Wohnungsneubau, ermittelt das Statistische Bundesamt für die neuen Länder einen Wohnungsleerstand von 400 000 Wohnungen.
Es wird doch wohl noch erlaubt sein, auch zunächst über die Fakten zu sprechen, bevor man an die Frage herangeht, ob es denn wirklich sinnvoll wäre, eine Regelung für drei Jahre zu verlängern. Ich meine aus den Reden immer herausgehört zu haben, daß eigentlich das lebenslängliche Wohnrecht, und das zu möglichst niedrigen Mieten, wohl eher im Kopfe ist als die Verlängerung, von der Sie behaupten, sie sei sinnvoll.
Ich sage Ihnen: Sie ist nicht sinnvoll.
Die Rechtsangleichung an das im Westen Deutschlands langjährig bewährte soziale Kündigungsschutzrecht wird ein weiteres Stück Normalität herstellen. Es gibt keinen Anlaß, meine Damen und Herren von SPD, PDS und Grünen, bei Mieterinnen und Mietern Angst vor der Zukunft oder sogar vor Obdachlosigkeit zu schüren.
Es kommt darauf an, zu dem bewährten ausgewogenen Rechtsverhältnis zwischen sozialen Kündigungsschutzrechten für Mieter einerseits und den in Art. 14 des Grundgesetzes verankerten Rechten der Verfügungsmöglichkeit über das Eigentum und der Erzielung eines angemessenen Mietzinses für Vermieter zurückzufinden. Anders wird es auch nicht gelingen, auch zukünftig die unabdingbar notwendigen Investoren für den privaten Wohnungsbau zu finden. Das Ideal der lebenslänglich geschützten Wohnung, möglichst unter Kosten billig zu mieten, hat zu dem geführt, was wir an Wohnungsbestand 1989/90 in der untergegangenen DDR vorgefunden haben. Das ist doch die Wahrheit, wenn man über Mieten, Kündigung und Rechte von Vermietern und Mietern spricht.
Wer behauptet, den Mietern in Zweifamilienhäusern in Ostdeutschland drohe durch die Vermieter die reine Willkür, verkehrt die Rechtslage und argumentiert mit der Angst. Ich halte das für eine bösartige Politik.
Ich bitte auch die Justizministerin und den Bauminister, hier eine entsprechende Aufklärungskampagne zu starten, damit diesen Desinformationen in den neuen Ländern entgegengewirkt werden kann.
Das Mietrecht ist über Jahrzehnte gewachsen. Es enthält einen weitreichenden Katalog von sozialen Kündigungsvorschriften. Man könnte scherzhaft hinzufügen, meine Damen und Herren: Unser Mietrecht ist sogar so sozial, daß es nach geltendem Recht heute einfacher ist, sich von seinem Ehegatten scheiden zu lassen, als einem Mieter zu kündigen.
Wenn Sie argumentieren, fügen Sie bitte beispielsweise auch hinzu, daß Eigenbedarfskündigungen in Zweifamilienhäusern nur möglich sind, wenn der Vermieter selbst im Hause wohnt. Sagen Sie, daß die Kündigungsfrist mindestens sechs und in den von Herrn Luther geschilderten Fällen mindestens zwölf Monate beträgt und im übrigen dann noch einmal um drei Monate verlängert wird.
Es gilt die Sozialklausel des § 556a BGB, nach der eine Kündigung ausgeschlossen ist, wenn sie eine nicht zu rechtfertigende Härte für den Mieter bedeutet. Konsequenz ist dann eine Fortsetzung des Mietverhältnisses auf unbestimmte Zeit.
Selbst wenn die Räumungsklage mit Erfolg erhoben wird, beträgt die Räumungsfrist bis zu einem Jahr. Notfalls kann die Behörde den Mieter erneut in seine Mietwohnung einweisen. Dies ist ein sehr effektiver Rechtsschutz, der auch in schwierigen Fällen wirkungsvoll Obdachlosigkeit verhindert.
Noch ein Wort zu der Idee, 65jährigen ein besonderes Kündigungsschutzrecht zu geben. Meine Damen und Herren, da muß man ein bißchen weiterdenken. Oder wollen Sie jetzt etwa eine Kündigungswelle bei Vermietern, die zweifeln, auslösen, damit sie die 60- bis 65jährigen ja noch kündigen, weil sie später gar keine Möglichkeit mehr dazu hätten? Sie müssen
Heinz Lanfermann
immer auch das Ende bedenken. Deswegen bitte ich, diesen Gesetzentwurf abzulehnen.
Meine Kolleginnen und Kollegen, das große Interesse, das Sie der namentlichen Abstimmung entgegenbringen, sollten Sie auch den Rednern entgegenbringen.
Darum erteile ich jetzt das Wort dem Abgeordneten Klaus-Jürgen Warnick.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Westen setzt seine Interessen wieder einmal mit Brachialgewalt gegen die Interessen der Ostdeutschen durch. Es ist eine ziemlich einmalige Situation,
daß hier gegen die Meinung des gesamten Ostens, gegen die Meinung aller Ministerpräsidenten, gegen die Meinung der Bau- und Justizminister und sogar gegen die Meinung von CDU-Landtagsfraktionen gehandelt wird, daß man hier in Bonn weiß, wie es im Osten aussieht, daß man hier wieder alles besser weiß und von hier aus entscheiden muß, weil Millionen Menschen vor Ort im Osten angeblich nicht wissen, wo es langgeht.
Ich sage Ihnen: Sie wissen nicht, wie es im Osten aussieht!
Ich finde es schlimm, daß sich Ost-CDU-Abgeordnete zu Helfershelfern machen und hierbei noch Schützenhilfe leisten, anstatt sich für ihre Bürger vor Ort einzusetzen, von denen sie gewählt wurden.
Die Zahlen, die hier genannt wurden, sind realistisch. Es ist ganz eindeutig so, daß zum Jahresanfang mindestens 5 000 bis 10 000 Leute schlagartig aus ihren Wohnungen vertrieben werden, wenn dieser Kündigungsschutz nicht verlängert wird. Das wird in den nächsten ein bis zwei Jahren dazu führen, daß 50 000 bis 100 000 weitere Mieter aus ihren Wohnungen heraus müssen.
Wenn Sie uns vorwerfen, daß diese Zahlen nicht stimmen, dann möchte ich nur an folgendes erinnern: Wir waren 1990 im Justizministerium und haben darauf hingewiesen, daß eine Million Menschen von Rückübertragungsansprüchen betroffen sind. Da hat man uns ausgelacht. Die entsprechende Zahl lautet heute, entsprechend den Angaben des Bundesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen: 2,2 Millionen Ansprüche auf Häuser und Grundstücke. Das nur noch einmal zur Erinnerung.
Es ist zynisch zu sagen, der Mieterschutz reicht aus, Kauf bricht nicht Miete. Das ist alles Augenwischerei. Fragen Sie Anwälte, wie es in der Praxis aussieht. Das stimmt so alles überhaupt nicht.
Wer, wie im Speckgürtel um Berlin massenhaft geschehen, und nicht nur dort, Restitutionsansprüche oder rückübertragene Häuser aufgekauft hat, obwohl er wußte, daß dort ein oder zwei Mietparteien wohnen, hat sich darauf verlassen, daß er schon juristische Tricks und Möglichkeiten finden wird, diese Menschen aus ihrer Wohnung zu vertreiben, und daß ihm die Bundesregierung dabei hilft. Solche Leute können sich auf Sie tatsächlich verlassen.
Ich bin voller Bitternis, daß vernünftige Argumente nicht zum Ziel führen können, daß man diese vernünftigen Argumente der Parteidisziplin opfert. Ich dachte, als wir im Herbst 1989 auf die Straße gegangen sind, daß die Zeiten, in denen das Gewissen zugunsten einer Parteidisziplin zurückgestellt wird, endlich vorbei sind. Aber das ist leider ein Irrtum.
Wenn Sie gegen die Verlängerung stimmen, haben Sie auch den Mut und kommen Sie nach Ostdeutschland zu den Menschen, die durch ihre Entscheidung aus ihren Wohnungen vertrieben werden! Sagen Sie ihnen ins Gesicht, daß Ihnen die monetären Interessen von Vermietern und Käufern von Restitutionshäusern und deren Profitsteigerung wichtiger sind als der friedliche Lebensabend der älteren Menschen!
Schauen Sie diesen älteren Menschen, die in 40 Jahren DDR nicht reich geworden sind, aber sich ihre Menschlichkeit erhalten haben,
ins Gesicht! Sagen Sie ihnen, daß Sie billigend in Kauf nehmen, daß viele von ihnen nach dem Rausschmiß aus der Einliegerwohnung - bis vor kurzem wußten diese Menschen gar nicht, was der Begriff Einliegerwohnung überhaupt bedeutet, das brauchten sie zum Glück auch nicht zu wissen - nur noch wenige Monate leben! Sagen Sie das diesen Menschen!
Hat das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung", der Kardinalfehler der deutschen Einheit, nicht schon genug Opfer gefordert? Ich denke an Dr. Dalk und viele andere. Ich habe viele gesehen, die an diesem Kardinalfehler, für den Sie die Verantwortung tragen, elendig zugrunde gegangen sind.
Wenn sich vorgebliche Christen aus dogmatischen Gründen unchristlich verhalten, sind sie für mich absolut nicht anders als viele Pseudosozialisten in der DDR, die durch ihr dogmatisches Handeln die Idee des Sozialismus für Jahrzehnte in Verruf gebracht haben. Ich appelliere an die ostdeutschen CDU-Abgeordneten, die noch wankelmütig sind, ihr Gewissen vor die Parteidisziplin zu stellen, wie sie es auch im Fall der Islam-Konferenz getan haben.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Sie müssen zum Schluß kommen.
Ja. - Denken Sie an die älteren Menschen in Ihrem Wahlkreis! Wer gegen die Verlängerung stimmt, stimmt für das Geld und gegen die einfachen Menschen in Ostdeutschland. Wir werden dafür sorgen, daß die zynische Rede von Herrn Luther in den Zeitungen Ostdeutschlands erscheint, damit die Menschen wissen, wie sie bei den nächsten Wahlen handeln müssen.
Vielen Dank.
Ich erteile nun der Abgeordneten Anke Fuchs das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte gern zur Sache kommen, weil ich dafür werbe, daß auch die Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/CSU, die aus dem Osten kommen, heute mithelfen, daß wir ein Stückchen sozialen Frieden auch in Ostdeutschland erhalten. Seien wir uns doch darüber im klaren, um was es geht!
Als das Vierte Mietänderungsgesetz am 29. Mai 1992 vorgelegt wurde, hat die Bundesregierung gesagt:
Nach den derzeitigen Erkenntnissen wird ... nicht zu erreichen sein, daß der vom Rechtssystem gewährleisteten grundsätzlichen rechtlichen Waffengleichheit auch eine tatsächliche Waffengleichheit zwischen Mietern und Vermietern entspricht.
Auseinandersetzungen zwischen Vermietern und einer nicht darauf vorbereiteten Mieterschaft im Zusammenhang mit Eigenbedarfskündigungen können das Zusammenwachsen beider Teile Deutschlands erheblich belasten.
Das war damals richtig, und es ist leider auch heute noch so,
weil die Situation drüben nicht so ist, Herr Luther, wie Sie sie freundlich beschreiben wollen, sondern bezahlbare Ersatzwohnungen eben fehlen.
Sie können die teuren leerstehenden Wohnungen nicht immer wieder heranziehen, um daraus abzuleiten, daß der besondere Kündigungsschutz nicht mehr notwendig ist.
Sie haben den Mieterbund angesprochen, dessen Präsidentin ich bin. Herr Rips ist ein sehr kluger Gesprächspartner. Da Sie seinen Brief nicht vorgelesen haben, will ich zitieren, was darin steht:
Der Deutsche Mieterbund ringt darum, daß dieser besondere Kündigungsschutz verlängert wird.
Wir tun das nicht auf Grund von Statistiken, sondern weil wir mit den Menschen, die davon betroffen sind, reden,
weil wir wissen, was das für die Betroffenen heißt.
Ich will den Eindruck dieser Debatte wiedergeben: Auch ich habe eine Zeitlang gedacht, wenn der Kündigungsschutz aufgehoben wird, wird das nicht gleich in jedem Falle praktiziert. Aber ich höre heute mit ganz offenem Ohr, daß CDU und F.D.P. davon ausgehen, daß von diesem Kündigungsrecht auch sofort Gebrauch gemacht wird. Meine Damen und Herren, wissen wir eigentlich, welche soziale Unruhe heute über dieses Land geht, wenn wir so beschließen, wie es leider zu befürchten ist?
Deswegen appelliere ich mit den CDU-geführten Ländern, mit den Landtagen, in denen auch CDU- Abgeordnete sind,
mit der Koalitionsregierung von Mecklenburg-Vorpommern - alles post-sozialistische Schwestern oder Brüder, oder wie soll ich das eigentlich verstehen? -, noch einmal festzuhalten: Es gibt keine bezahlbaren Ersatzwohnungen. Es gibt kein Angebot, mit dem sich nennenswert auf diese Kündigungswelle reagieren ließe. Und es gibt die Menschen, die zu Recht sagen: Arbeit und sichere, bezahlbare Wohnungen sind unsere Grundbedürfnisse, und wir haben niemals damit rechnen müssen, daß irgend jemand das Recht hat, uns die Wohnung zu kündigen.
Wenn Herr Biedenkopf sagt: „Bedenken Sie, welcher Bruch sich in den Herzen und Köpfen der Menschen vollzieht, wenn sie plötzlich aus ihren Wohnungen heraus müssen" , dann wissen Sie, daß wir um des sozialen Friedens und um des Zusammenwachsens von Ost und West willen gut beraten sind, heute die Verlängerung des besonderen Kündigungsschutzes zu beschließen.
Was ist das eigentlich für ein Zusammenwachsen, wenn CDU und F.D.P. zugeben, mit Auslaufen des besonderen Kündigungsschutzes gehe eine Kündigungswelle durch das Land, und wenn dies auch
Anke Fuchs
noch mit den besonderen Eigentumsverhältnissen in diesem Land begründet wird?
Ich habe ein anderes Verständnis von sozialem Miteinander und kann diese Argumentation schlicht nicht ertragen.
Sie haben auf die Eigentumsregelung hingewiesen, und Sie sind nicht bereit, zu akzeptieren, daß im Osten die rechtlichen und die tatsächlichen Mietverhältnisse andere sind und deswegen mit denen im Westen nicht vergleichbar sind.
Deswegen appelliere ich an Sie alle, insbesondere an die Kollegen und Kolleginnen aus der CDU, die aus Ostdeutschland kommen: Stimmen Sie unserem Antrag zu!
Ich erteile das Wort der Bundesjustizministerin, Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was ist das für ein Zusammenwachsen in ganz Deutschland, wenn wir fast bis zu zehn Jahren nach der deutschen Einheit Sonderrecht aufrechterhalten wollen und so tun, als würden wir den Menschen in den neuen Bundesländern nicht zutrauen, von ihren Rechten auch Gebrauch zu machen?
Sie behandeln sie mit Ihren Bemerkungen, Herr Heuer, wie Menschen, die dazu nicht in der Lage wären.
Deshalb ist es richtig, wenn wir heute beschließen, den besonderen Kündigungsschutz nicht weiter gelten zu lassen. Wir sollten in einer solchen Debatte dann auch einmal offen sagen: Es gilt dann das soziale Kündigungsschutzrecht im Mietrecht,
was sich gerade auch im Vergleich mit vielen anderen europäischen Ländern nicht nur sehen lassen kann, sondern wirklich ganz herausragend ist.
Sie malen Entwicklungen an die Wand, die Sie mit nichts belegen können.
Sie schüren die Ängste von Bürgern und Bürgerinnen in den neuen Bundesländern,
wenn Sie sagen, jetzt sehen sie sich einer Kündigungswelle gegenüber.
Das trifft nicht zu, sondern das erzeugt Emotionen, das erzeugt eine Atmosphäre, in der die Bürgerinnen und Bürger vielleicht nicht wissen, wie sie mit der geltenden Rechtslage, die sehr, sehr viele Schutzmöglichkeiten beinhaltet, umzugehen haben.
Ich möchte meine Rede, weil ich nur noch zwei Minuten habe, gerne im Zusammenhang fortführen und keine Zwischenfragen zulassen.
Ich finde es verantwortungslos, wenn hier so getan wird, als würde unser Mietrecht, das in vielen Jahren gewachsen ist und zu Vertrauen geführt hat, nicht eine ausreichende Anzahl von Schutzmechanismen enthalten. Die Möglichkeit einer Eigenbedarfskündigung heißt doch nicht,
daß der Vermieter sagen kann: Übermorgen muß die Wohnung geräumt sein!
Wir wissen doch, warum wir eine Sozialklausel in unser Mietrecht aufgenommen haben.
Der Mieter kann der Kündigung widersprechen, wenn er keinen angemessenen Wohnraum zu zumutbaren Bedingungen findet. Denn dann wird das Mietverhältnis trotz Kündigung fortgesetzt, und zwar möglicherweise auch auf unbestimmte Zeit.
Deshalb: Wenn Sie diese Situation nicht ganz nüchtern und sachlich richtig beschreiben, dann tragen Sie Mitverantwortung, wenn Bürgerinnen und Bürger, wenn Mieterinnen und Mieter in den neuen Bundesländern Angst davor haben,
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
daß der 1. Januar kommt und diese besonderen Regelungen auslaufen.
Wir tragen gemeinsam die Verantwortung dafür, daß wir aufklären und informieren, daß wir - mit einer Stimme - darlegen, wie die tatsächliche Situation ist, welche Rechte Mieterinnen und Mieter haben und welche Möglichkeiten zu Recht auch ein Vermieter, ein Eigentümer haben muß.
Nur wenn wir beide Seiten sehen und nur wenn wir unsere Politik, die in Eigentums- und Vermögensfragen auf den Ausgleich unterschiedlicher Interessen angelegt ist, fortführen, werden wir in der Lage sein, das den Menschen in den neuen Bundesländern als akzeptabel und richtig zu vermitteln.
Aber ich weiß, welche Kampagnen von der PDS gefahren werden. Wir haben einen Vorgeschmack dessen erlebt. Wir werden uns dem nicht anschließen. Ich weiß, daß wir all denjenigen, die die rechtliche Situation in Bürgersprechstunden erklären müssen, sachliche Informationen an die Hand geben müssen. Dann werden sie die Mieterinnen und Mieter überzeugen, daß sie von der Bundesregierung nicht schutzlos gestellt werden.
Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Fuhrmann das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Ministerin, bei Ihrer Rede haben Sie zwei Bereiche überhaupt nicht bedacht:
Realität ist, daß Investoren aus den westlichen Teilen dieser Republik im Ostteil, in den neuen Bundesländern, bei Abschreibungsquoten von bis zu 50 Prozent des Eigenkapitals Wohnraum bauen, der dann in der Quadratmeterendsumme 30 bis 50 DM Miete kostet.
- Klar, die Herren und Damen von der F.D.P. müssen an dieser Stelle natürlich besonders kollern. Das habe ich auch so erwartet.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktionen, die aus dem Ostteil Deutschlands kommen, sich noch einmal vor Augen zu halten, was es bedeutet, mit dem Argument loszumarschieren, es gäbe in den neuen Bundesländern bezahlbaren Wohnraum. Ich bitte Sie, genau darüber nachzudenken, was Sie damit andeuten.
Es gibt keinen bezahlbaren Wohnraum für die Familien, die ihren Wohnraum auf Grund des Auslaufens des besonderen Kündigungsschutzes ab 1996 verlieren werden.
Die Begründungen dafür, warum die Hausbesitzer Familien, alten Leuten, Alleinlebenden kündigen, haben sie doch in der Zwischenzeit schon in der Tasche. Sie lauem doch bloß darauf, daß ab Januar die Chance da ist, unliebsame Mieter - kinderreiche Familien und diejenigen, die in den Häusern alt werden - auf die Straße zu setzen.
Ich glaube, das ist ein ganz entscheidender Punkt. Deshalb bitte ich sehr nachdrücklich darum, daß sich all diejenigen unter Ihnen, die aus den neuen Ländern kommen, dem Antrag der SPD anschließen und für eine Verlängerung stimmen.
Vielen Dank.
Nun folgen eine Reihe von Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung.
Zu Protokoll gegeben worden sind die Erklärungen der Kollegen Rainer Eppelmann, Ulf Fink, Ulrich Junghanns, Manfred Koslowski, Michael Stübgen, Michael Wonneberger, Heidemarie Lüth und Gerhard Jüttemann.*)
Es liegen drei Wortmeldungen für Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 vor, und zwar von den Kollegen Wolfgang Ilte, Dr. Dagmar Enkelmann und Klaus-Jürgen Warnick.
Ehe ich dazu das Wort erteile, möchte ich darauf aufmerksam machen, daß die persönlichen Erklärungen zur Abstimmung nicht dazu dienen, die Debatte zu verlängern, sondern nur dazu, das persönliche Abstimmungsverhalten zu erklären. Damit wir nicht in Auseinandersetzungen geraten, möchte ich die Kollegen, die persönliche Erklärungen abgeben wollen, ausdrücklich darauf aufmerksam machen.
Dies vorausgeschickt, erteile ich dem Kollegen Wolfgang Ilte das Wort für eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als die überwiegende Mehrheit der Menschen in Ostdeutschland im Herbst 1989 aufbrach, ein neues Land aufzubauen, war jedem klar, daß das ein langer Weg werden würde. Die Einheit Deutschlands stand damals noch nicht auf der Tagesordnung,
war aber wohl der heimliche Wunsch vieler. Daß sie
Wirklichkeit werden konnte, verdanken wir in erster
Linie jenen im Osten, die fest an das gemeinsame
*) Anlagen 3 und 4
Wolfgang Ilte
Land geglaubt haben, und jenen im Westen, die dieses Ziel nicht weniger unbeirrt verfolgt haben.
Um so nachdenklicher stimmt mich, daß wir in unserem Volk zur Zeit eine Situation vorfinden, in der die Menschen im Westen im Begriff sind, ihre ausgestreckten Arme langsam, aber sicher zurückzuziehen,
und in der die Menschen im Osten das Gefühl haben, trotz ihres Aufbruchs 1989 noch immer nicht zu Hause angekommen zu sein. Eine Ablehnung des vorliegenden Gesetzentwurfs wird viele Menschen im Osten wieder einmal in diesem Gefühl bestärken.
Wir brauchen in diesem unserem Land im Osten, aber auch im Westen Lebensbedingungen, die allen Menschen das Gefühl vermitteln: Dies ist unser Land; hier sind wir zu Hause.
Herr Kollege Ilte, ich muß Sie unterbrechen. Sie merken an der Reaktion des Hauses, -
Das wundert mich nicht.
- daß das, was Sie vortragen und was Sie sicherlich beschäftigt, ein Debattenbeitrag, aber weniger eine Erklärung Ihres persönlichen Verhaltens ist.
Ich bitte Sie, die Geschäftsordnung und die Nerven Ihrer Zuhörer nicht zu sehr zu strapazieren. Bitte beschränken Sie sich auf das, was § 31 der Geschäftsordnung Ihnen gestattet.
Meine Damen und Herren! Es wäre ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur Einheit, wenn Sie, alle Damen und Herren von der Koalition, insbesondere aber die Ostdeutschen,
diesem Gesetzentwurf heute zustimmen würden, so wie meine Fraktion und ich das tun werden.
Besten Dank.
Nun gebe ich das Wort der Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dieser Debatte halte ich es für dringend notwendig, mein Abstimmungsverhalten zu erklären. Ich werde dem Antrag der SPD selbstverständlich zustimmen.
Herr Kollege Lanfermann, Sie haben vorhin gesagt, wir schürten die Angst vor einer Kündigungswelle. Die Tatsachen sprechen eine andere Sprache. Ich wünsche mir sehr, daß Sie zum Beispiel zu einer Sprechstunde in ein Wahlkreisbüro im Osten Deutschlands kommen.
Schauen Sie sich bitte einmal an, was die Leute inzwischen an Kündigungsschreiben erhalten!
Frau Kollegin Fuchs, das hat eingesetzt; sie bekommen Kündigungsschreiben.
Ich will nur eines vortragen. Es geht um den Rechtsanwalt Herrn Grasser und eine Familie in Kleinmachnow. In dem Schreiben steht:
Wir kündigen als Eigentümer das Mietverhältnis über das Grundstück ... fristgerecht zum 31. Januar 1996. Die Kündigung erfolgt wegen Eigenbedarfs ... Wir haben Sie aufzufordern, das Grundstück sowie die Mieträume in geräumtem Zustand spätestens am 31. 01. 1996 samt den dazugehörigen Schlüsseln zu übergeben.
Frau Kollegin!
Das findet also bereits statt, und genau das ist das Problem. Darauf will ich Sie aufmerksam machen.
Ich will Sie bitten, sich anders zu verhalten. Ich will Sie bitten, dem Gesetzentwurf der SPD zuzustimmen.
Ehe ich dem Kollegen Klaus-Jürgen Warnick das Wort gebe, möchte ich Ihnen, verehrte Kollegen, sagen: Wenn Sie Erklärungen zur Abstimmung geben, dann sollten Sie nicht an das Haus appellieren. Sie müssen sich selber erklären. Sie müssen sagen, warum Sie sich so verhalten.
Herr Kollege, hoffentlich haben wir bei Ihnen etwas mehr Glück.
Sie haben das Wort.
Ich habe natürlich auch ein Schreiben dabei. Ich bin stellvertretender Landesvorsitzender des Mieterbundes, und es sind eine ganze Menge Schreiben an uns gegangen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6511
Klaus-Jürgen Warnick- Ich will nur einen einzigen Satz hieraus vorlesen und damit erklären, warum ich so leidenschaftlich für diese Verlängerung kämpfe.
Meine Kolleginnen und Kollegen, es gehört ein bißchen Toleranz von beiden Seiten dazu.
- Eine Sekunde.
Man kann schlecht beurteilen, ob es eine persönliche Erklärung ist, wenn der Redner noch gar nicht richtig hat reden können.
Aber, Herr Kollege Warnick, das gilt auch für Sie: Es ist nicht Sinn der Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung, vorzutragen, was andere wollen. Sinn ist vielmehr, sich selber erklären zu können. Ich bitte Sie wirklich, dies zu tun und nicht vorzutragen, was andere von Ihnen wünschen.
Sie haben das Wort.
Es ist natürlich auch mein Interesse, daß die Verlängerung heute beschlossen wird.
Ich möchte noch einen Satz anbringen: Wenn eure Schonzeit beendet ist, fliegt ihr sowieso raus.
Ich möchte auch noch auf das eingehen, was Frau Schnarrenberger gesagt hat, und das Ganze erklären, weil es hier zu Mißverständnissen gekommen ist. Der Hauptgrund dafür, daß wir diese Verlängerung brauchen, sind die Einliegerwohnungen. Bei einer Einliegerwohnung kann man nach dem BGB ohne Angabe von Gründen kündigen. Wir haben im Osten eine ganz andere Zahl an Einliegerwohnungen als in den westlichen Bundesländern; das muß zur Richtigstellung hier noch einmal gesagt werden. Die Gefahr ist bei uns eine völlig andere. Deswegen brauchen wir diese Verlängerung.
Damit ist die Aussprache geschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Verlängerung des besonderen Kündigungsschutzes in den neuen Bundesländern, Drucksache 13/2444. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/3145, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD, nicht über die Beschlußempfehlung, abstimmen.
Die Fraktion der SPD verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die Plätze einzunehmen. Sind alle
Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall.
Dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung werde ich später bekanntgeben. *)
Darf ich Sie bitten, Ihre Plätze wieder einzunehmen, damit wir fortfahren können. Wenn das nicht geschieht, unterbreche ich die Sitzung. Frau Sonntag-Wolgast, darf ich auch Sie bitten, uns zu ermöglichen fortzufahren.
Wir setzen damit die Beratungen fort. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit
- Drucksache 13/2393 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Abgeordneten Rudolf Dreßler das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der heute zur Beratung anstehende Gesetzentwurf der SPD-Fraktion zur Änderung des Pflege-Versicherungsgesetzes betrifft eigentlich eine Selbstverständlichkeit des deutschen Sozialrechts. Die Sozialversicherungsbeiträge werden je zur Hälfte einerseits von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und andererseits von den Arbeitgebern gezahlt.
Daß diese Selbstverständlichkeit für die Pflegeversicherung eigens einer gesetzlichen Klarstellung bedarf, ist ein Politikum an sich. Daß diese Klarstellung auf vielfältigen offenen oder verdeckten Widerstand von maßgeblichen Politikern aus CDU/CSU und F.D.P. trifft, das ist ein Menetekel.
Wer zum Teil über 100 Jahre alte sozialstaatliche Selbstverständlichkeiten in Zweifel zieht oder gar ablehnt, der zeigt nicht nur, was ihm der Sozialstaat heute noch wert ist, sondern er offenbart auch, daß er auf dem Wege ist, seine Regeln und Grundsätze zu Lasten der Menschen, die seines Schutzes bedürfen, einzuschränken.
*) Seite 6513 C
Rudolf Dreßler
Der heute zur Beratung anstehende Gesetzentwurf hat daher zunächst einmal eine politische Signalfunktion: Die sozialdemokratische Fraktion macht das nicht mit.
Die SPD-Abgeordneten werden sich der von der Koalition stillschweigend hingenommenen und teils offen angestrebten Aushöhlung sozialstaatlicher Prinzipien in den Weg stellen. Wir machen uns nichts vor; vor allem aber, wir lassen uns nichts vormachen.
Bei der jetzt erneut angezettelten Diskussion um die Umsetzung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung geht es der Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. um vieles, aber um eines zuletzt: um die Pflege und die Pflegebedürftigen.
In Wahrheit sollen die zur Verwirklichung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung notwendigen politischen Entscheidungen instrumentalisiert werden, um die von der Koalition gewünschten gesellschaftspolitischen Veränderungen herbeizuführen. Diese Kräfte wollen die Gesellschaft nach rückwärts verändern. Sie wollen aber nicht den Pflegebedürftigen helfen.
Rein sachlich geht es derzeit um die Antwort auf die Frage, ob bei der Einführung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung am 1. Juli 1996 abermals der Beitragsanteil der Unternehmen kompensiert werden soll. Das dazu notwendige Verfahren ist im Pflege-Versicherungsgesetz vorgezeichnet.
Erstens. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage gibt in einem Gutachten ein Urteil ab, ob zum Ausgleich der Belastungen der Unternehmen durch ihren Beitragsanteil an der zweiten Stufe der Pflegeversicherung ein Kompensationsbedarf besteht. - Dieses Gutachten liegt seit geraumer Zeit vor. - Zweitens. Die Bundesregierung entscheidet in eigener Verantwortung - aber unter Beiziehung des Gutachtens -, ob eine weitere Kompensation erforderlich ist und setzt die zweite Stufe durch Rechtsverordnung in Kraft. So steht es im Gesetz. Für alle ist aber offenkundig, daß diese Bundesregierung eben nicht entscheidet. Sie kann nicht entscheiden, sie ist handlungsunfähig, weil sie sich über diese Fragen streitet.
Da ist auf der einen Seite der Arbeitsminister, dessen Zahlen exakt belegen, daß eine weitere Kompensation überflüssig ist. Aber der Arbeitsminister hat Sprechverbot. Er sagt nur ganz leise und hinter vorgehaltener Hand, daß ihm die neue Kompensation auf den Geist geht. Herr Blüm, Hand weg vom Mund, sagen Sie es laut, und ziehen Sie vor allem die politischen Konsequenzen aus Ihren Erkenntnissen! Minister, die ihre Meinungen nur flüstern, können am Kabinettstisch nicht gehört werden. Setzen Sie sich durch, einmal wenigstens; denn das Anliegen der Pflegebedürftigen ist diesen Einsatz wert.
Da ist auf der anderen Seite Herr Rexrodt, die personifizierte tolle Nummer dieses Kabinetts, dem eine neue Kompensation gar nicht weit genug gehen kann.
Die fehlende Entscheidungsfähigkeit der Koalition ist derzeit Anlaß für allerlei öffentlichkeitswirksame politische Ablenkungsmanöver. Herr Solms etwa fabuliert über ein weitreichendes soziales Kürzungsprogramm in zweistelliger Milliardenhöhe. Außer Herrn Solms glaubt zwar niemand, daß diese Koalition eine solche Operation je überstehen würde; aber das ist von der Sache her zunächst einmal wurscht. Wichtig ist, daß die F.D.P. aus der Deckung gekommen ist. Sie hat deutlich gemacht, was wir Sozialdemokraten Mal für Mal festgestellt haben: Die F.D.P., meine Damen und Herren, redet vom sozialen Umbau und will den sozialen Abbau. Die vom Wähler kahlgeschlagene F.D.P. übt den sozialen Kahlschlag.
Herr Stoiber philosophiert über Mehrarbeit der Arbeitnehmer, um die angeblichen Mehrbelastungen für die zweite Pflegestufe zu kompensieren. Zehn Stunden pro Monat schweben ihm da vor, wenn ich ihn richtig verstanden habe. Hat der bayerische Ministerpräsident noch nie etwas von Tarifautonomie gehört? Ist ihm unbekannt, daß die Arbeitszeit nicht gesetzlich, sondern tarifvertraglich geregelt wird?
Und dann haben wir da noch Frau Babel und Herrn Louven. Sie träumen erneut ihren Traum von der Einschränkung der Lohnfortzahlung, ein Traum, der, träte er ein, für Millionen von Menschen zu einem Alptraum werden würde.
Zwar haben „Seine Hochwohlgeboren" höchstpersönlich den beiden Kollegen beim ersten Vorstoß dieser Art, wie man sagt, sozusagen eins auf die Nuß gegeben; aber trotz der Kanzlerschelte bohren sie weiter, um dieses strategisch entscheidende Loch im sozialstaatlichen Netz endlich anbringen zu können.
Was eigentlich könnte deutlicher machen, daß diese Diskussionen nichts mit Pflege und den Pflegebedürftigen zu tun haben, als solche Vorschläge? Hier wird an der altbekannten Schablone geschnitzt, daß der Sozialstaat jenen Standortnachteil Deutschlands darstelle, der uns im internationalen Wettbewerb behindere. Hier werden einseitig die unbezweifelbaren Kosten des Sozialstaates bilanziert, ohne seine unbezweifelten Erlöse und Erträge ebenfalls in diese Bilanz einzustellen. Wer so einseitig bilanziert, kann nur ein Ziel verfolgen: Er will sich eine ökono-
Rudolf Dreßler
mische Scheinlegitimation zurechtzimmern, um die Notwendigkeit eines Sozialabbaus zu rechtfertigen.
Die Zahlen und die Fakten zur Kompensation in Sachen Pflegeversicherung sind eindeutig. Ich wiederhole: Sie stammen aus der Feder der Bundesregierung oder des Sachverständigenrates. Letzterer stellte fest:
Die Abschaffung eines Feiertages zur Entlastung der Unternehmen von ihrem Beitragsanteil zur ersten Stufe der Pflegeversicherung hat deren Belastung überkompensiert.
Da sage ich: Richtig.
Die Abschaffung eines zweiten Feiertages zur Kompensation der zweiten Pflegestufe führt abermals zur Überkompensation.
Da sage ich: Auch richtig.
Der verbleibende Rest an Kompensationsbedarf, den der Sachverständigenrat zu erkennen glaubt, ist Ergebnis einer unvollständigen Bewertung, einer Bewertung, die jene entlastenden Maßnahmen unterschlägt, die im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Pflege-Versicherungsgesetzes vereinbart und durchgeführt worden sind:
erstens Mißbrauchsbekämpfung: 1,8 Milliarden DM, zweitens Bettenabbau im Krankenhaus wegen Fehlbelegung: 0,75 Milliarden DM, drittens Korrektur bei AFG-Leistungen: 1,6 Milliarden DM, viertens Kürzungen bei Lohnersatzleistungen: 0,25 Milliarden DM.
Das macht nach Adam Riese eine Entlastungswirkung von 4,4 Milliarden DM, die bei der Kompensationsberechnung des Sachverständigenrates nicht berücksichtigt worden ist. Zusammen mit den vom Sachverständigenrat berechneten Entlastungswirkungen von 5,6 Milliarden DM für den abgeschafften Feiertag und 1,2 Milliarden DM in der gesetzlichen Krankenversicherung ergibt sich eine Gesamtentlastung der Unternehmen von über 11 Milliarden DM.
Angesichts dieser Sachlage stelle ich für die SPD- Bundestagsfraktion fest, was der Bundesarbeitsminister sich nicht festzustellen traut: Es gibt bei der Pflegeversicherung für die Einführung der zweiten Pflegestufe keinen weiteren Kompensationsbedarf.
Unser Gesetzentwurf zieht daraus die Konsequenz. Da wir damit rechnen müssen, daß auch Herr Rexrodt und Frau Babel ihn lesen, haben wir ihn bewußt schlicht gehalten:
Die Beiträge zur Pflegeversicherung tragen Arbeitnehmer und Arbeitgeber je zur Hälfte.
Ich fordere die Koalition auf: Unterlassen Sie Ihre Ablenkungsmanöver und Interpretationsklimmzüge! Stimmen Sie dieser sozialstaatlichen Selbstverständlichkeit zu! Vor allen Dingen: Jagen Sie nicht jeden Sonntag eine neue Sau durchs Dorf, Frau Babel! Die Menschen in Deutschland, die sich bisher auf den Sozialstaat verlassen, sind das nämlich satt.
Ehe ich das Wort dem nächsten Redner erteile, komme ich auf den Tagesordnungspunkt 6 zurück und gebe das von den Schriftführern und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Verlängerung des besonderen Kündigungsschutzes in den neuen Bundesländern, Drucksachen 13/2444 und 13/ 3145, bekannt: Abgegebene Stimmen: 624. Mit Ja haben gestimmt: 301. Mit Nein haben gestimmt: 322. Enthaltungen: 1. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Lesung abgelehnt. Nach unserer Geschäftsordnung erübrigt sich damit eine weitere Befassung mit diesem Gesetzentwurf.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 623; davon
ja: 301
nein: 321
enthalten: 1
Ja
SPD
Brigitte Adler
Gerd Andres
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Klaus Barthel
Ingrid Becker-Inglau Wolfgang Behrendt
Hans Berger
Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher Rudolf Bindig
Lilo Blunck
Dr. Ulrich Böhme Arne Börnsen (Ritterhude) Anni Brandt-Elsweier
Tilo Braune
Dr. Eberhard Brecht Edelgard Bulmahn
Hans Martin Bury
Marion Caspers-Merk Wolf-Michael Catenhusen Peter Conradi
Dr. Herta Däubler-Gmelin Christel Deichmann
Karl Diller
Dr. Marliese Dobberthien
Peter Dreßen
Rudolf Dreßler
Freimut Duve
Ludwig Eich
Gernot Erler
Petra Ernstberger Annette Faße
Elke Ferner
Lothar Fischer Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski Dagmar Freitag Anke Fuchs Katrin Fuchs (Verl) Arne Fuhrmann Monika Ganseforth Norbert Gansel Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Dr. Peter Glotz
Günter Graf Angelika Graf (Rosenheim) Dieter Grasedieck
Achim Großmann Karl Hermann Haack
Hans-Joachim Hacker Klaus Hagemann Manfred Hampel Christel Hanewinckel Alfred Hartenbach
Dr. Liesel Hartenstein Klaus Hasenfratz Dieter Heistermann Reinhold Hemker Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks Monika Heubaum Uwe Hiksch
Reinhold Hiller
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Stephan Hilsberg Gerd Höfer
Jelena Hoffmann Frank Hofmann (Volkach)
Ingrid Holzhüter Erwin Horn
Eike Hovermann Lothar Ibrügger Wolfgang Ilte Barbara Imhof Gabriele Iwersen Renate Jäger Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Volker Jung
Sabine Kaspereit Susanne Kastner Ernst Kastning Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Marianne Klappert
Dr. Hans-Hinrich Knaape
Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Nicolette Kressl Volker Kröning Thomas Krüger Horst Kubatschka Eckart Kuhlwein Konrad Kunick Christine Kurzhals Dr. Uwe Küster Werner Labsch Brigitte Lange Detlev von Larcher Waltraud Lehn Robert Leidinger Klaus Lennartz
Dr. Elke Leonhard Klaus Lohmann
Christa Lörcher Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß
Winfried Mante Dorle Marx
Ulrike Mascher Christoph Matschie
Ingrid Matthäus-Maier
Heide Mattischeck Markus Meckel Ulrike Mehl
Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer
Ursula Mogg Siegmar Mosdorf
Michael Müller Jutta Müller (Völklingen) Christian Müller (Zittau) Gerhard Neumann (Gotha)
Dr. Edith Niehuis Dr. Rolf Niese Doris Odendahl
Günter Oesinghaus
Leyla Onur
Manfred Opel Adolf Ostertag Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Dr. Willfried Penner
Dr. Martin Pfaff Georg Pfannenstein
Dr. Eckhart Pick Joachim Poß
Karin Rehbock-Zureich
Margot von Renesse Renate Rennebach Otto Reschke
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter Günter Rixe
Reinhold Robbe
Gerhard Rübenkönig Dr. Hansjörg Schäfer Gudrun Schaich-Walch Dieter Schanz
Rudolf Scharping Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Horst Schild
Otto Schily
Dieter Schloten
Günter Schluckebier Ursula Schmidt
Dagmar Schmidt Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Ottmar Schreiner Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert Richard Schuhmann
Brigitte Schulte Reinhard Schultz (Everswinkel)
Volkmar Schultz Ilse Schumann
Dr. R. Werner Schuster Dietmar Schütz Dr. Angelica Schwall-Düren Ernst Schwanhold
Bodo Seidenthal
Lisa Seuster
Erika Simm
Johannes Singer
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Wieland Sorge
Wolfgang Spanier Dr. Dietrich Sperling Jörg-Otto Spiller
Antje-Marie Steen Ludwig Stiegler
Dr. Peter Struck
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Dr. Bodo Teichmann Margitta Terborg
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim Wolfgang Thierse Dietmar Thieser
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher Adelheid Tröscher Hans-Eberhard Urbaniak Siegfried Vergin
Günter Verheugen Ute Vogt
Karsten D. Voigt Hans Georg Wagner
Dr. Konstanze Wegner Wolfgang Weiermann Reinhard Weis Matthias Weisheit Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
Jochen Welt
Hildegard Wester Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Norbert Wieczorek Heidemarie Wieczorek-Zeul Dieter Wiefelspütz
Berthold Wittich
Dr. Wolfgang Wodarg Hanna Wolf Heidi Wright
Uta Zapf
Peter Zumkley
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEr
Gila Altmann Elisabeth Altmann
Volker Beck (Köln) Angelika Beer
Matthias Berninger Annelie Buntenbach Amke Dietert-Scheuer Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Uschi Eid
Andrea Fischer Joseph Fischer (Frankfurt) Rita Grießhaber
Gerald Häfner
Kristin Heyne
Ulrike Höfken
Michaele Hustedt Dr. Manuel Kiper Monika Knoche
Dr. Angelika Köster-Loßack Steffi Lemke
Vera Lengsfeld
Dr. Helmut Lippelt Oswald Metzger Kerstin Müller Winfried Nachtwei Christa Nickels
Cem Özdemir
Gerd Poppe
Simone Probst
Dr. Jürgen Rochlitz Halo Saibold
Irmingard Schewe-Gerigk Rezzo Schlauch
Albert Schmidt Wolfgang Schmitt
Ursula Schönberger Werner Schulz Rainder Steenblock Christian Sterzing Manfred Such
Dr. Antje Vollmer Ludger Volmer
Helmut Wilhelm Margareta Wolf (Frankfurt)
PDS
Wolfgang Bierstedt Petra Bläss
Maritta Böttcher
Eva Bulling-Schröter
Dr. Ludwig Elm
Dr. Dagmar Enkelmann
Dr. Ruth Fuchs Dr. Gregor Gysi Dr. Uwe-Jens Heuer
Dr. Barbara Höll Dr. Willibald Jacob Ulla Jelpke
Gerhard Jüttemann
Dr. Heidi Knake-Werner
Rolf Köhne
Andrea Lederer Dr. Christa Luft Heidemarie Lüth
Dr. Günther Maleuda Manfred Müller Rosel Neuhäuser
Dr. Uwe-Jens Rössel Christina Schenk Klaus-Jürgen Warnick
Dr. Winfried Wolf
Gerhard Zwerenz
Nein
CDU/CSU
Ulrich Adam
Peter Altmaier
Anneliese Augustin Jürgen Augustinowitz Dietrich Austermann Heinz-Günter Bargfrede Franz Peter Basten
Dr. Wolf Bauer
Brigitte Baumeister
Dr. Sabine Bergmann-Pohl Hans-Dirk Bierling
Dr. Joseph-Theodor Blank Renate Blank
Dr. Heribert Blens Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm Friedrich Bohl
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig
Paul Breuer
Monika Brudlewsky Georg Brunnhuber Hartmut Büttner
Dankward Buwitt
Manfred Carstens Peter Harry Carstensen
Wolfgang Dehnel Hubert Deittert
Gertrud Dempwolf Albert Deß
Renate Diemers Wilhelm Dietzel Werner Dörflinger Hansjörgen Doss Dr. Alfred Dregger Maria Eichhorn
Wolfgang Engelmann Rainer Eppelmann Heinz Dieter Eßmann Horst Eylmann
Anke Eymer
Ilse Falk
Jochen Feilcke
Dr. Karl H. Fell
Ulf Fink
Dirk Fischer
Leni Fischer
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Klaus Francke Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Michaela Geiger Norbert Geis
Dr. Heiner Geißler Michael Glos
Wilma Glücklich
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer Joachim Gres
Kurt-Dieter Grill Wolfgang Gröbl Hermann Gröhe Claus-Peter Grotz Manfred Grund
Horst Günther Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Gottfried Haschke
Gerda Hasselfeldt Rainer Haungs
Otto Hauser Hansgeorg Hauser
Klaus-Jürgen Hedrich Manfred Heise
Dr. Renate Hellwig Ernst Hinsken Peter Hintze
Josef Hollerith
Dr. Karl-Heinz Hornhues Siegfried Hornung Joachim Hörster
Hubert Hüppe Peter Jacoby
Susanne Jaffke Georg Janovsky Helmut Jawurek Dr. Dionys Jobst
Michael Jung Ulrich Junghanns
Dr. Egon Jüttner Dr. Harald Kahl Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter
Dr.-Ing. Dietmar Kansy Manfred Kanther Irmgard Karwatzki Volker Kauder
Peter Keller
Eckart von Klaeden Dr. Bernd Klaußner Hans Klein Ulrich Klinkert Hans-Ulrich Köhler
Manfred Kolbe Norbert Königshofen Eva-Maria Kors Hartmut Koschyk Manfred Koslowski Thomas Kossendey Rudolf Kraus
Wolfgang Krause Andreas Krautscheid Arnulf Kriedner Heinz-Jürgen Kronberg Dr.-Ing. Paul Krüger Reiner Krziskewitz
Dr. Hermann Kues Werner Kuhn
Dr. Karl A. Lamers
Karl Lamers
Dr. Norbert Lammert Helmut Lamp
Armin Laschet
Herbert Lattmann Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann Christian Lenzer
Peter Letzgus
Editha Limbach
Walter Link Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Dr. Manfred Lischewski Wolfgang Lohmann
Julius Louven
Sigrun Löwisch
Heinrich Lummer Dr. Michael Luther
Erich Maaß Dr. Dietrich Mahlo
Erwin Marschewski Günter Marten
Dr. Martin Mayer
Wolfgang Meckelburg Rudolf Meinl
Dr. Michael Meister Friedrich Merz
Rudolf Meyer Hans Michelbach Meinolf Michels
Dr. Gerd Müller
Elmar Müller Engelbert Nelle
Bernd Neumann Johannes Nitsch
Claudia Nolte
Dr. Rolf Olderog
Friedhelm Ost
Eduard Oswald
Norbert Otto Dr. Gerhard Päselt Dr. Peter Paziorek Hans-Wilhelm Pesch Ulrich Petzold
Anton Pfeifer
Dr. Gero Pfennig
Dr. Friedbert Pflüger Dr. Winfried Pinger Ronald Pofalla
Dr. Hermann Pohler Ruprecht Polenz
Marlies Pretzlaff
Dr. Albert Probst Dr. Bernd Protzner Dieter Pützhofen Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer Rolf Rau
Helmut Rauber
Peter Harald Rauen Otto Regenspurger
Christa Reichard Klaus Dieter Reichardt
Dr. Bertold Reinartz Erika Reinhardt
Hans-Peter Repnik Roland Richter
Roland Richwien
Dr. Norbert Rieder
Dr. Erich Riedl Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber Hannelore Rönsch
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith Adolf Roth Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck Dr. Jürgen Rüttgers
Roland Sauer Ortrun Schätzle
Dr. Wolfgang Schäuble Hartmut Schauerte Heinz Schemken Karl-Heinz Scherhag Gerhard Scheu Norbert Schindler Dietmar Schlee
Ulrich Schmalz Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Andreas Schmidt Hans-Otto Schmiedeberg Hans Peter Schmitz
Michael von Schmude
Birgit Schnieber-Jastram Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Rupert Scholz Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt Wolfgang Schulhoff
Dr. Dieter Schulte
Gerhard Schulz (Leipzig) Frederick Schulze Diethard Schütze (Berlin) Clemens Schwalbe
Dr. Christian Schwarz-Schilling
Horst Seehofer Wilfried Seibel Heinz-Georg Seiffert Rudolf Seiters Johannes Selle Bernd Siebert Jürgen Sikora
Johannes Singhammer Bärbel Sothmann Margarete Späte Carl-Dieter Spranger Wolfgang Steiger Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Dr. Gerhard Stoltenberg Andreas Storm
Max Straubinger Matthäus Strebl Michael Stübgen Egon Susset
Dr. Rita Süssmuth Michael Teiser
Dr. Susanne Tiemann Gottfried Tröger
Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Gunnar Uldall
Dr. Horst Waffenschmidt Dr. Theodor Waigel
Alois Graf von Waldburg-Zeil Dr. Jürgen Warnke
Kersten Wetzel
Hans-Otto Wilhelm Gert Willner
Bernd Wilz
Willy Wimmer Matthias Wissmann Simon Wittmann
Dagmar Wöhrl
Michael Wonneberger Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach Cornelia Yzer
Wolfgang Zeitlmann Wolfgang Zöller
F.D.P.
Ina Albowitz
Dr. Gisela Babel
Hildebrecht Braun
Günther Bredehorn Jörg van Essen
Dr. Olaf Feldmann Gisela Frick
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich
Rainer Funke
Hans-Dietrich Genscher Dr. Wolfgang Gerhardt Dr. Helmut Haussmann Ulrich Heinrich
Walter Hirche
Dr. Burkhard Hirsch Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Ulrich Irmer
Dr. Klaus Kinkel
Detlef Kleinert Roland Kohn
Dr. Heinrich L. Kolb Jürgen Koppelin
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann Heinz Lanfermann
Sabine LeutheusserSchnarrenberger Uwe Lühr
Jürgen W. Möllemann Günther Friedrich Nolting
Dr. Rainer Ortleb Lisa Peters
Dr. Klaus Röhl
Helmut Schäfer Cornelia Schmalz-Jacobsen Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Dr. Irmgard Schwaetzer Dr. Hermann Otto Solms Dr. Max Stadler
Carl-Ludwig Thiele Dr. Dieter Thomae Jürgen Türk
Dr. Wolfgang Weng
Enthalten
F.D.P.
Dr. Karlheinz Guttmacher
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Ich komme nun zu unserem Tagesordnungspunkt 7 zurück und erteile dem Abgeordneten Karl-Josef Laumann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jeder in diesem Hohen Haus, aber auch in unserer Gesellschaft weiß, daß es zu den überzeugendsten sozialpolitischen Leistungen der Regierung Helmut Kohl und des Bundesarbeitsministers Norbert Blüm gehört, daß wir trotz erheblicher Widerstände die Sicherung gegen das Pflegerisiko durchgesetzt haben. Deshalb ist auch klar, daß Regierung und Koalitionsfraktionen rechtzeitig einen Antrag in den Bundestag einbringen werden, um die zweite Stufe der Pflegeversicherung umzusetzen, wie wir das in der vergangenen Wahlperiode vereinbart haben. Die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen, ja die Menschen in unserem Land können sich da auf uns verlassen.
Aber gestatten Sie mir auch noch ein Wort zur ersten Stufe. Anfängliche Schwierigkeiten, die angesichts einer völlig neuen Versicherung eigentlich niemanden überraschen dürfen, haben leider über einige Zeit die öffentliche Diskussion überschattet. Nach acht Monaten können wir aber gemeinsam feststellen, daß jetzt über eine Million Pflegebedürftige Leistungen der Pflegeversicherung erhalten: Einer Million Menschen, die vorher häufig auf sich allein gestellt waren, wird jetzt geholfen. Das ist eine gute Bilanz. Herr Dreßler, wie man dann davon sprechen kann, daß es uns in den Koalitionsfraktionen nicht um die Pflegebedürftigen gehe, kann ich wirklich nicht verstehen. Das geht etwas zu weit.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Dreßler?
- Das stellen wir gleich fest.
Herr Dreßler, bitte schön.
Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich denjenigen in Ihrer Fraktion und in der Fraktion der F.D.P., die ununterbrochen neuen Sozialabbau fordern, bis die zweite Stufe der Pflege eingeführt wird, diesen Vorwurf gemacht habe, daß ich aber Sie und auch jene Ihrer Kolleginnen und Kollegen, die sich immer für die zweite Stufe eingesetzt haben - die gibt es ja auch noch -, damit nicht gemeint habe?
Sind Sie zweitens bereit, sich meiner Auffassung anzuschließen, daß diejenigen, die pausenlos Pflegebedürftige gegen Kranke ausspielen, wie es jetzt zum Beispiel beim Lohnfortzahlungsgesetz der Fall ist, den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen einen Tort antun?
Herr Dreßler, auch diejenigen, die sich Gedanken darüber machen, wie wir den Sozialstaat finanzierbar halten - wir wissen alle, daß wir ihn nur mit vielen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen finanzierbar halten -,
sorgen mit uns gemeinsam dafür, daß auf Dauer soziale Leistungen wie die der Pflegeversicherung finanzierbar sind.
Deswegen lasse ich hier eine Spaltung nicht zu. Natürlich bin ich über Veränderungen in der Lohnfortzahlung nicht begeistert; dazu kennen wir uns gut genug. Aber es darf in einer Diskussion in einem Parlament auch keine Tabus geben. Man muß das in der Sache miteinander austragen können.
Aber daß wir in der Gesamtheit unsere Sozialversicherungen finanzierbar halten müssen - 40 Prozent Nebenkosten auf jede menschliche Arbeitsstunde sind wahrlich eine ganze Menge -, muß man doch auch zugeben. Deswegen ist der Vorwurf nicht gerechtfertigt, daß diese Kolleginnen und Kollegen den Pflegebedürftigen in unserem Land nicht helfen wollten.
Meine Damen und Herren, ein weiterer Punkt ist mir heute auch wichtig. Skeptiker, die gesagt haben, die erste Stufe der Pflegeversicherung sei mit einem Beitragssatz von 0,7 Prozent nicht solide zu finanzieren, sind heute widerlegt. Die zu erwartenden 12 Milliarden DM reichen aus, die erste Stufe abzudecken. Mit der häufig umstrittenen Kompensation für die Wirtschaft - darüber haben wir gerade schon gesprochen - hat die Koalition politisches Neuland betreten. Wir haben damals mit unserer Forderung Ernst gemacht, die Wirtschaft durch neue soziale Maßnahmen nicht weiter zu belasten, sondern einen Ausgleich zu suchen.
Ich gebe ganz offen zu, daß mir persönlich der Wegfall eines Feiertages nicht besonders gut gefallen hat. Wir sollten mit unseren Feiertagen, die Ausdruck unserer Religion, unserer Kultur und unserer geschichtlichen Entwicklung sind, nach meiner Auffassung sehr vorsichtig umgehen. Andere Kompensationslösungen wie etwa der Verzicht auf einen Urlaubstag hätte ich viel lieber gesehen. Aber dies war ja leider nicht durchzusetzen.
Der Sachverständigenrat hat in seinem Gutachten festgestellt, daß bei der Einführung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung ein Restbedarf an Kompensation von 24 bis 29 Prozent besteht. Dies bedeutet erst einmal ganz sachlich, daß die erste Stufe der Pflegeversicherung mehr als kompensiert ist. Zweitens bedeutet dies, daß die Abschaffung
Karl-Josef Laumann
eines weiteren Feiertages eine Überkompensation wäre.
Aber, meine Damen und Herren, es ist auch wahr, daß in der heutigen Zeit eine Ausweitung sozialer Leistungen äußerst schwierig ist. Dies spüren wir, so glaube ich, über Fraktionsgrenzen hinweg. Wir können nicht wie in den 70er Jahren bedenkenlos draufsatteln; wir müssen umbauen, um Neues wie die zweite Stufe der Pflegeversicherung verantworten zu können.
Im übrigen gilt dies, glaube ich, auch unabhängig von der Pflegeversicherung.
Die Opposition diffamiert diese Anstrengungen - und Sie, Herr Dreßler, haben das eben auch wieder getan - pauschal als Abbau des Sozialstaates. Soziale Kälte, Unbarmherzigkeit gegenüber den Schwachen, ungerechte Bevorzugung der Arbeitgeber - so lauten die Schlagworte.
Dabei geht es nicht darum, der Menge der Arbeitnehmer etwas zu nehmen, um es den einzelnen Unternehmern zu geben. Wer Wirtschaftspolitik so versteht, versteht nach meiner Auffassung nichts von der Wirtschaftspolitik. Vielmehr kommt es darauf an, im Interesse der Arbeitnehmer menschliche Arbeit in Deutschland bezahlbar zu halten. Dazu haben wir alle, wir in der Politik, Verantwortung zu tragen.
Nicht derjenige ist der beste Sozialpolitiker, der zuerst feststellt, daß alles so bleiben muß, wie es ist, und daß man draufsatteln kann, sondern derjenige, der Wichtiges von Unwichtigem, Verzichtbares von Unverzichtbarem trennt und bei knappen Mitteln am Menschen orientierte Schwerpunkte setzt. Der geht verantwortungsvoll mit dem Sozialsystem und mit der Schaffung neuer Spielräume für neue Notwendigkeiten um.
Ich glaube, meine Damen und Herren von der Opposition, in der Theorie werden wir in diesem Hohen Haus sicherlich zu einer Einigung kommen. Aber wie sieht das eigentlich in der Praxis aus? Bisher haben Sie zu allen Vorschlägen der Koalition nein gesagt. 1994 ist im Vermittlungsausschuß von den Bundesländern verbindlich zugesagt worden, daß sie die Investitionskosten in den Pflegeheimen übernehmen. Viele Länder, vor allen Dingen die SPD-bestimmten Länder, entziehen sich ihrer Verantwortung und wollen sich bei der Übernahme der Bau- und Unterhaltungskosten der stationären Pflegeeinrichtungen drücken.
Dies ist ein schäbiges Verhalten der Bundesländer.
Auf dem Rücken der betroffenen Pflegebedürftigen wird hier der Versuch unternommen, die durch jahrelange sozialdemokratische finanzielle Mißwirtschaft zerrütteten Landesfinanzen zu retten.
Hier trifft der Vorwurf wirklich zu, daß auf Kosten der Pflegebedürftigen gespart wird. Die Konsequenz des absprachewidrigen Verhaltens ist, daß Pflegebedürftige zum Beispiel in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Hessen mit bis zu 900 DM höheren Pflegesätzen als in anderen Bundesländern leben müssen. Bis zu 900 DM monatlich mehr bedeutet, daß der Eckrentner - wir unterhalten uns hier über eine Rente von unter 2 000 DM - trotz der Einführung der Pflegeversicherung nicht aus der Sozialhilfe herauskommt.
Das zum Beispiel von der von SPD und Grünen gebildeten Landesregierung in Nordrhein-Westfalen vorgeschlagene Pflegewohngeld ist ein ausgemachter Etikettenschwindel. Wieder werden Einkommens- und Vermögensverhältnisse geprüft, werden alte Menschen nach lebenslanger Arbeit weiterhin auf eine nur anders genannte Sozialhilfe angewiesen sein, wird derjenige, der in Form einer Lebensversicherung für sein Alter vorgesorgt hat oder eine höhere Rente erhält, auf den Investitionskosten schlicht und ergreifend sitzengelassen. Dies widerspricht Wort und Geist der im Vermittlungsausschuß getroffenen Vereinbarung.
Ich fordere daher die Bundesländer auf, sich vorbehaltlos an die Ergebnisse des Vermittlungsausschusses zu halten. Ohne das Vertrauen darauf, daß Absprachen, die in diesem Gremium getroffen worden sind, auch von allen Seiten eingehalten werden, ist nach meiner Auffassung der Föderalismus gefährdet.
Die SPD-Bundestagsfraktion fordere ich auf, auf ihre Länderkollegen einzuwirken, ihren Teil der Vereinbarungen endlich zu erfüllen.
Denn es steht die Glaubwürdigkeit der gesamten Politik auf dem Spiel. Wenn die Menschen in diesem Lande nach jahrelanger Diskussion über die Pflegeversicherung den Eindruck gewinnen müssen, daß sich für sie nichts geändert hat, daß ein großer Prozentsatz der Pflegebedürftigen in Heimen trotz der Pflegeversicherung immer noch auf Sozialhilfe angewiesen ist, schaffen wir Politik- und, was noch viel schlimmer ist, Staatsverdrossenheit. Und das liegt daran, daß die Länder sich weigern, ihre im Vermittlungsausschuß gegebenen Zusagen einzuhalten. Ich sage noch einmal: Das ist eine ganz große Sauerei!
Die Länder müssen wissen, daß es ohne die Übernahme der Investitionskosten nur schwer zu verantworten wäre, die zweite Stufe in Kraft zu setzen. Wir sollten uns gut überlegen, wann wir unser letztes Druckmittel, nämlich die zweite Stufe in Kraft zu setzen, gegenüber den Bundesländern aus der Hand legen.
Trotz aller aufgezeigten Differenzen - das sage ich Ihnen ganz deutlich - freue ich mich auf die Debatte
Karl-Josef Laumann
im Ausschuß, die wir sicherlich zur zweiten Stufe der Pflegeversicherung haben werden. Meine Fraktion und ich werden ganz klar zu dem stehen, was abgemacht ist. Die zweite Stufe muß kommen, sie wird kommen, und sie wird auch zeitgerecht kommen.
Aber die Länder müssen auch die Investitionskosten so, wie sie gesagt haben, übernehmen.
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Es kann doch nicht in unserem Sinne sein, daß am Ende derjenige, der in seinem Leben ein ganz normales Einkommen gehabt hat, der nach 45 Jahren die Eckrente hat, nur deshalb, weil die Länder ihre Absprache nicht einhalten, die Investitionskosten nicht selber finanzieren kann, in der Sozialhilfe bleibt, und die anderen, die darüber liegen, haben dann eine Erbschaftssicherungsversicherung. Dafür haben wir es doch nicht getan.
Deswegen sage ich noch einmal, daß die Bundesländer auch eine Mitverantwortung dafür haben, ob die zweite Stufe so funktioniert, wie wir uns das vorstellen, oder ob sie zu einem großen Teil eine Entlastungsversicherung für die Städte und Gemeinden wird.
Ich glaube, die Sozialpolitiker im Bundestag müssen in dieser Frage wirklich gegenüber ihren Landeskollegen sehr deutlich vorgehen, und da ist das, was teilweise überlegt wird, nicht in Ordnung. Deswegen sage ich zu dem Land, in dem ich mich am besten auskenne: Das, was sich die nordrhein-westfälische Landesregierung einfallen ließ, nämlich ein Pflegewohngeld einzuführen, wieder Einkommen zu prüfen, wieder die Leute in eine anders genannte Sozialhilfe zu drängen, entspricht nicht dem, was diese Landesregierung im Vermittlungsausschuß durchgesetzt hat.
Ich bin auch nicht bereit, mir von den gleichen Fraktionen, nämlich SPD und Grüne, die in den Ländern die Verantwortung dafür tragen, daß Pflegebedürftige auf den Investitionskosten sitzengelassen und abkassiert werden, soziale Kälte vorwerfen zu lassen. Sie sollten einmal vor Ihrer eigenen Haustür kehren und dafür sorgen, daß das eingehalten wird, was Sie zugesagt haben.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Andrea Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Selbstverständlich ist Kollege Laumann der letzte, dem wir hier soziale Kälte unterstellen würden. Der Kollege Dreßler hat sich eben ja schon ausführlich auf die Ergebnisse des Sachverständigengutachtens zur Kompensation der zweiten Stufe der Pflegeversicherung bezogen.
Mir ist ein Punkt aufgefallen, zu dem ich einmal die Freunde des freien Wettbewerbs von der F.D.P. fragen möchte. Das fand ich doch einen sehr interessanten Hinweis. Das Sachverständigengutachten sagt:
Eine Kompensationslösung kann nicht gewährleisten, daß alle Unternehmen in gleichem Maße entlastet werden, wie sie zunächst durch Beitragszahlung belastet worden sind.
Es kommt dann sogar zu der Befürchtung:
... so schließt dies nicht aus, daß der Ausgleich für manche Unternehmen unzureichend ist, während bei anderen sogar eine Überkompensation bewirkt wird.
Es kommt also zu Verschiebungen in der Wettbewerbskraft, die auf Dauer auch strukturelle Anpassungen erforderlich machen können.
Frau Kollegin Babel, teilen Sie meine Befürchtung, daß damit eine Kompensation der zweiten Stufe der Pflegeversicherung durch einen weiteren Feiertag am Ende zu einem Eigentor werden könnte, weil sie Wettbewerbsfolgen hätte, die sicherlich auch Ihnen nicht recht sein können?
Dann möchte ich noch eine grundsätzliche Anmerkung machen. Jeder Zweig der Sozialversicherung, auch die Pflegeversicherung, kann nur bewahrt und weiterentwickelt werden, wenn er Zustimmung findet. Nun ist es schon bei der Einführung der Pflegeversicherung so gewesen, daß die Feiertagsdebatte, diese unselige Debatte, alle Fragen der Qualität hintangestellt hat und auch dazu geführt hat, daß der Fortschritt, der in der Einführung einer Pflegeversicherung lag, für die Leute kaum noch erkennbar war.
Das heißt, dabei ist auch eine Chance verspielt worden, um die Bereitschaft zu werben, sich daran zu beteiligen. Diese Bereitschaft müssen wir immer wieder neu erringen, denn es gibt natürlich viele Menschen, die denken: Mich wird es nicht treffen; ich mag da nicht mitmachen. Statt dessen ist mit dieser ungleichen Verteilung der Lasten großer sozialer Unfrieden herbeigeführt worden.
Es hat mich so beeindruckt, Herr Minister Blüm, daß ich jetzt zum zweitenmal aus Ihrem Beitrag, den ich heute in der Zeitung lesen konnte, zitieren möchte:
Der Kontrakt zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern: Von dem, was wir gemeinsam erwirtschaften, geben wir soviel ab, wie die Kranken, Alten, Arbeitslosen brauchen. Der Konsens begründet die hälftige Aufbringung der Sozialversicherungsbeiträge und die Zusammenarbeit
Andrea Fischer
der Sozialpartner in der Selbstverwaltung der Sozialversicherungszweige.
Ein kostbares Erbstück unserer sozialstaatlichen Kultur!
Ich bin ja konservativ, und ich denke, kostbare Erbstücke hält man in Ehren, anstatt sie in den Mülleimer zu werfen, wenn sie der Verwandtschaft nicht gefallen.
Ich glaube, es wäre verheerend, noch einen weiteren Feiertag zu streichen, und zwar nicht, weil es eine objektive, in Prozentzahlen meßbare Grenze für Solidarität gibt, sondern weil die Belastungsgrenze, von der soviel die Rede ist, auch eine Frage des politischen und gesellschaftlichen Klimas ist.
Ohne daß ich mich für eine Erhöhung der Beitragssätze aussprechen möchte, will ich nur darauf hinweisen, daß in den Niederlanden ohne große politische Verwerfung der Beitragssatz deutlich höher ist als bei uns. Das heißt, wer die Lasten der Pflegeversicherung so ungerecht verteilt, wie das jetzt der Fall ist, und wer diese Ungerechtigkeit sogar mit der Streichung eines weiteren Feiertages verstärken würde, bringt die Pflegeversicherung stärker in Gefahr, als eine Beitragssatzerhöhung es je könnte. Deswegen stimmen wir dem Gesetzentwurf der SPD zu.
Ich will noch etwas zu der Frage sagen, ob die Leute das Gefühl haben, daß die Pflegeversicherung für sie ein großer Fortschritt ist. Heute morgen hat die „Lebenshilfe" in Bonn mit der „Blauen Karawane" eine Aktion gemacht, in der sie auf die Schwierigkeiten aufmerksam gemacht hat, die sie für das Leben von Menschen mit Behinderungen befürchten. Dort haben wir mit Menschen gesprochen, die große Angst davor haben, daß durch das völlig ungeklärte Verhältnis von Eingliederungshilfe und Pflegeversicherung die Bedingungen des Lebens, der Betreuung, der Assistenz von Menschen mit Behinderungen, insbesondere von Menschen mit geistigen Behinderungen, verschlechtert werden. Diesen Konflikt müssen wir ganz dringend lösen, denn sonst teile ich die Sorge der Menschen mit Behinderungen, ihrer Angehörigen, ihrer Betreuer und ihrer Assistenten und auch die Sorge der bayerischen Sozialministerin Stamm, daß die Zukunft der Einrichtungen und der familienentlastenden Dienste durch dieses ungeklärte Verhältnis in Gefahr ist.
Es gibt sicherlich gute Gründe, die Leistungen der Pflegeversicherung einzugrenzen, auch mit Blick auf die Kosten. Aber das darf man nur tun, wenn man vorher sichergestellt hat, daß sich die Sozialhilfeträger nicht auf Kosten der Pflegeversicherung aus der Verantwortung stehlen.
Deswegen appelliere ich noch einmal an Sie, daß wir bald daran arbeiten, diese Abgrenzung zu klären, damit die behinderten Menschen keine Angst mehr haben müssen. Auch damit können wir dazu beitragen, daß die Menschen in Deutschland sicher sind, daß es sich lohnt, sich auch finanziell an der Pflegeversicherung zu beteiligen. Das wäre, glaube ich, ein großer Fortschritt, und wir könnten diese unselige Feiertagsdebatte endlich beenden.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gisela Babel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die SPD beantragt ein unverzügliches Inkraftsetzen der zweiten Stufe der Pflegeversicherung ohne Kompensation. Für die F.D.P. sage ich unmißverständlich nein.
Die zweite Stufe der Pflegeversicherung tritt erst in Kraft, wenn die Kompensation auf dem Tisch liegt, vorher nicht. Dieser Streit war vorhersehbar. Damals waren wir uns einig -
- Herr Dreßen, mir scheint, daß Sie das ausblenden, Sie haben es ja mitunterschrieben -, daß es eine Kompensation geben müsse, daß sie also das ausgleicht, was an Belastungen für den Arbeitgeber durch die Pflegeversicherung entsteht. Darüber waren wir uns alle einig.
Nicht einig waren wir uns darüber, ob als auszugleichende Kompensation ein Tag, Urlaub oder Feiertag, genügt - damals war das noch die Auffassung von BMA und SPD - oder ob es zwei Tage sein müssen. Das war die Auffassung der F.D.P. Weil wir uns in dieser Frage nicht einigen konnten, haben wir gesagt: Es soll zunächst in der ersten Stufe ein Tag abgeschafft werden, und wir wollen dann für den Herbst 1995 das Sachverständigengutachten einholen, in dem das bewertet werden soll. Wir haben uns auch darauf geeinigt, daß das Votum des Sachverständigengutachtens von allen akzeptiert wird. Meine Damen und Herren, das war also der Schlichter, den wir zusammen eingesetzt haben.
Die blasse Hoffnung, die Beurteilung könne eindeutig ausfallen und der Kompensationsbedarf in Ganztagesschritten vorgeschlagen werden, blieb natürlich unerfüllt. Das konnten wir uns fast vorstellen. Ein Tag reicht nicht aus, zwei Tage sind nicht notwendig. So ein Mittelding, ein halber Tag oder in Geld ausgedrückt: 2,5 bis 3 Milliarden DM, ist erforderlich. Das besagt das Sachverständigengutachten.
Frau Fischer, ich gebe Ihnen völlig recht, aus den Erfahrungen, die wir gemacht haben, waren wir uns alle einig, daß das der Weg sein sollte. Das wollen wir nicht verkennen. - Sie waren damals noch nicht im Bundestag. - Wir waren uns einig, daß es ein Feiertag und nicht ein Urlaubstag sein sollte.
Dr. Gisela Babel
Die Erfahrung, die wir mit der Abschaffung des Feiertages gemacht haben, hat gezeigt, daß das ein Weg ist, den wir heute vielleicht sogar gerne ungeschehen machen würden.
Er war nicht besonders überzeugend. Die Leute haben das nicht verstanden.
Aber eine zweite, noch blassere Hoffnung hat auch noch getrogen, nämlich daß sich die SPD an das Votum binden würde, wenn es weiteren Kompensationsbedarf für nötig hält.
Es war vorauszusehen, daß Sie in eine Mäkeldebatte eintreten und an diesem und jenem Anstoß nehmen würden.
Meine Damen und Herren, der SPD paßt das Urteil des Sachverständigenrates nicht, und sie will sich aus der gemeinsamen Verantwortung herausstehlen.
Meine Damen und Herren, so leicht dürfen Sie es sich nun nicht machen. Wir haben uns darauf verständigt, daß wir unsere Maßnahmen nach dem ausrichten, was die Sachverständigen als Votum herausgeben. Und wir haben im § 69 Abs. 4 festgeschrieben, daß, wenn es nicht ganze Tage sind, wie dort vorgesehen ist, über den gesetzgeberischen Bedarf 1995/96 entschieden werden soll. Das steht da wunderbar drin. Insofern waren wir durchaus vorausschauend in dem, was wir da machen.
Meine Damen und Herren, die Frage der Vereinbarungen gibt mir hier schon auch noch Anlaß, auf das einzugehen, was auch Herr Laumann gesagt hat: Ich war bei den Verhandlungen mit dem Bundesrat dabei, und, Herr Dreßler, Sie waren es auch.
Wir haben alle zusammengesessen, und wir waren uns einig, daß die Länder keine bundesgesetzliche Verpflichtung auferlegt bekommen können. Aber sie haben sich eigenverantwortlich bereit erklärt, die Investitionskosten, die notwendig sind, zu übernehmen, um das Ziel zu erreichen, daß Sozialhilfeempfänger nach Einführung der Pflegeversicherung aus der Sozialhilfe herausfinden können.
Sie und Ihr neuer Parteivorsitzender Oskar Lafontaine unterlassen das. Das ist doch schmählich! Diese Bringschuld wird nicht erbracht. Dann, denke ich, sind Sie die allerletzten, die sich hier hinstellen und sagen können: Wir wollen die zweite Stufe der Pflegeversicherung. Das geht so nicht.
Meine Damen und Herren, Kompensation, wie sie gemeint war und von der F.D.P. auch immer so verstanden war, wird nur dann erreicht, wenn die Arbeitgeber unmittelbar entlastet werden und wenn Einsparungen in den sozialen Sicherungssystemen in direkte Beitragssenkungen umgemünzt werden. Das habe ich im Sommer bereits unmißverständlich gesagt.
Von Rechentricks, Luftbuchungen, Schönrednereien, wie wir sie jetzt wieder zur Genüge erleben, haben wir genug. Auf vage Zusagen - wir wollen einmal sparen, aber wann, wo und wie, wissen wir noch nicht so genau - können wir uns bei dieser Frage bestimmt nicht einlassen.
Wir haben in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben, daß zur Sicherung des Standortes Deutschland die Lohnnebenkosten gesenkt werden müssen. Wir haben da auch hineingeschrieben, daß das ein Vorhaben ist, an dem sich alle beteiligen müssen: die Betriebe, die Tarifpartner und eben auch die Politik.
Ich stelle die Kompensation des Arbeitgeberanteils auch bewußt in den Zusammenhang des gesamten Spektrums, denn die Kompensation hatte ihren Grund: Wir wollten nicht weiter die Lohnnebenkosten ohne Ausgleich steigern. Dieses Gesamtkonzept muß die Bereiche Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung, Rentenversicherung und sicher auch Lohnfortzahlung in sich fassen, zumindest in der Prüfung.
Dieses Gesamtkonzept besagt aber nicht, daß die Kompensation des Arbeitgeberanteils ein kleiner, beliebiger und verschiebbarer Rechnungsposten sein darf. Wir müssen vielmehr sicherstellen, und zwar politisch, daß erkennbar bleibt, welche konkreten Schritte zur Entlastung der Wirtschaft für die Beitragsmehrbelastung mit den Kosten der Pflegeversicherung vereinbart sind. Es muß klar sein, wie wir dieses Ziel erreichen.
Meine Damen und Herren, ich möchte vermeiden, daß wir bei der zweiten Stufe der Pflegeversicherung wieder in dieselben quälenden Debatten eintreten, die wir damals führten.
Ich möchte auch vermeiden, daß die Bürger, Städte und Kreise wieder verunsichert werden, ob die zweite Stufe der Pflegeversicherung, wie geplant, vom Stapel läuft.
Aber ich will auch unmißverständlich erklären, daß man sich auf das vereinbarte Gesamtpaket verlassen
Dr. Gisela Babel
muß: vollständige Kompensation des festgestellten Bedarfs.
Dieser Bestandteil des Pflegekompromisses darf nicht untergehen, und das ist kein vernachlässigbarer Posten im Rahmen der notwendigen Diskussion über die Senkung der Lohnnebenkosten. Das Junktim zwischen Inkrafttreten der zweiten Stufe der Pflegeversicherung und der Sicherstellung der Kompensation muß erhalten bleiben.
Gefordert sind also Vorschläge vom Bundesarbeitsminister und eine Verständigung über diese Vorschläge. Dann kann hier zügig gehandelt werden. Ich stimme aber auch zu, daß mit demselben Nachdruck das eingefordert werden sollte, was die Länder in diesem Bereich zu tun haben.
Ich bedanke mich.
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Dreßler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich weiß nicht, ob es irgend etwas hilft;
aber man soll jedenfalls den Versuch nie beenden. Ich sehe mich veranlaßt, ein paar Klarstellungen für das Protokoll vorzunehmen, damit die Legende von Frau Babel hier nicht weitergestrickt wird.
Erstens. Im Gegensatz zur Behauptung von Frau Babel, sie sei dabeigewesen, war sie nicht dabei; ihr Fraktionsvorsitzender saß am Tisch und hat verhandelt, nicht sie.
Zweitens. Im Gegensatz zu der Behauptung von Frau Babel, das Sachverständigengutachten habe einen Automatismus im Gesetzgebungsverfahren dahin gehend, daß Politik sich verpflichtet fühle, dieses Sachverständigengutachten in seiner Wirkung politisch zu übernehmen, stelle ich fest: Das Gegenteil ist in der Runde, an der Frau Babel nicht beteiligt war, sondern ihr Fraktionsvorsitzender, beschlossen worden.
Drittens. Hätte Frau Babel den Gesetzestext gelesen, dann wüßte sie es. Ich stelle fest: Sie hat ihn nicht gelesen; daher kommen auch ihre merkwürdigen Beweggründe.
Viertens. - Da helfen auch Ihre unqualifizierten Zwischenrufe, Herr Weng, nichts. -
Ich empfehle Ihnen den Gesetzestext. Wenn Sie sich daran halten und endlich wahrnehmen, daß die im Gesetzestext verlangten Dinge erfüllt sind,
dann stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu, und verunsichern Sie nicht weiter die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen.
Den lieben Kollegen von der F.D.P. wollte ich sagen: Wort erteilen, hinsetzen, das darf nur ich hier oben anordnen.
Jetzt ist aber die Kollegin Babel an der Reihe.
Herr Kollege Dreßler, ich bleibe bei dem, was ich gesagt habe. Ich will mich jetzt nicht darüber streiten, in welcher Runde was vereinbart wurde. Sie wissen vielleicht besser als viele andere, wie dieser Einigungsweg in vielen Gremien beschritten wurde.
Woran ich mich aber sehr gut erinnere - die Bundesländer saßen am Tisch, und im Vermittlungsausschuß war ich anwesend -, ist, daß wir uns auf diese Verpflichtung der Länder dort geeinigt haben. Das war der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist, daß das Gesetz - wenn Sie es bitte noch einmal lesen - in Abs. 4 klar sagt, daß dann, wenn es nicht zu der Abschaffung von Feiertagen, von ganzen Tagen kommen muß - da war von Feiertagen in der Tat die Rede -, aber ein Kompensationsbedarf bejaht wird, gesetzliche Schritte unternommen werden müssen. Das haben wir dort hineingeschrieben, und das können wir nun nicht hier in
Dr. Gisela Babel
wohlgesetzter polemischer Rede, Herr Dreßler, einfach vom Tisch wischen.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Babel, ich denke, wir alle sind es leid, diese „quälende Debatte" zu führen. Der Kollege Dreßler hat zu Recht darauf verwiesen, daß man sie beenden kann, indem man kurz und bündig dem SPD-Entwurf die Zustimmung gibt.
Im übrigen möchte ich nur darauf verweisen, daß es Ihre Hü-und-hott-Reaktionen innerhalb der Regierungskoalition sind, die das Ganze so quälend machen; denn vor kurzem konnte man ja vom Kollegen Glos von der CSU vernehmen, daß die zweite Stufe der Pflegeversicherung ausdrücklich ohne Kompensation in Kraft treten wird.
Der vorliegende Gesetzentwurf findet die Zustimmung der PDS; denn damit soll ein weiterer Abbau des Sozialstaates begrenzt und indirekt eingestanden werden, daß die Kompensation der Arbeitgeberbeträge für die Pflegeversicherung eine Sackgasse sozialstaatlicher Entwicklung ist. Die von der Bundesregierung als Solidarmodell verkaufte und angepriesene Pflegeversicherung schließt ja gerade eine gleichberechtigte Heranziehung von Arbeitgebern und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bei der Finanzierung der Pflegeversicherung aus. Die Kompensation wird - ich zitiere aus dem Gutachten des Sachverständigenrates zur Einführung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung -:
letztlich auch durch eine Rückwälzung der Arbeitgeberbelastung auf die Arbeitnehmer erreicht, zwar nicht direkt über verminderte Löhne, sondern indirekt über den Wegfall anderer Vorteile, im vorliegenden Fall durch die Streichung von Feiertagen.
Ich zitiere hier gern weiter, auch wenn daraus schon mehrmals zitiert worden ist, weil ich denke, daß Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, diese Zitate nicht oft genug hören können:
Eine Kompensationslösung kann nicht gewährleisten, daß alle Unternehmen im gleichen Maße entlastet werden.
Die Kompensation beruht darauf, daß Vorteile für die Arbeitnehmer entfallen; die damit erreichte Entlastung ist aber von Unternehmen zu Unternehmen sehr unterschiedlich.
Die PDS hatte seinerzeit sowohl gegen das Pflegeversicherungsgesetz als auch gegen eine Kompensation, welcher Art auch immer, gestimmt. Ein wesentlicher Grund dafür war für uns, daß mit der Pflegeversicherung das bestehende Sozialversicherungssystem ausgehebelt werden soll. Das hat Pilotcharakter; leider ist diese' Befürchtung mit den Sparnovellen des Jahres 1995 bestätigt worden.
Die paritätische Finanzierung der anderen Sozialversicherungen soll in Frage gestellt werden. Als erster Schritt wird öffentlich über das Einfrieren der Arbeitgeberbeiträge zur Krankenversicherung nachgedacht. Mit Verweis auf die Pflegeversicherung soll mit der BSHG-Novellierung das Bedarfsdeckungsprinzip beseitigt werden. Die Gefahr, daß neue Prinzipien der Finanzierung und Budgetierung zu Lasten der Betroffenen auch in anderen Sozialversicherungen eingeführt werden, ist nicht von der Hand zu weisen.
Die PDS fordert deshalb als ersten Schritt zur Gestaltung einer wirklichen Sozialversicherung, die Kompensation der Arbeitgeberbeiträge als systemwidrig generell aufzugeben. Schrittweise ist eine bedarfsdeckende, die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung der Betroffenen stärkende Lösung zu schaffen. Notwendige Schritte wären weiterhin die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze entsprechend der Rentenversicherung oder die Einbeziehung der Beamten in die allgemeine Beitragspflicht.
Zugleich wollen wir Sie darauf aufmerksam machen, daß die Bundesregierung erneut ihre Hausaufgaben nicht erledigt hat. Obwohl die Spitzenverbände der Pflegekassen Entwürfe zur Sicherung der vielfältigen Aufgaben bei der Einführung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung vorlegten, sind diese bis jetzt vom BMA nicht bestätigt. Auch der Entwurf der Richtlinie für den sogenannten Härtefall liegt seit längerer Zeit vor. Eine Entscheidung des BMA ist nicht bekannt.
Ähnlich gelagerte Probleme sind beim Pflegemittelkatalog sowie bei der erweiterten Richtlinie zur Begutachtung der Pflegebedürftigkeit in stationären Einrichtungen zu verzeichnen.
Die vielen offenen Fragen lassen daran zweifeln, ob ein größeres Durcheinander noch zu verhindern ist. Ich verweise an dieser Stelle auch auf die noch fehlenden Verordnungs- und Durchführungsbestimmungen.
Als nächster hat der Kollege Gerd Andres das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich denke, zunächst ist eine Replik auf den Kollegen Laumann nötig. Herr Kollege Laumann, wenn Sie hier in Ihrer Rede formulieren - ich wiederhole das sinngemäß, soweit ich mitgehört habe -, daß wir uns - damit meinten Sie die Koalitionsfraktionen - sehr überlegen müßten, ob wir unser Faustpfand der Inkraftsetzung der zweiten Stufe aus der Hand geben, um die Länder zu irgend etwas zu bewegen, und Sie sich im gleichen Atemzuge darüber beschwert haben, wie es im Zusam-
Gerd Andres
menhang mit Sozialhilfe und mit Besitzstandsregelung Auseinandersetzungen zwischen den Ländern, den Sozialhilfeträgern und der Pflegekasse auf Kosten der Pflegebedürftigen gegeben hat, dann halte ich so etwas schlicht und ergreifend für pharisäerhaft. Sie nehmen die Pflegebedürftigen in Geiselhaft, um bestimmte Konstruktionen im Föderalismus durchsetzen zu können oder nicht. Das halte ich für unmöglich, um das ganz schlicht zu sagen.
Der zweite Punkt. Herr Laumann, ich habe es schon gestern in der Aktuellen Stunde erlebt, daß die allgemeine Leidensoperette angestimmt wird. Da wird gesagt: Arbeit muß bezahlbar bleiben; Arbeit darf nicht mehr so belastet werden. Ich möchte Ihnen eine ganz schlichte Frage stellen: Wer regiert denn nun schon seit vielen Jahren in diesem Land? Wer trägt denn die Verantwortung für die Beitragsbelastung der Arbeitnehmerinnen und der Arbeitnehmer und der Wirtschaft in diesem Land? Wer hat denn beispielsweise große Lasten im deutschen Einigungsprozeß schlicht an die Sozialversicherung abgeschoben und sich damit ganz elegant aus der Affäre gezogen?
Wer hat das denn gemacht? Wer trägt denn die Verantwortung dafür, daß wir die höchste Abgaben- und Steuerquote in diesem Land haben? Sie doch! Sie mit Ihren Fraktionen!
Deswegen muß ich Ihnen sagen: Man muß bei der ganzen Kompensationsdebatte auch einmal den Versuch unternehmen, ein bißchen sachlich zu sortieren. Frau Dr. Babel hat recht. Im April des vergangenen Jahres hat der Kollege Dreßler in der Debatte um die Ergebnisse des Vermittlungsausschusses für uns erklärt, daß wir die Streichung eines Feiertages akzeptieren. Das war aber kein allgemeines Bekenntnis zur Notwendigkeit und zur Richtigkeit der Kompensation, - damit Sie sich da überhaupt nicht vertun. Wir haben uns vielmehr nach zwei Vermittlungsverfahren und einem ganz schwierigen Prozeß dazu durchgerungen, weil wir nicht wollten, daß das Projekt Pflege scheitert.
Faktisch bedeutet die Konstruktion von Kompensation, die Sie gemacht haben, daß die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Beitragslast alleine tragen. Das ist Ihr Kompensationsmodell, und das ist das, was Sie wollen. Deswegen muß man in der Diskussion, um die es hier geht, sehr genau darauf aufpassen, daß wir nicht zu weiteren Etappen kommen, auf denen sozusagen ein tragendes Prinzip der Sozialversicherung, nämlich die hälftige Beitragszahlung, von Ihnen Stück für Stück desavouiert und geschliffen wird. Ich sage Ihnen - deswegen haben wir das in unserem Gesetzentwurf so formuliert -: Sie werden uns als ganz erbitterte Gegner solcher Regelungen erleben, und zwar sowohl im Gesundheitsbereich mit der Einfrierung der Arbeitgeberhälfte als auch bei weiteren Kompensationsmaßnahmen im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung.
Dritter Punkt: Wer sich genauer Art. 69 des PflegeVersicherungsgesetzes ansieht, wird feststellen, daß dieser Artikel eine sehr eigenartige Rechtskonstruktion ist. Das, was Sie vorhin in der Diskussion behauptet haben, Frau Dr. Babel, der Gesetzgeber sei beispielsweise zwingend an das gebunden, was der Sachverständigenrat mache, steht in Art. 69 so nicht drin. Das wäre im übrigen auch verfassungswidrig, um es ganz schlicht zu sagen. Das Gutachten soll erstellt werden, es muß bewertet werden, und die Bundesregierung soll erklären, ob die Streichung eines weiteren Feiertages notwendig ist oder nicht. Das steht in den Abfolgen dieses Artikels.
Wenn Sie sich die weiteren Bedingungen ansehen, dann werden Sie feststellen - dazu erschien in der Zwischenzeit eine ganze Reihe von Artikeln in der Fachliteratur -, daß die spannende Frage, ob der Gesetzgeber faktisch durch ein Gutachten des Sachverständigenrates ausgeschaltet werden kann oder nicht, völlig klar beantwortet wird: Nein! Wir haben deswegen in unserem Gesetzentwurf vorgeschlagen, Art. 69 zu streichen, und zwar deswegen, weil der Sachverständigenrat festgestellt hat, daß die Streichung eines weiteren vollen, stets auf einen Werktag fallenden Feiertages zu einer Überkompensation der Leistungen für die stationäre Pflege führt und damit im Grunde genommen nicht notwendig ist.
Ich möchte den Bundesarbeitsminister, der gleich sprechen wird, fragen, was in dieser Koalition eigentlich gilt. Man konnte am Dienstag dieser Woche lesen, daß sich die Koalitionsrunde darauf verständigt hat, die zweite Pflegestufe ohne spezielle Kompensation einzuführen. In einer Agenturmeldung wird darüber hinaus festgehalten, daß Herr Glos, der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe, für die CSU am Dienstag mitgeteilt hat, daß die Koalitionsspitzen vereinbart haben, am 1. Juli 1996 die zweite Stufe ohne eine spezielle zusätzliche Kompensation umzusetzen.
Es heißt weiter: Wie von anderen Teilnehmern verlautet, wurde es in der Runde als nicht glücklich bezeichnet, daß aus den Reihen der Koalition wiederholt laut über Einzelkompensationen nachgedacht wird. Ich nehme an, damit waren die Äußerungen vom Wochenende von Herrn Louven und Frau Dr. Babel gemeint, die die Lohnfortzahlungsdebatte faktisch wieder losgetreten haben, um auf diese Weise die Kompensation erneut ins Gespräch zu bringen.
Herr Solms hat am 28. November 1995 erklärt: Die im Pflege-Versicherungsgesetz vorgesehene Begutachtung durch den Sachverständigenrat hatte ergeben, daß eine weitere Kompensation in Höhe von rund 2,5 Milliarden DM notwendig ist. Die Koalition ist sich vor diesem Hintergrund einig, daß diese Kompensation auch in vollem Umfang erbracht wird. Die Bundesregierung wurde aufgefordert, dazu entsprechende Vorschläge zu machen.
Ich habe eine ganz einfache Frage an den Bundesarbeitsminister. Ich möchte gerne, daß er der deut-
Gerd Andres
schen Öffentlichkeit mitteilt, was stimmt. Ich möchte von ihm wissen, ob er der Auffassung ist, daß für die Einführung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung, also der stationären Versorgung, eine zusätzliche Kompensation notwendig ist oder nicht.
Ich habe hier von Dienstag, 28. November 1995, einen Artikel aus dem „Handelsblatt" mit einem hübschen Photo des Bundesarbeitsministers, versehen mit der Überschrift „Kein Bedarf für weitere Pflegekompensation". Ich fordere den Bundesarbeitsminister auf, dieses Verwirrspiel hier eindeutig zu beenden und zu erklären, daß die zweite Stufe der Pflegeversicherung in Kraft gesetzt werden kann, ohne daß eine zusätzliche weitere Kompensation notwendig ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, darüber hinaus gibt es weitere Fragen, die man klären muß. Am Dienstag war ein Sprecher des Bundesarbeitsministeriums zu vernehmen, der erklärte, ob man für die Inkraftsetzung der zweiten Stufe eine Gesetzesänderung benötige oder ob dies auf dem Verordnungswege gehe, sei noch offen. Ich will für uns erklären - deswegen haben wir das auch in Gesetzesform gegossen -, daß auch wegen der Konstruktionsprobleme, die in Art. 69 des Pflege-Versicherungsgesetzes stecken, eine Gesetzesänderung notwendig ist, die wir in erster Lesung heute auch beraten.
Wer auf die weiteren Elemente unseres Entwurfs eingeht, wird feststellen, daß wir ausdrücklich festhalten, daß der Beitrag künftig je zur Hälfte von Arbeitnehmern und ihren Arbeitgebern zu tragen ist. Auch in diesem Zusammenhang muß eine Frage gestattet sein; ich bitte den Bundesarbeitsminister auch hier, sich eindeutig zu erklären. Wir haben die Situation, daß nach der Einführung der Pflegeversicherung alle Länder einen Feiertag abgeschafft haben, mit einer Ausnahme: das Land Sachsen. Die rechtliche Konstruktion sieht in einem solchen Fall vor, daß die Arbeitnehmer die Beiträge allein bezahlen. Daran kann man auch ersehen, wie das mit dem Äquivalent Feiertag gemeint ist, denn durch eine Feiertagsstreichung tragen die Arbeitnehmer die Belastung faktisch alleine. Deswegen ist die Debatte über die Kompensation oder den Umbau auch ein Stück weit unehrlich. Ehrlich wäre sie, wenn man sagt, wir lasten den Arbeitgebern einen bestimmten Beitrag auf, und dafür müssen wir die Arbeitgeber auf einer anderen Seite entlasten. Dies betrifft aber nur die Arbeitgeber. Man muß dann auch dafür sorgen, daß die Arbeitnehmer dafür nicht die Zeche zu zahlen haben.
Faktisch ist es in Sachsen so, daß die Arbeitnehmer seit 1. Januar dieses Jahres einen Beitrag von 1 Prozent zu leisten haben. Ich würde, weil in Art. 69 des Pflege-Versicherungsgesetzes auch steht, daß eine weitere Überprüfung stattfinden soll, gern wissen, welche Situation sich nach der Einführung der Pflegeversicherung ergibt und wie man gegenüber Ländern reagiert, die sich zu anderen Maßnahmen entschlossen haben. Der Bundesarbeitsminister weiß, daß die Gewerkschaften hinsichtlich des Landes Sachsen in der Zwischenzeit Verfassungsklage eingereicht haben, weil die Gewerkschaften der Auffassung sind, daß hier ein gravierender Tatbestand der Ungleichbehandlung vorliegt. Es wäre sicherlich interessant und spannend, dazu eine offizielle Bewertung zu erhalten.
Eine weitere Bemerkung, Herr Kollege Laumann - da will ich gar nicht ausweichen; ich sage das so, wie ich es meine, und Sie wissen es auch aus den Ausschußberatungen -: Was mir in den zurückliegenden Wochen und Monaten große Sorgen gemacht hat, ist, daß wir im Zusammenhang mit der Einführung und Umsetzung der Pflegeversicherung ein, wie ich finde, schändliches Spiel erlebt haben. Wir haben nämlich erlebt, daß sich die Sozialhilfeträger, die Länder, der Bund, die Pflegekassen jeweils immer mit einem schönen Schwarzer-Peter-Spiel darum gestritten haben, wer was zu leisten hat. Das Bedauerliche in diesem Zusammenhang war, daß das immer zu Lasten und auf den Knochen der betroffenen Pflegebedürftigen und Behinderten stattgefunden hat.
Wir müssen als Bundesgesetzgeber dringend darauf achten, daß solche Tatbestände nicht weiter um sich greifen. Für die SPD-Bundestagsfraktion will ich ganz ausdrücklich sagen, daß wir der Auffassung sind, daß die Länder die zugesagten Investitionsleistungen, die sie aus der Einsparung der Sozialhilfe finanzieren sollen, auch erbringen müssen.
Ich will als Schlußbemerkung folgendes sagen: Wir erleben momentan eine heftige Auseinandersetzung um die Abgrenzung zwischen Bundessozialhilfegesetz und Pflege-Versicherungsgesetz. Wir erleben, daß die Fragen, die nichts mit der Hilfe zur Pflege, sondern etwas mit den Integrationshilfen des BSHG zu tun haben, hinsichtlich der Abgrenzung zu ganz schwierigen Problemen führen. Ich habe die herzliche Bitte, daß man damit aufhört, in der Art gegenseitiger Schuldzuweisung den Versuch zu unternehmen, das einerseits auf die Länder oder andererseits auf den Bund zu schieben.
Ich glaube, es ist dringend notwendig, daß der Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion, den wir heute eingebracht haben, in den nächsten Wochen schnell beraten und dann auch hier verabschiedet wird, damit es Rechtsklarheit gibt. Aber notwendig ist auch, daß wir die eine oder andere Frage, die im Zusammenhang mit der Einführung der stationären Pflege bei der Pflegeversicherung behandelt werden muß, im Ausschuß noch weiter beraten.
Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention erhält der Abgeordnete Laumann das Wort.
Herr Kollege Andres, Sie haben am Anfang Ihrer Rede darauf verwiesen, daß die CDU/CSU seit vielen Jahren regiert
und wir in unserem Land die höchste Steuer- und Abgabenbelastung haben. Ich glaube, unstreitig ist: Daß wir eine so hohe Steuer- und Abgabenlast in unserem Land haben, liegt daran, daß 1990 die Wiedervereinigung stattfand und daß unser Volk eine riesige Aufbauleistung in den neuen Bundesländern solidarisch finanzieren muß.
Ich gebe zu: Natürlich wurde ein Teil der Umstrukturierung der sozialen Absicherung in den neuen Bundesländern, die für die Menschen unbedingt sein mußte, über die Sozialversicherung finanziert.
Ob diese Entscheidung richtig gewesen ist, kann man natürlich zur Diskussion stellen. Aber bitte verstehen Sie auch: Damals mußte schnell gehandelt werden.
Auch wir Sozialpolitiker sind uns darüber im klaren: In beitragsfinanzierten Systemen müssen wir Schritt für Schritt dafür sorgen, daß nur die Aufgaben über diese Systeme bezahlt werden, die durch Beiträge legitimiert sind. Wir haben es bei der Pflegeversicherung doch hinbekommen, daß für die, die zu Hause pflegen, Rentenbeiträge in die Rentenkasse eingezahlt werden. Wir haben also nicht einfach einen Anspruch in der Rentenversicherung geschaffen, sondern durch die Beiträge gegenfinanziert. Auf diesem Weg sollten wir weitergehen. Ich werde auf jeden Fall, solange ich hier mitarbeiten darf, sehr darauf achten, daß nicht mehr gesamtstaatliche Aufgaben von der Sozialversicherung übernommen werden müssen.
Zu einem weiteren Punkt, den ich kurz ansprechen muß: Sie haben gesagt, ich wolle die Pflegebedürftigen als Geisel nehmen, um die Länder zu zwingen, die Zusage der Investitionskosten einzuhalten. Das will ich natürlich nicht. Aber da ich ja weiß, wie das Verhältnis zwischen Bund und Ländern, zwischen den politischen Ebenen ist - jeder schaut, wie er seine Finanzprobleme in den Griff bekommt -, habe ich schon die Sorge: Wenn die Länder beim Inkrafttreten der zweiten Stufe ihre Aufgaben nicht gelöst haben, die Investitionskosten nicht übernommen sind, so daß die Menschen die Investitionskosten aus dem eigenen Portemonnaie zahlen müssen - was ja dazu führt, daß es gerade den Handwerker, den Arbeitnehmer, der 45 Jahre für seine Rente gearbeitet hat, trifft und wir ihn nicht mehr aus der Sozialhilfe bekommen -, dann werden die Menschen nicht den Ländern die Schuld geben. Sie werden sagen: Die Pflegeversicherung, die die da in Bonn gemacht haben, taugt nichts, weil wir trotzdem Sozialhilfe beziehen müssen.
Ich habe die große Angst, daß sich die Landesfürsten dann, wenn die zweite Stufe in Kraft ist, einen Teufel darum scheren, was sie im Bundesrat zugesagt haben. Deswegen verstehen Sie, daß wir in dieser Diskussion sehr darauf achten werden - ich glaube, das werden wir gemeinsam tun -, daß die Länder ihre Bringschuld leisten und sie ihren Teil einhalten, so wie wir unseren Teil einhalten. Ansonsten können wir die Probleme nicht lösen.
Zur Antwort der Kollege Andres.
Lieber Kollege Laumann, ich will ganz kurz erwidern - weil Sie auf meine Rede Bezug genommen haben -: Nach einem Schreiben des Bundesarbeitsministers an die „lieben Kolleginnen und Kollegen" der Unionsfraktion vom 30. August 1995 beläuft sich die Gesamtleistung, die aus den Sozialkassen im Zusammenhang mit der deutschen Einheit von 1991 bis 1995 aufgebracht wurde, auf 106,6 Milliarden DM.
Die zweite Bemerkung: Sie haben das wider besseres Wissen getan. Wir haben in den Diskussionen 1990/1991 immer darauf hingewiesen, daß Sie Lasten, die sich aus dem Prozeß der deutschen Einigung ergeben, unzulässigerweise den Sozialkassen zuschieben.
Das war kein Fehler von Ihnen, Sie haben das ganz absichtlich gemacht.
Sie sagen, das sei eine soziale Finanzierung. Von wegen! Klar ist doch beispielsweise, daß jede Leistung, die von der Bundesanstalt für Arbeit erbracht wird, von den Beitragszahlern finanziert wird, daß aber all diejenigen, die keine Beitragszahler in diesem Sinne sind, von der Solidarität ausgenommen sind. Sie sind gar nicht beteiligt. Deswegen wäre es sinnvoller gewesen, es anders zu finanzieren. Dann gäbe es eine ganze Reihe von Problemen, die wir zur Zeit mit Sozialabgaben und Beitragshöhen haben, nicht.
Für die Bundesregierung hat jetzt das Wort der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die zweite Stufe der Pflegeversicherung muß am 1. Juli 1996 kommen. Das halte ich für unverzichtbar. Eine Pflegeversicherung, die sich auf die ambulante Pflege beschränken würde, wäre eineBundesminister Dr. Norbert Blümhalbe Sache; und halbe Sachen sind schlechte Sachen.Der erste Grund ist: Ohne die zweite Stufe der Pflegeversicherung wäre die erste Stufe beschädigt. Es gibt nämlich viele Übergänge zwischen ambulanter und stationärer Pflege, die auch den unterschiedlichen Lebenslagen entsprechen.Der Kollege Andres hat zu Recht bedauert, daß wir bei der Einführung einen Streit über die Grenze zwischen Sozialhilfe und Pflegeversicherung ausgetragen haben - leider. Die Gefahr besteht, daß wir diese Streitigkeiten auch zwischen ambulanter und stationärer Pflege austragen würden. Was ist Kurzzeitpflege? Ist sie ambulant oder stationär? Was ist Tagespflege? Ist sie ambulant oder stationär? Was ist Nachtpflege? Es gibt - Gott sei Dank - auch Kombinationen zwischen ambulanter und stationärer Pflege. Gerade dieser Zwischenbereich muß, glaube ich, ausgebaut werden. Wir müssen diese grobe Alternative verhindern: entweder daheim allein oder im Heim. Wenn die stationäre Pflege als Ergänzung nicht käme, gäbe es an der Grenze zwischen ambulanter und stationärer Pflege einen Zuständigkeits-, einen Finanzierungskrieg.Ich will einen zweiten Grund nennen. Die Kommunen rechnen fest mit der finanziellen Entlastung. Selbst wenn die Investitionskosten abgezogen werden, haben sie noch eine kräftige Entlastung: 11 Milliarden oder 12 Milliarden DM.
- Sie haben nichts davon gehört. Die eigentliche Entlastung setzt nämlich erst bei der stationären Pflege ein, sehr geehrte Frau Kollegin. Denken Sie nach! Bei der ambulanten Pflege können die Kommunen keine große Entlastung haben, weil die Sozialhilfe dabei nur in sehr beschränktem Maße eine Rolle spielt. Die eigentliche Entlastung setzt bei der stationären Pflege ein, wenn es um die Sozialhilfeempfänger in den Heimen geht.Der dritte Grund ist der Hauptgrund. Wir würden die 450 000 in Heimen Untergebrachten enttäuschen, und sie würden in der Sozialhilfe bleiben. Ich komme auf die Investitionshilfeproblematik noch zurück.Es bestand Übereinstimmung darin, daß die Belastungen der Wirtschaft durch die Pflegeversicherung ausgeglichen werden müssen. Das ist kein Geschenk an die Arbeitgeber für deren Privatkasse; es geht um die Entlastung hinsichtlich der Kosten der Arbeitsplätze. Davon nehme ich kein Jota zurück.Jetzt ist nur die Frage: Führen wir eine Kompensationsdebatte, oder führen wir eine Debatte darüber, wie die Arbeitsplätze hinsichtlich der Kosten entlastet werden müssen? Ich hätte uns eine buchhalterische Debatte über die Kompensation gern erspart! Ich habe die Kämpfe der vergangenen Zeit um Zahlen in schlechter Erinnerung. Frau Babel hat es vorgezogen, eine Kompensationsdebatte zu führen. Nun gut. Wenn es sich nicht verhindern läßt, nehme ich auch an der Kompensationsdebatte teil.
- Doch. Ich will es gerade erklären.
Gegen die Rechnungen des BMA sind ganze Kompanien angerannt: Bisher - darauf bin ich ganz stolz - sind die Rechnungen noch nicht ausgehebelt worden. Da gibt es große Rechenschlachten der Arbeitgeber. Frau Babel, es ist auch behauptet worden - wenn wir schon zurückblicken -, zwei Feiertage seien notwendig. Der Sachverständigenrat hat eindeutig festgestellt - das können Sie nachlesen -: Zwei Feiertage wären eine Überkompensation. Unsere Position war immer: ein Feiertag plus weitere Maßnahmen. Wir hatten uns auf weitere Kompensationsmaßnahmen verständigt. Die Möglichkeit der Einsicht in die Koalitionsvereinbarung besteht; ich schicke sie Ihnen notfalls auch zu. Das geschah in der Koalition, nicht mit mir allein.Daß die Krankenversicherung von Pflegeleistungen in Höhe von 3,7 Milliarden DM entlastet wird, kann nicht bestritten werden. Diese Leistungen wurden bisher von der Krankenversicherung erbracht. Die Hälfte dieses Betrages hat der Sachverständigenrat bei seiner Berechnung den Arbeitgebern angerechnet; das ist auch richtig. Wenn man die Zahlen des Sachverständigenrates auf Gesamtdeutschland bezieht, kommt man auf 3,7 Milliarden DM, von denen die Hälfte der Arbeitgeber zu tragen hat.Darüber, daß die Lohnersatzleistungen wie die Beiträge zur Renten- und Arbeitslosenversicherung, die an das Nettoprinzip gebunden sind, mit der Einführung der Pflegeversicherung sinken, gibt es auch nichts zu streiten. Das ist eine Frage der Mathematik. Hier sind es 220 Millionen DM.Wir haben weiter den Umbau hinsichtlich der fehlbelegten Krankenhausbetten, die Mißbrauchsbekämpfung der Lohnfortzahlung und den Wegfall der Leistungen nach der zehnten Novelle festgelegt. Hier geht es um einige Beträge. Der Sachverständigenrat hat dies - das will ich festhalten - nicht abgelehnt; er hat es nur nicht quantifiziert.Nehmen Sie einmal meine Quantifizierung: Wenn wir uns im Unterschied zu anderen verschätzt hätten - das ist noch nie passiert -, selbst um 100 Prozent, würden wir trotzdem noch eine volle Kompensation erreichen, wobei ich nicht einmal die Entlastung der Sozialhilfe einbeziehe.
Ich wollte keine Kompensationsdebatte führen. Wissen Sie, warum nicht? Ich fürchte nämlich, daß wir dann wieder in den Fuchsbau kommen.
Bundesminister Dr. Norbert Blüm- Die Debatte ist so eröffnet worden. Ich war nicht dafür, muß aber darauf antworten. Ansonsten sähe es so aus, als wären unsere Rechnungen widerlegt worden. Das ist ganz und gar nicht der Fall.
- Ich bin doch gar nicht bös. Ich möchte das nur ganz ruhig erklären.Ich schlage vor, eine Debatte über die notwendigen Entlastungen für die Wirtschaft zu führen. Diese gehen weit über das hinaus, was bezüglich der Kompensation diskutiert wird. Macht es denn Sinn, wenn jemand sagt: Ich habe Anspruch auf 1 DM! und der andere erwidert: Ich will dir 10 DM geben!, dann aber über 1 DM diskutiert wird? Ich halte Entlastungen, die weit über den in Frage stehenden rechnerischen Kompensationsbedarf in der Wirtschaft hinausgehen, für unumgänglich. Ich finde, daß wir es im Moment mit einer Einladung zu einer kleinkarierten Buchhalterdebatte zu tun haben. Etwas anderes fällt mir dazu nicht ein.
Von dieser Sorte haben wir im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung zum Leidwesen der Versicherten ausreichend gehabt.Ich habe die Sozialhilfe als Entlastung noch gar nicht dazugezählt.
Was den Feiertag anbelangt: Am vergangenen Mittwoch habe ich die Proteste der Kirchen wegen des Wegfalls des Buß- und Bettags gehört. Am Donnerstag haben die Arbeitgeber über einen Beitrag in Höhe von 1,7 Prozent für die Pflegeversicherung geklagt. Es kann nur eines von beiden stimmen: Wenn der Feiertag weggefallen und damit zu einem Arbeitstag geworden ist, kann man nicht von 1,7 Prozent Belastung der Wirtschaft reden. Beides geht nicht.
Ich muß wie der Kollege Laumann sagen: Auch ich bedaure den Wegfall des Feiertags. Wir haben aber alles probiert. Ein Karenztag wurde mit bestimmten Gründen abgelehnt. Der Vorschlag bezüglich eines Urlaubstages ist doch nicht an dem Gesetzgeber gescheitert; das ist Sache der Tarifpartner. Beide Tarifpartner haben nein gesagt. Also blieb doch nur der Feiertag.Ich hätte mir, nebenbei gesagt, von den Kirchen nur halb soviel Einsatz für die Pflegebedürftigen gewünscht wie bei den Protesten wegen des Wegfalls des Feiertags am vergangenen Mittwoch. Ein solcher Protest wäre glaubwürdiger gewesen.
Meine Damen und Herren, ich glaube nicht, daß es gut ist, die Debatte in zweiter Auflage rechnerisch zu führen. Ich lade uns alle zu einer großen Anstrengung zur Entlastung der Wirtschaft ein. Wenn ich Wirtschaft sage, dann meine ich die Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Es geht um Arbeitsplätze, nicht um eine Diskussion darüber, ob das nun 2,5 Milliarden DM oder nur 1,7 Milliarden DM sind. Aber wenn Sie, Frau Babel, eine solche Debatte haben wollen, führe ich sie morgens, mittags und abends, zu jeder Tages- und Nachtzeit, die Sie wünschen,
mit den Zahlen der Überkompensation. Selbst wenn ich mich verrechnet habe, ist Ihr Ziel noch immer erfüllt. Ich schlage das aber nicht vor.Ich halte den zweiten Teil für wichtiger - da habe ich eben eine Übereinstimmung festgestellt -: Wenn sich die Länder drücken, dann sollten wir, der Deutsche Bundestag, gemeinsam versuchen, die Sache in Angriff zu nehmen. Darin, Frau Babel, unterstütze ich Sie voll. Im Vermittlungsausschuß sind wir vom monistischen System auf das duale System der Finanzierung umgestiegen mit der Zusage der Länder, sie übernähmen die Investitionskosten. Darin bestätige ich Frau Babel ausdrücklich.Wir wollten Finanzierung aus einer Hand. Alle Länder, A wie B, rot wie nicht rot
- es gibt ja noch andere -, wollten im Planungsgeschäft bleiben. Planungskompetenz, das war der wahre Grund. Sie haben zugesagt, daß sie die Investitionskosten übernehmen. Das war eine Zusage. Rechtlich konnten wir das nicht einfordern; denn dann hätten wir eine Grundgesetzänderung machen müssen. Aber es muß ja auch zwischen Bund und Ländern noch außerhalb von Paragraphen ein verläßliches Wort geben.Ich will einmal vorlesen, wie die Lage ist: BadenWürttemberg hat im Haushalt 70 Millionen DM eingestellt, Bayern 100 Millionen DM, Berlin 109 Millionen DM, Brandenburg 161 Millionen DM - es bekommt, das muß ich hinzufügen, vom Bund 130 Millionen DM -, Bremen ist nicht bekannt, das heißt in diesem Jahr null, Hamburg gibt noch keine Auskunft, Hessen in diesem Jahr 9 Millionen DM
- Hessen unter Herrn Eichel, das will ich schon sagen -, Mecklenburg-Vorpommern 158 Millionen DM, Niedersachsen mit Schröder 12 Millionen DM, Nordrhein-Westfalen 135 Millionen DM, RheinlandPfalz, das im übrigen jetzt ein Gesetz mit besseren Zusagen hat, 10 Millionen DM - ich will ja fair bleiben - und Saarland 3 Millionen DM. Oskar, der neue Vorsitzende, ist in der Verweigerung der Investitionskosten einsamer Sieger.
- Wie auch immer, mehr Investitionskosten als 3 Millionen DM fallen dort mit Sicherheit an. Jetzt
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6528 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995
Bundesminister Dr. Norbert Blümzerstören Sie gerade wieder die neu gefundene Übereinstimmung im Bundestag. Es geht doch jetzt nicht um CDU/CSU, F.D.P. und SPD. Es geht darum, daß die Pflegebedürftigen mit Hilfe der Pflegeversicherung aus der Sozialhilfe herausgeholt werden. Dazu müssen die Investitionskosten rausgerechnet werden. Das werden im Durchschnitt 500 bis 600 DM sein. Diese 500 bis 600 DM Investitionskosten zahlen, wenn sie nicht bezahlt werden, die Pflegebedürftigen.Unsere Rechnung setzt voraus, daß die Pflegesätze sinken, weil die Investitionskosten rausgerechnet werden. Deshalb lade ich die SPD und die Grünen ein
- ja, alle, auch F.D.P. und CDU/CSU; ich bin da gar nicht kleinkariert -, die Länder aufzufordern, das gegebene Wort zu halten. Die Pflegeversicherung ist weder die Sparkasse der Kommunen noch der Sozialhilfe noch der Länder. Die Pflegeversicherung ist eine Versicherung für die Pflegebedürftigen. Das müssen wir gegenüber allen Verweigerern gemeinsam einfordern.
Wir müssen in diesem Sinne zusammenwirken,
um die zweite Stufe zu verwirklichen - ich bekenne mich ausdrücklich dazu, damit niemand meint, ich würde mich vom Spielfeld machen - und eine Sparanstrengung vorzunehmen, die weit über das hinausgeht, was rechnerisch zur Debatte steht, was eine Buchhalterdebatte ergeben würde. Ich kann uns nicht zur zweiten Auflage dieser Debatte ermahnen, sondern muß uns zu einer großen Anstrengung auffordern, die wir ja gemacht haben und die von Auseinandersetzungen begleitet war. Ich muß die Spargesetze, die wir nach der Pflegeversicherung verabschiedet haben und die noch in der Diskussion sind, nicht in Erinnerung rufen. Ich lade alle ein: Laßt die Buchhalterdebatte beiseite! Denkt an die, um die es geht! Die zweite Stufe der Pflegeversicherung muß kommen und wird um der Pflegebedürftigen willen kommen.Ich bedanke mich, daß alle dabei mitwirken.
Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 13/2393 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rita Grießhaber, Dr. Angelika Köster-Loßack, Dr. Helmut Lippelt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kein Import von Kinderspielzeug aus chinesischen Arbeitslagern
- Drucksache 13/3054 —
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zehn Minuten erhalten soll. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Rita Grießhaber.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Während Bundeskanzler Kohl - wohlgemerkt auf eigenen Wunsch - chinesische Militärparaden abschritt und sich als Türöffner für die deutsche Wirtschaft betätigte, beschäftigen wir uns hier mit der Frage, unter welchen Bedingungen ein Teil dieser Waren hergestellt wird, die bei uns so unglaublich billig und attraktiv auf dem Markt angeboten werden.
Wer genau hinschaut, dem tut sich ein Abgrund auf. Über 1 000 Zwangsarbeitslager gibt es in der Volksrepublik China; etwa 8 Millionen Gefangene, darunter viele aus der Demokratiebewegung, müssen in diesen Lagern arbeiten, oft über Jahrzehnte. Sie sind ein Teil dieser scheinbar ach so günstigen Produktionsbedingungen.
Wir importieren und kaufen Waren, von denen wir nicht mit Sicherheit sagen können, ob sie nicht in einem solchen Lager hergestellt wurden. Wie viele Weihnachtsbäume werden mit Schmuck behangen sein, der von verzweifelten Gefangenen hergestellt wurde? Wieviel Spielzeug wird auf den Gabentischen liegen, an dem Blut klebt?
Wir wollen mit unserem Antrag verhindern, daß es solche Waren hier zu kaufen gibt.
Wir fordern die Bundesregierung auf, ein Importverbot für Kinderspielzeug einzuführen, das in chinesischen Arbeitslagern hergestellt wurde.
Nun sind wir ja, was diese Dinge angeht, hier in Deutschland nicht allein handlungsfähig. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auch auf, sich im Rahmen der Europäischen Union für ein solches Importverbot in allen Mitgliedsländern einzusetzen. Die Europäische Union räumt ja bestimmten Entwicklungsländern, darunter auch China, im Handel Zollpräferenzen ein. Allerdings besagt Art. 9 der entsprechenden EU-Verordnung, daß diese Präferenzen
Rita Grießhaber
jederzeit zurückgenommen werden können, wenn es sich bei den Waren um Erzeugnisse handelt, die in Strafanstalten hergestellt werden. Das muß doch erst recht gelten, wenn es sich um Waren handelt, die unter menschenrechtswidrigen Umständen produziert wurden.
China ist der Hauptlieferant für den deutschen Spielzeugmarkt. Natürlich stellen sich die Fragen, welche Spielwaren, die hier auf dem Markt sind, in Arbeitslagern hergestellt werden und wie das festgestellt werden kann. Der Nachweis, welches Spielzeug woher kommt, ist schwierig. Die chinesische Regierung leugnet die Existenz von Straflagern, in denen für den Export produziert wird. Namen der Lager werden gewechselt, Namen der Produkte werden ausgetauscht, und oft werden Teile im Lager produziert und dann an anderer Stelle zusammengebaut. Der Nachweis ist zugegebenermaßen schwierig.
Unsere Fraktion hatte in den letzten Tagen Harry Wu zu Gast. Harry Wu, der chinesische Menschenrechtler mit amerikanischem Paß, der ihm diesen Sommer die Freiheit beschert hat, hat über 19 Jahre seines Lebens in chinesischen Arbeitslagern verbracht. Nach seiner Freilassung 1979 ist er mehrmals nach China zurückgekehrt und hat über das Lagersystem recherchiert, Videos gedreht und Dia-Aufnahmen gemacht. Dabei hat er jederzeit seine Freiheit riskiert.
Das aber scheint unsere Regierung nicht zu interessieren. Geht es doch in China um die Eroberung eines neuen, riesigen Marktes mit ungeahnten Absatzmöglichkeiten. Da abstrahiert man anscheinend gerne von den Bedingungen, unter denen diese Waren hergestellt werden.
Ich frage Sie: Wollen wir wirklich Waren importieren, an denen Blut klebt? Wollen wir unseren Kindern Spielzeug zu Weihnachten schenken, das von Menschen hergestellt wurde, die sich in diesen Lagern einer Gehirnwäsche unterziehen müssen?
Die US-amerikanischen Zollbehörden haben eine Liste von Waren erstellt, die nicht mehr in die USA importiert werden, Waren, von denen die Amerikaner überzeugt sind, daß sie aus Zwangsarbeitslagern stammen. Die Liste mit 24 Produkten und chinesischen Fabrikationsnamen wird als Spitze eines Eisbergs bezeichnet. Wie groß der Eisberg ist, läßt sich nur ahnen. Die Schwierigkeiten sollten uns nicht abschrecken. Im Gegenteil, wir müssen sie als besondere Herausforderung begreifen und tätig werden. Bei entsprechendem politischen Willen wäre die Erstellung einer solchen Liste sehr wohl auch hier möglich.
Für die Bundesregierung bestehen vielfältige Möglichkeiten. Es gibt Ansatzpunkte. China will unbedingt Mitglied im GATT werden. Da bietet Art. 20 GATT/WTO sehr gute Möglichkeiten.
Ich fordere Sie auf: Nutzen Sie diese Möglichkeiten. Wirken Sie darauf hin, daß die sozialpolitischen Anliegen der Internationalen Arbeitsorganisation bei den Beitrittsverhandlungen mit festgeschrieben werden.
Wenn wir mit China Handel treiben, müssen wir uns auch mit den Bedingungen beschäftigen, unter denen der chinesische Markt funktioniert. Ich frage Sie: Wer sind Ihre Verhandlungspartner dort? Militär und politische Funktionäre? Es gibt keine Arbeitnehmervereinigungen. Menschenrechtsorganisationen haben nicht die Möglichkeit einzureisen, um die Produktionsbedingungen zu überprüfen. Darüber muß mit der chinesischen Regierung gesprochen werden.
Unter diesen Bedingungen ist die oft gebrauchte Parole vom „Wandel durch Handel" mehr als fragwürdig. Unsere Wirtschaftspolitik darf sich nicht darauf beschränken, die Menschenrechtsfrage auf eine kleine Liste mit zum Teil zufällig bekanntgewordenen Namen zu beschränken. Gerade Deutschland, das in seiner eigenen Geschichte das Schandkapitel der Konzentrationslager verzeichnen muß, darf als Handlungsreisender zum Straflagersystem in China nicht vornehm schweigen.
In seinem Buch über die Jahre im chinesischen GULag, Laogai genannt, erzählt Harry Wu auch, welche Ähnlichkeiten es gibt: Über deutschen KZs stand die Parole: „Arbeit macht frei", über chinesischen Arbeitslagern steht der Spruch: „Arbeit gibt dir ein neues Leben". Harry Wu beschreibt sehr genau, was diese Umerziehung durch Arbeit bedeutet:
Wer ein Gewissen hat, kann die schrecklichen Verhältnisse in den Lagern nicht mit Schweigen oder Gleichgültigkeit übergehen, denn dadurch wird die brutale Ausbeutung von Millionen unterstützt. Diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit müssen aufhören.
Dem habe ich nur eins hinzuzufügen: Stimmen Sie diesem Anliegen zu.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Erich Fritz.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Frau Grießhaber, dem Anliegen stimmt das Haus sicher zu. Denn nach den vielen Debatten, die im Bundestag über die Menschenrechtssituation in China geführt worden sind, sind wir uns doch einig darüber, daß die Straflager zu dem Teil der beklagenswerten Situation gehören, den wir am meisten verdammen. Die Schilderung der Situation, wie wir sie in den letzten Wochen hier erlebt haben, hat uns plastisch deutlich gemacht, daß dies Ähnlichkeit mit Konzentrationslagern hat, daß das mit rechtsstaatlichen Verfahren nichts zu tun hat und daß es für viele noch nicht einmal die Chance einer Möglichkeit gibt, daß Verfahren stattfinden.
Erich G. Fritz
Die Menschen vegetieren dort unter oft unwürdigen Bedingungen. Das kann uns nicht gleichgültig sein. Es kann uns auch nicht gleichgültig sein, wenn Produkte, die in diesen Lagern hergestellt werden, am deutschen Markt verkauft werden. Produkte, die unter solch menschenunwürdigen Bedingungen hergestellt werden, können Verbrauchern auch beim geringsten Preis keine Freude bereiten. Sie können nicht besser beurteilt werden als etwa Teppiche, die in Kinderarbeit hergestellt werden. Im Gegenteil, sie müssen - da der soziale Druck, der bei Kinderarbeit häufig noch dahintersteckt, nicht vorhanden ist - noch schärfer verurteilt werden.
Wenn man allerdings fragt, wie groß das Problem, das Sie schildern, auf dem deutschen Markt wirklich ist, dann stellt man fest, daß die deutschen Spielwarenimporteure - so meine Recherchen; ich will nicht sagen, daß ich das in der Kürze der Zeit vollständig überblickt habe - überwiegend mit privaten chinesischen Spielwarenproduzenten zusammenarbeiten, daß die Produktionsstätten regelmäßig aufgesucht werden und daß bei keiner dieser Besichtigungen Feststellungen über Zwangsarbeit und über Zwangsarbeitslager gemacht worden sind.
Die chinesischen Spielwarenhersteller sind ein wichtiger Partner für die deutsche Spielwarenindustrie. Die Möglichkeit, auch noch bei uns im Lande solche Produkte herzustellen, hängt zum Teil mit der Zusammenarbeit mit solchen Ländern zusammen. Der Export von Spielwaren stellt im übrigen auch einen Teil der Entwicklungsmöglichkeiten des Entwicklungslandes China dar.
In Ihrem Antrag sprechen Sie von einem Hongkong Toy Center. Ich nehme an, daß Sie damit den Hongkong Trade Development Council meinen. Das ist aber kein Handelshaus, wie von Ihnen dargestellt wurde, sondern ein reines Informationszentrum. Es werden also diese Waren von deutschen Importeuren in Hongkong nicht anonym gekauft, so daß sie gar nicht wissen, wer der Erzeuger ist, sondern es gibt schon die Rückkopplung zu den Betrieben.
Wenn jemand wie Harry Wu auftritt und Aussagen macht, dann läßt uns das nicht gleichgültig, weil ich nicht davon ausgehe, daß sich Harry Wu vor irgendeinen Karren spannen läßt und diese Aussagen nur benutzt, um eine bestimmte Stimmung zu erzeugen. Wenn er sagt, es gebe bei den amerikanischen Zollbehörden Informationen, aus denen man ersehen könnte, welche Produkte in Straflagern hergestellt würden, dann ist es die Sache wert, diesen Dingen nachzugehen, obwohl es schwierig bleibt - das haben Sie auch gesagt, Frau Grießhaber -, zu unterscheiden - -
- Der Lager?
- Es bleibt die Tatsache, daß es schwierig ist, im Einzelfall zu unterscheiden, woher die Produkte kommen.
Deshalb kann man die Angelegenheit auch nicht mit einer moralischen Attitüde allein behandeln. Wenn wir der Sache ordentlich nachgehen wollen, müssen wir uns nun zusammen mit der Bundesregierung, die uns die entsprechenden Informationen zur Verfügung stellen muß, um diesen Sachverhalt kümmern und ihn möglichst korrekt beraten.
Der Antrag selbst, jetzt einmal unterstellt, daß wir dringenden Handlungsbedarf haben, ist insofern in Frage zu stellen, als nicht als erstes die Frage nach einem Verbot von Importen diskutiert werden sollte. Es gibt ja auch Mittel, die staatlichen Maßnahmen vorweggehen: etwa Selbstverpflichtungen - da hat sich die deutsche Spielwarenindustrie schon an vielen Stellen erklärt -, vor allen Dingen aber Verbraucherinformationen, die ja, wie wir wissen, das Verbraucherverhalten sehr deutlich beeinflussen können.
Ein solches Vorgehen setzt detaillierte Kenntnisse voraus, die dann in den Ausschüssen gemeinsam beraten werden müssen. Erst wenn diese Erkenntnisse dann auch offen als Informationen vorhanden sind, kann der Verbraucher reagieren und auf solche Produkte verzichten. Ein solches Vorgehen wäre nach meiner Auffassung bei entsprechenden Voraussetzungen sicherlich ein sehr guter Weg. Schließlich sollten wir nicht immer als erstes nach der staatlichen Keule rufen, wenn auch andere Methoden mit großer Wahrscheinlichkeit zum Ziel führen können.
Anläßlich des Besuches des chinesischen Ministerpräsidenten Li Peng im Juli 1994 in der Bundesrepublik Deutschland haben eine Reihe Kollegen meiner Fraktion auf den jetzt im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zum Ausdruck kommenden Sachverhalt hingewiesen. In dem damals verfaßten Appell heißt es unter anderem:
Wir fordern deutsche Firmen, die mit China handeln, auf, sicherzustellen, daß die von ihnen aus China bezogenen Waren nicht in Sklavenarbeit hergestellt werden. Andernfalls müssen solche Waren von der Bevölkerung boykottiert werden.
Der Antrag, den Bündnis 90/Die Grünen hier vorgelegt hat, wird ja heute nicht entschieden, sondern zur Beratung an die Ausschüsse überwiesen. Ich wäre dankbar, wenn die Bundesregierung für diese Beratungen zusätzliche Informationen vorlegen könnte, die eine differenzierte Beurteilung chinesischer Exporte nach Deutschland möglich machen. In der Zwischenzeit sollten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen aber auch nicht alle Spielwareneinfuhren deutscher Importeure pauschal verdächtigen, wie es zum Teil in den Presseveröffentlichungen durchklang. Allein die Tatsache, daß Sie sagen, es handele sich um 1 Milliarde DM - so war das den Presseberichten zu entnehmen -, läßt ja alles in einem Topf landen, und wir sind uns sicherlich darüber einig, daß nicht das ganze Importvolumen, wenn es denn so ist, aus Straflagern kommt.
Ich sage für meine Fraktion, daß wir dieser Sache ordentlich nachgehen wollen. Ich glaube nicht, daß so viel Sprengstoff darin steckt, wie Sie öffentlich
Erich G. Fritz
dargestellt haben, aber es lohnt sich allemal wegen
des Einsatzes für die Betroffenen und dort Inhaftierten, der Sache mit aller Ernsthaftigkeit nachzugehen.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rudolf Bindig.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In bezug auf China haben wir uns in der letzten Woche mit der Frage beschäftigt, was die Politik tun darf und was sie unterlassen muß, um Außenhandel zu fördern, und wo die Grenzen der Politik sind, wenn es um Außenhandel und Außenwirtschaft geht. Heute behandeln wir die Frage, was Außenhandel und Außenwirtschaft tun dürfen und was sie unterlassen müssen, wenn es um Menschenrechte geht.
Es geht um den chinesischen Archipel GULag, das Laogai-System. Laogai ist die chinesische Variante des Unterdrückungsmechanismus, dessen sich totalitäre politische Systeme bedienen, um politische Dissidenten und Andersdenkende zu eliminieren und zu disziplinieren, um die eigene Macht zu konsolidieren und zu erhalten.
Laogai-Lager - „Reform-durch-Arbeit"-Lager - gibt es in China in verschiedenen Varianten: als Gefängnis, als Lager zur Umerziehung durch Arbeit, als Jugendstrafmaßnahme, als Psychiatriehospital oder als Gefangenenlager, wo Insassen auch ohne jedes Urteil oder nach dem eigentlichen Strafvollzug zur Zwangsarbeit herangezogen werden. Die Menschen dort arbeiten ohne Lohn, sie leiden Hunger, werden geprügelt und gefoltert.
In besonders bösartiger und brutaler Weise sind im Laogai-System die Mißachtung der Menschenwürde und der Menschenrechte mit der Absicht der chinesischen Machthaber verbunden, aus der Ausbeutung von Menschen wirtschaftlichen Nutzen zu ziehen. Waren die Laogai-Lager zunächst in erster Linie Teil des Macht- und Unterdrückungsapparates der Diktatur des Proletariats mit dem Ziel, Menschen zur Arbeit zu zwingen, um sie in neue, „sozialistische" Menschen zu verwandeln, so dienen die LaogaiLager nach den ökonomischen Reformen in China in erster Linie dem Ziel, Geld und Devisen zu verdienen.
Die Palette der Produkte, die in diesen Lagern in Zwangsarbeit hergestellt werden, ist breit, Kinderspielzeug nur ein Teil. In den Straf- und Gefangenenlagern werden erzeugt: Tee, Werkzeuge, Textilien, Chemikalien, Mineralien, Rohstoffe und eben jenes Kinderspielzeug aus Plüschwaren und Modellautos aus Metall und Kunststoff.
Handel kann und darf nicht so weit gehen, daß es ihm gleichgültig ist, unter welchen Bedingungen die Produkte, die in Deutschland und Europa verkauft werden, produziert werden. Der Handel mit Waren aus dem Laogai-System ist gleichermaßen ethisch, moralisch und menschenrechtlich verwerflich und auch wirtschaftlich falsch.
Produkte aus Zwangs- und Kinderarbeit sind nicht Erzeugnisse wirtschaftlicher Produktion, sie sind Ergebnisse von Willkürherrschaft, Macht und Ausbeutung. Noch stärker als der Ruf nach Sozial- und Ökoklauseln muß im Außenhandel der Ruf gegen den Handel mit Produkten aus Gefängnisarbeit unter Sklavenarbeitsbedingungen erfolgen.
Um es präziser herauszuarbeiten und auch zu unterscheiden, da ja auch in Europa und in Deutschland in Vollzugsanstalten gearbeitet wird: Es geht um die Art der Sklavenarbeit im Laogai und um die Rechtlosigkeit der Menschen im Laogai.
Die Bundesregierung hat sich dieser Thematik bisher nicht hinreichend angenommen. Schon vor Jahren haben wir die Bundesregierung gedrängt, nach dem Vorbild der amerikanisch-chinesischen Vereinbarung aus dem Jahre 1992 auf eine deutsch-chinesische Vereinbarung zum Verbot des Ex- und Importes von in Zwangsarbeit hergestellten Produkten hinzuwirken. Die Bundesregierung hat behauptet, daß in Zwangsarbeit hergestellte Produkte aus der Volksrepublik China bisher auf dem deutschen Markt nicht nachgewiesen werden konnten. Das Gegenteil ist richtig. So einfach kann es sich das Wirtschaftsministerium mit der angeblichen Nichtnachweisbarkeit nicht machen.
Wer die Augen verschließt, wird auch nichts sehen.
Als Produkte, die in chinesischen Zwangsarbeitslagern hergestellt worden sind, konnten eindeutig in Deutschland Graphit, Textilien, Werkzeuge und eben Kinderspielzeug identifiziert werden.
Herr Kollege, - -
Wir haben deshalb den Bundeskanzler vor seiner Reise nach China noch einmal ausdrücklich schriftlich auf die mehr als 1 000 LaogaiCamps hingewiesen. Die meisten dieser Lager werden unter zwei unterschiedlichen Namen geführt, unter einem Gefängnisnamen und einem Firmennamen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Irmer?
Ja.
Danke schön. - Herr Kollege Bindig, ich finde Ihre Ausführungen außerordentlich interessant und hörenswert. Ich will Sie nur folgendes fragen:
Ulrich Irmer
Sie schlagen vor, daß man mit den Chinesen eine Vereinbarung treffen sollte, wonach die in Zwangsarbeit hergestellten Güter nicht importiert werden dürften. Wie ist das aber, da die Chinesen doch die Existenz dieser Lager leugnen, machbar? Sie werden ja wohl nicht bereit sein, eine Vereinbarung zu treffen, in der sie dann zumindest indirekt zugeben würden, daß es diese Lager gibt.
Sie werden staunen, aber es gibt eine Vereinbarung zwischen den USA und der chinesischen Regierung, ein Memorandum of Understanding on Prohibiting Import and Export Trade in Prison Labour Products. Dieses Abkommen geht sogar so weit, daß die Chinesen es in Zweifelsfällen erlauben, daß die Produktionsstätten der Waren inspiziert werden. Wenn man nur will, kann man so etwas vereinbaren, und das sogar mit den Chinesen.
Sie leugnen es offen, aber intern wissen sie natürlich, daß die Sache anders aussieht.
Die Bundesregierung sollte hier im Bundestag Rechenschaft darüber ablegen, ob und was sie mit den chinesischen Staatshandelspartnern im Hinblick auf den Handel mit Produkten aus dem Archipel Laogai besprochen und vereinbart hat. Oder müssen wir befürchten, daß diese Frage gar nicht behandelt worden ist und daß der Kanzler der falschen Symbole, nachdem er bereits das besetzte und unterdrückte Tibet und die chinesische Volksbefreiungsarmee besucht hat, nächstes Mal auch noch eine der Handelsfirmen besuchen wird, welche für den Vertrieb von Chinas Waren aus Straflagern zuständig ist?
Maßnahmen gegen den Import von Produkten aus den chinesischen Zwangsarbeitslagern nach Deutschland können auf verschiedenen Wegen ergriffen werden. Ich hatte eben schon erwähnt, daß es in den USA, aber auch in Großbritannien, durch den Foreign Prison-made Goods Act von 1897 übrigens schon ein gesetzliches Importverbot für Produkte aus Gefangenenarbeit gibt und daß große US- Unternehmen dazu übergegangen sind, in Verträgen mit chinesischen Partnern die Klausel „no forced labour products" aufzunehmen.
Die Regeln des GATT bzw. der WTO sehen in Art. 20e vor, daß keine Vertragspartei daran gehindert ist - und jetzt wörtlich -,
Maßnahmen zu beschließen oder durchzuführen ... hinsichtlich der in Strafvollzugsanstalten hergestellten Waren.
Wer handeln will, kann also handeln und Instrumente nutzen.
Bei den gerade wieder aktualisierten Verhandlungen über die Heranführung der Chinesen an die Regeln der WTO könnten Vereinbarungen über die Nichtzulässigkeit des Handels mit Waren aus chinesischen Arbeitslagern getroffen werden. Daß mit der chinesischen Seite sogar Regelungen über Kontrollbesuche in den Produktionsstätten möglich sind, zeigt das bereits erwähnte Abkommen, welches die USA mit der Volksrepublik China geschlossen haben.
Natürlich können auch die Verbraucher ihre Macht einsetzen und Waren aus chinesischer Zwangsproduktion boykottieren.
Dies setzt allerdings voraus, daß sie die Produkte kennen und erkennen.
Mehr Möglichkeiten hat da schon der Handel selbst. Dieser sollte selbstkritisch und differenziert der Frage nachgehen, wo und wie die Produkte erzeugt werden. Wer wie der Gesamtverband des deutschen Spielwarengroß- und -außenhandels pauschal den Vorwurf zurückweist, daß auch nach Deutschland importierte Spielwaren in chinesischen Straflagern gefertigt werden, erweist der eigenen Branche einen schlechten Dienst. Etliche Spielwaren sind als Produkte aus Zwangsarbeitslagern identifiziert.
Der Handel sollte lieber mit den Verbrauchern und Menschenrechtsorganisationen zusammenarbeiten und nach dem Beispiel der Rugmark - als Zeichen der Produktion für Teppiche ohne Kinderarbeit - ein Signum schaffen, welches sicherstellt, daß die Produkte nicht aus dem Laogai stammen.
Harry Wu, der 19 Jahre in chinesischen Arbeitslagern verbrachte und die Weltöffentlichkeit über die schrecklichen Zustände im Laogai informiert hat, hat in eindringlicher Weise den Handel aufgefordert, auch von sich aus tätig zu werden. Ich zitiere Harry Wu:
Wenn Du Geschäfte machst, chinesische Produkte kaufst und wenn Du herausfindest, daß diese Produkte hergestellt werden unter Tränen und Blut, daß die Leute leiden, daß die Leute zur Arbeit gezwungen werden wie Sklaven, und Du machst Profit, dann verstößt dies gegen die Menschenrechte, gegen Deine eigenen Prinzipien. Du solltest es sein lassen. Du unterstützt ein Sklavensystem. Und heute leben acht Millionen Menschen in diesem Gulagsystem. Das solltest Du nicht machen.
Politik, Handel und Verbraucher sollten gemeinsam das Laogai-System bekämpfen, damit solche schrecklichen inhumanen Praktiken so schnell wie möglich aufhören zu existieren und nie wiederkehren. In diesem Geist sollten wir den Antrag in den Ausschüssen weiter beraten.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Türk.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Abschaffung der Sklaverei, die Gewährleistung der Erziehung für alle Menschen, Versammlungsrecht und
Jürgen Türk
freie Meinungsäußerung aller gehören zu den Forderungen, für die sich Liberale weltweit einsetzen.
Die Durchsetzung dieser Forderungen muß nicht nur im Rahmen der Handelspolitik, sondern auf allen politischen Ebenen verfolgt werden.
Freiheit ist nicht teilbar in bürgerliche und wirtschaftliche Freiheit. Ich glaube, darin sind wir uns einig.
Frau Grießhaber, ich teile Ihr Anliegen, aber wir müssen uns an Fakten halten. Die Bundesregierung hat mir mitgeteilt, daß sie geprüft hat, ob die Produkte, die in chinesischen Gefängnissen und Arbeitslagern hergestellt werden, in die Bundesrepublik eingeführt werden. Belastbare Beweise hierfür hat sie bisher nicht vorgefunden.
Deutschland hat bei mehreren Gelegenheiten darauf hingewiesen, daß es Einfuhren aus Straflagern nicht hinnehmen werde. Dies ist auch bei der ChinaReise des Bundeskanzlers wieder zur Sprache gekommen. Die chinesische Regierung hat jedes Mal eindeutige Erklärungen abgegeben - zugegeben: Papier ist geduldig -, daß Exporte aus Straflagern streng verboten sind. Auch der BND bestätigt, daß der Export von Erzeugnissen aus Straflagern in China ausdrücklich verboten ist. Die in Arbeitslagern hergestellten Produkte gingen zu etwa zwei Dritteln in den Eigenbedarf und zum restlichen Drittel in den chinesischen Binnenmarkt.
Man kann zwar vermuten, daß solche Produkte als Zulieferungen von exportberechtigten Handelsgesellschaften gekauft und nach Weiterverarbeitung exportiert werden, zolltechnische Recherchen - die sind gemacht worden, auch durch die USA - haben aber keine Nachweise erbracht.
Diese Berichte sind sicherlich aus dem Blickwinkel der Menschenrechtsproblematik nicht ganz befriedigend, auch nicht für mich. Sie bieten aber auch keinen Hebel, um die Verhältnisse in den chinesischen Arbeits- und Straflagern zu verbessern. Dem Kinderspielzeug sieht man es nicht an, daß es aus Straflagern kommt.
Bei allem Verständnis für den chinesischen Bürgerrechtler Harry Wu: Der Antrag, liebe Frau Grießhaber, ist ziemlich populistisch. Es wird genutzt, daß der Aufruf zum Boykott von Kinderspielzeug aus China gerade in der Vorweihnachtszeit ein größeres öffentliches Interesse hat.
Meiner Meinung nach ist er auch zu pauschal, denn bei konkretem Nachweis müßten aus moralischen Gründen alle Produkte aus chinesischen Arbeitslagern mit einem Importverbot belegt werden, nicht nur Kinderspielzeug. Da müssen wir schon konsequent sein.
Ohne konkretere Nachweise trifft ein solcher Boykott alle Produzenten von Kinderspielzeug, vielleicht kleine und mittlere Unternehmen, in denen erste Ansätze von bürgerlicher Freiheit und Demokratie erarbeitet werden.
Ich möchte die Bundesregierung mit Nachdruck auffordern, jedem konkreten Nachweis nach dem Import - und zwar jeglicher Waren - aus chinesischen Arbeitslagern nachzugehen und zu überprüfen. Falls sich der Verdacht bewahrheitet, muß die Bundesregierung umgehend die Europäische Union zum Handeln zwingen. Diese ist zuständig für die Handelspolitik. Deutschland allein kann hier tatsächlich nichts bewirken.
Ein solches Importverbot wäre im übrigen auch GATT-konform. Wie das heute schon gesagt wurde, ist im Art. XX Abschnitt e des GATT ein Exportverbot für Waren festgelegt, die in Strafvollzugsanstalten hergestellt werden. China ist zwar noch kein Mitglied des GATT bzw. der Welthandelsorganisation, es bemüht sich jedoch, wie bekannt ist, seit längerem um einen Beitritt. Für die Liberalen ist unabdingbare Bedingung für diesen Beitritt, daß China die Regelungen zur Sanktion von Produkten aus Strafvollzugsanstalten akzeptiert.
Erstes Ziel der Liberalen ist es, die Lebensverhältnisse in China - damit ist nicht nur Wohlstand, sondern auch Demokratie gemeint - dauerhaft zu verbessern. Dazu trägt die Öffnung der Märkte für Handel sicher bei, natürlich ohne Produkte aus Gefangenenlagern.
Auch ich bin dafür, daß wir Ihren Antrag in den Ausschuß überweisen.
Vielen Dank.
Zur Kurzintervention erhält der Kollege Schmitt das Wort.
Herr Kollege Türk, Sie haben die Initiative meiner Fraktion als populistisch bezeichnet. Sie hätten recht, wenn wir mit Hilfe dieser Initiative an dumpfeste Ressentiments in der deutschen Bevölkerung appelliert hätten. Aber das ist hier nicht der Fall. Diese Initiative hat den Anspruch, populär zu sein, weil wir der Auffassung sind, daß es innerhalb der deutschen Bevölkerung ein weitverbreitetes Rechts- und Unrechtsempfinden gibt. Ich halte es für redlich, wenn politische Parteien jedweder Couleur an das Rechtsempfinden der deutschen Bevölkerung appellieren, wenn es darum geht, Unrecht nicht nur hier in der Bundesrepublik, sondern auch im Ausland anzuprangern, und wenn man in dem gleichen Antrag auch appelliert, daß die Verbraucherinnen und Verbraucher von ihrer eigenen Souveränität Gebrauch machen und darüber nachdenken, daß der Kauf von Waren möglicherweise damit verbunden sein kann, daß anderenorts durch Unrechtssysteme Menschen unterdrückt werden. Deswegen sage ich es noch einmal deutlich: Es mag eine populäre Initiative sein. Den Begriff des Populismus weise ich allerdings mit Entschiedenheit zurück.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Willibald Jacob.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bevor ich mich an der Diskussion um Menschenrechte beteilige, möchte ich sagen, daß mir heute in der Debatte um das Mietrecht deutlich geworden ist, daß auch Demokraten Menschenrechte verletzen können.
Für mich persönlich ist das, was hier geschieht, ebenso wie das, was Menschen in Deutschland, insbesondere in Ostdeutschland angetan wird, eine Menschenrechtsverletzung. Es ist doch nicht möglich, daß wir immer nur über andere reden. Wir hätten vielmehr auch einmal zurückzufragen, in welchen Strukturen und Zusammenhängen wir auf eine ganz diffizile bürgerliche Art und Weise Menschenrechte verletzen.
Ich kann Arbeitslager und Zwangsarbeit in China nicht gutheißen, egal, was dort hergestellt wird. Wir können aber ebensowenig über die Zwangsarbeit von Strafgefangenen in Ketten in westlichen Ländern hinweggehen, worüber erst jüngst die Medien aus den USA berichteten.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Grießhaber?
Ja, bitte sehr.
Bitte.
Herr Kollege, ich wollte Sie fragen: Wollen Sie ernsthaft Probleme, die Sie beim Mietsystem sehen, mit dem vergleichen, was in chinesischen Zwangsarbeitslagern passiert? Ich frage Sie: Wollen Sie ernsthaft Situationen, wenn in westlichen Demokratien im Gefangenensystem irgendwelche Ungerechtigkeiten passieren, mit dem vergleichen, was in China unter dem dortigen Regime in den Zwangsarbeitslagern passiert? Ist es Ihr Ernst, daß Sie solche Vergleiche hier anstellen wollen?
Es ist mir insofern Ernst, als der Vergleich auch Unterschiede zutage fördern kann und wird. Das, was Menschen an sich selbst erfahren, wird als Verletzung ihrer Rechte empfunden. Das wollte ich betonen. Dies geschieht auch in unserem Lande.
- Jetzt geht es aber um die Dinge, die heute geschehen.
In einer Warenwelt werden auch Menschenrechte zur Ware, und ihr Marktwert steigt oder fällt umgekehrt proportional zum Marktwert des Landes, in dem sie verletzt werden. Im Falle Kubas zum Beispiel steigt ihr Marktwert, weil Kuba nur geringen Marktwert besitzt. Im Falle Chinas fällt ihr Marktwert, weil in China wirtschaftlich etwas zu machen ist und ein riesiger Markt vorhanden ist. Der Besuch des Bundeskanzlers in China - das haben viele schon gesagt - hat deutlich gemacht, welchen Marktwert China hat. Ich kann nur unterstreichen, was die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen formuliert hat; der Ausschuß wird es beraten und sorgfältig prüfen müssen. Ich zitiere:
Die Einforderung von Menschenrechten läßt sich nicht auf das - notwendige - Überreichen von Listen mit ausgesuchten Namen und die Überprüfung von Einzelschicksalen als Beiwerk milliardenschwerer Wirtschaftsverträge reduzieren. Wirtschaftspolitik und Menschenrechtspolitik sind nicht zu trennen.
Ich frage: Was bedeutet das für die Bundesregierung? Heißt das, wie überall erfahrbar, sich den Marktmechanismen zu beugen und nur von Fall zu Fall Menschenrechte einzuklagen? Wird da nicht in falscher Weise auf die gewachsene internationale Verantwortung der Bundesrepublik gepocht, aber bezeichnenderweise immer an der falschen Stelle? Das Kinderspielzeug aus China ist nur ein aktuelles Beispiel für die Doppelmoral der Bundesregierung in Sachen Menschenrechte. Bei gründlicher Beantwortung der Anfrage der PDS zu China werden möglicherweise noch andere „Spielsachen" zutage treten, so wie es schon von einigen dargestellt worden ist.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist leider abgelaufen.
Ich denke, es muß ein Importverbot erwogen werden, um Zeichen zu setzen. Gleichzeitig sollten wir wachsamer werden im Blick auf Menschenrechtsverletzungen im eigenen Lande und in der westlichen Welt.
Ich danke Ihnen.
Das Wort zu einer Antwort auf die Kurzintervention erhält der Kollege Türk.
Lieber Kollege Schmitt von den Grünen, ich will es wirklich kurz machen: Ich ziehe den Begriff „populistisch" zurück.
Ich finde, bei so etwas kann man tatsächlich klatschen.
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Heinrich Kolb.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt sicher keinen Abgeordneten dieses Hohen Hauses, der einen Import von Kinderspielzeug oder anderen Waren aus chinesischen Arbeitslagern gutheißen würde. Dies tut auch die Bundesregierung nicht. Ganz im Gegenteil hat sich die Bundesregierung immer unzweideutig in dieser Frage geäußert. Ich bin überzeugt, daß es bei uns - dabei beziehe ich auch alle mir bekannten Wirtschaftsvertreter mit ein - niemanden gibt, der insoweit die Notlage der Menschen ausnutzen will, die in solchen Lagern unter schwierigsten Umständen leben.
Wir haben auch die chinesische Regierung nicht über unsere Überzeugung im unklaren gelassen. Die Bundesregierung hat vielmehr immer wieder die sich bietenden Gelegenheiten genutzt, die chinesische Regierung darauf hinzuweisen, daß wir Exporte aus Arbeitslagern nicht dulden können. Die chinesische Regierung hat allerdings ebensooft kategorisch bestritten, daß Erzeugnisse aus chinesischen Arbeitslagern exportiert werden. In der Tat kann die chinesische Regierung hieran auch kein Interesse haben; denn China bemüht sich bekanntlich seit längerem um einen Beitritt zur WTO. Ein WTO-Beitritt, der auch von uns befürwortet wird, setzt aber zwingend voraus, daß das in Art. XX Abschnitt e des GATT festgelegte Exportverbot für Waren aus Strafvollzugsanstalten anerkannt und beachtet wird. Ich kann mir nicht vorstellen - es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür -, daß China seinen bevorstehenden WTO-Beitritt durch eine Mißachtung des Art. XX des GATT leichtfertig aufs Spiel setzen sollte. Eine Mißachtung des Exportverbotes von Sträflingsprodukten würde darüber hinaus die den Chinesen von der amerikanischen Regierung eingeräumte Meistbegünstigungsklausel gefährden.
Nur etwa 5 000 Außenhandelsgesellschaften sind in China überhaupt zum Export berechtigt. Hierzu zählen selbstverständlich nicht die Straflager. Nach unseren Erkenntnissen hat die chinesische Regierung den Export von Gefängnisprodukten sogar strikt untersagt. Dies hat beim jüngsten Besuch des Bundeskanzlers in China die Außenhandelsministerin Wu Yi gegenüber Bundesminister Dr. Rexrodt ausdrücklich bestätigt. Sie hat im übrigen anderslautende Berichte deutscher Medien als unwahr zurückgewiesen.
Es ist hier gesagt worden: Den Erzeugnissen ist nicht anzusehen, wo sie produziert wurden. Die Bundesregierung braucht aber belastbare und beweiskräftige Angaben, daß Produkte aus chinesischen Straflagern in die Bundesrepublik exportiert werden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bindig?
Ja, bitte sehr, Herr Bindig.
Herr Staatssekretär, sind Ihnen die sehr guten und sorgfältig gemachten Recherchen des Westdeutschen Rundfunks bekannt, welche mit Hilfe von Filmen bewiesen haben, daß Produkte - ich nenne als Beispiel Graphit -, die in einer chinesischen Mine, die zum Laogai gehört, hergestellt worden sind, in deutschen Firmen verarbeitet werden, und wissen Sie, daß diese Recherchen auch für andere Produkte die Kette geschlossen und entsprechende Nachweise erbracht haben? Warum verlassen Sie sich dann immer auf die Aussagen der Regierung in China und gehen solchen vorliegenden Tatsachenbeweisen nicht stärker nach?
Herr Kollege Bindig, ich habe gesagt und bleibe dabei: Wir brauchen belastbare, beweiskräftige Angaben. Wir haben Gelegenheit - ich fordere Sie auf, diese zu nutzen -, uns in der Ausschußberatung zum Beispiel mit den von Ihnen angeführten Beweisen - Recherchen des WDR - zu befassen. Dazu sind wir selbstverständlich bereit.Aber ich sage noch einmal: Damit wir handeln können, brauchen wir belastbare, beweiskräftige Angaben. Ich denke, daß wir uns im Ausschuß entsprechend unterhalten können. Sie müßten dann allerdings die entsprechenden Materialien mitbringen.
- Das ist nicht der Fall, Herr Kollege Bindig; im Gegenteil. Ich will Ihnen sagen, daß wir zolltechnische Recherchen angestellt haben. Jedoch haben auch diese kein anderes Resultat gebracht. Anfragen der Bundesregierung bei den Verbänden der deutschen Wirtschaft und bei einzelnen deutschen Unternehmen haben ebenfalls keine konkreten, belastbaren Hinweise ergeben. Wir haben allerdings nicht alle deutschen Rundfunk- und Fernsehanstalten angerufen und abgefragt. Das räume ich ein.
Metadaten/Kopzeile:
6536 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995
Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich Kolb- Frau Kollegin Grießhaber, ich biete doch ausdrücklich an, daß wir uns im Ausschuß mit allem, was vorliegt, auseinandersetzen. Das wollen wir gerne tun.Eine Anhörung des amerikanischen Menschenrechtlers Harry Wu im Auswärtigen Amt am 28. November - also vor zwei Tagen - hat nach den mir hier vorliegenden Berichten insoweit ebenfalls keine beweiskräftigen Fakten erbracht, sondern lediglich die Wiederholung der seit langem in allgemeiner Form vorliegenden Anschuldigungen.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, um es ganz deutlich zu sagen: Die Bundesregierung geht gleichwohl jedem konkreten Hinweis nach und wird, falls sich solche Hinweise als zutreffend erweisen sollten, die chinesische Regierung um Abhilfe bitten. Sie wird zusammen mit ihren westlichen Partnern die Situation auch weiterhin sehr genau beobachten. Die Europäische Union hat im übrigen ebenfalls deutlich gemacht, daß sie Exporte aus Straflagern - falls es solche geben sollte - nicht hinnehmen kann.Ein Einfuhrverbot für solche Importe - das ist ja Gegenstand des Antrages - würde ohnehin, auch bei konkreten Hinweisen, Frau Kollegin Grießhaber, nicht national von uns, sondern nur durch die Europäische Union verhängt werden können. Die Bundesregierung wird nicht zögern, dies in Brüssel zu beantragen, falls es beweiskräftige, belastbare Hinweise über Importe aus Straflagern gibt.Ich möchte an dieser Stelle doch noch einmal eines aufgreifen. Der Verband der deutschen Spielwarenindustrie, in dem Mitgliedsfirmen zusammengeschlossen sind, die einen Marktanteil von 85 Prozent in Deutschland haben, wird eine Selbstverpflichtung eingehen, keine Produkte zu importieren, die in Zwangs- oder Kinderarbeit hergestellt wurden. Dies soll durch entsprechende Vertragsbedingungen in den Verträgen mit den Lieferanten sichergestellt werden. Ich glaube, wir sollten darüber nachdenken, daß das auch ein guter Weg sein kann, um unserem gemeinsamen Anliegen Rechnung zu tragen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/3054 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei es nach einer Vereinbarung unter den Geschäftsführern nicht zu einer Überweisung an den Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend kommen soll.
Als federführender Ausschuß ist der Ausschuß für Wirtschaft vorgesehen, außerdem soll die Vorlage dem Auswärtigen Ausschuß und dem Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union zur Mitberatung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zur Weiterentwicklung der nationalen und internationalen Maßnahmen zum Schutz der Ozonschicht auf Drucksache 13/3158 zu erweitern.
Der Antrag soll gleich in verbundener Beratung mit Tagesordnungspunkt 9 behandelt werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b sowie den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt 5 auf:
9. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Liesel Hartenstein, Michael Müller , Dr. Bodo Teichmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Schutz der stratosphärischen Ozonschicht und Bekämpfung des anthropogenen Treibhauseffektes durch Beendigung des Einsatzes von FCKW
- Drucksache 13/2498 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michaele Hustedt, Dr. Jürgen Rochlitz, Vera Lengsfeld, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Maßnahmen zum Schutz der Ozonschicht - Drucksache 13/3125 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP5 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.
Weiterentwicklung der nationalen und internationalen Maßnahmen zum Schutz der Ozonschicht
- Drucksache 13/3158 -
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Liesel Hartenstein.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Wien hat vor wenigen Tagen die 7. Nachfolgekonferenz zum Montrealer Protokoll über den Schutz der Ozonschicht begonnen. Diese Konferenz wäre - ich hoffe, sie ist es - eine hervorragende Chance, um endlich den Gebrauch der ozonzerstörerischen FCKWs und
Dr. Liesel Hartenstein
H-FCKWs zu stoppen, um endlich einen Durchbruch zu erreichen.
Wenn nämlich die fortdauernde Ausdünnung der Ozonhülle anhält, dann führt die Menschheit nicht nur einen Krieg gegen die Natur, sondern auch einen Krieg gegen sich selbst. Das ist leider keine Übertreibung.
Die Konferenz fällt in einen Zeitraum, in dem der Ozonschwund höchst dramatische Ausmaße angenommen hat. Im Oktober hat das Ozonloch über der Antarktis die doppelte Größe Europas erreicht und ist damit weitaus größer geworden als in den beiden Jahren zuvor. Auch über der Nordhalbkugel ist die Ozonhülle zeitweise bis zu 60 Prozent ausgedünnt. Das ist ein noch nie dagewesener Negativrekord, der weltweit aufrütteln sollte.
Es gibt also Grund genug, schleunigst zu handeln. Ein weiteres Zögern und Taktieren ist angesichts der enormen Gefahren nicht mehr zu rechtfertigen. Ich habe allerdings den Eindruck, daß die Bundesregierung den Handlungsdruck nicht richtig einschätzt und daß sie mit sehr wenig präzisen Vorstellungen nach Wien gegangen ist. Weder ihre Erklärung im Umweltausschuß noch der vorliegende Antrag der Koalition lassen darauf schließen, daß die Gefahr wirklich erkannt ist.
Sie setzen weiterhin auf Selbstverpflichtung der Industrie. Sie haben nicht einmal den Mut, das hochschädliche Pestizid Methylbromid sofort aus dem Verkehr zu ziehen. Das ist schwer verständlich. Was in Holland möglich ist - dort ist es verboten -, das muß doch auch bei uns in der Bundesrepublik Deutschland möglich sein.
Die SPD-Fraktion hat rechtzeitig im September einen Antrag vorgelegt, der die notwendigen Maßnahmen benennt. Ich will nur vier vordringliche Punkte herausgreifen.
Erstens brauchen wir eine drastische Verkürzung der Ausstiegsfristen und eine strikte Begrenzung der Ausnahmeregelungen. Es kann doch nicht angehen, daß auch in den Industrieländern noch über das Jahr 1996 hinaus harte FCKW produziert und zum Beispiel als Lösungsmittel, als Medizinsprays oder für Laborarbeiten verwendet, übrigens auch exportiert werden dürfen. Es gibt heute praktisch für alle Bereiche Ersatzstoffe, auch im Bereich der Medizin. Die viel zu großzügigen Anwendungsfristen für die H-FCKW, also für die teilhalogenierten Stoffe, die sogar in der Europäischen Union noch bis zum Jahre 2015, also noch 20 Jahre lang, produziert und angewendet werden dürfen, müssen ebenfalls drastisch reduziert werden. Weltweit dürfen diese H-FCKW noch bis 2030 auf dem Markt sein. Das kann so nicht bleiben. Ebenso muß die FCKW-Produktion in den Entwicklungsländern, die bis jetzt noch eine zehnjährige Übergangsfrist bis zum Jahre 2006 haben, rascher zurückgefahren werden. Allein China produziert heute rund 100 000 Tonnen harte FCKW im Jahr.
Zweite Forderung: Für das schon genannte Methylbromid, das ein mehrfach höheres Ozonzerstörungspotential als die FCKW hat, muß unbedingt ein Sofortverbot ausgesprochen werden. Das ist unsere vorrangige Forderung.
In Deutschland wurden nach dem 3. Ozonbericht der Bundesregierung noch jährlich 100 Tonnen Methylbromid auf die Felder ausgebracht. Dafür gibt es unseres Erachtens keinerlei stichhaltige Begründung mehr.
Eine nur schrittweise Reduktion, wie sie leider auch die EU-Kommission vorschlägt, ist nicht akzeptabel.
Als drittes fordern wir die Aufstockung des Multilateralen Fonds. Wir halten dies für unerläßlich; denn dieser Fonds soll den Entwicklungsländern, insbesondere den bevölkerungsreichsten Ländern Indien und China, die Umstellung auf ozonunschädliche Ersatzstoffe erleichtern. Wir halten deshalb eine Verdoppelung der Mittel nicht nur für angebracht, sondern auch für erforderlich.
Denn anders werden die Entwicklungsländer nicht für eine Fristverkürzung zu gewinnen sein. Sie, lieber Kollege Lippold, werden uns nun sofort sagen: Die Bundesrepublik Deutschland hat ihre finanziellen Verpflichtungen erfüllt. - Das ist richtig, und das soll auch anerkannt werden.
Sie werden gleichzeitig sagen: Andere Industrieländer sind säumige Zahler. Auch das ist mir bekannt. Von der für die Zeit bis 1996 vereinbarten Summe fehlen immer noch 124 Millionen Dollar. Das ist bedauerlich; hier muß eine Änderung erreicht werden. Wir sind aber der Auffassung, daß der Weg finanzieller Hilfe für die Entwicklungsländer auch - ich sage das einmal so - als ein Mittel der Industrieländer verstanden werden muß, einen Teil ihrer ökologischen Schulden gegenüber dem Süden zurückzuzahlen.
Es bleibt mir jetzt nicht die Zeit, dies zu erläutern; aber ich denke, die, die hier im Saale sind, verstehen, was ich damit meine.
Viertens schließlich sollten in Wien endlich die Schlupflöcher gestopft werden, die es heute noch in bestimmten Bereichen, zum Beispiel im Kältebereich, ermöglichen, auf FKW, also auf Fluorkohlenwasserstoffe auszuweichen. Hier gibt es bislang überhaupt
Dr. Liesel Hartenstein
keine Beschränkungen. Auch dies kann nicht so bleiben.
Denn in Wirklichkeit treiben wir hier den Teufel mit Beelzebub aus:
Die FKW enthalten zwar kein Chlor, haben aber dafür einen tausendfach stärkeren Klimaaufheizungseffekt als das Kohlendioxid. Das kann ganz gewiß keine Lösung für die Zukunft sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich an dieser Stelle zwei Bemerkungen machen.
Erste Bemerkung: Natürlich wissen wir alle, daß internationale Verhandlungen schwierig sind, und wir wissen alle, daß die über hundert Staaten, die vor zehn Jahren das Wiener Abkommen unterzeichneten, sicherlich nicht bereit sein werden, allen Vorstellungen eines einzelnen Landes oder der Europäischen Union wortlos zu folgen. Wenn wir aber Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit erlangen wollen, dann müssen wir um so mehr darauf achten, daß die Industrieländer zuerst vor der eigenen Türe kehren, auch die Bundesrepublik.
Das gilt auch für uns, insonderheit deshalb, weil sich die Bundesrepublik Deutschland so gern ihrer Vorreiterrolle rühmt. Sie muß sie dann auch wirklich ausfüllen.
Zweite Bemerkung: Wir sind jederzeit bereit, liebe Kolleginnen und Kollegen, wirkliche Erfolge anzuerkennen. Aber wir sind nicht bereit, Schwachstellen und Defizite zu verkleistern und Fehlentwicklungen zu verharmlosen. Das geht einfach nicht. Die Bekämpfung der Ozonzerstörung war eines der wichtigsten parteiübergreifenden Anliegen der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre", und sie war und - ich hoffe es wenigstens - ist immer noch ein gemeinsames Anliegen des Deutschen Bundestages. Als im Juni 1990 das Londoner Abkommen unterzeichnet wurde, erschien es vielen, als sei dies eine umweltpolitische Großtat. Ohne Zweifel ging London weit über Montreal von 1987 hinaus. Ohne Zweifel war es auch ein Fortschritt, daß sich 93 Staaten darauf verständigen konnten, Ausstiegsfristen für die Ozonkiller festzulegen und den schon erwähnten Fonds einzurichten. Zwei Jahre später wurden im Kopenhagener Folgeprotokoll die Fristen weiter verkürzt, und es wurden erstmals die teilhalogenierten FCKW einbezogen. Das waren sinnvolle erste Schritte.
Ich sage ausdrücklich: Man sollte die Tatsache gewiß nicht geringschätzen, daß sich die internationale Staatengemeinschaft in diesem einen wichtigen Punkt überhaupt als handlungsfähig erwiesen hat, nämlich in dem Bemühen, die Zerstörung der Ozonhülle gemeinsam abzuwehren.
Aber heute ist eine gefährliche Stagnation eingetreten. An der Dimension der Bedrohung gemessen, sind wir noch weit hinter dem Notwendigen zurück. Dabei ist der Höhepunkt der Zerstörung leider noch lange nicht überschritten, denn die ozonschädlichen Stoffe brauchen zehn bis fünfzehn Jahre, bis sie in die Stratosphäre aufsteigen. Sie kennen alle die Bedrohungen - ich brauche sie nur stichwortartig zu nennen -: Der schwarze Hautkrebs hat in den letzten 20 Jahren um das Sechsfache zugenommen. Durch das Eindringen der UVB-Strahlung werden Augenerkrankungen, Entzündungen und Immunschwäche erzeugt, und die ultraviolette Strahlung schädigt das Pflanzenwachstum und verursacht Ernteverluste bis zu 25 Prozent. Dies muß uns doch alle tief treffen. Wir sollten die Gefahren für die Welternährung nicht unterschätzen, nur deshalb, weil wir satt sind.
Klar ist also: Die bisherigen Maßnahmen reichen nicht aus, diesen gewaltigen Herausforderungen zu begegnen.
Ich bitte noch um eine Minute, Frau Präsidentin.
Wir sollten uns alle an das alte Wort erinnern: Wir sind verantwortlich nicht nur für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun. Deshalb verlange ich von der Bundesregierung, daß sie sich nicht auf ihren Lorbeeren ausruht. Es ist nicht zu vertreten, daß heute noch 57 000 Tonnen voll- und teilhalogenierte FCKW in Kälteanlagen vorhanden sind, daß wir mit einer jährlichen Leckagerate von 10 000 Tonnen rechnen müssen und diese 10 000 Tonnen jährlich wieder aufgefüllt werden. Diese Anlagen kann man durch FCKW-freie Geräte ersetzen, und man sollte es tun. Wir verlangen in unserem Antrag auch, daß eine regelmäßige Kontrolle erfolgt, daß eine Instandhaltung durchgeführt wird. Dies alles ist notwendig. Auch im medizinischen Bereich gibt es - ich sagte es schon - Ersatzmöglichkeiten. Es gibt zum Beispiel gut funktionierende Pulverdosierungsgeräte, die an die Stelle der FCKW-haltigen Asthmasprays treten könnten.
Warum - so frage ich zum Schluß - ist es notwendig, daß wir FCKW noch beim Automobilsport zulassen, daß wir zulassen, daß FCKW in den Triebköpfen der Deutschen Bahn verwendet werden? Da könnte man endlich herangehen und massiv auf Ersatzstoffe setzen und die Ersatzstoffe auch auf den Markt bringen. Hier wird viel zu lasch vorgegangen. Wir können uns kein Open-end-Spiel mehr leisten. Es geht um die Zukunft des blauen Planeten. Deswegen sage ich: Was wir heute beim Kampf gegen die Ozonzerstörung versäumen, sind keine läßlichen Sünden -
Frau Kollegin, Sie müssen wirklich Schluß machen.
- noch zwei Worte -, sondern das sind Kardinalsünden, und die werden bekanntlich nicht vergeben.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Michaele Hustedt.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Ozonloch über der Antarktis hat in diesem Jahr eine neue Rekordgröße erreicht. Es wächst schneller, als wir befürchtet haben. Es wächst nicht, wie vermutet, linear, sondern exponentiell.
Jetzt nimmt sich der Bundestag also um 19 Uhr eine halbe Stunde Zeit, um darüber ein bißchen zu sprechen. Ich halte das, ehrlich gesagt, für dem Problem völlig unangemessen. Ich finde, dies hätte zu einer Zeit diskutiert werden müssen, wo die Öffentlichkeit noch anwesend war, und man hätte mehr Zeit haben müssen, über dieses Problem zu sprechen.
Das trägt ebenso zur Verharmlosung des Problems bei wie der Antrag der Bundesregierung, der hier im Schnellschuß vorgelegt wurde, und zwar aus zwei Gründen: Der eine Grund ist, daß Sie in Ihrem Antrag nicht darauf hinweisen, daß das Ozonloch durch die lange Lebensdauer und das Bestehen der Altanlagen selbst dann noch weitere 50 bis 60 Jahre wachsen würde, wenn wir jetzt aus der Produktion und dem Verbrauch sämtlicher ozonschädigender Substanzen aussteigen würden. Das heißt, wir sind nicht am Ende, sondern erst am Anfang. Wir werden die Sünden von gestern noch zu spüren bekommen.
Zum zweiten weisen Sie auch nicht darauf hin, daß es Synergieeffekte zwischen Treibhauseffekt und dem Ozonloch gibt. Das Ozonloch schädigt durch die vermehrte UV-Strahlung zum Beispiel das Wachstum von Phytoplankton. Das Phytoplankton aber kann die CO2-Emission binden, also den Treibhauseffekt begrenzen, während der Treibhauseffekt umgekehrt das Ozonloch verstärkt. Das ist ein ganz gefährlicher Teufelskreis, auf den ich noch zu sprechen komme. Das darf man nicht verharmlosen, sondern muß man klar und deutlich sagen.
Dagegen beobachten wir bei der Bundesregierung immer wieder das gleiche Spiel, auch in bezug auf das Ozonloch. Wahrheitswidrig wird immer wieder behauptet, das Klimaschutzziel könne erreicht werden. Jetzt liegt eine Studie von Prognos vor, die eindeutig belegt, daß es nicht erreicht wird, sondern steigende CO2-Emissionen zu erwarten sind.
Da wird der Waldschadensbericht zum Waldzustandsbericht gemacht, und da ruht sich die Bundesregierung auf einem Erfolg von vor vier Jahren, dem Verbot von FCKWs, aus. Man will damit den Eindruck vermitteln, man sei auf dem besten Weg, das Ozonloch zu begrenzen. Das ist aus meiner Sicht alles Augenwischerei. Den Menschen wird nicht die Wahrheit gesagt.
Es verhält sich genauso wie bei der deutschen Einheit, als der Kanzler versprochen hat, die blühenden Landschaften aus der Portokasse zu bezahlen, und damit den Menschen die Bereitschaft zum Abgeben genommen hat. Genauso verantwortungslos verschenken Sie aus meiner Sicht durch Ihre Verharmlosung die Bereitschaft der Menschen, etwas für den Umweltschutz zu leisten.
Frau Hartenstein, Deutschland ist mit seinen Bemühungen um den Schutz der Ozonschicht längst nicht mehr Vorreiter, sondern bestenfalls Mittelmaß. Während die Regelungen des Montrealer Protokolls 1992 ausgeweitet und verschärft wurden und die EU- Regelungen im Dezember 1994 weiterentwickelt wurden, ist die FCKW-Halonen-Verbotsordnung unverändert geblieben.
Was will die Bundesregierung dagegen tun? Im Antrag steht, sie will mit der Chemieindustrie reden.
Ich muß wirklich sagen: Ich bin tief beeindruckt von Ihrem Kämpfertum. Und was passiert, wenn die Chemieindustrie sagt, das koste Arbeitsplätze? Dann werden Sie jegliche Vorschläge zum Handeln - genau wie bei der Energiesteuer - wieder in die Schublade stecken.
Am bedenklichsten finde ich - darauf ist Frau Hartenstein schon eingegangen -, daß Sie auf die Schadstoffe der zweiten Generation, das FKW, setzen. Diese haben ein sehr hohes Treibhauspotential. Die Prognosen lauten, daß sich der Verbrauch von FKW 134a auf 300 000 Tonnen pro Jahr weltweit ausweiten wird. Das ist das Treibhauspotential der gesamten CO2-Emissionen der Bundesrepublik. Es kann doch nicht der Weg sein, daß wir, um das Ozonloch zu begrenzen, den Treibhauseffekt fördern. Es gibt also, wie gesagt, Synergieeffekte.
Für den Klimaschutz genauso wie für das Ozonloch gilt: Solange es diese Regierung gibt, scheinen wir nicht bereit zu sein, unser Schicksal - Herr Kohl sprach auf Ihrem Parteitag in diesem Zusammenhang von der Schicksalsfrage - in die Hand zu nehmen. Mit dieser Bundesregierung sind wir anscheinend unserem Schicksal ausgeliefert.
Frau Kollegin, die Redezeit ist abgelaufen.
Ich komme zum letzten Satz. - Diese Haltung ist im Kern zutiefst unmoralisch und inhuman. Wir machen ein Experiment mit der Erde. Bei diesem naturwissenschaftlichen Experiment sind wir die weißen Mäuse. Daran sollten wir immer denken.
Das Wort hat der Kollege Dr. Klaus Lippold.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir kennen die übliche Haltung der Opposition: Was die Regierung macht, ist schlecht, viel zuwenig, muß, was die Zeitdauer angeht, noch verkürzt werden usw.
Vor diesem Hintergrund, Frau Hartenstein, ist es erstaunlich, daß Sie sich wenigstens durchgerungen haben, anzuerkennen, daß wir die ersten waren, die etwas getan haben, daß wir die ersten waren, die etwas durchgesetzt haben, daß wir diejenigen waren, die im internationalen Konzert den Impuls gegeben und dafür gesorgt haben, daß dieses Problem überhaupt als solches erkannt, Frau Hustedt, und auch angegangen wurde.
Ich will es einmal so deutlich sagen, da Sie meinen, wir hätten in unseren Anträgen dies, das und jenes nicht beachtet: Frau Hustedt, wir arbeiten seit zehn Jahren daran. Wir sagen das immer wieder. Wenn auch Sie jetzt kommen, hier sind und das entdecken, ist das sehr schön; aber wir haben das seit zehn Jahren öffentlich behandelt. Wir haben die Gedanken daran vorangetrieben, damit das Problembewußtsein in dieser Republik überhaupt entsteht, als Sie noch gar nicht wußten, was FCKW sind.
Deshalb sage ich ganz deutlich: Es ist manchmal etwas einfach, sich hierhinzustellen.
Ich will noch etwas anderes sagen. Frau Hartenstein meint, die Selbstverpflichtungen der deutschen Wirtschaft seien nicht hinreichend. Im nächsten Satz sagt sie aber, die anderen Industrieländer sollten gefälligst einmal das erreichen, was wir schon erreicht haben. Frau Hartenstein, so schlecht kann das Instrument in unserem Land doch nicht sein, wenn Sie anderen Ländern, die dieses Instrument nicht einsetzen, vorwerfen, endlich das zu erreichen, was wir in der Bundesrepublik Deutschland an Ausstieg schon realisiert haben.
Ich finde es schön, wenn Sie den Zusammenhang nicht so direkt herstellen. Aber ich nehme dann Ihre eigenen Worte, stelle den Zusammenhang her, und auf einmal stellt sich heraus, daß unsere Leistungen sehr akzeptabel sind.
Das Wort, daß sich die Bundesregierung nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen solle, ist insofern richtig, als sie den Lorbeer verdient hat. Daß wir weiterarbeiten, wird aus unserem Antrag deutlich; darauf gehen wir ein.
Frau Hustedt, ich sage es noch einmal ganz deutlich: Wir verharmlosen die Probleme nicht; wir weisen darauf hin.
Ich kann unterstreichen, was Frau Hartenstein zu den problematischen Wirkungen gesagt hat. Diese Auffassung teilen wir. Deshalb meinen wir auch, daß wir aktiv sein und die Gangart beschleunigen müssen. Das ist genau unsere Position, das ist genau unser Rezept. Deswegen sind wir der Meinung, daß wir bei der in Wien anstehenden Konferenz eine beschleunigte internationale Gangart herbeiführen müssen. Das geht gar nicht anders. Das Problem ist so wichtig - da teile ich Ihre Meinung -, daß wir gemeinschaftlich an einer Lösung arbeiten müssen. Daß dies in den vergangenen Jahren in erster Linie ein Problem der Nordhalbkugel war, ist genauso richtig. Deshalb unterliegen wir besonderen Verpflichtungen. Dazu stehen wir. Das halte ich für richtig.
Deshalb meine ich, sollten wir ganz deutlich sagen: In diesem Bereich muß weitergearbeitet werden. Wir müssen auch die Entwicklungsländer überzeugen, den weiteren Weg mit uns zu gehen. Wir können die Entwicklungsländer aber nur überzeugen, wenn wir zu den Versprechungen stehen, die wir seinerzeit gemacht haben.
Das heißt, Technologietransfer wie Finanztransfer müssen funktionieren. Wir als Bundesrepublik Deutschland stehen dazu.
Ich freue mich, daß wir im Gegensatz zu dem, was im Antrag steht, heute abend deutlich machen können, daß wir als Bundesrepublik - da sind wir Umweltschützer einig mit den Haushältern in der Koalition - die Mittel für die Lösung des Problems im internationalen Rahmen aufstocken werden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Gern, Herr Präsident.
Bitte, Frau Kollegin.
Sie haben allgemein Ihre Bereitschaft erklärt, daß etwas getan werden soll. Können Sie mir bitte mal konkret - ich betone das - sagen, was hier in Deutschland - seit vier Jahren ist nichts passiert - -
- Nein. Die FCKW-Halon-Verbotsverordnung ist von 1991; das ist vier Jahre her. Seitdem ist in Deutschland nichts passiert.
Ich möchte von Ihnen wissen, erstens, was Sie konkret - und nicht allgemein: wir wollen, wir wollen - in nächster Zeit in Deutschland anstreben, was getan werden soll, und zweitens, wie Ihre Position - Frau Hartenstein und ich haben es angesprochen - zu den FKW ist.
Mein Eindruck nämlich ist, daß Sie, die Bundesregierung, dieses Problem überhaupt nicht berücksichtigen, sondern auf Ersatz der ozonschädigenden Substanzen durch FKW setzen.
Ganz kurz: Frau Hustedt, Sie müssen zur Kenntnis nehmen - das können Sie nicht abstreiten -, daß die Bundesregierung im internationalen Rahmen als erste Regierung den Ausstieg aus dem Einsatz von FCKW geschafft hat und wir damit das selbstgesteckte Ziel wesentlich früher erreicht haben, als es vereinbart war. Das könnten Sie auch einmal loben.
Genau dieses bewährte Instrument der Selbstverpflichtung werden wir benutzen, um auch den zweiten Schritt zu vollziehen.
Ich sage Ihnen aber auch ganz deutlich: Man darf die Wirtschaft nicht überfordern. Sie machen das immer zu einem Definitionsproblem. Wenn Sie ein Problem erkannt haben, glauben Sie, es sei durch einfache Wortschöpfungen gelöst. Wir wissen, daß dies ein Problem ist, dessen Lösung umgesetzt werden muß. Ebenso deutlich sage ich Ihnen: Sie müssen einfach akzeptieren, daß wir, wenn wir Stoffe durch neue substituieren, sorgfältiger als früher prüfen, ob sie keine schädigenden Nebenwirkungen haben.
Sie selbst haben von uns verlangt, die Auswirkungen der Stoffe mit viel mehr Mitteln sorgfältig zu prüfen. Wir haben dies früher getan als andere Nationen. Wir haben anspruchsvolle Programme zur Prüfung der Nebenwirkungen entwickelt. Jetzt müssen Sie wenigstens abwarten, bis die Stoffe sorgfältig geprüft worden sind. Ich will nicht verantworten, daß im Medizinbereich Stoffe eingesetzt werden, von denen wir hinterher sagen: Menschen sind damit geschädigt worden; das war zu ihrem Nachteil. Ich könnte das nicht verantworten. Die Wissenschaftler brauchen für diese Prüfung Zeit. Diese können Sie nicht durch Definitionen verkürzen. Daran muß gearbeitet werden.
Herr Kollege Dr. Lippold, die Kollegin Hustedt würde gerne eine zweite Zwischenfrage stellen.
Sie weiß, daß ich ihr das nie abschlagen könnte.
Sie haben hier wieder von der Vorreiterrolle gesprochen. Stimmt meine Information, daß Finanzminister Waigel auf der letzten Finanzministerkonferenz eine europaweite Energiesteuer auf Initiative Deutschlands verhindert hat?
Darf ich Ihnen sagen, Frau Hustedt, daß sich Herr Finanzminister Waigel auf der letzten EU-Finanzministerkonferenz ganz nachhaltig dafür eingesetzt hat,
daß eine EU-weite CO2-/Energiesteuer durchgesetzt wird.
Wenn es noch andere Finanzminister gegeben hätte, die diesem Engagement gefolgt wären, dann bräuchten wir heute nicht mehr darüber zu philosophieren, dann hätten wir sie.
Loben Sie einmal Herrn Waigel, daß er sich in dieser Form einsetzt. Das, meine ich, muß man tun. Man kann Theo Waigel hier nicht angreifen. Man muß vielmehr seine Initiativen zur Umsetzung in Europa würdigen. Das tue ich hiermit ganz ausdrücklich: Ich danke ihm dafür.
Meine Damen und Herren, wir als Bundesrepublik Deutschland können nicht anderen Staaten anordnen, was sie zu tun haben. Wir können mit gutem Beispiel vorangehen; das wollen wir tun. Wir können Hemmnisse, die im Wissenschaftsbereich bestehen, abbauen. Sie können uns zum Beispiel dabei helfen, daß die im Forschungsbereich existierenden Hemmnisse durch Bürokratie nicht durch immer weitere Erfindungen Ihrerseits verstärkt werden. Unsere Wissenschaftler sollten bei der Arbeit freiere Hand haben, damit sie schneller zu Problemlösungen kommen, die letztendlich der Menschheit im Gesundheitsbereich dienen.
Sie sollten über die Einflußmöglichkeiten, die Sie dank grüner Netze haben, mithelfen, daß im internationalen Bereich auch andere unserer Positionen unterstützt werden, damit wir nicht die einsamen
Dr. Klaus W. Lippold
Rufer in der Wüste sind und die anderen sagen: Laßt die Deutschen mal! Sie sind so weit voran, wir aber kommen erst viel später. - Helfen Sie dabei mit. Ich glaube, das ist für uns alle wichtig.
Ich will Ihnen noch eines sagen: Wir werden selbstverständlich auch bei den H-FCKW und dem Methylbromid eine Ergänzung anstreben. Damals aber haben wir gesagt, daß wir zunächst einmal darüber froh sind, schnelle Übergangsmöglichkeiten zu haben. Jetzt, nachdem wir die ersten Übergangsmöglichkeiten haben, treten wir in die zweite Phase ein. Das heißt also: Das Ganze hat System. Sie können sich darauf verlassen: Wenn wir in drei Jahren eine Diskussion führen, werden Sie wieder etwas Neues bringen müssen, weil das, was Sie jetzt gebracht haben, dann genauso abgearbeitet ist wie das, was eingehalten wurde, was Sie der Bundesregierung aber vor vier Jahren zum Vorwurf gemacht haben.
Ich erinnere mich natürlich noch sehr deutlich daran: Als wir vor vier Jahren in diesem Haus die Selbstverpflichtung diskutiert haben, waren Sie es, die Zweifel daran gehabt haben, ob dieses Instrument wirkt. Sie haben ausschließlich auf das Ordnungsrecht setzen wollen. Ich sage Ihnen heute: Erkennen Sie doch einmal an, daß wir mit dem Instrument der freiwilligen Vereinbarung und der Selbstverpflichtung wesentlich weiter gekommen sind als andere Industrienationen.
Jetzt noch einmal abschließend: Ich bin sehr froh, daß unsere Haushälter aufgeschlossen genug waren, nachdem wir zwischen Umweltschützern und Entwicklungshelfern zu einer Einigung gekommen sind, eine Aufstockung der Mittel im internationalen Bereich von uns aus möglich zu machen. Ich würde Sie bitten, einmal zu prüfen, welche anderen Länder überhaupt bereit sind, ihre bisherigen Zusagen einzuhalten - das ist für uns nämlich eine Selbstverständlichkeit -, und in ähnlicher Weise wie wir bereit sind, darüber hinauszugehen.
Wenn Sie mir das hinterher nachweisen können, bin ich Ihnen dankbar.
Ich bin froh, daß wir über die finanzielle Schiene in guter Verabredung zwischen den verschiedenen Bereichen der Entwicklungshelfer, Umweltschützer und Haushälter zu einem so positiven Ergebnis gekommen sind; denn ohne Technologietransfer und ohne Finanztransfer zur Dritten Welt würde das Abkommen scheitern. Wir sind darauf angewiesen, daß es weltweit weiterentwickelt wird, deshalb auch der finanzielle Einsatz. Ich danke dem Finanzminister, daß er den Weg hierzu freimacht.
Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin Hustedt das Wort.
Herr Kollege Lippold, ich möchte Ihnen nicht unterstellen, daß Sie lügen. Aber wissen Sie nicht, was Herr Waigel getan hat? Es liegt mir eine Resolution des Umweltausschusses des Europäischen Parlaments - unter Leitung eines Konservativen, Tom Spencer - vor, die einstimmig von allen Parteien verabschiedet wurde, wo Herr Waigel auf der letzten Finanzministertagung eine europaweite Energiesteuer verhindert hat. Es haben noch zwei andere Länder dagegen gestimmt, aber Herr Waigel hat die Initiative ergriffen und hat eine mögliche europaweite Energiesteuer verhindert.
Ich muß ehrlich sagen: Mir kommt es so vor, daß außer der CSU alle Parteien eine europäische Energiesteuer gewollt haben. Auf allen Parteitagen hat es diesen Beschluß gegeben, nur bei der CSU nicht. Anscheinend macht Waigel das völlig unlegitimiert und undemokratisch nach Gutdünken.
Ich erwarte nächste Woche - deswegen haben wir diesen Tagesordnungspunkt in die Sitzungwoche eingebracht - eine ähnliche Problematik mit Herrn Rexrodt, der zum europäischen Energiebinnenmarkt eine andere Position hat als seine Kollegen in der CDU.
Ich muß einmal sagen: Dieses Parlament muß endlich dazu kommen, daß die auf der europäischen Ebene nicht einfach nach ihrem eigenen Parteigutdünken machen können, was sie wollen. Dieses Parlament muß, weil das Kabinett es nicht tun kann und Sie es nicht besser wissen, endlich einmal anfangen, die Minister zu kontrollieren.
Vielen Dank.
Zur Replik Kollege Lippold.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Frau Hustedt, ich freue mich natürlich, wenn Sie mir solche Vorlagen geben. Wissen Sie, ich habe in vielen Gesprächen mit verschiedenen Kollegen aus den anderen christlichen Parteien Europas lernen müssen, daß unsere Partei, CSU und CDU, innerhalb der christlichen Volksparteien Europas im Umweltschutz eine absolut einsam führende Rolle hat.
Ich denke daran, wie ich mich mit meinen Kollegen, insbesondere aus England, geprügelt habe. Sie haben in dieser Frage Eiszeitformulierungen und sich mit diesen Fragestellungen bei weitem nicht so auseinandergesetzt, wie wir das tun. Ich finde das richtig, daß wir gemeinschaftlich darauf hinweisen, daß sie sich ändern müssen.
Wenn sie in der Frage - Grüne gibt es da ja nicht - wenigstens einmal von ihren sozialdemokratischen Kollegen so gepeitscht würden, wie wir sie in den internationalen Konferenzen peitschen, dann hätte das vielleicht einen Sinn. Aber eine nationale Partei wie die Konservativen in England, die sich jedes
Dr. Klaus W. Lippold
Angriffs seitens der Sozialdemokraten dort nicht erwehren muß, weil es in dieser Richtung keine Vorstöße gibt, ist natürlich in dem, was Umweltschutz angeht, nicht gefordert. Wir stehen in der Bundesrepublik ganz anders da. Ich sage das einmal so: Wir sind hier die Speerspitze.
Ich sage Ihnen noch einmal: Zu Fragen der CO2-/ Energiesteuer hat Theo Waigel eine ganz eindeutige Position vertreten. Das ist belegbar.
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Es wäre vielleicht ganz gut, wenn wir hier mehr Gelegenheit zu längeren Debatten hätten. Da gebe ich einem Hinweis gerade recht, damit wir nicht in so verkürzter Zeit nur über die Leistungen, die wir bringen, reden, sondern sie wesentlich ausführlicher darstellen können. Das würde nämlich manche Mißverständnisse ausräumen und wäre im Zuge einer guten und ausreichenden Information auch der Öffentlichkeit besser.
Insofern noch einmal herzlichen Dank für Ihren Beitrag, Frau Hustedt; sonst hätte ich nicht mehr die Gelegenheit gehabt, dies klarzustellen.
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Simon Wittmann das Wort.
Frau Hustedt, daß Sie die CSU angesprochen haben, gibt mir Gelegenheit, zum Verhalten von Dr. Theo Waigel etwas festzustellen. Zu den Verhandlungen ist ja schon einiges gesagt worden. Die CSU war eine derjenigen Parteien, die die europaweite Einführung einer CO2-/Energiesteuer bereits vor drei Jahren auf dem Parteitag in Freising beschlossen und in das CSU-Programm aufgenommen hat. Dies wurde im letzten Jahr nochmals bestätigt. Ich kann Ihnen diesen Beschluß schriftlich zustellen. Das war vor der CDU, das war vor der F.D.P.
- Gut, Frau Homburger, ich lasse mich eines Besseren belehren; aber es war sicher einer der ersten Beschlüsse.
Ich darf auch daran erinnern, daß gerade von der CSU - vielleicht erinnern Sie sich an meine Rede hier im Parlament - zum Beispiel die europaweite Besteuerung des Flugbenzins ganz klar gefordert wurde. Die CSU wird sich nie nachsagen lassen, daß sie im Bereich von sinnvollem Umweltschutz und damit auch einer sinnvollen Einführung von Energiesteuern nicht immer mit dabei war und sogar sehr häufig den Vorreiter gespielt hat.
Ich bin überzeugt, daß wir mit einem realistischen Konzept - das vertreten wir - sinnvolle Lösungen für unsere Umwelt finden.
Ich erteile der Kollegin Birgit Homburger das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Jahr 1995 ist das Jahr wichtiger internationaler Konferenzen, um den weltweiten Umweltschutz voranzubringen. Dazu gehört sicherlich der Berliner Klimagipfel, aber auch die Konferenz zum Schutz der Artenvielfalt in Djakarta und die siebte Vertragsstaatenkonferenz des Montrealer Protokolls in Wien.
Das Montrealer Abkommen zum Schutz der Ozonschicht ist ein erfolgreiches Abkommen mit konkreten Reduzierungspflichten und echten Umsetzungserfolgen. Es wäre schön, wenn wir bei den anderen Übereinkommen die gleiche Qualität erreichen könnten.
Beim Schutz der Ozonschicht haben wir Erfolge zu verzeichnen, national und international. Die Industriestaaten müssen durch das Protokoll ihre bis dahin stufenweise reduzierte FCKW-Produktion bis Ende 1995 vollends einstellen. Die EU-Mitgliedstaaten haben das schon früher vollzogen. In Deutschland wurde im Mai 1994 die Produktion von FCKW eingestellt. Deutschland hat hier eine enorme Schrittmacherfunktion wahrgenommen. Dies muß man auch anerkennen. Wir sind uns aber auch völlig einig, daß man sich darauf nicht ausruhen kann.
Die Maßnahmen der Industriestaaten haben positive Auswirkungen. Der Chlorgasanstieg in der Atmosphäre hat sich meßbar verlangsamt. Die Konzentrationen werden bei ungestörter Entwicklung ab Anfang des nächsten Jahrzehnts abnehmen.
Aber die Erfolge sind natürlich dadurch gefährdet, daß die Entwicklungsländer einen hohen und dringenden Nachholbedarf haben, beispielsweise bei Kühlgeräten. Man denke nur an die hohen Lebensmittelverluste durch ungekühlte Lagerung in warmen Regionen. Würde dieser Bedarf mit der alten FCKW-Technologie gestillt, so wären natürlich alle Bemühungen um den Schutz der Erde vor der Zunahme der schädlichen und gefährlichen UV- Strahlung zunichte gemacht. Deshalb ist es so wichtig, daß auf der Konferenz in Wien die zehnjährige Übergangsfrist für die alte FCKW-Technik verkürzt wird. Wir müssen die Entwicklungsländer bei der Einführung neuer Technologien mit modernen Ersatzstoffen unterstützen. Die F.D.P. unterstützt die Bundesregierung, insbesondere Frau Dr. Merkel, dabei nachdrücklich.
Es ist auch im Interesse deutscher Arbeitsplätze - auch das will ich hier ganz deutlich sagen -, wenn
Birgit Homburger
die Hersteller von Kühlcontainern beispielsweise in Korea sich nicht länger Kostenvorteile durch die Verwendung von FCKW verschaffen, während deutsche Hersteller die Umstellungsinvestitionen auf sich genommen haben.
Ich möchte an dieser Stelle auch einmal darauf hinweisen, Frau Kollegin Hartenstein, daß Sie da in Ihrem Entschließungsantrag natürlich ein paar Widersprüche haben, beispielsweise in II, Nr. 3, wo Sie einerseits sagen, das Umweltbundesamt sei aufzufordern, seine Arbeiten zur Identifikation geeigneter Ersatzkältemittel zu intensivieren, und andererseits, umweltverträgliche Ersatzstoffe seien unverzüglich bekanntzugeben. Was denn jetzt? Sollen sie intensivieren, oder sollen sie unverzüglich bekanntgeben? Da muß man dann schon wissen: Wie weit sind wir eigentlich, was können wir, und was können wir nicht? Deswegen muß man über den Antrag noch einmal intensiv reden.
Die F.D.P. hat eine unmißverständliche Haltung zur Aufstockung des Montreal-Fonds. Wir sind für eine Aufstockung des Montreal-Fonds, weil ihm eine bedeutende Rolle zukommt. Ich denke, die Bereitschaft des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit, für eine Aufstockung des Fonds Mittel in seinen Haushalt umzuschichten, findet Anerkennung und Unterstützung. Deshalb freue ich mich, daß uns hier weitere Schritte und Maßnahmen von seiten der Bundesrepublik Deutschland mit Wirkung auf internationaler Ebene gelingen werden.
Aber auch national sind noch nicht alle Aufgaben gemacht. Es werden noch immer zu viele medizinische Aerosole unter Zuhilfenahme von FCKW hergestellt. Dort, wo es gleich gute und schnell wirksame Ersatzstoffe gibt - national oder international -, müssen sie eingesetzt werden. Die deutschen Arzneimittelhersteller müssen ihre Anstrengungen hier intensivieren. Über diesen Punkt müßten wir uns im Umweltausschuß noch einmal intensiv unterhalten.
Wichtig ist, daß mit den immer noch in vielen Altgeräten befindlichen Mengen an FCKW bei der Verschrottung sorgsam umgegangen wird, weil hier die größte Freisetzungsgefahr besteht. Industrie und Landesvollzugsbehörden sollten an dieser Stelle Hand in Hand arbeiten.
Die Konferenz in Wien zeigt, daß internationale Umweltpolitik ein schrittweiser Prozeß ist. Die Anfänge des Montrealer Protokolls waren aus damaliger Sicht sicherlich unbefriedigend. Der rasch fortschreitende Abbau der Ozonschicht verlangte nach mehr. Jetzt ist daraus ein dynamischer Prozeß geworden, der die technologische Entwicklung enorm vorangetrieben hat.
Die F.D.P. setzt darauf, daß sich diese technologische Entwicklung weltweit fortsetzt. Die Bundesregierung verdient dafür die volle und möglichst einhellige Unterstützung des Deutschen Bundestags. In diesem Sinne sollten wir im Ausschuß über unsere Anträge beraten.
Vielen Dank.
Frau Kollegin Eva Bulling-Schröter, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Über die ökologischen Auswirkungen von Fluorchlorkohlenwasserstoffen und anderen Ozonzerstörern ist in diesem Hause schon oft gesprochen worden. Es wurden auch Konsequenzen gezogen: FCKWs werden in der Bundesrepublik nicht mehr produziert.
Gleichwohl ist 1995 das bisherige Rekordjahr in puncto Ozonzerstörung. In der Stratosphäre ist das Ozonloch mit 20 Millionen Quadratkilometern doppelt so groß wie in ganz Europa. Dazu wird nun auch der Norden unseres Planeten nicht mehr verschont. So ging in Sibirien die Ozonkonzentration um dramatische 35 Prozent zurück. Die Konsequenzen für die natürliche Umwelt sind dem Hause sicher bekannt.
Die Schlußfolgerungen können also nur heißen, weltweit die Anstrengungen zum Verbot der Produktion und des Einsatzes aller Ozonkiller zu verstärken.
Sowohl der Antrag der SPD als auch der weitergehende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zielen darauf ab. Besonders begrüßen wir die Forderungen, die von den Industriestaaten für Osteuropa und die Entwicklungsländer bereitgestellten Mittel, welche einen sofortigen Ausstieg aus FCKW und anderen halogenierten Kohlenwasserstoffen befördern sollen, spürbar anzuheben.
Bezüglich des Verbots des Einsatzes von teilhalogenierten FCKWs lassen Konsequenzen sowohl in Deutschland als auch im europäischen Maßstab noch auf sich warten. Laut EG-Verordnung dürfen diese H-FCKW, im Hauptanwendungsbereich beispielsweise Dämmstoffe, noch nahezu 20 Jahre verwendet werden. Ersatzstoffe existieren; deren Anwendung ist aber auf Grund von Profitinteressen und der Rechtslage nur marginal. Hier muß die Bundesregierung aktiv werden. Nur ein Verbot kann den Innovationsverweigerungskartellen das Handwerk legen. Auch wir sind gegen diese Selbstverpflichtungen. Man muß einmal sagen, was Sache ist.
- Sache ist, daß das jetzt sofort verändert werden soll. Es gibt genügend Firmen, die jetzt schon Produkte entwickeln und eigentlich nur darauf warten - dazu liegen uns Unterlagen von Greenpeace vor -, daß die entsprechenden Gesetze verabschiedet werden. Dann könnten sie sofort auf den Markt kommen. Das
Eva Bulling-Schröter
wäre ja sicherlich auch im Sinne der Marktwirtschaft und damit in Ihrem Sinne.
- Ich glaube, Sie lehren uns das noch.
Meine Damen und Herren, die Ozonproblematik zeigt erneut: Eine Vielzahl von Umweltschädigungen bauen sich durch komplexe Wechselwirkungen weitgehend unbemerkt auf. Wenn sie dann akut sind und offensichtlich die Lebensgrundlage der Menschheit bedrohen, können die Prozesse trotz eingeleiteter Ursachenbekämpfung nur sehr schwer oder gar überhaupt nicht mehr beeinflußt werden. Niemand weiß beispielsweise, wann und ob die heutigen Maßnahmen zur drastischen Reduzierung der Ozonkiller tatsächlich greifen werden. Schließlich kommen die letzten Moleküle dieser hauptsächlich in der Vergangenheit eingesetzten Gase erst in Jahren in der Stratosphäre an.
Die Probleme sind also bekannt. Wir werden den Anträgen der SPD und der Grünen zustimmen.
Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Walter Hirche, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es besteht offenbar Einigkeit in diesem Hause darüber, daß der Schutz der Ozonschicht einerseits und die Bekämpfung des Treibhauseffekts andererseits die zwei wichtigsten umweltpolitischen Diskussionsthemen sind. Die Bundesregierung hat bei dem Thema „Schutz der Ozonschicht" in den letzten Jahren Erfolge vorzuweisen. Ich möchte das nur in Erinnerung rufen. 1986 betrug der FCKW-Ausstoß weltweit 1 Million Tonnen. Zukünftig werden wir auf Grund des Ersatzes von FCKW nur noch 300 000 Tonnen R 134 a haben. Da dieses Mittel nur ein Sechstel der Schadwirkung auf das Klima hat, bedeutet dies, daß wir innerhalb eines Zeitraums von gut zehn Jahren das Schadenspotential um 90 Prozent reduziert haben werden.
Auch der umweltpolitische Sprecher der SPD, Herr Müller, hat vor zwei Tagen auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung anerkannt, daß die Selbstverpflichtungen zu den FCKW erfolgreich gewesen sind. Deswegen werden wir auch auf diesem Wege fortfahren.
Darüber hinaus ist festzustellen, daß ein Ausstieg aus dem H-FCKW R 22 in Deutschland zum 1. Januar 2000 zu erreichen ist und in der EU für das Jahr 2015 und in der Welt für das Jahr 2030 diskutiert wird. Hier sind einige Maßnahmen eingeleitet.
Das gilt im übrigen auch für Forderungen, die im SPD-Antrag angeführt worden sind und über die wir im einzelnen sicherlich im Ausschuß reden können. Ich möchte das wegen der Zeit hier nicht tun. Zum Teil versuchen Sie, über Selbstverständlichkeiten und Dinge, die schon auf dem Wege sind, noch einmal zu beschließen. Beispielsweise ist in Deutschland kein methylbromidhaltiges Pflanzenschutzmittel zugelassen; es wird auch keines eingesetzt. Wir können natürlich zusätzlich ein Verbot beschließen; dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden.
Im Grunde geht es jetzt aber darum, daß wir aus den Maßnahmen, die wir in unserem Lande bei voller Berücksichtigung der Arbeitsplatzsituation haben durchführen können, internationale Konsequenzen ziehen. Es geht in Wien um zwei Dinge - auch da besteht mehr Einigkeit, als die Debatte gezeigt hat -: um eine Verkürzung der Ausstiegsfristen in den Industriestaaten - so wollen wir bei H-FCKW schon im Jahr 2015 statt 2030, wie bisher vorgesehen, aussteigen - und um eine Reduzierung des Methylbromids international um jeweils 25 Prozent ab 1998 im ersten Schritt und 2005 im zweiten Schritt.
Zum anderen ist es neben den Verschärfungen für die Industrieländer unser Ziel, die Entwicklungsländer einzubeziehen. Es gibt jetzt einen Streit im Vorfeld von Wien, weil die Entwicklungsländer erst die Finanzierung gesichert haben wollen und die Industrieländer sagen, daß erst die materiellen Regelungen beschlossen werden sollen. Ich denke, hier wird es noch eine Verständigung geben; denn ein Scheitern des Montreal-Prozesses kann sich niemand erlauben.
In der Debatte ist schon darauf hingewiesen worden, daß es erfolgreiche bilaterale deutsche Projekte mit China und Indien im Bereich der Haushaltskältetechnik gibt, die auch belegen, wie eindrucksvoll die deutschen Leistungen bei der Entwicklung alternativer Technologien auf der Basis von Kohlenwasserstoffen sind.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, Sie haben sich jetzt eben auch wieder etwas verschwommen ausgedrückt, was die finanzielle Unterstützung für die Entwicklungsländer anbetrifft. Herr Kollege Dr. Lippold hat hier eine überraschende Wendung gemacht, indem er einen Punkt aus unserem Antrag aufgegriffen und sich für eine Aufstockung des multilateralen Fonds eingesetzt hat, obwohl im Antrag der CDU/CSU lediglich von der Fortführung dieses Fonds die Rede ist. Meine Frage ist jetzt: Machen Sie sich das zu eigen? Wird die Bundesregierung in Wien ganz gezielt auch für eine Aufstockung der Mittel dieses multilateralen Fonds eintreten? Wenn ja, frage ich mich, warum die Bundesrepublik in den Vorverhandlungen nicht diese eindeutige Haltung eingenommen und sich gegen eine auch nur mäßige Erhöhung gewandt hat.
Herr Kollege Behrendt, Ausgangspunkt für die Regierung ist natürlich der multilaterale Fonds, wie wir ihn heute haben und wie er selbstverständlich auch für die Zukunft als Basis weiter vorgesehen ist. Die Bundesregierung - das stelle ich hier heute fest - nimmt mit Genugtuung zur Kenntnis, wie sich die Fraktionen insgesamt in diesem Hause eingelassen haben. Von daher gehe ich davon aus, daß es im Hinblick auf Wien - die Diskussion beginnt in der nächsten Woche - eine nochmalige und endgültige Festlegung innerhalb der Bundesregierung geben wird, bei der es zu einer Einigung zwischen den betroffenen Ressorts kommen muß. Ich kann nur über den Stand von heute reden, bin da aber sehr zuversichtlich.
Ich darf als zweiten Punkt für Wien neben dem Thema der Wiederauffüllung des multilateralen Fonds mindestens im bisherigen Umfang die Frage der Verschärfung der Kontrollmaßnahmen des Montrealer Protokolls nennen. So müssen zum Beispiel bei den H-FCKW die zulässigen Verbrauchsobergrenzen gesenkt werden, und der endgültige Ausstieg muß vorgezogen werden. Das habe ich gesagt, und ich habe auch die Reduktionsschritte bei Methylbromid angesprochen.
Ich denke, daß über die Einzelheiten der Punkte, die in den verschiedenen Anträgen enthalten sind, im Ausschuß ruhig gesprochen werden kann. Das kann man innerhalb von fünf Minuten nicht so detailliert tun, wie es die Anträge verdienen.
Ich möchte am Ende doch festhalten, daß sich die nationalen Maßnahmen, mit denen Deutschland vorangegangen ist, international sehen lassen können.
Ich sage dazu auch, meine Damen und Herren: Die Dritte Welt, die Entwicklungsländer werden Maßnahmen, die wir vorschlagen, nur dann annehmen, wenn wir weiterhin nachweisen können - ich betone: weiterhin nachweisen können -, daß wir Verbesserungen im Umweltbereich durchaus mit positiven Beiträgen auf dem Arbeitsmarkt verbinden können. Wenn wir das nicht im Einzelfall nachweisen könnten, würden sie auf dem alten Weg der Wirtschaft gehen, und das wollen wir vermeiden.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, die Kollegin Hustedt würde gern eine Zwischenfrage stellen.
Gerne.
Ich habe diese Frage auch schon Herrn Lippold gestellt, aber er hat darauf nicht geantwortet. Daher stelle ich sie noch einmal Ihnen.
Welche Position haben Sie zu den Fluorkohlenwasserstoffen, die zwar kein Ozonkiller sind, die aber den Treibhauseffekt beträchtlich vorantreiben werden, die teilweise ein Treibhauspotential von 60 000 im Vergleich zu CO2 haben? Welche Position hat die Bundesregierung dazu? Wird sie sich in Wien dafür einsetzen - meine bisherigen Informationen besagen, daß dieses Thema in Wien überhaupt nicht angesprochen wird -, daß auch das Problem der Fluorkohlenwasserstoffe dort thematisiert wird?
Frau Kollegin, soweit ich eben zugehört habe, hat Kollege Lippold durchaus auf diese Frage geantwortet, aber ich will es gern für mich tun, indem ich noch einmal festhalte, daß die Bundesregierung hier Schritt für Schritt handelt: das Wichtigste zuerst - das war die Substitution der FCKW -, und die anderen Schritte - H-FCKW, FKW, Methylbromid und andere Dinge - kommen hinsichtlich der Lösung der Probleme dann nacheinander.
Wissen Sie, ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie die Durchsetzung von umweltpolitischen Forderungen nicht dadurch anderen Fachbereichen gegenüber erschweren würden, daß Sie sozusagen alles auf einmal lösen wollen, sondern wenn Sie versuchen würden,
nach dem international gültigen Grundsatz „First things first" zuerst die Dinge zu machen, mit denen wir um 90 Prozent reduzieren können, und dann lassen Sie uns anschließend über die restlichen 10 Prozent reden.
Natürlich gehört alles auf die Tagesordnung, und über alles muß gesprochen werden. Ich verstehe auch Ihre Ungeduld, aber lassen Sie uns das doch dann in den entsprechenden Schritten machen; dann werden wir auch die anderen mitreißen können. Rationales Handeln ist gefragt und nicht emotionale schrille Aufregung.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen Nr. 13/2498, 13/3125 und 13/ 3158 - abweichend vom Überweisungsvorschlag auf der Tagesordnung - zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Gesundheit, den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, den Ausschuß für Fremdenverkehr und
Vizepräsident Hans Klein
Tourismus sowie an den Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge?
- Frau Kollegin Homburger, ich weiß nicht, ob Sie sich mit dem Vorschlag bei den Haushältern beliebt machen.
Es gibt also keine ernsthaft vorgebrachten anderweitigen Vorschläge. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung zwangsvollstreckungsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 13/341 -
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich offensichtlich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Alfred Hartenbach das Wort.
Ich würde .gern zurückstehen, wenn der Bundesrat, vertreten durch die bayerische Landesregierung - -
Also, jetzt haben die Parlamentarischen Geschäftsführer die Rednerliste festgelegt. Kommen Sie, Herr Hartenbach!
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Rechtsfreundinnen und Rechtsfreunde! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich hätte Ihnen wirklich gerne den Vortritt gelassen, Frau Männle.
Fast 120 Jahr alt, nur die gröbsten Falten wurden ab und an einmal geglättet - so stellt sich das Achte Buch der Zivilprozeßordnung dar. Es ist gut, daß der Bundesrat eine etwas umfangreichere Novellierung anregt; hoffen wir, daß uns ein echtes Facelifting, vielleicht sogar eine richtige Runderneuerung gelingt.
Ziel dieses Gesetzgebungsverfahrens muß sein: Die in zähen und mühsamen Verhandlungen errungenen Schutzfunktionen für Schuldner müssen erhalten bleiben. Für Gläubiger und Schuldner gleichermaßen muß das Verfahren wirtschaftlicher und effizienter gestaltet werden. Die Neuregelungen müssen der deutlichen Entlastung der Justiz dienen, ohne die rechtsstaatliche Ausrichtung des Verfahrens in Frage zu stellen.
Diesen Ansprüchen wird die 2. Zwangsvollstrekkungsnovelle zwar in weiten Bereichen gerecht; gleichwohl sind es gerade die entscheidenden Vorschriften, die entweder das Mögliche nicht voll ausschöpfen oder aus unserer Sicht die an der sozialen Gerechtigkeit orientierten Grenzen des Zwangsvollstreckungsrechts tangieren.
Wichtig ist - deshalb nenne ich diesen Punkt auch zuvörderst -, daß nun auch im Gesetz Klarheit geschaffen wird, daß Schuldner nur dann die Durchsuchung und Pfändung in ihrer Wohnung dulden müssen, wenn sie einwilligen oder eine Anordnung des zuständigen Gerichts vorliegt. Liegt aber nun eine solche Anordnung vor, dann ist nicht mehr nachzuvollziehen, warum hiermit nicht auch Vollstreckungshandlungen in Geschäftsräumen außerhalb der üblichen Geschäftszeiten, also zur Nachtzeit und an Sonn- und Feiertagen, zulässig sein sollen, ohne daß das Gericht in einem weiteren Schritt angerufen wird.
Die Gerichtsvollzieher werden heute schon unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit darauf achten, daß sie ihre Ziele nicht überschreiten. Kassenpfändungen in Kneipen und Taschenpfändungen bei Schwarzarbeitern wären leichter durchzuführen. Für Gläubiger wäre dies eine Beschleunigung, an der Rechtsstellung der Schuldner änderte sich nichts. Selbstverständlich ist auch, daß Wohnungsdurchsuchungen zur Nachtzeit nur auf Grund eines richterlichen Beschlusses zulässig sind.
Nun ist aber auch nicht jeder Beschleunigungseffekt mit dem bestehenden Schuldnerschutz in Einklang zu bringen. Der befristeten Geltendmachung von Räumungsschutz stehen wir schon skeptisch gegenüber, auch wenn uns durchaus bekannt ist, daß durch kurzfristig gestellte Schutzanträge der bereits bestellte Möbelwagen wieder abfahren muß. In diesem Falle gilt aber: besser unnütze Kosten verursacht als Schuldner und ihre Familien auf die Straßen geräumt.
Gleichermaßen haben wir Vorbehalte gegen die Vorladung der Schuldner zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung, wenn sie dem Gerichtsvollzieher den Zutritt zur Wohnung verweigern. Sie üben doch lediglich ein Grundrecht aus. Da muß man auch die Verhältnismäßigkeit der Mittel wahren und zunächst den zweiten, richterlich abgesegneten Versuch zur Vollstreckung machen, und dann erst kann die Ladung zur Abgabe zur eidesstattlichen Versicherung erfolgen.
Wir begrüßen sehr, daß in vielen Fällen das Verfahren für Gläubiger effizienter werden kann, ohne daß dabei in die Rechtsstellung der Schuldner eingegriffen wird. Das gilt bei den Vollstreckungen Zug um Zug, beim freihändigen Verkauf von Pfandgegenständen und insbesondere bei der Möglichkeit der
Alfred Hartenbach
ratenweisen Tilgung der Schuld nach erfolgter Pfändung. Der Gesetzgeber vollzieht und legalisiert, was schon lange von den Gerichtsvollziehern zu Nutz und Frommen von Gläubiger und Schuldner gehandhabt wird.
Leider macht der Entwurf auf halbem Wege halt. Was spricht eigentlich dagegen, die Forderung auch dann über den Gerichtsvollzieher in Teilbeträgen einzuziehen, wenn die Vollstreckung fruchtlos ausgefallen ist, sofern der Gläubiger damit einverstanden ist und nach der Einschätzung des Gerichtsvollziehers eine Tilgung ohne Neuverschuldung realistisch erscheint? Der Gläubiger will Bares sehen, und den Schuldner bewahrt man oft vor peinlichen Erklärungen, möglicherweise gar vor einer Kündigung seines Arbeitsverhältnisses; und ich denke, man kann das auch noch dann praktizieren, wenn die Abgabe der eidesstattlichen Versicherung durch die Haft erzwungen werden soll.
Bei dem Wort Haft muß ich etwas verweilen: Nach geltendem Recht kann der Schuldner dann verhaftet werden, wenn er die Abgabe der eidesstattlichen Versicherung verweigert. Der Gerichtsvollzieher liefert ihn in die nächste Justizvollzugsanstalt ein. Erklärt jedoch der Schuldner bei der Verhaftung, er wolle nun die eidesstattliche Versicherung abgeben, ist er dem Vollstreckungsgericht, also dem Rechtspfleger, vorzuführen. Das alles bereitet kein Problem zu üblichen Dienstzeiten. Abends und am Wochenende kann dies trotz Bereitschaftsdienst aber dazu führen, daß der abgabewillige Schuldner einen bis zwei Tage in Haft verbringt. Hier stellt sich natürlich die Frage: Muß das sein? Und die Antwort lautet genauso natürlich: Nein! Nach der Haftanordnung durch den Richter kann der Gerichtsvollzieher nämlich jetzt schon als reine Vollstreckungshandlung die eidesstattliche Versicherung abnehmen. Ich denke, die Freiheitsrechte des Schuldners sind sicherlich höher zu werten als die Befürchtung einiger, das Verfahren würde dadurch eine Abwertung erfahren.
Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, dessen Verwirklichung zu einer entscheidenden Entlastung der Vollstreckungsgerichte beitragen kann, aber intensiver und gewissenhafter Beratung bedarf, weil wir hier Neuland betreten und weil der Schutz der Schuldner für uns ein wichtiges Gut ist:
Bei der Vollstreckung in körperliche Sachen beauftragt der Gläubiger den Gerichtsvollzieher unter Übersendung des Vollstreckungstitels, der Vollstreckungsklausel und des Zustellungsnachweises sowie aller Forderungsaufstellungen unmittelbar.
Bei einer Vollstreckung in Geldforderungen übersendet er die gleichen Unterlagen zuerst dem Vollstreckungsgericht. Dabei bedient er sich in aller Regel eines Formulars, das er säuberlich ausgefüllt und mit seinem Namen, dem Namen von Schuldner und Drittschuldner und weiteren Angaben zum Schuldtitel versehen hat, also genauso wie bei der körperlichen Pfändung. Auf dieser Grundlage verfügt das Vollstreckungsgericht den allseits bekannten Pfändungs- und Überweisungsbeschluß, ohne erneut, wie viele irrtümlich glauben, in eine Sachprüfung eingetreten zu sein. Ganz überwiegend setzt das Vollstreckungsgericht nicht einmal den Betrag fest, der einbehalten werden kann. Dieser Betrag ergibt sich aus dem Gesetz - mit Ausnahme der Pfändbarkeit bei Unterhaltsansprüchen. Der Rechtspfleger macht also etwas, was ich ganz überwiegend als juristisches Tütenkleben bezeichne.
Für mich ist es vorstellbar, in diesen - teilweise einfach gelagerten - Fällen dem Gläubiger zu gestatten, wie bei der Mobiliarvollstreckung den Gerichtsvollzieher unmittelbar zu beauftragen, der auf Grund seiner Ausbildung die Zulässigkeit der Vollstreckung auch in diesen Fällen prüfen kann. Dabei muß sichergestellt sein, daß Schuldner und Drittschuldner mit der Zustellung des Zahlungsverbots ausreichend über Rechtsmittel und Rechtsbehelfe informiert und belehrt sind. Das Vollstreckungsgericht wird dann erst tätig, wenn sich Schuldner oder Drittschuldner gegen das Zahlungsverbot wenden. Der Schutz der Schuldner vor unzulässigen Eingriffen bleibt erhalten. Das Vollstreckungsgericht wird spürbar entlastet, und qualifizierte Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger werden für andere wichtige Aufgaben freigestellt, wie etwa für die Betreuungsverfahren oder für das Insolvenzrecht.
Halten wir fest: Der Entwurf ist eine beachtliche Antwort auf fällige Reformen. Er wirft allerdings Probleme auf, die den Schuldnerschutz tangieren. Er gestaltet das Verfahren in Teilbereichen effizienter, macht aber einige wünschenswerte Schritte nicht, die einer noch deutlicheren Entlastung der Justiz dienen könnten.
Lassen Sie uns nun - Herr Lanfermann, ich lade Sie besonders ein - gemeinsam beraten und entscheiden, ob wir am Ende des Verfahrens den alten Kuckuck etwas aufgeplustert hier vorfinden
oder ob es uns gelingt, einen aufregend bunten Vogel auszubrüten.
Ich danke Ihnen, daß Sie mir bei dieser trockenen Materie so zugehört haben.
Herr Kollege Dr. Dietrich Mahlo, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin von meiner Fraktion aufgefordert worden, noch interessanter zu reden als mein Vorredner, aber ich habe Sie schon darüber belehrt, daß es auch ein bißchen an der Materie liegt.
„In abgeschlossenen Kreisen lenken wir gesetzlich streng das in der Mittelhöhe des Lebens wiederkehrend Schwebende" - das steht in der „Natürlichen Tochter".
Wenn ich mir die apokalyptischen Sorgen vor Augen führe, die sonst an dieser Stelle diskutiert werden, dann finde ich es manchmal ganz wohltuend, wenn man als Jurist in dieser „Mittelhöhe des
Dr. Dietrich Mahlo
Lebens" einmal etwas ordnungsgemäß regeln kann, was sich diesen Dimensionen entzieht.
Das tun wir nun in Form eines sechzigseitigen Gesetzentwurfs.
Ich bitte um Verständnis dafür, daß ich jetzt nicht den Versuch mache, unter den 50 Vorschriften, die geändert werden sollen, einzelne aufzugreifen und sie hier Revue passieren zu lassen.
Immerhin darf man, glaube ich, in einer schnellebigen Zeit, wenn man seit 1877 - von 1877 stammt das bisherige Zwangsvollstreckungsrecht -, also etwa 120 Jahre damit hat arbeiten können, wahrscheinlich sagen, daß unsere Vorfahren eine ganz ordentliche gesetzgeberische Arbeit geleistet haben müssen. Jetzt allerdings ist die Zeit für Reformen reif.
Worum geht es? - Es geht um Straffung der Verfahren, Verlagerung von Kompetenzen, Verzicht auf bestimmte Klageerfordernisse, Erweiterung der Ratenzahlungsgewährung, überhaupt darum, Zwangsvollstreckung wirtschaftlicher und effizienter zu machen, ohne dabei undifferenziert zu werden. Es geht um Vereinfachung, Beschleunigung, Verbesserung der Durchsetzbarkeit von Titeln, Entlastung der Vollstreckungsorgane.
Durch immer neue Schuldnerschutzvorschriften ist in den vergangenen Jahrzehnten die Effektivität der Forderungsdurchsetzung über das nützliche Maß hinaus ausgehöhlt worden. Im Einzelfall blieb mancher Prozeß ein stumpfes Schwert und manches Urteil eine fromme Deklamation. Ein unwirksames Zwangsvollstreckungsverfahren aber kostet viel Geld, schädigt das Vertrauen in das Recht und richtet großen volkswirtschaftlichen Schaden an. Uneinbringliche Schulden führen Jahr für Jahr zu Preissteigerungen, zu hohen Zinsen, zu nachlassender Investitionstätigkeit, zu Insolvenzen, kurz: zu Schäden in Milliardenhöhe. Das gilt es bei der Reform zu beachten. Auf der anderen Seite gilt es auch, den Erfordernissen eines rechtsstaatlichen Verfahrens in jeder Phase zu genügen. Diese beiden Zielsetzungen charakterisieren die Gratwanderung, auf der wir uns befinden. Ich denke, daß man mit etwas Fingerspitzengefühl und etwas Weitsicht diese Wanderung unternehmen kann.
Ein besonderes Interesse - das ist schon gesagt worden - verdient der Vollstreckungsschutz in Wohnungsräumungssachen. Ich will das hier nicht weiter ausführen.
- Das ist ein Jammer. Ich kann aber Ihnen, Herr Kollege Fischer, ein Privatissimum anbieten.
Wichtig ist, daß eidesstattliche Versicherungen möglicherweise außer vor Gericht künftig auch von einem Gerichtsvollzieher in der Wohnung des Schuldners oder an einem anderen Ort abgenommen werden können. Das ist in dem Entwurf der Länder, soweit ich weiß, mit knapper Mehrheit unterlegen. Darauf werden wir zurückkommen.
Ich begrüße, daß die Voraussetzungen für die Prozeßkostenhilfe konkreter werden.
Das ist wichtig - das wird Sie, Herr Fischer, besonders brennend interessieren -, weil es eben dazu beiträgt, auch dem wirtschaftlich Schwachen, den wir immer den sozial Schwachen nennen, sein Recht auf Vollstreckung zukommen zu lassen.
- Vielen Dank, Herr Fischer.
Alles in allem enthält der Entwurf eine Reihe von einleuchtenden neuen Vorschlägen. Wir werden das im Ausschuß debattieren. Hoffentlich wird es eine interessante Diskussion.
Vielen Dank.
- Die Frage, die sich stellt, ist: Sind sie Gläubiger oder Schuldner? - Vielleicht wird uns das der Redner von ihrer Seite beantworten.
Erstens war die Redezeit des Herrn Kollegen Mahlo schon abgelaufen; zweitens können Sie nur einen Zwischenruf machen, Herr Kollege Fischer;
für eine Zwischenfrage bedarf es der Worterteilung.
Aber wir haben das geistig bereits in einen Zwischenruf umgewandelt, Herr Kollege.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Heinz Lanfermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr verehrte Frau Staatsministerin, ich freue mich, daß Sie heute abend bei uns sind; denn selten machen uns Gesetzentwürfe aus dem Bundesrat so viel Freude wie dieses Werk, das
Heinz Lanfermann
hier gerade von meinen Vorrednern schon beschrieben worden ist. Es handelt sich in der Tat - deswegen sind ja die wenigen Feinschmecker aus dem juristischen Bereich heute abend hier so begeistert versammelt - um ein wirklich schönes Werk von 60 Druckseiten. Es gibt nicht nur viele Paragraphen in diesem Werk; es gibt auch unglaublich viele Zitate aus der einschlägigen Zwangsvollstreckungsliteratur. Ich kann wirklich nur jeden einladen, dies einmal zu lesen, obwohl ich zugebe, daß im Gegensatz zu dem vorherigen Thema, Ozon, oder auch zu Fußball oder Diäten dies ein Thema ist, von dem nicht alle behaupten, sie würden etwas davon verstehen.
Ich muß sagen: Bei der Vorbereitung der wenigen Minuten, die mir hier nur bleiben - -
- Herr Fischer, ich finde es ganz toll, daß Sie zu diesem Thema gekommen sind. Jetzt haben wir zwar leider keine Rede von einem Ihrer Kollegen hier gehört, weil sie sicherlich verhindert sind. Aber ich hatte schon den Verdacht, daß das Thema Zwangsvollstreckung Ihnen ohnehin Probleme macht, weil es vielleicht mit dem Postulat gewaltfreier Politik nicht so ganz in Übereinstimmung zu bringen ist.
Ich glaube, Sie haben gerade auch geklatscht, als Herr Dr. Mahlo etwas zugunsten der Vollstreckungsgläubiger gesagt hat. Jedenfalls habe ich das so gesehen.
- Na ja, das ist eine gute Entwicklung, Herr Fischer.
- Ich finde es auch gut, daß Sie zu unserer Parteizentrale kommen, um die Plakate dort zu lesen. Auch das ist völlig in Ordnung. Sie können noch einiges von uns lernen, Herr Fischer.
Aber kommen wir zu diesem trockenen Thema zurück, das bisher in eher humorvoller Form abgehandelt worden ist. Ich denke, Herr Kollege Hartenbach, eines sollten wir nicht tun: Es hat keinen Sinn, sich bei diesem Thema in Einzelheiten - da wir über Zwangsvollstreckung sprechen, möchte ich den Begriff gleich fachgerecht gebrauchen - zu verstrikken. Das versteht bei der Kürze der Diskussion niemand; wir werden das im Rechtsausschuß behandeln. Vielleicht ist eine solche Verfahrensweise ein Beispiel dafür, wie sinnvoll es sein könnte, Gesetzentwürfe ohne eine Debatte im Plenum direkt in den Rechtsausschuß zu verweisen, um sie dort - selbstverständlich in aller Gründlichkeit - zu behandeln.
Herausragend an diesem Gesetzentwurf ist vor allen Dingen, daß überflüssige Wohnungsdurchsuchungen vermieden werden sollen und man dadurch schneller zur eidestattlichen Versicherung kommen kann.
Ich möchte hier - ich denke, das ist ein ganz guter Ort dafür - noch ein Wort zu den Gerichtsvollziehern sagen. Die Arbeit der Gerichtsvollzieher ist nicht einfach. Sie ist in den letzten Jahren auch nicht gerade einfacher geworden. Ich denke, es ist gut, einmal ein Lob dafür auszusprechen, wie diese Arbeit vollbracht wird. Es ist schließlich nicht angenehm, Leuten, die einen Prozeß verloren haben oder auf andere Weise der Zwangsvollstreckung unterliegen, dauernd nahezutreten, sie zur Zahlung aufzufordern und zu prüfen, ob bei ihnen noch etwas zu pfänden ist oder nicht.
Aber es ist eine notwendige Arbeit, denn auch die Gläubiger befinden sich in einer schwierigen Situation. Wie viele kleine und mittlere Betriebe leiden darunter, daß ihre berechtigten, ja sogar vor Gericht erstrittenen Forderungen nicht vollzogen werden können und sie selbst dadurch in Liquiditätsschwierigkeiten kommen! Das hat wiederum Folgen für die Arbeitsplätze.
Zwangsvollstreckung ist ein Thema, das zwar in der Materie trocken ist, aber im Leben eine große Bedeutung hat. Erlauben Sie mir noch ein letztes Wort: Der Gesetzentwurf geht auf einen Beschluß der Justizministerkonferenz von 1988 zurück. Sieben Jahre sind für die Entwicklung solcher Vorschriften keine lange Zeit. Wenn ich an die Entwicklung der Insolvenzrechtsreform denke, so muß ich feststellen, daß das noch etwas länger gedauert hat. - Ich sehe, Herr Funke nickt ganz verständnisvoll.
Es ist in diesem Zusammenhang überlegt worden, ob man die eidesstattliche Versicherung im Verfahrensablauf nicht etwas vorzieht, ob sie zum Beispiel nicht vom Gerichtsvollzieher abgenommen werden könnte. Dagegen spricht nicht die Person des Gerichtsvollziehers als solche - in ihn hätte ich schon Vertrauen -, dagegen spricht eher die Überlegung, daß wir schon einmal einen ähnlichen Schritt gemacht haben.
Ihre Redezeit!
Ich komme sofort zum Ende, Herr Präsident. - Es gab früher den Offenbarungseid. Diesen haben wir zur eidesstattlichen Versicherung heruntergestuft. Aber der Vorgang ist schon etwas Bedeutendes, und das soll auch der Schuldner wissen. Deswegen haben wir Bedenken, diesen weiteren Schritt zu gehen. Zumindest sollte man zuerst einmal die Erfahrungen mit diesem Gesetzentwurf - wenn er als Gesetz in Kraft getreten ist - abwarten, um dann noch einmal über diesen Schritt nachzudenken.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, der Kollege Volker Beck, möchte seinen Debattenbeitrag zu Protokoll geben.*) Ich setze das Einverständnis des Hauses dafür voraus. - Danke.
Als nächstem erteile ich Professor Uwe-Jens Heuer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß nicht, ob Herr Fischer hier war, um in Vorbereitung seines Parteitages hinsichtlich der Möglichkeit, Zwang anzuwenden, von uns zu lernen.
Der vorliegende Gesetzentwurf enthält 30 mehr oder weniger einschneidende Änderungen der Vorschriften über Zwangsvollstreckung. Herr Hartenbach hat schon davon gesprochen, daß es sich dabei um mehr als Kosmetik handelt. Eine Entrümpelung einer so alten Vorschrift und die Herstellung ihrer besseren Handhabbarkeit unter den heutigen Bedingungen sind zweifellos geboten. Nach dem ersten Eindruck bietet der Entwurf hier einige akzeptable Lösungen an, so mit den Änderungen zu §§ 813, 825 und 828 ZPO. Auch die Übernahme der durch die Rechtsprechung klargestellten Lage zu Art. 13 des Grundgesetzes in die Vorschriften zur Wohnungsdurchsuchung ist im Sinne der Rechtssicherheit zu begrüßen.
Neben all den Klarstellungen, Modernisierungen und Anpassungen an die wohlverstandenen Interessen der beiden sich im Zwangsvollstreckungsverfahren gegenüberstehenden Parteien geht es der Novelle aber in erster Linie - das hat Herr Mahlo hier positiv hervorgehoben - um die Verbesserung der Stellung der Gläubiger. Die Durchsetzung titulierter Forderungen soll verbessert werden.
Natürlich gehört zum Rechtsstaat auch, daß vollstreckungsfähige Ansprüche durchgesetzt werden können. Es ist auch kaum zu bestreiten, daß Gläubiger es unter den bisher obwaltenden Umständen nicht leicht haben, ihre Forderungen durchzusetzen; sie brauchen dazu Geduld, Energie und Geld. Selbst wenn sie dies alles aufbringen, werden ihre Forderungen in vielen Fällen nicht zu befriedigen sein. Abstrakt gibt es also durchaus einen Bedarf, die Stellung der Gläubiger zu verbessern, ihre Chancen zur Befriedigung von Forderungen auch durch eine Verkürzung und Vereinfachung des Verfahrens zu erhöhen. Allerdings stellt sich die Lage konkret doch wohl so dar, daß die Mehrheit der Schuldner, namentlich bei der Mobiliarvollstreckung und der Wohnungsräumung, zu den ärmeren und ärmsten sozialen Schichten gehört. Vereinfacht gesagt: Hier wird von oben nach unten vollstreckt.
Nun mache ich mir keinerlei Illusionen, daß dies in einem sozialen Rechtsstaat zu verhindern wäre. Es wird aber meines Erachtens bei der Beratung des Entwurfs im Ausschuß genau zu prüfen sein, ob das
*) Anlage 5
schutzwürdige Interesse der Schuldner, auch unter den Bedingungen der Zwangsvollstreckung einen gewissen Freiraum für ein menschenwürdiges Leben zu behalten, gewahrt ist oder durch den Entwurf weiter eingeschränkt wird. Die Bundesregierung hat hier schon Bedenken zum Beispiel im Zusammenhang mit § 811 ZPO, angemeldet.
Ich möchte abschließend auf ein brennendes Problem hinweisen. Es gibt Vermögensgegenstände, deren Besitz von existentieller Bedeutung für ein menschenwürdiges Dasein ist. § 811 ZPO hat dem durch die Aufstellung unpfändbarer Gegenstände Rechnung getragen. Zu diesen Gegenständen gehört meines Erachtens die Wohnung. Wenn bestimmte Gegenstände unpfändbar sind, wenn ein bestimmtes Einkommen unpfändbar ist, warum sollte dann die Räumung der Wohnung mit dem Ergebnis der Obdachlosigkeit weiterhin möglich sein? Ich weiß, daß dies kein Problem der ZPO allein oder der ZPO in erster Linie ist. Angesichts von bereits jetzt zirka 920 000 Obdachlosen sollte die dramatische Zunahme von Räumungsklagen vor allem in Ostdeutschland - in kurzer Zeit in Leipzig um 112 Prozent - auch uns veranlassen, darüber nachzudenken, wie Räumungen möglichst vermieden werden können, und nicht unbedingt nur darüber, wie Räumungen für den Vermieter günstiger gestaltet werden können.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile der bayerischen Staatsministerin für Bundesangelegenheiten und Bevollmächtigten des Freistaats Bayern beim Bund, Frau Professor Ursula Männle, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag berät heute erstmals über den Entwurf des Bundesrates zu einem Zweiten Gesetz zur Änderung zwangsvollstreckungsrechtlicher Vorschriften. Ich bedanke mich bei allen Fraktionen des Hauses für das Lob, das dieser Vorlage bisher zuteil geworden ist.
Mit diesem Gesetzentwurf erreichen jahrelange Vorarbeiten von Spezialisten des Zwangsvollstrekkungsrechts endlich den zuständigen Gesetzgeber. Ich darf ganz kurz auf die Entstehungsgeschichte eingehen: Bereits im Frühjahr 1988 hatten die Justizministerinnen und Justizminister der Länder eine Überarbeitung des Zwangsvollstreckungsrechts gefordert, das im wesentlichen - das ist schon ausgedrückt worden - in seiner über 100jährigen Geschichte unverändert geblieben ist. Im Dezember 1988 setzte die Justizministerkonferenz eine Arbeitsgruppe ein, an der sich auch das Bundesministerium der Justiz beteiligte. Die Arbeitsgruppe hat der Justizministerkonferenz im Herbst 1992 einen Abschlußbericht vorgelegt. Die Vorstellungen der gerichtlichen Praxis und der betroffenen Verbände waren in die Überprüfung des geltenden Zwangsvollstreckungsrechts und die Erarbeitung von Reformvorschlägen eingebunden worden. Auf der
Staatsministerin Ursula Männle
Grundlage des Abschlußberichts erstellte die Arbeitsgruppe schließlich den vorliegenden Gesetzentwurf, der bereits dem 12. Deutschen Bundestag vorlag, der aber am Ende der vorherigen Legislaturperiode nicht mehr behandelt wurde.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, trotz der langen Vorgeschichte des Gesetzentwurfes - ich denke, auch Sie sind froh, daß wir am Ende dieser Geschichte angekommen sind - beraten wir eine im guten Sinne moderne Novelle. Das bisher geltende Zwangsvollstreckungsrecht weist zum Teil überflüssige Verfahrensabläufe auf. In der über 100jährigen Geschichte der Geltung des Zwangsvollstreckungsrechts hat sich divergierende Rechtsprechung entwickelt, die den Gesetzeswortlaut überlagert. Manche Formalitäten sind als überflüssig erkannt. Die Reformvorschläge der Novelle straffen die Verfahrensabläufe und liefern damit ein gutes Beispiel für die Bemühungen um einen schlanken Staat.
Soweit es die Funktion des Gerichtsvollziehers als Vollstreckungsorgan zuläßt, werden ihm maßvoll Kompetenzen übertragen, die bislang in der Hand des Vollstreckungsgerichts lagen. So bekommen wir unbürokratische Abläufe, die die Entscheidungskompetenz, wo es rechtlich zulässig ist, in die Hand des Vollstreckungsorgans selbst legen.
Außerdem bereinigt der Entwurf Unklarheiten und setzt langjährige Rechtsprechung zum Schutz des Schuldners um, so etwa die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Notwendigkeit einer richterlichen Anordnung der Wohnungsdurchsuchung beim Schuldner. Die 2. Zwangsvollstrekkungsnovelle beschleunigt den Ablauf des Vollstrekkungsverfahrens, ohne das Schutzbedürfnis des Schuldners zu vergessen. Sie schlägt auch im Interesse des Schuldners mehr Flexibilität vor, etwa bei der Gewährung des Vollstreckungsaufschubs auf Grund von Ratenzahlungen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die 2. Zwangsvollstreckungsnovelle dient auch der Beschleunigung der Zwangsvollstreckungsverfahren. Das eigentliche Ziel der Zwangsvollstreckungsnovelle ist aber eine Anpassung der Gesetzeslage an moderne Entwicklungen. Deshalb sollte man die Novelle nicht mit anderen Vorstößen zur Straffung und Beschleunigung des gerichtlichen Verfahrens verwechseln. Nicht umsonst bin ich auf die Entstehungsgeschichte des Reformvorhabens eingegangen. Als die Arbeitsgruppe ihre Beratungen aufnahm, war an die deutsche Wiedervereinigung und die durch sie ausgelöste Personalhilfe der Justiz nicht zu denken. Damit gehört die 2. Zwangsvollstrekkungsnovelle nicht in die Reihe der - aus der Sicht der Länder gewiß notwendigen - Rechtspflegeentlastungsgesetze.
Die Bemühungen um eine effektive Zwangsvollstreckung sind ein wichtiger Schritt und ein selbständiger Baustein zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Nur wo einem gerichtlichen Erkenntnisverfahren eine zuverlässige und rasche Zwangsvollstreckung folgt, bestehen verläßliche rechtliche Rahmenbedingungen für das Wirtschaftsleben. Die 2. Zwangsvollstreckungsnovelle hilft, diese Rahmenbedingungen auf eine neue, moderne Grundlage zu stellen.
Herr Abgeordneter Hartenbach, Schuldner- und Gläubigerschutz müssen beide beachtet werden. Unser Ansatz dient dazu, die Rechtspflege zu entlasten. Wir sind gern bereit, die Vorschläge und Einzelheiten, die Sie hier angesprochen haben, mitzudiskutieren und eventuell einzubeziehen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz, Rainer Funke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die 2. Zwangsvollstreckungsnovelle ist für die Praxis ein ganz wichtiges Gesetz. Deswegen wundere ich mich eigentlich, daß hier außer einem prominenten Anwaltskollegen keine weiteren Anwaltskollegen im Raum sind; denn die müssen damit später arbeiten.
- Es schadet einem Anwaltskollegen, der gleichzeitig Bundestagsabgeordneter ist, nicht, wenn er sozusagen die Rechtsfortbildung im eigenen Hause mitbekommt. Ich hätte das ganz gern gesehen. Bei der Beratung der Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung werden wahrscheinlich mehr Kollegen hier sein.
Ich darf das als Anwalt sagen.
Die Bundesregierung unterstützt diese Novelle sehr. Sie ist in der Tat für die Praxis ungewöhlich wichtig. Sie setzt eine Reihe von Gerichtsurteilen um, auch die des Bundesverfassungsgerichts. Darauf ist Frau Professor Männle bereits eingegangen.
Im Bereich der Verwertung von gepfändeten Sachen räumt die Novelle dem Gerichtsvollzieher weitergehende Befugnisse ein. So kann er künftig auf Antrag von Gläubigern oder Schuldnern selbst entscheiden, ob er eine andere Verwertung als durch Versteigerung, etwa durch freihändigen Verkauf oder Eigentumsübertragung auf den Gläubiger, vornimmt. Das ist eine für die Praxis ganz wichtige Angelegenheit.
Erfreulich aus der Sicht der Bundesregierung ist es auch, daß die Novelle eine in der Praxis festzustellende Verlagerung der Bedeutung von den Mobiliarvollstreckungen hin zu Forderungspfändungen berücksichtigt. Die eidesstattliche Versicherung setzt nicht mehr stets eine fruchtlose Sachpfändung voraus. Insoweit meine ich, daß der Bezug von Herrn Kollegen Hartenbach nicht ganz richtig war, denn es
Parl. Staatssekretär Rainer Funke
ist bei der Zwangsvollstreckung doch immer wichtig gewesen, die Bescheinigung der Erfolglosigkeit vom Gerichtsvollzieher zu bekommen und dann auf diese Weise zu erfahren, wo gegebenenfalls noch pfändbare Habe, insbesondere im Bereich der Lohnforderungen usw. vorhanden ist.
Lassen Sie mich abschließend jedoch ein Bedenken äußern. Wir wollen die Ausdehnung des Schutzes des privilegierten Vorbehaltsverkäufers in den Ausschußberatungen noch einmal problematisieren. Das ist insbesondere im Bereich der freien Berufe nicht ganz unwichtig.
Meine Damen und Herren, diese Zwangsvollstrekkungsnovelle ist kein Jahrhundertwerk. Vielmehr wird versucht, das umzusetzen, was in diesen vier Jahren umsetzbar erschien. Aber wir müssen natürlich noch systematisch und strukturell eine Gesamtreform des Zwangsvollstreckungsrechts vornehmen. Nicht zu Unrecht ist von Herrn Kollegen Hartenbach und auch von Herrn Lanfermann darauf hingewiesen worden, daß die ZPO über 100 Jahre alt ist und daß wir noch einiges systematisch verändern können und müssen. Wir konnten das aber in der Kürze der Zeit nicht, denn es gibt im Zwangsvollstreckungsrecht eine ganze Reihe von Verweisungen und Verzahnungen, zum Beispiel mit der Abgabenordnung und der Insolvenzordnung. Insoweit müssen wir weiterarbeiten. Ich hoffe, daß wir dann in der 3. Zwangsvollstreckungsnovelle noch grundlegende Arbeiten erledigen können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/341 an den Rechtsausschuß vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Es werden keine gemacht. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf:
a) Beratung des Zwischenberichts des Innenausschusses gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung
zu dem von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Ausländergesetzes und des Asylverfahrensgesetzes
zu dem vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Ausländergesetzes
zu dem vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Asylverfahrensgesetzes
- Drucksachen 13/809, 13/1188, 13/1189, 13/ 3132 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Cornelia Schmalz-Jacobsen
Cern Özdemir
Ulla Jelpke
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Müller und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Aufenthaltsrecht für Flüchtlinge mit langem Aufenthalt - Änderung von § 100 des Ausländergesetzes
- Drucksache 13/2550 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß Rechtsausschuß
Ich darf zunächst fragen: Ist für diese Punkte etwas zu Protokoll gegeben worden? - Nein.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Dr. Sonntag-Wolgast.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zur Einstimmung möchte ich vor diesem erlauchten kleinen Kreis ein Bündel von Briefen zur Hand nehmen und einige wenige Sätze zitieren. Da heißt es zum Beispiel:
Ich bitte, Familie M. Bleiberecht zu gewähren, da es mir unchristlich erscheint, sie nach Syrien zurückzuschicken, weil ihr dort als Mitglied einer christlichen Minderheit Gefahr droht. Außerdem sollten sie in Deutschland bleiben dürfen, weil sie hier schon über sieben Jahre leben.
So weit diese Passage eines Bittschreibens. Angehängt ist eine lange Unterschriftenliste von Nachbarn und Freunden.
Beispiel Nummer zwei, an uns im Innenausschuß gerichtet, eine Bitte um Menschenrechtsschutz für eine Familie, die 1989 zu uns gekommen ist, wegen ihres aktiven Eintretens für ihren jüdisch-christlichen Glauben aus der damaligen UdSSR ausgebürgert wurde und jetzt in einer rheinischen Kleinstadt lebt. Ich zitiere noch einmal:
Die Kinder Mira und Paul absolvieren gerade die Hauptschule und stehen in der praktischen Berufsausbildung. Die Familie ist völlig in der deutschen und europäischen Kultur aufgegangen. Sie hat besonders dankbar nach der religiösen und persönlichen Unterdrückung in der UdSSR das Gemeindeleben geschätzt und wahrgenommen. Der Sohn David ist am 5. März 1991 in Bad Neuenahr geboren.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, Sie alle kennen aus Ihren Wahlkreisen solche Briefe, Bittgesuche, Protestresolutionen, Zeitungsartikel.
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
Ausländische Familien sollen nach einem mehrjährigen Asylverfahren Deutschland wieder verlassen - und das, obwohl sie hier inzwischen Wurzeln geschlagen haben, ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten, ihre Kinder in Schulen oder Kindergärten schicken. Wir sprechen in ziemlich anonymer Kühle von „Altfällen". Wir meinen ehemalige Asylbewerber, De-facto-Flüchtlinge - sprich: Geduldete - und Vertriebenenbewerber, denen das geltende Ausländerrecht die Ausreise zwingend vorschreibt, obwohl sie sich hier voll integriert haben und niemandem „auf der Tasche" liegen.
Es ist schon bemerkenswert, wie rasch den deutschen Bürgerinnen und Bürgern die Parole „Ausländer raus" auf den Lippen erstirbt, wenn sie solche Menschen einmal persönlich kennenlernen, sich mit ihrem Schicksal befassen und vielleicht sogar Freundschaft schließen. Wenn dann diese Familien Deutschland verlassen sollen, erhebt sich massiver Widerstand.
Nun weiß ich sehr wohl, weiß die SPD-Bundestagsfraktion, daß wir längst nicht allen Zugewanderten Heimstatt auf Dauer bieten können. Die „Altfallregelung" aber, für die wir im Gleichklang mit dem Bundesrat werben, und zwar seit mehr als einem halben Jahr, ist der Versuch eines Brückenschlages zwischen den rigorosen Vorgaben des Gesetzes und dem Gebot der Humanität. Wir wollen schlicht und einfach die Möglichkeit schaffen, daß Ausländern mit mindestens einem minderjährigen Kind die Aufenthaltserlaubnis nach fünfjährigem Aufenthalt erteilt werden kann. Das ist zwar immer noch eine lange Zeitspanne, aber eine wohl notwendige. So kurz, wie Bündnis 90/Die Grünen sie in ihrem Antrag ansetzen, können wir sie wohl nicht machen.
Meine Damen und Herren, Saumseligkeit, Desinteresse und Starrsinn sind Markenzeichen für die Ausländer- und Flüchtlingspolitik der Bundesregierung.
Hinzu kommt, daß in diesem Themenbereich - ähnlich wie in anderen Fragen, wie beim Solidarzuschlag oder der Gesundheitsreform - der Spaltpilz zwischen Union und F.D.P. wächst. Nur spekulieren Sie offenbar darauf, daß der interne Zwist in dieser Frage nicht so auffällt.
Leider müssen wir Ihnen hier einen Strich durch die Rechnung machen und bedienen uns einmal mehr des Mittels, mit Hilfe der Geschäftsordnung die parlamentarische Waffe der Beratung des „Zwischenberichtes für den Innenausschuß" einzuklagen, weil wir Hinhaltetaktik und Verzögerung nicht weiter dulden können.
Wir brauchen endlich eine humane „Altfallregelung". Wir brauchen sie bald, und wir brauchen von Ihnen endlich eine klare Antwort.
Diese Antwort kann aber nicht so ausfallen, wie es uns der Innenminister vor zwei Wochen am Beispiel der Länder Rheinland-Pfalz und Hessen vorgeführt hat. Er verkündete, daß bislang als „Altfälle" behandelte Familien nun sofort ausreisen sollten, und das zu einem Zeitpunkt - das muß ich betonen -, in dem inhaltlich deckungsgleiche Gesetzentwürfe des Bundestages wie auch der Länderkammer noch im Ausschuß anhängig sind. Ich meine, dieses Verhalten verstößt nicht nur gegen den Grundsatz der Humanität, sondern auch gegen den parlamentarischen Brauch, schwebende Gesetzesänderungen nicht durch eine Politik der vollendeten Tatsachen zu konterkarieren.
Wenn der Innenminister, wenn die Mehrheit im Kreise der Regierungsfraktionen schon nicht auf die Opposition hören mag, dann vielleicht wenigstens auf jemanden aus Ihren eigenen Reihen. Denn es war der rheinland-pfälzische CDU-Landesvorsitzende, unser ehemaliger Bundestagskollege Johannes Gerster, der scharfe Kritik am Verhalten Manfred Kanthers übte und sogar das Wort „Inhumanität" in den Mund nahm.
Ich darf auch daran erinnern, daß sich der F.D.P.-Kollege Burkhard Hirsch - heute abend leider nicht zugegen - postwendend in diese Debatte einschaltete und den Innenminister vor übereilten Entscheidungen warnte. Sein Vorschlag, für Familien mit mindestens einem minderjährigen Kind nach fünf Jahren Aufenthalt eine Aufenthaltsmöglichkeit zu gewähren, stimmt völlig mit unserem Antrag überein. Warum dann nicht einfach zustimmen?
Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., es muß doch auch bei Ihnen wenigstens hin und wieder der Drang spürbar werden, Ihren hehren Worten parlamentarische Taten folgen zu lassen.
Das sage ich übrigens auch an die Adresse derjenigen, die hier im Plenum eine harte Linie der Ablehnung verfolgen, sich im Wahlkreis aber ganz anders gebärden, nämlich verständnisvoll und tolerant. Wir erleben da ganz seltsame Wandlungen. Christlich- demokratische und christlich-soziale Hardliner werden angesichts eines konkreten Falles, der in einem Dorf oder einer Stadt für Aufregung sorgt, plötzlich zu einer Riege von Wohltätern.
Ich will Ihnen auch das an einem Beispiel erläutern: Der CDU-Bürgermeister einer Gemeinde in Rheinland-Pfalz wendet sich gemeinsam mit weiteren Parteifreunden mit einem Gnadengesuch für den Verbleib einer rumänischen Familie hilfesuchend an
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
den Innenminister in Mainz. Der Innenminister, SPD, federführend für die Bundesratsinitiative zur „Altfallregelung", muß die Bittsteller auf die nun mal noch geltende Rechtslage verweisen, die der Ausländerbehörde keinen weiteren Spielraum gewährt. Ich finde, das ist ganz schön paradox.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, hier im Parlament eine strikte Absage zu erteilen, vor Ort oder in einer bestimmten Gemeinde aber den Fürsprecher zu spielen ist inkonsequent und unaufrichtig.
Merken Sie sich: Kunstvoller Spagat findet Applaus vielleicht im Zirkus oder im Varieté, aber nicht im politischen Alltag; denn da erwarten die Bürgerinnen und Bürger, daß Reden und Handeln zusammenpassen und daß Mandatsträger einer Partei in Bonn nichts anderes sagen als in Remagen oder in Erfurt oder vor laufenden Fernsehkameras.
Verantwortungsvolle Innenpolitik sollte nicht nur auf Gesetzessystematik achten, sondern auch auf die Akzeptanz des Handelns und auf die Logik der Menschlichkeit. Wer das mißachtet, opfert Einsicht und Toleranz der Starre eines Prinzips.
Wir würden im übrigen auch so manchen Fall von Kirchenasyl als absolut letzte Zufluchtsmöglichkeit überflüssig machen, wenn wir endlich eine andere Regelung hätten.
Es handelt sich im übrigen - auch das will ich sagen - um eine überschaubare Personengruppe, die in den Genuß einer „Altfallregelung" käme - keineswegs um ein neues, riesiges Einfallstor für Zuwanderer, wie es einige Gegner unseres Entwurfs schon düster an die Wand malen.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Herzliche Bitte und Appell: Machen Sie diesem unwürdigen Gezerre rasch ein Ende! Seit April liegen die Gesetzentwürfe für die „Altfallregelung" vor. Sie sind in erster Lesung beraten; die Vorarbeit ist geleistet. Sorgen Sie für eine baldmögliche Beratung im Innenausschuß und natürlich für ein positives Votum; dann haben wir diese vorsichtige und vernünftige Reform endlich geregelt. Die Sache drängt!
Ich danke Ihnen.
Frau Kollegin Erika Steinbach, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag, den Stand der Beratungen im Innenausschuß zu den unterschiedlichsten Gesetzentwürfen zum Ausländergesetz bzw. zum Asylverfahrensgesetz heute auf die Tagesordnung des Plenums zu setzen, ist, so meine ich, durchaus von Ungeduld geprägt.
- Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, ich glaube schon, daß er von Ungeduld geprägt ist; aber gut Ding will Weile haben.
Ich kann nur eines sagen: Wenn wir Gesetzentwürfe sehr schnell beschließen, dann maulen Sie. Beraten wir gründlich, geht es Ihnen zu langsam. Sie hätten lieber das Mittelmaß. Im Mittelmaß wollen wir aber nicht beraten. Wir wollen abwägend beraten und den Sachverhalt miteinander gründlich prüfen.
- Das sind keine Krokodilstränen; das ist bei der Komplexität und der Gewichtigkeit dieser Materie absolut notwendig.
Vor diesem Hintergrund möchte ich auf Details überhaupt nicht eingehen. Die Altfallregelung ist im Zusammenhang mit dem Asylkompromiß eingehend beraten und hier im Hause gemeinsam beschlossen worden. Dazu gibt es gültige gesetzliche Regelungen. Zur Zeit liegen neue Anregungen vor. Aber die muß man wirklich sehr sorgfältig beraten. Ich möchte darüber heute nicht im Detail Auskunft geben. Ich kann nur eines sagen: Wir beraten alle vorliegenden Gesetzentwürfe sehr sorgfältig
und wägen sie mit eigenen Vorstellungen ab. Dazu benötigen wir noch etwas mehr Zeit. Mehr möchte ich dazu heute nicht sagen.
Wir sollten niemandem, der es für richtig hält, Beratungen dieser Art im Ausschuß zu pflegen und deshalb eine spätabendliche Debatte etwas abzukürzen, Feigheit vorwerfen.
Ich möchte fetz nicht erforschen, wer der Zwischenrufer war.
Ich erteile der Kollegin Amke Dietert-Scheuer das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir finden es sehr begrüßenswert, daß das Thema der Altfallregelung für lange hier lebende Flüchtlinge endlich auf die Tagesordnung des Bundestages gesetzt worden ist. Es hat sehr lange gedauert, eigentlich viel zu lange.
Amke Dietert-Scheuer
Wir teilen auch das Anliegen der SPD-Fraktion, im Bundestag möglichst bald zu einer endgültigen Regelung zu kommen. Wir begrüßen ferner, daß die Notwendigkeit einer baldigen gesetzlichen Neuregelung auch in der Unionsfraktion gesehen wird.
Frau Sonntag-Wolgast hat schon die Position des rheinland-pfälzischen CDU-Vorsitzenden, Johannes Gerster, erwähnt, der seinem Parteikollegen Innenminister Kanther in dieser Frage Inhumanität vorgeworfen hat - meiner Meinung nach völlig zu Recht -, als sich dieser Anfang November geweigert hat, einer Verlängerung des Abschiebestopps in Hessen und Rheinland-Pfalz für seit langem hier lebende ehemalige Asylbewerber zuzustimmen.
Eine gesetzliche Lösung für lange hier lebende Flüchtlinge und Asylbewerberinnen und Asylbewerber ist daher dringend geboten.
Für uns sind dabei humanitäre Gründe vorrangig; denn längst haben Asylbewerberinnen und Asylbewerber, die bereits vor Jahren Anträge gestellt haben, ihren Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik Deutschland gefunden. Viele von ihnen haben Kinder, die hier geboren wurden, hier zur Schule gehen und sich dieser Gesellschaft mittlerweile zugehörig fühlen.
Aus diesem Grund haben sich zahlreiche gesellschaftliche Gruppen mit der Bitte an uns gewandt, uns dringend für ein asylunabhängiges Bleiberecht einzusetzen. Dieses Anliegen wird von den großen christlichen Kirchen, von Verbänden, Flüchtlingsinitiativen und Rechtsanwälten immer wieder vorgebracht. Nicht zuletzt erfahren wir in der Arbeit des Petitionsausschusses von abgelehnten Asylbewerberinnen und Asylbewerbern, die hier seit langem leben und arbeiten.
Eine Rechtslage, nach der diese Menschen Deutschland trotz vollzogener Integration zwingend verlassen müssen, ist gerade ihren deutschen Unterstützern schlicht unverständlich. Auch hierfür hat Frau Sonntag-Wolgast schon Beispiele genannt.
Ein zweiter wichtiger Gesichtspunkt ist die Entlastung der Verwaltungsgerichte. Zwar wurden die Verwaltungsgerichte personell erheblich erweitert und verstärkt; dennoch kommen sie derzeit kaum zu Entscheidungen von Asylklagen in der Hauptsache. Die Gerichte müssen vorrangig über die zahllosen Rechtsschutzanträge entscheiden, die übrigens eine Folge der massiven Einschränkung des Rechtsschutzes durch die Asylverfahrensänderungen von 1992 und 1993 sind. Gerade aussichtsreiche Asylklagen bleiben so zwangsläufig liegen. Auch für die sogenannten Altfälle, die bereits im Asylverfahren entstehen, ist daher eine aufenthaltsrechtliche Lösung außerhalb des Verfahrens dringend geboten.
Humanitäre Gründe und Entlastung der Verwaltungsgerichte sind auch die Gründe für die Gesetzentwürfe des Bundesrates und der SPD-Fraktion. Deshalb stimmen wir diesen Gesetzentwürfen im Grundsatz zu.
Unser eigener Antrag geht allerdings in einigen Punkten weiter als diese Entwürfe. Hier die wichtigsten Punkte:
Eine Mindestaufenthaltsdauer von acht Jahren ist unseres Erachtens aus humanitären Gründen nicht zu vertreten. Der Zeitrahmen muß kürzer gefaßt sein. Wir schlagen eine Dauer von fünf Jahren, bei Personen mit minderjährigen Kindern von drei Jahren vor.
Ferner lehnen wir eine Stichtagsregelung ab. Eine Stichtagsregelung ist eine verschämte, einmalige Lösung. Damit drückt man sich um die Tatsache, daß das humanitäre Problem der lange hier lebenden Flüchtlinge in den nächsten Jahren wieder auftreten wird. Wir plädieren dagegen für eine klare und dauerhafte Lösung.
Im Gegensatz zu den vorliegenden Gesetzentwürfen wollen wir eine Lösung nicht nur für Asylbewerber nach abgeschlossenem Asylverfahren, sondern bereits für sogenannte Altfälle im Verfahren. Bundesrat und SPD wollen aus diesem Personenkreis nur den Gruppen mit hohen Anerkennungschancen ein Aufenthaltsrecht anbieten - dies bereits nach zwei Jahren. Dem stimmen wir zwar gerne zu, meinen allerdings, daß das für alle Asylbewerber gelten muß, die sich seit mehreren Jahren im Verfahren befinden; denn das humanitäre Problem hängt von der Dauer des Aufenthaltes hier ab, nicht von der Frage des Aufenthaltsstatus.
Eine Entlastung der Verwaltungsgerichte muß konsequenterweise einen weiteren wichtigen Faktor der Verschleppung der Asylverfahren aufgreifen, nämlich die zahlreichen Einsprüche des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten gegen positive Entscheidungen durch das Bundesamt oder die Gerichte.
Angesichts der parteiübergreifenden Kritik an der Politik des Innenministers sehen wir begründeten Anlaß zu der Hoffnung, daß in diesem Haus eine baldige Einigung über eine umfassende Altfallregelung erreichbar ist. Ich fordere Sie daher auf: Sorgen Sie dafür, daß die gesetzliche Neuregelung nicht selbst zum Altfall wird, und stimmen Sie im Interesse einer humanitären Regelung unserem Antrag zu.
Frau Kollegin Cornelia Schmalz-Jacobsen, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie sieht ein Altfall aus? Da lebt zum Beispiel eine Familie seit acht Jahren in Deutschland. Die Frau versorgt drei oder vier alte Frauen in der Gemeinde. Der Mann hat eine besondere Qualifizierung im Großkesselreinigen. Die Kinder gehen in die Schule. Diese Leute sollen weg.
Es entsteht große Unruhe in der Gemeinde, weil die alten Frauen ins Altersheim müssen und weil die Großkessel schwer zu reinigen sind und kein Ersatz
Cornelia Schmalz-Jacobsen
gefunden wird. Die Kinder fühlen sich in der Schule wohl. Die Leute haben Wurzeln geschlagen. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt. Sie gehören dazu.
Ich kenne einen Fall in Bayern, da ist jemand seit 13 Jahren in der Bundesrepublik und soll nun das Land verlassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele fordern eine Altfallregelung. Die Kollegin Sonntag-Wolgast hat Briefe mitgebracht. Auch ich hätte das tun können. Das Interessante ist, daß es nicht nur Briefe von Verbänden, Vereinigungen, Nachbarn und Freunden sind, sondern Briefe, die aus jeder Fraktion dieses Hauses kommen.
Aus jeder Fraktion dieses Hauses kommen Briefe, die uns oder mitunter in besonderer Weise mich bitten, etwas für den einen oder die andere zu tun. Johannes Gerster ist als Zeuge genannt worden. Ich nenne auch August Lang, der nicht mehr in der Staatsregierung,
aber immerhin doch Mitglied Ihrer Partei, lieber Herr Zeitlmann, ist. Ich denke, daß auch die Besorgnis des bayerischen Innenministers Beckstein, der in genau dieser Zwickmühle steckt, wie man ein besonderes Kirchenkontingent vielleicht erlangen könnte, ein Beispiel dafür ist, daß man etwas tun muß.
Ich werde Ihnen das Dilemma aufzeigen. Natürlich kann es nicht in unserem Interesse liegen, einen Zeitpunkt niederzulegen, bei dem alles Sinnen und Trachten darauf gerichtet ist, ihn zu erreichen. Aber es geht nicht, daß man ohne jegliche menschliche Regung und ohne Augenmaß für humanitäres Handeln die Leute abschiebt.
Wir haben uns überlegt, ob man aus dieser Falle mit einer Härtefallregelung für Einzelfälle herauskommt. Das Problem ist, daß solche Fälle sehr schwer einzugrenzen sind und man bedenken muß, daß der Inspektor vor Ort so etwas überprüfen und auch entscheiden muß.
Die Gefahr, daß jeder dieser Einzelfälle ein politischer Fall wird mit dem öffentlichen Druck und allem, was dazugehört, ist eine unerträgliche Vorstellung. Darum neigen wir Freien Demokraten zu einer zeitlichen Regelung. Wir halten das, was vom Bundesrat hierzu vorgelegt wurde, für vernünftig. Bei schwerer Krankheit oder Behinderung ist das etwas anderes. Da gibt es, ganz leise, humanitäre Lösungen. Ich weiß auch dies übrigens aus Bayern. Im Asylkompromiß hat man sich auf eine begrenzte Altfallregelung verständigt. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es denn eine Schande, noch einmal darüber nachzudenken, ob man hier nicht etwas verbessern kann? Die Zahlen können ja so horrende nicht sein. Neue, ähnlich lange Aufenthaltszeiten können wohl schwerlich entstehen.
Ich hoffe sehr, daß wir zu einer Einigung kommen und daß sich die Innenminister von Bund und Ländern ebenfalls einigen. Denn ich finde es nicht gut, daß in Einzelfällen Briefe geschrieben werden und ansonsten gewissermaßen vom grünen Tisch entschieden wird.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich denke, daß das Innenministerium, aber auch Bundesinnenminister Kanther nicht müde werden, wenn es darum geht, immer neue Gruppen von hier lebenden Ausländern und Ausländerinnen aus Deutschland hinauswerfen zu wollen. Einmal sind es die Vietnamesen, einmal sind es die Algerier, inzwischen sind es die Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien. Bei den Anträgen, die wir heute beraten, geht es um die Menschen, die seit Jahren ihren Rechtsanspruch auf politisches Asyl in diesem Land wahrnehmen.
- Das ist ihr Rechtsanspruch; das sind Altfälle, wie Sie wissen. Von daher haben sie meines Erachtens auch ein Recht, hier zu sein.
Bundesinnenminister Kanther stellte, wie zuletzt im „Focus", die Asylbewerberinnen und Asylbewerber, die unter die Altfallregelung fallen müßten, als solche hin, die sich mit allen Mitteln und trickreich einen längeren Aufenthalt in Deutschland erwirkt hätten. Tatsächlich haben diese zufluchtsuchenden Menschen nur die ihnen zustehenden Rechtsmittel ausgeschöpft. In derartigen Äußerungen des Bundesinnenministers zeigt sich meines Erachtens ein gebrochenes Verhältnis zum Rechtsstaat. Dies gilt auch für Überlegungen des Vorsitzenden des Rechtsausschusses, Eylmann, der just in dieser Diskussion gefordert hat, das Asylrecht ganz abzuschaffen und dafür eine sogenannte institutionelle Garantie vorzuschlagen. Diese Überlegungen haben nur das eine Ziel, Asylsuchende vom Grundrecht auf gerichtlichen Rechtsschutz auszuschließen.
Wir diskutieren hier vor dem Hintergrund, daß sozialdemokratische Bundesländer - das haben wir schon gehört -, wie zum Beispiel auch Hessen, versucht haben, einen Abschiebestopp für langjährig hier lebende asylsuchende Menschen zu verlängern. Dies ist Anfang November an dem Veto von Innenminister Kanther gescheitert. Die betroffenen ausländischen Familien, um die es hier geht - das ist uns hier im Detail von meinen Kolleginnen erläutert worden -, haben sich inzwischen integriert. Sie sollen aus diesem sozialen Umfeld herausgeholt werden. Kinder, die hier geboren wurden, werden aus Schulen und Freundeskreis gerissen, wenn sie abgeschoben werden.
Meine Damen und Herren, ich denke, daß diese Menschen gar keine andere Möglichkeit mehr haben, als in das Kirchenasyl zu gehen; denn seitens der Kirchen finden sie gegenwärtig Unterstützung.
Ulla Jelpke
Ich möchte insbesondere in der vorweihnachtlichen Zeit daran erinnern, daß es nicht gerade eine christliche Tat ist, was in diesem Zusammenhang insbesondere vom Innenministerium und vom Innenminister zu hören ist.
Ich freue mich, daß die CDU/CSU nachdenkt. Ich möchte aber auch den Appell wiederholen, den andere Kollegen vor mir schon geäußert haben: Es gibt in diesem Hause eine Mehrheit, diesen Menschen wirklich zu helfen. Wir werden dem Antrag der Grünen zustimmen, weil wir im Unterschied zu dem Antrag der SPD die kürzeren Fristen befürworten.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt eine Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/2550 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. - Sind Sie damit einverstanden? - Dies ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der 1. Beschlußempfehlung und des
Berichts des Wahlprüfungsausschusses
zu 28 gegen die Gültigkeit der Wahl zum 13. Deutschen Bundestag eingegangenen Wahleinsprüchen
- Drucksache 13/2800 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Bertold Reinartz Anni Brandt-Elsweier
Jörg van Essen
Dr. Peter Paziorek
Erika Simm
Clemens Schwalbe
Norbert Geis
Gerald Häfner
Im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Fünfminutenrunde vereinbart worden. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Clemens Schwalbe das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Wahlprüfungsausschuß legt heute den ersten Bericht zu 28 von insgesamt 1 434 im Bundesrat eingegangenen Wahleinsprüchen zur Wahl zum 13. Deutschen Bundestag zur Beschlußfassung vor. Im Rahmen dieses Berichtes waren alle Wahleinsprüche, die ich zu behandeln hatte, gegen die Vorschrift des § 6 Abs. 6 Satz 1 erste und zweite Alternative des Bundeswahlgesetzes gerichtet. Hierzu möchte ich ein paar kurze Ausführungen machen.
Durch die hier bestimmten Regelungen der Fünfprozentklausel beziehungsweise der sogenannten Grundmandateregelung sehen die Einspruchsführer einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz der Art. 3 und 38 des Grundgesetzes. Die eingehende Prüfung durch den Wahlprüfungsausschuß hat jedoch in allen Fällen eine offensichtliche Unbegründetheit der Wahleinsprüche gemäß § 6 Abs. 1 a Nr. 3 des Wahlprüfungsgesetzes ergeben, so daß auch von einer mündlichen Verhandlung Abstand genommen werden konnte. Denn allein die Behauptung der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen schließt nicht automatisch die Begründung eines Einspruches ein. Auch geht der Deutsche Bundestag nach seiner ständigen Praxis davon aus, die Verfassungsmäßigkeit der bestehenden Wahlgesetze nicht in Frage zu stellen. Diese Prüfung bleibt dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten.
Dennoch will ich Ihnen an Hand einiger Beispiele aufzeigen, daß es für zukünftige Wahlen verfassungspolitisch geboten wäre, über Änderungen der Wahlgesetzgebung zu beraten. So werden als Beispiele folgende Gründe gegen die Grundmandateregelung genannt:
Erstens. Die geltende Regelung erleichtert gerade radikalen Parteien den Einzug in den Bundestag.
Zweitens. Die entstandene Privilegierung der PDS ist nicht zu rechtfertigen.
Drittens. Mit Vergrößerung des Bundestages 1990 hätte die Zahl der zu erringenden Direktmandate zur Umgehung der Fünfprozenthürde erhöht werden müssen, wie das bereits bei der Vergrößerung des Bundestages in den 50er Jahren mit der Erhöhung von einem auf drei Direktmandate durchgeführt wurde.
Und schließlich viertens. Der Wählerwille wird durch Anrechnung der Zweitstimmen bei Erreichen von drei Direktmandaten erheblich verfälscht.
Auch gegen die Fünfprozentklausel an sich wird Einspruch erhoben, weil - so der Einspruchsführer - damit die abgegebene Stimme für eine an dieser Klausel gescheiterten Partei insgesamt nicht mehr berücksichtigt würde. Kurios ist aber hier der Vorschlag eines anderen Einspruchsführers, der für diesen Fall eine Reservestimme verlangt.
Da auch bei der laufenden Beratung der noch vorliegenden Einsprüche der Schwerpunkt bei dieser Problematik liegt, hält es die Fraktion der CDU/CSU, in deren Namen ich hier spreche, im Ergebnis der Beratungen für geboten, im Rahmen der Reformarbeit zur Verkleinerung des Deutschen Bundestages die Überprüfung der Fünfprozentklausel, der Grundmandateregelung, aber auch der Überhangmandateregelung einzubeziehen.
Ich begrüße es deshalb, daß wir diesen Prüfungsauftrag fraktionsübergreifend in die Beschlußempfehlung geschrieben haben. Als Mitglied der Reformkommission habe ich dies bereits bei der Aufgabenberatung in diese Kommission eingebracht.
Abschließend möchte ich nochmals unmißverständlich feststellen, daß bei allem politisch gebote-
Clemens Schwalbe
nen Handlungsbedarf die Wahleinsprüche nach derzeitiger Rechtslage keine Rechtsverletzung nachweisen und damit die Zurückweisung zwangsläufig ist. Dies gilt auch für alle anderen behandelten Einsprüche innerhalb dieser Berichterstattung, auf die mit Sicherheit von den weiteren Rednern eingegangen wird.
Die CDU/CSU stimmt dieser Beschlußempfehlung zu.
Vielen Dank.
Herr Kollege Schmidt, Sie haben den Wunsch, vom Platz aus zu sprechen. Sie haben das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich erkläre für die SPD-Fraktion, daß ich mit dem von Herrn Schwalbe für die CDU/ CSU-Fraktion eben vorgeschlagenen Verfahren einverstanden bin.
Herr Kollege Schmidt, bitte bleiben Sie noch einen Augenblick stehen. Vielleicht können Sie dem Haus helfen. Wir werden nachher über die Beschlußempfehlung des Wahlprüfungsausschusses abstimmen, die aber berichtigt worden ist. Ursprünglich war vorgesehen, daß der Vorsitzende des Ausschusses, der offenbar verhindert ist, die Berichtigung dem Haus erläutert. Ich weiß nicht, ob Sie vielleicht dazu in der Lage sind; sonst kann es der Kollege van Essen jetzt tun.
Ich wäre dankbar, wenn es der Kollege van Essen machte.
Herr Kollege van Essen, da Herr Häfner im Moment nicht anwesend ist, erteile ich Ihnen gleich das Wort. Ich bitte Sie, die Berichtigung mit einzubeziehen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf Seite 3 der Beschlußempfehlung muß es statt „Anlagen 1 bis 30" richtig „Anlagen 1 bis 25" heißen, weil wir nur über 28 Wahleinsprüche entschieden haben, die der Beschlußempfehlung in 25 Anlagen beigefügt sind. Dies ist mir bereits bei der Vorbereitung meiner Rede für den heutigen Tag aufgefallen. Es ist also überhaupt nicht von Bedeutung; dort ist ein schlichter Druckfehler unterlaufen.
Meine Damen und Herren, wir beraten und entscheiden heute über die ersten 28 Einsprüche, die gegen die Gültigkeit der Wahl zum Deutschen Bundestag vom 16. Oktober des vergangenen Jahres eingegangen sind.
Der Deutsche Bundestag muß sich in dieser Legislaturperiode - Herr Kollege Schwalbe hat es vorhin schon gesagt - mit einer Rekordzahl von Wahleinsprüchen befassen. Trotz dieser hohen Zahl nimmt der Wahlprüfungsausschuß, dem die Vorbereitung der Entscheidung des Bundestages auf Grund des Wahlprüfungsgesetzes obliegt, seine Prüfungspflicht sehr ernst. Ich denke, ich kann auch im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen sagen, daß diese Aufgabe für uns keine lästige Pflichtübung darstellt. Für uns sind die Einspruchführer demgemäß auch keine lästigen Querulanten oder Besserwisser, sondern Bürger, die ihr Wahlrecht sehr ernst nehmen und auf mögliche Mißstände hinweisen wollen.
Es hat eine lange parlamentarische Tradition, das Parlament selbst über die Einsprüche gegen seine Wahl entscheiden zu lassen. Schon in der Paulskirchenverfassung und in der Bismarckschen Reichsverfassung war es alleinige Aufgabe des Parlaments, hier zu prüfen und zu entscheiden. Das Grundgesetz hat diese Übung in Art. 41 aufgenommen und die Wahlprüfung dem Bundestag zugewiesen.
Statt eines Wahlprüfungsgerichts aus drei Mitgliedern des Reichstages und zwei Mitgliedern des Reichsverwaltungsgerichts, wie es die Weimarer Verfassung vorsah, ist heute, nachdem der Bundestag über einen Einspruch entschieden hat, eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht möglich.
Deshalb bleibt es auch dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten, über die Verfassungsmäßigkeit von Bestimmungen des Wahlrechts zu entscheiden. Insofern mußten wir bislang alle Einsprüche von Bürgern, die die geltende Fünfprozentklausel oder die Grundmandatsverteilung kritisierten, bei den Beratungen des Wahlprüfungsausschusses als offensichtlich unbegründet zurückweisen. Diese beiden Punkte des Wahlrechts wurden bislang nämlich in ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als verfassungskonform angesehen. Im Rahmen der Beratungen der Reformkommission zur Größe des Deutschen Bundestages sollten allerdings diese Vorschriften des Bundeswahlgesetzes überprüft und gegebenenfalls Vorschläge zur Änderung vorgelegt werden.
Auch können nur solche Wahlfehler einen Wahleinspruch erfolgreich begründen, die Einfluß auf die Mandatsverteilung haben oder hätten haben können; so hat ebenfalls das Bundesverfassungsgericht entschieden. Deshalb hatte ein Wahleinspruch, der mir zur Berichterstattung vorlag und der das Aufstellen eines Wahlplakates direkt neben dem Eingang zum Wahllokal rügte, keinen Erfolg; denn die Anzahl der Wahlberechtigten bzw. der gültigen Stimmen in diesem Wahllokal war viel zu gering, um die Mandatsverteilung im konkreten Fall beeinflussen zu können. Trotzdem ist dieser Wahleinspruch wichtig, um zukünftig solche Mißstände zu verhindern und bei den nächsten Wahlen noch stärker darauf zu achten, daß eine unzulässige Wählerbeeinflussung nicht stattfindet und das Ausüben der freien Wahl vollständig gewährleistet wird.
Zum Abschluß möchte ich allen Kolleginnen und Kollegen, aber insbesondere Herrn Ministerialrat Dr. Kretschmer sowie den Mitarbeiterinnen und Mitar-
Jörg van Essen
heitern des Ausschusses für die hervorragende Vorbereitung und Begleitung unserer Arbeit danken.
Vielen Dank.
Dies ist offensichtlich ein besonders vornehmer Ausschuß. Da kommen die Kollegen knapp vor ihrer Rede.
Ich erteile dem Kollegen Gerald Häfner das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Vornehmheit des Ausschusses bezieht sich hoffentlich nicht nur auf den Zeitpunkt des Erscheinens im Plenum, sondern auch auf den Ton, mit dem wir miteinander umgehen, wenn wir über Wahlprüfungsfragen zu entscheiden haben.
Ich kann mich vielem, was gesagt wurde, anschließen; an einer Stelle aber muß ich Wasser in den Wein gießen, und ich will das sehr deutlich sagen.
Die Bundestagswahl liegt jetzt gut ein Jahr hinter uns. Wir beschäftigen uns mit Wahlprüfungsfragen. „Offensichtlich unbegründet" - so ist ausnahmslos das harte juristische Urteil über die ersten 28 Einsprüche, die uns hier vorliegen. Es ist damit zu rechnen, daß auch die Entscheidung über fast alle weiteren Einsprüche „offensichtlich unbegründet" lauten wird.
Ich denke, daß uns schon die Zahl der Einsprüche auf ein Problem aufmerksam machen sollte. Bei der Wahl zum 12. Bundestag waren es noch 86 Einsprüche; diesmal sind es 1 434 Bürgerinnen und Bürger, die Einspruch erhoben haben. Viele davon werden mit einer schwer nachvollziehbaren, manche sogar ohne jede Begründung vorgebracht. Manche Einsprüche sind durchaus begründet - Beispiele wurden ja schon erwähnt -, hätten aber am Ergebnis der Wahl nichts geändert.
Darüber hinaus jedoch gibt es einen zahlenmäßig außerordentlich gewichtigen Komplex von Einsprüchen, die sich auf die Frage der Grund- und vor allen Dingen auf die Frage der Überhangmandate beziehen. Die Beschlußempfehlung des Wahlprüfungsausschusses, die Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, heute vorliegt, empfiehlt in all diesen Fällen, die Einsprüche zurückzuweisen.
Ich bin hier deutlich anderer Meinung. Was hat der Wahlprüfungsausschuß entschieden? Er hat entschieden, er sehe sich nicht in der Lage, Wahlrechtsvorschriften auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu prüfen. Ich halte diese Auffassung für verfassungsrechtlich nicht haltbar und für verfassungspolitisch untragbar.
Es gehört zum Stand des bundesdeutschen Verfassungsrechtes, daß allein das Bundesverfassungsgericht berufen ist, Gesetze - dazu gehören ja auch Wahlrechtsvorschriften - bei Verfassungswidrigkeit zu verwerfen. Dazu ist der Wahlprüfungsausschuß natürlich nicht in der Lage. Er kann und muß aber die Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin prüfen, sonst wird er den Einwendungen, die erhoben worden sind, nicht gerecht.
Wie jedes staatliche Organ verpflichtet Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes auch den Ausschuß zu einer solchen Prüfung. Wenn er zu dem Ergebnis kommt, daß eine Wahlrechtsnorm verfassungswidrig sein könnte, so gibt es dafür den Weg, der auch in der Kommentierung immer wieder vorgeschlagen wird, dem zu folgen der Wahlprüfungsausschuß aber abgelehnt hat, nämlich in das Plenum zu gehen und dem Plenum zu empfehlen, ein Normenkontrollverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 des Grundgesetzes einzuleiten.
Das hat der Wahlprüfungsausschuß abgelehnt mit der Begründung, er habe kein Recht, solche Verfassungsverstöße zu überprüfen. Gleichzeitig teilt er aber den Einwendern immer wieder mit, daß - wörtliches Zitat - „ein Verfassungsverstoß unzweifelhaft ausscheidet."
Das, meine Damen und Herren, kann nicht angehen; das verstößt schon gegen die Gesetze der Logik. Entweder man prüft, dann kann man, ja dann muß man auch einen Verstoß feststellen, oder man prüft nicht, dann kann man aber auch nicht behaupten, daß ein Verfassungsverstoß ausscheidet.
Also, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Wahlprüfungsausschuß ist in dieser Frage seiner Aufgabe nicht gerecht geworden. Das ist aber keine unbedeutende Frage; denn wie Sie alle wissen, ist mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit der Überhangmandate auch die Frage nach den Mehrheitsverhältnissen in diesem Deutschen Bundestag gestellt. Sie wissen, daß durch die Regelung, die bei der letzten Bundestagswahl gegriffen hat, der Grundsatz des gleichen Zähl- und des gleichen Erfolgswertes jeder Stimme, also einer der obersten Grundsätze des Verfassungsrechts im Hinblick auf die Wahlen, durchbrochen worden ist.
Während der CDU bei der Wahl zum 13. Deutschen Bundestag 65 940 Zweitstimmen pro Mandat reichten, benötigten Bündnis 90/Die Grünen nicht weniger als 69 884 Zweitstimmen pro Mandat.
Wir haben einen Bundestag, der nicht mehr dem Willen der Wählerinnen und Wähler entspricht. Wäre es nach dem Ergebnis der Zweitstimmen gegangen, also nach dem Proportionalitätsgrundsatz, hätte die Regierungskoalition deutlich weniger Stimmen in diesem Bundestag, als sie heute hat. Diese Frage zu überprüfen ist von eminentem Interessse, und es wäre unsere Aufgabe als Ausschuß gewesen, diese Überprüfung durchzuführen.
Es geht, wie gesagt, nicht um eine nachrangige Frage, sondern es geht im Kern um einen Grundsatz unseres Verfassungsrechts, um den gleichen Zähl- und Erfolgswert jeder Stimme, und es geht darum, daß wir möglicherweise in einem Bundestag tätig sind, der falsch besetzt ist, der nicht dem Willen der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger entspricht und damit auch der Kanzler mit einer Mehrheit gewählt worden ist, die nicht dem tatsächlichen Wahlergebnis entspricht.
Gerald Häfner
Meine Damen und Herren, diese Tatsache darf nicht unter den Tisch gebügelt werden. Wir werden deshalb die Beschlußempfehlung in diesem Punkt ablehnen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Dieter Wiefelspütz.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
- Nun geht der Präsident, und eine Präsidentin kommt. Ich wollte mich dafür entschuldigen, daß ich etwas später gekommen bin und nicht der guten Ordnung nachkam, den Kollegen zuzuhören, die mit mir im Ausschuß diese Arbeit gemacht haben. Aber wir haben heute nachmittag noch zusammengesessen und einen weiteren Teil der Wahlprüfungsverfahren abgearbeitet.
Ihnen liegt jetzt eine Beschlußempfehlung des Wahlprüfungsausschusses vor, zu der wir um Zustimmung bitten - interfraktionell, fraktionsübergreifend.
Dem Wahlprüfungsverfahren kommt wegen der im Vergleich zu den vorausgegangenen Wahlperioden überaus großen Zahl von Einsprüchen diesmal eine besondere Bedeutung zu. Wir haben weit mehr als zehnmal soviel Wahleinsprüche wie in den vergangenen Legislaturperioden. Insgesamt haben nicht weniger als 1 434 Personen bzw. Personenvereinigungen Einspruch eingelegt. Die ungewöhnliche Dimension der Aufgabe, die der Ausschuß in dieser Wahlperiode zu bewältigen hat, wird erst dann wirklich deutlich, wenn man sich vor Augen führt, daß in den vergangenen drei Wahlperioden lediglich 40 bis 80 Wahleinsprüche zu bescheiden waren.
Ich fand auch ganz interessant, daß ganze Schulklassen Wahleinsprüche eingelegt haben. Offenbar gab es da und dort eine Art des staatsbürgerlichen Unterrichts in der Schule dergestalt, daß man den Wahleinspruch sozusagen im Klassenverband eingelegt hat. Ich bin sehr interessiert daran, wie das dann in den Schulen nachgearbeitet wird, wenn die Entscheidungen dieses Hauses vorliegen.
Die vergleichsweise große Zahl der Einsprüche, die uns erreicht hat, legt die Frage nahe, wie es um die Akzeptanz politischen Handelns und gesetzgeberischen Entscheidens in Teilen der Bevölkerung bestellt ist. Andererseits darf die hohe Zahl der Wahleinsprüche aber nicht vergessen machen, daß die übergroße Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger die Durchführung und das Ergebnis der Wahl akzeptiert und auf die Rechtmäßigkeit der Wahl vertraut. Schließlich ist es nur ein ganz geringer Teil der fast 50 Millionen Wähler und Wählerinnen, der sich des Mittels des Wahleinspruchs bedient hat.
Dies zu wissen enthebt den Ausschuß aber nicht seiner Pflicht, die Einsprüche mit größter Sorgfalt zu prüfen und sich der von den Bürgern vorgetragenen berechtigten Anliegen anzunehmen.
Gemäß Art. 41 des Grundgesetzes obliegt die Kontrolle der Gültigkeit der Wahl zum 13. Deutschen Bundestag diesem Hohen Hause. Aufgabe dieses spezifischen Verfahrens ist es, die gesetzmäßige Zusammensetzung des Deutschen Bundestages zu gewährleisten. Aus dem Anfechtungsprinzip des Bundeswahlgesetzes folgt, daß der Prüfungsumfang von dem Vorbringen des jeweiligen Einspruchsführers abhängt.
Aufgrund der Neufassung des § 3 Abs. 2 des Wahlprüfungsgesetzes gehören dem Wahlprüfungsausschuß durch Nachwahlen nunmehr neun statt sieben ordentliche Mitglieder an. Eine weitere Neuregelung bestimmt, daß der Bundestag aus der Mitte einer Vereinigung von Mitgliedern des Bundestages, die nach der Geschäftsordnung als parlamentarische Gruppe anerkannt ist, zusätzlich ein beratendes Mitglied wählen kann. Davon ist Gebrauch gemacht worden.
Die große Zahl von Wahleinsprüchen machte es erforderlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, von der bisherigen Übung, dem Plenum alle Wahleinsprüche gesammelt vorzulegen, abzuweichen. Wir entscheiden heute über die erste Gruppe von Wahleinsprüchen; weitere Vorlagen des Ausschusses werden folgen.
Der Deutsche Bundestag muß alles tun, um den Vorwurf zu entkräften, daß er das Wahlprüfungsverfahren absichtlich verzögere, um die bestehende Sitzverteilung so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Ich persönlich bin der Auffassung, daß der Vorwurf der Verzögerung absurd ist. Aber immerhin, er wird da und dort erhoben.
Wir sind dieses Mal schneller als in den vergangenen Legislaturperioden. Trotzdem haben die Bürgerinnen und Bürger sicherlich einen berechtigten Anspruch darauf, daß das Haus zügig entscheidet. Ich denke, daß wir in den nächsten zwei Monaten auch die übrigen Wahleinsprüche abgearbeitet haben.
Im Mittelpunkt des Interesses der Bürgerinnen und Bürger steht unzweifelhaft die Überhangmandateregelung. Von den insgesamt über 1 400 Wahleinsprüchen beschäftigen sich nicht weniger als etwa 1 300 Einsprüche mit der entsprechenden Norm des Bundeswahlgesetzes. In einem Drittel dieser Fälle wird die Forderung nach einer Gewährung von Ausgleichsmandaten erhoben. Eine Vielzahl von Einspruchsführern wandte sich auch gegen die Fünfprozentklausel oder gegen die Grundmandatsregelung in der jetzigen Fassung.
Der Ausschuß hat es als seine Pflicht angesehen, sich mit den Argumenten der Bürgerinnen und Bürger, die sich mit den inkriminierten gesetzlichen Regelungen nicht abzufinden vermögen, intensiv
Dieter Wiefelspütz
auseinandersetzen. Es ist ein Ertrag der Beratungen, daß das Plenum in der nunmehr vorliegenden Beschlußempfehlung aufgefordert wird, die Reformkommission zur Größe des Deutschen Bundestages damit zu betrauen, die Vorschriften des Bundeswahlgesetzes zur Überhangmandatenregelung, zur Fünfprozentklausel sowie zur Grundmandateregelung kritisch zu überprüfen und gegebenenfalls Änderungsvorschläge zu erarbeiten.
Lassen Sie es mich dabei bewenden. Wir werden noch weitere Wahleinsprüche zu debattieren haben. Ich möchte mich von dieser Stelle aus schon jetzt bei den Kolleginnen und Kollegen des Wahlprüfungsausschusses, aber auch bei den Beamtinnen und Beamten des Ausschusses herzlich bedanken, ohne deren tatkräftige Hilfe unsere Arbeit nicht möglich wäre.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Wahlprüfungsausschusses auf Drucksache 13/2800. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung mit der vorgetragenen Berichtigung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der PDS angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Rössel, Dr. Barbara Höll, Rolf Kutzmutz, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS
Vollständige Übernahme der sogenannten
Altschulden auf gesellschaftliche Einrichtungen ostdeutscher Kommunen durch den Bund
- Drucksache 13/2434 -
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Gruppe der PDS fünf Minuten erhalten soll. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Uwe-Jens Rössel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fünf Minuten vor zwölf hat Bundeskanzler Helmut Kohl beim Gespräch mit den Vorständen der kommunalen Spitzenverbände am Montag abend vor einer drohenden Prozeßflut von 1 400 ostdeutschen Städten und Gemeinden gegen den Bund zum sogenannten Altschuldenproblem erst einmal eingelenkt.
Über die angeblichen Altschulden auf kommunale gesellschaftliche Einrichtungen in Ostdeutschland, die zum Jahresende 1995 insgesamt 8,7 Milliarden DM betragen werden, soll zwischen den kommunalen Spitzenverbänden, der Bundesregierung und den ostdeutschen Ländern nunmehr am 4. Dezember 1995 weiter verhandelt werden. Der Bundeskanzler hat sich am Montag leider noch nicht dazu durchringen können, den genannten 1 400 ostdeutschen Kommunen die vollständige Befreiung von der Last „Altschulden", für die sie nicht verantwortlich sind, zuzusagen. Wir bedauern das ausdrücklich.
Will die Bundesregierung mit dem Geltendmachen von in der Sache nicht berechtigten Forderungen Städte wie Leipzig, Halle/Saale, Magdeburg, Rostock, Hoyerswerda oder Schwedt - um nur die Spitzen des Altschuldeneisberges zu nennen - in den finanziellen und damit auch sozialen und wirtschaftlichen Kollaps treiben?
Die Leidtragenden eines derartigen Crashkurses, Herr Weng, wären doch mindestens vier Millionen Einwohnerinnen und Einwohner der besagten 1 400 Städte und Gemeinden. Das kann doch offensichtlich nicht das Anliegen der Bundesregierung sein.
Aber: Kommunen in Not heißt bekanntlich immer Menschen in Not.
Bei Aufrechterhaltung dieses Kurses wären nicht nur die betroffenen Bürgerinnen und Bürger, sondern überdies tausende Handwerksbetriebe, mittelständische Unternehmen, die vor allem von Aufträgen der Kommune leben, sehr stark in ihrer Existenz bedroht, zumal in einer Zeit, in der das Konjunkturbarometer in Ostdeutschland auch im November seine anhaltende Talfahrt leider fortgesetzt hat.
Die Gruppe der PDS hat am 28. September dieses Jahres als erste der im Bundestag vertretenen Fraktionen/Gruppe einen Antrag zur Lösung des kommunalfeindlichen Altschuldenproblems eingebracht.
Unser Antrag hat zwei Eckpunkte. Erstens. Die sogenannten Altschulden auf gesellschaftliche Einrichtungen ostdeutscher Kommunen, die auf Grund von in der DDR getätigten Investitionen entstanden sind, werden nicht den Kommunen übertragen.
Zweitens. Die aus Investitionen für den Bau gesellschaftlicher Einrichtungen resultierenden sogenannten Verbindlichkeiten der Kommunen in den neuen Bundesländern gegenüber der Gesellschaft für kommunale Altkredite und Sonderaufgaben der Währungsumstellung, kurz: GAW, sind Staatsschulden der DDR. Sie sind vollständig als solche zu behandeln und als Schulden des Bundes im Rahmen des Erblastentilgungsfonds zu übernehmen. Das ist der Kern des Antrages.
Selbstverständlich enthält unser Antrag eine ausführliche Begründung und eine Darstellung der
Dr. Uwe-Jens Rössel
Finanzierungsmechanismen kommunalen Handelns in der DDR. Man mag es bedauern oder sonstwie sehen: Das bundesdeutsche Recht der Kommunalkreditaufnahme kann eben nicht rückwirkend auf die Verhältnisse in der DDR angewendet werden. Die Bundesregierung sollte sich diese gutachterlich gesicherte Rechtslage endlich zu eigen machen. Denn Tatsache war: Kommunale Selbstverwaltung stand in der DDR leider nur in den Sternen, war nie und nimmer Realität.
Die Kommunen der DDR verfügten demzufolge auch kaum über eigene Einnahmen von nennenswerter Größe. Sie waren bis 1990 - ich zitiere aus der Verfassung der DDR - „Gemeinschaften im Rahmen der zentralen Leitung und Planung".
Ausgaben der Städte, Gemeinden und Kreise von Belang und damit auch Investitionen für gesellschaftliche Einrichtungen wurden in der DDR demzufolge fast vollständig durch Zuschüsse und Zuweisungen aus dem Haushalt der Republik an die betreffenden Kreishaushalte bestritten und eben nicht durch eigene Einnahmen der Städte, Gemeinden und Landkreise.
Die Entscheidungen über den Bau und die Finanzierung von Kulturhäusern, von Kindergärten, von Altenheimen und ähnlichem lagen eben nicht im Ermessen der Kommunen. Sie wurden von der Volkskammer mit den jährlichen Gesetzen zum Volkswirtschaftsplan und zum Staatshaushaltsplan festgelegt.
Da die Regierung der DDR im Rahmen des einheitlichen Staatshaushalts auch die jährlichen Zins- und Tilgungsleistungen für Kredite auf gesellschaftliche Einrichtungen übernommen hatte, sind diese Verbindlichkeiten als Staatsschulden anzusehen. So wie es auch Professor Harms von der Freien Universität im jüngst veröffentlichten Rechtsgutachtenansatz dargelegt hat, sind diese Verbindlichkeiten als Staatsschulden anzusehen, die vom Bund im Rahmen des Erblastentilgungsfonds getilgt werden müssen.
Die Städte und Gemeinden in Ostdeutschland - das ist die weit verbreitete und weithin geäußerte Meinung unter Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern über die Parteigrenzen hinweg - brauchen einen Befreiungsschlag von angeblichen Altschulden.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist längst überschritten.
Unser Antrag weist dafür einen inhaltlich begründeten Weg.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dietrich Austermann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Antrag der PDS weist natürlich keinen begründeten Weg zur Lösung des angesprochenen Problems, sondern er ist der Versuch, sich zu Lasten des Bundes wieder einmal, wie schon so oft im Rahmen der Finanzausgleichsmaßnahmen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, zu bedienen.
Er weist dazu einen Weg, aber eben einen nicht gangbaren. Dies, glaube ich, dürfte ganz klar sein, wenn man sich die verfassungsrechtliche Situation betrachtet, aber auch, wenn man Ihren Antrag ansieht.
Sie haben darauf hingewiesen, die Kommunen seien in Not und das bedeute, die Menschen seien in Not. In bezug darauf wollen wir zunächst feststellen: Das ist eine Situation, die Ihre Vorfahren hinterlassen haben. Ich glaube, es ist wichtig, daß man das weiß
und daß man nicht ständig, wie Sie das versuchen, unter dem falschen Baum bellt. Vielmehr muß man ganz genau erkennen:
Es waren die politischen Vorfahren - die von Herrn Rössel natürlich nicht, sondern die politischen Vorfahren, als deren Nachfahren Sie sich ja auch in wesentlichen Teilen betrachten.
Wenn Sie dann mit Ihrem Antrag beginnen, der sich aus zwei - -
- Das ist wieder einmal ein verzweifelter Versuch - wie gesagt: das Bellen unter falschen Bäumen -, Verantwortung, die man eigentlich zu tragen hat, anderen aufzulasten. Sie werden ja, wenn Sie Ihren Antrag denn lesen wollten und vielleicht sogar gelesen haben, eines ganz klar feststellen: Sie loben sich auch heute noch und klopfen sich auf die Schultern für die im internationalen Vergleich hohe Ausstattung mit Sozialeinrichtungen, die ein erklärtes politisches Ziel der DDR gewesen ist.
Dann zeigen Sie eine Seite später, wie das Ganze finanziert worden ist: in der Regel zu 10 Prozent aus Barmitteln und zu 90 Prozent aus Krediten. Das war der Grund, daß der Staatssicherheitsdienst schon Anfang 1988, wenn ich mich richtig erinnere, Herrn Mielke mitgeteilt hat, daß die DDR pleite ist, weil man es nämlich im wesentlichen auf Pump und nicht mit der erwirtschafteten Leistung finanziert hat. Bei
Dietrich Austermann
diesem maroden System wäre das auch gar nicht möglich gewesen.
Wir diskutieren heute das zweite Mal über die Frage, wer letztendlich die Investitionen in Kindertagesstätten, Kindergärten, Turnhallen, Schulen und Rathäuser in 16 Prozent der Gemeinden - nicht etwa in allen Gemeinden - in den neuen Bundesländern zahlen soll. Es sind in der Tat zum großen Teil nützliche Dinge. Zum Teil liegen dem aber willkürliche Investitionsentscheidungen aus DDR-Zeiten zugrunde; zum Teil handelt es sich um lang überlegte Infrastrukturprojekte.
Sie sagen in Ihrem Antrag: Dies sind Investitionen, die nicht den Kommunen übertragen werden. Dazu muß ich nach den Rechtsgrundlagen, die die Situation in Deutschland bestimmen, ganz klar feststellen: Sie werden nicht den Kommunen übertragen; sie sind den Kommunen übertragen worden. Denn nach Art. 21 Abs. 1 des Einigungsvertrages ist das Verwaltungsvermögen, also Aktiva und Passiva der gesellschaftlichen Einrichtungen, auf die übertragen worden, die am 1. Oktober 1989 Nutzungsberechtigte waren. Die Übertragung erfolgte mit Wirkung vom 3. Oktober 1990. Daraus ergibt sich ganz klar, daß die Gemeinden, die Schulen, die Sport- und Freizeiteinrichtungen, Kindergärten usw. übernommen haben, auch für die Schulden rechtlich verantwortlich sind.
Ich glaube, in den neuen Bundesländern kann man die Auffassung vertreten, daß die aus den Krediten, die bei der Deutschen Kreditbank aufgelaufen sind, resultierenden Schulden nicht zu den Schulden zu rechnen sind, die der Sozialismus hinterlassen hat. Dann würde man allerdings diesen Einigungsvertrag, auf den Sie sich ja so gerne berufen, nicht akzeptieren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der Bund habe sich 1990 im großen und ganzen fröhlich dazu bekannt, Rechtsnachfolger der DDR zu sein. Ich hoffe, es gilt für ihn auch, daß er sich fröhlich dazu bekannt hat, daß wir die Wiedervereinigung haben.
Daraus leitet Herr Stolpe den fehlerhaften Schluß ab, der Bund müsse nun bezahlen. Diese Auffassung widerspricht der Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu Art. 21, die ganz eindeutig sagt, daß Art. 21 bestimmte Konsequenzen haben muß.
Daß die Entscheidung, die von einzelnen in den neuen Bundesländern vertreten wird, falsch ist, ergibt sich auch daraus, wenn man die Diskussion umkehrt. Nun stellen Sie sich doch einmal vor, wenn es sich um Projekte handelt, die willkürlich gegen den Willen der Gemeinden errichtet worden sind und die die Gemeinden auch nicht bezahlen wollen, es mögen sämtliche Einrichtungen auf den Bund übertragen werden.
Ich bin dafür, daß sämtliche dieser Einrichtungen auf den Bund übertragen werden.
- Gut, sämtliche nicht, aber die, die nutzbar sind, die in Ordnung und intakt sind. - Dann könnte man auch die Schulden übernehmen und könnte möglicherweise an die Gemeinden herantreten und sagen: Wir bieten euch hier einen gebrauchten Kindergarten an; ihr könnt ihn haben, wenn ihr das entsprechende Geld dafür bezahlt.
Das zeigt doch, wie töricht Ihre Entscheidung in dieser Frage ist. Unterstellt man, die Investitionsentscheidungen wären zum gleichen Zeitpunkt, zu dem sie in der DDR getätigt worden sind
- ich weiß, daß Sie das unruhig macht; weil die Wahrheit aber zumutbar ist, sage ich das -, in den alten Bundesländern getroffen worden, würde niemand Zweifel daran äußern, daß es sich hier um kommunale Investitionen für Einrichtungen handelt, die von den Kommunen mit Sonderbedarfs- oder Anteilsfinanzierung von den jeweiligen Bundesländern hätten errichtet werden müssen.
Aus der aktuellen Situation weiß jeder, wie zum Beispiel die Finanzierung von Kindergartenplätzen läuft. Wir hatten deshalb die Diskussion um die Finanzierung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz. Wer bestellt, der bezahlt. Eine Verpflichtung des Bundes, Kindergärten zu finanzieren ist von uns immer abgelehnt worden. Dies werden wir auch in Zukunft tun.
- Auch Wettbrüllen von Ihrer Seite wird nicht verhindern, daß ich das, was ich sagen möchte, auch sage.
- Soweit Gemeinden dazu nicht in der Lage sind - davon gibt es in der Tat eine große Zahl in den neuen Bundesländern -, muß halt der Finanzausgleich her. Er ist das geeignete Mittel, auch die Gemeinden zu beteiligen, die willkürlich zu Zeiten der zentralstaatlichen Planung von Schulden entlastet wurden.
Die Position der Länder, daß sie in der Sache nicht betroffen seien, ist nicht nur falsch, sondern auch verantwortungslos. Ich meine - wir haben das im Haushaltsausschuß mehrfach festgestellt -, die neuen Bundesländer sind wie selbstverständlich in den bundesstaatlichen Finanzausgleich einbezogen worden. Sie haben gewaltige finanzielle Anteile aus dem Steuerkuchen erhalten. Was haben sie mit dem Geld gemacht, das sie seit dem 1. Januar nach dem Föderalen Konsolidierungskonzept bekommen? Das sind 35 Milliarden DM jährlich.
Wo nehmen sie ihre kommunale Ausgleichsfunktion wahr, um tatsächlich die Belastung von 16 Prozent der Gemeinden auf 100 Prozent der Gemeinden zu verteilen?
In der Vergangenheit wurde oft akribisch darauf geachtet, daß Zuständigkeiten nicht vermischt werden. Jetzt soll der Bund für alles verantwortlich sein, was in den Gemeinden bestellt, genutzt oder - meinetwegen - auch nur erstellt wird.
Ministerpräsident Vogel hat darauf hingewiesen, daß die alten Machthaber der DDR sich ein besonde-
Dietrich Austermann
res Bubenstück geleistet haben, indem sie ohne jeden Bezug Schulden auf Dinge gelegt haben. Jetzt müßten die Gemeinden aus diesem Schlamassel herausfinden. Diejenigen, die heute dazu Anträge stellten, wollen die Verantwortung ihrer politischen Vorfahren abschütteln.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kutzmutz?
Ja.
Herr Kollege, ich will nicht auf die Polemik bezüglich der Frage eingehen, wer wie lange an die Einheit geglaubt hat und wann sie herbeigeführt worden ist.
Ich glaube, daß Sie da immer den kürzeren ziehen würden.
Sie sollten sich nicht derart überschätzen. Ich will nur eine Frage stellen: Halten Sie es für eigenartig, daß ein Staat - zu dem man stehen kann, wie man will -, der Kindergärten und anderes plant und das dann - wie Sie es sagen - den Kommunen aufdrückt, während der Zeit, zu der er existiert und das bauen läßt, nicht daran denkt, daß irgendwann ein anderes Rechtssystem auf diese Kommunen übertragen werden könnte? Halten Sie Ihre Argumentation gegenüber den Kommunen und Ländern nicht für eigenartig?
Die Argumentation, die Sie führen, bedeutet, daß Sie es grundsätzlich ablehnen, daß das Rechtssystem der Bundesrepublik auf die neuen Bundesländer übertragen worden ist.
- Aber selbstverständlich, nichts anderes bedeutet es, als daß Sie die Konsequenzen daraus nicht haben wollen. Daß das Ihrer alten politischen Auffassung widerspricht, muß festgestellt werden, ändert aber nichts daran, daß das, was Sie zu dieser Frage sagen, falsch ist.
Ich glaube, Sie wissen ganz genau, wie die Situation bis 1989 gewesen ist. Sie haben mit Sicherheit zu den Letzten gehört, die gesagt haben: Nun müssen wir endlich die Wiedervereinigung haben. Vielmehr haben Sie bis zuletzt versucht, das zu verhindern, haben das unter dem Druck der Bevölkerung nachher aber nicht mehr gekonnt.
- Das ist ja das Erstaunliche dabei, daß Sie das alles konkret erlebt haben und trotzdem keine richtigen Schlüsse daraus ziehen können.
Nach den Gesprächen im Bundeskanzleramt ist erkennbar geworden, daß der Bund gleichwohl bereit ist, über die rechtliche Verantwortung hinaus - das sage ich ganz eindeutig - zu helfen. Das letzte Angebot aus dem Kanzleramt bedeutet, daß 2,4 Milliarden DM, also zwei Drittel der aufgelaufenen Zinsen, vom Bund übernommen werden, wenn die Länder den gleichen Betrag und die Gemeinden 3,9 Milliarden DM übernehmen. Dies entspricht dem Schuldenstand zum 1. Januar 1997. Es wäre Aufgabe der Länder, dafür zu sorgen, daß die Verteilung über den kommunalen Finanzausgleich hinsichtlich der Gemeindelasten erfolgt.
Damit ergäben sich für alle zumutbare Belastungen. Der Ausgleich muß bei der Summe aller Gemeinden in den neuen Bundesländern selbst vorgenommen werden. Ich sage das auch an die Bundesregierung gerichtet. Es kann nicht so sein, daß hier wieder einzelne die Belastungen übernehmen und andere sich davonstehlen.
Nach einer pauschalen Übersicht der Schuldensituation der Gemeinden in den neuen Ländern entsteht durch Übernahme dieser Verpflichtungen aus der Vergangenheit, für die ja Vermögenswerte geschaffen worden sind - das behaupten sie zumindest -, auf denen manch einer - vor allem auf der extrem linken Seite - im nostalgischen Rückblick noch immer besonders stolz ist, nach unserer Einschätzung in der Regel kein höherer Schuldenstand für einzelne Gemeinden als in den alten Bundesländern.
Wir erwarten das Signal der neuen Länder, das bisher aussteht. Wir erwarten das Signal der unbelasteten Kommunen, das bisher aussteht. Wenn von Solidarität gesprochen wird, kann es nicht immer nur um die Solidarität in Form einer Einbahnstraße gehen. Hier ist auch ein Stück Solidarität Ost gefordert. Sie ist in jedem Falle sinnvoller als ein jahrelanger Gang durch die Gerichte, der zusätzliche Kosten, Zinsen und böses Blut bringen würde, an der grundsätzlichen Situation nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs aber nichts ändern würde.
„Hilf dir selbst, dann hilft auch Bonn", könnte man sagen.
Aber die Bereitschaft der Länder und der Kommunen in den neuen Bundesländern muß dazukommen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Lucyga.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Herr Kollege Austermann, ich hätte Ihnen liebend gern schon in der vergangenen Aktuellen Stunde zu den Altschulden eine angemessene Antwort gegeben; da war die Geschäftsordnung davor. Aber ich freue mich, Ihnen jetzt gleich an einem plastischen Bei-
Dr. Christine Lucyga
spiel zeigen zu können, wie die Politik von der Theorie überholt wird - oder umgekehrt.
Jedenfalls lautet das Beispiel folgendermaßen: Die Gemeinde Grabow im Müritzkreis in MecklenburgVorpommern ist in einer ganz absurden Situation. Ihr liegt eine Aufstellung des BMF vor, nach der die Gemeinde beim Hause Waigel mit 3,8 Millionen DM in der Kreide steht. Das bedeutet bei 155 Einwohnern eine Pro-Kopf-Verschuldung von sage und schreibe 23 000 DM. Woher diese Horrorzahlen kommen, wissen die Bürger nicht. Sie haben weder Schule noch Kulturhaus, noch Kindergarten, noch Sportplatz, nichts von all dem, wofür in DDR-Zeiten zentral zugewiesene Mittel verwendet wurden. Diese würde sich der Bund am liebsten von einem Teil der ostdeutschen Kommunen nachträglich zurückzahlen lassen.
Eine andere Gemeinde ähnlicher Größenordnung nordwestlich von Grabow ist in einer vergleichsweise höchst komfortablen Situation, besitzt Kindergarten, Jugendclub, Lehrlingswohnheim, Sportanlagen. Sie braucht aber keine Angst vor einer gepfefferten Nachforderung des BMF zu haben. Ein entsprechender Beschluß von Staatsrat, Politbüro oder Zentralrat der FDJ - so genau weiß das niemand -, vor allem aber der lange Arm von Egon Krenz machten das möglich; denn als „Dorf der Jugend" bekam diese Gemeinde ihre kommunalen Einrichtungen gratis aus dem Staatshaushalt. Ich werde mich im übrigen hüten, den Namen dieser Gemeinde hier preiszugeben, um nicht noch Begehrlichkeiten zu wecken; denn das Vertrauen auf die Einsicht der Koalition und der Bundesregierung in der Altschuldenfrage hält sich sehr in Grenzen. Außerdem heißt es in den bereits erwähnten Forderungen, etwaige Ungenauigkeiten bei der Zuordnung seien nicht auszuschließen.
84 Prozent der ostdeutschen Gemeinden dürfen sich also darüber freuen, daß sie im großen und ganzen wohl ohne den berühmten Mahnbescheid aus Bonn davonkommen werden, weil sie rechtzeitig aus dem Staatshaushalt der DDR entschuldet wurden. Zwickau, Berlin, Chemnitz sind bekannte Beispiele.
Aber anders sieht es für die 1 400 Kommunen aus, die sich in der mißlichen Lage der Gemeinde Grabow befinden. Sie sollen nach dem Willen des BMF jetzt durch die bundeseigene GAW für Zuweisungen aus dem DDR-Staatshaushalt früherer Jahre zur Kasse gebeten werden.
Da diese Altforderungen zudem durch eine verhängnisvolle Fehlentscheidung des BMF mit saftigen Zinsen belegt sind, sind sie inzwischen fast doppelt so hoch. Weder der einzelfallbezogene Nachweis noch die Wertberichtigungen liegen dafür vor; das macht die Sache so pikant.
Die betroffenen Kommunen und mit ihnen die ostdeutschen Länder wehren sich also zu Recht gegen diese Form pauschaler Vergatterung,
die ausschließlich auf der Grundlage alter und so gar nicht mehr verifizierbarer Bankunterlagen erfolgt, die zwangsläufig regionale Disparitäten festschreiben muß und eine grobe Ungleichbehandlung im Vergleich zu den bereits entschuldeten Kommunen bedeutet.
Aus willkürlichen Entscheidungen des DDR- Staatsapparates, die rechtlich bis heute strittig sind, macht die Bundesregierung der Grundsatzentscheidung geltendes Recht, und zwar das Recht des Stärkeren.
Auf dem Umweg über absurd hohe Zinssätze und wundersame Vermehrung wird so aus einer Buchungsgröße richtiges gutes Geld. So könnte die moderne Version des Goldesels aussehen; aber die Kommunen sind keine Goldesel, sie haben höchstens einen nötig.
Was jetzt 16 Prozent der ostdeutschen Kommunen in Rechnung gestellt werden soll, ist eine Mischung aus politischer Altlast und Folgelast eines schweren handwerklichen Fehlers und im übrigen ein aussagekräftiges Beispiel der seit Jahren von der Bundesregierung geübten Methode, finanzielle Engpässe einfach von oben nach unten an die Schwächsten, in diesem Fall an die Kommunen, durchzureichen.
Durch die seit 1991 angewachsene und weiter wachsende Zinslast bekommt das Altschuldenproblem zudem eine Eigendynamik, die ausschließlich vom BMF zu verantworten ist. Damit wird eine Lösung immer drängender. Allerdings hat die Bundesregierung bisher nur dürftige Vorschläge aufgeboten, die zu Recht von den kommunalen Spitzenverbänden als inakzeptabel zurückgewiesen werden; denn es ist den ostdeutschen Kommunen Schlichtweg nicht zuzumuten, daß sie Forderungen akzeptieren, die ihre finanzielle Leistungsfähigkeit übersteigen.
All das müßte der Bundesregierung bekannt sein; denn seit mehreren Jahren wird die Auseinandersetzung mit wachsender Intensität geführt. Dabei hat sich die Bundesregierung - das sei hier in aller Bescheidenheit gesagt - einen richtiggehenden Totstellreflex erlaubt und sich auf eine Position festgelegt, die zunehmend durch qualifizierte Rechtsgutachten in Frage gestellt wird, an der natürlich auch die vor kurzem im Kanzleramt begonnenen Verhandlungen von vornherein scheitern mußten.
Da helfen auch keine permanenten Drohgebärden des Bundes, da hilft auch nicht das ständige ultima-
Dr. Christine Lucyga
tive Gerede von einem letzten Angebot und die Drohung mit Mahnbescheiden schon gar nichts.
Es kann im übrigen auch niemand ein Interesse daran haben, daß sich die kommunale Selbstverwaltung an finanziellen Hürden totläuft, daß lebensnotwendige Investitionen unterbleiben und - um mit dem Rostocker Stadtkämmerer, Ihrem Parteifreund übrigens, zu sprechen - „keine Kelle und kein Kran" mehr geht.
Seriöse Gutachten sprechen von der Auferlegung ruinöser Zahlungsverpflichtungen durch den Bund. Darüber sollten Sie einmal nachdenken.
Die Kommunen wehren sich zu Recht und haben das über ihre Spitzenverbände unmißverständlich klargestellt. Sie haben auch Anspruch darauf, gehört und ernst genommen zu werden.
Wo anders wird das soziale Leben organisiert, wenn nicht in der Kommune? Wo wird das soziale Netz geknüpft, und von wo kommen die Signale, wenn es zu reißen droht? Um zu einem praktikablen Lösungsansatz zu kommen, muß sich also der Bund bewegen. In der Zinsfrage muß er es ohnehin tun; denn das Problem ist vom BMF hausgemacht, und da sollte zumindest das Verursacherprinzip gelten, das heißt Übernahme der Zinsen durch den Bund.
Aber auch bei den Grundforderungen gibt es eine eindeutige Bringpflicht für ein akzeptables Angebot, meinetwegen als Rechtsnachfolger der DDR. Aber - das sage ich an die Adresse der Bundesregierung -: Lassen Sie das Taktieren, übernehmen Sie Ihren Teil der Verantwortung, erpressen Sie die Kommunen nicht mit Mahnbescheiden. Es führt doch zu nichts.
Die Voraussetzung für ein vernünftiges Herangehen an die Problemlösung ist doch mehr Ehrlichkeit in der Altschuldenfrage und die Korrektur der bisherigen Position.
Die Forderungen der Kommunen und Länder nach Übernahme der Zinsen durch den Bund, nach einem konkreten Nachweis der Forderungen und Verzicht auf nicht nachweisbare Forderungen verdienen Unterstützung. Länder und Kommunen sind - das haben sie wohl bewiesen - kompromißbereit.
Mehr Ehrlichkeit möchte ich den Damen und Herren der PDS ins Stammbuch schreiben; denn Sie kommen jetzt in Ihrem Antrag mit Vorschlägen, die man nach Heinrich Heine auch so diktieren könnte:
Und da keiner wollte leiden, daß der andre für ihn zahle, zahlte keiner von den beiden ...
Damit machen Sie es sich einigermaßen leicht. Es wäre sicher schön, wenn die Altschulden von heute auf morgen verschwunden wären.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kaspereit?
Ich möchte erst zu Ende reden, und dann werden die Kollegen ja sehen, ob die Zwischenfrage notwendig ist.
Mir wäre es lieb, wenn die Altschulden von heute auf morgen verschwunden wären, Aber das ist leider nicht mehr drin. Die Weichen für eine solche Lösung hätten wesentlich früher gestellt werden müssen; denn noch vor der Währungsunion, spätestens aber im Einigungsvertrag hätte auch das Altschuldenproblem gelöst werden müssen. Es hätte der Regierung Modrow, der das Problem bekannt war, gut zu Gesicht gestanden, das Altschuldenproblem auf die Tagesordnung zu setzen; denn über diese interne Systemkenntnis verfügte die nächste DDR-Regierung schon nicht mehr.
Aus der kurzen Zeit der vorletzten DDR-Regierung sind uns zum Beispiel zahlreiche Aktivitäten zur Sicherung von Parteivermögen, darunter mehr als 100 Firmengründungen, Darlehensvergaben zu ungewöhnlich günstigen Bedingungen und anderes mehr bekannt. Ich würde gern von Ihnen erfahren, ob Sie sich mit gleichem Engagement auch des Altschuldenproblems angenommen haben. Mir ist darüber nichts bekanntgeworden.
Das Altschuldenproblem, das seinerzeit nicht gelöst wurde, hat sich durch die politischen Fehler der Bundesregierung auf ganz absurde Weise zugespitzt und allein durch die Zinslast eine erhebliche Eigendynamik entwickelt. Deshalb muß sich die Bundesregierung doch fragen lassen, wem sie jetzt die Folgen ihrer Fehlentscheidung zumuten will. Sie muß endlich Verantwortung übernehmen und Teil der Lösung werden und nicht Teil des Problems bleiben.
Bei den zum Glück noch nicht endgültig gescheiterten Verhandlungen im Kanzleramt muß es jetzt um Kostentransparenz und eine angemessene Beteiligung des Bundes gehen. Es muß eine Lösung geben, die für den Bürger und den Steuerzahler erträglich ist. Ein langwieriger Rechtsstreit kann nicht der Weisheit letzter Schluß sein.
Dr. Christine Lucyga
Deshalb muß sich die Verantwortung der Bundesregierung jetzt beweisen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Schmidt-Jortzig.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Rössel, es tut mir leid, auch ich muß am Anfang eine Vorbemerkung in Ihre Richtung machen, selbst wenn ich nachher in der Sache wieder etwas näher bei Ihnen bin. Daß der vorliegende Antrag zur Entlastung der ostdeutschen Kommunen von Altschulden ausgerechnet aus Ihrer Ecke des Hauses kommt, ist schon ein gewisses Stück Heuchelei,
denn unter der Rechtsvorgängerin der Antragsteller, der SED, wurde überhaupt jede Form kommunaler Selbstverwaltung unterbunden.
Die Ausweisung von Finanzleistungen als Fremdzuschüsse erfolgte außerdem gänzlich willkürlich, so daß heute das Bestehen sogenannter Altschulden nahezu zufällig ist.In der Sache hält - das sage ich deutlich, Herr Kollege Austermann -, die F.D.P. den Hilferuf der ostdeutschen Städte und Gemeinden in der Tat für richtig.
Dies erstens, weil die seinerzeitigen Finanzeinsätze der DDR in den betreffenden Kommunen keine rechtswirksam begründeten Verbindlichkeiten oder auch nur drittgerichteten Lastenzuteilungen im Sinne des Kreditrechts sind. Es gab seinerzeit keine gegenüber dem Staat rechtlich separierten und eigenständigen Gemeinden oder Kreise. Die betreffenden Investitionen für gesellschaftliche Einrichtungen wurden in der DDR vielmehr auf Grund zentraler staatlicher Politik und Haushaltsentscheidungen getätigt.Sofern nominell Bankkredite zur Finanzierung eingeschaltet wurden, erfolgte die betreffende Zins- und Tilgungsleistung meistens über die Zwischenstufen des Haushalts der Räte und Bezirke aus dem Republikhaushalt der DDR.
Es geht also um interne Finanzumschichtungen in einem zentralistischen Einheitsstaat und nicht um Geldbewegungen zwischen selbständigen Rechtssubjekten auf Grund eigenverantwortlicher Entscheidungen der Empfängerseite.
Zweitens ist die Belastung der ostdeutschen Kommunen mit den einschlägigen Schuldbeträgen, wie jedenfalls ich finde, auch eine unerträgliche Starthypothek für die junge kommunale Selbstverwaltung im Gebiet der früheren DDR.
- Nein, nein, das wird dann alles nur noch viel schlimmer. - Sollen die Gemeinden, Städte und Kreise dort das schwere Aufholrennen in Sachen Infrastruktur einigermaßen aussichtsreich aufnehmen, darf man ihnen nicht gleich beim Anfangsspurt die Beine festbinden.
Drittens schließlich widerspricht es auch dem schlichten Gerechtigkeitsempfinden, wenn die eine Gemeinde nun unter ihren sogenannten Altschulden ächzt, die Nachbargemeinde aber als altschuldenfrei dasteht, und dies, obwohl in beiden durchaus ähnliche Gemeinschaftseinrichtungen geschaffen worden sind, nur eben die eine Gemeinde aus DDR-politischen Erwägungen dafür eine Finanzierungsvermittlung, die andere aber eine Direktverbuchung erhielt.
Auch gab es zum Teil die entsprechend geschaffenen gesellschaftlichen Einrichtungen beim Beginn freiheitlicher Selbstverwaltung 1990 schon gar nicht mehr, oder sie waren so verrottet, daß sie zur weiteren Nutzbarkeit hohe Ergänzungsinvestitionen brauchten. Soll jetzt für diese Fehlbestände auch noch gezahlt werden müssen?
Freilich sind - das eben muß man auch beachten; es ist immer gut, wenn man beide Seiten der Medaille beguckt - die betreffenden Finanzposten im Zuge der deutschen Einigung nun einmal den Kommunen als Schulden zugeteilt worden. Dies entspringt nicht der Willkür der Bundesregierung, sondern ist geltendes Vereinigungsrecht. Aus Sicht der Vermögensentflechtung des sozialistischen Einheitsstaates hatte das auch seinen Sinn. Deshalb sollten die Kommunen - ich gebe ja nur freundliche Ratschläge - mit ihren Nöten auch nicht vorschnell zu den Gerichten laufen. Das Gutachten Harms ist eine Sache, aber die Entscheidung von Obergerichten dazu wäre eine andere Sache.
Jedenfalls: Aus besserer Einsicht nach fünf Jahren darf man wenigstens politisch die damaligen Regelungen nun korrigieren. Ich meine, dafür besteht wirklich Anlaß.
Sosehr also der Bund aufgefordert ist, hier lösungswillig heranzugehen - er tut das ja; das muß man auch einmal anerkennen -, so falsch wäre es, dabei die neuen Bundesländer aus ihrer Mitverantwortung
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6569
Dr. Edzard Schmidt-Jortzigzu entlassen. Denn nach der bundesstaatlichen Verfassungsordnung haben nun einmal die Länder und nicht der Bund für eine hinreichende Finanzausstattung ihrer Kommunen zu sorgen.
Daß sich die Kommunen den hartnäckigen Finanzegoismus ihrer Länder immer noch gefallen lassen, kann nun wirklich nicht dem Bund angerechnet werden. Deshalb ist der Lösungsvorschlag der PDS viel zu simpel. Es soll wohl auch nur wieder dem bekannten Verschleierungstanz Vorschub geleistet werden, das böse Bonn sei an allem schuld.
Das kann natürlich so nicht hinhauen. Vom Bundestag jedenfalls sollte schon heute das Signal an Bundesregierung und Länder ausgehen, daß die Frage der kommunalen Altschulden so gelöst werden muß, daß die örtliche Selbstverwaltung finanziell unbedingt handlungsfähig bleibt.
Die F.D.P. stimmt der Überweisung an die Ausschüsse mit deutlicher Unterstützung des Sachanliegens zu.
Der Abgeordnete Werner Schulz hat gebeten, seine Rede zu Protokoll geben zu dürfen.*) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann schließe ich die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/2434 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gernot Erler, Volker Kröning, Uta Zapf, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Abrüstung konventioneller Streitkräfte in Europa: Sicherung und Fortentwicklung des KSE-Vertrages
- Drucksache 13/3134 —
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß Verteidigungsausschuß
Die Abgeordneten Gernot Erler, Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Olaf Feldmann, Gerhard Zwerenz und Angelika Beer haben gebeten, ihre Reden zu Protokoll geben zu dürfen. Gleiches gilt für Staatsminister Schäfer. **) Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
*) Anlage 6 **) Anlage 7
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/3134 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 15:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Reinhard Weis , Dr. Uwe Küster, Dr. Ulrich Böhme (Unna), weiterer Abgeordneter der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Elisabeth Altmann (Pommelsbrunn), Kristin Heyne, Dr. Manuel Kiper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rücknahme der Weisung für die Einlagerung mittelradioaktiver Abfälle im Endlager für radioaktive Abfälle Morsleben
- Drucksache 13/2365 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster hat der Abgeordnete Reinhard Weis das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum wiederholten Mal beschäftigt uns heute das Endlager für radioaktive Abfälle in Morsleben. Die erneute Bewertung der schwerwiegenden Sicherheitsprobleme des Endlagers soll deshalb nicht im Mittelpunkt meines Beitrages stehen. Schließlich wissen wir alle aus vergangenen Debatten, aus den Ausschußberatungen, aus den Berichten der Medien und vor allem aus den bereits durchgeführten Untersuchungen, wie problematisch die Einlagerung im radioaktiven Endlager Morsleben zu bewerten ist.
Ich darf die wichtigsten Gründe kurz benennen. Erstens ist die Unkenntnis des tatsächlich vorhandenen Inventars zu erwähnen. Das gilt nicht nur für das Inventar, das schon zu DDR-Zeiten eingelagert wurde, sondern leider auch für die jüngsten Einlagerungen auf Grund des Versturzes in Sohle 5 a. Denn durch die Last des Aufpralls können Faßbeschädigungen nicht ausgeschlossen werden, so daß Abfallstoffe freigesetzt werden und unkontrollierte Lagerbedingungen die Folge sind. Die Inventarisierung einer jeden Sondermülldeponie geschieht gewissenhafter als das, was zur Zeit in Morsleben passiert.
Zweitens ist die geringe Salzschwebe zwischen dem Deckgestein und den alten Abbauen zu nennen und drittens die möglicherweise unkontrollierbar werdenden Laugenzuflüsse.
Reinhard Weis
Sie alle wissen das, und Sie wissen auch, daß derzeit ein Planfeststellungsverfahren läuft, um die Frage des Weiterbetriebs nach dem 30. Juni 2000 zu prüfen, wenn die vorläufige, noch aus DDR-Zeiten stammende Betriebsgenehmigung erlischt.
Die Bundesregierung ist im Gegensatz zu uns der Auffassung, daß ein Nachweis der Langzeitsicherheit erbracht werden kann. Diese Auffassung wird immer wieder in Ihren Äußerungen im Bundestag, zuletzt beispielsweise am 22. Juni 1995 durch den Parlamentarischen Staatssekretär Klinkert, aber auch durch Ihre Haushaltsplanungen deutlich.
Trotz der vollmundigen Reden der Bundesregierung verhält sie sich aber nicht so, als ob sie sich ihrer Sache sicher wäre, im Gegenteil: Durch eine Politik, die Weisungen erteilt, statt auf Argumente zu hören, die Informationen vorenthält, statt zu informieren, die versucht, mit aller Gewalt vollendete Tatsachen zu schaffen, um wenigstens bis zum Jahr 2000 möglichst viel Atommüll in Morsleben loszuwerden, beweist sie vor allem, wie unsicher sie sich in der Sache selbst ist.
Wir haben keinen akuten Atommüllnotstand. Warum also will die Bundesregierung nach dem Motto „Augen zu und durch" die Einlagerung schwach- und mittelradioaktiven Mülls in Morsleben betreiben? Warum wartet sie nicht ab, bis der Planfeststellungsbeschluß vorliegt? Warum wählt sie, indem sie den mittelradioaktiven Müll auf Sohle 5 a einfach abkippt, eine Form der Verbringung, die eine Rückholung faktisch ausschließt?
Ich will es Ihnen sagen. Insgeheim ist sie genau wie wir davon überzeugt, daß Morsleben am 30. Juni 2000 endgültig dichtgemacht werden muß. Deshalb verkippt sie ausgerechnet den problematischeren mittelradioaktiven Müll, um später vielleicht scheinheilig sagen zu können: Tut uns leid, aber nun bekommen wir das Zeug nicht wieder raus.
Mit dem schwachradioaktiven Müll geht sie anders um. Der wird in befahrbaren Stollen in Fässern gestapelt. Sie handelt nach dem Motto „Nach uns die Sintflut". Weil sie nicht weiß, was kommt, lagert sie jetzt möglichst viel und nicht rückholbar in Morsleben ein. Das ist unverantwortlich und sträflich fahrlässig.
Meine Damen und Herren, Sie wissen sehr gut, daß wir in Deutschland ein Endlager für atomaren Müll brauchen. Dieses Problem sehen auch wir Sozialdemokraten. Doch um einen geeigneten Standort zu finden und diesen auch in möglichst großem Konsens realisieren zu können, müssen verschiedene Vorbedingungen erfüllt sein. Drei möchte ich nennen.
Erstens. Es müßte klar sein, daß die Menge des Atommülls letztendlich begrenzt ist. Das heißt, wir werden ein Atommüllendlager in Deutschland mit den betroffenen Landesregierungen politisch nur dann durchsetzen können, wenn wir mit dem Einstieg in den Ausstieg aus der Atomenergie konkret beginnen.
Zweitens. Wir müssen das Problem mit der größtmöglichen Beteiligung der Öffentlichkeit und unter Einbeziehung aller Verantwortlichen erörtern und zu lösen versuchen. Geheimniskrämerei, obskure Gutachten, aufsichtliche Weisungen - all das verstärkt Mißtrauen und provoziert geradezu jenes Sankt-Florians-Verhalten, das den Menschen im Land von der Bundesregierung immer wieder vorgehalten wird.
Wenn zum Beispiel, wie kürzlich in meinem Wahlkreis im altmärkischen Waddekath geschehen, weder Landesregierung noch die Menschen vor Ort darüber informiert werden, daß der Boden unter ihren Füßen nach Aussagen eines wichtigen Gutachtens atomaren Müll aufnehmen soll, dann kann ich die Menschen sehr gut verstehen, die sich massiv gegen eine solche heimliche Vereinnahmung wehren. Dann unterstütze ich diese Menschen auch.
Drittens. Die Bundesregierung sollte sich auch für andere Einlagerungsmedien öffnen. Ich will damit Steinsalzformationen als Lagerort nicht grundsätzlich ausschließen. Es wäre aber glaubwürdiger, wenn auch andere Medien ernsthaft für eine mögliche Einlagerung geprüft würden. Es geht nicht an, daß zum Beispiel aus Angst vor den politischen Freunden in Bayern Ergebnisse heimlich durchgeführter Erkundungen von Granitformationen unter Verschluß gehalten oder offiziell abgestritten werden.
Diese drei Vorbedingungen werden heute in keiner Weise erfüllt.
Zurück zu Sachsen-Anhalt, zu Morsleben. Ich darf festhalten: Die Landesregierung Sachsen-Anhalt hat die Nutzung der Einlagerungsbereiche für mittelradioaktive Abfälle in der Sohle 5 a so lange untersagt, bis ein Nachweis der erforderlichen Schadensvorsorge erbracht wird. Sie handelt aus ihrem Verantwortungsbewußtsein gegenüber den Menschen in Sachsen-Anhalt, die übrigens zu 82 Prozent der Auffassung sind, daß in Morsleben nicht bzw. nur im Fall der eindeutig nachgewiesenen Sicherheit des Endlagers eingelagert werden sollte.
Den letzten Halbsatz sollten die Bundesregierung und auch Sie bei allen Widerständen gegenüber den atomaren Endlagern doch eigentlich erfreut aufgreifen. Die Bürger in Sachsen-Anhalt und ihre Landesregierung, die Sie so gerne verteufeln und in die Ver-
Reinhard Weis
weigererecke stellen wollen, akzeptieren, daß ein atomares Endlager in Morsleben besteht.
Es muß aber nachweislich sicher sein.
Wenn Sie sich so sicher sind, daß dieses Endlager so sicher ist, wie Sie das immer behaupten, dann schaffen Sie doch die notwendigen Voraussetzungen: Weisen Sie die Langzeitsicherheit nach! Schaffen Sie Vertrauen! Gehen Sie auf die Forderung nach dem Einlagerungsmoratorium ein!
Der freiwillige Verzicht auf eine Einlagerung radioaktiven Mülls bis zum Ende des Planfeststellungsverfahrens sollte Ihnen doch angesichts dessen, was Sie offiziell als Ergebnis erwarten, keinerlei Schwierigkeiten bereiten. Sollten Sie die zuvor genannten Bedingungen erfüllen, werde auch ich Sie unterstützen, wenn es darum geht, für den Betrieb eines Endlagers um Akzeptanz zu werben.
Aber Ihre praktische Politik schürt bisher lediglich Ängste und Vorbehalte. Dies ist auch nachvollziehbar. Schließlich beinhaltete die Weisung der Bundesregierung nicht nur eine Rücknahme der sachsen-
anhaltinischen Verfügung vom 24. August 1995. Sie verlangen darüber hinaus, alle Verfahrensschritte, die den Endlagerbetrieb in Morsleben behindern oder verhindern könnten, zur Genehmigung vorgelegt zu bekommen. Sie verlangen, daß Verwaltungsverfahren so durchgeführt werden, daß sicherheitstechnische Bedenken zum Endlager nicht ersichtlich sind. Sie verlangen zudem, daß sämtliche Schriftsätze, die gerichtlich verwendet werden sollen, mit Ihnen abgestimmt werden.
Meine Damen und Herren der Bundesregierung, damit machen Sie das sachsen-anhaltinische Umweltministerium zum Befehlsempfänger und Handlanger Ihrer verfehlten Politik.
Sicherheitsprobleme lösen Sie damit allerdings nicht. Vertrauensbildend sind diese Maßnahmen schon gar nicht. Sie verhindern aber eine erfolgversprechende Suche nach einer Lösung der Endlagerungsproblematik.
In Ihrem eigenen Interesse: Nehmen Sie die Weisung zurück, und verzichten Sie auf die weitere Einlagerung bis zur Vorlage des Planfeststellungsbeschlusses!
Das Wort hat jetzt der Kollege Kurt-Dieter Grill.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erstens. Herr Kollege Weis, der gemeinsame Antrag von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen und das, was Sie hier vorgetragen haben, sind nichts weiter als eine Kopie der niedersächsischen Politik von Frau Griefahn. Ich sage Ihnen: Das Original war schon nicht gut. Die Kopie ist noch schlechter.
Zweitens. Die Gerichte, zum Beispiel das OVG in Magdeburg, bestätigen in den jüngsten Urteilen weder die juristische noch die fachliche Wertung des sachsen-anhaltinischen Umweltministeriums.
Drittens. Sachsen-Anhalt kann es sich eigentlich noch weniger als Niedersachsen leisten, mit dem Verfahren, das Sie vorschlagen, Schadensersatzklagen zu riskieren und auch noch Schadensersatz zahlen zu müssen.
Man sollte sich vor dem Hintergrund der niedersächsischen Erfahrung sehr wohl überlegen,
ob man, Herr Schily, aus rein opportunistischen und politischen Gründen einen Weg wählt, mit dem man den Täter im Grunde genommen zum Opfer machen möchte. Das ist der Hintergrund Ihrer Politik. Sie machen sich zum Opfer einer angeblich bösartigen Politik dieser Bundesregierung, weil Sie sonst gezwungen wären, wirklich Farbe zu bekennen, und irgendwann einmal in diesem Hohen Hause oder an irgendeiner anderen Stelle in Deutschland sagen müßten, was Sie denn an welcher Stelle mit atomaren Abfällen, für die Sie selber eine erhebliche Verantwortung haben, tun wollen.
Es ist eine Politik der Behauptungen ohne Beweise. Es ist schon schlimm, wenn man sich mit dem Sachstandsbericht über Morsleben inhaltlich auseinandersetzt, in welcher simplifizierenden und, ich sage auch einmal, den Leuten bewußt angst machenden Art Sie die Ignoranz der Fakten in Politik umzusetzen versuchen. Das ist die Realität.
Es läßt sich doch überhaupt nicht nachvollziehen, was Sie etwa zum Langzeitnachweis vorgetragen haben.
- Ja, das kann vielleicht sein, aber inhaltlich ist es allemal besser als das, was Herr Weis vorgetragen hat. Das kann ich Ihnen sagen.
Die Frage des Langzeitnachweises ist geklärt. Es ist ein Sicherheitsbericht vorgelegt.
Sie können noch nicht einmal geotechnisches und ein geothermisches Konzept voneinander unterscheiden. Herr Weis, wenn ich Ihnen ein bißchen Nachhilfeunterricht in der Frage der Versturztechnik geben darf: Es ist so, daß die Versturztechnik - sie hat im
Kurt-Dieter Grill
übrigen ein ungeheuer wichtiges Ziel, was Sie bei Ihrer Betrachtungsweise leider vollkommen außer acht lassen - dem Schutz des Betriebspersonals im Sinne des Minimierungsgebotes der Strahlenschutzverordnung dient. Das ist das eine.
Das zweite ist: Wenn Sie darauf abheben - das scheint ja so der Fall zu sein -, daß die Gebinde in ihrer Verfassung sozusagen notwendig sind, damit die Versturztechnik funktionieren kann, dann liegen Sie eindeutig falsch.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Schönberger?
Bitte schön.
Herr Grill, Sie haben eben gesagt, daß der Versturz der Sicherheit des Personals dient. Ist Ihnen bekannt, daß ausgerechnet aus dieser Versturztechnik resultiert, daß dort unten ständig ein erhöhter Ausstrom von Radon stattfindet, daß zwei- bis dreimal pro Woche das Gebiet, worunter die Kaverne ist,
von dem Bedienungspersonal geräumt werden muß, weil die interne Warnschwelle überschritten ist, daß der Abluftstrom erhöht werden muß, um das Gas nach außen abzulassen, und erst dann der Betrieb weitergehen kann? Das passiert, so wie mir der Betriebsleiter mitteilte, zwei- bis dreimal pro Woche. Das ist etwas, was genau aus dieser Versturztechnik resultiert. Ist Ihnen der Tatbestand bekannt?
Ich bin dreimal in Morsleben gewesen. Ich bin in sämtlichen Verästelungen dieses Bergwerkes gewesen und habe mit der Betriebsleitung sowie dem Betriebsrat gesprochen. Mir ist das, was Sie darstellen, nie vorgetragen worden.
- Es ist mir nie vorgetragen worden, Herr Schily. Ich bin dreimal dagewesen.
- Wissen Sie, das ist eine Art und Weise der Betrachtung, Herr Köhne, die vollständig der Verantwortung Ihrer Partei für das entspricht, was in Morsleben entstanden ist.
Herr Weis, Ihre Vorwürfe will ich einmal aufnehmen. Sie sagen: Informationen vorenthalten. Das stimmt vorne und hinten nicht. Ich denke, daß Frau Merkel und niemand von der Bundesregierung, vom Bundesamt für Strahlenschutz und vom DBE eine Veranlassung haben, Informationen vorzuenthalten. Selbst wenn es in der Frage der Informationspolitik hier und da Kritik gibt, kann nicht davon gesprochen werden, daß Informationen vorenthalten werden. Sie behaupten - das ist die Art und Weise, wie Sie politisch im Grunde genommen jenseits der Fakten argumentieren -, die Bundesregierung wolle mit aller Gewalt - Sie müssen sich einmal den Sprachgebrauch überlegen - das Endlager durchsetzen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Gila Altmann?
Nein, Frau Präsidentin, ich möchte zunächst einmal meinen Text vortragen.
Sie bezichtigen die Bundesregierung einer unverantwortlichen, sträflichen, fahrlässigen Handlungsweise. Ich sage Ihnen: Wenn Sie einmal die Menschen sehen, die in diesem Endlager arbeiten - ich schließe ausdrücklich den Betriebsleiter Ebel ein, der Morsleben wie seine Westentasche kennt und der hervorragend qualifiziert ist -, dann wäre es schon gegenüber denjenigen, die dort bisher gearbeitet haben, unverantwortlich - da denke ich besonders an Herrn Ebel -, ihnen vorzuwerfen, sie handelten möglicherweise im Auftrag von Frau Merkel fahrlässig, sträflich, nachlässig und unverantwortlich. Dies stimmt nicht.
Dies gilt natürlich auch weder für das Bundesamt für Strahlenschutz noch für die DBE, noch für das Bundesumweltministerium. Wenn man das Ganze wirklich auf seinen sachlichen Gehalt untersucht, kommt man immer wieder auf das gleiche Strickmuster: Sie machen sich als Täter zum Opfer. Weil Sie natürlich mittlerweile wissen, daß Sie eine Antwort geben müssen auf die Frage, wo das Endlager in Deutschland gebaut werden soll, fliegen Sie die Kurve, die nicht mehr auszuhalten ist. Sie führen eine Begrenzung der Menge an. Damit wird das Problem letztendlich nicht anders.
Sie plädieren für eine größtmögliche Beteiligung der Öffentlichkeit. All das ist gewährleistet.
Das Verlogenste an Ihrer Politik ist,
daß Sie den Mut haben - oder sollte ich besser „Chuzpe" sagen? -, sich hier hinzustellen und zu behaupten, Frau Merkel habe Waddekath schon zum Endlagerstandort gemacht. Ihre Partei fordert von dieser Bundesregierung tagtäglich Alternativen zu Gorleben, zu Konrad, wo Sie überall stehen und „Nein, danke" sagen.
Sie sind doch der Prototyp eines, wie man im Amerikanischen sagt, Nimby - „Not-in-my-backyard". An jedem Ort dieser Republik sagen Sie: „Hier geht es nicht." Wenn ein Gutachten vorgelegt wird, in dem mögliche Standorte überhaupt erst einmal benannt werden, sagen Sie gleich: „In Waddekath soll Müll aufgenommen werden." Dort wird das glei-
Kurt-Dieter Grill
che inszeniert wie in Sumpte und wie diese Standorte alle heißen.
Im übrigen gibt es keine geheimen Untersuchungen zu Granit, meine Damen und Herren. Wir haben vollen Zugriff auf die kanadischen, die schwedischen, die schweizerischen Untersuchungen von Granit. Insofern ist das im Grunde genommen alles nur eine reine Show-Veranstaltung.
Ich habe gerade vom Kollegen Letzgus gehört, daß Frau Heidecke und der eine oder andere von Ihnen eigentlich noch nie in Morsleben war. Ich finde es immer bewunderungswürdig, wenn die Menschen über schwerwiegende komplizierte Sachverhalte reden können, ohne jemals vor Ort gewesen zu sein.
Ich sage Ihnen zum Schluß noch einmal: Was Sie aufführen, ist eine Kopie der niedersächsischen Politik, eine schlechte Politik. Sie führen das Land Sachsen-Anhalt unnötigerweise in die Gefahrenzone, nicht vorhandene Gelder für mögliche Schadenersatzleistungen bereitstellen zu müssen. Dies nenne ich nicht mehr verantwortbare Politik für die Menschen in Sachsen-Anhalt und auch in Deutschland.
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält die Abgeordnete Altmann.
Herr Grill, ich hätte Ihnen gerne eine Zwischenfrage gestellt. Leider haben Sie diese Frage nicht zugelassen. Insofern kann ich nur folgende Feststellung machen:
Ich finde es merkwürdig und, um mit Ihren Worten zu sprechen, nicht verantwortbar, daß Sie über die Frage von Frau Schönberger einfach hinweggegangen sind. Der Sachverhalt, der hier geschildert wurde, ist nachprüfbar. Es stimmt mich nachdenklich, daß es Ihnen nicht mal wert ist, darauf einzugehen.
Ich frage mich wirklich, ob es hier darum geht, die Sachlage zu diskutieren und über Sicherheit zu reden oder nur etwas durchzudrücken.
Ich möchte von Ihnen wissen, wie Sie mit diesen Informationen umzugehen gedenken, gerade aus der Verantwortung für die dort lebende Bevölkerung heraus.
Frau Altmann, ich kann nur sagen: Die Behauptung, die Frau Schönberger hier aufgestellt hat, beruht auf der Angabe der Betriebsleitung. Sie hat das jedenfalls so formuliert.
Ich habe mich bei drei Bereisungen der Anlagen in Morsleben über alle Sachverhalte informiert, bin dort stundenlang gewesen, habe mit dem Betriebsrat, mit dem Personal, mit der Betriebsleitung gesprochen. Eine solch schwerwiegende Behauptung, wie hier aufgestellt, ist mir zu keiner Zeit vorgetragen worden. Deswegen habe ich auch keine Lust, auf eine Behauptung, von der ich annehmen muß, daß sie hier vorsätzlich so gemacht worden ist, einzugehen. Ich denke, daß Sie sich bemühen sollten, hier und vor Ort in Ihrer Argumentation etwas seriöser zu werden. Damit wäre uns in der Auseinandersetzung schon geholfen.
Das Wort zur Kurzintervention hat die Abgeordnete Steffi Lemke.
Herr Grill, ich bin fassungslos, was Sie für Unterstellungen hier in den Raum stellen. Wenn Sie so oft in Morsleben sind, dann hat Ihnen Herr Ebel vielleicht mitgeteilt, daß Frau Schönberger und ich Morsleben in diesem Sommer bereist haben. Wir haben dort unten wirklich unsere schlimmsten Befürchtungen bestätigt bekommen, obwohl ich persönlich sehr unvoreingenommen an diesen Besuch herangegangen bin.
Ich möchte Ihnen gerne von diesem Besuch erzählen, und ich gehe davon aus - da Sie ja um die Sicherheit der dort lebenden Menschen besorgt sind -, daß Sie die Vorgänge überprüfen und dem Parlament vielleicht darüber berichten werden.
Wir kamen jedenfalls mit diesem netten Wägelchen an der Versturzstelle unten an. Eine Alarmlampe blinkte, und eine Sirene ertönte. Herr Ebel teilte uns mit, daß das völlig normaler Betrieb sei und daß das Blinken der Alarmlampe nur darauf zurückzuführen sei, daß dort erhöhte Radonwerte gemessen würden, was zwei-, dreimal die Woche auftreten würde. Man müßte jetzt leider die Lüftung intensivieren. Ich weiß nicht, welchen Zustand er damit herstellen wollte, wenn das der Normalzustand sein sollte. Er hat uns dann noch erklärt, daß Morsleben dort unten eine viel geringere Radioaktivität aufweise, als die natürliche Radioaktivität oberhalb des Schachtes betrage. Das ist völlig logisch: Wenn ich die Radonwerte oben erhöhe, indem ich die Lüftung intensiviere, ist es klar, daß unten weniger ist.
Nachdem Sie hier unterstellt haben, daß das eine unwahre oder eine unseriöse Behauptung sei, erwarte ich von Ihnen, daß Sie sich mit Herrn Ebel in Verbindung setzen und sich das von ihm bestätigen lassen. Er hat uns das mit seinen eigenen Worten so dargestellt und uns damit eindrucksvoll die Unsicherheit des sogenannten Endlagers demonstriert.
Die nächste Rednerin ist die Abgeordnete Ursula Schönberger.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, wenn Sie jetzt hier über das erbost sind, was meine Kollegin gesagt hat, kann ich nur sagen: Sie müssen das einfach zur Kenntnis nehmen. Sie können nicht daran herumdeuteln oder sagen: Das war nicht so. Wir waren unten, und es gab diesen Warnalarm. Es gab auch die Aussage von Herrn
Ursula Schönberger
Ebel, daß das so sei, weil auf Grund des Versturzes dort ständig Radongas austrete, und daß dies ganz normaler Betrieb sei und zwei- bis dreimal die Woche passieren würde. Wenn Sie die Wahrheit, die Tatsachen, die man vor Ort erlebt, nicht akzeptieren wollen, ist das Ihr Problem. So realitätsfremd sind wir allerdings nicht.
Was wir heute hier diskutieren, ist einer der größten Skandale in dieser durch und durch skandalträchtigen Geschichte der Nutzung der Atomenergie. Da gibt es ein Atommüllendlager auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, das in DDR-Zeiten genehmigt worden ist. Dieses Atommüllendlager ist durch den deutsch-deutschen Einigungsvertrag ohne atomrechtliches Planfeststellungsverfahren zu einem bundesdeutschen Endlager geworden - ein Atommüllendlager als Morgengabe der deutsch-deutschen Einigung.
Ansonsten war Ihrer Meinung nach alles schlecht in der DDR. Aber dieses Atommüllendlager soll gut gewesen sein und soll unseren Ansprüchen genügen!
Selbst das Bundesumweltministerium zweifelt an der Genehmigungsfähigkeit von Morsleben. In einem internen Strategiepapier des Bundesumweltministeriums vom März dieses Jahres ist zu lesen:
Ein Weiterbetrieb über den 30. Juni 2000 hinaus erfordert ein Planfeststellungsverfahren, das angesichts der geologischen Situation mit Schwierigkeiten und Risiken behaftet ist.
Das muß man sich mal ganz genau durchdenken. Da gibt es ein Bundesumweltministerium, das explizierte Bedenken bezüglich der geologischen Situation von Morsleben hat,
das aber überhaupt keine Bedenken hat, in dieses Lager bis zum 30. Juni 2000 einzulagern, was das Zeug hält.
Und wie wird eingelagert? Es werden, wie mein Kollege schon ausführte, mittelradioaktive Stoffe einfach auf alten Müll gekippt, die Fässer zerplatzen, der Müll vermischt sich. Reaktionen der Gebinde untereinander sind nicht auszuschließen, ebenfalls nicht, daß brennbares Material frei herumliegt. Das alles ist aber sicherheitstechnisch nicht untersucht worden.
Für ein westdeutsches Atommüllager wurde die Versturztechnik explizit ausgeschlossen. In Morsleben, wie auch Herr Weis sagte, werden schwachaktive Abfälle gestapelt und stärker strahlende verstürzt - nach gesundem Menschenverstand eigentlich ein Unding. Aber die Gründe sind ganz einfach:
So war die DDR-Genehmigung! Wollte das Bundesamt für Strahlenschutz mittelaktiven Müll stapeln und nicht verstürzen, so wäre dies nicht durch die DDR-Genehmigung abgedeckt. Eine derartige Änderung der Einlagerungsbedingungen wäre aber so wesentlich, daß ein Planfeststellungsverfahren notwendig wäre. Das allerdings wäre zu riskant, könnte doch in einem solchen Verfahren ans Tageslicht kommen, daß die Einlagerung prinzipiell nicht zu verantworten wäre. Aus wäre es mit der bequemen Entledigung dieses strahlenden Mülls bis zum Jahre 2000.
Das sachsen-anhaltinische Umweltministerium hat aus der Prüfung der Genehmigungsdokumentation, die im übrigen erst im April dieses Jahres vom Bund übergeben worden ist, Anhaltspunkte für Sicherheitsmängel gewonnen. Es hat daraufhin den einzig richtigen Schritt gemacht und im Interesse der Sicherheit und Gesundheit der Bevölkerung einen teilweisen Einlagerungsstopp verfügt. Dieser Einlagerungsstopp sollte solange gelten, bis das Bundesamt für Strahlenschutz als Betreiber einen Sicherheitsnachweis in den aufgeworfenen Fragen erbringt.
Was macht Frau Merkel? Anstatt sich der fachlichen Diskussion um die Sicherheit des Endlagers zu stellen, ignoriert sie die Bedenken des Landesumweltministeriums. Vor allem aber ignoriert sie die potentielle Gefahr für die Menschen vor Ort. Sie zieht den Weisungshammer, verweigert sich der Diskussion und ordnet die Wiederinbetriebnahme an. Sie geht sogar noch weiter: Sie erläßt einen Maulkorb und verbietet dem Land, seine Interessen vor Gericht wahrzunehmen.
Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, die Art und Weise, wie die Bundesregierung derzeit im Atomenergiebereich agiert, mißachtet das Sicherheitsbedürfnis vieler Menschen. Das fängt damit an, daß sie den Umgang mit Atommüll mit Kuchenbacken vergleicht. Das geht mit dem größten Polizeieinsatz in der Geschichte der Bundesrepublik weiter, der aufgeboten wurde, um den Castor-Behälter nach Gorleben durchzubringen. Und es geht so weit, daß sie die Sicherheitsdiskussion durch den Weisungshammer ersetzt. Diese Politik, die an den Ängsten und Bedürfnissen der Menschen vorbeigeht, ist polarisierend. Mit ihrer Atompolitik hat sich die Bundesregierung von den gesellschaftlichen Diskussionen und dem Empfinden der Gesellschaft weit entfernt.
Ich kann - das sage ich zum Schluß - Sie deshalb nur bitten und auffordern: Stellen Sie sich der Diskussion um die Sicherheit und Verantwortbarkeit der Einlagerung von Atommüll von Morsleben! Machen Sie nicht eine Weisungspolitik, machen Sie eine Politik der Diskussion über die Sicherheit, und stimmen Sie unserem Antrag zu!
Es spricht jetzt der Abgeordnete Rainer Ortleb.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung soll also eine Weisung zurücknehmen, die die Wiederaufnahme einer Einlagerung in ein Endlager für radioaktiven Müll verfügt. Die Situation stellt sich nun wie folgt dar: Die Antragsteller sehen Sicherheitsmängel, fehlende Sicherheitsnachweise für den Langzeit- wie auch den gegenwärtigen Betrieb, Gutachten, die ohne Recherchen und Daten erstellt wurden, so daß man gar nicht richtig rechnen konnte, sie sehen den Ort als solchen für ungeeignet an und zweifeln letztlich am dortigen Stand von Technik und Technologie.
Man kann den Sachverhalt auch so zusammenfassen: Das Landesumweltministerium hat recht und beruft sich offensichtlich auf weitblickend vorsorgliche Experten. Das Bundesumweltministerium hat nicht recht und verfügt nur über dilettierende oder atomlobbyistisch liierte, fragwürdige Fachleute. Darüber müssen wir nun einen tatsächlichen wissenschaftlichen Dialog führen, natürlich mit offenem Ende.
Sicherlich ist Ihnen aufgefallen, daß ich bisher die Ortsangabe Morsleben nicht verwendet habe. Das liegt nicht daran, daß ich die Kenntnis der Tagesordnung voraussetze. Vielmehr meine ich, daß die Antragsteller dieselbe, gegebenenfalls geringfügig modifizierte Darstellung für jedes Endlager X-leben, Y-feld oder Z-dorf geben könnten
und auch da in jedem Einzelfall den eben so genannten tatsächlichen wissenschaftlichen Dialog führen wollen.
Ich glaube, daß es um Morsleben nur als das Mosaiksteinchen Morsleben geht. Die umfassendere Fragestellung, um die es sich eigentlich handelt, ist doch, ob man Kernenergie als optionale Energie haben will oder nicht.
- Ja, da sind wir doch völlig einverstanden. - Und hier ist eben Morsleben in einem sozusagen dem Thema angepaßten anderen Bild nur ein Atom des Ganzen: nämlich Option Kernenergie oder nicht.
Und schließlich, wenn man durch eine Politik rein verfahrenstechnischer Einzelzertrümmerung der Atome des Körpers Option vorgeht, dann ist die Option Kernenergie auch zerstört. Übrigens habe ich die Wortfolge „durch eine Politik rein verfahrenstechnischer", wie Sie sicher sofort bemerkt haben, aus der Begründung des vorliegenden Antrags geklaut.
Die Wortspiele sollen aber keineswegs ablenken, denn mir liegt sehr viel daran, insofern zu präzisieren, daß verantwortungsvoller Umgang mit Kernkraft nicht allein heißt, optionale Kernenergie ja oder nein, sondern Augenmerk auf die Bedingungen der Nutzung richten muß. Und hier muß dann in der Tat untersucht werden, ob beherrschbar oder nicht, was aber sofort die Frage anschließt, was denn beherrschbar ist.
Herr Abgeordneter, einen kleinen Moment. Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Wenn Sie einen Moment gestatten, gleich.
Letzteres ist die Frage nach Situation und Eintrittswahrscheinlichkeiten und ersteres die kritische Beurteilung geltenden Wissens, machbarer Technik und geläufiger Technologie.
Eine Zwischenfrage der Abgeordneten Schönberger.
Herr Professor Ortleb, ich habe eine Nachfrage zu Ihren Äußerungen. Soll das jetzt heißen, daß man dann, wenn man für die Option Kernenergie ist, einlagern kann oder gar einlagern muß, wo gerade ein Loch da ist, egal ob dieses Atommüllager speziell den Sicherheitsanforderungen entspricht, weil man sich sonst vielleicht der Option Kernenergie nicht stellen würde, oder sind nicht sogar auch Sie, der Sie ja zur Option Kernenergie sagen, mit mir der gleichen Meinung, daß man natürlich über jedes Lager ganz konkrete Sicherheitsdiskussionen führen muß und daß eine solche Sicherheitsdiskussion nichts nützt, wenn währenddessen ständig tonnenweise Müll hineingekippt wird?
Ich habe die Gelegenheit, einfach meinen nächsten Satz zu nehmen, den ich geplant habe. Ich könnte mir nämlich gut vorstellen, daß Sie hinsichtlich der letzten Sentenzen meiner Rede mit mir gar nicht so unbedingt nicht einverstanden sind. Der Unterschied zwischen uns ist nur, daß Sie als Antragsteller unbedingt nicht wollen und ich bedingt will.
Damit bin ich am Ende der Antwort, und da der laufende Text sehr gut dazu paßt, kann ich damit weitermachen.
Die wohl größte Differenz haben wir infolgedessen in der Beurteilung von Qualität und Redlichkeit von Fachleuten des Denk- und Handwerks rund um die Anwendung von Kernkraft. Immer wieder entdecke ich, daß Oberflächlichkeit und Unsolidität vor allem den - nennen wir es - bedingten Befürwortern unterstellt wird. So ist auch die unterschiedliche Beurteilung von im vorliegenden Falle Bundes- und Landesregierung zu verstehen. Genauso verhält es sich auch mit der Darstellung der Sachverhalte.
Im Gegensatz dazu bin ich der Auffassung, daß man in Deutschland sowohl bei Gutachten als auch bei Handhabung geradezu pingelig genau ist. Wer das nicht glaubt, der lese und studiere nur einmal die Berichte über meldepflichtige Havarien in Kernkraftwerken. Da ist dann auch die defekte Glühlampe im Vorbereich der Sicherheitszone dabei. Diese Ge-
Dr. Rainer Ortleb
nauigkeit ist jedoch lobenswert und gut. Nur so kann bedingte Befürwortung Vertrauen gewinnen.
Mich stört, wenn lange geführte Untersuchungen, Begutachtungen und Diskussionen zu einer Sache oder zu einer Lösung offenbar nie einen Abschluß finden oder nur dann, wenn das Ergebnis den unbedingten Aussteigern recht gibt. Wenn allgemeine Regelung sein soll, daß der „tatsächliche wissenschaftliche Dialog" so lange geführt werden muß, bis Gott sei Dank gar hoffentlich endlich ein negatives Resultat für die bedingten Befürworter vorliegt, während etwa ein zwischenzeitlich schon erzieltes positives grundsätzlich nicht gilt, dann kann man das Verfahren auch abkürzen und den Ausstieg aus der Kernenergie auch gleich gesetzlich festschreiben wollen. Das ist ehrlicher als die eifrige Produktion von Mosaiksteinchenanträgen.
Da sind wir mit dem Begriff „gesetzliche Festschreibung" unversehens bei der Chance von Betrachtung zum Demokratieverständnis angelangt. Gegen Mehrheitsentscheidungen zum Beispiel Schienenstücke herauszusägen und Bäume, auch grüne, zu fällen, verträgt sich für mich nicht. Im Sinne von Demokratieverständnis ist der vorliegende Antrag eigentlich die Aufforderung an die Bundesregierung, die Gesetze zu brechen, nach denen sie eben, anders als vom Antrag gewollt, handelte.
Danke.
Herr Abgeordneter, da war noch der Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Es gibt doch die Möglichkeit zur Kurzintervention.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rolf Köhne.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich Sie, werter Herr Kollege Grill, auf einen Widerspruch aufmerksam machen: Bei jeder Gelegenheit weisen Sie darauf hin, daß die DDR die Umwelt verschmutzt hat und in dieser Hinsicht sehr nachlässig gewesen sei. Sie tun das zu Recht, wie ich leider auch bekennen muß. Auf der anderen Seite sind Sie auf einmal sehr froh, daß Sie eine Genehmigung aus dem Jahre 1986 von der DDR einfach erben durften. Das ist der Widerspruch in Ihrer Argumentation, den Sie einfach nicht auflösen können.
Zum anderen: Herr Ortleb, Sie haben die Sache sicherlich sehr gut auf den Punkt gebracht. Es geht genau um die Frage, Atomenergie ja oder nein. Es gibt sehr viele Details, in denen immer wieder deutlich wird, daß es sehr unverantwortlich ist, an der weiteren Nutzung der Atomenergie festzuhalten. Morsleben ist ja eben genau so ein Detail davon,
und genau darum geht es.
Endlager werden nur dann, wenn überhaupt, in der Bevölkerung akzeptiert werden, wenn ganz klar gesagt wird, daß wir aussteigen, daß Schluß ist, daß kein neuer Müll mehr kommt. Dann erst wird man darüber überhaupt sachlich diskutieren können.
- Ich schließe mich der Argumentation der Kollegin Schönberger an, daß Sie in dieser Frage die Mehrheiten nicht mehr hinter sich haben.
So, aber jetzt hat doch der Redner hier weiter das Wort.
Zurück zur Sache. Angesichts der offensichtlichen Sicherheitsmängel im Endlager Morsleben ist es also nicht verantwortbar. Die Weisung der Ministerin muß deswegen zurückgenommen werden, und ich schließe mich einfach dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und SPD an.
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Hirche.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am 1. September dieses Jahres mußte das Bundesumweltministerium erstmalig eine Weisung an eines der neuen Bundesländer erteilen. Entsprechend unserer Verantwortung für die sichere Entsorgung nuklearer Abfälle haben wir die sachsen-anhaltinische Umweltministerin Heidecke angewiesen, den Ende August von ihr untersagten Versturz von radioaktiven Abfällen ins Endlager für radioaktive Abfälle Morsleben wieder zuzulassen. Die Untersagungsverfügung wurde daraufhin von Umweltministerin Heidecke am 4. September 1995 zurückgenommen.
Für den Bund war es nicht hinnehmbar, wie die sachsen-anhaltinische Umweltministerin versucht hat, ohne nachvollziehbare Rechtsgrundlage und auf
Parl. Staatssekretär Walter Hirche
Grund unbewiesener Behauptungen den Betrieb des Endlagers Morsleben zu blockieren.
Unsere Auffassung ist im übrigen vom Oberverwaltungsgericht Magdeburg in seiner Entscheidung vom 16. November bestätigt worden.
Meine Damen und Herren, Weisungen dieser Art können eben auch gerichtlich überprüft werden, und dann wird man feststellen, welcher der Standpunkt ist, der die Sicherheitsargumente berücksichtigt.
Die Grünen versuchen hier keine Sicherheitsdiskussion, sondern sie versuchen eine Unsicherheitsdebatte mit Halbwahrheiten.
Der vorliegende Antrag ist keineswegs anspruchsvoller als das, was Frau Heidecke versucht hat.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenanfrage?
Sofort. - Wiederum werden nur Behauptungen aufgestellt; nachvollziehbare Begründungen fehlen.
Sie gestatten eine Zwischenfrage der Abgeordneten Schönberger. - Bitte.
Herr Hirche, wenn Sie sagen, daß dort nur Behauptungen aufgestellt werden, die nicht bewiesen sind, führt das nicht zu dem Umkehrschluß, daß Sie diese Behauptungen, wie Sie sagen, auch nicht widerlegen können? Sonst müßten Sie ja sagen, diese Behauptungen seien falsch, und könnten nicht sagen, diese Behauptungen sind nicht bewiesen worden.
Ist Ihnen nicht auch bekannt, daß das OVG in Magdeburg nur den formalen Vorgang gerechtfertigt hat, aber keineswegs Stellung zu dem Inhalt Ihrer Weisung bzw. zu dem Inhalt der Verfügung des sachsen-anhaltinischen Umweltministeriums genommen hat, sondern ein rein formales Verfahren durchgeführt hat?
Frau Kollegin, vor Gericht geht es immer darum, daß nur über den Sachverhalt geurteilt wird, der im Augenblick zur Debatte steht.
Ich bin ganz sicher - und Herr Kollege Grill hat das ja schon angeführt -, daß auch eventuelle weitere Verfahren genau so kläglich scheitern werden, wie das in Niedersachsen der Fall ist, und daß damit nur der Steuerzahler in dem jeweiligen Bundesland mit zig Millionen belastet wird.
Zur bereits hier diskutierten Frage der Langzeitsicherheit darf ich zur Klarstellung noch einmal darauf verweisen, daß nach dem Recht der damaligen DDR abschließende Aussagen zur Langzeitsicherheit erst in einer auf die Dauerbetriebsgenehmigung folgenden Stillegungsgenehmigung verfahrensrelevant gewesen wären. Deshalb enthält die jetzige Betriebsgenehmigung folglich keine Aussagen, wie sie in einem Endlager-Planfeststellungsbeschluß nach bundesdeutschem Recht erforderlich wären.
Das derzeit laufende Planfeststellungsverfahren für den Betrieb über den 30. Juni 2000 hinaus wird die verfahrensrelevante Feststellung zur Langzeitsicherheit enthalten. Die Untersuchungen sind eingeleitet, aber bereits jetzt liegen Aussagen zur Langzeitsicherheit vor, die ergeben, daß für die bis zum Jahre 2000 einzulagernden Abfälle zu keiner Zeit eine Überschreitung der Dosisgrenzwerte zu erwarten ist. Diese Aussagen erlauben auf jeden Fall den Betrieb bis zu diesem Zeitpunkt bedenkenfrei.
Die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit hat für die Sicherheit der Nachbetriebsphase Analysen durchgeführt, die die bis zum 30. Juni 2000 in Aussicht genommenen einzulagernden Abfälle berücksichtigen. Die Ergebnisse der GRS weisen aus, daß die in Aussicht genommene Menge an radioaktiven Abfällen im ERAM sicher verwahrt werden kann. Dabei unterstellt die GRS-Hypothese sogar, daß die Grube voll Wasser laufen könnte, was nach Ansicht der Geologen überhaupt nicht zu erwarten ist.
Darüber hinaus zeigen die Analysen, daß unter Berücksichtigung eines optimierten Stillegungskonzeptes weiteres Potential der Einlagerung für ausgewählte Radionuklide gegeben ist. Mit der Erarbeitung eines solchen Stillegungskonzeptes, das den Anforderungen eines zukünftigen Planfeststellungsbeschlusses genügen kann, wurde bereits begonnen.
Wir haben uns in Deutschland entschieden, sämtlichen radioaktiven Müll in tiefen geologischen Formationen einzulagern. Die hierfür vorgesehenen Salzstöcke sind größenordnungsmäßig über 200 Millionen Jahre alt. Wer bei verantwortungsbewußter Einlagerung in diese Salzstöcke konkrete Gefahren an die Wand malt, muß sich dem Vorwurf aussetzen, vorsätzlich Panikmache zu betreiben.
Das gilt auch für die Halbwahrheiten, die hier über das Thema Alarmanzeigen und Warnschwellen im Zusammenhang mit Morsleben verbreitet worden sind.
Parl. Staatssekretär Walter Hirche
Meine Damen und Herren, in einem Berichtsentwurf des BfS vom gestrigen Tage wird das Thema noch einmal aufgegriffen. Hier sind Warnschwellen im Zusammenhang mit den aus Minimierungsgründen unterhalb der für das ERAM ohnehin sehr niedrig angesetzten Grenzwerte festgelegt. Es hängt dann ausschließlich davon ab - das können Sie schlicht beim Autofahren und anderswo feststellen -, wo Sie eine Warnschwelle ansetzen. Wenn die rote Lampe aufblinkt, können Sie Vorsorgemaßnahmen ergreifen. Das hat überhaupt nichts mit Problemen zu tun. Es handelt sich in keinem Fall um Überschreitung von Grenzwerten. Genau dieser Eindruck ist von Frau Schönberger erweckt worden.
Meine Damen und Herren, dies ist ein typischer Fall dafür, wie mit Halbwahrheiten gearbeitet wird angesichts des Nichtwissens von Einzelheiten. Das ist der Versuch, über solche Halbwahrheiten statt über Tatsachen die Dinge öffentlich in Unsicherheitszonen zu bringen. Morsleben ist ein Endlager, das der Bund zwar nicht errichtet, sondern übernommen hat, dessen Sicherheit er aber überprüft hat, das er sicher betreibt und das er am Ende der Betriebszeit auch sicher verschließen wird.
Meine Damen und Herren, der Bund hat über das Bundesamt für Strahlenschutz die entsprechenden Anträge auf Planfeststellung im Hinblick auf Betrieb und Stillegung über das Jahr 2000 hinaus gestellt. An den Einzelheiten wird gearbeitet. Der Nachweis der Sicherheit wird detailliert erbracht werden.
Ich stelle abschließend fest, daß eine Rücknahme der Weisung vom 1. September weder aus rechtlichen noch aus sicherheitstechnischen Gründen gerechtfertigt ist. Der Betrieb erfolgt derzeit auf Grund einer gültigen Dauerbetriebsgenehmigung, die in verantwortlicher Weise genutzt wird. Aus diesem Grunde entbehrt der Antrag, der hier vorgelegt wird, jeder Grundlage. Es sind weder rechtliche noch sicherheitstechnische Gründe anzuführen, die diesen Antrag rechtfertigen könnten.
Vielen Dank.
Ich schließe damit die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/2365 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, 1. Dezember 1995, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche allen eine gute Nacht.