Gesamtes Protokol
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.Ich möchte zunächst der Opfer in Japan gedenken.
Am Dienstag dieser Woche verloren bei einem der schwersten und grauenvollsten Erdbeben in Zentraljapan, in der Region Osaka und Kobe, mehr als 3 500 Menschen ihr Leben. Mehr als 14 000 wurden verletzt. Viele werden noch vermißt. Eine Stadt wurde zerstört, mehr als 200 000 Menschen wurden obdachlos.Die Wucht der Naturgewalten wird uns über die Bilder der verwüsteten, weitgehend zerstörten Stadt vermittelt. Angesichts der Ohnmacht gegenüber den Naturgewalten bleibt unser tiefes Mitgefühl mit den Betroffenen und die Bereitschaft, zu helfen, in dieser Region zu helfen, die zu den gefährdetsten Erdbebengebieten unseres Planeten gehört.Der Deutsche Bundestag spricht dem Parlament Japans und dem japanischen Volk seine aufrichtige Teilnahme aus.Ich möchte Sie bitten, stehen zu bleiben, damit wir des verstorbenen Karl Schiller gedenken.Am 26. Dezember 1994 verstarb nach schwerer Krankheit der Bundesminister a. D. Professor Dr. Karl Schiller im 83. Lebensjahr. Er wurde am 24. April 1911 in Breslau geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Kiel studierte er Nationalökonomie und Soziologie in Kiel, Frankfurt, Berlin und Heidelberg. Er arbeitete am Institut für Weltwirtschaft in Kiel; nach seiner Habilitation als ordentlicher Professor in Hamburg leitete er das Institut für Außenhandel und Überseewirtschaft und war von 1956 bis 1958 Rektor der Universität Hamburg.Professor Schiller, der seit 1946 der SPD angehörte, blieb nicht bei Forschung und Lehre. Er engagierte sich nach dem Krieg in der Wirtschaftspolitik. Er wirkte von 1948 bis 1953 als Wirtschafts- und Verkehrssenator in Hamburg, von 1961 bis 1965 als Wirtschaftssenator in Berlin. Seit 1965 gehörte er dem Deutschen Bundestag an, und 1966, nach Bildung der Großen Koalition, übernahm er im Kabinett Kiesinger das Bundeswirtschaftsministerium, dazu im Mai 1971 das Finanzressort. Er wurde als „Superminister" einer der bekanntesten Politiker jener Zeit. Im Juli 1972 trat er von beiden Ämtern zurück.Auch nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag im selben Jahr blieb Karl Schiller als wirtschaftspolitischer Experte und Berater in vielen Funktionen und Gremien geschätzt und gefragt. Bis in die jüngste Vergangenheit nahm er engagiert zu wirtschaftlichen Problemen Stellung, insbesondere zu den ökonomischen Problemen der deutschen Einheit und zum europäischen Währungssystem.Der Deutsche Bundestag bewahrt Karl Schiller, einer großen politischen Persönlichkeit, ein ehrendes Gedenken. Wir trauern mit den Angehörigen und sprechen ihnen unsere Anteilnahme aus.Meine Damen und Herren, Sie haben sich zu Ehren des Verstorbenen von Ihren Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen.Ich möchte nun dem Kollegen Dr. Hans Laermann, der am 26. Dezember seinen 65. Geburtstag feierte, und dem Kollegen Dr. Dietrich Mahlo, der am 8. Januar seinen 60. Geburtstag feierte, nachträglich sehr herzlich gratulieren und die Wünsche des Hauses aussprechen.
Der Kollege Hans Gottfried Bernrath hat am 31. Dezember 1994 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als sein Nachfolger hat der Abgeordnete Eike Maria Anna Hovermann am 13. Januar 1995 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den neuen Kollegen herzlich und wünsche gute Zusammenarbeit.
Die für die heutige Sitzung vorgesehene Tagesordnung ist Ihnen zugegangen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Zusatzpunkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung: Lage in Tschetschenien2. Beratung des Antrags der PDS: Krieg in Tschetschenien — Drucksache 13/172 —Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Lage in Tschetschenien — Drucksache 13/228 —Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Beendigung des Krieges in Tschetschenien — Drucksache 13/239 —
Metadaten/Kopzeile:
638 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ursula Eid-Simon, Wolfgang Schmitt , Ludger Volmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Reform der bundesdeutschen Entwicklungspolitik — Drucksache 13/246 —Erste Beratung des von der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes — Drucksache 13/230 —Beratung des Antrags der Abgeordneten Cem Özdemir, Kerstin Müller (Köln), Christa Nickels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bleiberecht für vietnamesische Vertragsarbeitnehmerinnen und Vertragsarbeitnehmer der ehemaligen DDR in Deutschland— Drucksache 13/231 —8. Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Veröffentlichung der Rede des Alterspräsidenten— Drucksache 13/97 —9. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Klimaschutz — Erste Vertragsstaatenkonferenz zur Klimarahmenkonvention vom 28. März bis 7. April 1995 sowie Umsetzung des nationalen CO2-Minderungsprogramms — Drucksache 13/232 —Bei Zusatzpunkt 6 soll von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden. Außerdem ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 5, Abschiebestopp für Kurdinnen und Kurden, abzusetzen. Tagesordnungspunkt 12, Überweisungen im vereinfachten Verfahren, wird bereits im Anschluß an die Wahl der Schriftführer aufgerufen.Erhebt sich gegen diese interfraktionell vereinbarte Tagesordnung und gegen diese zusätzlichen Vereinbarungen Widerspruch? — Ich höre keinen und stelle fest, daß die Tagesordnung so beschlossen ist.Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 und die Zusatzpunkte 1 bis 4 auf:ZP1 Abgabe einer Erklärung der BundesregierungLage in Tschetschenien3. Vereinbarte Debatte zur Lage in TschetschenienZP2 Beratung des Antrags der PDS Krieg in Tschetschenien— Drucksache 13/172 —Überweisungsvorschlag: Auswärtiger AusschußZP3 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und F.D.P.Lage in Tschetschenien — Drucksache 13/228 —Überweisungsvorschlag: Auswärtiger AusschußZP4 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Beendigung des Krieges in Tschetschenien — Drucksache 13/239 —Überweisungsvorschlag: Auswärtiger AusschußZur vereinbarten Debatte liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache im Anschluß an dieRegierungserklärung zwei Stunden vorgesehen. Ich sehe keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jeder Tag, an dem das Schießen und Zerstören in Tschetschenien anhält, zeigt: Die russische Regierung befindet sich auf einem Irrweg. In Tschetschenien werden Menschenrechte, Völkerrecht und OSZE-Verpflichtungen verletzt. Bomben und Granaten gegen die eigenen Bürger — so kann und so darf man die territoriale Integrität eines Landes nicht wiederherstellen.
Nach schwierigsten Jahren mit großem Leid für beide Völker haben wir Deutschen zu Rußland ein partnerschaftliches Verhältnis gewonnen. Das war, ist und bleibt für beide Seiten sehr wichtig.Deutschland will Partner und Freund Rußlands sein und bleiben. Die Bundesregierung setzt auf die Fortsetzung des Reformkurses durch die jetzige Regierung. Aber sie erwartet von der russischen Regierung in diesem Konflikt ein Verhalten, das dieses Vertrauen rechtfertigt. Das Blutvergießen muß jetzt eine Ende haben.
Wer den Tschetschenien-Konflikt gerecht beurteilen will, muß beide Seiten sehen. Für beide Seiten ist im übrigen der Konflikt eine Tragödie — im wahrsten Sinne des Wortes.Auch die tschetschenische Führung trifft ein erhebliches Maß an Verantwortung für den Verlauf, den die Dinge genommen haben. Auch von tschetschenischer Seite, von Dudajews Seite, ist Kompromißbereitschaft verlangt.Der Konflikt hat weit in die Geschichte zurückgreifende Wurzeln. Dudajew ist weder Freiheitskämpfer noch Demokrat noch Verteidiger der Menschenrechte. Er kämpft vor allem in eigener Sache. Er hat ein vom Obersten Sowjet Tschetscheniens im März 1993 beschlossenes Referendum über die Staatsführung und die Souveränität der Republik verhindert. Er hat die Regierung entlassen, Parlament und Verfassungsgericht aufgelöst und den Stadtrat von Grosny gewaltsam vertrieben.Die russische Regierung hat der tschetschenischen Seite mehrfach Autonomieangebote unterbreitet. Rußland hat — auf Einzelheiten einzugehen ist leider aus Zeitgründen nicht möglich — mit der Militärintervention begonnen, als gefangengenommene russische Soldaten im tschetschenischen Fernsehen zur Schau gestellt und mit Erschießung bedroht wurden.Die Sezessionsbestrebungen Tschetscheniens sind von keinem Staat der Welt anerkannt worden, und das Recht Rußlands auf Wahrung seiner territorialen Integrität ist international unstreitig. Aber — das ist
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 639
Bundesminister Dr. Klaus Kinkelder entscheidende Punkt — dies rechtfertigt in gar keiner Weise das Vorgehen der russischen Truppen in Grosny, das Bombardement von Zivilisten und das Töten von so vielen unschuldigen Menschen.
Unsere Trauer und auch unser Mitgefühl gelten den Menschen, die dort sterben oder leiden müssen — Zivilisten wie Soldaten, Tschetschenen wie Russen. Unsere Bewunderung gilt dem Mut von Männern wie Sergej Kowaljow, dem Menschenrechtsbeauftragten des russischen Präsidenten, der in Grosny sein Leben riskierte.Unsere große politische Sorge gilt dem Fortgang des Reformkurses in Rußland. Seine Glaubwürdigkeit steht im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Prüfstand. Dieser Kurs ist entscheidend für die Stabilität dieses großen und wichtigen Landes und damit auch für die Bemühungen um einen gemeinsamen Neuanfang in Europa mit Rußland als demokratischem Partner.Andrej Kosyrew hat gestern gesagt, der Reformkurs und die marktwirtschaftliche Entwicklung gingen weiter. Ja, wir möchten es gern glauben. Aber den Worten, rufe ich ihm zu, müssen jetzt Taten folgen. Ich habe ihm im übrigen — er hat es bekanntgegeben — vorgestern vorgeschlagen, daß wir ein Treffen abhalten, um über die Situation ausführlich sprechen zu können. Ich habe noch keine endgültige Antwort; aber ich hoffe, daß ein solches Treffen zustande kommt, weil es uns nochmals die Chance gäbe, unsere Auffassung der russischen Regierung gegenüber darzulegen.Tschetschenien ist ein kaukasischer Randstaat der Russischen Föderation mit ca. 1 Million Einwohnern. Die Hauptstadt Grosny hat etwa 400 000 Einwohner. Auf dem Spiel steht heute nicht nur das Schicksal Tschetscheniens, sondern die innere Entwicklung der immerhin zweitgrößten Nuklearmacht der Welt. Darüber hinaus geht es um Fortschritte, die wir seit dem Fall von Mauer und Stacheldraht in ganz Europa für die Menschen erreicht haben. Diese Fortschritte zu sichern und weiter auszubauen, muß außenpolitisch unsere unverminderte Anstrengung gelten.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat sofort nach Beginn der Auseinandersetzungen und vor anderen ein Ende des Blutvergießens in Tschetschenien gefordert und eine schnelle politische Lösung verlangt. Dies gilt nach wie vor.Es bedeutet erstens eine sofortige Beendigung der militärischen Gewalt, und zwar ohne Vorbedingungen. Das ist der vordringlich erste Schritt.Zweitens. Die russischen Verfassungsorgane, Exekutive wie Parlament, müssen mit den tschetschenischen Politikern eine Lösung aushandeln.Das geht eben nicht mit Ultimaten, sondern nur mit wirklicher Kompromißbereitschaft auf beiden Seiten.
Drittens. Es muß eine Lösung im Rahmen der russischen Verfassung gefunden werden. Sie ist im übrigen die erste demokratische Verfassung in der russischen Geschichte und bietet breiten Raum für Autonomiezusagen, die die russische Regierung im übrigen anderen kaukasischen Republiken gegenüber bereits gegeben hat.Wir ermutigen als Deutsche nicht zur Sezession, und wir erteilen einem anderen Staat auch keine Ratschläge, auf Teile seines Staatsgebietes zu verzichten.Viertens. Rußland sollte bei der Lösungssuche alle Möglichkeiten ausschöpfen, die die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa bietet. Der Name OSZE sagt im Grunde, worum es geht: nämlich um Zusammenarbeit im neuen Europa und nicht um Konfrontation. Ziel muß eine Lösung mit und nicht gegen Rußland sein.
Aber die russische Regierung muß sich natürlich sagen lassen, daß Zusammenarbeit eine Zweibahnstraße ist. Auch Rußland muß sich an die vereinbarten Spielregeln halten. Wir haben im Ständigen Rat der OSZE zusammen mit unseren EU- und NATO-Partnern deutlich gemacht: Die Gewährleistung der Einhaltung der OSZE-Verpflichtungen ist Sache aller Teilnehmerstaaten. Niemand kann sich hier auf den Vorbehalt der Nichteinmischung berufen. Daß es sich hierbei — wie übrigens von allen unseren Partnern anerkannt — um einen Konflikt innerhalb der Russischen Föderation handelt, heißt nicht, daß wir eine für ganz Europa bedrohliche Entwicklung einfach treiben lassen und der Verletzung von Menschenrechten zusehen können.Der Vorwurf, die Bundesregierung verstecke sich hinter dem Nichteinmischungsprinzip, ist falsch. Wir haben wie alle unsere Partner immer gesagt — ich wiederhole es —: Hier geht es um eine Angelegenheit innerhalb der Russischen Föderation. Wir haben jedoch von Anfang an die Gewaltanwendung verurteilt, und uns für eine Befassung der OSZE eingesetzt, und zwar auf allen denkbaren Kanälen. Der Bundeskanzler hat es in zwei Gesprächen mit Präsident Jelzin getan, ich habe es in mehreren Gesprächen mit der russischen Regierung, auch in einem langen Gespräch mit dem russischen Außenminister Kosyrew getan. In dem ersten Gespräch, das ich am 30. Dezember mit ihm geführt habe, hat er sich erstmals zur Einschaltung der OSZE bekannt.Ich habe gestern in einem ausführlichen Gespräch dem russischen Botschafter, der nach Moskau zurückgefahren ist, nochmals unsere Haltung erläutert und verdeutlicht. Wir befinden uns mit unserer Haltung in Übereinstimmung mit der unserer Partner und Freunde. Das ist wichtig, weil manchmal der Eindruck erweckt wird, wir hätten hier irgendwelche Solonummern abgezogen. Das Gegenteil ist der Fall. Wir waren in den Stellungnahmen und im Handeln diejenigen, die als erste reagiert haben.
— Es war so. Prüfen Sie es nach!
Die russische Regierung hat im Ständigen Rat der OSZE selbst erklärt, sie stehe zu ihren Verpflichtun-
Metadaten/Kopzeile:
640 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Bundesminister Dr. Klaus Kinkelgen im OSZE-Rahmen und stimme einer Einschaltung dieser Organisation in diesem Konflikt zu. Moskau folgt damit unserer Aufforderung. Wir begrüßen die angekündigte Dialogbereitschaft. Allerdings: Was Jelzin als Präsident anordnet, muß dann von den Militärs befolgt werden. Dialoge sind der Weg, nicht die völlige Zerstörung von Grosny. Denn eines muß der russischen Regierung schon jetzt klar sein: Damit ist das zugrunde liegende Problem keineswegs gelöst.Die Einhaltung der Menschenrechte und die Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse in Tschetschenien sind unerläßliche Voraussetzungen für eine friedliche Entwicklung. Hier kann, so wie die Dinge liegen, der wichtigste Beitrag im Augenblick nur bei der OSZE liegen.
Eine OSZE-Mission wird am Wochenende in Moskau eintreffen. Am 24. und 25. Januar — so ist es vereinbart und verabredet — wird sie sich in Tschetschenien aufhalten. Sie wird anschließend unverzüglich berichten und weitere konkrete Vorschläge unterbreiten. Der ungarische OSZE-Vorsitzende kann für sein Engagement die volle Unterstützung der Bundesregierung erwarten.
Präsident Jelzin hat den Staats- und Regierungschefs der G 7 und damit auch dem Herrn Bundeskanzler in einer Mitteilung versichert, Rußland sei mehr denn je an Zusammenarbeit interessiert; dies gelte insbesondere für die Einschaltung der OSZE in der Behandlung des Tschetschenien-Konflikts.Meine Damen und Herren, in dieser Situation kann es für die Bundesregierung nur eines geben: Stärkung des Willens zu demokratischen, friedlichen Lösungen, Stärkung des Willens zur Fortsetzung der Reformen. Die Reformchance in Rußland darf über Tschetschenien nicht verlorengehen.
Es wird nach Tschetschenien — Sie alle wissen das genausogut wie ich — wahrhaft schwer genug werden. Wir können die russische Regierung von außen nicht zu einem bestimmten Handeln zwingen. Wir können nur versuchen, sie zu überzeugen. Aber gerade deshalb wiederhole ich von dieser Stelle den Appell an die russische Regierung: Hört auf mit dem Schießen! Ich kann mit Ihnen zusammen nur hoffen, daß dieser Aufruf gehört wird.
Wegen dieser Hoffnung wollen wir Präsident Jelzin und seiner Regierung die Unterstützung für seinen Reformkurs nicht aufkündigen.
Wenn das Wort vom notwendigen langen Atem einersoliden und konsequenten Außenpolitik einen Sinnhat, dann hier. Bei aller Bestürzung über Tschetschenien vertrauen wir darauf, daß gerade dieser Präsident, der viel für den demokratischen Neuanfang in Rußland getan hat, die Kraft und den Mut findet, aus dieser Sackgasse herauszufinden, und zwar als Demokrat. Noch ist es nicht zu spät.
Die Bundesregierung stellt sich gegenwärtig die Frage einer Unterbrechung der westlichen Wirtschafts- und Finanzhilfe nicht. Dies würde nach unserer Meinung — auch da sind wir nicht allein — den Falschen helfen. Hier gilt in ganz besonderer Weise: „Respice finem! " Bedenke das Ende! Aber die russische Regierung muß wissen: Ohne Vertrauen in die Fortsetzung des Reformkurses werden ausländische Investitionen mit ziemlicher Sicherheit ausbleiben.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist sich mit ihren Partnern einig: Es geht jetzt darum, einen Weg zu finden, der Gewalt in Tschetschenien möglichst schnell ein Ende zu setzen. Wir müssen das — ich sage es noch einmal — mit der russischen Regierung und nicht gegen sie versuchen. Denn es geht über Tschetschenien hinaus um die Zukunft Europas, eines Europas, das dringend und zwingend ein demokratisches Rußland braucht.
Ich eröffne die Aussprache.
Als erster spricht der Abgeordnete Norbert Gansel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Angesichts des menschlichen Leids, das uns die Fernsehbilder aus Kobe wie aus Grosny mehr noch als Nachrichtentexte vermitteln, möchte ich mit der Bekundung von Mitgefühl und Trauer beginnen, in denen sich unser Parlament gewiß einig ist: mit dem japanischen Volk, mit dem russischen Volk, mit den Menschen in Tschetschenien. Die Bilder aus Grosny und aus Kobe gleichen einander in entsetzlicher Weise. Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied: In Japan gab es eine Naturkatastrophe, in Rußland eine politische Katastrophe. Naturkatastrophen geschehen.
Politische Katastrophen entstehen durch menschliches Tun und Unterlassen.Herr Kinkel, ich bin Ihnen für Ihre Erklärung im Namen der Bundesregierung dankbar. Sie ist gut und wichtig. Was hätte es bedeuten können, wenn sie als offizieller Appell der Bundesregierung vor 14 Tagen oder vor drei Wochen abgegeben worden wäre!
Daß die Atommacht Rußland nicht staatlich zerfällt und die Kontrollen über ihr nukleares Zerstörungspotential, ihre Kontrollen über Atomraketen, Atombomben und auch Atomkraftwerke nicht verliert, ist
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 641
Norbert Ganselvon elementarem politischen Interesse für die ganze Welt und für uns.Daß Rußland friedensbereit und abrüstungsfähig ist, zuverlässig und vertrauenswürdig, demokratisch geordnet, wirtschaftlich leistungsfähig und sozial stabil, darf keine Utopie bleiben, sondern muß schrittweise in dem großen, schwierigen und gefahrvollen russischen Reformprozeß verwirklicht werden. Das liegt in unserem Interesse wie im Interesse der Völker der Russischen Föderation. Sicher haben wir dafür in der Vergangenheit nicht genug getan.Aber durch den Krieg in Tschetschenien ist das alles zusätzlich in Gefahr geraten. Der Krieg in Tschetschenien bedeutet nicht nur Tod und Leid. Er gefährdet den Zusammenhalt Rußlands, denn eine Föderation kann nicht durch brachiale militärische Gewalt zusammengehalten werden. Auch das ist doch eine Lehre aus Jugoslawien.
Der Krieg schwächt demokratische Strukturen und stärkt militärische. Er zerstört Wirtschaftskraft und kostet Geld, die den Wirtschaftsreformen verlorengehen. Er belastet die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen, die Rußland braucht. Er beschädigt die OSZE, gegen deren Verträge und Beschlüsse die russische Regierung verstoßen hat. Er droht das internationale Vertrauen in die russische Vertragstreue zu zerstören. Er legt die Mitgliedschaft Rußlands im Europarat auf Eis und heizt die Diskussion über die Osterweiterung der NATO an. Der Krieg macht Rußlands Nachbarn angst. Rußland treibt in eine Selbstisolation, die sich Rußland und die Welt nicht leisten können.Schließlich: Der Krieg in Tschetschenien ist auch eine Belastung für das Verhältnis zur islamischen Welt. Wo fundamental zwischen Gläubigen und Ungläubigen unterschieden wird, wird Rußland zum Westen gerechnet und der Tschetschenienkrieg in ein Welt- und Feindbild integriert, in dem wieder einmal wie in Bosnien die Muslime die Opfer sind.
Der Fundamentalismus braucht Märtyrer. Er findet sie reichlich in Grosny.Die Hauptverantwortung für diese Entwicklung tragen die russische Regierung und ihr Präsident Jelzin. Wer, wenn nicht er, der gestern auf einem Empfang im Kreml erklärt hat, er habe die russischen Streitkräfte unter Kontrolle, ohne ihn passiere nichts Entscheidendes in Tschetschenien könnte der erste Adressat unserer Forderung sein, die Kriegshandlungen unverzüglich zu beenden und eine Verhandlungslösung zu suchen?
Von einer Mitverantwortung kann sich aber auch die deutsche Bundesregierung nicht freisprechen. Die Bundesrepublik gehörte in den 70er Jahren zu den Vätern der KSZE und ist heute einflußreicher Mitgliedstaat. Bis zum Jahresende hatte sie die Präsidentschaft in der Europäischen Union. Die Bundesrepublik ist ein enger Partner Rußlands, und das darf nicht verlorengehen — nach all dem Schlimmen und Schweren, das in der Geschichte unserer beiden Völker hinter uns liegt.Rußland muß Partner bleiben, ein befreundeter, wenn der Frieden wiederhergestellt und die Demokratie gefestigt ist. Der Bundeskanzler rühmt sich schon jetzt und noch immer einer persönlichen Freundschaft mit dem russischen Präsidenten Jelzin.Wir wollen unseren Einfluß nicht überschätzen, aber auch nicht unterschätzen. Ob Jelzin von seinem verhängnisvollen Weg abzuhalten gewesen wäre, wird eine offene Frage bleiben. Aber wir wollen heute von der Bundesregierung Antwort haben, warum nicht wenigstens der Versuch unternommen worden ist. Warum hat die Bundesregierung weggesehen und weggehört? Warum hat sie zeitweise sogar den Eindruck erweckt, die russischen Sprachregelungen zu übernehmen wie die, es handele sich um eine „innere Angelegenheit Rußlands" und „die Tschetschenen" hätten „Jelzin auf der Nase herumgetanzt"?
Warum diese schmerzhaft unsensible Sprache, Herr Kinkel?Warum hat die Bundesregierung nicht öffentlich die Verletzungen der KSZE-Charta von Paris, des VSBMVertrags und der Budapester Beschlüsse vom Dezember gerügt?
Warum ist nicht formell der Antrag durch die Bundesregierung gestellt worden, die Mechanismen der OSZE in Gang zu setzen und eine Beobachterdelegation nach Tschetschenien zu entsenden? Warum erst jetzt und warum so spät, zu spät?
Warum hat sich die Bundesregierung so zögerlich und so langsam bewegt und erst nach wiederholten und fast flehentlichen Aufforderungen aus allen Bundestagsparteien? Warum hat Außenminister Kinkel erst auf dem Dreikönigstreffen der F.D.P. — und ausgerechnet dort — deutlichere Worte gefunden?Eine kriegerische Entwicklung in Tschetschenien zeichnete sich doch schon Anfang Dezember während des Budapester KSZE-Gipfels ab. Schon damals gab es Presseberichte über massive russische Truppenverlegungen in den Kaukasus. Gerade weil die KSZE — oder OSZE, wie diese Organisation jetzt heißt — den größten Einfluß bei vorbeugenden Konfliktlösungen und bei präventiver Diplomatie hat, hätte Tschetschenien bei dem Gipfeltreffen eine Rolle spielen müssen, zumindest bei den informellen Treffen.Es halten sich hartnäckig Gerüchte, daß dies auch der Fall gewesen sei, ja daß es sogar eine Vorabinformation durch den russischen Präsidenten gegeben habe. Gerade weil das eine Erklärung für das fast schon demonstrative Wegsehen mancher europäischer Regierung wäre — auch der amerikanischen
Metadaten/Kopzeile:
642 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Norbert GanselRegierung —, als das Fernsehen schon die entsetzlichen Bilder von den Flächenbombardements auf Grosny brachte, muß diese Sache aus der Welt gebracht werden.
Nun hat es inzwischen ein Dementi des Regierungssprechers Vogel gegeben. Da aber die Informationspolitik der Bundesregierung zum TschetschenienKonflikt sich zwischen beklagenswert und jämmerlich bewegte, ist hier im Bundestag eine eindeutige Stellungnahme des Bundeskanzlers unverzichtbar.
Wann, von wem und wie sind Sie, Herr Bundeskanzler, von der kriegerischen Entwicklung in Tschetschenien informiert worden? Oder hat Sie das alles überrascht? Wann hat Sie das Auswärtige Amt über die Verstöße Rußlands gegen das OSZE-Vertragswerk informiert, das doch deshalb diesmal so wichtig ist, weil, wenn die russische Regierung die Verträge respektiert hätte, es zwar eine Polizeiaktion, aber keinen Krieg in Tschetschenien hätte geben können? Warum haben Sie, Herr Bundeskanzler, Boris Jelzin nicht rechtzeitig angerufen und ihn beschworen, die militärischen Kampfhandlungen einzustellen?
Rat, Kritik und Druck wären notwendig gewesen, vertraulich und auch öffentlich. Sie hätten die Gefahren für die Zusammenarbeit und die politischen und wirtschaftlichen Kosten einer russischen Gewaltpolitik beschreiben müssen, die auch bei Freundschaft zwischen Regierungschefs eintreten können, wenn sie nicht verhindert werden. Haben Sie die Dramatik und das Verhängnisvolle der Situation nicht begriffen? Warum haben Sie einerseits Ihre Einflußmöglichkeiten gering eingeschätzt und andererseits erklärt, Sie würden Jelzin nicht fallenlassen? Als ob die deutsche Politik ihn stürzen oder halten könnte! Gewiß kann niemand sagen, wie es ohne Jelzin in Rußland weitergeht, aber niemand kann auch sicher sein, wie es mit Jelzin weitergeht.
Die gröbste Form der Einmischung in die innerrussischen Verhältnisse ist die unbeirrbare regierungsamtliche Behauptung, zu Jelzin gebe es keine Alternative. Es gibt eine Alternative zu seiner Politik. Rußland hat ein wachsendes demokratisches Potential in den noch jungen demokratischen Parteien und in der Duma, unter den mutigen Journalistinnen und Journalisten, die mit der freien Presse gegen die Gewaltpolitik informieren, in den Gruppen der Menschenrechtler, an ihrer Spitze der bewunderungswürdige Sergej Kowaljow, selbst im Offizierskorps der Armee. Befehlsverweigerungen von Generälen sind immer ein beunruhigendes Zeichen; im Krieg gegen Tschetschenien sind sie ermutigend.
Warum hat die deutsche Politik der russischen Opposition gegen die Kriegspartei so wenig praktische, moralische Unterstützung gewährt? Bis auf die Reisen meiner Kollegen Meckel und Weisskirchen nach Moskau vor wenigen Tagen ist da wenig geleistet worden!Am 4. Januar 1995 erklärte der Regierungssprecher: „Der Kanzler telefoniert — wie Sie alle wissen, gern und häufig —, aber er telefoniert zur Zeit nicht mit Herrn Jelzin." Erst die öffentliche Kritik in der Bundesrepublik hat Sie, Herr Bundeskanzler, dann doch zum Telefonhörer greifen lassen.
Darüber berichtete die „Sächsische Zeitung" mit der Überschrift: „Kohl bricht sein Schweigen und sagt nicht viel".
Vor wenigen Tagen haben Sie, Herr Kohl, zum zweitenmal mit Boris Jelzin telefoniert. Dazu berichtet der „Monitor-Dienst" der Deutschen Welle vom 16. Januar — ich zitiere —:Der Pressesprecher Jelzins, Kostikov, kritisierte den russischen Sender NTW, der Ungenauigkeit über das Telefongespräch Jelzin/Kohl zugelassen habe. Dem Sender zufolge habe Kohl die russischen Aktionen in Tschetschenien kritisiert, in Wahrheit habe Kohl jedoch Verständnis für das russische Vorgehen gezeigt.
Das, Herr Bundeskanzler, können Sie nicht auf sich sitzen lassen.
Sie werden sich aber fragen müssen, ob Sie einer solchen Instrumentalisierung durch die russische Regierung nicht Vorschub geleistet haben, weil klare und mutige Worte gefehlt haben und mögliche Initiativen unterblieben sind.Sie reden in der letzten Zeit soviel von der wachsenden Verantwortung Deutschlands, wenn es um — möglicherweise unvermeidbare — militärische Beteiligungen der Bundeswehr an der Friedenssicherung geht. Darum geht es in Tschetschenien nicht. Im Tschetschenienkonflikt ging es um vorbeugende Konfliktverhütung, um präventive Diplomatie, um friedliche Konfliktlösung. Genau dafür ist die KSZE geschaffen und zur OSZE ausgebaut worden. Es ging auch um die Bewährung des deutsch-russischen Verhältnisses. Und es ging, Herr Bundeskanzler, um Ehrlichkeit und Mut in einer persönlichen Beziehung, die Deutsch-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 643
Norbert Ganselland in der Vergangenheit sehr genutzt hat, die aber in der jetzigen Situation Rußland schadet.
Sie, Herr Bundeskanzler, sind dem Deutschen Bundestag eine Erklärung schuldig. Und sagen Sie nicht, was Sie nicht tun können. Erklären Sie, was die Bundesregierung tun wird!
Als nächster spricht der Kollege Rudolf Seiters.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte ist angesichts der bedrückenden, erschreckenden und beunruhigenden Bilder aus Tschetschenien und vor dem Hintergrund einer nicht ungefährlichen Entwicklung im Osten unseres Kontinents notwendig. Es geht um die Wahrung der Menschenrechte und um menschliche Schicksale. Es geht um Stabilität und territoriale Integrität Rußlands. Es geht um die Weiterentwicklung von Reformen und Demokratie. Dazu muß der Deutsche Bundestag Stellung beziehen.Aber das muß ja nicht mit Unterstellungen geschehen, Herr Kollege Gansel.
Sie haben in einem ruhigen Ton gesprochen. Das ist der Debatte ja wohl auch angemessen. Aber Sie haben dennoch mit Polemik und Unterstellungen gearbeitet.
Ich sage Ihnen: Das ist nicht in Ordnung. Mit Polemik und Unterstellungen helfen Sie keinem der betroffenen Menschen.
Ich will darauf noch eingehen. Aber zunächst möchte ich etwas zu unserer Position sagen.Rußland ist in den letzten Jahren einen schweren Weg gegangen. Die russische Demokratie ist nach den gewaltigen Umbrüchen der vergangenen Jahre, nach einer jahrzehntelangen Diktatur noch keineswegs gefestigt. Wir haben ein elementares Interesse daran, den Prozeß zur Demokratie und zur politischen Stabilität zu fördern. Ich plädiere dafür, dies bei den gegenwärtig schwierigen Verhältnissen in Rußland, bei der Unterstützung der Reformkräfte und den Verhandlungen mit dem ersten demokratisch gewählten Präsidenten der Russischen Föderation, Boris Jelzin, niemals zu vergessen.Vor diesem Hintergrund sage ich: Niemand bestreitet, daß der russische Präsident von der Verfassung her das Recht und die Pflicht hat, sein Land zusammenzuhalten und seine territoriale Integrität zu wahren und zu schützen. Niemand kann ein Interesse an Destabilisierung oder an einem Auseinanderfallen Rußlands haben. Aber die Wahrnehmung dieserPflicht — das ist richtig — muß sich an den Maßstäben messen lassen, für die der russische Präsident selbst, zuletzt beim OSZE-Gipfel in Budapest, eingetreten ist: für die Wahrung der Menschenrechte und die Verhältnismäßigkeit der Mittel.Was wir aus Tschetschenien über die Nachrichten erfahren und am Bildschirm erleben, widerspricht nicht nur den Vereinbarungen des OSZE-Dokuments über die vertrauensbildenden und sicherheitspolitischen Maßnahmen von 1992. Es ist auch nicht mit dem in Einklang zu bringen, was Rußland mit dem OSZE-Verhaltenskodex unterschrieben hat, wo es in Nr. 36 für alle Unterzeichnerstaaten bindend heißt: In Fällen, in denen zur Erfüllung von Aufgaben der inneren Sicherheit ein Rückgriff auf Gewalt nicht vermieden werden kann, wird jeder Teilnehmerstaat gewährleisten, daß der Einsatz von Gewalt den Erfordernissen der Durchsetzung angemessen sein muß. Die Streitkräfte werden es sorgsam vermeiden, Zivilpersonen zu beeinträchtigen oder deren Hab und Gut zu beschädigen. — Doch die Bilder aus Grosny — das Bombardement, das Leid der Zivilbevölkerung, die zerstörte Stadt — zeigen, daß hier mit aller Härte unter Inkaufnahme von Völkerrechtsverletzungen vorgegangen wird. Das ist nicht nur völkerrechtlich unzulässig, das ist auch politisch nicht akzeptabel.
Letztlich kann in Grosny die russische Armee gewinnen. Aber es stellt sich schon die Frage, ob der Konflikt mit Bomben und Granaten überhaupt beigelegt werden kann oder ob damit nicht nur in ein neues Stadium der Auseinandersetzung, des Guerillakampfes der Tschetschenen — in ihrem Land selbst, aber auch anderswo —, übergegangen wird. Es wird, was mindestens ebenso problematisch ist, die historisch sowieso schon schwierigen Beziehungen der russischen Führung zur gesamten nordkaukasischen Region schwer belasten. An einer solchen Entwicklung kann und darf niemand ein Interesse haben.
Deshalb, meine Damen und Herren, brauchen wir eine Feuerpause. Wir appellieren nachdrücklich an Präsident Jelzin und die russische Regierung sowie an die Tschetschenen, alle Anstrengungen für eine politische Lösung zu unternehmen und dafür auch die Vermittlung durch die OSZE zu nutzen.
Dieser Konflikt kann nur durch eine politische Lösung, nicht aber militärisch beigelegt werden. Nur mit einer politischen Lösung ist die Einheit Rußlands zu sichern. Das heißt: vollständige Beendigung des Blutvergießens, Beachtung der Grundsätze und Vereinbarungen der OSZE und Verhandlungen über eine politische Lösung, die den Platz Tschetscheniens in der Russischen Föderation regelt und ihm dabei autonome Rechte einräumt, die möglicherweise mit den im Staatsvertrag zwischen Rußland und der Autonomen Republik Tartarstan getroffenen Vereinbarungen vergleichbar sind. Wir haben die große Sorge, daß der Demokratisierungsprozeß in Rußland, der bislang schon einen Rückschlag erlitten hat, sonst weiter gefährdet wird. Das Vorgehen der russischen Militärs in Tschetschenien, aber auch die politische
Metadaten/Kopzeile:
644 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Rudolf SeltersEntwicklung in Rußland schadet jedenfalls den Beziehungen Rußlands zum Westen und zu seinen unmittelbaren Nachbarn. Das Vertrauen in den russischen Reformwillen wird auf eine harte Belastungsprobe gestellt.Um es noch einmal zu sagen: Wir haben ein elementares Interesse daran, daß Rußland nicht destabilisiert und daß der Demokratisierungsprozeß fortgesetzt wird. Vor diesem Hintergrund sind aber Drohgebärden und wirtschaftliche Strafmaßnahmen nicht die richtigen Mittel, weil sie die Falschen treffen
und vor allem die Gegner des Demokratisierungsprozesses stärken würden. Das sagt im übrigen auch Gaidar. Das sagt im übrigen auch der Menschenrechtsbeauftragte Kowaljow. Das sagt auch der tschechische Präsident Havel.Wenn Sie vor diesem Hintergrund — Herr Gansel, ich attestiere Ihnen gerne, daß Sie sich heute, verglichen mit sonstigen Vorwürfen aus den Reihen der SPD in den letzten Tagen, sogar ein bißchen zurückgehalten haben; dazu muß ich jetzt ein Wort sagen — die Bundesregierung und auch den Bundeskanzler angreifen, der seit langem nachdrücklich auf dem direkten Weg und in vollem Einvernehmen mit den Verbündeten, mit Amerikanern und Franzosen — das wissen Sie ganz genau —, Einfluß genommen hat, so sind Ihre Vorwürfe unberechtigt. Ich weise sie im Namen meiner Fraktion nachdrücklich zurück.
Wenn Herr Kowaljow ausdrücklich den direkten Draht zwischen dem Bundeskanzler und Boris Jelzin als den richtigen Weg der Einflußnahme bezeichnet und hinzufügt, Sanktionen und Kontaktverweigerung ergäben erst Sinn, wenn der Zug unwiderruflich in die falsche Richtung abgefahren sei, dann ist Ihre Berner-kung vom gestrigen Tage, Herr Kollege Voigt, daß der Duzfreund von Helmut Kohl zu einer Belastung für die Demokratie geworden und Helmut Kohl den Demokraten in den Rücken gefallen sei,
eine politische Unverschämtheit, die voll auf Sie zurückfällt.
Wenn Sie den Bundeskanzler kritisieren, können Sie in Ihrer Kritik gleichzeitig noch den französischen Staatspräsidenten, den polnischen Staatspräsidenten und den tschechischen Staatspräsidenten ins Visier nehmen, die sich in ihrer Haltung überhaupt nicht von der Position des deutschen Bundeskanzlers unterscheiden. Sie von der Opposition haben bislang keinen einzigen konkreten und wirklich vernünftigen Vorschlag gemacht, wie vom Westen und von seiten der Bundesrepublik Deutschland hätte anders reagiert werden sollen.
An sich ist das Thema viel zu ernst, um noch weiter darauf einzugehen. Aber ich will es dem Hause nicht vorenthalten, Herr Kollege Voigt; denn Sie haben mich auch ein bißchen provoziert. Sie haben in diesen Tagen ein Interview gegeben und die politische Alternative der Opposition dargestellt. Zunächst haben Sie gesagt: Mir wäre lieber, wir säßen in der Regierung.
Wir hätten diesen schweren außenpolitischen Fehler, den Bundeskanzler Kohl und Außenminister Kinkel gemacht haben, nicht gemacht; wir hätten ihn vermeiden können.
— Warten Sie ab, bevor Sie klatschen.Darauf die Frage des Moderators: Ich ernenne Sie hiermit zum Außenminister der Bundesrepublik Deutschland.
Was würden Sie jetzt sofort tun? — Als ich dies gelesen habe, dachte ich: Jetzt kommt es. — Die Antwort lautet — so Karsten Voigt; das ist die Position der Opposition —:
Ich würde sofort sagen, daß Jelzin diese internationalen Verträge verletzt hat
und daß Rußland, wenn es diese Vertragsverletzung nicht korrigiert, nicht nur seine menschenrechtspolitische Glaubwürdigkeit, sondern auch die internationale friedenspolitische und abrüstungspolitische Glaubwürdigkeit gefährdet. —
Ist das die Alternative der Opposition?
— Nein, ich hatte dies hier eigentlich nicht zitieren wollen, aber es ließ sich dann doch nicht vermeiden. Denn Sie können nicht ins Parlament gehen und eine ruhige Rede halten, nachdem Sie vorher tagelang gegen die Regierung, gegen den Außenminister und den Bundeskanzler, polemisiert haben. Das geht nicht! Hier findet die politische Auseinandersetzung statt!
Kommen Sie bitte einmal hierher und erklären Sie, wie die Position der sozialdemokratischen Fraktion ist: Lehnen Sie Wirtschaftssanktionen ab wie Scharping, oder befürworten Sie sie wie Schröder? Bei den
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 645
Rudolf SeitersMenschenrechtseinlassungen des niedersächsischen Ministerpräsidenten fällt mir mit Blick auf die Vergangenheit allerdings nur eines ein: Er ist angesichts seiner Haltung zu Honecker und zu Salzgitter kein Säulenheiliger der Menschenrechte, meine Damen und Herren.
Wer sich so verhalten hat, sollte mit seiner Kritik an anderen etwas zurückhaltender auftreten.
Darf ich bitten, daß Sie wieder zuhören.
Meine Damen und Herren, wir wollen, daß Rußland auf den Weg der Einhaltung der Menschenrechte, der Demokratisierung und der wirtschaftlichen Reformen zurückkehrt. Wir wollen, daß auch Rußland den Weg zu einem Rechtsstaat, zu einer parlamentarischen Demokratie und zu einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung geht. Wir wissen, daß dies ein schwieriger Weg, ein weiter Weg und ein Weg weg von der totalitären Weltmacht Sowjetunion hin zu einem demokratischen Rußland ist, das die Hilfe von außen braucht. Das ist ein schwieriger Weg, aber die Chance dafür besteht nach wie vor. Deswegen müssen wir um der Menschenrechte willen, aber auch, um die Chance für eine besondere Partnerschaft mit Rußland zu wahren, alle Möglichkeiten nutzen, die uns, den Regierungen und den Parlamentariern, zur Verfügung stehen, um die demokratischen Kräfte in Rußland wieder zu stärken.
Europäische Union und die USA müssen dafür ihren ganzen politischen Einfluß aufbieten, damit der Demokratisierungsprozeß fortgesetzt wird. Das wollen wir natürlich mit allen Reformkräften tun, aber in erster Linie doch auch mit dem frei gewählten Präsidenten Rußlands, auf den wir in allererster Linie Einfluß nehmen wollen. Gerade das erwarten doch auch die Reformer von uns. Eines füge ich hinzu: Wer auf den Abgang und den Sturz von Jelzin spekuliert, der muß sich auch fragen lassen: Was kommt danach?
Zu den Möglichkeiten der Einflußnahme zählt auch die Parlamentarische Versammlung des Europarates, in der russische Abgeordnete einen Gaststatus besitzen. Wir wollen, daß Rußland Vollmitglied im Europarat wird. Das politische Gewicht des Europarates hängt aber auch davon ab, daß er seine Glaubwürdigkeit wahrt, die er sich insbesondere auf dem Gebiet der Menschenrechte und Minderheitenrechte erworben hat. Deshalb hat der Politische Ausschuß der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in der vergangenen Woche beschlossen, das Aufnahmeverfahren für die Vollmitgliedschaft Rußlands zunächst ruhen zu lassen, weil die Europäer an den
Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien nicht vorbeisehen können. Aber wir können nur hoffen, daß baldmöglichst eine Situation eintritt, daß das Verfahren wieder aufgenommen werden kann. Wir wollen auch weiterhin eine besondere Partnerschaft zwischen Rußland und der Europäischen Union sowie der NATO. Rußland soll im neuen demokratischen Europa seinen ihm angemessenen Platz finden. Aber dafür muß Rußland auch selbst seinen Beitrag leisten.
Rußland als Partner darf nicht frei sein, nach eigenem Gutdünken zu walten und seine Bedingungen für die Mitwirkung zu stellen, ohne auf gemeinsame Regeln und Interessen Rücksicht zu nehmen.
Das hat kürzlich Lothar Rühl geschrieben. Er fährt fort:
Die politische Kernfrage richtet sich an Rußland selbst: Ist es fähig, am europäischen Völkerrecht und an einer europäischen Sicherheitsgemeinschaft teilzunehmen?
Meine Damen und Herren, wir unterstützen alle internationalen Bemühungen um eine politische Lösung des Konflikts. Wir unterstützen den Bundeskanzler und die Bundesregierung in ihren vielfältigen Bemühungen um die Wiederherstellung des Friedens. Wir appellieren an die russische Regierung und die Tschetschenen, das Blutvergießen zu beenden und eine politische Lösung zu suchen, die den berechtigten Interessen Rußlands wie der Bevölkerung Tschetscheniens Rechnung trägt.
Als nächster spricht Kollege Gerd Poppe.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie glaubwürdig, meinen Sie, Herr Bundeskanzler, Sie, Herr Außenminister, ist eigentlich Ihre Außenpolitik in den Augen der russischen Demokraten, wenn durch den barbarischen Krieg gegen ein kaukasisches Volk nach Ihren Worten, Herr Kinkel, das positive Grundverhältnis zu Rußland nicht tangiert sei? Als Sie das sagten, hat niemand in Tschetschenien vernommen, wie Sie als erster gegen den Feldzug der russischen Armee gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung protestiert haben.
Ich nenne das ein moralisches und auch ein politisches Versagen deutscher Außenpolitik.
Das wird auch nicht dadurch korrigiert, daß Sie seit drei Tagen an Jelzin deutlichere Aufforderungen richten.Eine der Lehren aus 1989/1990 ist, daß die Formel von der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten von Staaten permanent mißbraucht wird und deswegen fragwürdig geworden ist. Schwerwiegende
Metadaten/Kopzeile:
646 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Gerd PoppeMenschenrechtsverletzungen erfordern regelrecht unsere Einmischung.Herr Bundeskanzler, ich weiß nicht, was Sie Jelzin am Telefon gesagt haben. Ich weiß aber, daß öffentlich und deutlich vernehmbar die Wahrheit gesagt werden muß und die Konsequenzen in aller Härte dargestellt werden müssen, wenn autoritäre Regierungen den Frieden gefährden oder Menschenrechte schwer verletzen.
Das öffentliche Schweigen zu Rückfällen in totalitäres Verhalten wird von den Opfern als Einverständnis mit den Tätern empfunden.
Nach den Grundsätzen der KSZE/OSZE gehen Staaten auch Verpflichtungen gegenüber der eigenen Bevölkerung ein. Jelzin hat die Budapester OSZE-Vereinbarung unverzüglich zur Makulatur werden lassen, und Sie nehmen das wochenlang kommentarlos hin, wie Sie sich auch damit abfinden, daß der Einfluß eines KGB-Leibwächters offenbar größer ist als der aller westlichen Demokraten zusammengenommen.
Über die Motive des russischen Präsidenten, sich in ein solches militärisches Abenteuer zu stürzen, kann nur spekuliert werden. Es liegt nahe, sich daran zu erinnern, was schon oft in vielen Teilen der Welt in vergleichbaren Situationen erprobt wurde: die Mobilisierung von nationalistischen Ressentiments als nationalem Kitt. Wer die wesentlichen politischen und wirtschaftlichen Probleme nicht lösen kann, riskiert zur Wahrung seiner Interessen und zur Aufbesserung seines innenpolitischen Prestiges schon einmal einen in seinen Folgen irrtümlich für überschaubar gehaltenen Krieg. Der wird dann begleitet von chauvinistischen Kampagnen gegen das als feindlich ausgemachte Volk — in diesem Fall die Tschetschenen, die pauschal als Kriminelle bezeichnet werden. Erst gestern zeichnete Schirinoswski, einer der wenigen verbliebenen potentiellen Verbündeten von Jelzin, ein Horrorbild: Hunderttausend kaukasische Terroristen würden nur darauf warten, als Rache für Tschetschenien in Moskau Angst und Schrecken zu verbreiten.Nun hat sich allerdings einmal mehr erwiesen, daß sich solches Vorgehen nicht auszahlt. Zum einen zeigt das militärische Desaster den desolaten Zustand der russischen Armee und ihre inneren Konflikte, beispielsweise zwischen Realisten wie General Lebed und Abenteurern wie Gratschow.An Sie, Herr Rühe, möchte ich eine Aufforderung richten: Die Aufrechterhaltung einer Einladung an Gratschow, einen Hauptverantwortlichen für dieBombardierung von Grosny, kann nur als Skandal angesehen werden.
Ziehen Sie die Konsequenzen aus den Ereignissen und laden Sie Gratschow wieder aus!
Wenn sich fast 80 % der russischen Bevölkerung gegen den Krieg in Tschetschenien aussprechen, dokumentiert das auch den innenpolitischen Fehlschlag. Die Haßkampagne gegen die Tschetschenen und die anderen Kaukasier hat nicht zum gewünschten Erfolg geführt. Wie seine sowjetischen Vorgänger hat auch Jelzin die Beziehung zur Stimmung des Volkes verloren.Unsere Fraktion hat in den letzten Tagen Gespräche mit zwei Mitgliedern der russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial" geführt. Sie berichteten von den russischen Soldaten, die den Krieg gegen Tschetschenien überwiegend ablehnen. Sie baten um Hilfe für die Befehlsverweigerer. Sie sprachen darüber, daß sich Russen und Tschetschenen in Grosny gegenseitig helfen, daß aber ihre Beziehungen — ähnlich wie in Bosnien — immer zerbrechlicher werden, je länger der Krieg dauert. Sie berichteten davon, wie der Krieg die Ansätze der Demokratie zerstört.Meine Damen und Herren, der alte Apparat, verbündet mit dem nach wie vor dominanten militärischindustriellen Komplex, beherrscht das Land. Eine Gewaltenteilung existiert nach wie vor nicht. Ihre Institutionalisierung wird vom Präsidialapparat immer wieder unterlaufen.Dieser Zustand darf von den Demokratien des Westens nicht beschönigt werden. Ich plädiere nicht für einen Wirtschaftsboykott. Das heißt aber nicht, daß Sanktionen grundsätzlich auszuschließen wären, wenn die Kämpfe nicht unverzüglich beendet würden. Ich spreche mich deswegen gegen die russische Mitgliedschaft im Europarat ebenso aus, wie ich mich für die Exportbeschränkung strategisch wichtiger Güter und Technologien ausspreche. Am wichtigsten aber ist und bleibt die Unterstützung der Demokratiebewegung, und hier fehlt es bisher an der nötigen Konsequenz.Während des konservativen Putsches 1992 wurde Jelzin zu Recht unterstützt. Inzwischen ist deutlich geworden, daß ihm die persönliche Macht das Wichtigste ist. Sein damaliges Engagement für demokratische Reformen erscheint heute als zeitweiliges taktisches Mittel gegen den alten Apparat. Kaum fühlt sich die neue Elite etabliert, werden die alten Mittel zum Machterhalt angewandt. Der Sicherheitsrat Jelzins gebärdet sich wie das frühere Politbüro. Wenn z. B. Jelzins Sprecher in einem Zeitungsartikel von „libe-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 647
Gerd Popperalem Informationsterror" spricht, fühle ich mich an finstere Zeiten erinnert.
Wir haben schon bei Gorbatschow erlebt, wie ein russischer Politiker als Reformer begann und zum Verteidiger überholter Strukturen wurde.Ich zitiere Jan Ratschinskij, einen unserer Gesprächspartner aus der Gruppe „Memorial":Unsere Überlegung darf jetzt nicht sein, wie sich Jelzin weiter an der Macht halten lasse. Es ist vielmehr zu überlegen, wie ein Rückfall Rußlands in die Vergangenheit verhindert werden kann. Und das sind zwei verschiedene Dinge.
Ich gebe Ihnen recht, Herr Kinkel, daß wir uns nicht gegen Rußland wenden dürfen. Es gibt ja auch ein anderes Rußland. Im letzten Sommer hatte ich die Gelegenheit, in Moskau ein langes Gespräch mit Sergej Kowaljow zu führen. Ihn beschäftigte die Frage nach dem Verhältnis von Moral und Politik. Er vermutete schon damals, daß er sich bald zu entscheiden haben werde zwischen der weiteren Teilhabe an der Macht und dem konsequenten Eintreten für die Menschenrechte, mit dem Risiko, sein Amt aufgeben zu müssen. Ich meine, daß er, wie schon zu Zeiten der Diktatur, ebenso die richtige Wahl getroffen hat wie diejenigen russischen Journalisten, die ungeachtet aller Drohungen die Wahrheit berichten, wie die Soldaten und Generäle, die sich weigern, auf ihre Landsleute zu schießen, und ganz besonders wie die Mütter, die ihre Söhne aus dem Krieg abgeholt und nach Hause zurückgebracht haben.
Meine Damen und Herren, wenn wir Rußlands Weg zur Demokratie wirklich unterstützen wollen, dann müssen wir endlich darauf hören, was diese Menschen uns zu sagen haben.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ulrich Irmer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Gansel hat ausdrücklich erklärt, daß er mit der Regierungserklärung, die der Bundesaußenminister für die Bundesregierung abgegeben hat, einverstanden ist.
— Augenblick, ich komme darauf, Frau Kollegin Fuchs.Ich finde es gut und positiv und stelle mit Genugtuung fest, daß die große Oppositionspartei, aber, wie ich den Worten von Herrn Poppe entnommen habe, auch die zweitgrößte Oppositionspartei in der Substanz keine wesentlich anderen Vorschläge zu machen haben, wie wir uns als Deutsche in dieser Situation verhalten könnten und müßten, als sie von der Bundesregierung, und zwar vom Anfang der Auseinandersetzung an, vorgetragen worden sind.
— Augenblick, ich will es ja erklären; hören Sie doch zu.
Ich fürchte, daß in dem, was als Substanz der Kritik hier übrigbleibt, nämlich es sei alles zu spät und nicht hart und nicht deutlich und nicht massiv genug gesagt worden, eine ganz erhebliche Überschätzung der Möglichkeiten deutscher Außenpolitik in einer solchen Situation zum Ausdruck kommt.
Ich möchte nebenbei daran erinnern, daß es da, wo wir wirklich handeln können und uns dann auch dazu durchringen, etwas zu tun, und Vorschläge machen, in der Regel die Opposition ist, die sagt: Aber bitte das nicht, zumindest nicht mit uns. Und jetzt wird hier plötzlich so getan, als wäre die ganze Geschichte in Tschetschenien nicht passiert, wenn der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister 14 Tage früher Herrn Jelzin beschimpft hätten. Meine Damen und Herren, das ist doch eine groteske Vorstellung.
Sie haben gesagt, Herr Gansel: Wäre diese Regierungserklärung 14 Tage früher gekommen, dann wäre sehr viel Leid vermieden worden.
Das ist doch eine absurde Überschätzung der Möglichkeiten.Ich will Ihnen einmal sagen, was hier zu berücksichtigen ist. Die Situation ist ja nicht ganz einfach. Wir müssen einmal betrachten, in welchem Rahmen und unter welchen Gesamtumständen dieser Krieg in Tschetschenien stattfindet.Wir haben uns nach 1989 alle der Illusion hingegeben, der Weltfriede sei ausgebrochen und der Krieg als Mittel der politischen Auseinandersetzung könne vergessen werden.
— Sie am allerersten, denn Sie haben den Verteidigungshaushalt damals für drei andere Zwecke verteilt und sind noch heute der Meinung, daß wir Verteidigung — jedenfalls im Prinzip — in der Form, in der wir es für richtig halten, nicht mehr benötigen.
Leider war das eine Illusion. Wir müssen uns klarmachen, was inzwischen geschehen ist. Es geht bei
Metadaten/Kopzeile:
648 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Ulrich Irmerden Auseinandersetzungen, die wir leider erleben, nicht mehr darum, daß sich Völkerrechtssubjekte miteinander in Krieg befinden, wofür es verbindliche Völkerrechtsregeln in Hülle und Fülle gibt, sondern es geht darum, daß sich die derzeitigen Auseinandersetzungen — ob in Ex-Jugoslawien, ob in Tschetschnien oder in anderen Teilen Rußlands, ob etwa in Südostanatolien — innerhalb von Staaten abspielen. Das macht die Sache sehr schwierig, weil unser Völkerrecht dafür bisher ausreichende Regeln nicht bereitgestellt hat. Deshalb müssen wir es weiterentwickeln.Ich räume ein, daß es in der Völkerrechtsdiskussion eine positive Entwicklung gegeben hat. Ich erinnere daran, daß der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nach dem Golfkrieg, als sich Saddam Hussein gegen die Kurden in seinem eigenen Land mit massivsten Menschenrechtsverletzungen gewandt hat, erklärt hat: Dies ist nicht mehr eine innere Angelegenheit des Irak, sondern dann, wenn Menschenrechtsverletzungen ein gewisses Ausmaß annehmen und eine bestimmte Dimension überschreiten, ist die Staatengemeinschaft davon betroffen.
— Lieber Markus Meckel, ich will das gerade erklären.Natürlich handelt es sich beim TschetschenienKonflikt einerseits um eine innere Angelegenheit Rußlands, und zwar in dem Sinne, daß auf der anderen Seite nicht ein Völkerrechtssubjekt steht, so daß also eine Anwendung des Art. 51 der UN-Charta nicht gegeben wäre. Das heißt andererseits selbstverständlich nicht, daß die massiven Menschenrechtsverletzungen, der Krieg und das Blutvergießen, die von der Bundesregierung angeprangert worden sind, uns nicht betreffen. Nur, wir müssen uns doch die Frage stellen: Was können wir denn tun?Bei manchen Kommentaren in der Öffentlichkeit hatte ich den Eindruck: Die Empörung schlägt riesig hohe Wellen, was ich voll verstehe. Ich teile diese Empörung. Aber wenn gesagt wird: „Da muß man doch etwas unternehmen" , dann frage ich mich: Was empfehlen die Damen und Herren, die so reden? Sollen wir die NATO dorthin schicken, oder was sollen wir machen? Ich bitte, bei allen Vorschlägen, die gemacht werden, realistisch zu sein und auch daran zu denken, daß allein durch verbale Kraftakte kein Menschenleben gerettet wird.
Was die Bundesregierung, der Bundesaußenminister und der Bundeskanzler, in dieser Situation getan hat, findet unsere volle Unterstützung, und zwar deshalb, weil sie nicht hektisch und nicht kopflos gehandelt haben und weder nach rechts noch nach links oder wo auch immer hin voreilig Verurteilungen ausgesprochen haben, sondern weil sie den Standpunkt klargemacht haben, Menschenrechtsverletzungen, Bombardements und Blutvergießen können nicht akzeptiert werden, und weil sie gleichzeitig dieMittel aufgezeigt haben, die von uns eingesetzt werden können.Hier ist in erster Linie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu nennen. Allerdings müssen deren Möglichkeiten weiter gestärkt werden. Wir müssen dafür sorgen, daß ein Krisenreaktionsmechanismus eingeführt wird, der bei derartigen Auseinandersetzungen automatisch in Kraft tritt. Es wäre sicher nützlich gewesen, wenn sich die russische Regierung und die tschetschenische Führung frühzeitig, ehe es zu einem bewaffneten Konflikt gekommen wäre, mit der Bitte um Vermittlung an die OSZE — damals KSZE — gewandt hätten. Vielleicht hätte das dazu führen können, daß der Konflikt im Vorfeld durch Krisenmanagement und Krisenpräventionsmechanismen hätte abgewendet und geschlichtet werden können.Meine Damen und Herren, es hat doch keinen Sinn, daß wir diese Debatte über das so grauenvolle Thema Tschetschenien nur dazu benutzen, daß die einen der Bundesregierung vorwerfen, sie hätte in den letzten 14 Tagen eine etwas deutlichere Sprache sprechen müssen, und wir jetzt sagen, alles, was geschehen ist, ist in Ordnung. Das bringt uns doch nicht weiter.Wir müssen überlegen, was wir aus diesem schrecklichen Vorfall möglicherweise an zukunftsweisenden Konsequenzen ziehen können. Es muß uns doch darum gehen, die Lehren aus dieser Situation zu ziehen, um vielleicht in der Zukunft ähnlich schreckliche Dinge verhüten zu können oder zur Verhütung zumindest einen Beitrag zu leisten. Das sollte Aufgabe dieser Debatte sein.
Deshalb will ich ein paar allgemeine Punkte ansprechen, deren Diskussion sich im Zusammenhang mit dem Tschetschenien-Konflikt geradezu anbietet.
Wir müssen ein Fragezeichen hinter die Meinung setzen, die sagt: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker muß in jedem Fall dazu führen können, daß sich ein Volk, wie klein oder groß, wie allein in seinem Territorium lebend, wie mit anderen ethnischen Gruppen durchmischt, von einer gegebenen Landkarte isolieren und sagen kann, wir haben das Recht zur Sezession.Wenn das das uneingeschränkte und alleingültige Prinzip sein sollte, dann geraten wir an einigen Stellen der Welt künftig in ein Chaos, dessen Ausmaße wir uns heute noch gar nicht vorstellen können. Denken wir an Rußland selbst, wo es allein im Kaukasus mehr als 100 unterschiedliche Völkerschaften gibt. Denken wir an Afrika, wo die weise Entscheidung der Organisation für Afrikanische Einheit das Prinzip aufgestellt hat: Grenzen sind unantastbar, wie willkürlich sie auch zustande gekommen sein mögen.Es wird zum Chaos führen, weil es außer dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker mit eventuell daraus folgendem Sezessionsrecht andere Völkerrechtsprinzipien gibt, deren Geltung im Inter-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 649
Ulrich Irmeresse der Menschenrechte und des Überlebens genauso wichtig ist. Dazu gehört beispielsweise das Recht der Minderheiten auf Achtung ihrer Autonomie, so daß sich für Tschetschenien anbietet, über Autonomieformen zu verhandeln, die unterhalb der Schwelle der staatlichen Sezession liegen. Der Grundfehler, den Dudajew und seine Leute gemacht haben, liegt darin, daß sie außer der Sezession, der Bildung eines eigenen Staates, nichts anderes im Sinne gehabt haben.Was können wir tun? Wir müssen aus der Situation in Tschetschenien auch die Lehre ziehen, daß es für unsere Nachbarn im Osten jetzt natürlich noch schwerer ist, ihre Sicherheit als gewährleistet anzusehen. Es wird ganz zwangsläufig aus Polen, aus Ungarn, aus der Tschechischen und aus der Slowakischen Republik und aus anderen Ländern die Bitte an uns dringlicher werden, ihnen dadurch zusätzliche Sicherheit zu verschaffen, daß wir sie in unsere westlichen Organisationen aufnehmen, und zwar bald.Ich glaube und hoffe nicht, daß sich Rußland bei allen Erfahrungen, die wir mit Tschetschenien gemacht haben, gegen seine Nachbarn, die völkerrechtlich unabhängig geworden sind, wenden wird. Aber ich verstehe die Sorgen, die in diesen Ländern durch die Vorgänge in Tschetschenien ausgelöst werden. Deshalb ist unsere Politik der Annäherung, der Öffnung zu diesen Ländern heute dringlicher und eiliger denn je.
Was können wir in Richtung Rußland tun? Wir können die demokratischen Kräfte stützen und einen ständigen Dialog führen, wobei es Aufgabe der Bundesregierung ist — das hat sie auch getan —, durch die ihr zur Verfügung stehenden Kontakte mit der Regierung, mit den Machthabern mäßigend auf Rußland einzuwirken.Unsere Aufgabe als Parlamentarier ist es, den Dialog mit den demokratischen Kräften in Rußland zu intensivieren. Wir müssen Rußland mit unseren sehr bescheidenen Kräften dabei helfen, den sehr schweren und dornigen Weg zur Stabilität und zur Demokratie zu finden.Ich bedaure es außerordentlich, daß es uns in zwei Wochen in Straßburg bei der Sitzung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats nicht möglich sein wird, bereits jetzt dem Beitrittsgesuch Rußlands zu entsprechen. Dies ist nicht unsere Schuld. Das hat Rußland durch sein Verhalten selbst verursacht.Ich kenne die Theorie — im Falle der Slowakei haben wir sie angewandt —, daß man Länder, bei denen man Zweifel hat, ob sie denn wirklich dauerhaft auf dem rechten Weg sind, erst einmal in unsere Organisation einbindet, um dann von innen heraus um so stärker auf sie einwirken zu können. Das mag bei einem kleinen Land wie der Slowakei funktionieren; ich hoffe, es wird funktionieren. Bei einem immens großen Land wie Rußland scheidet diese Möglichkeit aus. Die Russen selber haben es uns durch ihre Tschetschenienpolitik unmöglich gemacht, diesem Gesuch jetzt zu entsprechen.Es gab — das soll man nicht vergessen — auch andere Zweifelspunkte. Es gab einen Katalog von 40 Punkten, der erst einmal abgearbeitet werden mußte. Wir sollten aber jetzt nicht zu einer Ablehnung des Beitrittsgesuchs von Rußland kommen, um die Türen nicht zuzuschlagen, um den Weg nicht zu verbauen, sondern wir sollten den Russen deutlich sagen: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben; es liegt jetzt an euch. Macht euch fit für Europa, macht euch bereit dafür, eine ständige Zusammenarbeit auch innerhalb des Europarates und in bezug auf seine Menschenrechtspolitik mit uns gemeinsam zu führen.Machen wir uns nichts vor: Ohne Rußland wird Europa nicht überleben können; denn Rußland ist zu groß, zu stark, und Rußland ist Teil Europas. Das wissen wir, und die Russen wissen es im Prinzip auch. Sie sollten es sich nur klarmachen. Sie sollten aber auch wissen, daß die Zugehörigkeit zu Europa Verpflichtungen mit sich bringt, die man nicht mit einer Armee und mit Bomben beiseite fegen kann.Hoffen wir, daß Rußland diese Botschaft versteht. Ich ermuntere die Bundesregierung, die richtige Politik, die sie in dieser sehr, sehr schwierigen Frage bisher eingeschlagen hat, unbeirrt fortzuführen.Ich danke Ihnen.
Als nächster spricht der Abgeordnete Graf Einsiedel.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!Durch die Felsen, durch die Lande strömt des Tereks Flut.Der Tschetschene schleicht am Strande, wetzt sein Messer gut.Doch Dein Vater ist ein Reiter,greift ihn auf im Nu.Schlaf mein Bub,schlaf ruhig weiter,Bajuschki baju.Du wirst groß, die Zeit hat Flügel, wirst ein Held wie er.Hurtig steigst du in die Bügel,greifst nach dem Gewehr.Vor über 60 Jahren habe ich als zehnjähriger Pfadfinder dieses Wiegenlied von Lermontow am Lagerfeuer gesungen, und ich muß zugeben, ich war ergriffen von der Kosakenromantik dieser Verse. Aber wir leben nicht mehr im 19. Jahrhundert, und der Präsident der Russischen Föderation ist kein jugendlicher Kosak mehr, der von den Schwielen vom Säbel an den Händen träumen darf.Das ist die lange, schwere Vergangenheit. Die Tschetschenen haben die Unterwerfung durch die zaristischen Kosaken erlebt, die Deportation durch die Sowjetmacht, die ein Viertel von ihnen nicht überlebt hat.
Metadaten/Kopzeile:
650 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Heinrich Graf von EinsiedelKein Bub, keine Familie in Rußland, niemand in Europa kann ruhig schlafen, wenn in einem brutalen Angriffskrieg eines riesigen Staates gegen einen winzigen Nachbarn in wenigen Wochen Zehntausende von Soldaten und Zivilisten umkommen, wenn eine Großstadt mit Bomben und Granaten zusammengeschossen wird wie einst Woronesh und Stalingrad und Hunderte andere russische Städte durch die deutsche Wehrmacht.Schon in der Diskussion über die Regierungserklärung hat hier niemand außer Gregor Gysi von Tschetschenien gesprochen. Am 22. Dezember 1994 hat der Vorsitzende der PDS an den Bundesaußenminister geschrieben und energische politische und diplomatische Schritte eingefordert, um dem Morden ein Ende zu machen. Er ist nicht einmal einer Antwort gewürdigt worden.Jeder vernünftige Mensch hierzulande muß sich aber fragen, was das Papier eigentlich wert ist, auf dem die internationalen Protokolle und Abkommen unterzeichnet wurden, die einen solchen Angriff gegen einen faktisch und de jure unabhängigen Staat verboten haben, wenn nicht einmal ihre Einhaltung gefordert wird.Wir wissen sehr wohl, daß wir nicht mehr zur Zeit des Berliner Kongresses leben, wo der Kanzler Deutschlands als Friedensmakler auftreten konnte. Dazu fehlt der Bundesrepublik Gott sei Dank die Statur und ihrem Bundeskanzler und seinem Außenminister — — Na ja, lassen wir das.
Aber ist das eine Entschuldigung dafür, daß die Bundesregierung nicht gemeinsam mit allen Partnern, die diese internationalen Verträge unterzeichnet haben, jedweden politischen und moralischen Druck auf die gegenwärtigen Machthaber in der Russischen Föderation ausübt, um sie vor der Verletzung und Mißachtung dieser Verträge und Abkommen zu warnen und den Verzicht auf eine gewaltsame, militärische Lösung ihrer Konflikte mit dem kleinen Nachbarn zu fordern?Behutsam müsse man mit Jelzin und seinen Hintermännern umgehen — wird uns gesagt —, um nicht Wasser auf die Mühlen von Nationalisten jeder Couleur zu leiten. Aber was unterscheidet eigentlich diese Machthaber noch von Schirinowski? Daß noch keine Atombombe auf Grosny geworfen worden ist, wie dieser fordert? Das ist eine Behutsamkeit, die die russischen Demokraten, die Widerstand gegen die Chauvinisten im eigenen Lande leisten, fatal an die Appeasement-Politik unseligen Angedenkens erinnert.Sie sagen uns und anderen, daß der Westen zu zögerlich, zu behutsam und vor allem viel zu spät auf die sich abzeichnende russische Aggression gegen Tschetschenien reagiert hat. Diese demokratischen Kräfte schreien nach moralischer und politischer Unterstützung aus dem Westen.
Gleichzeitig beschwören sie uns, Widerstand gegenalle Bestrebungen zu leisten, den Überfall auf Tschetschenien als willkommenen Vorwand zu benutzen, um die Ausdehnung der NATO nach Osten zu forcieren.
Das wäre ihrer und unserer Überzeugung nach eben die entscheidende Fehlreaktion des Westens, ein folgenschwerer Mangel an Behutsamkeit.Kein vernünftiger Mensch kann einen weiteren Zerfall der Russischen Föderation wünschen. Aber kein vernünftiger Mensch kann auch glauben, daß ein Mann diese territoriale Integrität der Russischen Föderation mit Blut und Eisen bewahren kann — auch nicht, wenn er Jelzin heißt, der sich offenbar als ein neuer Ataman vorkommt, aber gegen dessen Willkür der Protest und Widerstand im eigenen Lande wächst, der heute bereits von seinen ehemaligen Anhängern bis zu den linken demokratischen Kräften reicht.Die Regierungskoalition versichert uns, man müsse behutsam sein, weil es keine Alternative zu Jelzin gebe. Aber das Problem besteht nicht darin, wer gerade an der Spitze steht, sondern darin, wie attraktiv die Russische Föderation durch die Achtung der Menschenrechte wird, durch Achtung von Verfassung und Recht, durch demokratische Kontrolle der Macht, durch Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker.Dieses Recht, bis hin zur Sezession, war sogar schon in der Verfassung der UdSSR festgeschrieben, wurde aber nie gewährt. Es war Jelzin selbst, der 1991 von diesem Verfassungsrecht Gebrauch machte, als er die Sowjetunion mit einem Federstrich auflöste und die Sowjetrepubliken aufforderte, sich so viel nationale Selbständigkeit zu nehmen, wie sie wollten. Ist jetzt die Zeit gekommen, dieses Recht mit brutaler militärischer Gewalt wieder auszulöschen?Die Bundesregierung wäre sicher nicht schlecht beraten, wenn sie sich, statt allein auf Jelzin zu setzen, auf jene demokratischen Kräfte in Rußland orientieren würde, die fordern, dem Blutvergießen in Tschetschenien sofort ein Ende zu setzen, aufrichtige Verhandlungen ohne Vorbedingungen mit der tschetschenischen Führung zu beginnen und einen für beide Seiten annehmbaren Status Tschetscheniens auszuhandeln.Noch heute wird der einstigen sozialliberalen Koalition — ja, wo sind die Liberalen geblieben? — vorgeworfen, sie habe sich bei ihrer Entspannungspolitik gen Osten nicht genügend um den demokratischen Widerstand im Ostblock gekümmert. Wenn dies damals ein Fehler gewesen sein sollte, dann sind Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, auf dem besten Weg, ihn mit Ihrer Rußlandpolitik zu wiederholen — in einer ganz anderen Situation, wo es nicht bloß um demokratische Rechte, sondern um tägliches Morden und um Zehntausende von Toten geht.Danke.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 651
Als nächster spricht der Bundeskanzler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es fällt mir schwer — aber ich will es nicht unterdrücken —, ein Wort zu meinem Vorredner zu sagen. Es fällt mir deswegen so schwer, weil hier einer für eine Partei gesprochen hat, die in der Verantwortung für die Versklavung, für Bautzen und Waldheim und viele Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Deutschland steht.
Es ist ein hohes Maß an Unverfrorenheit, in dieser Weise in diesem Parlament zu sprechen,
als Redner einer Gruppe, die in den vergangenen Jahrzehnten nichts, aber auch gar nichts für die Menschenrechte in der damaligen DDR getan hat.
Meine Damen und Herren, das Thema, das uns heute hier beschäftigt, hat aber einen zu ernsten Hintergrund, als daß wir es auf diese Art und Weise miteinander behandeln sollten. Es mag ja den einen oder anderen von Ihnen reizen, aus der Situation im heutigen Rußland und der katastrophalen Entwicklung in Tschetschenien innenpolitisches Kapital schlagen zu wollen. Nur, das nützt den Menschen dort überhaupt nichts, und hierzulande wird es ihnen auch nichts nützen.Die Ereignisse der vergangenen Wochen in Tschetschenien sind eine Tragödie, die für ganz Rußland, vor allem für die Menschen vor Ort, schreckliche Folgen hat. Wir sehen die Bilder von erschlagenen, erschossenen Männern, Frauen und Kindern. Gerade bei uns in Deutschland — aber nicht nur in Deutschland — gehen in diesem Zusammenhang die Gedanken in die Zeit vor 50 Jahren zurück. Wenn wir uns in diesen Wochen vorbereiten, gemeinsam mit den Gegnern von gestern im Blick auf die Zukunft ein Konzept der Politik des Friedens und der Freiheit zu gestalten, wirken diese Bilder aus Tschetschenien besonders schrecklich. Wir empfinden das genauso angesichts der Bilder, die uns seit Jahren und Monaten aus dem früheren Jugoslawien übermittelt werden.Weil dies so ist und weil wir wissen, was es heißt, daß innerhalb weniger Wochen in Tschetschenien nahezu eine halbe Million Menschen zu Flüchtlingen wurden, wissen wir auch, wie wichtig es ist, daß die Völkergemeinschaft — und im Rahmen unserer Möglichkeiten auch wir, die Deutschen — einen Beitrag dazu leistet, um diese Schrecken zu beenden.Die Bundesregierung — hier vor allem der Bundesaußenminister und ich — hat in diesen Wochen jede Chance genutzt, in Gesprächen mit der russischen Führung deutlich zu machen, daß Rußland das Recht hat, seine territoriale Integrität auch gegen separatistische Bestrebungen zu verteidigen; aber wir haben genauso klar und deutlich gesagt, daß die Menschenrechte und die humanitären Prinzipien, die Rußland auch als Mitglied der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa anerkannt hat, uneingeschränkt zu achten sind. Ich habe es in meinen Gesprächen so formuliert: daß es hierzulande niemand verstehen kann, wenn Flächenbombardements und Angriffe gegen die Zivilbevölkerung als angeblich geeignetes Mittel angesehen werden, um zu einer friedlichen Lösung zu kommen, und daß wir ein solches Vorgehen entschieden ablehnen.
Meine Damen und Herren, deswegen sollten wir es hier unterlassen, einander in dieser Frage — über unsere Bereitschaft, für Menschenrechte einzutreten — Nachhilfe zu erteilen. Ich brauche von niemandem in diesem Saal Nachhilfe auf diesem Gebiet. Als ich vor 12 Jahren Bundeskanzler wurde, habe ich in einer unmißverständlichen Weise die Achtung der Menschenrechte für unsere Landsleute in der damaligen DDR eingefordert.
Manch einer aus den neuen Ländern, der hier sitzt, sollte sich an die Redeschlachten im Deutschen Bundestag erinnern, als es darum ging, wenigstens das Einfachste zu tun: nämlich das zu dokumentieren, was die Schergen des SED-Regimes unseren Landsleuten angetan haben.
Weil das so war und weil die Debatte hinsichtlich Salzgitter nicht einmal 10 Jahre zurückliegt,
sollten Sie es unterlassen, bei unterschiedlichen Meinungen in politischen Details hier dem einen Teil des Hauses mangelnden Respekt vor Menschenrechten vorzuhalten. Sie sind dazu nicht berechtigt.
Wir haben der russischen Führung unseren Standpunkt — so wie ich ihn hier vortrage —, deutlich gemacht, und zwar zu jedem Zeitpunkt. Einer der Kollegen hatte hier die Frage gestellt, ob dies auch schon in Budapest geschehen sei. Die Frage kann ich beantworten: Natürlich war zu der Zeit der Tagung in Budapest die spätere Entwicklung nicht absehbar.
— Entschuldigung, zwischen Truppenbewegungen und dem, was dann geschah, ist doch noch ein Unterschied.Ich habe Boris Jelzin bereits in Budapest darauf hingewiesen, daß die Frage der wiedergewonnenen Reputation Rußlands und auch sein eigener Ruf in der Weltöffentlichkeit — nicht zuletzt bei vielen Freunden Rußlands, gerade auch bei uns in Deutschland durch diese Entwicklungen unmittelbar berührt wird.Meine Damen und Herren, ich finde, wenn wir heute über Tschetschenien reden, ist es vor allem angebracht, daß wir uns einen Augenblick über die Fragen unterhalten: Was ist eigentlich unsere Politik
Metadaten/Kopzeile:
652 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohlgegenüber Rußland? Von welchen Motiven und von welcher Erfahrung läßt sich diese Politik leiten?Wir begehen in wenigen Wochen das Ende des Zweiten Weltkriegs. Wir wissen — das werden wir in der Woche vom 8. Mai erleben —, wie tief gerade in einem Land wie Rußland, dem entscheidenden Teil der früheren Sowjetunion, die Erfahrungen mit den schrecklichen Wirkungen der Nazizeit — mit dem Angriff auf die Sowjetunion und vielem anderen —noch heute nachwirken. Wenn wir an die russischen Veteranen aus jener Zeit denken, dann dürfen wir deren Erfahrungen nicht wegwischen, sondern müssen versuchen, daraus konsequent Gemeinsamkeiten für die Zukunft zu gewinnen.Ein Blick auf die Landkarte zeigt doch jedem, daß Rußland auch nach dem Ende der früheren Sowjetunion das mit Abstand wichtigste und mächtigste Land unter unseren Partnern im Osten Europas ist — ob uns das gefällt oder nicht.Das Beste, was ich eben gehört habe, war der Hinweis auf den Berliner Kongreß als Erfahrung, wobei wir das Bild von Kanzlern, verehrter Herr Abgeordneter, der Geschichte überlassen sollten. Ihr Beitrag dazu ist wenig bedeutsam.
— Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn er den Berliner Kongreß erwähnt, finde ich das besonders interessant. Deswegen war die Antwort auch mehr als am Platz.
— Ich habe gesagt: Er.
— Wenn Sie nicht wissen, wovon ich rede, dann sollten Sie Ihre Zeit vielleicht einmal damit verbringen, Geschichtsstudien zu betreiben. Dann würden Sie das verstehen.
Meine Damen und Herren, für Deutschland und Europa ist es entscheidend, daß nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion alle diese Staaten — die wir etwas verkürzt und mir zu technokratisch die GUS-Staaten nennen — ihren Weg in eine gute Zukunft finden. Aber entscheidend wird sein, daß Rußland diesen Weg findet. Denn ohne eine friedliche und demokratische Entwicklung in Rußland wird es keine solche etwa in der Ukraine geben. Ohne eine solche Entwicklung, meine Damen und Herren, werden unsere anderen Nachbarn — ich verweise nur auf Tschechien, auf die Slowakei, auf Ungarn und auf Polen — keine friedliche Zukunft haben und wir auch nicht. Deswegen war es immer unser Bestreben — bislang war ich der Meinung, dies sei unsere gemeinsame Auffassung —, daß Demokratie, Rechtsstaat, freiheitliche Wirtschaftsordnung und Weltoffenheit Ziele sind, die in Rußland verwirklicht werden müssen.Nun höre ich Urteile über Boris Jelzin, über die ich wirklich nur staunen kann. Es geht hier doch nicht um die Verherrlichung eines Mannes, hier es geht um die Beurteilung der Tatsachen, die wir vorfinden. Dieser Mann ist der erste frei gewählte Präsident Rußlands. Er hat das Erbe von 74 Jahren kommunistischer Herrschaft, totalitärer Herrschaft, übernommen, auch das Erbe des Archipel GULag, die Zerstörung der sozialen Strukturen dieses Landes mit all dem, was dazugehört. Diejenigen, die aus dem Westen kommen — nicht nur aus Deutschland — und dann rechthaberisch genau wissen, wie Rußland reformiert werden soll, sollten einmal vergleichen, wie schwierig ein solcher Prozeß der Umwandlung in all den anderen Ländern ist, die den Kommunismus aufarbeiten müssen — ob im Bereich der früheren DDR oder ob in den anderen Ländern des früheren Warschauer Pakts.Wenn dort jetzt wieder uralte nationalistische Tendenzen aufleben, wenn wir zu Recht darüber klagen, daß sich dort Korruption entwickelt, die das staatliche Wirken immer schwieriger macht, wenn man weiß, wie schwer sich die alten Strukturen überwinden lassen, dann, so finde ich, dürfen wir den Russen und ihrer Regierung nicht mit Besserwisserei kommen. Wir müssen ihnen auf den Weg der Reformen helfen.Vergessen wir auch nicht die besondere geographische Situation, in der sich dieses Land befindet. Sollte sich in der Kaukasus-Region ein islamischer Fundamentalismus durchsetzen, so hätte dies Auswirkungen auf die Türkei und von der Türkei wiederum auf den Maghreb. Wenn hier im Blick auf Tschetschenien dauernd von „Terror" geredet wird, dann erinnern Sie sich doch auch daran, was in diesen Wochen und Monaten in Algerien geschieht, und zwar ohne vergleichbare Empörung der Weltöffentlichkeit. Erinnern wir uns an die Frage der Stabilität in den Nachbarländern Algeriens, ob in Marokko oder in Ägypten, diesem wichtigen Land im Nahen Osten.Wenn das alles richtig ist, meine Damen und Herren, heißt das doch: Wer über Tschetschenien redet, muß auch über die Zukunft Rußlands nachdenken.
Deswegen bekenne ich mich nachdrücklich zu jener Politik, die die Bundesregierung, namentlich der Bundesaußenminister, und übrigens alle unsere Freunde und Partner in der westlichen Welt betreiben. Sie von der sozialdemokratischen Fraktion werden doch nicht behaupten wollen, daß ein Mann wie François Mitterrand nicht das gleiche Engagement für Menschenrechte hat wie Sie und ich, wie alle hier im Saal. Wenn er, die britische Regierung, die amerikanische Regierung und die Länder der Europäischen Union in dieser Fràge die gleiche Position einnehmen, dann geschieht das nicht aus Ängstlichkeit oder Mangel an Mut, sondern weil wir unseren Einfluß mit Vernunft und unter Maßgabe unserer Möglichkeiten für friedliche Lösungen in Tschetschenien geltend machen.Lassen Sie mich jetzt ein Wort zu Boris Jelzin sagen. Ich bin stolz darauf, daß es möglich war, zu ihm eine freundschaftliche Beziehung aufzubauen. Ich habe nicht den geringsten Grund, dies heute zu leugnen. Was wäre ich für ein trauriger Zeitgenosse, wenn einer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 653
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohlmeiner Freunde in Schwierigkeiten geriete und ich jetzt nicht zu ihm stünde!
— Meine Damen und Herren, Freundschaft verpflichtet den Freund zu sagen, was wirklich ist, nicht aber das, was der andere gerne hört. Genau das habe ich in diesen Wochen immer wieder getan und werde es auch weiterhin tun.
— Entschuldigung, ich bin Ihnen doch wirklich nicht Rechenschaft schuldig,
wann ich mit Boris Jelzin rede.
— Was haben Sie eigentlich für eine Vorstellung von Außenpolitik?
Wenn mein Vorgänger Helmut Schmidt hier stünde, würden Sie von ihm eine Antwort bekommen, die Ihnen gebührt.
Ich habe die Verantwortung als deutscher Bundeskanzler, und ich rede zu dem Zeitpunkt, den ich für richtig halte,
nicht aber, wann Sie es wollen.
Wir haben miteinander gesprochen,
und wir werden das in den nächsten Tagen genauso tun. Nur, meine Damen und Herren — das füge ich auch hinzu —:
Was ist das eigentlich für ein eigenartiges Bild? Als sich Boris Jelzin 1990
dem Putschversuch mit äußerstem Mut entgegenstellte und sagte, er setze sich für die Reformen ein,und als dann zwei Jahre später der zweite Putscherfolgte, da war er ein hochgefeierter Mann, meine Damen und Herren.
Und jetzt in dieser konkreten Situation — auch dann, wenn er Fehler gemacht hat; darüber brauchen wir doch gar nicht zu streiten; das habe ich ihm selber gesagt und kann es hier genauso wiederholen —, bin ich nicht bereit, ihn in einer Weise abzuschreiben, wie Sie es hier tun.
— Meine Damen und Herren, das ist ein Mann, der Mut bewiesen hat und der den Deutschen gegenüber ein Maß an Vertrauenswürdigkeit bewiesen hat, die jetzt nicht vergessen werden darf. Er hat die Abmachung über den Abzug der russischen Truppen auf den Tag und Punkt für Punkt eingehalten, obwohl es in Moskau Kräfte gab, die das unmöglich machen wollten.
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein.Deswegen gilt unsere Politik allem, was wir tun können, um dieses wichtige Land weiter auf dem Weg der Reformen zu unterstützen und dort, wo sich gegenläufige Tendenzen breitmachen — die sehe ich auch —, das Notwendige zu unternehmen, um den Verantwortlichen — ich schließe hier den Präsidenten ausdrücklich ein — deutlich zu machen, daß Rußland ohne die von mir, Klaus Kinkel und vielen anderen beschriebenen Reformen keine Zukunft in Frieden haben wird.Wenn jetzt gesagt wird — auch das gehört zur Polemik dieser Tage —, wir — oder ich — setzten nur auf diesen einen Mann, so muß ich zunächst einmal feststellen: Meine Damen und Herren, er ist der gewählte Präsident Rußlands.
Es ist doch, nach dem Demokratieverständnis, das wir haben, ziemlich abwegig, über diesen Präsidenten und um diesen Präsidenten herum Politik machen zu wollen. Dazu habe ich auch gar keinen Grund.Das zweite ist, daß natürlich auch die Amtszeit von Boris Jelzin irgendwann zu Ende sein wird und daß alles, was wir tun können, getan werden muß, um demokratische Strukturen, Parteien, was immer Sie in diesem Zusammenhang nennen wollen, zu unterstützen. Das tun wir, und das tue ich selbst in vielfältiger Form.Aber ich weiß eines auch: Ich weiß nicht, ob Boris Jelzin auf diesem Weg Erfolg haben wird; ich weiß aber sicher, daß ein Mißerfolg mit katastrophalen Folgen unabwendbar wäre, wenn wir ihm die Unterstützung im Rahmen unserer Möglichkeiten versagten. Hilfe unter den Bedingungen, die ich soeben hier
Metadaten/Kopzeile:
654 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohlgenannt habe, ist und bleibt unsere Politik in diesem Zusammenhang.
Die Politik der Bundesregierung gegenüber Rußland wird von unseren grundlegenden Interessen und von festen Prinzipien geleitet. Meine Damen und Herren, ich bleibe dabei: Es ist unser fundamentales Interesse, daß die Entwicklung Rußlands hin zu Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft nicht aufgehalten wird; deshalb wollen wir — trotz der erheblichen Rückschläge, vor allem im Bereich der Ökonomie — weiter hilfreich sein. Aber bei all dieser Unterstützung bleibt unser entschiedener Wunsch — und dieser wird mit aller notwendigen Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht —, daß die russische Führung erkennt, daß eine gewaltsame Lösung im Tschetschenien-Konflikt auf die Dauer dort keinen Frieden herbeiführen wird und daß das Ansehen und die Reputation Rußlands dadurch schwersten Schaden nehmen.Wir wollen auch keine Isolierung dieses Landes. Jeder Versuch einer Isolierung wäre töricht und gefährlich. Er würde den reaktionären und extremistischen Kräften in die Hände spielen. Ich meine nicht nur einen ganz bestimmten Exponenten, der bei dieser Gelegenheit regelmäßig zitiert wird. Wer sich einmal aufmerksam — ich wünsche mir, das würden mehr Beobachter tun — mit den Diskussionen im russischen Parlament beschäftigt und einmal nachliest, was dort an radikalen Gedankengängen vertreten wird, der kann nur zu dem Schluß kommen: Es gibt in der russischen Gesellschaft Kräfte, bei denen wir nur gemeinsam den Wunsch haben können, daß sie niemals an die Macht kommen!Deswegen muß es jetzt unsere entschlossene Politik sein, auf der einen Seite eine Entwicklung hin zur Gewalt zu bremsen und zu stoppen, auf der anderen Seite die Demokratie in Rußland zu unterstützen. Daß trotz aller Probleme, die dieses Land hat, gerade in der Frage Tschetschenien dort eine sehr offene Diskussion im Parlament, auf der Straße und in den Presseorganen geführt wird, zeigt doch, daß Rußland auf dem Weg zur Demokratie ein großes Stück vorangekommen ist.Meine Damen und Herren, Sie sollen wissen, daß wir gemeinsam mit unseren Partnern im Westen alles tun werden, um unseren Beitrag für Frieden und Freiheit zu leisten. Aber denen, die hier aus bestimmten Gründen verlangen, wir müßten noch sehr viel lautstärker auftreten, kann ich nur sagen, daß die Lebenserfahrung in der Politik zeigt: Dies führt nicht weiter und hilft niemandem! Das wissen Sie so gut wie ich; wenn Sie es mir nicht glauben, dann fragen Sie Helmut Schmidt, und wenn Willy Brandt noch da wäre, könnten Sie ihn fragen, er würde Ihnen das gleiche sagen.
— Das glaube ich auch. In der Frage der Ostpolitik warer besonders erfolgreich; das ist wohl wahr. Deswegenkam die deutsche Einheit auch erst 1989/90 und nicht 1979.
Meine Damen und Herren, Sie mögen in diesem Zusammenhang viel Geschichtsklitterung betreiben; in Sachen Menschenrechte, in Sachen deutsche Einheit können Sie das, was mit uns möglich war, nicht wegdiskutieren, und dabei bleibt es.
Jetzt geht es uns darum — das sage ich noch einmal, und auch sehr persönlich —, daß wir jede Chance nutzen, die wir haben, um das schreckliche Geschehen in Tschetschenien zu beenden. Wir müssen die Gelegenheiten klug nutzen. Zur Klugheit gehört auch, daß das deutsche Parlament im Namen der deutschen Bürger klare Worte spricht, die man in Moskau auch versteht und verstehen muß.Zur Klugheit gehört auch, daß die Bundesregierung im Rahmen ihrer Möglichkeiten — das gilt nicht zuletzt für mich — in allen nur denkbaren Gesprächsmöglichkeiten das Notwendige tut, um unseren gemeinsamen Willen zum Ausdruck und zur Geltung zu bringen.Dazu gehört auch — das sage ich als letztes —, daß wir im Rahmen dessen, was Deutschland leisten kann, alles tun werden — auch das habe ich Präsident Jelzin gesagt —, um dort, wo jetzt humanitäre Hilfe dringend notwendig ist, unseren Beitrag zu leisten. Unser Ziel muß sein, daß die Flüchtlinge so schnell wie möglich in ihre Heimat zurückkehren können, daß der Wiederaufbau stattfindet und daß Frieden einkehrt.Die Politik der Bundesregierung war immer eine Politik für Frieden und Freiheit. Das gilt nicht nur in unserer Region, es gilt überall in der Welt. Das gilt auch für Rußland und Tschetschenien, und dabei bleibt es.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat Graf Einsiedel.
Herr Bundeskanzler, Sie haben diese Gelegenheit wieder einmal dazu genutzt, um uns für das Unrecht, das in der DDR geschehen ist, und für die Zustände in der DDR verantwortlich zu machen.
Ich habe nicht, wie Sie, die Gnade der späten Geburt erfahren; ich bin etwas früher geboren. Ich weiß nicht, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie statt der Gnade der späten Geburt die Ungnade hätten erfahren müssen, in Weißwasser, in Bautzen, in Zittau oder in Neuruppin geboren zu sein. Auch Sie hätten sich mit diesem System wahrscheinlich irgendwie arrangiert, wenn Sie dort hätten leben müssen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 655
Heinrich Graf von EinsiedelDa Sie von Ihrem „Freund Jelzin" reden, frage ich Sie: Für was alles war der eigentlich verantwortlich?
Wer sind denn all die Menschen, mit denen wir in Rußland verhandeln müssen? Gorbatschow, Schewardnadse, der KGB-Chef — das sind doch alles hohe Mitglieder der Nomenklatura. Denen billigen Sie zu, daß sie in ihrer Biographie einen Bruch vollzogen haben, daß sie aus ihren Biographien etwas gelernt haben, und uns wollen Sie das grundsätzlich absprechen?
Ich habe schon vor 46 Jahren — da haben Sie wahrscheinlich noch kurze Hosen getragen — ganz fundamentale Kritik am DDR-System und an der SED geübt.
Da brauche ich mich von Ihnen nicht belehren zu lassen. Daß ich, der ich diese Kritik über Jahrzehnte geübt habe, von der PDS auf den Listenplatz 1 in Sachsen gewählt worden bin, ist allein ein Beweis dafür, daß die PDS eine andere Partei ist als die SED.
Herr Bundeskanzler.
Herr Abgeordneter, ich habe die PDS als Nachfolgeorganisation der SED angesprochen, weil Ihr eigenes Parteiprogramm das deutlich ausweist. Sie haben sich ja nicht klar und deutlich von vergangenen Zeiten losgesagt. Der Streit, den Sie in Ihrer Partei vor dem Parteitag zum Teil haben, bezeugt doch, daß die — ich sage das so, wie es in den Zeitungen steht — stalinistische Fraktion noch immer da ist.
Ich werfe dem einzelnen doch nicht seinen Lebenslauf vor; ich habe das auch bei Ihnen nicht getan. Ich werfe aber Ihrer Partei als ganzer vor, daß Sie als die Nachfolgepartei der SED der damaligen Zeit eben nicht abgeschworen haben. Sonst gäbe es diesen Streit in der Partei doch gar nicht. Sie sind auch im Wahlkampf — wir waren ja dabei — bei jeder nur denkbaren Gelegenheit dafür eingetreten, die alten Gefühle zu mobilisieren. Das wissen Sie so gut wie ich.
Das hat nichts mit dem Lebensalter zu tun, das kann auch jemand feststellen, der zur Stalin-Zeit noch ein junger Mensch war. Im übrigen habe ich — das sage ich Ihnen jetzt sehr persönlich — bei der Beurteilung von Vorgängen in der DDR, die einzelne betrafen, meinen Freunden gegenüber immer wieder zum Ausdruck gebracht — auch ich habe mir das immer vor Augen gehalten —: Seid vorsichtig! Bedenkt, wie ihr euch unter den damaligen Verhältnissen verhalten hättet!
Aber Sie haben doch jetzt die Möglichkeit, sich loszusagen, und trotzdem haben Sie ein solches Parteiprogramm.
Sie sind und bleiben die Nachfolgeorganisation der SED, und dafür stehen Sie in der Verantwortung.
Als nächster nimmt der Fraktionsvorsitzende der SPD, Rudolf Scharping, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beobachten seit einigen Wochen einen mit äußerster Grausamkeit und Brutalität geführten Krieg. Wir beoabachten seit einigen Wochen halbherzige und erst allmählich klarer werdende Reaktionen der Bundesregierung. Wir beobachten seit einigen Wochen, wie sich eine halbherzige Politik in Kaltherzigkeit gegenüber den betroffenen Menschen verwandeln kann.
Ich sage das am Anfang, weil ich, den ganzen rhetorischen Bemühungen des Herrn Bundeskanzlers zum Trotz, den Gegenstand für zu wichtig und für zu ernst halte, als daß er die Ausflucht in parteipolitischen Kleinkram rechtfertigen würde,
und auch, um deutlich zu machen, Herr Bundeskanzler, daß Sie Ihre Bemerkungen noch einmal überdenken sollten, die Sie im Rahmen dieser Debatte mit erkennbarer Aufregung und mit gewisser Nervosität gemacht haben: Wo denn sonst, wenn nicht hier im Deutschen Bundestag, sind Sie Rechenschaft über Ihre Politik schuldig?
Wir alle wissen, daß keine deutsche Politik die Entwicklung in Rußland bestimmen kann. Wir wissen auch, daß die Frage offen bleiben muß, wie stark unser Verhalten die Entwicklung in Rußland beeinflussen könnte. Aber wir wissen auch, daß die unter dem Stichwort der Bewahrung der territorialen Integrität Rußlands oder der russischen Föderation vorgenommene, durchgezogene, zu verantwortende, menschenverachtende und brutale Politik nicht nur eine innerrussische Angelegenheit ist.
Sie kann nicht alleine eine innerrussische Angelegenheit sein, weil es hier auch und vor allen Dingen um die Bewahrung von Menschenrechten geht.
Metadaten/Kopzeile:
656 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Rudolf ScharpingWenn die zivilisierte Staatengemeinschaft und Deutschland in diesem Fall schweigen, halbherzig reagieren oder zu spät aufwachen, dann ist das ein Problem für internationale Politik und nicht nur für uns alleine oder eine Frage der Bewahrung der russischen territorialen Integrität. Es geht auch um die Bewahrung international vereinbarter Grundsätze, auf die sich Staaten unabhängig von ihrer Größe verlassen können müssen.
Wenn die Bundesregierung dann nicht ihre Möglichkeiten ergreift, dann schädigt sie das Vertrauen, daß die großen Staaten innerhalb der OSZE den politischen Willen haben, auch gegen Schwierigkeiten international vereinbarte Regeln und Grundsätze durchzusetzen, sie wenigstens anzumahnen.
Das sage ich deshalb sehr deutlich, Herr Bundeskanzler, weil ich nicht weiß, was Sie in ihren Telefonaten ab dem 5. Januar dem russischen Präsidenten gesagt haben. Eines allerdings weiß ich sehr genau, daß nämlich noch am 30. Dezember ihr Regierungssprecher gesagt hat, es bestehe kein Bedürfnis, mit dem russischen Präsidenten zu telefonieren. Ich habe die dpa-Meldung hier: Es gebe keine Absicht, mit dem russischen Präsidenten Kontakt aufzunehmen. Das sage ich deshalb, weil es mich eigenartig berührt, daß im Rahmen der Anmahnung und der Einhaltung von international vereinbarten Regeln die deutsche Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union — bis zum Ende des Jahres bestand sie — keine Initiative ergriffen hat, um die Regeln anzumahnen, die in der KSZE, in der Konvention über das Internationale Rote Kreuz, im Budapester Dokument und an anderer Stelle festgehalten sind. Das war eine grobe Fahrlässigkeit.
Daraus werden Sie auch durch alle möglichen Bernerkungen neben der Sache nicht fliehen können. Ihr späteres Verhalten korrigiert den eingetretenen Schaden an Vertrauen und Glaubwürdigkeit nur in begrenztem Umfang.
Es geht auch nicht um eine allein innerrussische Angelegenheit, weil es um die Glaubwürdigkeit des Verhaltens anderer, mit Rußland in der OSZE auf der Plattform der KSZE verbundener Staaten geht. Die Vorgänge in Tschetschenien bergen nämlich die Gefahr, daß sich die politischen Verhältnisse und die europäischen Beziehungen nachhaltig verändern, daß sie ein Klima des Mißtrauens und der Bedrohung schaffen.
Die deutsche, die europäische Außenpolitik sieht sich also einer Lage gegenüber, die ihre unmittelbaren Interessen berührt und in der es verantwortungslos wäre, wort- und tatenlos zuzusehen. Wir stellen fest: Die Bundesregierung hat nicht angemessen, auf jeden Fall zu spät reagiert.
Sie hat lange geschwiegen und den Eindruck erweckt, daß sie sich mit russischen Sprachregelungen identifiziert und damit russisches Verhalten akzeptieren könnte. Dieser Eindruck wird allmählich korrigiert.Aber wenn Sie, Herr Bundesaußenminister, mit Ihrem russischen Kollegen telefonieren und sich, jedenfalls nach Pressemeldungen, darüber einig sind, daß es sich um eine innerrussische Angelegenheit handele und die Prinzipien der KSZE uneingeschränkt beachtet werden müßten, dann ist das ebenso richtig wie unvollständig. Normalerweise hätte man schon Ende Dezember sehr deutlich sehen können, daß die Prinzipien der KSZE eben nicht beachtet werden. Wenn dann ein Außenminister nur das Einverständnis darüber herstellt, daß sie beachtet werden müßten, ohne zu sagen, daß sie zur Zeit nicht beachtet werden, dann ist diese Unvollständigkeit eine grobe politische Fahrlässigkeit, die einem Außenminister nicht unterlaufen sollte.
Zu dem Zeitpunkt, zu dem Sie das gesagt haben, Herr Kollege Kinkel, hätten Sie dies auch die deutsche Öffentlichkeit wissen lassen sollen.Ich sage das vor dem Hintergrund der Gefahr der Beschwichtigung deshalb, weil in Tschetschenien zum erstenmal seit dem Zweiten Weltkrieg mit Flächenbombardements eine Großstadt vernichtet wird und weil sich niemand über die Wirkungen und Auswirkungen dieses Vorganges Illusionen machen sollte. Wer meint, das habe wenig mit europäischen oder deutschen Interessen zu tun, der liegt falsch und begeht einen kalten Zynismus.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Irmer?
Wenn Sie mir gestatten, Frau Präsidentin, einen Augenblick im Zusammenhang zu reden, wäre ich sehr froh.
Meine Einschätzung beruht nicht nur auf einer moralischen Haltung, sondern auch auf der Tatsache, daß Rußland in eklatanter Weise Völkerrecht und europäische Vereinbarungen verletzt. Ich frage Sie, Herr Bundeskanzler, ob nicht gerade die Reklamation freundschaftlicher Beziehungen auch zu Persönlichkeiten anderer Staaten eine Grundlage dafür sein müßte, die Verstöße gegen die genannten internationalen Vereinbarungen offen und deutlich anzusprechen.Es ist von nicht zu unterschätzender Tragweite, wenn ein so bedeutender Staat wie Rußland völkerrechtliche und europäische Abmachungen übergeht. Es ist auch von nicht zu unterschätzender Bedeutung, wenn ein anderer sehr wesentlicher Vertragsstaat der OSZE darauf keine deutlichen Hinweise gibt. Es kann auch nicht zum Nachteil der deutsch-russischen Beziehungen ausgelegt werden, wenn man dies sehr klar und deutlich ausspricht. Im Gegenteil, es ist eineDeutscher Bundestag 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 657Rudolf ScharpingVerpflichtung, ein Gebot der politischen Klugheit, der langfristigen Verantwortung und eine durch Freundschaft erleichterte — mehr nicht — Möglichkeit, darauf offen und deutlich einzugehen.
Wer hat Sie eigentlich gehindert, das in den Tagen bis in die jüngste Vergangenheit hinein wirklich deutlich zu tun? Der Hinweis auf Verträge und verbindliche Abmachungen, die eine wesentliche Grundlage der Stabilität in Europa darstellen, kann doch nicht als Zumutung empfunden werden, und den Eindruck eines quasi vorauseilenden Gehorsams als Grundlage freundschaftlicher Beziehungen sollte jeder vermeiden, der an freundschaftlichen Beziehungen interessiert ist.
Es ist wahr: Es ist ein vorrangig deutsches Interesse, die demokratische Entwicklung in Rußland mit allen Mitteln zu unterstützen, Stabilität zu fördern und zu verhindern, daß es zu einer neuen Konfrontation mit Rußland kommt. Ich bezweifle allerdings, daß Ihre Analysen und Begründungen und die darauf aufbauende Politik richtig sind. Man kann leider nicht übersehen, daß der amtierende russische Präsident dem Einfluß autoritärer und nationalistischer Kräfte unterliegt und daß er sich in den Inhalten seiner Politik und im Stil seines Regierungshandelns jedenfalls zur Zeit von seinen demokratischen Überzeugungen weit abgewendet hat.
Es wäre ein Fehler, zu meinen, der Westen könne mit Hinweis auf die Gefährdung des Demokraten Jelzin in Wirklichkeit eine reaktionäre Entwicklung in Rußland unterstützen oder indirekt ermutigen. Deshalb stellen die Vorgänge in Tschetschenien ein äußerstes Warnsignal dar, das wir und der Westen nicht tatenlos und nicht in vermeintlich guter demokratischer Absicht schweigend hinnehmen können. Es gilt, zu protestieren und zu warnen. Auch wenn man weiß, daß man die Entwicklung nicht bestimmt, hat man eine Verpflichtung der Politik und der eigenen Glaubwürdigkeit gegenüber, seine Stimme zu erheben und für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit einzutreten. Man kann eine Demokratie nicht unterstützen, wenn man die Demokraten nicht unterstützt.
Es ist wahr: Wir haben ein vorrangiges Interesse an russischer Stabilität, und wahrscheinlich wären wir auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik ganz unabhängig von der Zusammensetzung einer russischen Regierung oder der Person eines Präsidenten immer verurteilt, diese Stabilität zu suchen und das Risiko von Konfrontation zu mindern. Das bedeutet aber nicht, daß man auf anderen Feldern der auswärtigen Politik alles einfach so tun könnte, wie Sie es tun. Die Destabilisierung Rußlands erfolgt nicht durch das Anmahnen von Demokratie und durch das Anmahnen der Einhaltung internationaler Verträge. Die Destabilisierung erfolgt einzig und allein durch eine Politik, wie sie gegenwärtig im Namen Jelzins und möglicherweise durch ihn selbst betrieben wird.
Ich bin auch sehr skeptisch, Herr Bundeskanzler, wenn Sie sagen, eine denkbare Abspaltung Tschetscheniens werde andere Gebiete ermutigen, sich von Rußland loszusagen, was die Gefahr der Auflösung Rußlands und entsprechende Folgen für die europäische und die globale Sicherheit mit sich bringe. Das mag allgemein richtig sein, aber im Fall Tschetscheniens ist darauf hinzuweisen, daß Tschetschenien schon 1991 seine Unabhängigkeit erklärt hatte und daß in den drei Jahren seiner „staatlichen Eigenständigkeit" diese Ansteckungseffekte nicht eingetreten sind. Es ist aber wohl sehr realistisch, zu befürchten, daß durch die Art des jetzigen russischen Vorgehens bei den Nachbarn und im Nordkaukasus genau das eintritt, was man angeblich zu verhindern versucht.
Andere Völker, wie beispielsweise die Inguschen, leben ebenfalls seit 1991 auf der Grundlage einer autonomen Republik innerhalb der Russischen Föderation. Wenn überhaupt von einem Dominoeffekt oder der Gefahr davon die Rede sein soll, dann wird diese Gefahr durch die Art des Vorgehens und die militärische Intervention Rußlands selbst geschaffen; denn erst jetzt entstehen nationalistische Bewegungen im Nordkaukasus, die ihre jeweiligen Republikführungen auffordern, den Föderationsvertrag aufzukündigen. Moskau, wenn es an der Politik militärischer Intervention festhält, schafft die Ursachen, die es angeblich mit der militärischen Intervention beseitigen will.
Außerdem wird die Art unserer Reaktion, der Reaktion der westlichen Staatengemeinschaft, Folgen haben in Europa selbst. Unter dem Eindruck des russischen Krieges in Tschetschenien gibt es dynamische Prozesse in Europa, die für die Sicherheit und Stabilität des gesamten Kontinents problematisch werden können. Wer völkerrechtliche und internationale vertragliche Abmachungen so übergeht, der weckt bei seinen kleinen Nachbarn schlechte Erinnerungen an die vergangene Hegemonialmacht Sowjetunion. Es ist nicht zu übersehen, daß das Vorgehen Rußlands, aber auch das ungebührliche Schweigen der meisten westlichen Staaten, insbesondere der Bundesregierung, das Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der europäischen Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit gefährdet.
Wer Truppenbewegungen nicht anmeldet, wer die Anmeldung von Truppenbewegungen nicht anmahnt, wer Beobachter nicht oder viel zu spät zuläßt, nämlich erst dann, wenn die Fakten geschaffen sind, oder wer die Zulassung von Beobachtern nicht anmahnt, der gefährdet gerade in den kleineren Staaten das Vertrauen darin, daß die größeren den festen Willen haben, ihre Souveränität unabhängig
Metadaten/Kopzeile:
658 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Rudolf Scharpingvon ihrer Größe zu respektieren und die stabilisierende und Sicherheit fördernde Funktion der OSZE ernst zu nehmen. Wenn Vertragsbrüche eines mächtigen Mitglieds weder sanktioniert noch unterbunden, ja noch nicht einmal offen und rechtzeitig angesprochen werden, hat das politische Wirkungen, an denen niemand interessiert sein darf.
Hinzu kommt, daß das ja ohnehin schon sehr umstrittene GUS-Peace-keeping durch das russische Verhalten und Vorgehen in Tschetschenien fast unmöglich gemacht wird. Welcher Staat, der von Rußland aus als nahes Ausland betrachtet wird, soll denn noch Vertrauen darin entwickeln, daß es nicht um die Herstellung alter Hegemonie, sondern um die Sicherung von Frieden auf der Grundlage gemeinsam geachteter Souveränität geht?Wir sollten nicht verkennen — das ist mein nächster Hinweis —, daß die Vorgänge in Tschetschenien Einfluß auf den Fundamentalismus in islamischen Staaten haben, freilich genau in der umgekehrten Reihenfolge der Ursachen, als Sie, Herr Bundeskanzler, es hier beschreiben. Zunächst einmal will ich Ihnen sagen: Wer im deutschen Parlament den Eindruck erweckt, daß die Vorgänge in Tschetschenien, der islamische Fundamentalismus, gewissermaßen über den Umweg und die Gefährdung der Türkei, und der in Westeuropa stattfindende Terrorismus eine logische Kette bildeten, der schafft dadurch die Rechtfertigung dafür, daß dort vorgegangen wird,
und zwar eine Rechtfertigung, die in der Sache völlig unhaltbar ist.
Denn bisher hat es im Nordkaukasus ernsthafte Probleme der Abspaltung aus religiös-fundamentalistischen Gründen nicht gegeben, aber jetzt entstehen sie, und zwar in einem erheblichen Umfang. Denn das wird zusätzlich genährt, weil ja die Brutalität und Grausamkeit des Einsatzes von denen, die nationalistisch denken, in die Behauptung umgemünzt wird, hier werde dem muslimischen Teil der Bevölkerung in der Russischen Förderation und in den nordkaukasischen Republiken ein bewußter und gewollter Schaden zugefügt.Meine Damen und Herren, wir sollten ebenfalls nicht übersehen, daß wir innerhalb Europas, nicht nur was die Visegrad-Staaten angeht, sondern auch was das Baltikum und andere Staaten, die ich jetzt den Namen nach nicht aufzählen will, angeht, das wachsende Bedürfnis nach Stabilität ernst nehmen müssen, was Folgen haben muß für unsere Haltung bei der Integration solcher Staaten in westliche Sicherheitsstrukturen und in westliche ökonomische Strukturen.
Meine Damen und Herren, ich will also festhalten, daß die Bundesregierung heute und in den letztenTagen allmählich eine Position zu korrigieren begonnen hat, die in der Zeit von vor Weihnachten bis weit in die Mitte des Januar hinein die Position einer unverantwortlichen Beschwichtigungspolitik war,
eine Position, die nicht die Stützung der demokratischen Entwicklung in Rußland und auch nicht die Stärkung der europäischen Stabilität bewirkt hat. Es war eine Politik des Schweigens und des Verschweigens, des kumpelhaften Verständnisses, eine Politik, die für die europäische Sicherheit und Stabilität hochproblematisch ist und von der Sie in Zukunft konsequent, und zwar von Anfang an, Abstand nehmen sollten.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joschka Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute über einen barbarischen, über einen sinnlosen Krieg, über grausames Morden einer nuklearen Supermacht, einer der größten, schlagkräftigsten Armeen der Welt gegen ein kleines Volk im Norden des Kaukasus. Es ist sehr schlimm, was dort passiert, Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister, und wir sind uns ja in diesem Punkte völlig einig. Es geht hier um schlimmste Menschenrechtsverletzungen; es geht hier um die Verletzung des internationalen Rechts, des Völkerrechts; es geht hier um unzählige Schicksale einzelner Menschen; aber es geht auch um die zentrale Frage der europäischen Entwicklung, nämlich um die Zukunft Rußlands.Wenn man das so sieht, dann braucht man all diese Scheindebatten nicht zu führen, die Sie, Herr Bundeskanzler, angesprochen haben.Der Bundesaußenminister hat völlig recht, wenn er sagt: Deutschland will Partner und Freund Rußlands bleiben. Die Kritik setzt nur dort ein, Herr Bundeskanzler, wo wir die Frage stellen, ob der Satz, der dann folgt, nämlich: „Die Bundesregierung setzt auf die Fortsetzung des Reformkurses durch die jetzige russische Regierung", in der Tat vereinbar ist mit der Verletzung von Menschenrechten und dem Zerstören einer friedlichen Perspektive.
Das und nur das ist der zentrale Streitpunkt, über den wir hier sprechen müssen. Da müssen Sie sich schon die Frage gefallen lassen, wieweit die Haltung des Westens — nicht nur die der Bundesregierung —, der vorschnell erklärt hat, es handle sich hier um eine innere Angelegenheit Rußlands — so lauteten wiederholte öffentliche Aussagen des Bundesaußenministers und des Bundeskanzlers sowie anderer westlicher Staatsführungen —, nicht entscheidend dazu beigetragen hat, daß in Moskau der Eindruck entstand: Wir
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 659
Joseph Fischer
haben freie Hand und können zuschlagen. Das ist der entscheidende Kritikpunkt, Herr Bundeskanzler.
Ihre dünnhäutige Reaktion hat dies gezeigt. Es ist nicht nur die Kritik der Opposition, sondern es ist die Kritik, die auch und gerade aus allen Fraktionen in diesem Hause an der Bundesregierung geübt wird.Dies ist deswegen so bedeutsam, weil es jetzt, 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, nach der Befreiung vom Nationalsozialismus, nachdem es endlich gelungen war, Hitler und seine Mordgesellen zu besiegen, keinen Zweifel geben darf: Es geht nicht um eine antirussische Haltung. Deutschland und Rußland haben — da sind wir einer Meinung — Interesse an einem partnerschaftlichen, ja an einem freundschaftlichen und friedlichen Verhältnis. Nur, Herr Bundeskanzler, was ist denn, wenn sich Demokraten wie Autokraten gebärden? Es ist doch unbestritten, daß es sich bei Boris Jelzin in der Vergangenheit um einen mutigen Kämpfer für die Demokratie gehandelt hat.Warum stellt denn Josef Joffe — weiß Gott kein grüner Kommentator — in der „Süddeutschen Zeitung" die zentrale Frage unter der Überschrift „Irreale Realpolitik"? Er könnte damit Ihre Regierung gemeint haben. Ich zitiere:Wer glaubt, daß Boris Jelzin der Garant für ein demokratisches Rußland sei, übersieht, daß es dies en Boris nicht mehr gibt. Wenn sich die neuen „Demokraten" so verhalten wie die alten Autokraten, was ist dann der Unterschied zwischen einem Jelzin und einem Schirinowskij .. .
Genau das war es, was Freundinnen und Freunde aus der Bürgerrechtsbewegung, aus der Memorialgruppe, vor unserer Fraktion vorgetragen haben. Ein russischer Freund hat dort klar gesagt: Wer Jelzin unterstützt, unterstützt Schirinowskij. — Ich weiß nicht, ob das richtig ist. Nur, wenn man sich die Entwicklung anschaut, Herr Bundesaußenminister, dann könnte es sein, daß das Schweigen des Westens in der Tat eine Entwicklung möglich gemacht hat, in der Jelzin längst nicht mehr Herr des Verfahrens ist oder aber sich so verändert hat, daß er ein Verfahren anwendet, das mit Demokratie nichts mehr zu tun hat, und schlicht und einfach Gewalt bis hin zum Mord an einem Volk zum Prinzip seiner neuen Politik gemacht hat. Wenn das richtig ist, dann müssen Sie sich vorwerfen lassen, daß Sie — über die menschliche Tragödie, über die Menschenrechtsverletzungen hinaus — einen schweren Fehler gemacht haben.
Denn, meine Damen und Herren, die Zukunft Rußlands ist nach meiner Meinung eine der beiden entscheidenden Fragen für die Zukunft Europas. Wenn sich dort das Prinzip Gewalt und Autokratie, das alte Prinzip der zaristischen und auch der stalinistischen Diktatur, und nicht die Grundsätze des internationalen Rechts, der Demokratie und einer modernen zivilen Bürgergesellschaft durchsetzen, wenn dort also ein weiteres Mal das Prinzip Macht und Gewalt brutal über Recht und Vertrag siegt, dann fürchte ich um eine friedliche Entwicklung.Es reicht nicht, daß man einfach sagt: Wir haben telefoniert. Es reicht nicht, daß man vorher sogar noch erklärt: Ich sehe keine Veranlassung, mit meinem Freund Boris zu telefonieren. Bei Menschenrechtsverletzungen gibt es kein Einmischungsverbot. Das müssen wir doch aus der stalinistischen Diktatur und der Haltung des Westens gelernt haben.
Bei Menschenrechtsverletzungen gibt es vielmehr nur eines: die Pflicht zur Wahrheit, zur Klarheit und zur öffentlich bekundeten klaren Position. Da hat diese Bundesregierung schmählich versagt, Herr Bundeskanzler.
Deswegen fordern wir, daß die Bundesregierung endlich eine westliche Initiative erreicht, durch die Rußland klargemacht wird, daß von dem Prinzip Macht und Gewalt gegenüber den kleinen Völkern in Rußland und auch im „näheren Ausland", wie es ja mittlerweile heißt, definitiv Abstand genommen wird.
Der Deutsche Bundestag sollte meines Erachtens hier eine klare Position beziehen. Ich fordere alle Mitglieder des Hauses über die Grenzen der Fraktionen hinweg auf, jetzt nicht in das übliche Verfahren der Ausschußüberweisung einzutreten. Wir müssen jetzt vielmehr Stellung beziehen. Wir müssen klarmachen, daß dieser Krieg gegen das tschetschenische Volk auch ein Krieg gegen das russische Volk und die demokratische und friedliche Entwicklung Rußlands ist und daß unsere Haltung nicht antirussisch ist, sondern daß wir auf der Seite von Frieden und Demokratie, auf der Seite der russischen Demokratie und der russischen Demokraten stehen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Karl Lamers.
Frau Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es hat sich ein weiteres Mal gezeigt, daß die unterschiedliche Fraktionsgröße der Oppositionsparteien nicht unbedingt etwas über die Unterschiedlichkeit der Qualitäten, die damit verbunden sind, aussagt.Vieles, was Sie gesagt haben, Kollege Fischer, findet unsere Unterstützung. Es kann gar kein Zweifel sein: Wir müssen an der Seite der Demokraten in Rußland stehen. Es kann doch auch gar kein Zweifel
Metadaten/Kopzeile:
660 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Karl Lamerssein, daß wir das in der Vergangenheit getan haben. Ich habe mir noch einmal die Liste der Aktivitäten angesehen, die meine Fraktion und meine Partei seit vielen Jahren mit russischen Demokraten unternommen haben. Es gab eine Vielzahl von Unterstützungsmaßnahmen. Es ist kein Zufall, daß die CSU bei ihrer Klausurtagung Herrn Gaidar eingeladen hat. Er war übrigens kurze Zeit vorher schon einmal hier und hat mit hochrangigen Gesprächspartnern der Regierung gesprochen. Es kann doch gar keinen Zweifel daran geben, daß wir alle eine gemeinsame Position vertreten.Es kann jedoch auch nicht zweifelhaft sein, daß der Regierungschef dieses Landes, der Bundeskanzler, mit dem Präsidenten der Russischen Föderation gesprochen hat. Haben Sie denn den geringsten Zweifel daran, daß der Bundeskanzler genau das getan hat, was er hier heute gesagt hat, daß er Jelzin gegenüber seine Kritik an dessen Vorgehen und am Vorgehen Rußlands unmißverständlich zum Ausdruck gebracht hat? Daran kann es doch nicht den allergeringsten Zweifel geben.
Wenn man näher hinsieht, dann reduziert sich die gesamte Kritik, die Sie, Herr Scharping, vorgetragen haben, auf den Punkt, der Bundeskanzler habe zu spät telefoniert. Das ist das, was übrigbleibt.
Sie haben in vielen salbungsvollen Worten versucht,
das zu einer Affäre aufzublasen, die in überhaupt keinem Verhältnis zu der Dimension steht, die das tragische Geschehen hat.Ich finde, daß die Dimension des Themas, die Tragik und die Bedeutungsschwere des Geschehens für die weitere Entwicklung Rußlands und seines Verhältnisses zu all seinen Nachbarn nicht zu dem Versuch taugen, von dem ziselierten Kleinkram abzulenken, der in dem dissonanten Chor Ihrer Partei zum Ausdruck kam, wie man es dieser Tage zu bezeichnen beliebte.
Das Thema ist zu ernst, als daß wir es in dieser Weise behandeln können.Kein Wort ist übrigens davon gesagt worden, daß die Bundesregierung an der Spitze aller westlichen Regierungen in den vergangenen Jahren alles nur Denkbare getan hat,
auch mit erheblichen finanziellen Leistungen, aber nicht nur mit solchen, um eine demokratische Entwicklung in Rußland zu befördern. Wer hat denn immer und immer wieder mit Boris Jelzin und den anderen Verantwortlichen in Rußland nicht nur geredet, sondern auch gehandelt und ihnen tatsächlichgeholfen, um dieses ungeheuer schwierige Land auf einen guten Weg zu bringen?Es ist nicht zu übersehen: Der Erfolg ist sehr begrenzt. Bedenkliche Tendenzen gibt es in Rußland seit langer Zeit. Es gibt nicht nur einen wirtschaftlichen Krebsgang, es gibt auch im politischen Bereich bedenkliche Entwicklungen.Es kann nicht übersehen werden, daß der Präsident selber zunehmend mit Dekreten regiert. Aber ist das angesichts der Lage, in der er sich befindet, erstaunlich? Welche anderen Möglichkeiten hat er denn? Wenn hier immer gesagt wird, wir müßten auf die demokratischen Kräfte bauen, dann darf ich darauf hinweisen, daß die Staatsduma den Kurs des Präsidenten unmißverständlich gebilligt hat. Das ist die Wirklichkeit. Es gibt wirkliche Demokraten in Rußland. Wir versuchen, sie zu unterstützen. Daß sie noch sehr schwach sind, ist unübersehbar.Herr Kollege Scharping, darf ich Sie einmal fragen, welche russische Partei Sie in die Sozialistische Internationale aufgenommen haben?
Noch keine, so ist es. Das haben Sie sicher aus wohlüberlegten Gründen getan. Wir haben nach einigem Zögern die Partei Gaidars aufgenommen. Das war eine schwere Entscheidung. Wenn Sie eine andere getroffen haben, kann ich das sehr gut verstehen.Das zeigt aber, daß Ihr Gerede, wir dürften nicht nur auf Jelzin setzen, tatsächlich nur Gerede ist.
Die Demokraten sind nicht so stark, daß sie schon eine wirkliche Alternative zu dem wären, was besteht. Wie könnten sie es auch sein! Der ganze alte Apparat ist ja geblieben. Daß der Prozeß in Rußland ganz ungewöhnlich schwierig und langwierig ist, ist nicht erstaunlich. Was wir uns alle gemeinsam vorwerfen müssen, ist, daß unsere Erwartungen vielleicht zu hoch geschraubt waren. Es wird sehr lange dauern. Ich habe es schon mehrere Male von diesem Pult aus gesagt: Wir alle brauchen einen langen Atem.Ich will eines zugeben. Der Begriff der inneren Angelegenheiten taugt nicht zur Beschreibung unseres westlichen Verhaltens gegenüber den Vorgängen in Rußland. Er ist ohnehin immer weniger geeignet, das Verhalten von Staaten untereinander zu beschreiben, weil alles, was sich in einem Land ereignet, jeweils auch andere betrifft, und wenn es sich um Rußland handelt, ist dies natürlich in einem ganz besonderen Maße der Fall.Auch unsere Hilfe, die wir gegeben haben, die wir weiter geben wollen, weil wir sie auch weiter geben müssen, ist selbstverständlich eine „Einmischung in die inneren Angelegenheiten". Deswegen haben wir das Recht, ja, wir haben auch die Pflicht, klar und unmißverständlich zu sagen, wie unsere Haltung gegenüber dem ist, was in Rußland, was in Tschetschenien geschieht.Wir wollen Rußland nicht ausgrenzen, das ist gesagt worden. Aber Rußland muß sich auch darüber im
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 661
Karl Lamersklaren sein, daß es sich selber ausgrenzt, wenn es sich so verhält, wie es das augenblicklich tut. Es ist auch richtig und notwendig, daß das Parlament — und zwar in der Tat alle Fraktionen — dies deutlicher sagt, als die Regierung es tun kann. Weshalb nicht? Und muß es nicht auch hier ein Rollenverständnis, eine Rollenverteilung zwischen Regierung und Opposition geben?Aber dabei dürfen wir nie das Kind mit dem Bade ausschütten. Ich habe immer gesagt: Wir müssen zur selben Zeit gewissermaßen eine doppelte Haltung haben. Wir müssen Rußland klar, uneingeschränkt, aufrichtig und ehrlich sagen: Wir wollen eure Partner sein. Man sollte im Falle Rußlands auch sagen: Wir wollen eure Freunde sein. Und wir sind es, wir, die Deutschen, ganz gewiß, gerade nach dem schrecklichen Geschehen, das vor 50 Jahren abgelaufen ist, und auf dem Hintergrund dessen, was sich vor fünf Jahren ereignet hat. Der Bundeskanzler hat daran erinnert, daß das Verhalten der russischen Führung — Gorbatschows wie Jelzins — uns auch zu Dank verpflichtet.
Ja, wir wollen Freunde und Partner Rußlands sein. Aber wir müssen Rußland gleichzeitig sagen: Nötigenfalls sind wir auch euer Widerpart. Wir zeigen euch und müssen euch gelegentlich auch zeigen, wo eure Grenzen sind. Denn es ist in der Tat eines der Kernprobleme der gesamten russischen Geschichte, daß Rußland immer grenzenlos gewesen ist, im übertragenen wie im wörtlichen Sinne. Ich wiederhole mich hier — aber bewußt —, wenn ich sage: Wer nicht weiß, wo er endet, weiß auch nicht, wo er beginnt. Es ist in der Tat ein Problem der russischen Identität.Was können wir jetzt tun? Was sollten wir gemeinsam jetzt von der Regierung verlangen? Wir verlangen eindeutig und fordern die Bundesregierung auf, jetzt alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um zu einer wirklich friedlichen, zu einer politischen Lösung des Konflikts beizutragen. Wenn Rußland jetzt das tut, was Sie, Herr Außenminister, gesagt haben, nämlich den Tschetschenen eine wirkliche Autonomie, ein Höchstmaß an Bewegungsfreiheit zu gewähren,
— in der Russischen Föderation —, dann gibt es die Chance zu einer Rückkehr und zu einer Besserung. Darauf wird es jetzt ankommen. Wir sollten unseren russischen Freunden allerdings auch klar sagen: Wenn ihr das nicht macht, dann wird es schlimmer werden.
Dann wird sich der Konflikt ausweiten. Dann könnte das drohende Wort von einem zweiten Afghanistan vielleicht Wirklichkeit werden. Deswegen müssen alle Kräfte, muß der gesamte Westen auf eine friedliche, auf eine politische Lösung in Tschetschenien hinarbeiten. Wenn wir das erreichen, wenn wir dazu einen Beitrag leisten können, dann bedeutet dieses schreckliche Drama vielleicht keine Wende zum Schlechteren, sondern eine Wende zum Besseren.
Das Wort hat jetzt der Kollege Markus Meckel.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das demokratische Rußland war tief enttäuscht von uns in Westeuropa: Sagt es weiter, wie sehr wir uns vom Westen alleingelassen fühlen, insbesondere von Clinton und Helmut Kohl, die uns nicht unterstützt haben, als es darum ging, die Wahrheit über das Unrecht zu sagen und Mord Mord zu nennen. - So klang es uns entgegen, als Björn von Sydow, ein schwedischer Sozialdemokrat, Gert Weisskirchen und ich am vergangenen Wochenende in Moskau mit engagierten demokratischen Duma-Abgeordneten sowie mit Vertretern von Memorial und anderen Menschenrechtsgruppen sprachen.Eines müssen wir aus unserer Geschichte doch gelernt haben: Der erste Akt des Eintretens für Recht und Gerechtigkeit ist das klare und unmißverständliche Benennen des Unrechts und der Gewalt, einer Gewalt, die unschuldigen Menschen vieltausendfachen Tod brachte, begleitet von Propagandalügen bis hin zu rassistischer Diffamierung des tschetschenischen Volkes. Allzu wenige von uns haben sich früh und klar geäußert, die Bundesregierung wie auch unsere westlichen Partner viel zu spät und zu seicht. Ich bin froh, daß sich das jetzt geändert hat.Von der Bundesregierung wurde in den letzten Wochen mehrfach betont, man dürfe Rußland nicht isolieren. Dem ist zuzustimmen, doch das ist nicht die Frage. Rußland hat internationale und völkerrechtliche Verpflichtungen übernommen, bei denen es zu behaften ist. Wer das nicht klar genug tut, tritt damit gerade nicht für eine demokratische Entwicklung in Rußland ein, sondern stärkt eine von den Demokraten in Rußland mit großem Mut und Engagement bekämpfte Entwicklung zu einem autoritären Regime — eine Entwicklung, für die heute leider Jelzin steht.Trotzdem — das ist doch klar — wird man weiter mit ihm reden müssen. Aber auf ihn zu setzen, wie Sie es leider immer wieder verkünden, wäre wohl genau das Falsche. Viel wichtiger dagegen ist der intensive Kontakt zu den demokratischen Fraktionen der Duma, zu allen, die sich wirklich für eine offene und plurale Gesellschaft, für die Freiheit der Presse und die strikte Einhaltung der Menschenrechte einsetzen.
Diese Kräfte sind noch schwach. Um so nötiger brauchen sie die Solidarisierung, das Gespräch und die Unterstützung. Deshalb reicht es auch nicht aus, wenn man mit der Führung in Moskau unter vier Augen oder am Telefon redet. Eine offene und ernstgenommene Bürgergesellschaft braucht zur Vergewisserung und Orientierung die öffentliche Stellungnahme.
Es geht hier nicht um private Männerfreundschaften, sondern um die Außenpolitik Deutschlands, Herr Kohl.
Metadaten/Kopzeile:
662 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Markus MeckelEine verantwortungsvolle Politik hätte Rußland beizeiten darauf hinweisen müssen, daß die russische Reformpolitik unabhängig vom erklärten Willen der Führung durch diesen Krieg schweren Schaden nehmen wird. Das gilt nicht nur für die finanziellen Kosten — der Krieg hat jetzt schon 1 % des Bruttosozialproduktes gekostet —, das gilt auch für die wirtschaftliche Zusammenarbeit im staatlichen und im privaten Bereich.Wir wollen, daß die Reformen weiter vorankommen, doch wird dies von der russischen Politik selber behindert. Man kann fast von einer Selbstsanktionierung sprechen. So mancher westliche Geschäftsmann wird sich bei einer solchen Politik fragen, ob Investitionen in Rußland weiter lohnend sind. Die Ausgaben für den Krieg drohen schon jetzt den Haushalt zu sprengen, von dessen Rahmen weitere Kredite durch den IWF abhängen.Gleichzeitig wird man sich fragen müssen, ob die großzügige Kreditierung eines Haushalts, der zu nicht geringen Teilen in den Krieg fließt, verantwortet werden kann. Rußland muß sich klarmachen, daß es gegenüber Europa wirtschaftlich mehr verlieren als in Tschetschenien militärisch gewinnen kann.
Der von wem auch immer eingeflüsterte, doch von Jelzin zu verantwortende Krieg in Tschetschenien schadet innen- wie außenpolitisch Rußlands eigenen und selbsterklärten Interessen. Die demokratischen und wirtschaftlichen Reformen werden behindert, Investitionen werden in einem auf Gewalt setzenden Staat zurückgehen. Die islamische Welt wird zunehmend Rußland als Gegner wahrnehmen, was nicht gerade zur Stabilität beiträgt. Rußlands Führung isoliert sich von einer von westlichen Werten getragenen Politik.Im letzten Jahr hat sich Rußland deutlich gegen die NATO-Mitgliedschaft der mittelosteuropäischen Länder gewandt und statt dessen erklärt, die OSZE zu einer gesamteuropäischen Sicherheitsstruktur machen zu wollen. Unabhängig von der Haltung zu diesem Konzept ist aber doch klar, daß auf dem Hintergrund der jetzigen Interessen diese Staaten um so mehr unter den Schutzschild der NATO drängen. Rußland hat ja die OSZE dadurch geschwächt, daß, kaum war die Tinte von Budapest trocken, gleich mehrere KSZE-Vereinbarungen gebrochen wurden.Jelzin und seine neuen Freunde glauben, die territoriale Integrität Rußlands mit militärischer Gewalt sichern zu müssen. Doch dieser Krieg konterkariert dieses Ziel.
Wenn Jelzin heute einerseits erklärt, zu Verhandlungen bereit zu sein, gleichzeitig aber glaubt, sich seine Verhandlungspartner aussuchen zu können, und Gespräche mit Dudajew, den man ja nicht schätzen muß, weiterhin ablehnt, ist das noch kein Hoffnungszeichen. Verhandlungen sind nur möglich, wenn beide Seiten ihre Verhandlungspartner selbst benennen. Eine Lösung wird es nur geben, wenn diese Verhandlungen in freie Wahlen in Tschetschenien münden und die Bevölkerung die Möglichkeit hat, ihre Staatlichkeit selbst zu bestimmen.Ein demokratischer Staat lebt von der Anerkennung seiner Bürger. Militärisch läßt sich die Einheit eines demokratischen Staates nicht erhalten, schon gar nicht mit Krieg und Terror. Die Wahrscheinlichkeit der territorialen Integrität eines Rußland mit seinen kolonialen Bestandteilen ist durch den tschetschenischen Krieg gerade geringer geworden.Wir haben kein Interesse am Zerfall Rußlands; aber wir haben ein existenzielles Interesse an Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Rußland.
Sie sind der höchste Wert und die wichtigste Aufgabe für die Sicherheit in Europa und in Rußland selbst. Damit stehen wir nicht nur in einer Werte-, sondern auch in einer Interessengemeinschaft mit Rußlands demokratischen Kräften. Das sollten wir sie mehr spüren lassen als bisher. Die westliche Fixierung auf eine zaristisch anmutende Führungsspitze mit einem politbüroähnlichen Sicherheitsrat muß vorbei sein. Rußlands Demokraten erwarten unsere Solidarität und sollen sie um Europas willen endlich erhalten.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Andrea Lederer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist in meinen Augen, Herr Bundeskanzler, eine Unverfrorenheit, einen brutalen Krieg, auf den Ihre Regierung in keiner Weise angemessen reagiert hat, zum Anlaß für billige parteipolitische Polemik zu nehmen. Es ist ebenso unverfroren, die Verhältnisse in der DDR — bei allem Unrecht, das dort geschehen ist, zu dem wir uns geäußert und für das wir uns entschuldigt haben — in Vergleich zu diesem barbarischen Krieg in Tschetschenien zu bringen. Das zeigt, daß Sie, Herr Bundeskanzler, jegliches Gespür für die Relationen verloren haben.
Der Krieg muß heute und sofort beendet werden. Nicht eine einzige Granate, nicht eine Kugel darf mehr abgeschossen werden. Dagegen gibt es keine Argumente; es gibt für den Krieg keine Rechtfertigung. Krieg ist kein Mittel zur Lösung politischer Konflikte. Das gilt sowohl innerhalb eines staatlichen Territoriums als auch zwischen Staaten. Krieg bedeutet Tod, unendliches Leiden. Krieg trifft vor allem die Zivilbevölkerung, alte Menschen, Frauen, Kinder. Es muß heute und sofort Schluß sein mit dem Töten, Verletzen und Vertreiben in Tschetschenien.
Wenn gestern Staatsminister Schäfer im Auswärtigen Ausschuß die Legende zu entwerfen versuchte, die Bundesregierung habe wohl schon immer auf alle demokratischen Kräfte in Rußland gesetzt, nicht nur auf Präsident Jelzin, dann hat ihn der Bundeskanzler heute eigentlich eines Besseren belehrt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 663
Andrea LedererWenn Sie, Herr Bundeskanzler, diese Formulierung auszusprechen wagen, ein Freund sei in Schwierigkeiten gekommen, dann muß man Sie hier wohl noch einmal darauf hinweisen, daß dieser Ihr Freund andere Menschen nicht nur in Schwierigkeiten gebracht hat, sondern daß er sie derzeit Tod, Verletzung und Vertreibung aussetzt.
Das zeigt, daß Sie ein machtpolitisch begründetes, taktisches Verhältnis zur Demokratie als Weg und Ziel, ein taktisches Verhältnis zur Achtung der Menschenrechte und ein taktisches Verhältnis zum Selbstbestimmungsrecht der Völker haben.
Wenn ich hier vom Selbstbestimmungsrecht der Völker rede, Kollege Irmer, dann ist damit eben nicht unbedingt der weitere Zerfall, die Sezession gemeint, sondern dann ist damit der Versuch gemeint, eine politische Lösung für ein friedliches Zusammenleben in unterschiedlichen Formen und unterschiedlicher Verfaßtheit zu finden.Kollege Einsiedel sagte, daß kein vernünftiger Mensch den weiteren Zerfall der russischen Föderation sorglos wollen kann. Aber es ist eben nicht nur Dudajew, der Fehler dabei gemacht hat, unterhalb der Schwelle der Sezession eine friedliche Lösung politisch herbeizuführen, sondern es ist vor allem die Regierung Jelzin, die in dieser Frage Fehler gemacht hat. Der unverzeihlichste Fehler dabei ist, diesen Konflikt mit militärischen Mitteln lösen — wie es so verharmlosend heißt —, ersticken und durch Tod und Vertreibung beenden zu wollen.Wir fordern Sie deshalb nicht nur auf, alles zu unternehmen, um internationale Mechanismen in Gang zu setzen, was schon längst hätte passieren müssen; wir fordern Sie nicht nur auf, die Unterstützung ziviler Organisationen für die notleidende Bevölkerung in Tschetschenien weit zu erhöhen, sondern wir fordern Sie auch auf, militärische Kooperationen, sei es im Bereich des Rüstungsexports, sei es im Bereich gemeinsamer Manöver oder ähnlicher Planungen, auszusetzen, weil es wohl nicht angehen kann, so etwas weiter mit einem Staat zu praktizieren, mit dem wir in freundschaftlichem, in partnerschaftlichem Verhältnis leben wollen, der sich derzeit aber im Krieg mit der eigenen Bevölkerung befindet.Wir fordern Sie auch auf, konkret und offiziell Verbindungen zu denjenigen aufzunehmen, die gegen diesen Krieg eintreten — und das sind sehr viele verschiedene Kräfte innerhalb Rußlands —, nicht nur darüber zu reden und das nicht nur unter dem Mantel der Verschwiegenheit zu tun, sondern offiziell zu zeigen, daß Sie die Kräfte unterstützen, die gegen diesen Krieg eintreten und die sich gegen den Versuch, Konflikte militärisch lösen zu wollen, engagieren.
Dazu gehörigen übrigens auch Teile der russischenArmee, die den Befehl verweigert haben, wofür meines Erachtens wirklich nur Hochachtung ausgesprochen werden sollte.
Wir fordern Sie auch auf, für den Fall, daß Deserteure Repressalien ausgesetzt sind, diesen Zuflucht in diesem Land zu gewähren und ihnen zu ermöglichen, hierherzukommen.
Denn auch diese verdienen meines Erachtens unseren Respekt, weil sie mutig und mit den entschiedensten Mitteln zeigen, daß sie versuchen wollen, diesen Krieg zu beenden — durch den Einsatz ihres eigenen Lebens.Wir haben ein kleines Problem mit dem GRÜNEN-Antrag — das will ich zum Schluß erwähnen —: Die Einstellung des Exports von Waren von strategischer Bedeutung kann unter Umständen zu wirtschaftlichen Sanktionen führen. Wir halten so etwas für kontraproduktiv, weil es nicht darum gehen kann, erneut die russische Zivilbevölkerung zu treffen.
Sie müssen jetzt zum Schluß kommen.
Es kann nur darum gehen, den Export militärischer Güter zu stoppen. In diesem Sinne werden auch wir — wenn es so gemeint sein sollte — diesem Antrag zustimmen.
Ich danke.
Das Wort hat jetzt der Kollege Christian Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die letzte Rednerin hat wieder versucht, an einer Legende zu stricken, die leider den ganzen Vormittag von Vertretern der Opposition in den Raum gestellt wird, so als ob niemand in Deutschland, niemand aus den Koalitionsparteien, niemand aus der CSU und niemand aus der CDU mit anderen als mit Boris Jelzin reden würde.Nachdem Herr Verheugen die zweifelnde Frage an den Kollegen Lamers gestellt hat, darf ich Sie darüber informieren, daß die CDU/CSU mit ihrer internationalen Organisation, der Internationalen Demokratischen Union, vor einer Woche in London die Partei „Rußlands Wahl" von Jegor Gaidar in ihre Reihen aufgenommen hat. Wir pflegen sehr enge Kontakte im Rahmen der Europäischen Demokratischen Union. Wir haben da wirklich überhaupt keinen Nachholbedarf, ganz im Gegenteil. Wir würden gerne hören, wie Sie mit Ihren kommunistischen Partnern und Freunden umgehen, die in der Duma mit Herrn Schirino-
Metadaten/Kopzeile:
664 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Christian Schmidt
wskij gestimmt haben, und wie Sie Ihren Einfluß auf die zweifelhaften Freunde ausüben, die Sie dort haben.
— Herr Verheugen, Sie haben mir vorhin nicht zugehört. Frau Präsidentin, ist eine Zwischenfrage zugelassen worden?
Ich wollte von Herrn Verheugen eigentlich keine haben.
— Er hat eine Frage gestellt.
— Ich habe die Frau Lederer angesprochen.
— Hören Sie doch zu, Herr Verheugen.
— Vorhin habe ich Sie angesprochen. Sie haben eine Frage gestellt; ich habe sie beantwortet.
Wenn Sie sich angesprochen fühlen, wenn ich von Kommunisten rede, ist das Ihr Problem, Herr Verheugen, nicht das meinige.
Boris Jelzin ist der demokratisch gewählte Staatspräsident Rußlands. Mit ihm muß, soll und kann geredet werden. Es ist etwas eigentümlich, wenn die Opposition während der ganzen Debatte langsam, aber sicher von den eigentlichen Problemen abzugleiten versucht. Die klugen, besonnenen und verantwortungsbewußten Gespräche, die natürlich geführt worden sind — nicht bei jedem Telefongespräch, das der Bundeskanzler mit Boris Jelzin führt, sind die Deutsche Welle oder andere Rundfunkanstalten automatisch angeschlossen —, werden hoffentlich ihre Wirkung entfalten. Es ist ein ganz wichtiger Punkt, wie der Menschenrechtsbeauftragte Kowaljow gestern gesagt hat, daß auf diesem Weg die Position des Westens dargestellt wird, in der Hoffnung, daß der schwere Fehler, den die russische Regierung durch ihre Entscheidung, in Tschetschenien militärisch einzugreifen, begangen hat — darüber sind wir uns wohl alle einig —, nicht dazu führt, daß die demokratische Entwicklung Rußlands insgesamt in Frage gestellt wird.Wenn wir über Außenpolitik reden — bei der Außenpolitik müssen wir manchmal auch über „fein ziselierte, kleinkrämerische Dinge" reden —, dann dürfen wir unsere Erinnerung nicht erst im Dezember 1994 beginnen lassen. Ich darf darauf hinweisen, daß Boris Jelzin für uns bisher ein Garant der Stabilität gewesen ist. Gerade wir Deutschen, die das Datum 31. August 1994 in späteren Jahren vielleicht einmal mit sehr viel mehr Nachdruck schreiben werden, als es heute in der Debatte den Eindruck hatte, sollten uns daran erinnern, daß die Verpflichtungen, die Boris Jelzin in verbindlicher Art und Weise eingegangen ist, eingehalten worden sind.
Das gibt uns die Hoffnung, daß nach der Verletzung internationaler Vereinbarungen zukünftig Verpflichtungen von ihm wieder eingehalten werden. Das hat nichts mit einem taktischen Verhältnis zu Menschenrechten zu tun.Ich darf einen Zwischenruf aufnehmen, der bei der Rede des Kollegen Lamers fiel, als er darauf hingewiesen hat, daß Deutschland seit Jahren, seit 1989/90, intensiv und zuvörderst, an allererster Stelle, im Finanziellen, im Wirtschaftlichen und im Politischen die demokratische Entwicklung in Rußland zu stabilisieren versucht, und zwar doch aus unserem eigenen Interesse heraus. An dieser Stelle wirft aus den Reihen der SPD ein Zwischenrufer — der zugegebenermaßen auch in deren Reihen nicht als besonders qualifiziert bekannt ist — „um so schlimmer" ein. Was soll das denn sein: um so schlimmer? Das zeugt allenfalls davon, daß Sie in Ihrer Partei bei der grundsätzlichen Linie gegenüber Rußland überhaupt nicht vorangekommen sind, daß Sie den Begriff Interesse, deutsches Interesse, europäisches Interesse, das die Außenpolitik im wesentlichen prägt und auch prägen soll, in Ihr Kalkül überhaupt noch nicht einbezogen haben.
Ich hoffe, daß das in einer gemeinsamen Bewertung der Situation in Tschetschenien in Zukunft berücksichtigt wird. Ich hoffe, daß wir alle zusammen eine Möglichkeit haben, gemeinsam von diesem Haus aus die Botschaft nach Moskau zu bringen, daß wir im deutschen, im russischen und im europäischen Interesse zwar bereit sind, nach wie vor die Hand zu reichen, daß wir aber mit genau der gleichen Entschiedenheit, wie es die Bundesregierung, wie es die Union, wie es die Koalition und wie es sicher auch die Kollegen von der Opposition, die letzte Woche aus Moskau zurückgekommen sind, getan haben, deutlich machen, daß Fehler und daß gravierende Menschenrechtsverletzungen korrigiert werden müssen, daß wir alle einen sofortigen Waffenstillstand ohne Vorbedingungen fordern und die russische Armee, aber auch die tschetschenischen Kämpfer auffordern, die Waffen niederzulegen.Ich habe im Verlauf der Debatte den Eindruck gehabt, daß man sich etwas zu wenig mit der Person Dudajew beschäftigt hat. Wir sollten nicht der Versuchung unterliegen, Herrn Dudajew heiligsprechen zu wollen.
Die Art und Weise seiner Machtübernahme in Tschetschenien ist, an unseren demokratischen Prinzipien
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 665
Christian Schmidt
gemessen, sehr zweifelhaft gewesen. Ein autoritärer Regionalpräsident, der die tschetschenische Opposition hart unterdrückt, eignet sich mit Sicherheit nicht für ein mit kräftigen Farben gemaltes Bild eines leuchtenden Freiheitshelden.In den zurückliegenden Jahren hat es eine ganze Reihe von nicht gerade demokratischen Gepflogenheiten entsprechenden Verhaltensweisen auch auf tschetschenischer Seite gegeben, die die schwierige Situation verschärft und nicht gemildert haben. Wir wissen, daß die russische Regierung im Gegensatz hierzu im Februar 1994 mit der autonomen Republik Tatarstan eine vertragliche Abmachung über die gegenseitige Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Zentralstaat und autonomer Republik geschlossen hat. Fragen Sie mich nun nicht nach den Feinheiten des russischen Verfassungsrechts, wie das vertraglich alles einzubinden ist, aber das politische Faktum steht, daß es ja auch innerhalb der russischen Föderation Modelle gibt, über die man reden kann.Unser Freund Jegor Gaidar — unser Parteipartner Jegor Gaidar, den die CSU in Wildbad Kreuth in einer ausführlichen Debatte zu Beginn dieses Jahres befragt hat und der uns Auskunft gegeben hat — hat gerade auch auf diesen Fall und dieses Beispiel hingewiesen und gesagt, daß durchaus auch innerhalb der russischen Föderation diese Möglichkeit bereits praktiziert worden ist und nur der Weg hierzu zurückgefunden werden muß, nämlich einen vernünftigen Ausgleich zwischen zentralen Interessen und föderalen Interessen zu suchen und zu finden. Daß die CSU gerne bereit ist, im Hinblick auf föderale Strukturorientierungen Unterstützung und Beratung zu gewähren, versteht sich von selbst.
Ich will aber noch einmal auf die Kritik seitens der SPD an der Bundesregierung eingehen. Bei einigen Kollegen, die sich mit markigen Worten — auch gestern im Auswärtigen Ausschuß — geäußert haben, liegt die Frage auf der Hand, wie denn das vor 10 oder 20 Jahren gewesen ist, mit wem Sie da gesprochen haben, als es um die Frage der Menschenrechte ging, und zwar ob in allererster Linie Herr Sacharow oder andere Ihre Gesprächspartner gewesen sind. Leider haben wir zu dieser Zeit eher ein Daherkommen auf Wollsocken, ein Leisetreten, gemerkt und gesehen, als es darum ging, klar deutlich zu machen, daß Menschenrechte in der Sowjetunion verletzt werden.„Kalter Krieger" wäre dem entgegengerufen worden, der sich um die Menschenrechte gekümmert hat, und das sind wir gewesen. Das war die Union! Das lassen wir uns auch nicht bestreiten. Deswegen gilt: Wenn nach moralischen Rechtfertigungen und moralischen Begründungen gefragt wird, dann braucht sich die Union überhaupt nicht zu verstecken
und von niemandem Belehrungen anzunehmen.
Da gab es führende Vertreter der SPD, die den Bogen um Solidarnosc in Polen gemacht haben. Da gab es Reisen, bei denen man nicht mit Dissidenten gesprochen hat.
Insofern glaube ich, daß allenfalls zu hoffen ist, daß die SPD dazugelernt hat. Sie sollte aber keine Belehrungen austeilen.
Der verstorbene SPD-Vorsitzende und frühere Bundeskanzler Willy Brandt hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „Über den Tag hinaus". Die Politik der Bundesregierung, die Politik des gesamten Westens gegenüber Tschetschenien muß eine Politik über den Tag hinaus sein. Die Politik gegenüber Tschetschenien muß einerseits mit unerbittlicher Deutlichkeit, mit Schärfe die Menschenrechtsverletzungen anklagen und die Einhaltung internationaler Verträge einfordern. Sie muß andererseits aber auch unser Interesse im Auge haben, daß wir Rußland als einen Partner im europäischen Haus halten wollen, daß wir nicht eine alte Grenze in Europa, die Ausfluß des alten Blockdenkens ist, nur ein paar hundert Kilometer weiter nach Osten verschieben wollen, wie Timothy Garton Ash schreibt. Wir wollen nicht ein Jalta 2 haben, sondern wir wollen auf einer neuen Basis mit einer demokratisch verfaßten großen Macht im Osten Europas zusammenarbeiten.Auf diesem Wege sollten wir uns auch nicht beirren lassen. Es wird im Interesse Deutschlands und Europas sein, daß wir dies tun.Es ist wichtig, daß Rußland auch Vertrauen zu seinen Nachbarn hin bildet. Das heißt, daß über den Begriff nahes Ausland und seine Verwendung innerhalb der Militärdoktrin geredet werden muß. Das heißt, daß es an der Zeit ist, daß die Europäische Union und Rußland klarstellen und unterstreichen, daß die Staaten Mitteleuropas das Recht der freien Selbstbestimmung haben und Bündnissen, die sich wie die NATO gegen niemanden richten, die rein defensiven Charakter haben, beitreten dürfen.Ein Weiteres muß gesagt werden: Rußland soll und braucht sich nicht in die Ecke gedrängt zu fühlen. Rußland wird aber um so mehr geachtet werden, als es internationale Verpflichtungen einhält. Deswegen ist dringend zu empfehlen, daß die KSZE-Beschlüsse und auch die KSE-Vereinbarungen, die erst noch in Kraft treten, beachtet werden. Ich halte in diesem Zusammenhang die Diskussion über eine Revision der KSE-Vereinbarungen mit einer zugestandenen erhöhten Militärpräsenz an der südlichen Peripherie Rußlands gegenwärtig für überhaupt keinen angemessenen Verhandlungsgegenstand.
Rußland steht der Weg zu einer Partnerschaft mit Europa nach wie vor offen. Es liegt aber nicht in erster Linie an uns, sondern an den Russen selbst, ob Rußland diesen Weg beschreiten will. Rußland hat die Bringschuld, den Weg, den es eingeschlagen hat, auch einzuhalten. Das wird nicht in erster Linie von uns zu bestimmen sein, nicht mit Geld und guten Worten.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Metadaten/Kopzeile:
666 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Es wird aber unsererseits die Bereitschaft bestehen, wenn in Rußland weiterhin der demokratische Weg beschritten wird, mit Unterstützung aller demokratischen Kräfte und derer, die Verantwortung tragen, Rußland einen Weg ins europäische Haus zu bahnen.
Herzlichen Dank.
Es spricht jetzt als letzter zu diesem Tagesordnungspunkt der Kollege Gert Weisskirchen.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Schmidt, Sie haben eben auf einen bestimmten Punkt aufmerksam gemacht. Ich möchte Sie daran erinnern — auch Sie, Herr Bundeskanzler Kohl, weil Sie das vorhin in Ihrem Debattenbeitrag so betont haben —: Es weir einer Ihrer Vorgänger, nämlich Willy Brandt, der, als sich die Menschenrechtssituation in der damaligen Sowjetunion zuspitzte, das Angebot unterbreitet hat, daß Alexander Solschenizyn nach Deutschland kommen konnte. Und er kam. Das war Willy Brandt.
Willy Brandt hat in einem anderen als dem von Ihnen erwähnten Buch deutlich gemacht, daß links und frei keine Gegensätze sind, sondern daß die Freiheit auf der linken Seite dieses Hauses immer ihren klaren Platz gehabt hat. Wir als Sozialdemokraten brauchen von Ihnen keinerlei Hinweise darauf, was wir von Menschenrechten zu halten und wie wir sie zu verteidigen haben, lieber Herr Kollege Schmidt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schmidt?
Bitte schön.
Herr Kollege, sind Sie mit mir der Ansicht, daß der von Ihnen zitierte Alexander Solschenizyn als ein wesentlicher Vertreter der russischen Intellektuellen von uns allen gebeten werden sollte, in der jetzigen Zeit eine klare Aussage für eine westliche, für eine freiheitlich-demokratische Orientierung Rußlands zu machen? Sind Sie mit mir der Meinung, daß wir — Sie bei Ihrer Reise letzte Woche, ich bei meiner Moskau-Reise am Sonntag — Wert darauf legen müssen, daß alle, die in der damaligen Zeit gegen das System gestanden haben, heute für die Demokratie stehen?
Lieber Kollege Schmidt, ich teile Ihre Meinung, die Sie hier äußern. Vielleicht ist Ihnen aber entgangen, daß Alexander Solschenizyn gerade mit Blick auf diese Krise in Tschetschenien gesagt hat — gerichtet an die Regierung in Moskau —: Laßt sie doch gehen! Was sollen wir einen Krieg führen, der dazu führt, daß die russische Demokratie in diesem Krieg zerstört wird!? Das ist Alexander Solschenizyn heute. Ich finde, in diesem Punkt sollten wir ihn gemeinsam unterstützen.Dazu gehört auch, lieber Herr Kollege, lieber Herr Außenminister Kinkel, daß Sie in der Analyse dessen, was dort in Rußland vor sich geht, etwas sorgfältiger argumentieren müssen. Auch Herr Seiters hat das angesprochen: Es geht nicht alleine darum, daß Rußland in diesem Prozeß zerfallen könnte und zerfällt. Vielmehr geht es darum, daß die Zukunftschancen der Demokratie in Rußland zerfallen. Das ist das entscheidende Problem.
Es kommt darauf an, daß wir dafür sorgen, daß die Demokratie in Rußland eine Chance hat — soweit wir das überhaupt vermögen. In erster Linie heißt das, dafür zu sorgen, daß die Kräfte, die in Rußland für die Demokratie stehen, von uns vorbehaltlos unterstützt werden.
Die Kolleginnen und Kollegen aus der Staatsduma, von den Menschenrechtsgruppen, von Memorial bis hin zur Helsinki-Gruppe, haben uns in der letzten Woche gesagt: „Wir erwarten von euch, von den Parlamenten in Westeuropa, von den Schweden, von den Holländern" — ich begrüße in diesem Zusammenhang unseren Kollegen Marten van Traa aus dem holländischen Parlament, den ich gerade sehe —, „daß ihr eure Stimme erhebt. Es geht um unser Schicksal in Rußland. Es geht um unsere Demokratie. Es geht um unsere Zukunft. Ihr müßt jetzt eure Stimme laut erheben!" Ich finde, es verdient Kritik an der Bundesregierung, daß die Kolleginnen und Kollegen uns mahnen müssen, hier in Bonn und anderswo auf dieses Problem aufmerksam zu machen.Vielleicht muß man auch daran erinnern, lieber Kollege Schmidt, daß z. B. die Journalisten der Iswestija — ob das Otto Lazis, ob das Marina SilvanskajaPavlova ist oder ob es die vielen anderen Kolleginnen und Kollegen sind, die wir kennen —, die mit großem Mut und unerschrocken sagen, was sie denken, jetzt die Sorge haben, der Druck aus der Administration von Jelzin werde so stark, daß sie nicht mehr schreiben können, was sie schreiben wollen. Sind das nicht Alarmzeichen? Ist es nicht ein Alarmzeichen, daß , Jelzin selbst eine Trendverschiebung nach rechts vollzogen hat? Deutet das nicht darauf hin, daß er sich selbst nicht mehr aus der Fessel, in die er sich begeben hat, aus dem Autoritarismus, befreien kann? Angesichts dieser Trendverschiebungen können wir doch nicht einfach nur sagen: „Wir unterstützen Jelzin, koste es, was es wolle." — Nein, wir müssen jetzt die demokratischen Bewegungen und Gruppen in Rußland unterstützen, und zwar so, daß die Zukunft Rußlands gut wird.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Dramatik der Ereignisse, die in Tschetschenien vor sich gehen, kann, so glaube ich, nur der ermessen, der es selbst gesehen hat. Deshalb finde ich es gut, daß ein Vorgänger von Ihnen, Herr Bundeskanzler Kohl, nämlich Helmut Schmidt, Sergej Kowaljow für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen hat. Ich finde, es ist ein gutes, ein ermutigendes Zeichen, daß diejenigen, die sich in Tschetschenien praktisch und konkret um
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 667
Gert Weisskirchen
Menschenrechte bemühen, unterstützt werden. Ich finde, wir sollten diesen Vorschlag von Helmut Schmidt gemeinsam unterstützen.
Eines, Herr Kollege Schmidt, möchte ich doch noch ganz deutlich herausarbeiten. Ich folge Ihnen an diesem Punkt sehr klar. Dudajew hat noch im vorvergangenen Jahr gegenüber der Administration in Moskau angeboten, es könne eine Lösung der Verfassungskonflikte zwischen Moskau und Grosny auf der Grundlage des sich anbahnenden Modells Tatarstans geben. Sie wissen, im Februar 1994 ist dieses Modell realisiert worden. Das heißt, daß es Möglichkeiten der regionalen Autonomie, ja weit hinein bis in die eigene Selbstverwaltung gibt, die noch nicht in der russischen Verfassung so vorgesehen waren. Warum sollte denn dieses Modell Tatarstan nicht auch in Tschetschenien angewendet werden? Warum nur hat Jelzin diesen Vorschlag von Dudajew abgelehnt? Das müßte doch gefragt werden. Warum nur hat er diese Chance nicht genutzt, daß z. B. Jelzin und Dudajew gemeinsam dagegen gekämpft haben, daß in Moskau die Putschisten die Oberhand gewinnen? Dudajew und Jelzin sind, was das anbetrifft, Freunde gewesen. Sie haben gemeinsam gegen den Autoritarismus gekämpft.Ich würde mir wünschen, daß wir durch den OSZE-Mechanismus genau das in Gang setzen, worauf es meiner Meinung nach jetzt ankäme. Wenn die beiden Kriegsparteien, Konfliktparteien sich gegeneinander ausschließende Vorschläge haben — also Rußland sagt: Tschetschenien muß unbedingt integraler Bestandteil bleiben, und Tschetschenien sagt: Wir wollen unbedingt unabhängig werden —, dann sind das Ausgangspositionen, die nicht zueinander kommen können. Gerade in diesem Verhältnis und in diesem Zusammenhang muß die OSZE geradezu versuchen, einen Mechanismus in Gang zu setzen, die beiden Parteien, wenn sie nicht in der Lage sind, Kompromisse einzugehen, an einen gemeinsamen Tisch zu bringen. Also: Die Aufgabe der OSZE als Mediator, als Vermittler, als einer, der gute Dienste leisten und anbieten kann, ist jetzt gefordert.Der Vorwurf, der von uns an Sie gerichtet wird, ist nur der, aber der sehr klar: Wo sind Sie geblieben, als es darum ging, diesen Mechanismus der OSZE wirklich in Gang zu setzen? Das hätte schon sehr viel früher geschehen müssen als jetzt. Jetzt ist es vielleicht schon — ich hoffe nicht — zu spät. Ich wünsche es natürlich nicht. Nur ich wünsche mir, daß jetzt alles darangesetzt wird, Herr Außenminister. Vielleicht besteht die Chance, daß man unsere Anträge so miteinander verknüpft, daß es einen gemeinsamen Antrag des Bundestages gibt, um zu diesem Ziel zu kommen, einen Kompromiß zu erarbeiten, der eine Grundlage bietet dafür, daß die Zukunft Europas nicht so weitergeht, wie es sich in Tschetschenien zeigt. Es ist unsere gemeinsame Zukunft in Europa, die auf dem Spiel steht.
Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat gebeten, für die ausstehenden zwei Minuten noch einmal den Kollegen Fischer reden zu lassen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es erreichte mich eben, Herr Bundesaußenminister, mit meiner täglichen Post ein Brief eines Frankfurter Bürgers.
— Hören Sie zu! Er hat mir eine Kopie einer Antwort vom 12. Januar 1995 in Ihrem Auftrag, aus dem Auswärtigen Amt, zugeschickt. Das muß ich kurz vorlesen. Dort steht:
Sehr geehrter Herr!
Der Bundesminister des Auswärtigen, Herr Dr. Klaus Kinkel, hat mich beauftragt, Ihnen für Ihr Schreiben zur Lage in Tschetschenien zu danken und es zu beantworten.
Auf Seite 2 heißt es — jetzt bitte ich Sie, zuzuhören —:
Allerdings teilt die Bundesregierung — die Bundesregierung! —
die in der Öffentlichkeit häufig geäußerte Einschätzung nicht, daß in Tschetschenien von seiten der russischen Regierung gezielt gegen ein wehrloses, unschuldiges Volk Krieg geführt werde. Tatsächlich kämpfen die russischen Truppen in Tschetschenien, wie deren hohe Verluste zeigen, gegen schwerbewaffnete, illegale Einheiten von erheblicher Kampfstärke, die sich in Grosny und anderen von Zivilisten bewohnten Orten verschanzt haben. Durch die Wahl ihrer Zuflucht, etwa in Wohnhäuser, nehmen sie billigend in Kauf, daß auch unschuldige Zivilisten Opfer der Kampfhandlungen werden. Die Bundesregierung ist überzeugt,
daß die russische Regierung bei ihrem Beschuß von Grosny versucht, ausschließlich militärisch genutzte Ziele zu treffen, ihr dies jedoch zum Teil nicht gelingt.
Ich bitte Sie, Stellung dazu zu nehmen, ob dies die Haltung der Bundesregierung ist.
Das Wort hat der Außenminister.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin selbstverständlich gerne bereit, dazu Stellung zu nehmen.Erstens. Ich kann nicht anzweifeln, daß es sich um einen Brief handelt, der von irgend jemandem aus
Metadaten/Kopzeile:
668 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Bundesminister Dr. Klaus Kinkeldem Auswärtigen Amt geschrieben worden ist. Das Auswärtige Amt hat viele Mitarbeiter.
— Moment!Ich habe natürlich für Briefe aus dem Auswärtigen Amt, die ich nicht gesehen habe — diesen habe ich mit absoluter Sicherheit nicht gesehen —, die politische Verantwortung zu tragen. Nur, damit das klar ist.Zweitens. Das, was in diesem Brief steht, billige ich nicht.Drittens. Einen solchen Brief hätte ich persönlich nicht geschrieben.Viertens. Sie könnten wahrscheinlich in allen Bereichen solche Briefe zitieren. Ich sage noch einmal: Ich trage die politische Verantwortung dafür; ich werde der Sache nachgehen. Ich kann aber nicht jeden aus dem Auswärtigen Amt herausgehenden Brief kontrollieren; das werden Sie mir wohl zubilligen. Insofern — seien Sie mir nicht böse — finde ich es ein wenig billig, daß Sie das hier so vorgebracht haben.
Ich erteile dem Abgeordneten Voigt zu einer Kurzintervention das Wort.
Herr Bundesaußenminister, ich nehme Ihnen sofort ab, daß Sie die Äußerung, wie sie in diesem Brief niedergelegt ist, heute mißbilligen. So wie ich die Verhältnisse im Auswärtigen Amt aber über die Jahre habe beobachten können und auch jetzt beobachte, werden solche Briefe nicht von irgendwelchen Mitarbeitern abgefaßt, sondern in Abstimmung mit der offiziellen Politik des Hauses. Derjenige, der diesen Brief formuliert hat, hatte zu dem Zeitpunkt den Eindruck, daß die politische Führung des Hauses und die Bundesregierung insgesamt diese Linie verfolgt.
Insofern werden mit diesem Brief alle unsere Bedenken und unsere Kritik bestätigt, die wir in dieser Debatte aufgebracht haben, daß Sie die Lage in Tschetschenien und die Politik der russischen Regierung bis in die letzten Wochen hinein falsch eingeschätzt und verharmlost haben. Daß Sie das in letzter Minute, in der heutigen Debatte korrigieren und diesen Brief jetzt verurteilen, ist richtig. Es ist aber völlig falsch, in diesem Augenblick die Schuld auf einen Referenten zu schieben, der sich damals in Übereinstimmung mit der offiziellen Haltung der Bundesregierung befand bzw. meinte sich befinden zu können.
Deshalb ist dieser Brief, von dem Sie sich heute glücklicherweise distanziert haben, eine Bestätigung für unsere Kritik an der Haltung der Bundesregierung in den ganzen letzten Wochen.
Ich erteile dem Herrn Bundeskanzler das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe mit meinen politischen Freunden sofort übereingestimmt, daß man den Versuch machen sollte, vielleicht in der morgigen ersten Sitzungsstunde, eine gemeinsame Entschließung zustande zu bringen. Ungeachtet der verschiedenen Positionen, auch der verfassungsmäßigen Stellung von Parlament und Regierung, kann dies die Politik der Bundesregierung, die in den Grundsätzen überhaupt nicht von dem abweicht, was hier diskutiert wurde, unterstützen.
Herr Abgeordneter Fischer, Sie haben einen Brief von einem Referenten aus dem Auswärtigen Amt. Und der Kollege der SPD geht hier ans Pult und erklärt: Das ist der wahre Geist. Ich war viele Jahre Regierungschef in einem Bundesland, war viele Jahre Regierungschef in Bonn und auch viele Jahre Oppositionsführer. Eines muß ich Ihnen sagen: Mir wäre es nie in den Sinn gekommen, in einer solchen Debatte einen Brief von irgendeinem Mitarbeiter aus einem Ministerium in dieser Form zu verwenden.
Meine Damen und Herren, ich hätte in meiner Amtszeit als Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU, als der Kollege Schmidt Bundeskanzler war, in vergleichbaren Situationen häufig Gelegenheit gehabt, solche Briefe, wie sie in einem großen Apparat leider immer wieder geschrieben werden, hier zu verwenden. Wollen wir jetzt ernsthaft über das Schicksal der Menschen in Tschetschenien reden, über unsere Beziehungen zu Rußland, über die gemeinsame Abwehr von Gefährdungen, oder wollen wir hier in billiger Weise einen tagespolitischen Vorteil erringen?
Dies ist nicht die Meinung der Bundesregierung. Wir sind zu vernünftigen Gesprächen in diesem Haus bereit, wie es unsere Pflicht ist; wir sind bereit, die notwendigen Gespräche mit der russischen Regierung und den Verantwortlichen, auch den Demokraten, in Rußland zu führen. Aber so billig sollten Sie diese Debatte heute nicht abschließen.
Ich erteile zu einer weiteren Kurzintervention dem Abgeordneten Verheugen das Wort.
Herr Bundeskanzler, was Sie gerade gesagt haben, will ich in einem Punkt aufgreifen. Der letzte Vorfall, das Zitat, das Kollege Fischer gebracht hat, sollte nicht dazu führen, daß wir den Versuch aufgeben, eine gemeinsame Stellung-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 669
Günter Verheugennahme des ganzen Hauses zustande zu bringen, was den Konflikt in Tschetschenien angeht.
Aber, Herr Bundeskanzler, was die Sache angeht, muß ich Ihnen eines entgegenhalten. Es spricht einer, der selbst im Auswärtigen Amt gearbeitet hat und weiß, wie solche Briefe zustande kommen. Der Brief trägt das Aktenzeichen des zuständigen Referats. Es ist nicht irgendein Mitarbeiter. Solche Briefe, die im Namen des Ministers geschrieben werden, werden auf der Grundlage von Sprachregelungen geschrieben, die in der Leitung des Amtes ausgearbeitet werden. Ich glaube nicht, daß sich das gegenüber der Zeit, als ich selbst dort gearbeitet habe, geändert hat. Es kann nicht sein, daß es Mitarbeiter gibt, die im Namen des Ministers politische Erklärungen solcher Tragweite abgeben, ohne daß eine entsprechende politische Sprachregelung im Amt vorhanden war.
Wenn eine solche Sprachregelung nicht vorhanden war, Herr Bundesaußenminister, dann haben Sie allerdings Ihre Pflicht schwer versäumt, dafür zu sorgen, daß es eine gibt.
Ich erteile zu einer Antwort noch einmal dem Herrn Außenminister Kinkel das Wort und bitte die Geschäftsführer, hierher zu kommen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hatte erst jetzt, Herr Fischer, Gelegenheit, den Brief im einzelnen anzusehen. Der Brief stammt vom 10. Januar 1995 und ist von Herrn Legationsrat aus dem Siepen unterschrieben. Es ist, was die Einstufung anbelangt, also kein Referatsleiter, sondern erheblich darunter angesiedelt.
Ich sage nochmals: Ich habe die politische Verantwortung für solche Briefe zu tragen. Aber ich möchte doch noch einmal sagen, daß ich es wirklich — nehmen Sie es mir nicht übel — billig finde, in einem solchen Zusammenhang jetzt einen Brief vom 10. Januar hervorzukramen.
Ich darf an etwas erinnern. Sie haben vorhin selber darauf hingewiesen, daß ich beim Dreikönigstreffen am 6. Januar eine außerordentlich massive Stellungnahme und davor mehrere massive Erklärungen abgegeben habe, die in keiner Weise mit dem übereinstimmen, was jetzt in diesem Brief steht.
Ich habe also meine Meinung deutlich gemacht.
Ich finde es — ich bleibe dabei, der Bundeskanzler hat es eben auch erwähnt — billig, eine solche Debatte auf diese Weise abzuschließen. Ich werde mit dem Mann reden. Ich werde natürlich mit ihm besprechen, daß solche Briefe nicht mehr herausgehen. Ich sage nochmals: Ich trage die Verantwortung. Aber ich bitte, in Zukunft ein bißchen anders miteinander umzugehen.
Ich hatte einige Schwierigkeiten, den Stand zu ordnen. Jetzt ist er geordnet. Wir schließen diese Debatte ab. Die Fraktionen haben sich darauf verständigt, die Abstimmung über die Anträge zu Tschetschenien auf morgen zu verschieben, um eine Zusammenführung der Inhalte zu versuchen. — Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann vertagen wir die Abstimmung.Ich rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf:Wahlvorschlag für die Wahl der Schriftführer gemäß § 3 der Geschäftsordung— Drucksachen 13/234, 13/235, 13/236, 13/237, 13/238 —Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. sowie der PDS auf den Drucksachen 13/234 bis 13/238 vor. Kann ich davon ausgehen, daß wir über die fünf Wahlvorschläge gemeinsam abstimmen? — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann können wir so verfahren.Wer stimmt für die Wahlvorschläge? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Wahlvorschläge sind einstimmig, mit den Stimmen des ganzen Hauses, angenommen. Ich gratuliere den gewählten Kolleginnen und Kollegen im Namen des ganzen Hauses und wünsche eine gute Zusammenarbeit.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 12a bis 12 d auf:Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes — Schutz von Privatgeheimnissen
— Drucksache 13/58 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß Innenausschußb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 18. Mai 1992 über den Beitritt des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik zu dem am 19. Juni 1980 in Rom zur Unterzeichnung aufgelegten Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht- Drucksache 13/40 —Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß
Metadaten/Kopzeile:
670 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmerc) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Raumordnungsbericht 1993— Drucksache 12/6921 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Gesundheit Ausschuß für VerkehrAusschuß für Umwelt, Naturschutzund ReaktorsicherheitAusschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungAusschuß für Fremdenverkehr und Tourismusd) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Großsiedlungsbericht 1994— Drucksache 12/8406 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Ausschuß für Umwelt, Naturschutzund ReaktorsicherheitInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 a und 6 b sowie Zusatzpunkt 5 auf:6. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Pinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Roland Kohn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.Durchsetzung der deutschen Entwicklungspolitik in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit— Drucksache 13/233 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß fur wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung Auswärtiger AusschußAusschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ingomar Hauchler, Brigitte Adler, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDNeuorientierung der Deutschen Entwicklungspolitik— Drucksache 13/241 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung
Auswärtiger Ausschuß FinanzausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Umwelt, Naturschutzund ReaktorsicherheitAusschuß für die Angelegenheitender Europäischen UnionZP5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ursula Eid-Simon, Wolfgang Schmitt , Ludger Volmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENReform der bundesdeutschen Entwicklungspolitik— Drucksache 13/246 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster der Abgeordnete Winfried Pinger. — Darf ich um etwas Ruhe bitten! Die Unruhe ist nach der erregten Debatte verständlich, aber wir müssen jetzt zu dem neuen Punkt kommen. Seine Erörterung erfordert Ruhe. — Herr Kollege, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese entwicklungspolitische Debatte findet zur besten Tageszeit statt. Insofern handelt es sich um eine andere Situation als früher, als solche Debatten nach 22.30 Uhr geführt wurden. Ich erwähne das deshalb, weil ich meine, daß dadurch deutlich wird, daß der Stellenwert der Entwicklungspolitik auch hier im Parlament ein höherer ist. Ich finde, wir sollten in Zukunft den Stellenwert der Entwicklungspolitik von uns aus nicht herunterreden.In dieser neuen Legislaturperiode des Deutschen Bundestages kommt es darauf an, den Zielen und Grundsätzen, den Schwerpunkten und Kriterien der erfolgreichen deutschen Entwicklungspolitik auch in der internationalen Zusammenarbeit zum Durchbruch zu verhelfen. Das ist das Anliegen des von den Koalitionsparteien für die heutige entwicklungspolitische Debatte vorgelegten Antrages. Es wird immer deutlicher, daß die notwendige Umstrukturierung in vielen Entwicklungsländern und insbesondere die notwendige Verbesserung der Rahmenbedingungen nur möglich sind, wenn alle Geberländer an einem Strang ziehen.Die neuen Schwerpunkte und Kriterien der Bundesregierung haben nicht nur innerhalb der Bundesrepublik, sondern auch in der internationalen Öffentlichkeit mit Recht große Resonanz und Zustimmung gefunden. Deshalb haben wir eine große Chance, sie in die internationale Zusammenarbeit noch intensiver einbringen zu können. Hingegen verlangen Sie, meine Damen und Herren von der SPD, aber auch die GRÜNEN, eine Neuorientierung — eine Neuordnung, sagen die GRÜNEN — der deutschen Entwicklungspolitik. Da fragt man sich: Hat die Opposition die seit langem, und zwar seit 1982, eingeleitete und durchgeführte grundlegende Veränderung der deutschen Entwicklungspolitik verschlafen? Ist sie Ihnen entgangen? Oder will die Opposition etwa eine Rückkehr, eine Rolle rückwärts zu verfehlten und gescheiterten Entwicklungsstrategien der 60er und 70er Jahre? Das kann es doch wohl nicht sein.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn. Donnerstag. den 19. Januar 1995 671Dr. Winfried Pinger— Bei näherem Hinsehen, Herr Kollege Bindig, stellt man dann fest, daß viele Forderungen der Opposition gar nicht neu sind. Vielmehr zeigen weite Teile des Antrags der SPD und im übrigen auch der GRÜNEN eher eine Bestätigung der neuen Entwicklungspolitik.Im Antrag der SPD wird z. B. darauf hingewiesen, es komme in erster Linie darauf an, die inneren Potentiale und die Selbsthilfe der Entwicklungsländer zu stärken. Richtig. Genau dies ist aber doch die Politik der Bundesregierung, die auf die notwendigen Eigenanstrengungen der Regierungen in den Entwicklungsländern und auf die Hilfe zur Selbsthilfe der Menschen abstellt. Daß Sie von der SPD allerdings auf dieses wichtige Ziel wirklich so viel Wert legen, muß bezweifelt werden; findet sich doch diese vorrangige Forderung in Ihrem Antrag erst nachrangig, so an vierter Stelle.Im Antrag der GRÜNEN steht die Forderung nach Armutsüberwindung;
bei uns heißt das „Armutsbekämpfung". Ich denke, das ist nur ein Streit um Worte. Das ist einer der drei Schwerpunkte der Politik der Bundesregierung und auch unserer Politik.Gefordert wird von den GRÜNEN Umwelt- und Ressourcenschutz. Das ist ein weiterer erklärter Schwerpunkt unserer Entwicklungspolitik; wir stimmen überein. Gefordert wird die Verwirklichung der Menschenrechte, ein wichtiges Kriterium für die neue Entwicklungspolitik der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen.
Zur Begründung einer Neuorientierung kommt die SPD vor allem dadurch, daß sie ein Zerrbild der deutschen Entwicklungspolitik zeichnet, das mit der Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun hat: Die Entwicklungspolitik sei zum Stiefkind der Außenpolitik verkümmert. Dabei sieht die Wirklichkeit heute doch so aus, daß bei den Botschafterkonferenzen des Auswärtigen Amtes in Afrika, in Lateinamerika und in Asien die Regionalkonzepte des BMZ zum Gegenstand und Maßstab der Erörterung gemacht werden. Das war früher nicht der Fall.
Verkümmert wäre allerdings die Entwicklungspolitik unter einer SPD-Regierung; wäre doch das gesamte Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ihrem Rotstift zuallererst zum Opfer gefallen. Im Auswärtigen Amt wäre dann die Entwicklungspolitik so unter „Ferner liefen" behandelt worden. Das ist Gott sei Dank von den Wählern verhindert worden.
Zum Zerrbild der SPD gehört es, daß Sie in Ihrem Antrag eine isolierte Projekt- und Almosenpolitik geißeln. Dabei kommt es in unserer Entwicklungspolitik längst nicht nur auf einzelne Entwicklungsprojekte an. Bundesminister Spranger hat bekanntlich mit seinem Kriterienkatalog die Bedeutung entwicklungsfördernder Rahmenbedingungen in das Zentrum der Entwicklungszusammenarbeit gestellt.Allerdings vermissen wir in Ihrem Antrag bei den Rahmenbedingungen einen, wie wir meinen, ganz besonders wichtigen Punkt, nämlich die Forderung nach marktfreundlichen Wirtschaftsordnungen. Der weltweite Bankrott der sozialistischen Planwirtschaften hat doch inzwischen jedem Entwicklungsland klargemacht, daß es gerade auf eine marktorientierte Wirtschaftspolitik ankommt. Wenn dies bei Ihnen fehlt, dann muß ich feststellen: Alte sozialistische Entwicklungsvorstellungen lassen grüßen, wobei ich gerne hinzufügen möchte, daß Sie bei anderen Stellungnahmen diese wichtige Forderung aufgenommen haben. Ich hoffe, daß das hier kein Anzeichen für eine veränderte Politik ist.
Zum Zerrbild, das Sie von der Entwicklungspolitik zeichnen, gehört insbesondere der Vorwurf einer Almosenpolitik. Sie wissen natürlich, daß es ganz anders ist. Mit uns zusammen haben Sie ja hier im Deutschen Bundestag den Antrag „Armutsbekämpfung durch Hilfe zur Selbsthilfe" beschlossen. Dabei haben wir alle klargestellt, daß es gerade nicht auf eine Almosenpolitik ankommt, sondern auf die Stärkung der produktiven Kräfte der Armen.Bei der Umsetzung unseres Bundestagsbeschlusses zeigt die praktische Entwicklungspolitik des Ministeriums beachtliche Fortschritte. Die Zahlen zeigen eine kontinuierliche Steigerung. Im Jahre 1991 wurden für selbsthilfeorientierte Maßnahmen 7 % — übrigens waren es ursprünglich 0 % — eingesetzt. 1993 waren es 9 % und 1994 13 %. Für den Haushalt 1995 sind beachtliche 18 % für diese Maßnahmen und Projekte eingesetzt. Wer weiß, welche enormen Anstrengungen gerade auf diesem Gebiet zur Erreichung dieser Steigerungsraten erforderlich sind, kann nur feststellen: Hier sind erhebliche Anstrengungen in der Umsetzung unseres Beschlusses gemacht worden.Die Armutsbekämpfung durch Selbsthilfe ist ein Beispiel für die Wirksamkeit unserer Entwicklungspolitik auch bei knappen Ressourcen. Wenn es um mehr Wirksamkeit geht, geht es gerade bei Selbsthilfeprojekten auch um mehr Delegation der Verantwortung. Ich denke, da bedarf es noch eines grundlegenden Umdenkungsprozesses. Die detaillierte Planung darf nicht im BMZ erfolgen, aber auch nicht in der Leitung der GTZ und noch nicht einmal im Regionalbüro der GTZ, sondern nur ganz unten mit den Menschen, auf die es ankommt.
— Ja, da muß auch in den Strukturen noch einiges geändert werden. Es bleibt also noch viel zu tun.
Metadaten/Kopzeile:
672 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Dr. Winfried PingerDennoch können wir das Fazit ziehen: Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir haben durch erhebliche Anstrengungen unsere Entwicklungspolitik verbessert. Hinsichtlich Wirksamkeit und Qualität der Entwicklungszusammenarbeit sind wir in der internationalen Spitzengruppe. Deshalb wäre eine Kursänderung der völlig falsche Weg. Es geht nicht darum, jährlich eine Kurskorrektur herbeizuführen; es geht um einen langen, langen Atem. Es geht darum, die erfolgreiche deutsche Entwicklungspolitik international durchzusetzen und dadurch auch die multilaterale Entwicklungszusammenarbeit noch wirksamer zu gestalten.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ingomar Hauchler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die CDU und die F.D.P. haben einen Antrag vorgelegt und diese Debatte gefordert. Wir sind sehr froh darüber. Wir haben diesen Antrag natürlich sehr sorgfältig studiert. Ich muß sagen, Herr Kollege Pinger und Herr Minister: Wir sind über das Niveau grenzenlos enttäuscht. Sie haben wirklich eine Chance verpaßt, das auszufüllen, was Sie angekündigt haben,
nämlich eine Neuorientierung der Entwicklungspolitik. Dazu findet in diesem Antrag nichts statt. Im wesentlichen sind es wirklich alte Kamellen. Meine Kollegen und ich werden Ihnen nachweisen, daß vieles, was Sie ankündigen, in Wirklichkeit nicht gemacht wird.Dieser Antrag ist von Selbstgefälligkeit, von Irreführung und von mangelnder Lernfähigkeit gekennzeichnet.Er trieft vor Selbstgerechtigkeit. Diesen Eindruck muß man schon gewinnen, wenn man sich die Überschrift anschaut. Die Überschrift ist eine einzige Provokation gegenüber der kritischen Intelligenz in diesem Lande — von den Kirchen über die Gewerkschaften und die Wirtschaft bis zu Nichtregierungsorganisationen —, die diesen Kurs der Entwicklungspolitik kritisch und sogar sehr kritisch bewertet.
Sie sprechen von der Durchsetzung der — ein hartes Wort — erfolgreichen deutschen Entwicklungspolitik in den internationalen Beziehungen. Selbstgefälliger und arroganter geht es also nun wirklich nicht mehr.
Das zweite an einer grundsätzlichen Kritik Ihres Antrags ist: Dieser Antrag ist wieder einmal voll von Irreführungen. Hier wird von dem substantiellen Beitrag der deutschen Entwicklungspolitik zur Entschuldung gesprochen. 9 Milliarden sind seit 1979, also in 15 Jahren, entschuldet worden. Das sind nicht einmal 10 % des gesamten Schuldenstandes der Entwicklungsländer. Davon sind noch über 50 % von der Regierung Schmidt erlassen worden.Sie haben es gerade einmal geschafft, in zwölf Jahren — das ist schon zu lange — etwa 4 bis 5 Milliarden DM in einer Situation zu entschulden, wo ganz Afrika und Riesenländer in Lateinamerika und in Asien in die Knie gehen und die Verschuldung zur Entwicklungsblockade geworden ist. Das ist Irreführung.Es ist auch Irreführung, wenn Sie von Entwicklungs- und Umweltpartnerschaft sprechen, die Sie anstreben. Es ist doch so, und Sie wissen das auch, daß nach dem Ende des Ost-West-Konflikts die Dominanz und das Diktat der Industrieländer, auch der Bundesrepublik, gegenüber den Entwicklungsländern größer geworden ist und nicht kleiner. Ich sehe darin nichts von Partnerschaft. Wir haben eine Situation der absoluten Dominanz der Industrieländer. Reden Sie also nicht von Dingen, die Sie nicht vollziehen!Es wird gesagt, man habe gelernt. Nein, der Antrag beweist, daß Sie gar nichts gelernt haben. Ich beweise Ihnen das an Hand von vier Punkten.Erstens. Dieser Antrag atmet Gedanken der einseitigen Hilfe der Industrieländer gegenüber den Entwicklungsländern. Wir helfen den anderen. Es ist nicht die Rede von wirklicher Kooperation, von gemeinsamer Bewältigung globaler Probleme. Der Antrag atmet den Geist des Paternalismus, und dafür sind Sie ja bekannt.
Zweitens. Der ganze Antrag ist nur auf Projektpolitik fixiert.
Haben Sie denn nicht begriffen, daß Entwicklung in dieser Welt nicht nur mit verinselten Projekten in der Welt zu tun hat, sondern daß sie es mit Strukturveränderungen zu tun hat, und zwar im Handelsbereich, im Finanzbereich und in der gesamten internationalen Kooperation? Sie haben offenbar nichts begriffen.Drittens. Der Antrag atmet immer noch den Geist eines ideologischen Dogmatismus. Dabei wissen wir doch längst — zumindest haben wir Sozialdemokraten es inzwischen begriffen —, daß man natürlich nicht mehr auf realsozialistische oder wirtschaftsliberalistische Konzepte der alten Strickart zurückgreifen kann, wenn man die Zukunftsprobleme lösen will. Sie aber hängen immer noch an dem Grundgedanken: Alles kann nur privat gemacht werden.Viertens. Es ist so, daß Sie Ihre Entwicklungspolitik nicht in eine globale Sicherheits- und Friedenspolitik einbinden. Das ist doch der eigentliche Akzent, den wir in Zukunft betonen müssen, nämlich daß Entwicklungspolitik Bestandteil einer kohärenten internationalen Wirtschafts- und Außenpolitik sein muß. Sinn macht sie auf Dauer nur in diesem Kontext, aber nicht als abgeschottete Ressortpolitik, wie Sie es sehen.Meine Damen und Herren, in diesem Antrag gibt es natürlich auch Dinge, die wir unterstreichen. Das will
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 673
Dr. Ingomar Hauchlerich durchaus zugeben. Ich finde es sehr gut, daß Sie betonen, daß es in den Entwicklungsländern sehr stark auf kommunale Strukturen, auf den Aufbau von unten ankommt. Ich glaube, da können wir Deutsche einen Beitrag leisten, um zu vermitteln, wie man so etwas machen könnte, nicht muß.Auch den Gedanken der Subsidiarität teilen wir. Das darf aber nicht heißen, daß man sich mit diesem Argument aus der Verantwortung stiehlt und sagt: Alles muß privat und von unten gemacht werden; der Staat hat sich überall von den Transformationsgesellschaften zurückzuziehen.Sie gebrauchen dieses Wort sehr stark; vielleicht meinen Sie es auch so. Aber Sie erkennen nicht, daß es in vielen Ländern des Südens und auch des Ostens eine lange Zeit des Übergangs braucht, wo wir Mischformen von Staat und Unternehmen, von privaten und öffentlichen Initiativen brauchen. Unterwerfen Sie doch die ganze Entwicklung nicht einem einseitigen westlichen ideologischen Konzept!Wir sind auch für private unternehmerische Initiativen. Da muß viel getan werden. Aber in diesen Gesellschaften können wir nicht von den gleichen Voraussetzungen wie bei uns ausgehen. Hier hat sich seit Jahrhunderten ein Unternehmertum von unten, eine Kultur des Unternehmertums im privaten Bereich entwickelt. Man kann in vielen Entwicklungsländern und in den ehemaligen sozialistischen Ländern nicht erwarten, daß das von heute auf morgen so umsetzbar wird. Deshalb muß man differenzierter an die Dinge herangehen.Armutsbekämpfung — wunderbar! Umwelt — aber Sie tun es ja nicht! Effektiv sind doch die Etats für Afrika in den letzten Jahren zurückgefahren worden. Und Sie rühmen sich der Armutsbekämpfung als eines Schwerpunktes. Sie rühmen sich des Umweltschutzes. Sie sagen „Schutz der Schöpfung". Ein schöner Begriff. Dann tun Sie einmal mehr auf diesem Gebiet, und reden Sie nicht nur davon!
Dieser Antrag riecht nach dem Motto: „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen" . Dies ist international eine Provokation, aber auch für alle die, die ganz genau wissen, daß wir selber in der deutschen Entwicklungspolitik einiges zu verbessern haben.Die SPD stellt diesem Antrag der Koalition mit ihrem Antrag ein 20-Punkte-Programm zur selbstkritischen Überprüfung und Neuorientierung der Entwicklungspolitik gegenüber. Dabei glauben wir nicht, daß wir die Weisheit mit Löffeln gefressen haben, sondern wir wollen im Parlament am Anfang der Legislaturperiode in einen intensiven Gedankenaustausch mit Ihnen, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, und mit allen Fraktionen eintreten. Das ist der Sinn unseres Antrags. Wir werden uns bemühen, die einzelnen Punkte im Ausschuß zu diskutieren und abzuarbeiten.Ich will ein paar Schwerpunkte herausgreifen, die in diesem Antrag für uns von besonderer Bedeutung sind.Der eine ist: Die Bundesrepublik muß begreifen, daß Entwicklungspolitik eine Aufgabe ist, die auch den Norden betrifft. Wir können nicht mehr so tun, als ob Entwicklungspolitik nur damit zu tun hätte, daß wir den Süden und den Osten beraten, wie sie es besser machen müssen. Wir wissen ganz genau, daß es globale Probleme gibt, die wir nur lösen können, wenn sich auch die Entwicklung im Norden verändert.Ein weiterer Punkt. Die deutsche Entwicklungspolitik muß die knappen Mittel viel mehr auf Schwerpunkte konzentrieren. Noch immer wird im außenpolitischen Interesse oder oft auch im eigenen wirtschaftspolitischen Interesse — wogegen nichts zu sagen ist — die Entwicklungspolitik mißbraucht. Wir gehen mit der Gießkanne über die Länder hinweg, ohne wirkliche Schwerpunkte zu setzen.
— Ich nenne Ihnen einige Schwerpunkte, die, glaube ich, ganz wichtig sind.Über die inneren Potentiale haben Sie gesprochen, Herr Pinger. Diese Meinung teile ich. Wir müssen mehr dafür tun, daß die Menschen in den Ländern selbst mehr tun können.Das zweite ist aber: Wir müssen einen stärkeren Akzent auf Möglichkeiten der vorbeugenden Sicherheitspolitik legen. Damit hängt zusammen, ob wir es schaffen, bei Krisensituationen in kürzerer Zeit flexibler und besser Soforthilfe mit humanitärer Hilfe und Entwicklungspolitik zu verbinden. Daran mangelt es.Ich höre, daß in Palästina Projekte, die wir uns vorgenommen haben, einfach nicht in Gang kommen. Es gelingt uns nicht einmal, ein paar Müllfahrzeuge für den Gazastreifen anzuschaffen. Da wird geplant, geplant und geplant, bis Arafat praktisch im inneren Kampf erschossen ist — Gott möge es verhüten — und der Friedensprozeß entwicklungspolitisch praktisch nicht gestützt ist. Hier müssen wir schneller reagieren können. Das erfordert institutionelle und haushaltsrechtliche Veränderungen.Ich halte es für ganz wichtig, doch noch einmal zu überlegen, ob es nicht möglich ist, daß wir in unserer mittelfristigen Finanzplanung wieder konsequentere Schritte hin zu einer Marke tun, die der Bundeskanzler ja immer vor sich hergetragen hat: 0,7 % Anteil am Bruttosozialprodukt.Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, haben diesen Anteil des Etats ständig zurückgefahren. Systematisch sind Sie von 0,48 % am Ende der Regierungszeit Schmidt bis auf jetzt 0,32 % heruntergegangen. Die mittelfristige Finanzplanung sagt, daß wir bald unter 0,3 % landen werden.Ich finde, nach der Sonderbelastung, die die deutsche Einheit gebracht hat, sollten wir jetzt überlegen, ob wir nicht — vor allem bei den Zusagen — unseren Beitrag systematisch erhöhen müßten. Wir reden von Bevölkerungsexplosion, von globalen Problemen, von internationalen Gefahren, und wir tun immer weniger für die Vorbeugung, zur Eindämmung des Bevölkerungswachstums. Das ist eine Politik, die letzten Endes niemals aufgehen kann. Das ist kurzsichtig.Meine Damen und Herren, zum Schluß will ich noch sagen: Unser Antrag enthält auch einen Schwerpunkt,
Metadaten/Kopzeile:
674 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Dr. Ingomar Hauchlerden Sie in Ihrem Antrag überhaupt nicht erwähnt haben: Wir müssen uns in der Bundesrepublik für Strukturreformen auch in der Weltwirtschaft einsetzen. Das betrifft den internationalen Handel, das betrifft die internationalen Finanzbeziehungen, das betrifft auch die Strukturanpassungspolitik.Ein für Sie gewiß unverdächtiges Institut, nämlich das Arnold-Bergstraesser-Institut in Freiburg, geführt von Professor Oberndörfer, CDU, hat eine Studie herausgebracht, in der mit Hilfe von empirischen Nachforschungen nachgewiesen wird, daß die Strukturanpassungspolitik des IWF und der Weltbank, die Sie immer hochgehalten haben, durchaus nicht von Erfolg gekrönt ist. Vielmehr gehen gerade in diesen Ländern, wo sie seit Mitte der 80er Jahre angewandt wird, die Investitionen und das Wachstum zurück.Man hat immer auf Mexiko, auf das südamerikanische Exempel hingewiesen. Schauen Sie doch, was in Mexiko jetzt los ist, wohin diese Politik geführt hat! Sie wird auch in anderen Ländern in diese Richtung führen, wenn wir das nicht sozial und ökologisch korrigieren.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist vorbei.
Vielen Dank, Frau Präsidentin; ich wollte gerade abschließen. — Das waren einige Schwerpunkte. Ich denke, daß wir andere Akzente setzen und über diese anderen Akzente gemeinsam ins Gespräch kommen müssen.
Ob die Entwicklungspolitik von uns wirklich ernst genommen wird, aber auch in die Gesellschaft ausstrahlt und von gesellschaftlichen Kräften aufgenommen wird, vor allem auch von den Medien, der Wissenschaft und den Schulen, das ist sicher ein gewisser Test für die Fähigkeit unseres demokratischen Systems, auch Zukunftsaufgaben anzupakken.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Uschi Eid-Simon.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als überzeugte Südpolitikerin freue ich mich natürlich, daß wir zu Beginn dieser Legislaturperiode die Gelegenheit zu einer ausführlichen entwicklungspolitischen Debatte haben.Meine Fraktion, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, versteht diese Debatte heute als Signal, als Zeichen an die Menschen im Süden und an die deutsche Öffentlichkeit, daß wir Südpolitik als zentrale politische Gegenwartsaufgabe und mehr noch als zentrale politische Zukunftsaufgabe begreifen, der wir uns in den nächsten Jahren zum Ausgang dieses Jahrhunderts zu stellen haben.Lassen Sie mich aber gleich vorweg sagen: Wir GRÜNEN haben die bisherige Entwicklungspolitik der Bundesregierungen unter Kanzler Kohl gewogen — und für zu leicht befunden:Ganze vier Sätze stehen zur Entwicklungspolitik in der Koalitionsvereinbarung vom 11. November. Der Kanzler quälte sich in seiner Regierungserklärung einen einzigen Satz zum Süden ab. Dies ist jämmerlich.Kein Wort über die Notwendigkeit einer ökologischen und solidarischen Weltwirtschaft, kein Wort über die Notwendigkeit der Stärkung des Südens im internationalen System, kein Wort über notwendige Schritte zu einer umfassenden Verwirklichung der Menschenrechte und zur Beseitigung männlicher Herrschaftsstrukturen, kein Wort über die Notwendigkeit zunehmender Hilfe zur Befriedigung von Grundbedürfnissen, kein Wort zu den schlechten Terms of trade, kein Wort zu der notwendigen Entschuldung vieler armer Länder im Süden, kein Wort zu den sich abzeichnenden und jetzt schon virulenten ökologischen Katastrophen im Süden und der Mitverantwortung des Nordens durch ein völlig falsches Entwicklungskonzept hier bei uns.Herr Bundeskanzler, Ihre Regierungserklärung war eine südpolitische und entwicklungspolitische Bankrotterklärung.
Auch der heute von der CDU/CSU und der F.D.P. eingebrachte Antrag kann kein Wegweiser für die Südpolitik der nächsten vier Jahre sein, Herr Pinger. Schon der Titel ist eine Provokation — darauf ging auch der Kollege Hauchler ein — und zeigt an, daß die Koalitionsparteien entwicklungspolitisch alles beim alten belassen wollen.Sie hatten in der Tat im ersten Entwurf von der „erfolgreichen" deutschen Entwicklungspolitik gesprochen. Dann haben Sie kalte Füße gekriegt und haben das „erfolgreich" herausgestrichen.Trotzdem unterstellt Ihr Antrag erstens, daß die bisherige deutsche Entwicklungspolitik erfolgreich war,
zweitens, daß die Entwicklungspolitik anderer Länder weniger erfolgreich war,
und drittens, daß jene sich gefälligst die Bundesregierung zum Vorbild zu nehmen haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist nicht nur arrogant, sondern Sie bleiben den Beweis des Erfolges schuldig.
Ich möchte dies anhand eines von Ihnen, Herr Pinger, herausgestellten und im Antrag „erfolgreich" genannten entwicklungspolitischen Schwerpunktes aufzeigen, nämlich an der Bekämpfung der Armut.Nach meiner Wahrnehmung ist die Armutsorientierung deutscher Entwicklungshilfe bei Ihnen mehr Anspruch als Realität. So umfaßte Armutsbekämpfung 1994 lediglich 13 % der deutschen Hilfe. UNDP
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 675
Dr. Ursula Eid-Simonz. B. setzt den Anteil der deutschen bilateralen Hilfe für soziale Prioritäten zum zweitenmal auf den letzten Platz im Vergleich der westlichen Geberländer. Dies ist wahrlich ein Armutszeugnis. Der Anteil der Entwicklungshilfe für die ärmsten Länder geht drastisch zurück. Afrika südlich der Sahara — —
— Herr Pinger, wir werden all dies in den kommenden Sitzungen des Ausschusses diskutieren. Lassen Sie mich hier fortfahren. Ich habe leider nur elf Minuten Redezeit; Sie hatten ja, glaube ich, 33 Minuten. Deswegen bitte ich Sie — —
Ich würde die Uhr ja anhalten.
Also gut.
Herr Pinger, bitte.
Vielen Dank, Frau Kollegin Eid-Simon, daß Sie die Frage zulassen.
Erstens. Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß Armutsbekämpfung mehr ist als Armutsbekämpfung durch Hilfe zur Selbsthilfe, wenngleich der selbsthilfeorientierte Ansatz natürlich besonders wichtig ist?
Zweitens. Würden Sie bestätigen, daß die Kriterien von UNDP von Hilfe zur Selbsthilfe ganz andere sind als unsere Kriterien?
Ich glaube, daß es wichtig ist, diese beiden Dinge klarzustellen.
Ich nehme dies zur Kenntnis und bitte, daß die Bundesregierung ihre Kriterien offenlegt, so daß auch die Zahlen der Bundesregierung nachvollziehbar sind.Lassen Sie mich nun aber in der Beweisführung fortfahren, daß dies kein erfolgreicher Schwerpunkt war. Wir können den Unterlagen zu den Haushaltsberatungen entnehmen, daß der Anteil der Entwicklungshilfe für die ärmsten Länder drastisch zurückgeht. Afrika südlich der Sahara bekommt immer weniger,
während Länder wie China, Indien, Ägypten, Türkei, Indonesien als Empfängerländer an der Spitze stehen.
Unserer Einschätzung nach ist die deutsche Entwicklungshilfe gekennzeichnet durch massive Eigeninteressen etwa bei versteckten Lieferbindungen und jetzt beim sogenannten zweiten Fenster für die Mischfinanzierung, aber auch — das nimmt man in der Öffentlichkeit in der Regel gar nicht wahr — bei der Technischen Zusammenarbeit, wo nämlich immer deutsche Expertinnen und Experten in die Empfängerländer entsandt werden und man nicht bereit ist, lokale Experten einzustellen.
Wir fordern von der Bundesregierung: Entwicklungspolitischen Zielsetzungen muß Vorrang vor Eigeninteressen eingeräumt werden.
Ich meine — und auch meine Fraktion ist davon überzeugt —, daß die deutsche Entwicklungspolitik reformiert und umorientiert werden muß.
Dazu haben wir Vorschläge in unserem Antrag eingereicht. Diese sehen unter anderem vor:Erstens. Die Zusammenarbeit zwischen Nord, Süd und Ost wird als politische Querschnittsaufgabe wahrgenommen und ist als globale Strukturpolitik mit dem Ziel einer nachhaltigen und dauerhaften Entwicklung im Süden, aber vorrangig auch bei uns zu verfolgen.Zweitens. Bis zum Jahr 2000 ist das Ziel schrittweise zu verwirklichen, 0,7 % des Bruttosozialproduktes für entwicklungspolitische Maßnahmen zur Verfügung zu stellen. Die Qualität der Entwicklungszusammenarbeit ist durch eine verstärkte Sektor- und Programmförderung zu verbessern. Förderinstrumente sind so zu gestalten, daß sie differenzierte entwicklungspolitische Strategien spezifisch für unterschiedliche Länder und Regionen zulassen.Drittens. Allen Südpolitikern und Südpolitikerinnen ist seit Jahren klar, daß der Ausstieg aus der Schuldenfalle eine wesentliche Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung ist. Wir fordern die Bundesregierung auf, sowohl auf bilateraler als auch auf multilateraler Ebene neue Initiativen zur Lösung dieses Problems zu ergreifen. Im Mittelpunkt derartiger Anstrengungen muß die Situation der hochverschuldeten armen Länder stehen.Viertens. Die Rahmenbedingungen für die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen und entwicklungspolitischen Aktionsgruppen müssen verbessert werden. Das betrifft sowohl die notwendige Erhöhung der Mittel für die entwicklungsbezogene Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit als auch die Vereinfachung und Vereinheitlichung der Vergabe von Projektzuschüssen.Lassen Sie mich zum Schluß ein paar Worte zu Ihnen, Herr Minister Spranger, sagen. Sie bereiten sich auf eine Reise nach Afrika vor, die Sie nächste Woche antreten werden. Ich freue mich, daß Ihre erste Reisestation Eritrea ist.
Ich möchte auch hier einmal meine Anerkennung ausdrücken, daß das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit weltweit das erste Ministerium war, das mit dem neuen Staat Eritrea — dem jüngsten Mitglied der UNO — entwicklungspolitische Zusammenarbeit begonnen hat.
Metadaten/Kopzeile:
676 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Dr. Ursula Eid-Simon— Was wahr ist, muß wahr bleiben. Das muß man auch einmal anerkennen.
Sie reisen in drei Länder, die sich alle drei in einem Demokratisierungsprozeß — in unterschiedlicher Phase — befinden. In Äthiopien ist zu beobachten, daß einer der blutigsten Militärdiktatoren, Mengistu — darüber bestand in diesem Hause nicht immer Konsens, als er noch an der Macht war —, vor Gericht steht. Es ist ein nicht zu unterschätzendes Zeichen gegenüber dem afrikanischen Kontinent, daß solche blutrünstigen Mörder nicht mehr unter allen Bedingungen ungeschoren davonkommen. Ich bitte Sie, Herr Minister, dieses zu würdigen und dem Land Äthiopien in der schwierigen Phase der Demokratisierung unter die Arme zu greifen.
Die erste Station Ihrer Reise ist Eritrea. Dieses Land ist dadurch gekennzeichnet, daß es erhebliche Schritte zur Entmilitarisierung unternimmt. Ein Heer von 100 000 Männern und Frauen wird auf 30 000 reduziert; d. h.: 70 000 Soldatinnen und Soldaten müssen in das Zivilleben reintegriert werden.Dieses Land ist dadurch gekennzeichnet, daß es keine Korruption gibt; die Innenpolitik Eritreas ist entwicklungsorientiert; die Außenpolitik ist friedens- und stabilitätsorientiert. Das heißt, viele Kriterien, die auch Ihrem Hause wichtig sind, werden von diesem Land erfüllt. Eritrea ist deswegen ein würdiger Entwicklungspartner.Notwendig ist Demokratisierungshilfe und Hilfe zur Stärkung der Zivilgesellschaft. Eritrea könnte ein Beispiel erfolgreicher deutscher Entwicklungshilfe sein, wenn diesem Land jetzt massiv unter die Arme gegriffen wird. Sie, Herr Minister, könnten damit beweisen, daß es Ihnen mit Ihrer Demokratieforderung an afrikanische Staaten ernst ist.Ich bitte Sie, Herr Staatsminister Schäfer — da der Topf „Demokratisierungshilfe" nämlich in Ihrem Hause ist —: Machen Sie diesen Topf auf und geben Sie diesem Land, das jetzt seine Verfassung entwikkelt, geben Sie der Verfassungskommission einen dicken Batzen Geld, damit dieses Land eine Chance hat, im Demokratisierungsprozeß den Punkt zu erreichen, zu dem es will!
Frau Kollegin, keinen langen Ratschlagskatalog mehr, nur noch einen letzten Satz.
Herr Präsident, lassen Sie mich dem Minister bitte noch einen Satz mit ins Reisegepäck geben: Die Welt braucht Gerechtigkeit, nicht Wohltätigkeit.
Herzlichen Dank.
Ich erteile dem Kollegen Roland Kohn das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir Liberalen begrüßen es, daß gleich zu Beginn der Arbeit des 13. Deutschen Bundestages eine Debatte über zentrale Probleme wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Entwicklung stattfinden kann. Wir Liberalen haben darauf gedrängt, um damit den Stellenwert zu dokumentieren, den die Entwicklungspolitik für uns hat und haben muß.Wer die politische Diskussion in Deutschland in den letzten Jahren genauer beobachtet hat, dem konnte eine bedenkliche Tendenz nicht entgangen sein, nämlich die Tendenz zur fast ausschließlichen Beschäftigung mit innerdeutschen Problemen. Wenn einmal Probleme jenseits unserer Grenzen behandelt wurden, dann war es meistens die Fortsetzung innerstaatlicher Auseinandersetzungen mit anderen Themen.Wir müssen den Menschen deutlich machen: Wenn in Ländern unserer geographischen Nachbarschaft die sozialen und ökonomischen Systeme zusammenzubrechen drohen, dann hat dies Konsequenzen, z. B. für die innere Sicherheit in Deutschland. Wenn Ökosysteme irgendwo auf unserem Planeten im nackten Überlebenskampf zerstört werden, dann hat dies Konsequenzen für unsere natürlichen Lebensgrundlagen. Wenn durch Kriege und Bürgerkriege Hunderttausende auf die Flucht getrieben werden, dann wirken sich diese Wanderungsbewegungen als Wanderungsdruck bei uns aus. Wenn in den Elendsvierteln der Welt längst für besiegt gehaltene Krankheiten wieder Opfer fordern, dann kann dies zu einer Bedrohung bei uns führen.Kurz und gut: Wer heute in den fortgeschrittenen Industriestaaten politisch verantwortlich handeln will, der muß schon aus eigenem Interesse mithelfen, die Lebensbedingungen der Menschen in den Entwicklungsländern zu verbessern, wenn er es denn schon nicht aus Einsicht in die politische Notwendigkeit und aus moralischer Verpflichtung tut. Wir Freien Demokraten bekennen uns in diesem Sinne zu einer aktiven und langfristig angelegten Politik wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Entwicklung als wesentlichem Baustein unserer auswärtigen Beziehungen. Dabei lassen wir uns von drei Grundsätzen leiten.Erstens. Wir leben in der einen Welt. Deshalb muß die traditionelle Nord-Süd-Politik schrittweise zu einer Weltinnenpolitik fortentwickelt werden, die vom Gedanken einer globalen Entwicklungs- und Umweltpartnerschaft getragen wird.
Zweitens. Wir verstehen Entwicklung als einen integralen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Prozeß. Deshalb muß die Verbesserung der inneren Rahmenbedingungen für Entwicklung in den Partnerländern zum zentralen Ansatz der Entwicklungszusammenarbeit gemacht werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 677
Roland KohnEs geht deshalb noch stärker als bisher um Strukturveränderung und Systemberatung zur Schaffung ordnungspolitischer Voraussetzungen für dauerhafte und nachhaltige Entwicklung. Hilfe für die Ärmsten bleibt fraglos wichtig und notwendig. Aber eine sich selbst tragende Entwicklung setzt besondere Unterstützung für die Leistungsbereiten und die Förderung der Leistungsfähigen voraus, die eines Tages den Karren ziehen müssen.
Drittens. Wir treten für die Öffnung der Märkte — notabene auch unserer Märkte — ein; denn jede Hilfe jenseits humanitärer Maßnahmen ist im Grunde sinnlos und reine Geldverschwendung, wenn wir den Entwicklungsländern nicht die Chance geben, ihre Produkte bei uns zu verkaufen.
Viele Aspekte der Entwicklungszusammenarbeit lassen sich am Beispiel eines projektierten Wasserkraftwerks in Nepal aufzeigen. Da gibt es ökonomische, ökologische, soziale, politische und andere Probleme, Fragen nach der Dimensionierung von Vorhaben, ihrer Handhabbarkeit und vieles mehr. Wir haben gestern im Ausschuß lange Zeit über Arun III debattiert. Meine Fraktion ist der Auffassung, daß dieses Projekt nicht entscheidungsreif ist. Wir fordern deshalb dazu auf, Alternativen zu diesem Großprojekt ernsthaft zu prüfen, bevor weitreichende, auch finanziell erhebliche Entscheidungen getroffen werden.
Man kann, meine Damen und Herren, nicht vernünftig über Entwicklungspolitik sprechen, ohne über die gewaltigen Probleme der Bevölkerungsentwicklung zu reden. Für uns hat die Eindämmung des Bevölkerungswachstums Priorität. Es liegt mir wahrlich fern, die religiösen Gefühle unserer katholischen Mitbürger zu verletzen. Aber ich muß es hier klar aussprechen: Die Haltung der katholischen Amtskirche zur Frage der Geburtenkontrolle halte ich nicht für verantwortbar.
Sie verzögert in vielen Teilen der Welt die Herausbildung des Bewußtseins für die Gefahren eines unkontrollierten Bevölkerungswachstums.Ein anderes politisch brisantes Thema ist die Frage nach der Eigenverantwortung der Entwicklungsländer für das, was bei ihnen geschieht. Ich halte es nicht länger für hinnehmbar, daß sich manche noch immer hinter historischen Argumenten zu verstecken suchen. Es ist an der Zeit, gerade auch die Eliten in diesen Ländern an ihre Verantwortung für die Entwicklung in ihren Ländern zu mahnen. Prestigeprojekte, Mißmanagement, Korruption, Menschenrechtsverletzungen, Bürgerkriege und nackte Machtpolitik — da kann man sich nicht einfach mit dem Hinweis auf tatsächliche oder vermeintliche Folgen des Kolonialismus aus der Verantwortung stehlen.
Daraus folgt für uns u. a., daß wir in Zukunft die Verschwendung von Ressourcen für Rüstungswahn nicht mehr folgenlos hinnehmen. Staaten — ich sage das ganz präzise —, die ein eigenes ABC-Waffenprogramm haben oder sich auf andere Weise solche Waffen verschaffen, dürfen keine Mark deutsche Entwicklungsgelder mehr bekommen.
Wir Liberalen wollen uns auch noch intensiver als bisher für die Wahrung der Menschenrechte und der Menschenwürde in den Partnerländern einsetzen. Man mag es als eurozentrisches Weltbild kritisieren, aber ich bleibe dabei: Die kulturelle Relativierung der Menschenrechte machen Liberale nicht mit. Menschenrechte gelten für jedermann. Sie sind unteilbar.
Nach unserem Verständnis sind Selbsthilfe und Eigeninitiative der Schlüssel zur Überwindung von Unterentwicklung und Armut. Der Schaffung stabiler institutioneller Rahmenbedingungen sowie leistungsfähiger mittelständischer Strukturen kommt dabei besondere Bedeutung zu. Die Förderung von Bildung und Ausbildung muß deshalb zum Schwerpunkt der Entwicklungspolitik werden. Wir haben verstanden: Finanzieller Ressourcentransfer allein ist keine Grundlage für eine tragfähige Entwicklung. Beratung und Ausbildung werden künftig im Vordergrund stehen.In diesem Zusammenhang will ich betonen, daß es sich keine Gesellschaft leisten kann, auf die Fähigkeiten und die Begabung der weiblichen Bevölkerungshälfte zu verzichten. Das gilt übrigens auch bei uns. Deshalb müssen Frauen sehr viel stärker als bisher in die Planung und Durchführung von Entwicklungsprojekten einbezogen werden.
Besonders wichtig ist mir schließlich auch der Hinweis, daß unsere Entwicklungspolitik neben der Zusammenarbeit mit der staatlichen Ebene der Partnerländer verstärkt auf die Einbeziehung von Nichtregierungsorganisationen, privaten Unternehmen und einheimischen Fachkräften in diesen Ländern setzen muß. Es wird Sie nicht weiter verwundern, daß Liberale, die nicht vom Virus der Allmachtsphantasien des Staates befallen sind, auch in der Entwicklungspolitik gerade auf die gesellschaftlichen Eigenkräfte in den Partnerländern und auf deren Stärkung setzen.
Verzeihung, Herr Kollege Kohn, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Präsident, da dies meine erste Chance ist, als Sprecher der Fraktion für Entwicklungspolitik in diesem Hause vorzutragen,
Metadaten/Kopzeile:
678 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Roland Kohnmöchte ich das heute im Zusammenhang tun. In Zukunft werde ich das — wie ich es bisher immer praktiziert habe — so halten, daß Fragen von Kollegen immer zugelassen sind, heute nicht. Ich bitte um Verständnis.Ein ganz wichtiges Thema ist für uns der freie Welthandel, also eine Politik der offenen Märkte. Die wirtschaftliche Verflechtung in den Regionen dieser Erde, die Chance des Zugangs zu den nachfragestarken Märkten und somit das Hineinwachsen in die Arbeitsteilung des Weltmarktes sind Voraussetzungen für eine auf Dauer angelegte positive Entwicklung.Bloße Bekenntnisse und verbale Bekundungen reichen jedoch nicht aus. Die langwierigen GATTVerhandlungen der letzten Jahre haben die schlimmen protektionistischen Verhaltensweisen vieler Staaten offengelegt. Mit Nachdruck sage ich: Die Europäische Union darf nicht zu einer Festung des Protektionismus in der Welt werden.
Die sogenannte Bananenmarktordnung ist lediglich ein besonders abstruses Beispiel für eine gefährliche Tendenz, die auf merkantilistische und protektionistische Traditionen einiger EU-Mitgliedstaaten zurückgeht. Hier ist höchste Wachsamkeit geboten — gerade auch im Interesse der Entwicklungsländer.Hinweisen möchte ich noch auf die Notwendigkeit, dem Prinzip der Subsidiarität auch in der Entwicklungspolitik der Europäischen Union zur Geltung zu verhelfen. Die Bundesregierung kann sich auch hierbei auf die Unterstützung der F.D.P.-Fraktion verlassen.Es gibt, meine sehr verehrten Damen und Herren, in Deutschland außerhalb der Institutionen der staatlichen Entwicklungspolitik zahllose private und kirchliche Initiativen und Organisationen, die humanitäre Hilfe leisten, aber auch einzelne Entwicklungsprojekte fördern. Frau Dr. Schwaetzer und ich freuen uns darauf, in den nächsten Jahren mit ihnen zusammenzuarbeiten und auch aus ihren Erfahrungen und Kenntnissen zu lernen.Schließlich noch ein Wort zu den Finanzen, einem ja nicht ganz unwichtigen Thema, wie wir alle wissen. Der Haushalt des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung läßt nicht alle Blütenträume reifen. Der Anteil am Gesamthaushalt bleibt in der mittelfristigen Finanzplanung zwar konstant, jedoch entfernen wir uns immer mehr von jenem 0,7-Prozent-Ziel, das einen Zusammenhang herstellt zwischen der Kraft einer Volkswirtschaft und den Ausgaben für die Entwicklungspolitik. Natürlich darf man dieses Ziel nicht verabsolutieren, natürlich muß man die finanziellen Belastungen aus dem Jahrhundert-Freudenereignis der deutschen Einheit in Rechnung stellen, und natürlich muß auch Haushaltsdisziplin geübt werden. Bei der Frage, ob wir auf Dauer mit den geplanten Ansätzen auskommen, möchte ich jedoch ein ganz dickes Fragezeichen anbringen.Meine Damen und Herren, es gibt zum Glück auch Positives zu kommentieren. Am 16. Dezember hat der sogenannte Pariser Club für die ärmsten Staaten der Welt neue Schuldenerleichterungen vereinbart. Das ist — vermutlich durch die Weihnachtszeit — in der Öffentlichkeit leider ein wenig untergegangen. Die 18 westlichen Gläubigerstaaten des Pariser Clubs haben beschlossen, künftig den betroffenen Staaten bis zu 67 % ihrer Schulden zu erlassen, einigen Ländern sogar vollständig. Auf diesen gewaltigen Fortschritt hat die Bundesregierung maßgeblich hingewirkt. Ich gratuliere der Regierung zu diesem Erfolg und danke ihr dafür.
Wir Liberalen wollen uns in dieser neuen Legislaturperiode um eine moderne und kraftvolle Politik der Entwicklungszusammenarbeit bemühen. Wir bauen weiter auf den Vorarbeiten der letzten Jahre, wobei ich insbesondere Ingrid Walz dankbar nennen will.Wir bieten allen Fraktionen dieses Hauses eine faire Zusammenarbeit an und freuen uns auf ein konstruktives Zusammenwirken mit Ihnen, Herr Bundesminister Spranger.Seit der zweiten Hälfte der 60er Jahre hat unsere hochangesehene frühere Kollegin Liselotte Funcke den Begriff der Weltinnenpolitik in den politischen Diskurs eingeführt. Am 8. Mai 1970, also vor nahezu einem Vierteljahrhundert, hat sie, die ehemalige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, vor diesem Hause gesagt — ich zitiere zum Schluß —:Die Welt hatte gehofft, daß mit dem Niederringen am 8. Mai 1945 der Friede möglich sei. Diese Hoffnung hat getrogen. Und so mögen diejenigen im politischen Feld sich als bestätigt fühlen, die da meinen, eine Weltinnenpolitik ohne Waffengewalt sei eine Utopie. Meine Herren und Damen, es gibt viele Utopien in dieser Welt, für die sich die Bemühungen nicht lohnen. Ich meine aber, für die Erhaltung und Sicherung des Friedens .. . lohnt sich der rückhaltlose Einsatz.Soweit Liselotte Funcke.Entwicklungspolitik als Friedenspolitik in der einen Welt, in der wir leben — diese konkrete Utopie soll unser Handeln als Liberale in dieser Legislaturperiode leiten.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Winfried Wolf.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Als Bundeskanzler Helmut Kohl in Rio wieder einmal verkündete, daß das Ziel von 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts an öffentlicher Hilfe ,so rasch wie möglich' erreicht werde, gab es keinen Parlamentarier in Bonn, der an Hand der Haushaltszahlen ... vorgerechnet hätte, daß dies weder möglich noch beabsichtigt sei." — Ich höre keinen Beifall bei der SPD; dabei habe ich mit diesen Worten Erhard Eppler zitiert.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 679
Dr. Winfried WolfSie erinnern sich: Eppler war insofern der bisher erfolgreichste Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, als nur unter ihm der Anteil der sogenannten Entwicklungshilfe am Bruttosozialprodukt in relevantem Maße gesteigert werden konnte. Heute liegt dieser Anteil mit 0,32 % niedriger als 1968, als Eppler antrat. Gestern wurde uns im Ausschuß durch den Regierungsvertreter erklärt — gewissermaßen als Schmankerl —, dieser Anteil drohe demnächst unter 0,3 % zu fallen.Aus dem Antrag der Koalitionsparteien zur Entwicklungspolitik springt einem aalglattes Eigenlob entgegen. Doch dieses Lob stinkt. Das sei hier in der Kürze der Zeit auf vier Ebenen konkretisiert.Erstens. Der Abstand zwischen Reich und Arm in dieser Welt wächst von Jahr zu Jahr. Die Anwendung der Gesetze der Marktwirtschaft wirkt in diese Richtung. Je mehr Freihandel, zu dem die Dritte Welt gezwungen wird, desto mehr Armut. Das ist nur konsequent. Die Anwendung gleichen Rechts bei ungleichen Grundbedingungen macht die Starken stärker und die Schwachen schwächer. Das ist das ABC des Kapitalismus, und das wissen Menschen, die sich auf den Marxismus — oder auf das Urchristentum oder auf die Theologie der Befreiung — positiv beziehen. Bereits bei Durchschnittswerten der Einkommen wird hierzulande heute 60mal mehr als in der Dritten Welt verdient. Dieser Abstand hat sich in den vergangenen vier Jahrzehnten verdreifacht.Zweitens. Bereits die eigentliche Bonner Entwicklungspolitik muß, wie mit dem Eppler-Zitat eingangs dokumentiert, vernichtend bilanziert werden. Darüber hinaus geht die zentrale Forderung der Bevölkerungskonferenz in Kairo in diese Debatte nicht einmal ein — leider auch nicht in die Anträge der Grünen und der SPD. In Kairo wurde gefordert, daß 20 % der Entwicklungshilfe der OECD-Staaten für Gesundheit und Bildung ausgegeben werden müssen. Im Bonner Etat, Einzelplan 23, sind schlappe 5 % für diese für die Menschen entscheidenden Bereiche vorgesehen. Doch es mangelt, bisher jedenfalls, nicht an den 234 Millionen Mark für einen Staudamm Aroun III in Nepal — ein neues Denkmal patriarchalen und ökologisch zerstörerischen Technikverständnisses.Drittens. Wer über die Bonner Entwicklungspolitik redet und sich auf den Etat von Herrn Spranger beschränkt, redet nicht einmal von der halben Miete. Der Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit ist — gerade hinsichtlich der Politik gegenüber der Dritten Welt — von zweit-, wenn nicht gar von drittrangiger Bedeutung. Was nutzt die hochzuschätzende Arbeit von Menschen im Entwicklungsdienst, wenn die großen Gelder aus anderen Etats in die entgegengesetzte Richtung wirken!Stichworte: 1993 Lieferung von 39 NVA-Kriegsschiffen für die Diktatur in Indonesien, finanziert mit Hermes-Krediten, also Steuergeldern. Vor wenigen Wochen war der Menschenrechtler Indro Tjahjono aus Djakarta, u. a. bei mir, zu Besuch. Seine Mitteilung war, jetzt stehe eine Lieferung von deutschen Gepard-Panzern für die Suharto-Diktatur an. All dies erfolgt vor dem Hintergrund, daß die UNO, die ja immer dann zitiert wird, wenn es in den Kram paßt, gegenüber Indonesien einen Wirtschaftsboykott beschlossen hat, u. a. wegen massiver Menschenrechtsverletzungen durch das Suharto-Regime und dessen Krieg in Ost-Timor.Viertens, zur Schuldenkrise: Wir lesen, die Bundesregierung habe einen „substantiellen Beitrag zur Milderung der Finanzprobleme" in der Dritten Welt geleistet. Ist es nicht so, daß die Schuldenlast der Dritten Welt immer drückender wird? Als 1987 die Drittweltschulden erstmals die Debatten bestimmten, hatten diese eine Höhe von 1,4 Billionen Dollar erreicht. In diesem Jahr wird die Schallmauer von 2 Billionen Dollar durchbrochen werden; das entspricht einer Steigerung von 40 %.Gab es nicht gerade vor Weihnachten Börsenkrachs und Abwertungen in Mexiko und ganz Lateinamerika? Haben sich nicht allein dadurch die Schulden der betroffenen Länder — in ihren Währungen und ihren Warenwerten gerechnet — zum Teil um bis zu 30 bis 40 % erhöht? Explodieren nicht die debt-to-equityswaps, d. h. die Umwandlung von Altschuldentitel in Neueigentum westlicher Konzerne in der Dritten Welt durch den Aufkauf von Fluglinien, Telefongesellschaften, Ölgesellschaften wie Pemex, Mexiko, oder Petrobas, Brasilien?Erleben wir nicht schlicht eine Form der Rekolonialisierung? Die alten Kolonialmächte werden erneut zu Eigentümern an den gesellschaftlichen Werten, welche die Menschen in der Dritten Welt geschaffen haben. Fordern nicht viele kirchliche und DritteWelt-Gruppen zusammen mit uns weiterhin die Streichung der Schulden der Dritten Welt, weil andernfalls die betroffenen Länder durch diese Schulden erdrosselt werden?Werte Kolleginnen und Kollegen, was ich bisher sagte, läßt sich auch in orthodoxere Worte kleiden — ich zitiere —:Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den . . . Lebensinteressen des Volkes nicht gerecht geworden. eine Neuordnung von Grund auf erfolgen. Inhalt und Ziel dieser Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben sein. (Notwendig ist) eine gemeinwirtschaftliche Ordnung.Es handelt sich nicht um ein Zitat von der SED, sondern ist, wie Sie vielleicht richtigerweise festgestellt haben, eine Aussage des Ahlener Programms der CDU aus dem Jahre 1947.
Diejenigen, die diesen Text damals ernst nahmen, sagten: Es war der Kapitalismus, der in das NaziTerrorregime führte. Eine „Neuordnung von Grund auf" sei erforderlich, um Vergleichbares zu vermeiden.Heute haben wir weltweit eine vergleichbare Situation: Das bürokratische System im Osten mit dem Etikett „real existierend" hat versagt und ist implodiert. Das übriggebliebene kapitalistische System versagt jedoch Tag für Tag, immer gemessen an den Aufgaben, vor denen die Menschheit hierzulande, in der Zweiten Welt und in der Dritten Welt steht.
Metadaten/Kopzeile:
680 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Dr. Winfried WolfAusdruck dieses Versagens ist bereits das Grundprinzip der Spaltung in Welten, ein Versagen, weil es nicht zu einer Eine-Welt-Politik kommt, ganz im Gegensatz zu dem, was mein Vorredner gesagt hat.Viele von Ihnen wissen dies alles. Ein beachtlicher Teil reagiert darauf mit purem Zynismus oder dummen Zwischenrufen. Aber einige aus diesem Haus und vor allem außerhalb werden sich weiter engagieren für eine Gesellschaft, in der statt Ellbogen, statt Profit und statt eines brutto wie netto unsozialen Wachstums der Mensch und die Solidarität im Mittelpunkt stehen.Danke schön.
Ich erteile das Wort dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Carl-Dieter Spranger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Beginn der neuen Legislaturperiode bedeutet für die deutsche Entwicklungspolitik keinen Wendepunkt. Wir haben die wesentlichen Neuorientierungen schon im Jahre 1991 vorgenommen; der Herr Kollege Pinger hat das überzeugend dargelegt. Diese Neuorientierung gilt es nun zu konsolidieren, umzusetzen, fortzuentwickeln, wo dies notwendig ist; denn es hat seit 1989 doch beträchtliche weltpolitische Umbrüche gegeben. Denen haben wir 1990/91 Rechnung getragen.Ich freue mich im übrigen natürlich, daß mit den heutigen Anträgen von SPD und auch den GRÜNEN, wenn auch mit erheblicher Verzögerung, der Anschluß an die Entwicklungspolitik der Bundesregierung gesucht
und in einer Reihe von Punkten, zumindest teilweise, gefunden wird.Liebe Frau Kollegin Eid, ich danke Ihnen für Ihre Bemerkungen zu meiner bevorstehenden Reise. Vielleicht haben wir Gelegenheit, in der kommenden Woche noch Anliegen zu erörtern, die Sie durch Ihr Engagement besonders beschäftigen.Aber ich möchte auch sagen, daß ich die Unverfrorenheit und Verbohrtheit, die der Vertreter der PDS mit seinen Ausführungen an den Tag gelegt hat, als besonders empörend empfunden habe.
Wir haben die Entwicklungsarbeit der früheren DDR in sechs Monaten abgewickelt. Übriggeblieben sind 60 vernünftige Projekte. Mit den anderen Projekten haben Sie über Jahrzehnte hinweg in vielen Entwicklungsländern Not, Elend und grobe Verletzung der Menschenrechte produziert; das war die damalige Entwicklungspolitik der SED.
Statt sich hier hinzustellen und mangelnde Finanzen zu beklagen: Wir könnten sehr viel mehr für die Entwicklungsländer tun, wenn wir nicht mit vielen Milliarden den Schrott abräumen müßten, den Sie nach 40 Jahren Diktatur — und der Kommunismus im übrigen in vielen Ländern — hinterlassen haben.
Meine Damen und Herren, in den Anträgen, die der heutigen Debatte zugrunde liegen, wird der Bezug der deutschen Entwicklungspolitik zur internationalen Entwicklungszusammenarbeit angesprochen. Ich möchte in diesem Zusammenhang zunächst meiner großen Genugtuung Ausdruck geben, daß es der Bundesregierung gelungen ist, UNV, die Entwicklungshelferorganisation der Vereinten Nationen, nach Bonn zu holen.
Boutros-Ghali, der Generalsekretär der Vereinten Nationen, hat mir vorgestern bestätigt, daß dies auch als ein Zeichen der Anerkennung der deutschen Entwicklungspolitik zu verstehen ist. Ich meine, darüber können wir uns alle zu Recht freuen.Mit unserer auf den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen fußenden und gleichzeitig realistischen und sachbezogenen entwicklungspolitischen Konzeption haben wir als eines der ersten Industrieländer 1991 die neuen Herausforderungen der internationalen Entwicklungspolitik aufgegriffen, unsere bilaterale Entwicklungszusammenarbeit effizienter gestaltet und auch die multilaterale Praxis geprägt.Die Welt hat sich in den letzten Jahren dramatisch verändert. Staaten zerfallen, neue Grenzen entstehen. Andererseits geht uns der Begriff „Eine Welt" schon wie selbstverständlich über die Lippen. Dahinter steht aber ein Anspruch, dem wir noch nicht gerecht geworden sind. Dazu müssen wir der Entwicklungspolitik eine neue nationale und internationale Priorität beimessen; denn sie ist es, die sich der zentralen Fragen unserer Zukunft annimmt.
Die Krisen in Somalia, Ruanda, Bosnien und ganz aktuell in Tschetschenien zeigen vor allem eines: Unsere klassischen Instrumente der Konfliktbewältigung reichen nicht aus. Andererseits wird es nicht bei den genannten Krisen bleiben.Die Welt am Ausgang dieses Jahrhunderts sucht nach einer neuen Ordnung. Dies wird zu weiteren Umbrüchen führen. Wir können das damit verbundene Leid für die Menschen und die Zerstörung materieller und kultureller Werte nur verhindern, wenn wir die gesellschaftlichen Ursachen der Konflikte frühzeitig erkennen und uns ihnen gezielt widmen. Das bedeutet: Zusammenarbeit in Wissenschaft, Technologie, in kulturellen und sozialen Fragen, in Wirtschaft und Politik. Nur ein immer dichter geflochtenes Netz internationaler Kooperation wird den Menschen mehr Sicherheit geben und uns in die Lage versetzen, die großen globalen Herausforderungen,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 681
Bundesminister Carl-Dieter Sprangerdie sich uns stellen, zu meistern. Dies ist Aufgabe und Ziel der Entwicklungspolitik. Dazu wollen wir uns bilateral und multilateral entschlossen einsetzen.Entwicklungspolitik — auch da sind wir uns sicher einig — ist eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe. Mit punktueller Projektpolitik und im Alleingang einzelner Länder ist sie nicht zu bewältigen. Deshalb müssen wir mit unserer entwicklungspolitischen Konzeption, die sich als richtig und angemessen erwiesen hat, noch stärker in die internationalen Organisationen hineinwirken und den Nutzen der multilateralen Entwicklungszusammenarbeit auch in der Öffentlichkeit besser verdeutlichen.
Wir können hier auf zahlreiche Erfolge verweisen, die über die im Antrag der Koalitionsfraktionen enthaltene Bilanz noch hinausgehen. So hat Deutschland die Entschließung des Rates der EG über Menschenrechte, Demokratie und Entwicklung vom November 1991 initiiert, die unsere entwicklungspolitischen Kriterien auch für die EU verbindlich macht. Im Rahmen des Development Assistance Committee haben wir die „Orientierungen zu Partizipation und guter Regierungsführung" vom Dezember 1993 wesentlich beeinflußt. Wir haben ebenfalls nachdrücklich und mit Erfolg darauf gedrängt, daß die Mitwirkung der betroffenen Bevölkerung in den Entwicklungsländern in der Projektpraxis der Weltbank und der DACMitgliedsländer eine größere Rolle spielt.
Die Bundesregierung hat sowohl durch bilaterale Initiativen als auch durch aktive Unterstützung multilateraler Ansätze zur Fortentwicklung der internationalen Schuldenstrategie beigetragen. Wesentliche Elemente unserer entwicklungspolitischen Konzeption spiegeln sich auch in der Agenda 21 und in der Schlußdeklaration der Wiener Menschenrechtskonferenz wider.Ich habe es mir zu einem persönlichen Anliegen gemacht, die Effizienz der multilateralen Entwicklungszusammenarbeit zu verbessern. Die Weltbank und die Regionalen Entwicklungsbanken haben spezielle Arbeitsgruppen, teilweise auch mit deutschem Vorsitz, eingerichtet, um entsprechende Empfehlungen auszuarbeiten.Aber, meine Damen und Herren, die Mittel der deutschen Entwicklungspolitik — nicht nur die finanziellen — sind natürlich begrenzt. Der Realismus gebietet es, vor übertriebenen Erwartungen zu warnen; denn das Ausmaß der Katastrophen, die unsere Welt bedrohen, ist weiterhin und auch zukünftig beängstigend. Entwicklungspolitik, die sich diesen großen globalen Herausforderungen stellen muß, kann deshalb nur als globale Strukturpolitik verstanden werden. Als Politik der Zukunftssicherung ist sie zu einer übergreifenden Aufgabe geworden. Sie kann ihre volle Wirksamkeit nur entfalten, wenn alle Politikbereiche zusammenarbeiten. Dies werden wir einfordern.
Die unterschiedliche Entwicklung in den verschiedenen Regionen der Welt, die unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Erfolgsprognosen erfordern, daß wir das weitgefächerte Instrumentarium der Zusammenarbeit differenziert anwenden. In großen Flächenstaaten wie Brasilien und Indien, die Merkmale von Industrie- und Entwicklungsländern gleichzeitig aufweisen, muß das Profil unserer Entwicklungszusammenarbeit anders aussehen als im Armutsgürtel Afrikas. Gerade die Schwellenländer Südostasiens und Lateinamerikas, die im übrigen den Erfolg entwicklungspolitischer Anstrengungen nachweisen,
bieten sich uns auch als Wirtschaftspartner an. Eine engere Zusammenarbeit auf wissenschaftlich-technischem Gebiet, in der industriellen Entwicklung, aber auch bei der Steigerung der wirtschaftlichen Leistungskraft liegt daher im beiderseitigen Interesse.Wir werden weiterhin daran arbeiten, die deutsche Entwicklungszusammenarbeit zu modernisieren und fortzuentwickeln, um auch zukünftig eine in Konzeption und Praxis überzeugende Politik anzubieten. Zentrale Forderungen des Regierungsprogramms wie die Verschlankung des Staates und die Vereinfachung der Verwaltungsverfahren gelten auch für die Entwicklungspolitik. Fragen wie eine weitere Delegation von Aufgaben von der ministeriellen auf die Durchführungsebene, eine noch engere Verknüpfung von Finanzieller und Technischer Zusammenarbeit und eine Zusammenführung der verschiedenen Instrumente der Nothilfe werden derzeit im BMZ geprüft.
Eine Reihe von Reformvorschlägen sind von den Institutionen der deutschen Entwicklungspolitik, aber auch von Nichtregierungsorganisationen an uns herangetragen worden. Ich habe in den letzten Wochen eine Fülle von Gesprächen geführt. Wir haben am 23. dieses Monats eine große Konferenz im BMZ mit fast 70 Nichtregierungsorganisationen.Ich sage auch jetzt schon: Ich bin dankbar für die vielen Beiträge und den offenen, konstruktiven Meinungsaustausch, in den ich ausdrücklich auch die Opposition einbeziehen möchte.Die Anträge der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN enthalten eine Reihe von diskutablen Vorschlägen, die von unserer Auffassung zum Teil nicht allzuweit entfernt sind. Über andere Vorschläge sollte in den Ausschüssen eingehend diskutiert werden. Wir werden sie alle sorgfältig prüfen. Andere, wie z. B. eine jährliche Steigerung der Zusagen um 10 % — ich persönlich würde dies großartig finden —, sind leider unrealistisch; das wissen wir alle. Dennoch erkenne ich auch bei Ihnen das Bemühen, die Entwicklungspolitik zu stärken und die Voraussetzungen dafür zu verbessern, daß unser Land seiner gewachsenen Verantwortung in der Welt in noch stärkerem Maße gerecht wird. Diesem Ziel wollen wir uns weiterhin verpflichtet fühlen und mit aller Kraft — hoffentlich gemeinsam — dafür arbeiten.
Metadaten/Kopzeile:
682 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Bundesminister Carl-Dieter SprangerVielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Frau Kollegin Dagmar Schmidt, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie alle wissen, daß Abkommen, Beschlüsse und Empfehlungen allein nicht ausreichen, um die Lebensbedingungen und Chancen der Menschen in den Entwicklungsländern zu verbessern, sondern daß es auf die Umsetzung von Vereinbarungen ankommt. Konferenzen bringen nichts für die Lösung der globalen Entwicklungsprobleme, wenn deren Ergebnisse nicht in die Tat umgesetzt werden. In diesem Punkt sind wir uns hoffentlich alle einig. Doch was die Konzepte und ihre Verwirklichung anbetrifft — das zeigt ein Vergleich der beiden Anträge —, sind wir sehr unterschiedlicher Meinung. Wie der Koalitionsentwurf und im übrigen auch andere Veröffentlichungen der Bundesregierung, wie z. B. das Journalisten-Handbuch, zeigen, liegen Theorie und Praxis in der deutschen Entwicklungspolitik der letzten Jahre weit auseinander.
Mein Fraktionskollege Ingomar Hauchler hat die entscheidenden Punkte des SPD-Antrags bereits herausgearbeitet. Darum lassen Sie mich nur noch einige wenige Gedanken ergänzen, die mir in diesem Zusammenhang besonders wichtig sind.In Zukunft sollten die Nichtregierungsorganisationen auf Grund ihrer Nähe zu den Selbsthilfe- und Basisgruppen in den Entwicklungsländern stärker einbezogen werden, sollten wir uns zu unserer Verantwortung für die wachsenden globalen Probleme bekennen, global denken und handeln und sollten wir darauf dringen, daß der Waffenexport weiter eingedämmt wird. Diese wichtigen Punkte vermisse ich im Entwurf der Koalition gänzlich.„Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit hat aus den Fehlern vergangener Jahrzehnte gelernt", heißt es darin. Hat sie wirklich? Wir sollten sie an ihren Taten messen, nicht an ihren Worten. Taten, die auf die Veränderungen des entwicklungspolitischen Umfeldes eingehen: die erdrosselnde Verschuldung, die wachsende Zahl von Konfliktherden, die zunehmende Bereitschaft zu militärischen Aggressionen, die globalen, d. h. uns alle angehenden Umweltprobleme, um nur einige Beispiele zu nennen; Taten, die zur Lösung der globalen Probleme beitragen. Es darf aber nicht lediglich eine Katalogisierung der Mißstände geben; sie sind bekannt.Armut muß man nicht seitenlang definieren, klassifizieren und hierarchisieren. Gehen wir die Mißstände konkret an: die viel zu hohe Kindersterblichkeit, die Diskriminierung der Frauen und Minderheiten schlechthin, die Defizite an Partizipation in bezug auf jegliche Bildung, medizinische Versorgung und eigenverantwortliche Lebensgestaltung in den Entwicklungsländern. Wo bleiben die Konsequenzen, die sich daraus ergeben müßten? Warum wird der BMZEtat nicht gewaltig aufgestockt angesichts dieser wachsenden Probleme?Gute Ansätze bleiben zurück in den Schubladen des BMZ, das Einschränkungen seiner Zuständigkeiten hinnehmen muß; Einschränkungen in der Handels- und Rohstoffpolitik, Einschränkungen in der internationalen Finanzpolitik. Wo bleiben die demokratischen Kontrollorgane gegenüber der Weltbank, den regionalen Banken usw.? Eine solch bescheidene Entwicklungspolitik verkommt zum Feigenblatt, unter dem sich die Impotenz globalen Handelns verbirgt.
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen ein Zitat aus dem Journalisten-Handbuch bieten — der Dokumentation deutscher Entwicklungspolitik schlechthin —, das die Grundkonzeption der bundesdeutschen Entwicklungspolitik zusammenfaßt:Eine marktwirtschaftlich ausgerichtete Wirtschaftsordnung, die sich zu sozialer und ökologischer Verantwortung bekennt, muß z. B. ein angemessenes Verhältnis der Sozialausgaben zu den Rüstungsausgaben anstreben.Ich will die Wahrhaftigkeit dieses Satzes auf den Prüfstand stellen; denn hier werden die Lösungen für alle Probleme, soziale, ökologische und die durch Rüstungsausgaben verursachten, auf die anonyme Instanz der marktwirtschaftlich ausgerichteten Wirtschaftsordnung abgeschoben.Aber wo finden wir die unbequemen, geradlinigen, an Menschenrechten ausgerichteten Kriterien? Ich sage: nicht bei einer Regierung, die dem chinesischen Regierungschef bei seinem Staatsbesuch den roten Teppich ausrollt, unter den zuvor bergeweise kritische Fragen gekehrt worden sind.Kritische Fragen müssen erlaubt sein, auch z. B. im Hinblick auf die Aussagen der Bundesregierung zur Umsetzung der UNCED-Beschlüsse. Wieder im Handbuch heißt es:Gerade im Bereich Umweltschutz ist es notwendig, daß die Entwicklungsländer sowohl unser Wissen als auch unsere Technologien nutzen können.Dieser Satz verkommt ohne die Erkenntnis, daß wir im globalen Kontext „unser Wissen und unsere Technologien" stärker für den Umweltschutz nutzbar machen müssen, zu einer arroganten, einseitigen Schuldzuweisung: hier die mit dem Wissen und der Technologie, dort diejenigen, die die Tropenwälder abholzen.Damit kein Mißverständnis entsteht: Es soll niemandem „unser Wissen und unsere Technologien" vorenthalten werden. Aber nutzen wir eigentlich „unser Wissen", setzen wir in ausreichendem Maße „unsere Technologien" hier ein?An anderer Stelle im Journalisten-Handbuch — im Antrag fehlt dieser Aspekt, wie schon gesagt — werden die nichtstaatlichen Organisationen für ihre Arbeit gelobt. Insbesondere die Kirchen würden zunehmend in die Erstellung der entwicklungspolitischen Konzeption der staatlichen Organisationen einbezogen. Diesem „zunehmend" stehen bei genauerem Hinsehen allerdings reduzierte Zuschüsse für die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 683
Dagmar Schmidt
NROs gegenüber. Dem Zuckerstückchen folgt die Ohrfeige.Wie ernst die Regierung die Einbeziehung der Nichtregierungsorganisationen nimmt, zeigt ein Beispiel aus dem vergangenen Jahr. Sie hat nämlich die Ankündigung, die NROs im Vorfeld des Weltsozialgipfels einzubinden, nicht in die Tat umgesetzt.Meine Damen und Herren, die weise Einsicht, daß man „auf Friedensstörungen und Bürgerkriegsparteien ... entschieden, frühzeitig und koordiniert einwirken" muß, die sich in der erwähnten Dokumentation findet, ist das Papier, auf dem sie steht, nicht wert, wenn die Forderung nach staatlicher Unterstützung von Friedensforschungsinstituten mit kalter Hand vom Tisch gewischt wird.Wie will man denn frühzeitig erkennen, wo es in dieser komplexen Welt zu Friedensstörungen kommen könnte, wenn man die Institute zum Einstellen ihrer Arbeit verdammt? Wie sollen zielgerichtet Ursachen, auch und gerade Fluchtursachen, bekämpft werden, wenn man sich nicht um die Arbeit von Friedensforschungsinstituten bemüht?Große Hoffnung löste bei mir zunächst der Satz aus:Wir wollen, daß die Mittel und Kräfte, die durch das Ende des Ost-West-Gegensatzes frei werden, den Menschen in Asien, Afrika und Lateinamerika zugute kommen.Sollte das etwa heißen, daß jetzt, nach dem Ende des Konflikts, der Rüstungsetat erheblich gekürzt wird und diese Summen auf das BMZ umgeschichtet werden? Mitnichten. Übrigens wird durch den Abzug der NATO-Kräfte auch eine ganze Menge Bundesvermögen frei.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende. Bitte, noch einen Schlußsatz.
Noch einen Satz.
Wo sind im Ausgabenansatz die freigewordenen Mittel?
Ich möchte Ihnen dann zum Schluß vielleicht nur eine Zeile, einen Gedichtvers, vortragen.
Nein. Bitte, nur noch einen Satz.
Das ist ein Satz mit Kommas.
Kein Schatten ist auf der Erde der Mehrzahl der Menschen
kein Licht auf der Straße keine Scheibe im Fenster,
nur Hoffnung ist der Mehrzahl der Menschen gegeben,
ohne Hoffnung kann sie nicht leben. Schönen Dank.
Herr Kollege Dr. Christian Ruck, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben heute bereits viel Lyrik gehört, gerade noch von der Opposition, und zwar schöne Lyrik, Frau Schmidt, aber auch Lyrik mit größeren Mißtönen und Mißstimmigkeiten. Diese Mißstimmigkeiten möchte ich vielleicht an ein paar Beispielen insbesondere aus dem Umweltbereich erläutern, wo ich natürlich besonders sensibel bin und zu dem ich sagen muß, Herr Professor Hauchler: Was Sie nicht nur dazu, aber auch dazu ausgeführt haben, war schon in hohem Maße undifferenziert bis falsch.
Natürlich hat durch die dramatische Verschlechterung der natürlichen Lebensbedingungen weltweit und in besonderer Schärfe auch in den Entwicklungsländern die deutsche Entwicklungspolitik in der Vergangenheit eine neue Herausforderung bekommen, nämlich den Aufbau der Umweltpartnerschaft zwischen Nord und Süd. Aber nirgendwo sonst hat sich die Entwicklungspolitik dieser neuen Herausforderung ernsthafter angenommen als in Deutschland.
— Warten Sie mal!
Es waren, nebenbei bemerkt, die CSU-Entwicklungshilfeminister Warnke, Klein und Spranger, unter denen der Anteil der Umweltprojekte an der Entwicklungszusammenarbeit unbestritten Schritt für Schritt auf über ein Viertel geklettert ist. Für 1995 wird sogar die 30-Prozent-Marke angestrebt. Es waren die Bundesregierungen mit diesen CSU-Ministern, die die Umweltverträglichkeitsprüfung für alle Entwicklungsprojekte eingeführt haben.
Weit im Vorfeld der Konferenz von Rio — auch das ist ja bekannt — hat Bundeskanzler Kohl als erster hochrangiger Politiker den Schutz des Tropenwaldes zum Thema auf G-7-Gipfeln gemacht und erste große Rettungsprogramme durchgesetzt. Ohne den engagierten Einsatz — Herr Professor Hauchler, das hat sich doch mittlerweile herumgesprochen — der Vertreter der Bundesregierung beim Gipfel in Rio wäre derselbe jeden Tag mehrmals geplatzt. Deutschland ist mittlerweile der größte bilaterale Geber im Bereich der Tropenwalderhaltung und auf dem Gebiet des Wasser- und Gewässerschutzes.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hauchler?
Gleich.Ich möchte auch ausdrücklich die auf deutschfranzösische Initiative zustande gekommene globale Umweltfazilität würdigen, deren deutscher Beitrag für die nächsten drei Jahre in Höhe von fast 400 Millionen DM weit über unsere normalen Verpflichtungen hinausgeht.Bitte, Herr Kollege.
Metadaten/Kopzeile:
684 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Herr Kollege Hauchler, bitte.
Herr Kollege Ruck, würden Sie mir darin zustimmen, daß wir von der SPD, aber auch andere Oppositionsparteien immer den Kurs unterstützt haben, mehr Projekte der deutschen Entwicklungsarbeit mit Umweltorientierung zu machen, und daß wir selbstverständlich alle zusammen die Politik einer stärkeren Umweltverträglichkeit aller Projekte unterstützt haben? Das habe ich ja gar nicht bestritten. Würden Sie mir aber auch recht geben, wenn ich sage, daß die Hauptprobleme der globalen Umweltzerstörung nicht mit der Umweltverträglichkeit deutscher Projekte gelöst werden können, sondern nur durch eine generelle Umorientierung der internationalen Wirtschafts-, Verkehrs- und Energiepolitik, und daß es auch zur Entwicklungspolitik gehört, sich vor allem dafür einzusetzen, weil das nämlich der Hauptaspekt ist?
Auf dein Wohlwollen, lieber Werner Schuster, lege ich natürlich besonderen Wert; das ist klar.
Professor Hauchler, in meiner Rede käme jetzt einiges, was zu Ihren Fragen direkt Stellung nimmt. Aber sobald Sie sich setzen, läuft meine Redezeit wieder.
Deswegen bin ich jetzt etwas unschlüssig, was ich machen soll.
Das ist der Fluch der guten Tat, Herr Hauchler.
Ich möchte unter Hinweis auf das noch Folgende Ihre Frage vorab so beantworten: Sie haben recht, wenn Sie sagen, Umweltpolitik allein, wenn wir nur auf die Umweltprojekte schauen, wird die Umwelt nicht besser machen. Ich muß die Gesamtschau vor allem in der Entwicklungspolitik berücksichtigen. Aber ich muß auch die Gesamtschau zwischen Entwicklungspolitik vor Ort und Umweltpolitik bei uns berücksichtigen. Darauf komme ich zurück.
Sie haben undifferenziert und dreisterweise — das muß ich hinzufügen — auch in diesem Punkt behauptet,
wir täten nichts, wir täten zuwenig und wir täten das Falsche. Das ist schlichtweg falsch.
Es widerspricht im übrigen Ihrer Argumentation, wenn Sie sagen, Sie hätten uns immer unterstützt, was übrigens auch stimmt.
Soweit meine Antwort.
Wollten Sie eine Zusatzfrage stellen?
Jetzt kommt es, Herr Professor Hauchler. Nicht nur in der Masse — Sie sind doch in diesem Fall Oppositionsführer; Werner Schuster hat noch nicht gesprochen —, sondern auch qualitativ hat sich unbestreitbar Positives getan. Umwelt- und Ressourcenschutz sind längst keine isolierten Projekttypen, sondern sind zur Querschnittsaufgabe der Entwicklungspolitik geworden. Wer die natürlichen Lebensgrundlagen erhalten will, muß auch Unwissenheit, Armut und Elend bekämpfen. Umweltschutz muß mit den Menschen vor Ort betrieben werden, nicht ohne sie oder gar gegen sie. Vor allem: Umweltschutzprojekte brauchen Zeit, Geduld und stabile Rahmenbedingungen, um wirken zu können.Diese Erkenntnisse hat die deutsche Entwicklungspolitik schon lange vor der Rio-Konferenz in ihrer Spitze mit engagierten Beamten und Experten in vielen Projekten erfolgreich umgesetzt. Diese Projekte können von jedem besichtigt werden, wie z. B. in Tunesien, wo nach 15 Jahren geduldiger Projektarbeit die Wüste wieder zum Leben erweckt wurde und den umwohnenden Menschen wieder Wasser und Wild liefert, oder im Selous-Gebiet in Tansania — Werner Schuster, dazu nehme ich dich als Kronzeugen —, wo die Dörfer am Rande eines deutschen Entwicklungsprojekts an den Einnahmen aus einer geregelten Jagd und sanftem Tourismus mitverdienen und so mit unserer Hilfe auch Schulen, Kindergärten, Brunnen und ähnliches errichten können. Dies ist also nicht nur ein Umweltprojekt, sondern eine Querschnittsaufgabe, zu der auch die Armutsbekämpfung gehört. Dies ist auch der Fall im indischen Maharaschtra, wo mit deutschen Geldern die Bevölkerung und indische Nichtregierungsorganisationen zerstörte Wassereinzugsgebiete wiederherstellen.Erinnert sei auch an die erfolgreichen Beratungsprojekte zum Transfer umweltfreundlicher Technologien, speziell für Klein- und Mittelindustrien etwa in Thailand und Indien. Erinnert sei daran, daß auf Initiative und Antrag der Entwicklungspolitiker in diesem Parlament die Zusammenarbeit der Bundesregierung mit nationalen und internationalen Umweltorganisationen erheblich ausgeweitet wurde. So arbeiten Fachleute der GTZ und der KfW Hand in Hand mit dem WWF Deutschland etwa in Indonesien, der Elfenbeinküste und der Mongolei zusammen.Ich glaube schon — das hat nichts mit Arroganz zu tun —, daß gerade diese Schritte in den letzten Jahren auch für die internationale Entwicklungspolitik richtungsweisend gewesen sind. Ich kann sie nur zum Ausbau und zur Nachahmung empfehlen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 685
Dr. Christian RuckDeswegen ist der Begriff Neuorientierung in dem SPD-Antrag wirklich irreführend. Nicht nur in der Umweltpolitik, aber da besonders ist es mir aufgefallen. Die Begriffe, die in dem Antrag vorkommen und die ich meistens — manchmal auch uneingeschränkt — unterstützen kann, sind, obwohl sie uns als neu vorgeschlagen werden, ein alter Hut. Das sind Begriffe, die nicht immer lupenrein, nicht ohne Schwierigkeiten und nicht immer so, wie es jeder gern im Umfang hätte, längst zum Alltag der deutschen Entwicklungspolitik geworden sind. Sie sind es bei all den vielen Schwierigkeiten, die jeder von uns kennt, gerade unter Carl-Dieter Spranger geworden.
Das Problem ist doch nicht — man kann es klar ansprechen, und ich warne vor falschen Eitelkeiten —, daß wir nicht alle mehr wollten. Auch Carl-Dieter Spranger wollte mehr Entwicklungsprojekte und mehr Geld dafür. Das Problem ist doch, daß wir dabei — Stichwort Querschnittsaufgaben — in all unseren Parteien unsere Widerstände haben, bei den Agrarpolitikern, bei den Textilpolitikern usw. Deswegen braucht man doch hier nicht so zu tun, als wüßten Sie oder die GRÜNEN plötzlich, wo es langgeht, und als müßten wir dankbar sein, wenn wir die Vorschläge endlich auf den Tisch kriegen.
Es würde mich wahnsinnig reizen, auf Afrika einzugehen, aber ich habe nur noch eine Minute Redezeit. Mehr Geld für Afrika, als ob das die Lösung wäre. Da kann ich nur lachen.Ich würde auch gern auf die Arroganz und den Paternalismus eingehen. Wenn wir all das, was uns bei Regierungsverhandlungen vorgeschlagen wird, ohne paternalistisch zu sein, schlucken würden, dann käme da ein Unsinn heraus, der unglaublich wäre. Es würde kein einziges Regenwaldprojekt durchgehen. Das sage ich Ihnen.
— Paternalismus ist von der SPD gesagt worden. Sie haben auch gesagt, wir seien arrogant und drückten den anderen Entwicklungsprojekte aufs Auge.Ich mache mit Leidenschaft folgendes: Ich schlage den jeweiligen Verhandlungspartnern Umweltprojekte vor, die sonst nicht möglich wären, zumindest in vielen Ländern nicht.
— Entschuldigung, lieber Kollege Irmer.Ich muß jetzt schnell, bevor ich die Faust im Nacken spüre, noch folgendes sagen: Gerade beim Rio-Prozeß kann die positive Bilanz der Umweltpolitik der Bundesregierung respektive der Entwicklungspolitik der Bundesregierung nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Rio-Prozeß unendlich mühsam ist und eine weltweite Trendwende höchstens in Ansätzen erkennbar ist.Wir sollten uns auch überlegen, was wir in den nächsten vier Jahren tun können, um die Lösung dieses weltweiten Problems ein wenig stärker voranzubringen. Ich darf, ohne das noch näher ausführen zu können, drei Schwerpunkte nennen.Erstens. Wir müssen tatsächlich den internationalen Gleichklang der Geber stärken, auch in durchaus kämpferischer Auseinandersetzung mit anderen Entwicklungsgebern wie z. B. Japan, auch in kämpferischer Auseinandersetzung mit der Weltbank. Dazu haben wir einen Antrag im Bundestag verabschiedet.Wir müssen zweitens den Polit-Dialog mit den Entwicklungsländern stärken. Dazu möchte ich eines ganz klar an die Adresse der GRÜNEN sagen: Es ist richtig, wenn man uns vorwirft, wir machen dieses oder jenes im Norden gegenüber dem Süden falsch. Worte wie Protektionismus usw. sind bereits gefallen.
Herr Kollege Ruck, das ist nicht die Faust im Nacken. Es ist nur die lenkend liebevolle Stimme des amtierenden Präsidenten. Ihre Redezeit ist überschritten.
Eineinhalb Sätze noch. Aber entwicklungspolitisches Versagen hat zwei Seiten. Ich denke da auch an die unsägliche Politik vieler Eliten in der Dritten Welt, die alles andere tun, als die Armut in ihrem Lande zu bekämpfen.
Drittens. Wir müssen unsere eigenen Hausaufgaben in der Umwelt- und Klimapolitik machen.
Dann geben wir auch ein hervorragendes Beispiel für die Entwicklungsländer ab.
Vielen Dank.
Herr Kollege Dr. Werner Schuster, jetzt haben Sie das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Pinger! Dem letzten Satz meines Kollegen Ruck kann ich uneingeschränkt zustimmen; aber als wir Ihren Antrag, Herr Pinger, auf den Tisch bekommen haben, fühlte ich mich in meine Kindheit zurückversetzt.
Da gab es die Wallfahrten; und Sie wissen, da wird gelobt, gedankt und gepriesen.
Metadaten/Kopzeile:
686 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Dr. R. Werner Schuster— Richtig! Und es fehlt eigentlich nur noch die Aufforderung zum Kniefall vor dem heiligen CarlDieter.
Keine Blasphemien, Herr Kollege!
Das lag mir fern, Herr Präsident.
Ich war persönlich ein bißchen betroffen. Soviel selbstgefällige Naivität habe ich den Antragstellern eigentlich nicht zugetraut. Über die Provokation der Überschrift ist schon viel gesagt worden.
Herr Pinger, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie kennen doch sicher den UNDP-Report von 1994 zur menschlichen Entwicklung. Darin steht, daß eine Milliarde Menschen hungern, und es werden täglich mehr. Und Sie fordern uns auf „zu begrüßen" . Darin steht, daß ein Fünftel der Menschen, nämlich auch eine Milliarde, mit einem Sechzigstel des Geldes auskommen, das dem oberen Fünftel zur Verfügung steht. Die Schere wird immer größer, und Sie fordern uns auf „zu begrüßen" .
Darin steht, daß die Verschuldung sich von 1980 bis 1990 verdoppelt hat. Gestern haben wir gehört, daß es 1,8 Billionen Dollar sind. Und Sie erwarten von uns, daß wir „begrüßen"!
Herr Kollege Schuster, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pinger?
Ja, bitte.
Herr Dr. Schuster, würden Sie es, nachdem Sie mir und uns, was den Antrag angeht, eine etwas undifferenzierte Darstellung vorgeworfen haben, nicht selbst als verfehlt ansehen, wenn wir in dem Antrag begrüßen würden, daß Armut da ist und aufrechterhalten wurde? Meinen Sie nicht, daß das unangemessen wäre?
Ich komme später noch einmal auf das zu sprechen, was uns verbindet, Herr Pinger. Aber der Duktus Ihres Antrages ist eine selbstgefällige Dokumentation, wie erfolgreich wir Entwicklungspolitik gemacht haben, obwohl Sie und ich darin übereinstimmen, daß das Ergebnis leider anders ist.In dem zitierten UNDP-Bericht steht, daß wir als Europäer zwanzigmal soviel Energie verschwenden wie die im Süden. Darin steht, daß wir den Urwald in 40 Jahren um 50 % geschlachtet haben. Wo, meine Damen und Herren, ist eigentlich unser Modell einer nachhaltigen Entwicklung in Europa? Trotzdem sollen wir die erfolgreiche Politik begrüßen.Herr Kollege Pinger, Sie kennen das Papier, die Stellungnahme der deutschen NROs zum Weltsozialgipfel. Es ist von so „revolutionären" Gruppen wie der Caritas und der Diakonie unterschrieben worden, und sogar die Konrad-Adenauer-Stiftung hat mitgezeichnet. In einem Satz dieses Papiers steht: Sie kritisieren die Bundesregierung, daß sie als NROs zu dem Dialog nicht eingeladen worden sind. Offensichtlich ist IhrErfolg so umwerfend, daß Sie sich einer kritischen I Bewertung nicht aussetzen wollen.In dem Memorandum steht auch: Die NROs werfen der Bundesregierung vor, daß sie die soziale Wirklichkeit weltweit nur unvollkommen wahrnimmt. Sind die Unterzeichner wirklich alle nur Berufsnörgler? Da steht, daß von der Bundesregierung eine Soziale Marktwirtschaft eingefordert wird, und es wird vor einer Lösung ausschließlich durch Deregulation, Privatisierung und Liberalisierung gewarnt. Alles überflüssige Forderungen?Oder nehmen wir die Dokumentation in der „Frankfurter Rundschau", die Forderungen des Memorandums. Es wird eine Politikkohärenz gefordert. Meinen Sie, das hätten die Unterzeichner aus Daffke gefordert? Da wird ein Entwicklungskabinett gefordert. Etwa, weil es überflüssig ist? Da wird mehr Effizienz in der Durchführung angemahnt, Herr Kollege. Völlig grundlos?Nein, ich glaube schon, wir brauchen ein neues Entwicklungskonzept, und es kann nicht heißen: Weiter so! Es gibt viele gute Gründe, über diese Neuorientierung in Worten und Taten neu nachzudenken.An diesem Punkt habe ich drei Empfehlungen, eine an Sie, eine an meine Partei und eine an uns alle. An Sie, meine Damen und Herren von der Regierung, habe ich die Empfehlung: Der liebe Gott hat uns zwei Augen geschenkt; lassen Sie uns beide Augen benutzen und nicht immer nur einäugig gucken, was der Süden machen muß! Der Süden muß seine Hausaufgaben machen, und wir im Norden müssen sie machen. Beim beidäugigen Sehen hat man in der Regel mehr Chancen, die Wahrheit zu finden. Ich empfehle auch mehr Bescheidenheit darin, was deutsche Entwicklungspolitik leisten und nicht leisten kann.An meine Partei habe ich die Empfehlung: Wir müssen fair und redlich zugeben, auch wir hätten in der Regierungsverantwortung einige Sachzwänge zu respektieren, wenn auch zähneknirschend.Das dritte ist: Ich empfehle uns allen, Herr Kollege Pinger, einen produktiven Streit um das Notwendige, um das Angemessene der Wege und darüber, wie wir es umsetzen. Ich bin sicher, meine Damen und Herren: In den Zielen sind wir uns überwiegend einig.
— Überwiegend!Lassen Sie mich zum Schluß sechs therapeutische Maßnahmen diskutieren, auf die wir uns gemeinsam verständigen sollten. Da ist zum einen die Frage der Finanzierung und dieser ODA-Quote. Ich will einmal darauf hinweisen: Wir alle haben nach dem Ende des Ost-West-Konflikts versprochen, die Friedensdividende den Menschen in der Dritten Welt zugute kommen zu lassen.Ich möchte ein paar Zahlen nennen: Der Haushalt des Bundesverteidigungsministers erreichte 1991 die absolute Höhe von 55 Milliarden DM und ist jetzt auf 48 Milliarden DM gefallen. Die Friedensdividende betrug also in diesen vier Jahren 7 Milliarden DM. In
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 687
Dr. R. Werner Schusterder gleichen Zeit, Herr Minister Spranger, hat sich Ihr Haushalt um die 8 Milliarden DM eingependelt — nicht viel mehr, nicht viel weniger.Das wäre doch ein Wort, wenn wir in unseren eigenen Fraktionen dafür werben würden, daß wenigstens die Hälfte dieser Friedensdividende, nämlich 3,5 Milliarden DM, schrittweise für den Einzelplan 23 zur Verfügung steht.Meine Damen und Herren, warum fehlen uns 50 Millionen DM rechtzeitig in Ruanda für Prävention, aber nachträglich sind wir bereit, das Sechsfache zu bezahlen? Warum haben wir 400 Millionen DM für Somalia, aber die Aufstockung der Baransätze ist nicht möglich? Von den 17 Milliarden des Golfkrieges ganz zu schweigen!Zweite Maßnahme — ich will die Kohärenzdiskussion nicht wieder im Detail führen; sie ist von meinem Kollegen Hauchler, von Frau Eid und auch von dem Kollegen aus der PDS geführt worden —: Warum suchen wir nicht den Streit mit Herrn Minister Borchert, mit Herrn Minister Rexrodt, mit Herrn Waigel und Herrn Kinkel sowie mit den Kollegen in den entsprechenden Fachausschüssen, damit sie endlich verstehen, was das heißt: globale Sicherheit und Querschnittsaufgaben? Aber dann, Herr Minister, müßten Sie in Ihrem Ressort wahrscheinlich auch personell etwas ändern: weg von der Projektitis, mehr hin zu diesen Schwerpunktfragen. Das geht nicht von selber.Eine dritte Maßnahme: Wir Politiker sind alle „käuflich" .
— Lassen Sie mich ausformulieren. — Wir tun doch nur das, was unsere Wähler von uns wollen. Wenn wir von unserer Basis keinen Dampf kriegen, in der Entwicklungspolitik mehr zu tun, dann ändert sich nichts. Also brauchen wir eine verstärkte Lobby. Wir brauchen mehr Nichtregierungsorganisationen, wir brauchen mehr entwicklungspolitische Bildung, wir brauchen mehr in den Schulen, damit sich die Politiker endlich bewegen. Dann haben wir es leichter, unsere Funktion wahrzunehmen.
— Ich glaube, es war bei gutem Willen nicht mißzuverstehen. — Wir, meine Damen und Herren, hätten es dann leichter, im gesamten Bundestag wahrgenommen zu werden. Das würde aber bedeuten, daß Sie Ihr Haus, Herr Minister Spranger, zuallererst einmal als Lobbyministerium für diese eine Welt verstehen, inklusive entsprechender personeller Konsequenzen.
Herr Kollege Schuster, für die restliche Therapie haben Sie nur noch anderthalb Minuten Zeit.
Ich nenne den Punkt 4, die Änderung der multilateralen Hilfe. Auch darüber haben wir viel diskutiert. Es stellt sich die Frage: Wie beeinflussen wir das?
Fünftens, Herr Spranger, die Koordination der bilateralen FZ, TZ, PZ vor Ort: Ich darf an die Schwerpunkte der UNDP erinnern. Dort wäre viel zu gestalten, wenn wir es nur gemeinsam wollten.
Der sechste Punkt ist: Ich glaube, wir müssen uns auch Nachhaltigkeit stärker angewöhnen. Wir brauchen eine trägerübergreifende Nachhaltigkeitsüberprüfung, ob das, was wir beabsichtigen, auch wirklich so ankommt. Diese kritische Rückkopplung ist überfällig.
Ein letzter Satz, Herr strenger Präsident: Frau Kollegin Eid, bis 1970 war die Maxime der Entwicklungszusammenarbeit Barmherzigkeit und Charity. Nicht zuletzt durch Herrn Eppler ist in den Jahren 1970 bis 1990 die Forderung nach mehr Gerechtigkeit, nach Justice, gekommen.
Ich glaube, das reicht heute nicht mehr. Wir reden heute um das Überleben von uns selbst. Meine Damen und Herren, diesem Anspruch sollten wir gemeinsam gerecht werden.
Herr Kollege Alois Graf von Waldburg-Zeil, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte den konstruktiven Streit um den besten Weg in der Entwicklungspolitik auf einen Punkt zurückführen, bei dem wir bei den vorgelegten Anträgen eigentlich einer Meinung waren. Das ist das Prinzip der Subsidiarität, also der von unten her gestuften Verantwortung. Ich darf es mit einem Satz aus unserem Koalitionsantrag sagen: Es seien „die produktiven Fähigkeiten der Armen in den Entwicklungsländern, die in der Regel die Mehrheit der dortigen Bevölkerung stellen, zu entfalten".Die ganz wesentliche Voraussetzung dafür, daß das gelingen kann, ist die Förderung von Bildung und Wissenschaft in der Entwicklungspolitik. Darauf möchte ich kurz zu sprechen kommen.Das BMZ hat zur Förderung von Bildung und Wissenschaft in der Entwicklungszusammenarbeit Sektorkonzepte für die Grundbildung, die berufliche Bildung und für die Hochschulen vorgelegt. Es ist sehr lohnend, diese Sektorkonzepte durchzulesen. Heute wurde von Neuorientierung gesprochen; ich spreche lieber von Modernisierung, weil man ja immer das Echo berücksichtigen und fragen muß, wie es denn angekommen ist, um dann entscheiden zu können, wie man es besser macht. Diese Modernisierung können Sie aber in diesen drei Konzeptpapieren sehr genau beobachten.Ich möchte ein paar Punkte zu den drei Sektoren ansprechen: Erstens ist die Förderung der Grundbildung in Entwicklungsländern die wichtigste Gelenkstelle der Entwicklungspolitik überhaupt.
Metadaten/Kopzeile:
688 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Alois Graf von Waldburg-ZeilWeltbankstudien zeigen, daß schon eine vierjährige Schulbildung die Produktivität von kleinen landwirtschaftlichen Betrieben generell erhöht. Frauen mit mehr als vier Jahren Schulbildung haben ein Drittel weniger Kinder als solche, die Analphabetinnen sind. Vorhin ist das Thema Bevölkerungswachstum angesprochen worden; ich glaube, hier liegt der eigentliche Schlüssel.
Erhebliche Auswirkungen betreffen die Ernährung, die Gesundheit und die Wirtschaft. Vor allem aber wird die Grundlage für die Entwicklung der schöpferischen und produktiven Fähigkeit und Fertigkeiten der Bevölkerung und eben jedes einzelnen gelegt.Dem Hohenlied der Grundbildung folgt natürlich die ernüchternde Feststellung, daß zwar die Bildungsstatistiken sich ständig und wesentlich verbessert haben, daß diese Statistiken aber nur angeben, wieviele Kinder die Schule besuchen, ohne zu vermelden, wieviele von ihnen die Schule bis zur letzten Klasse oder wenigstens nur vier Jahre besucht haben, um lesen und schreiben dauerhaft zu erlernen. UNESCOUntersuchungen belegen, daß in den Ländern mit dem geringsten Bruttosozialprodukt pro Kopf weniger als 60 % der ursprünglich eingeschulten Schüler die Schule bis zum vorgesehenen Ende besucht haben. Zu deutsch: Man muß trotz der verbesserten Statistik mit hohen und höchsten Analphabetenraten rechnen.Zu den 100 Millionen schulpflichtigen Kindern, die jährlich keinen Zugang zur Primarschule finden, kommt ein Bestand von mehr als 900 Millionen Jugendlichen und Erwachsenen über 15 Jahre, die entweder keine Primarschulbildung bekommen haben oder durch nur kurzen oder abgebrochenen Besuch wieder Analphabeten geworden sind.Sie werden verstehen, daß mich deshalb ein Punkt im Grundbildungsbereich besonders interessiert: die nachträgliche Alphabetisierung. Auf der Suche nach finanzierbaren Modellen, die diesem Übel abhelfen können, ist zweifellos das ergiebigste die sogenannte Radioschule. Ein entwicklungspolitisch besonders interessantes Modell, auch von der Bundesregierung gefördert, ist die Erwachsenenbildung nach der Methode von Pater Tattenbach, wie sie in Costa Rica, Guatemala und Honduras betrieben wird.Erste Grundlage ist die Anknüpfung an den Lebensumständen der Betroffenen, also Angebot der Sendungen in der ursprünglichen Sprache, Aufbau der Lehrpläne nach den örtlichen Wertvorstellungen, Denkgewohnheiten und Lebenssituationen, Ergänzung des „Maestro in Casa" durch aus der Bevölkerung stammende Multiplikatoren, Organisation der Sendungen in örtlicher Trägerschaft unter Mitwirkung der Beteiligten.Dieses System hat dazu geführt, daß die sonst miserablen Abschlußraten, die wir in Radiobildung haben — d. h. also die Nutzung des Selbst-Mitmachens am Bildungsprozeß —, von weit unter 20 Prozent auf zwischen 80 und 85 % gestiegen sind. Der stärkste Faktor zum Gelingen ist die hohe Motivation der Lernenden. Ich bin sicher, daß das Modell nicht nur für indianische Völker, sondern auch für afrikanische und asiatische taugt.Zweitens: Berufliche Bildung. In diesem Sektor läuft man in eine Sackgasse, wenn er nicht in die jeweiligen sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen eingebettet ist.Obwohl natürlich auch qualifiziertes Personal für Betriebe benötigt wird, hat es keinen Sinn, einen Standard deutscher Berufsbildungseinrichtungen — von der Kompatibilität des Systems einmal abgesehen — in Länder mit geringerem Entwicklungsstand zu übertragen. Selbst wenn man mit verlorenem Zuschuß ein prächtiges Berufsschulzentrum hinstellt: Die Unterhaltskosten für einige Hundert Schüler verschlingen für das beschenkte Land die Möglichkeiten, für Hunderttausende etwas zu tun.
Das heißt wir brauchen einfache Systeme der Berufsbildung für handwerkliche Mittel-, Klein- und Kleinstunternehmer und vor allem für Menschen, die weiterhin in der Subsistenzwirtschaft verbleiben. Besonders wichtig erscheint die Verzahnung mit der Grundbildung. Auf die Auswirkungen im landwirtschaftlichen Bereich möchte ich nochmals ausdrücklich verweisen.Drittens: Hochschulen. Vor 20 Jahren habe ich einmal die Fernuniversität in Pretoria besucht, weil diese damals eine der wenigen Möglichkeiten für nichtweiße Studierende bot, sich akademisch auszubilden. Ich war baß erstaunt über die Inskriptionsgebiete: fast ausschließlich Geisteswissenschaften.Sicher ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß es besser sei, akademische Ausbildung in Entwicklungsländern vornehmen zu können, um die Abwanderung der besten Köpfe in hochindustrialisierte Staaten zu vermeiden. So richtig das Prinzip sein mag, so gehört dazu, daß man nicht überall Universitäten nach europäischem Standard aus dem Boden stampfen kann; am notwendigsten wären praktische, verwertbare technische Kenntnisse auf Fachhochschulniveau.
Vielleicht wird es Sie wundern, aber ich warne ein wenig davor, den internationalen Austausch im Studium zu reduzieren. Gerade in menschenrechtlichen Fragen erschließt sich das Verständnis der realen Möglichkeiten des Gewaltmonopols des Staates bzw. des Verzichtes auf Faustrecht nur in der ausdrücklichen Kulturbegegnung.
In diesem Zusammenhang möchte ich — wie schon oft — darauf hinweisen, daß nach Wegfall fluchtverursachender Regime sehr oft die rückkehrenden Flüchtlinge die besten Entwicklungshelfer sind.Lassen Sie mich abschließend noch auf ein Problem hinweisen, daß dadurch entstanden ist, daß eigentlich bis zum Beginn der 90er Jahre die Bildung weitgehend als nationale Kompetenz und eine aus eigener nationaler Kraft zu bewältigende Aufgabe betrachtet worden ist.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 689
Alois Graf von Waldburg-ZeilAuf der Weltkonferenz „Bildung für alle", die 1990 in Thailand stattfand, haben die Veranstalter Weltbank, UNESCO, UNICEF und UNDP auf die kritische Lage der Grundbildung und auf die Notwendigkeit verstärkter Hilfe auch in der Entwicklungszusammenarbeit hingewiesen. Das darf dann natürlich keinesfalls heißen, daß verstärktes internationales Engagement nationale Anstrengungen zugunsten z. B. übermäßiger Ausgaben für das Militär und die allgemeine Verwaltung entlastet.Nun sagt sich das leicht — z. B. für Burundi —: „Reduziert euer Militär und setzt die freien Gelder für eine verbesserte Bildung der benachteiligten HutuKinder ein." Es ist ja dieses Militär, das in nun schon mehrfachen Mordaktionen dafür gesorgt hat, daß Hutus, die dennoch eine höhere Bildung erhalten haben, in einer unglaublichen Übersteigerung des Apartheidgedankens massakriert wurden.Bildungspolitik muß umgekehrt dazu eingesetzt werden, deutlich zu machen, daß und wie man miteinander leben kann. Es gibt hier Ansätze, die man fördern kann. Unsere politischen Stiftungen tun dies. Dies müssen wir weiterentwickeln. Es gibt Stiftungen in den betroffenen Ländern, z. B. Michael Kayoya in Burundi. Hier wäre ein entscheidender Ansatz zu lernen, daß mit dem Schießgewehr eingeräumte Überlegenheit nicht beibehalten werden muß, sondern durch verwertbare Berufsbildung substituiert werden kann.Entmilitarisierungsprogramme — gleich, ob für reguläre Armeen, Milizen oder Befreiungstruppen — gehören auf einen ganz wichtigen Platz in einer Entwicklungshilfekonzeption, deren Fundamente auch für die Zukunft tragen können.Ich bedanke mich.
Zu einer Erklärung nach § 30 unserer Geschäftsordnung erteile ich dem Kollegen Dr. Winfried Wolf das Wort.
Herr Minister Spranger hat mich für 20 Jahre DDR-Entwicklungspolitik verantwortlich gemacht. Ich stelle dazu zwei Sachen fest.
Erstens. Nach dem Grundgesetz — wenn ich es richtig gelesen habe — sind die Abgeordneten allein ihrem Gewissen verpflichtet. Es gibt keine Kollektivhaftung von Fraktionen und ähnlichem.
Ich bitte deswegen auch, daß die einzelnen Mitglieder unserer Gruppe als solche wahrgenommen und ernstgenommen werden.
Zweitens. Ich habe mich in meinem Beitrag sowohl von den ehemaligen bürokratischen Systemen in Osteuropa und der DDR distanziert als auch gegen den übriggebliebenen Kapitalismus ausgesprochen. Ich plädierte von diesem Standpunkt aus für eine andere Gesellschaft, die ich für ebenso utopisch wie notwendig halte.
Ich habe diese Position seit 1967 vertreten. Ich habe sie durch meine Engagements gegen den Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag 1968 — damals im Rahmen des SDS — dokumentiert. Ich habe sie dokumentiert durch aktive Solidarität mit der demokratischen Opposition der DDR, u. a. mit den Sängern Pannach und Kunert, mit Rudolf Bahro und durch meine aktive führende Teilnahme an dem westdeutschen Komitee Solidarität mit Solidarnosc, zusammen mit Lew Kopelew und Heinrich Böll.
Ihre Attacke, Herr Spranger, läuft deswegen ins Leere — abgesehen davon, daß Sie, wenn ich tatsächlich früher die DDR-Regierung verteidigt hätte, gegen das hohe C in ihrem Parteiwappen verstoßen, wenn Sie mir nicht die Möglichkeit zur Einsicht und Meinungsänderung zubilligen, wie Sie dies gegenüber Ihren Kolleginnen und Kollegen von den Blockparteien tun, die in den Koalitionsfraktionen vertreten sind.
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. auf Drucksache 13/233 und des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 13/246 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/241 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß, den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, den Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union, den Ausschuß für Wirtschaft und an den Finanzausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? — Dies ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b sowie den Zusatzpunkt 6 auf:7. a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des AltschuldenhilfeGesetzes
— Drucksache 13/68 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOb) Erste Beratung des von dem Abgeordneten Klaus-Jürgen Warnick und den weiteren Abgeordneten der PDS eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Än-
Metadaten/Kopzeile:
690 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Vizepräsident Hans Kleinderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes
— Drucksache 13/100 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOZP6 Erste Bratung des von der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes— Drucksache 13/230 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GONach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen, wobei die PDS zehn Minuten erhalten soll. Besteht auch damit Einverständnis? — Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist auch dies so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Iris Gleicke das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nicht zum erstenmal debattieren wir hier über die Altschulden der Wohnungswirtschaft in den neuen Bundesländern. Während in anderen Wirtschaftsbereichen den Westinvestoren nicht nur ganze Industriezweige für eine Mark geschenkt und dann auch noch auf Kosten des Steuerzahlers entschuldet wurden, war die Bundesregierung zu den ostdeutschen Wohnungsunternehmen lange nicht so großzügig, obwohl viele Gutachter, unter ihnen auch der CDU-Rechtsexperte Rupert Scholz, die Ansicht vertraten, daß es sich bei diesen Schulden nicht um Schulden im marktwirtschaftlichen Sinne handelte. Durch das später eingeführte Zinsmoratorium hat sich der Schuldenberg der Wohnungswirtschaft fast verdoppelt.Das Altschuldenhilfe-Gesetz kam erst im Rahmen des Solidarpaktes zustande, der als Paket in kürzester Zeit durch die parlamentarischen Gremien gepeitscht wurde. In den unter größtem Zeitdruck stattfindenden Ausschußberatungen zum Altschuldenhilfe-Gesetz hat meine Fraktion einige Änderungsanträge eingebracht.Es ging um die gestaffelte Erlösabführung an den Erblastenfonds, um die Befreiung der Genossenschaften von der Privatisierungspflicht und die überhaupt nicht vorhandene Differenzierung der Wohnungsunternehmen nach Bestandsstruktur, nach Mieterstruktur oder auch nach regionalen Besonderheiten. All das waren und sind wichtige Voraussetzungen für die Akzeptanz und Umsetzung der Mieterprivatisierung nach diesem Gesetz.Die Koalition hat sich damals unseren Argumenten verschlossen. Mit unserer Zustimmung haben wir in den sauren Apfel beißen müssen, denn es galt, wichtige Regelungen in Gang zu setzen, um eine weitereVerschärfung der Situation der Wohnungsunternehmen zu verhindern.Unsere Novellierungsvorstöße wurden in der Folge mit Koalitionsmehrheit niedergestimmt. Der Unterausschuß „Privatisierung des Wohnungsbestandes in den neuen Bundesländern" hat sich intensiv mit den Erfahrungen der Wohnungsunternehmen und der Mieterinnen und Mieter bei der Umsetzung des Altschuldenhilfe-Gesetzes beschäftigt. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal allen Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen und Gruppen für die engagierte Mitarbeit in diesem Unterausschuß danken.Wir haben uns im Unterausschuß unsere Meinung nicht am grünen Tisch, sondern vor Ort gebildet, und der Bericht des Unterausschusses faßt unsere Erfahrungen und unsere Kritikpunkte am AltschuldenhilfeGesetz zusammen. Die Befürchtungen und Kritiken meiner Fraktion wurden von den Vertretern der Wohnungswirtschaft und auch von den Mieterverbänden bestätigt. Deshalb bringen wir erneut einen Gesetzentwurf zur Novellierung des Altschuldenhilfe-Gesetzes ein. Wir brauchen endlich ein Altschuldenhilfe-Gesetz, das bei Mietern und bei der Wohnungswirtschaft Sicherheit statt Unsicherheit schafft.
Nehmen wir die progressiv gestaffelte Abführung an den Erblastenfonds. Durch sie entsteht ein ungeheurer Privatisierungsdruck auf die Mieter und auf die Wohnungswirtschaft. Eine umfassende Information und Beratung der Mieter, wie sie der Zentralverband Haus und Grund und der Gesamtverband der Wohnungswirtschaft fordern, ist dabei meist nicht gewährleistet. Das führt zu Angst und Unsicherheit bei den betroffenen Mietern. Diesen Zeitdruck wollen wir durch eine lineare Erlösabführung mindern.Nehmen wir die im Altschuldenhilfe-Gesetz festgelegte Pauschale von 15 % des zu privatisierenden Wohnungsbestandes. Sie nimmt keinerlei Rücksicht darauf, ob die Wohnungen des Unternehmens in Berlin-Marzahn oder an einem See in MecklenburgVorpommern liegen. Gefragt wird nicht danach, ob es sich vorwiegend um große Plattenbauten, wie in Halle-Neustadt, oder um einen kleinteiligen Bestand mit kleinen Blocks und Einfamilienhäusern in einer ländlichen Region handelt. Es interessiert nicht, ob die Mieterstruktur im Unternehmen durch hohe Arbeitslosigkeit oder Rentnerhaushalte gekennzeichnet ist. Von all diesen Faktoren hängt es jedoch ab, wieviel Wohnungen denn wirklich privatisiert werden können. Der Verband Haus und Grund hat hierzu gesagt, daß man Mietern aus finanziellen und wirtschaftlichen Gründen häufig nicht empfehlen könne, Wohnungen in Großsiedlungen zu kaufen.Herr Minister, meine Damen und Herren, ich will Ihnen sagen, worin die grundlegende Schwäche des bestehenden Gesetzes liegt: Es ist mit ziemlich heißer Nadel, in weitgehender Unkenntnis der Situation der Menschen in den neuen Bundesländern und unter rein fiskalischen Gesichtspunkten zusammengestrickt worden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 691
Iris GleickeWelche finanziellen Klimmzüge soll denn ein Rentnerehepaar machen, um die Wohnung, in der es seit 30 Jahren wohnt, zu kaufen? Wie sollen 15 % eines Wohnungsbestandes privatisiert werden, in dem 30 % der Mieter arbeitslos sind? Welche Bank gibt denn Arbeitslosen, Vorruheständlern oder Rentnern Kredite für den Wohnungserwerb — vom fehlenden Eigenkapital einmal ganz abgesehen? Sie wissen ebenso gut wie ich, daß es mit dem Kauf allein nicht getan ist.Wir wenden uns nicht wie die PDS aus ideologischen Gründen gegen jede Form der Privatisierung. Wir möchten vielen Menschen helfen, Wohneigentum zu bilden. Das geht aber nicht mit der Brechstange. Die Entscheidung für das Eigentum will von den Betroffenen sorgfältig bedacht sein. Sie darf nicht aus Angst und unter Zeitdruck getroffen werden.Die von uns vorgelegte Novelle fordert deshalb die Überprüfung eines Privatisierungszwanges, der wie ein Rasenmäher über die höchst unterschiedlichen Bedingungen der Wohnungsgesellschaften in den neuen Bundesländern hinwegfährt und die Mieterinteressen zu wenig berücksichtigt.Es geht aber nicht nur um die berechtigten Interessen der Mieter, sondern auch um die Handlungsfähigkeit der Wohnungswirtschaft. Der Gesamtverband der Wohnungswirtschaft führt aus, daß eine 15%ige Privatisierungspflicht für kleine Wohnungsunternehmen deren langfristiges wirtschaftliches Überleben in Frage stellt. Schließlich müssen auch sie umfassende Privatisierungskonzepte erstellen, was einen erheblichen Personalaufwand erfordert. Und ob ein Wohnungsunternehmen mit weniger als 400 Wohneinheiten überhaupt lebensfähig ist, erscheint ausgesprochen fraglich.Deshalb fordern wir eine Bagatellgrenze, die solche Wohnungsunternehmen von der Privatisierungspflicht befreit.Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, sollten sich der Frage stellen, ob das Linsengericht eines finanziellen Gewinns für den Erblastentilgungsfonds durch die Abführung der Gewinnerlöse aus der Privatisierung einer Handvoll Wohneinheiten die wirtschaftliche Gefährdung solcher kleinen Wohnungsunternehmen rechtfertigt. Zum einen sind diese oftmals der Garant für eine qualitativ hochwertige Wohnungsversorgung, zum anderen hat das auch etwas mit einer verantwortlichen Politik für mittelständische Unternehmen zu tun, die Sie in Ihren Programmen an anderer Stelle so wortreich einfordern. Ich bitte Sie dringend, sich in dieser Frage zu bewegen.Daß auch Genossenschaften durch dieses Gesetz mit der Privatisierungspflicht belegt werden, ist ebenfalls ein entscheidender Kritikpunkt. Die Anhörung unseres Ausschusses im Mai 1994 hat deutlich gemacht, daß genossenschaftliches Eigentum kein Eigentum zweiter Klasse darstellt. Deshalb ist eine Veräußerung an Dritte mehr als fraglich. Der Verkauf muß auf die Mitglieder beschränkt bleiben.
Genossenschaftseigentum ist vollwertiges Eigentum. Deshalb müssen Neu- und Ausgründungen vonGenossenschaften als Privatisierung anerkannt werden. Hier können auch die Mieterinnen und Mieter Eigentum bilden, die aus den genannten Gründen überhaupt nicht in der Lage oder bereit sind, einen vollen Kaufpreis für eine Wohnung aufzubringen. Mit einem Genossenschaftsanteil können sie sich an einem Wohnungspool beteiligen und Wohnrechte erwerben.Dieser Auffassung schließen sich wiederum der Zentralverband Haus und Grund und auch der Gesamtverband der Wohnungswirtschaft an.Kurz vor der Bundestagswahl schien Bewegung in diese Frage gekommen zu sein. Die damalige Ministerin hatte sich zwar immer mit Zähnen und Klauen dagegen gewehrt, aber der öffentliche Druck der Wohnungswirtschaft wie auch der Mieter hat diesen scheinbaren Schwenk hervorgerufen.Verfolgt man jedoch die Diskussion im Lenkungsausschuß und die Äußerungen des neuen Bauministers, dann könnte man den Eindruck gewinnen, als solle hier ein Etikettenschwindel betrieben werden. Ziel dieses fälschlicherweise als Genossenschaftsmodell bezeichneten Vorhabens soll es nämlich sein, das genossenschaftliche Wohneigentum innerhalb weniger Jahre in individuelles Wohneigentum umzuwandeln. Mitglieder und Mieter eines Objekts sollen nicht nur das Recht erhalten, dieses Objekt in Wohneigentum umzuwandeln, sondern auch das Recht, ihre Wohnungen an Dritte verkaufen zu können.Diese Konstruktion steht in offensichtlichem Widerspruch zu § 1 des Genossenschaftsgesetzes. Wie soll denn eine Genossenschaft wirtschaftlich arbeiten, wenn sie durch Beschluß von Mitgliedern eines Teils ihres Bestandes beraubt werden kann?
Wer die Genossenschaften zu einem Durchlauferhitzer für individuelles Wohneigentum machen will, legt eine Lunte an den Genossenschaftsgedanken, der von der gemeinsamen Verantwortung für das gemeinschaftliche Eigentum ausgeht. Damit wäre auch nicht jenen Rechnung getragen, die nicht das Geld für eine eigene Wohnung aufbringen können, wohl aber mit einem Genossenschaftsanteil ihren Vermögensanteil der Wohnungsversorgung zur Verfügung stellen wollen. Ich kann Sie nur auffordern, sich von diesem Modell zu verabschieden.Ähnlich verhält es sich mit dem Problem von Zwischenerwerbermodellen. Sie sind mit äußerster Vorsicht zu betrachten. Wir schließen sie im Gegensatz zum BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN jedoch nicht vollständig aus. Statt dessen wollen wir einige unverzichtbare Rahmenbedingungen gesetzlich fixieren. Genau das sieht unser Gesetzentwurf vor, mit dem die vertragliche Absicherung der Mieter festgeschrieben wird.Ein solches Modell kann durchaus eine Hilfe für die Wohnungswirtschaft sein, denn diese wird von den Kosten bei der Erstellung von Sanierungsplänen entlastet. Die Mitarbeiter können sich der eigentlichen Arbeit eines Wohnungsunternehmens widmen, und da gibt es ja wahrlich genug zu tun. Die Privatisierung zugunsten der Mieter kann ohne Zeitdruck mit der
Metadaten/Kopzeile:
692 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Iris Gleickenötigen Beratung und Abwägung erfolgen, und diejenigen, die nicht erwerben wollen oder können, sind vertraglich abgesichert.Meine Damen und Herren, ich bitte Sie darum, unsere Vorschläge unvoreingenommen zu prüfen. Lassen Sie uns im Ausschuß über die notwendigen Änderungen schnellstens diskutieren und zu einem konstruktiven Ergebnis im Sinne aller Betroffenen kommen. Es ist auch langsam an der Zeit.Schönen Dank.
Das Wort hat der Kollege Rolf Rau.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Durchsetzung des Altschuldenhilfe-Gesetzes in Verbindung mit der Maßgabe zur Veräußerung und der Privatisierung tangieren wir den Einigungsvertrag und lassen dabei Art. 22 Abs. 4 unberührt.Liebe Kollegin Gleicke, wir müssen einräumen, daß Privatisierung und Veräußerung tatsächlich zwei Paar Schuhe sind. Es ist auch bekannt, daß Genossenschaften aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus selber Wohnungen veräußern, um wieder aktiv investieren zu können.
Ich bitte, das mit zu beachten.
Nachdem wir in der vergangenen Legislaturperiode schon umfangreiche Arbeit zur Umsetzung des Altschuldenhilfe-Gesetzes geleistet haben, möchte ich noch einmal unterstreichen, daß die Privatisierung nicht in Frage gestellt werden kann, weil sonst den Bürgern der neuen Bundesländer die Möglichkeit genommen wäre, eigenes Kapital einzusetzen und durch Wertschöpfung zu vermehren.Ich denke, wir als Abgeordnete sind verpflichtet, gerade hier Ausgleichsregelungen — diese sind machbar — auf den Weg zu bringen, unabhängig davon, daß die Bauarbeiter aus der Region, ob im Handwerk oder in der Bauindustrie, gesicherte Arbeitsplätze in der Region des Wohnungsbestandes bekommen. Angst und Zeitdruck sind nicht von den Mietern ausgegangen, sondern sind Zeichen dafür, daß Gesellschaften oder Genossenschaften zu lange in den Startlöchern hängengeblieben sind. Auch hier müssen wir beide Seiten abwägen; denn wir haben es selber beobachtet: Es gibt beide Seiten der Medaille.Nun ist es aber auch nicht verwunderlich, daß ein Gesetz auch Kritik an sich zieht, wenn es auf den Weg gebracht wird — zumal es für meine Begriffe zu eng ausgelegt wird und bisher im Lenkungsausschuß die geforderte Bewegung nicht erfolgt ist. Wichtig ist, daß die Erkenntnisse, die wir ja bereits im Sommer hatten, nicht zu einer weiteren Verzögerung führen und das Gesetz zum jetzigen Zeitpunkt schnellstmöglich auf den Weg gebracht werden kann.Insofern ist es ein gutes Zeichen, daß dieses Thema in der neuen Wahlperiode schon in der ersten Plenarwoche, die sich mit allgemeinen Themen befaßt, auf der Tagesordnung steht. Ich glaube auch, daß wir in der Lage sind, den Anforderungen gerecht zu werden, auch wenn die Ansätze der Opposition teilweise andere sein werden als unsere. Aber hier geht es nicht darum, Recht zu behalten oder Recht zu bekommen, sondern darum, daß wir für die Bürger in den neuen Bundesländern akzeptable Lösungen auf den Tisch legen.
Ich bin der Auffassung, daß wir in unserer Bonner Verantwortung den Spielraum des Gesetzes zur Privatisierung ausnutzen und die geforderte Erweiterung endgültig auf den Weg bringen müssen, ohne im Moment eine gesetzliche Änderung vorzunehmen. Dabei geht es um folgende Punkte:Erstens. Ich möchte deutlich unterstreichen, daß die Fraktion der CDU/CSU für die Anerkennung von Zwischenerwerbermodellen ist. Diese sollten natürlich auf solide Füße gestellt werden, d. h. Sicherungs-und Kontrollmechanismen müssen vorhanden sein, um dem Zwischenerwerber den Weg bis hin zur möglichen Endveräußerung an interessierte Mieter zum späteren Zeitpunkt zu bereiten. Ich hielte es in diesem Zusammenhang auch für möglich, daß die bisherigen Gesellschaften oder Genossenschaften diesen Prozeß im Wege einer Mindermitgliedschaft, höchstens bis zu einer Beteiligung von 26 %, bis zum Jahre 2003, also bis zum Abschluß der Erfüllung des Erblastentilgungsfonds, begleiten. Das hätte den Vorteil, daß unmittelbar finanzielle Mittel frei werden, Modernisierung und Sanierung losgehen können und der Prozeß der Modernisierung und Privatisierung gut und überschaubar begleitet werden kann. Hierbei sollte auch an Vertragsstrafenmodalitäten bei Fehlleistungen gedacht sein, damit mit den Möglichkeiten der Zwischenerwerbung kein Schindluder getrieben werden kann.Zweitens. Ich könnte mir vorstellen — diesen Punkt sehe ich als sächsischer Abgeordneter als erforderlich an; zudem haben wir in Sachsen schon Gespräche darüber, was wir möchten, vorbereitet —, daß wir auch bei Finanzierung im Rahmen von Fonds eine Veräußerung oder Privatisierung anerkennen. In diese Fonds könnten Mieter über einen längeren Zeitraum ihre finanzielle Leistungsfähigkeit einbringen, um so eine Form der Privatisierung zu erreichen. Dies könnte auch im Wege anderer Vor- oder Ansparmodelle, über die noch nachzudenken ist, geschehen. Warum sollen ostdeutsche Bürger bei entsprechenden Möglichkeiten nicht die gleichen Chancen erhalten wie die Bürger in den alten Ländern?Drittens. Es ist für mich keine Frage, daß Erwerbergesellschaften im Rahmen des bürgerlichen Rechts Wohnungen in Gemeinschaft erwerben können, wobei ich hier natürlich auch deutlich machen möchte, daß es im Zusammenhang mit diesen Gesellschaften Schwierigkeiten geben kann, wenn Einzelausfälle auftreten. Insofern ist es nur eine Variante, die man nicht vordergründig suchen muß, die aber im Rahmen der Gesamtpalette der Privatisierung nicht auszuschließen ist.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 693
Rolf RauViertens. Eine neue Qualität schlage ich bei der Erreichung der Anerkennung von genossenschaftlichen Kaufmöglichkeiten vor. Bei Neugründungen von Genossenschaften sollten die Satzungen so ausgestaltet sein, daß gegebenenfalls Umwandlungen in Privateigentum zu einem späteren Zeitpunkt erstens möglich sind und zweitens die Eigenfinanzierungsanteile beim Erwerb in einer Größenordnung von 8 000 bis 10 000 DM liegen sollten. Das beziehe ich auf eine Wohnfläche von etwa 60 qm. Somit wäre eine solche Genossenschaft auch kreditwürdig. In diesem Rahmen ist eine spätere Modernisierung und Sanierung durch das dann vorhandene Eigenkapital gewährleistet.Es ist des weiteren aus meiner Sicht wichtig und erforderlich, daß man in der Satzung oder in anderen Rechtsformen deutlich macht, daß die eingegebenen Mittel durch Besitzermodelle eine Form der Wertschöpfung erreichen, so daß im Veräußerungsfall nicht nur der Genossenschaftsanteil als der eingezahlte Anteil refinanziert wird, sondern der Genossenschaftler auch im Rahmen der Wertschöpfung im späteren Verkaufsfalle diese Leistung erhält.Hier wäre es erstrebenswert — dies sollte in den nächsten Tagen und Wochen noch diskutiert werden, bevor wir zu einer endgültigen Fassung kommen —, daß die Genossenschaftswohnungen in dieser neuen Form handelbar und gleichzeitig auch förderbar sein sollten. Dies ist für meine Begriffe eine neue Qualität, über die wir diskutieren müssen.Wenn ich diese vier Handlungsmöglichkeiten einbringe und sie in dieser Form realisiert werden, so sind damit eine ganze Reihe von Punkten abgehakt, die auch bei den Kollegen der SPD mit zum Teil anderen Voraussetzungen auf dem Vorschlagszettel stehen und sich mit Erkenntnissen decken, die wir im Unterausschuß gesammelt haben und die meiner Ansicht nach der Realität Rechnung tragen.Die Leistungen dieses Gesamtpakets könnten erbracht werden, ohne eine Gesetzesänderung vorzunehmen. Es wäre vielmehr eine Umsetzung im Rahmen des Altschuldenhilfe-Gesetzes bei einer der neuen Auslegungen möglich.In diesem Zusammenhang sehe ich aber noch weitere Punkte, die es anzusprechen gilt. Wenn wir das Altschuldenhilfe-Gesetz und die von mir genannten Positionen in Einklang bringen, dann kann ich mir auch vorstellen, daß wir die Erblastentilgungsfondsabführung nicht verändern müssen. Wenn wir hier ins Gesetz schauen und zu einem Mittelwert kommen, würden wir möglicherweise für diejenigen, die sich jetzt ein Jahr und länger damit beschäftigen, die 20 aber nicht erreicht haben, für die Jahre 1995 oder 1996 höhere Hürden aufbauen, als sie sie in diesen zwei Jahren überwinden könnten.Es ist nicht vom Bund zu vertreten, daß die Staffelung aufgekommen ist, sondern dies war seinerzeit der Wunsch der Länder. Ich bin der Auffassung, daß wir auch hier etwas mehr Ruhe in den Bereich hineingebracht hätten, wenn es eine lineare Abführung gegeben hätte, die aber mit einem höheren Durchschnittswert belegt wäre. Heute will ich jedoch davon ausgehen, daß die Möglichkeiten bei der erweiterten Palette zur Privatisierung erheblich verbessert sind und somit auch den Gesellschaften und Genossenschaften die Chance erhalten werden muß, die Abführung zum Erblastentilgungsfonds für das Jahr 1995 bei 30 % und 1996 bei 40 % zu belassen, um nicht in die Hürden der Jahre 1997 und 1998 von 60 bis 80 % hineinspringen zu müssen.Zielsetzung unserer Wohnungsbaupolitik ist es, eine Wohnungspalette auf den Markt zu bringen, die in Menge, Ausstattung, Größe und Preis für jede Familie, besser: für jeden Bürger eine Auswahl bereithält. So verstehe ich auch die heute auf den Weg zu bringenden erforderlichen und erweiterten Möglichkeiten der Privatisierung. Wenn der entstehende Wohnungsmarkt in den neuen Bundesländern ausreichende Angebote hat, wird auch der Kostenexplosion ein Dämpfer aufgesetzt. Dabei gehört es auch zur Wahrheit, daß nicht jeder eine Eigentumswohnung kaufen oder ein Häuschen bauen kann. Deshalb ist es auch aus meiner Sicht besonders wichtig, an die Plattenbausanierung und -modernisierung äußerst sorgfältig in unterschiedlichsten Stufen und Zeiträumen heranzugehen. Besonders sollte man eine Form des geförderten Wohnungsbaus im Sinne der Sozialwohnungen neben der Privatisierung ins Auge fassen. Das heißt, auch der alte Plattenbau sollte in diesem Zusammenhang eine neue Qualität erreichen. Die Wohnungspalette sollte die vorhandene Altbausubstanz umfassen, von sanierten bis zu modernisierten Wohnungen reichen — dabei sollte es sich um die unterschiedlichsten Eigentumsformen handeln können —, von insbesondere im Bereich der Plattenbauten kernsanierten und modernisierten Wohnungen für gehobene Ansprüche bis hin zu Sozialwohnungen im Neubau, von der Eigentumswohnung bis hin zum Reihenhaus und Eigenheim. Dies zu erreichen sollte unser Bemühen beflügeln.Völlig unberücksichtigt lasse ich heute das Problem der Gesellschaftsbauten und deren Refinanzierung durch die Kommunen und die im Privatisierungs- und Modernisierungszusammenhang erforderliche städtebauliche Infrastrukturveränderung.Wenn wir in den von mir vorgetragenen Formen Privatisierung anerkennen, dann ist nicht immer davon auszugehen, daß die Größenordnung einer neuen Wohnungsgesellschaft, egal welcher Form, sofort über 500 WE springt. Hier erkenne ich gerade in dem Antrag der SPD einen Widerspruch zu der Chance zur Privatisierung auch in kleineren Wohnungsgesellschaften oder -genossenschaften, die wir den Mietern einräumen müssen. Unabhängig davon bin ich der Auffassung, daß man die Frage prüfen muß, wo in solchen Gesellschaften die Rentabilitätsschwelle liegt, damit wir auch hier eine konstante wohnungswirtschaftliche Qualität gewährleisten können.Lassen Sie mich zum Schluß meines Beitrags noch auf zwei Gedanken eingehen. Meiner Ansicht nach darf man bei dem heutigen Stand der Umsetzung des Altschuldenhilfe-Gesetzes im Rahmen der Privatisierung und der damit verbundenen Modernisierung eine Fördermöglichkeit nicht mehr außer acht lassen. Ich möchte heute in diesem Zusammenhang anregen, daß, wie es ähnlich schon vor Jahren möglich war, die Privatisierungshilfe durch eine direkte Förderung
Metadaten/Kopzeile:
694 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Rolf Raubegleitet wird und somit ,auch die Modernisierung einen neuen Schwung erhält. Um die finanzielle Schraube, die eng gezogen ist, nicht weiterdrehen zu müssen, sollte gleichzeitig darüber nachgedacht werden, ob nicht im Interesse der Mieterprivatisierung, verbunden mit einer Modernisierung, der Anteil der Sonderabschreibung bei Fremdnutzung, der für die neuen Bundesländer zur Zeit bei 50 % liegt, ab 1997 halbiert und mit der Förderung bei Eigennutz kompatibel gemacht werden sollte.Ich glaube, damit würde mehr Gerechtigkeit gegenüber den Bürgern der neuen Bundesländer erreicht, da sie auf Grund der Einkommenslage mit Abschreibungsmodellen noch nicht so viel anfangen können wie mit der direkten Förderung. Differenzierte Lösungen, die die persönlichen Einkommensverhältnisse oder die regionalen Zuordnungen beinhalten, könnten dabei mit bewertet werden.Weiterhin möchte ich, obwohl es von einem Bundestagsabgeordneten nicht gern gehört wird, sagen, daß die Forderung der ostddeutschen Lohnpolitik, im Bauwesen in den Monaten April und September die Angleichung an den Westlohn in zwei Stufen umzusetzen, aus meiner Sicht ein falsches Zeichen ist. Es ist ein falsches Zeichen für die Baubetriebe der neuen Bundesländer und auch für die Preisentwicklung im Wohnungsbau. Dies würde dem widersprechen, was wir hier mühevoll andiskutieren und was noch viel deutlicher wird, wenn wir in den nächsten Tagen und Wochen über die Mietentwicklung, über Wohngeld oder über die Anpassung zum Vergleichsmietensystem reden werden. Ich erwarte hier von den Tarifpartnern äußerste Zurückhaltung und somit kluges Augenmaß im Interesse der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Bundesländern, aber auch im Interesse der Menschen, die mit den Produkten der Bauindustrie und des Bauhandwerks umgehen müssen.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als erstes muß ich feststellen — ich sage das besonders kritisch im Hinblick auf meine eigene Fraktion —, daß diese harten Ostthemen in diesem Hause doch offenbar relativ wenig Interesse finden und man viele leere blaue Stühle sieht.
Nun zum Inhalt: Wir haben einen Novellierungsvorschlag zum Altschuldenhilfe-Gesetz eingebracht. Man muß aber schon noch einmal darauf hinweisen, daß es grundsätzlich ein wirklich sehr schlitzohriges Gesetz war, das 1993 mit dem Solidarpakt eingeführt wurde; denn im Endeffekt mußten die betroffenen Wohnungsunternehmen erst einmal die Schulden schriftlich anerkennen, für die sie dann die Entlastung und die Zins- und Tilgungshilfe beantragen durften.Das ist eigentlich schon aberwitzig; ich denke, darauf muß man immer wieder sehr deutlich hinweisen. Gerade die betroffenen Mieter im Osten verstehen das nach wie vor nicht.Dennoch, denke ich, ist es heute unsere Aufgabe, die inzwischen entstandenen Fakten anzuerkennen und uns mit dem Status quo auseinanderzusetzen. Es ist so, daß inzwischen 85 % der betroffenen Wohnungsunternehmen einen Antrag gemäß dem Altschuldenhilfe-Gesetz gestellt haben, und zwar für 95 % der Wohnungen. Insofern ist die Geschichte gelaufen. Wir können da nicht mehr zurück.Der zweite Punkt, der am bestehenden Altschuldenhilfe-Gesetz wirklich sehr problematisch ist, ist eine Art Nötigung zum Individualeigentum, und zwar wirklich völlig einseitig. Im Gesetz heißt es: vorrangig zur Bildung von Einzeleigentum an die Mieter zu veräußern. — De facto ist daraus aber eine Art Zwang geworden, der die Mieter enorm unter Druck setzt.Der dritte Punkt, auf den ich hinweisen will, auch wenn er heute Geschichte ist — aber daran sieht man, wie Gesetze gemacht werden und was für Probleme sie auslösen —: Das Gesetz hat bereits 1993 großen Schaden verursacht, als quasi in so einer Art Winterschlußverkauf Tausende von Wohnungen an westdeutsche — jetzt sage ich es einmal ganz deutlich — Immobilienhaie verkauft wurden.
Daß innerhalb von vier Wochen die alte Stalinallee mit 2 700 Wohnungen geradezu verschachert wurde, halte ich für einen wohnungs- und baupolitischen Skandal erster Ordnung. Das kann man nicht genügend betonen. Wenn Gesetze so schlecht gemacht werden, soll man sich nicht wundern, wenn es zu solchen Ergebnissen kommt.
— Das ist eine spezielle Geschichte. In Berlin waren, wenn Sie es wissen wollen, die CDU und die SPD aktiv beteiligt. Das muß man ganz deutlich sagen, da gibt es öfter große Koalitionen.Jetzt komme ich auf das nächste Problem und zu dem, was mir heute Sorge macht. Aktuell ist es so — Herr Minister Töpfer hat es schon mit einer Presseerklärung angekündigt —, daß die nächste Stufe für das Modell Zwischenerwerber geöffnet werden soll. Das ist auch der Vorschlag der SPD. Ich muß sagen, er macht mir sehr, sehr große Sorge, denn er wird auf etwas Ähnliches hinauslaufen, was es in Berlin 1993 mit den Folgen bis heute gegeben hat. Es gibt nämlich keine bewohnerorientierten Zwischenerwerber. Ich möchte Ihnen Bericht über das erste Zwischenerwerbermodell, das es gibt, erstatten. In Berlin wurden Ende 1993 in Treptow 600 Wohnungen an die hannoversche ALLWO ausdrücklich mit einem Zwischenerwerbervertrag veräußert. Von diesen 600 Wohnungen sind zwischenzeitlich 216 Wohnungen in Eigentum
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 695
Franziska Eichstädt-Bohligumgewandelt und den Mieterinnen und Mietern zum Kauf angeboten worden.
— Was auch immer. — 210 Wohnungen sind inzwischen verkauft worden, davon ganze 4 an die Mieter, alle anderen an überwiegend westdeutsche Kapitalanleger. Da die ALLWO aus Niedersachsen und Hannover kommt, sind es überwiegend niedersächsische Kapitalanleger. Das ist das Modell Zwischenerwerber, das im Endeffekt Vermögenstransfer von Ost nach West heißt. Das ist in den letzten vier Jahren intensiv betrieben worden. Ich bitte Sie alle — die CDU/CSU auf der einen Seite und die SPD auf der anderen Seite — sehr eindringlich: Das darf nicht weiter vorkommen. Ich bitte Sie, sehr, sehr ernst darüber nachzudenken, daß das nicht so weitergeht.
Von daher wenden wir uns mit aller Entschiedenheit gegen das Modell Zwischenerwerber. Im Endeffekt bedeutet es die Ausnutzung des Fördergebietsgesetzes für den genannten Kapitaltransfer.Jetzt möchte ich gern unsere Vorschläge zur Diskussion stellen. Das Wichtigste ist — da sind wir uns mit der SPD einig —, daß der Druck in Richtung dieser Verkäufe heraus muß. Man kann das Tafelsilber nicht in drei Tagen verkaufen. Damit entwertet man praktisch auch den Grundbesitz, den es im Osten in städtischer und genossenschaftlicher Hand gibt. Insofern schließen wir uns der Forderung der SPD an. Die Forderung muß heißen, von jetzt ab bis zum Jahr 2003, aber auch nicht länger, 30 % der Erlöse an den Erblastentilgungsfonds abzuführen.Beim zweiten Punkt sind wir halb im Konsens, aber halb auch der Meinung, daß man weitergehen muß. Wir wenden uns gegen jeden Privatisierungszwang für die Genossenschaften, und zwar sowohl in Sachen Veräußerung an Dritte als auch in Sachen Veräußerung im Innenverhältnis. Denn auch eine Veräußerung an die Mitglieder heißt Eigentumsumwandlung einer ganzen Anlage. Auch dann passiert das gleiche, was ich eben in bezug auf das Treptower Zwischenerwerbermodell geschildert habe. Die Genossenschaft wird eine Art Wohnungseigentumsverwalter und muß irgendwann an Dritte verkaufen. Das halten wir mit dem Genossenschaftsprinzip nicht für vereinbar. Wenn überhaupt, dann sollen Genossenschaften es aus freiwilliger, eigener Entscheidung heraus tun und nicht unter dem Zwang eines Gesetzes, das ihnen von Bonn vorgegeben wird.Beim nächsten Punkt nähern wir uns ebenfalls der SPD an. Wir wollen mehr Möglichkeiten eröffnet sehen, die Wohnungsunternehmen die Chance geben, sich per Antrag befreien zu lassen. Das möchte ich jetzt nicht weiter ausführen; das hat Iris Gleicke schon dargestellt.Eines ist uns besonders wichtig, was wir in vielen Diskussionen mit Mietern in den neuen Ländern erfahren haben. Wir möchten, daß Möglichkeiten zum gemeinschaftlichen Erwerb eröffnet werden und daß dieser gleichberechtigt neben dem Individualerwerb steht. Das heißt Aufbau und Bildung von neuen Genossenschaften; das heißt aber auch Erwerb durch Selbstverwaltungsvereine, die Hausgemeinschaften bilden, oder auch durch Gesellschaften bürgerlichen Rechts. Man sollte das Spektrum der Erwerbsmöglichkeiten öffnen und nicht ständig dogmatisch auf das Individualeigentum und auf die Eigentumswohnung schielen. Das kann nicht die einzige Form von Privateigentum für die Nutzer sein. Es gibt viel mehr; das sollte man aktivieren.
Ansonsten möchte ich noch folgendes sagen: Wir stellen uns nicht gegen die Individualprivatisierung. Da, wo Mieter sie wollen, sollen sie es machen dürfen. Wir wollen in dieser Beziehung nicht päpstlicher sein als der Papst, aber wir wollen auf keinen Fall, daß in dieser Richtung Zwang ausgeübt wird.Damit das Problem der Eigentumsumwandlung vor allem größerer Wohnanlagen aus der Welt geschafft wird, plädieren wir für ein Vetorecht. Wenn 50 % der Mieter gegen die Umwandlung ihres Hauses in Eigentumswohnungen sind, dann sollen die Wohnungen dieses Hauses nicht in Eigentumswohnungen umgewandelt werden. Wer Erfahrungen mit Eigentumswohnanlagen im Westen hat, der weiß, daß Eigentumshäuser, insbesondere dann, wenn es größere Wohnanlagen sind, Anlaß für Streit der Menschen untereinander sind. Die Beziehungen zwischen Eigentümer, Nutzer und Verwalter sind ein ganz zentrales Problem. Von daher meine dringende Aufforderung: Zwingen Sie doch nicht die Bewohner der ostdeutschen Wohnanlagen und Großsiedlungen in derartige Streitereien hinein! Das kann doch nicht Sinn unserer Politik für die neuen Länder sein.
Ich möchte jetzt einen Punkt nennen, an den bisher niemand sonst gedacht und für den sich niemand engagiert hat. Wir möchten, daß es nicht nur um die Mieter geht, die in dieser oder jener Form Eigentum erwerben können, sondern daß es auch um die Mieter geht, die Mieter bleiben. Von daher plädieren wir dafür, daß eine neue Auflage des AltschuldenhilfeGesetzes nicht nur Regelungen bezüglich der 15- %-Privatisierung enthält, sondern auch eine Mieterbeteiligung gesetzlich verankert, und zwar sowohl in den Aufsichtsratsgremien der überwiegend ja städtischen Wohnungsbaugesellschaften als auch bei der Mietermitbestimmung bezüglich Hausbewirtschaftung, Instandsetzung und Modernisierung vor Ort. Wir möchten also die Mieter generell aktivieren, nicht nur die Haushalte, die privatisierungsfähig sind.Last not least möchten wir mehr Belegrechte für die Kommunen. Wir möchten die Regelungen des § 12 Altschuldenhilfe-Gesetz deutlich ausgeweitet wissen, der ja das einzige Sozialbindungsinstrument ist, das diese Regierung zur Zeit für den ostdeutschen Wohnungsbestand überhaupt bereithält, und der vorsieht,
Metadaten/Kopzeile:
696 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Das Wort hat der Kollege Dr. Klaus Röhl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich zum eigentlichen Vortrag komme, möchte ich doch alle daran erinnern, daß zwar 15 % Privatisierung als Ziel gesetzt sind, daß aber 85 % nicht privatisiert zu werden brauchen. Das Glas ist also mehr als dreiviertel voll.
Das wird hier immer so „unterfuselt", als würde es nicht gelten.
— Ja, ja, mein lieber Siegfried, so ist das.Jetzt kommen wir doch mal auf den Ausgangspunkt zurück, und das richtet sich an die Kollegen von der Gruppe dort drüben.
— Hören Sie gut zu! Sie können mich gleich mit sehr schönen, wunderbaren Reden widerlegen.
— Sie haben ja gar nicht in der DDR gewohnt, Sie sind doch dazugekommen; Sie sind doch „reingepumpt".
Als die DDR der Bundesrepublik Deutschland beitrat, waren in kaum einem anderen Bereich die Auswirkungen der 40jährigen SED-Mißwirtschaft deutlicher zu erkennen als im Bereich des Wohnens. Die Bestände waren heruntergewirtschaftet. Große Teile mußten als schwer beschädigt, sogar als unbewohnbar klassifiziert werden. Der äußere Zustand der Häuser war katastrophal. Putzflächen waren abgefallen, Dächer desolat oder undicht, Fenster und Türen kaputt, Balkone abgerissen und demontiert oder baufällig und irreparabel. Die Inneninstallation, gleich welcher Art, ob Wasser oder Elektro, war völlig desolat. Diese morbiden Zustände gipfelten in der Unbewohnbarkeit eines großen Teils der Häuser.
— Ja, natürlich. Ich erzähle Ihnen noch viel mehr aus dem praktischen Leben.
Die Wohneigentumsquote, die im Westen bei 40 % liegt und im europäischen Vergleich als zu niedrig empfunden wird, hatte die SED auf unter 19 oder 20 % gedrückt. Es gab also im Prinzip kaum noch privates Wohneigentum. Die Mieten lagen zum Teil bei unter 1 Mark pro m2. Die Nebenkosten wurden künstlich tief gehalten. Die Folgen waren die schon erwähnten Zustände. Trauriges Resultat war der Zerfall der Häuser, sogar ganzer Straßenzüge und Stadtviertel.Als besonders eklatante Beispiele können Städte wie Halle, Freiberg und Stralsund gelten. Ich kenne Freiberg genau. Da wurden anläßlich der 800-JahrFeier die Vorderfronten der Dächer repariert und die Vorderfronten der Häuser renoviert. Die Türen und Fenster wurden zugemacht, und hinten konnte keiner rein. Da hätten Sie mal auf die Höfe schauen sollen. So wurde das der Welt vorgeführt. Wir wollen hier doch auf den Boden der Tatsachen zurückkehren!
Diese Zustände existierten in allen neuen Bundesländern. Natürlich gab es auch gute und gepflegte Häuserbestände, meistens in den Dörfern, wo sie im Privatbesitz waren; das soll hier nicht verschwiegen werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 697
Dr. Klaus RöhlDer Baubestand der neuen Länder zeigte das breite Spektrum vom desolaten bis zum erträglichen Wohnzustand. Insgesamt stand die Wohnungswirtschaft der ehemaligen DDR vor einer immensen Aufgabe.Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Lage kennzeichnete die Situation am Beginn des Prozesses, in den neuen Ländern einen funktionierenden Wohnungsmarkt und eine funktionierende Wohnungswirtschaft einzurichten, d. h. gut bewohnbare Häuser und sanierte Stadtviertel zu schaffen.Hinzu kam, daß auf den Wohnungsbeständen der ehemals volkseigenen Wohnungsunternehmen, der Arbeiterwohnungsgenossenschaften sowie der wenigen noch vorhandenen privaten Vermieter Kreditverpflichtungen in erheblichem Umfang lasteten. Mitte Juli 1990 lagen die Altschulden bei annähernd 40 Milliarden DM. Die privaten Vermieter hatten Altschulden von rund 3 Milliarden DM. Diese Altschulden waren mit dem von uns allen verabschiedeten Einigungsvertrag übertragen worden. Sie gehören in den großen Komplex der mit der Wirtschafts- und Währungsunion vom 1. Juli 1990 verbundenen Probleme. Das ist nun einmal so.Insbesondere die Wohnungswirtschaft, aber auch private Vermieter standen nun vor der mißlichen Situation, die Mieten nicht oder nicht wesentlich erhöhen zu dürfen, aber höhere Nebenkosten auffangen und Wohnungen instandhalten zu müssen, sie zu modernisieren und nicht zuletzt investieren zu sollen. Gleichzeitig war die Situation wegen noch nicht erfolgter Zuordnung der Gebäude, Grundstücke und Schulden sowie wegen der zum Teil als ungerecht empfundenen Belastung mit Altschulden, die ihren Ursprung in der Willkür des Bewertungssystems und dem willkürlichen Preisgefüge des ehemaligen DDR- Wirtschaftssystems hatte — das müssen wir einmal festhalten; denn nacher wird uns sicher etwas anderes erzählt —, kompliziert und angespannt.Meine Damen und Herren, ich schildere Ihnen die Vorgeschichte des Altschuldenhilfe-Gesetzes, um in dieser Debatte zu verdeutlichen, welch enorme Entlastungswirkung trotz aller Kritik dieses Gesetz für die Wohnungswirtschaft und die privaten Vermieter in den neuen Bundesländern hatte und noch hat.
Es sollte zum einen den Mietern die Bildung von Wohnungseigentum, von echtem Wohnungseigentum, ermöglichen — darauf komme ich zurück —, nicht zuletzt auch als Lebens- und Alterssicherung, und es sollte auch einen kräftigen Anschub geben, damit die Umwandlung gewährleistet würde. Zum anderen sollte es den Vermietern — den Wohnungsbaugesellschaften, den Genossenschaften und den privaten Vermietern — die Möglichkeit und die Mittel an die Hand geben, zu sanieren und zu modernisieren.Wir sollten auch nicht vergessen, daß dieses Gesetz nicht im luftleeren Raum zustande gekommen ist, sondern im Rahmen der Verhandlungen zum Solidarpakt, also in einem größeren Rahmen, und Bestandteil eines von allen verantwortlichen Kräften getragenen Kompromisses war. Das sollten wir nicht vergessen. An die Eckpunkte des Altschuldenhilfe-Gesetzes gehende Änderungsanträge werden deshalb von uns aus gutem Grund nach dem Grundsatz „pacta sunt servanda" abgelehnt. Ich komme darauf zurück.Die F.D.P. hatte damals andere Vorstellungen über die Entlastung
— Sie waren noch nicht dabei —, die sich schließlich auf 31 Milliarden DM beläuft. Die F.D.P. hatte auch andere Vorstellungen über die Privatisierungsquote. Sie hätte ruhig mehr als 15 % in zehn Jahren — wir müssen uns das einmal vorstellen: 15 % in zehn Jahren — betragen können. Die Zahl von 85 % möchte ich in Erinnerung rufen. Es wurde aber so ausgehandelt, und an ausgehandelte Verträge soll man sich bekanntlich halten.Auch der durch die gestaffelte Erlösabführung gesteuerte Druck auf die Unternehmen, die Privatisierung von mindestens 15 % der Bestände so zügig wie möglich zu erledigen, war beabsichtigt und ist für uns im Prinzip nicht verhandelbar.Aber wir geben zu: Es kann ja einzelne Fälle geben, in denen die pure Anwendung der Erlösabführungsstaffel zu unbefriedigenden Ergebnissen führt. Für solche Fälle, meine Damen und Herren, haben wir als Gesetzgeber den Lenkungsausschuß eingeführt. Wenn also beispielsweise ein Unternehmen aus von ihm selbst nicht zu vertretenden Gründen verhindert war zu privatisieren, dann soll es doch einen Antrag auf eine entsprechend niedrigere Erlösabführungsquote stellen, was ja wohl möglich ist. Darüber mag der Lenkungsausschuß dann entscheiden. Wir als Gesetzgeber wären überfordert, alle Wechselfälle des unternehmerischen Lebens per Gesetz regeln zu wollen.Auch die Frage, was denn nun Privatisierung ist, halte ich für eine sehr wichtige Frage, die aber durch die Bundesregierung bzw. den Lenkungsausschuß insbesondere in bezug auf die Vermieter regelbar ist. Für die F.D.P. ist klar, daß Zwischenerwerber bei entsprechenden Bedingungen unter diesen Begriff fallen können. Wo echtes Eigentum in Mieterhand beginnt, ist noch gründlich auszuloten und gewissenhaft zu ermitteln. Was echtes Wohneigentum ist, das wissen wir. Mietergenossenschaften, meine Damen und Herren, gehören auf jeden Fall noch nicht dazu.
Wohnungsgenossenschaften und Wohnungsbaugenossenschaften bieten nur ein Minieigentum, ein winziges Eigentumsrecht für den Mieter. Schauen Sie doch einmal in die Satzungen!
Dann erkennen Sie, wie schwach und wie kläglich die Stellung der Genossenschaftsmitglieder bezüglich eigener Eigentumsrechte ist. Verkauf, Erbrecht und sogar der Zuzug von Angehörigen unterliegen der
Metadaten/Kopzeile:
698 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Dr. Klaus RöhlVormundschaft der Vorstände. Das muß man sich einmal überlegen. Da reden Sie von Eigentum.
— Ja, das ist so. Ich habe eine Satzung in meiner Tasche. Ich wohne selber in einem solchen Verein. Ich weiß, was da gespielt wird.
— Nun kommen wir mal zu einem Friedensangebot: Die F.D.P. kann sich jedoch vorstellen, daß Genossenschaften, bei denen die Genossen mit stärkeren Eigentumsrechten ausgestattet sind, unter den Eigentumsbegriff fallen können. Darüber können wir reden. Ich kann mir auch vorstellen, daß sich gerade in den neuen Ländern — da haben wir die Chance dazu — eine Bewegung bildet, die der Beginn der dringend notwendigen Reform des Genossenschaftswesens im Sinne von stärkeren Eigentumsrechten der Genossen sein könnte.Ich kann Ihnen sogar eine Mitteilung zeigen, in der den Genossenschaftsmitgliedern abgeraten wird, zur Mieterberatung zu gehen. Das muß man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.Eigentumsbildung, ganz speziell Wohneigentum schafft Unabhängigkeit und Sicherheit. Stärkere Eigentumsrechte der Mitglieder von Genossenschaften sind Abschaffung von Bevormundung und Willkür, sind echte Demokratisierung. Deswegen sträuben sich die Vorstände auch dagegen.
Wer will denn etwas dagegen einwenden, wenn alle mehr Mitspracherechte haben?
Meine Damen und Herren, zum Schluß möchte ich Ihr Augenmerk darauf richten, daß mit dem Altschuldenhilfe-Gesetz auch den Vorgaben des Einigungsvertrages in der Weise Rechnung getragen wird, daß durch die Privatisierung wenigstens zum Teil der ehemalige „volkseigene Wohnbestand" in das private, das echte Eigentum des Volkes, der Bürgerinnen und Bürger, überführt wird. Es ist also nicht allein eine Angelegenheit der wohnungswirtschaftlichen Qualität.Es war allen am Einigungsvertrag Beteiligten ein Anliegen, die Eigentumsquote in den neuen Ländern anzuheben und damit die Selbständigkeit und Unabhängigkeit ihrer Bürgerinnen und Bürger zu fördern. Wir sind der Meinung, nur eine höhere Eigentumsquote gewährleistet mittelfristig die gewünschte Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West und den sozialen Frieden.
Schauen wir doch nicht nur auf die unbequemen, vielleicht auch an einigen Stellen unzureichenden Ecken und Kanten des Altschuldenhilfe-Gesetzes. Schauen wir doch auf die beiden großen Ziele: Eigentumsbildung und wohnungswirtschaftliche Gesundung.Wir halten das Altschuldenhilfe-Gesetz in der Sache, im Grundsatz für gut und richtig. Es muß nur flexibel genutzt werden. Ich bitte deshalb die Antragsteller: Lassen Sie uns über Verbesserungsmöglichkeiten bei der Ausführung des AltschuldenhilfeGesetzes reden! Lassen Sie jedoch die Finger von den Grundlagen des Gesetzes und bringen Sie keine Unsicherheit in die Wohnungswirtschaft, in die Investitionen und in die weitere Entwicklung!
Das Wort hat der Kollege Klaus-Jürgen Warnick.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was ich soeben vom Kollegen Röhl hören mußte, zieht einem glatt die Schuhe aus.
Wenn ich das richtig sehe, sind Sie auch aus den neuen Bundesländern.
Ich frage mich: Waren Sie schon jemals bei einer Mieterversammlung?
— Meine Leute?
Als die Zwangsprivatisierung im AltschuldenhilfeGesetz vor zwei Jahren beschlossen wurde, war mir schon klar, daß dieses Gesetz keinen endgültigen Bestand haben würde. Ein Gesetz, das so unrealistisch an den Interessen der Betroffenen vorbeigeht, mußte einfach scheitern. Die Praxis hat das auch gezeigt. Frau Gleicke hat bereits darauf hingewiesen, daß sie damals dieselben Bedenken hatte.Es ist doch einfach illusorisch, Mietern eine Privatisierung zu verordnen, die sie gar nicht wünschen. Die Befragungen der betroffenen Mieter in Ostdeutschland haben klar gezeigt, daß selbst bei größten Anstrengungen der Wohnungswirtschaftsbetriebe keine 15 % der Wohnungen unabhängig von der Struktur und der konkreten Situation vor Ort an die Mieter zu veräußern sind.Darauf muß die Politik reagieren. Sie kann nicht weltfremd wegschauen und Illusionen nachhängen.
Ansonsten schafft man noch mehr Politikverdrossenheit.Der Kollege Rau muß mir einmal erklären, worin die Logik der These besteht, daß kein Mieter mehr eine Wohnung erwerben kann und kein Wohnungswirtschaftsbetrieb mehr verkaufen kann, wenn die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 699
Klaus-Jürgen WarnickZwangsprivatisierung gestrichen wird. Das macht doch überhaupt keinen Sinn.
Angesichts herrschender Wohnungsnot und knapper Kassen im öffentlichen Haushalt müssen vorhandene Kapazitäten und Mittel auf wohnungspolitische und nicht auf vermögensbildende Maßnahmen konzentriert werden.Die Ergebnisse belegen, daß trotz aller Schönrederei die Politik der Wohnungsprivatisierung in Ostdeutschland, wie schon gesagt, gescheitert ist. Wenn eine Bilanz erfolgreich war, dann die der westdeutschen Banken, Immobilienfirmen und Spitzenverdiener,
die beim Geschäft mit ostdeutschen Grundstücken, Häusern und Wohnungen so manches Schnäppchen machen konnten, das mit großzügigen Steuergeschenken garniert wurde.Warum sagt man nicht offen, daß man die Privatisierung von 15 % der Wohnungen an die Mieter gar nicht will? Daß man weiß, daß es nur 5 % sind? Daß man will, daß an Investoren verkauft wird? Man soll das offen sagen, wenn man bei diesem Gesetz bleiben will.Der Druck auf schnelle Privatisierung führt zwangsläufig dazu, den Verkauf an Dritte verstärkt anzustreben. Etwas anderes bleibt gar nicht übrig. Auf diese Weise wird die Grundintention des Gesetzes wie auch des Einigungsvertrages, nämlich zur Bildung selbstgenutzten Wohneigentums für die Menschen in Ostdeutschland beizutragen, ins Gegenteil verkehrt.Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig hat schon darauf hingewiesen: In Berlin wurden ohne Genehmigung der gewählten Volksvertreter hinter dem Rücken der Mieterinnen und Mieter 10148 Wohnungen an Kapitalanleger verkauft. Glauben Sie ernsthaft, daß dies im Osten Vertrauen schafft?Nach Informationen des Gesamtverbandes der Wohnungswirtschaft wurden von den ostdeutschen Mitgliedsunternehmen vom 3. Oktober 1990 bis zum 31. Dezember 1993 53 821 Wohnungen verkauft. Während von den 1991 privatisierten Wohnungen nur 8,6 % an die Mieter veräußert wurden, waren es von den 1992/93 privatisierten Wohnungen gerade einmal 30,9 %.
Herr Kollege Warnick, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, natürlich.
Herr Kollege Warnick, können Sie mir einmal sagen, wer in den Berliner Stadtbezirken Treptow, Friedrichshain und Prenzlauer Berg Bürgermeister ist, welche Namen das sind und welcher Partei die Betreffenden angehören? Das würde mich sehr interessieren, denn diese Leute waren ja im Rahmen der Wohnungsprivatisierung für den Verkauf verantwortlich, den Sie gerügt haben.
Es geht ja wohl in erster Linie um die SPD/CDU-geführte Regierung in Berlin.
Nein, es handelt sich durchweg um SPD-Bürgermeister.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Natürlich, bitte.
Herr Kollege Warnick, als Mitglied des Aufsichtsrates der Köpenicker KöWoGe habe ich mit diesen Verfahren zu tun gehabt. Geben Sie mir recht, daß in den Aufsichtsräten nach Mehrheitsverhältnissen entschieden wurde und daß sowohl in Treptow als auch in Friedrichshain der Bürgermeister und vielleicht noch der Baustadtrat zwei von neun Mitgliedern des Aufsichtsrates waren, so daß folgerichtig die Entscheidungen gegen die Stadtbezirke laufen mußten?
Das kann ich nicht konkret bestätigen; ich bin kein Berliner.
Es wird noch eine Zwischenfrage gewünscht. Dann sollten wir aber, wenn Sie einverstanden sind, in der Debatte fortfahren. Bitte, Herr Röhl.
Herr Warnick, ist Ihnen bekannt, daß in der eben genannten Köpenicker Wohnungsgenossenschaft KöWoGe den Mietern überhöhte Betriebskosten angerechnet und abgefordert wurden und daß erst der SPD-Bürgermeister eingeschaltet werden mußte, um das zu regeln?
Ja, ich weiß, daß es dort Probleme gegeben hat.
Ich schlage vor, daß wir in der Debatte fortfahren. Im übrigen bitte ich, darauf hinweisen zu dürfen, daß wir hier im Bundestag und nicht in einem Kommunalparlament sind.
Es gibt aber noch eine Zwischenfrage, Herr Kollege Warnick.
Eine kurze ergänzende Zwischenfrage: Herr Warnick, ist Ihnen bekannt, daß die Anweisung zum Verkauf von Wohnungen der Wohnungsbaugesellschaften durch den CDU-Finanzsenator Pieroth in Berlin gegeben wurde?
Ja, das ist mir auch bekannt.
Metadaten/Kopzeile:
700 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Klaus-Jürgen WarnickWir kommen wieder zum Altschuldenhilfe-Gesetz zurück: Im Mittelpunkt der Kritik an dem Gesetz steht, wie schon mehrfach angesprochen, die Pflicht für kommunale und genossenschaftliche Wohnungsunternehmen, mindestens 15 % ihres Wohnungsbestandes zu privatisieren. Diese Privatisierungspflicht zwingt die kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsunternehmen unter großem Druck zur Veräußerung von Wohnungen, unabhängig von den örtlichen Gegebenheiten, von der sozialen Situation der Mieterinnen und Mieter bzw. der Genossenschaftsmitglieder. Menschen, vor allem ältere, werden dadurch verängstigt, unter Entscheidungszwang gestellt und der Gefahr der Überschuldung und des Verlustes der Wohnung durch unseriöse Beratungs- und Verkaufspraktiken ausgesetzt. Sanierungs- und Modernisierungsarbeiten werden nach dem Gesichtspunkt des notwendigen Wohnungsverkaufs und nicht nach baulichen Aspekten eingeordnet.Dies ist kein von der PDS erfundenes Horrorszenarium, sondern alltäglich erlebte Wirklichkeit im Osten. Ich nehme an, daß die Kolleginnen und Kollegen von den anderen Parteien ähnliche Erfahrungen in den ostdeutschen Städten sammeln konnten.
Noch etwas zu dem, was Frau Gleicke gesagt hat, zur Privatisierung, die wir als PDS ausschließen würden: Das stimmt so nicht. Sie sollten einmal die Grundsätze des PDS-Programms besser lesen. Da steht: breite Streuung aller Eigentumsformen.Selbstverständlich gibt es auch gute Beispiele für Wohnungsprivatisierungen, und dagegen sind wir auch nicht. Diese erfolgten aber in der Regel unabhängig vom Altschuldenhilfe-Gesetz zumeist in kleineren Städten und Gemeinden. Nach Angaben des GdW beabsichtigen die ostdeutschen Mitgliedsunternehmen, bis zum Jahr 2003 über 380 000 Wohnungen zu privatisieren — rund 50 000 Wohnungen mehr als im Zuge der Erfüllung der AHG-Auflage nötig. Dies belegt ebenso wie die vor dem AHG durchgeführten Verkäufe, daß der Gesetzgeber gar keinen gesetzlichen Zwang auf Wohnungsunternehmen und Kommunen ausüben muß, etwa weil diese nicht willig wären. Eine sinnvolle Bildung von selbstgenutztem Wohneigentum durch Mieterinnen und Mieter in Ostdeutschland wird durch den von uns vorgeschlagenen Gesetzentwurf nicht behindert.Daß die Organisation der Wohnungsprivatisierung umfangreiche personelle, materielle und finanzielle Kräfte in Wohnungsunternehmen, Kommunen, Ländern und im Bund bindet, welche dann für die Lösung der dringendsten Wohnungsprobleme, für Leerstandsbeseitigungen, Abbau des Sanierungsrückstaus, Verhinderung von Zweckentfremdungen oder Wohnumfeldgestaltungen fehlen, sei hier nicht nur am Rande erwähnt.Daß die Bauminister schon 1992 mit dem sogenannten Magdeburger Kompromiß beschlossen, zum 1. Juli 1995 den ostdeutschen Wohnungsbestand ins Vergleichsmietensystem zu überführen und dann zweieinhalb Jahre nicht die Kraft hatten, dafür ein tragfähiges Konzept zu erarbeiten und öffentlich zu diskutieren, hängt sicher auch damit zusammen.Aus der Sicht der PDS gibt es eine Lösungsmöglichkeit, die schnell und preiswert umzusetzen wäre, keinen zusätzlichen Verwaltungsaufwand erfordert und das Gesetz an sich und die Zielstellung des Einigungsvertrages zur Schaffung von mehr selbstgenutztem Wohneigentum nicht in Frage stellt: Wohnungsunternehmen, die eine Altschuldenhilfe in Anspruch nehmen, werden von der Verpflichtung der Wohnungsprivatisierung bzw. -veräußerung entbunden; § 5 des Altschuldenhilfe-Gesetzes — Privatisierungs- und Veräußerungspflicht, Abführung von Erlösen — wird ersatzlos gestrichen.Damit wären die kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsunternehmen sowie die Kommunal- und Länderverwaltungen in Ostdeutschland in der Lage, ihre finanziellen, materiellen und personellen Kräfte auf die zügige Sanierung und Modernisierung des vorhandenen Bestandes zu konzentrieren. Darüber hinaus könnten sie ohne zeitliche Bedrängnis entsprechend eigenen Wünschen und Erfordernissen auf der Grundlage geltenden Rechtes sowie der Nachfrage nach Wohneigentum Bestände privatisieren, Genossenschaften ausgründen und andere strukturelle Veränderungen vornehmen. Dieser Weg — übrigens schon einmal 1994 von uns aufgezeigt — wäre das mindeste, worauf sich der Bundestag über Fraktionsgrenzen hinweg einigen sollte.Der Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist da schon recht gut, erscheint meines Erachtens aber noch zu kompliziert und in sich nicht schlüssig. Genau wie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind wir gegen die Zwischenerwerbermodelle, und zwar aus den gleichen genannten Gründen.Noch ein Wort zum Vorwurf von Frau EichstädtBohlig, wir würden immer nur sagen, die Regierung solle dieses Problem lösen, und das sei unrealistisch: Dazu muß ich sagen, daß die Bundesregierung dieses Problem erst verursacht hat, indem sie juristisch nicht vorhandene Schulden formal und politisch zu Schulden gemacht hat. Also ist sie auch für die Lösung dieses Problems verantwortlich.
Noch etwas zu Ihnen, Herr Röhl: Sie sprachen die Wohneigentumsquote in Ostdeutschland an. Hier ist eine falsche Information gegeben worden. Ich bin auch der Meinung, Sie haben einen merkwürdigen Eigentumsbegriff. Die Mieter in Genossenschaftswohnungen im Lande werden es mit Interesse gehört haben, daß Sie sie als „Eigentümer zweiter Klasse" eingestuft haben.Das Argument zur Begründung der 15 % Privatisierungsauflage, die notwendig sei, um die großen Defizite bei der Wohneigentumsquote zu beseitigen, ist nämlich nicht stichhaltig. Es waren 1989 in der DDR 25,9 % in Privateigentum, in der alten Bundesrepublik 41,5 %. Dabei ist das genossenschaftliche Wohneigentum unberücksichtigt geblieben. Rechnet man nämlich die 17,6 % Genossenschaftswohnungen in Ostdeutschland sowie die 4 % Genossenschaftswohnungen in Westdeutschland hinzu, so stellt man fest, daß die Eigentumsquote bei Negierung der unterschiedlichen Struktur zwischen Ost und West annähernd gleich ist. Schon jetzt liegt in Ballungsräumen Westdeutschlands der Eigentumsanteil deutlich unter
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 701
Klaus-Jürgen Warnickder Wohneigentumsquote mancher Regionen Ostdeutschlands.Zum Horrorszenarium von Ihrer Region, das Sie hier aufgebaut haben — wenn ich richtig informiert bin, wohnen Sie ja selber in Marzahn —: Es gibt dort Umfragen. 80 % der Bewohner dieser Siedlungen fühlen sich in ihren Wohnungen wohl.Zum Schluß noch ein Wort zur beabsichtigten Einführung des Vergleichsmietensystems. Ich frage mich ernsthaft, ob sich die Verantwortlichen darüber im klaren sind, daß der geplante Termin 1. Juli 1995 nur zu halten ist, wenn in einer beispiellosen Hektik wie bei der Einführung der Zweiten Grundmietenverordnung vorgegangen wird. Es ist zu befürchten, daß die Meinung der Betroffenen und der Verbände dabei wieder auf der Strecke bleibt. Da werden Sie sich aber auf einen enormen Widerstand der Mieter einrichten müssen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Bundesminister Dr. Töpfer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Gleicke hat ihre Rede mit der Mahnung an uns alle beendet, wir sollten dieses Thema mit Sachlichkeit diskutieren. Dem möchte ich mich nachhaltig anschließen;
denn dieses Thema verdient Sachlichkeit wie kaum ein anderes. Das, was wir hier sagen, wird massenhaft multipliziert und verunsichert und verängstigt Menschen. Deswegen sollte man jedes Wort wägen, und man sollte jedes Wort — das sage ich auch meinem Vorredner — unter dem Gesichtspunkt sehen, welchen Resonanzboden man zum Klingen bringt. Dies ist nicht der Weg, wie man ein solches schwieriges Thema bewältigen kann.
Zur Sachlichkeit gehört, daß man einmal an den Anfang geht. Frau Eichstädt-Bohlig, Sie sagen, das alles sei mit heißer Nadel gestrickt. Was denn? Da gibt es den Art. 22 des Einigungsvertrages, den ich Ihnen in seinem Abs. 4 vortragen möchte. Da steht:Dieses Vermögen— das ist das „zur Wohnungsversorgung genutzte volkseigene Vermögen" —geht mit Wirksamwerden des Beitritts mit gleichzeitiger Übernahme der anteiligen Schulden in das Eigentum der Kommunen über. Die Kommunen überführen ihren Wohnungsbestand unter Berücksichtigung sozialer Belange schrittweise in eine marktwirtschaftliche Wohnungswirtschaft.Den nächsten Satz sage ich langsam:Dabei soll die Privatisierung auch zur Förderung der Bildung individuellen Wohneigentums beschleunigt durchgeführt werden.Das ist der Auftrag aus dem Einigungsvertrag.Ich war bei der Diskussion noch nicht für diesen Teilbereich verantwortlich. Aber nun stelle ich mir doch folgendes vor: Im Einigungsvertrag steht, es gebe anteilige Schulden. Die werden ermittelt und summieren sich am Ende, weil es eine Tilgungs- und Zinsfreiheit gegeben hat, auf insgesamt 59 Milliarden DM. Da sagt man, diese Summe könne man nun wirklich nicht auf die Wohnungen umlegen; denn wenn wir das täten, hätte es eine zu große Auswirkung auf die Mieten, das könnten die Mieter nicht tragen.Deshalb gibt es in diesem hier so vordergründig gescholtenen Gesetz eine Regelung, die besagt, mehr als 50 % dieser Schulden würden erst einmal in einen Erblastentilgungsfonds übernommen, damit sie nicht mehr mietrelevant werden. Was ist denn daran eigentlich zu kritisieren?Dann bleiben noch 29 Milliarden DM übrig. Diese 29 Milliarden DM sollen ab 1. Juli 1995 dann auch über die Unternehmen, also über die Miete, refinanziert werden. Wir alle wissen, daß dies eine Bedienung von etwa 1 DM/qm ausmacht. Viele Menschen in den westlichen Bundesländern wären dankbar, wenn sie nur eine solche Last an ihrem Wohnungseigentum zu tragen hätten.
Im Gegensatz zu dem, was Sie, Frau Eichstädt-Bohlig, gesagt haben, sage ich das nicht, um eine OstWest-Kontroverse hervorzurufen. Auch dabei sollten wir ganz vorsichtig sein.
Das ist die eine Regelung. Die zweite steht ebenfalls in der zitierten Vorschrift: Dabei soll auch beschleunigt individuelles Eigentum gebildet werden. Man schreibt daher in dieses Gesetz hinein, 15 % sollen — man sagt nicht einmal „müssen", sondern „sollen" — vorrangig durch individuelles Eigentum erreicht werden. Was ist denn daran zu kritisieren?
— Ich komme auf die Plattenbauten zurück. — Jetzt frage ich nur, was daran zu kritisieren ist. Keiner geht doch hin und will das in dem Gesetz ändern, auch die SPD nicht.
— Ich komme darauf zurück. Auch Sie stimmen den 15 % zu. Jetzt sagen Sie, beim individuellen Eigentum gebe es Probleme. Es gebe das eine Problem, daß die Mieterinnen und Mieter in den neuen Bundesländern gegenwärtig noch nicht über das Vermögen verfügten. Wir haben, wie Sie wissen, in der Vergangenheit geholfen. Der Kollege Rau hat uns gesagt: Überlegt mal, ob Ihr da noch ein bißchen helfen könnt.Es gibt aber einen zweiten Aspekt. Die Möglichkeit, etwas zu verkaufen, hängt nach meiner Grundkenntnis marktwirtschaftlicher Zusammenhänge vornehmlich davon ab, welchen Preis man fordert. Man muß
Metadaten/Kopzeile:
702 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Bundesminister Dr. Klaus Töpfersich das vorstellen: Da wird durch das Altschuldenhilfe-Gesetz pro Quadratmeter noch eine Schuld von 150 DM belassen. Gleichzeitig werden, was ich sehr begrüße, Grund und Boden weitgehend nahezu kostenlos an die Unternehmen weitergegeben. Also gibt es auch von dorther keine Belastungen.Vor diesem Hintergrund — pro Quadratmeter noch 150 DM Schulden, keine Belastungen mehr über den Boden — sagt man mir: In Potsdam werden solche Wohnungen für 3 000 DM pro Quadratmeter angeboten. Ist es dann ein Wunder, wenn sich die Privatisierung nicht realisieren läßt?Dem Kollegen von der PDS kann ich nur sagen: Es stellt sich jemand mit dem Fuß auf den Schlauch und sagt: Dem wollen wir doch einmal zeigen, ob wir nicht erreichen können, zu belegen, daß es nicht geht. Sie wollen es nicht, und deswegen legen Sie die Preise so hoch. Hinterher kommen Sie hierhin und sagen: Es gibt keine individuelle Privatisierung.
Das ist wirklich großartig angelegte Dialektik. Man muß hier aber wenigstens darauf hinweisen können, daß es so ist.Lassen Sie uns doch einmal über Preise reden — nicht für die 30 %, die arbeitslos sind, sondern für die 15 %, die wir privatisieren sollen.In § 5 dieses Gesetzes steht: Wenn nach dieser Zeit, im Jahre 2003, nachgewiesen werden kann, daß man sich bemüht hat, die Privatisierung aber nicht möglich war, dann entsteht kein Anspruch auf Rückzahlung der Entlastung. Das heißt, Sie haben jederzeit die Möglichkeit, zu sagen: Das geht. Ich möchte sachlich diskutieren. Ich finde es gut, wenn mir jemand sagt: Wir müssen uns überlegen, ob wir nicht noch andere Eigentumsformen hinzuziehen können. Das ist ja mehr als naheliegend.Da gibt es diese Zwischenerwerber. Das ist bemerkenswert. Es erhöht im allgemeinen nicht die Glaubwürdigkeit und die Überzeugungskraft von Argumentationen, Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, wenn Sie ein Beispiel bringen. Das mag schlecht sein. Andere geben hier gute Beispiele.Es war nicht mein Hinweis, sondern der des Kollegen Meyer aus Brandenburg, der mir gesagt hat: So etwas wie das Zwischenerwerbermodell in Rostock will ich haben. Daran sind auch die Kommunen beteiligt. Es ist natürlich noch die Notwendigkeit enthalten, daß bis zum Jahre 2003 auch den Mietern das Angebot gemacht werden muß zu privatisieren. Er sagte mir fast auf den Tag genau vor einer Woche in Berlin: Wenn wir das gleiche unter „Zwischenerwerber" verstehen können, bin ich einverstanden. — Da nicht jeder den Kollegen Meyer aus Brandenburg kennen wird, möchte ich Ihnen sagen, daß der Kollege Meyer der SPD angehört.Aus diesem Grunde war ich nicht der Meinung, daß, ich so fürchterlich falsch liege. Den Hinweis, diese Zwischenerwerber würden durch Luxusmodernisierungen dazu beitragen, daß alles herausmodernisiert wird, haben wir mit der Kappungsgrenze für umlegefähige Modernisierungskosten von 3 DM pro Quadratmeter abgebaut. Also nehmen wir doch Dinge weg, die eigentlich nur denen helfen, von denen wir wissen, daß sie eine sachliche Lösung eigentlich gar nicht wollen.
Deswegen möchte ich über Zwischenerwerber auch im Ausschuß detaillierter diskutieren. Da kann man erörtern: Was muß man in einen solchen Vertrag hineinschreiben, damit das, was hier so greulich an die Wand gemalt wird, nicht passiert? Es gibt gute und schlechte Verträge, das ist wahr. Aber darüber kann man sich doch sachlich unterhalten.Dann kommen wir zu den Genossenschaften. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich will in Deutschland eine Renaissance der Genossenschaften.
Wenn ich das will, muß ich mich zunächst einmal fragen, warum.
— Da sehen Sie, ich lerne doch von Ihnen, Herr Kollege Großmann. Also nehmen Sie bitte zu Protokoll, daß der Begriff „Renaissance der Genossenschaften" vom Kollegen Großmann stammt, damit das alles seine Ordnung hat.Ich muß mich doch nur fragen: Warum gibt es eigentlich die Notwendigkeit, jetzt über eine Renaissance zu sprechen? Wenn das alles so überzeugend gewesen wäre, hätte es solche doch in den letzten 40 Jahren im westlichen Teilbereich der Bundesrepublik Deutschland gegeben.
— Selbst der Kollege von der PDS hat gerade darauf hingewiesen, daß wir insgesamt einen Anteil von 4 % haben. Das muß doch Gründe haben. Da muß man sich doch sagen können: Sind das nicht Gründe, die damit zusammenhängen könnten, daß die Art und die Bedeutung des Eigentums für das einzelne Mitglied der Genossenschaft nicht so attraktiv sind, daß es viele machen? Deswegen können wir an dieser Stelle den Versuch machen, nicht über eine Änderung des Genossenschaftsrechts, sondern durch Hinweise im Lenkungsausschuß an die Kreditanstalt für Wiederaufbau Klarheit darüber zu gewinnen: Welche Art im Sinne dieses Gesetzes wollen wir akzeptieren, mit mehr Flexibilität des Eigentums, mit mehr Möglichkeiten? Es gibt doch nicht nur schwarz und weiß. Ich kann nicht sagen: Wenn man verkaufen kann, ist es keine Genossenschaft mehr. Meine Phantasie geht ein bißchen weiter. Ich bin gerne bereit, mit Ihnen darüber zu sprechen. Dafür haben wir Ausschüsse.Wenn jedoch von vornherein gesagt wird, daß alles, was Mietergenossenschaft ist, zu 100 % die Ansprüche dieses Altschuldenhilfe-Gesetzes auf individualisierbares Eigentum erfüllt, dann müssen wir sagen: Das wird bei uns nicht so gesehen. Wir wollen mehr daraus machen, konstruktiv, nicht destruktiv, damit Genossenschaften wieder mehr Chancen haben.Das, was Herr Kollege Rau ausgeführt hat, waren — ich sage es etwas untechnisch — Spielarten, waren
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 703
Bundesminister Dr. Klaus TöpferWeiterführungen eines genossenschaftlichen Denkens. Deswegen: Ich führe diese Diskussion sehr gerne, aber mit Sachlichkeit. Sachlichkeit bedeutet nicht, Frau Kollegin Gleicke, daß man sagt: Sachlich ist die Diskussion nur dann, wenn ihr das übernehmt, was ich vorhin gesagt habe.
Wenn wir uns darauf einigen könnten, wäre das wunderbar.
— Ich wußte, daß Sie jetzt „gleichfalls" sagen. Mir hätte etwas gefehlt, wenn Sie das vergessen hätten.Unsere Meinung ist: Wenn wir diese auch nach dem Gesetz möglichen Auslegungen des Eigentumsbegriffs, auch individuelles Eigentum entwickeln zu können — immer unter dem Vorrang des Einigungsvertrages —, in das Gesetz hineinnehmen, bedarf es keiner Novellierung des Gesetzes.Ich sage auch mit Blick auf das zweite: Wenn wir der Eigentumschance des Gesetzes so gerecht werden, wird auch der Druck der Abführung ein anderer. Denn dann kriegen wir vergleichsweise schnell die 15 zustande. Nebenbei: Das ist etwas, was mir meine Kollegen aus den neuen Bundesländern permanent bestätigen. Das sind nicht allein meine Überlegungen; es sind kommunizierende Röhren. Je breiter ich die Möglichkeit der Privatisierung eröffne, um so schneller geht es und um so weniger ist die Besorgnis gegeben, wir kämen in die hohe Progression der Abführungsstaffel. Dann bleiben wir bei den 30 Hätten wir an vielen Stellen mit den Preisen anders gearbeitet, hätten viele auch mit Blick auf 20 % schon privatisieren können und hätten damit mehr Chancen gehabt, zu modernisieren, neue Wohnungen zu bauen und ihre Qualität als Wohnungsunternehmen der Gemeinde oder als Genossenschaft auch für die Zukunft zu sichern.Ich finde, es ist eine gute Möglichkeit, das alles in den kommenden Tagen und Wochen im Ausschuß zu diskutieren.Eines bitte ich wirklich zu verstehen. Ich habe in Übereinstimmung mit meinen Kollegen aus den neuen Bundesländern veranlaßt, daß der Lenkungsausschuß vorgestern nicht getagt hat. Denn ich sehe vergleichsweise wenig Sinn darin, viele hochrangige Mitarbeiter aus Verbänden und aus den Ministerien zwei Tage, bevor wir hier im Grundsatz über das Gesetz diskutieren, zusammenzurufen. Aber es darf nicht — das sage ich Ihnen auch — zu einem Stillstand der Rechtspflege kommen, indem wir erst einmal abwarten. Wir müssen vielmehr alles tun, um unsere Interpretation entscheidungsfähig zu machen.Ich werde — das sage ich ganz deutlich dazu — solche Überlegungen, wie sie in Rostock gemacht worden sind, genauso positiv bescheiden, wenn sie von anderer Stelle kommen, und auch der KfW die Signale geben, wie wir es an anderer Stelle gemacht haben. Ich wäre sogar dankbar, wenn wir weiterhin mit Projektmitteln des Bundes behilflich sein könnten, so etwas durchzuführen.Damit fällt vieles, was hier dargestellt worden ist, ein Stück in sich zusammen. Die Frage, ob dieses Gesetz wirklich so mit heißer Nadel gestrickt worden ist, daß es Unmöglichkeiten bewirkt, lasse ich offen. Wir sind der Überzeugung, das Gesetz hat in der Vergangenheit außerordentlich positiv gewirkt. Es hat nämlich 31 Milliarden DM nicht mietwirksam werden lassen und wird es mit weiteren 29 Milliarden DM bis zum 1. Juli 1995 nicht tun. Wir sollten die im Einigungsvertrag enthaltene Verpflichtung — den Aufruf, auch beschleunigt individuelles Eigentum zu bilden — sehr ernst nehmen. Das hat mit Ideologie viel weniger zu tun als das, was vorhin mein Vorredner über seine Sache gesagt hat. Das war angewandte Ideologie. Dies ist die Herausforderung, sachlich ein Problem im wiedervereinigten Deutschland zu lösen.Ich danke Ihnen sehr herzlich.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Christine Lucyga.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister, das Gesetz, das Sie soeben mit Vehemenz verteidigt haben, hat von seinem Inkrafttreten bis heute für anhaltende Kontroversen gesorgt. Ich weiß auch nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß ich aus dem Wahlkreis Rostock komme. Sie haben also ein Projekt gelobt, das in meinem Wahlkreis tatsächlich mit Erfolg praktiziert wird. Sie haben aber vergessen, hinzuzufügen, daß Rostock eine SPDgeführte Kommune ist und in dieses Projekt soziale Verantwortung der Kommune investiert hat, denn anders funktioniert es eben nicht.
Aber darauf komme ich noch einmal zu sprechen.Bereits bei der Verabschiedung des Gesetzes hatte die sozialdemokratische Bundestagsfraktion den Finger auf offensichtliche Mängel und Schwächen des Gesetzes gelegt und angekündigt, daß damit in Sachen Altschulden wohl noch nicht das letzte Wort gesprochen sein könnte. Die Erfahrungen mit der Umsetzung des Gesetzes haben unsere Einwände und Bedenken voll gerechtfertigt.Insbesondere richtet sich bis heute die massive Kritik der mit der Umsetzung beauftragten Praktiker gegen die im Gesetz undifferenziert verankerte Privatisierungsauflage für Wohnungsunternehmen, und zwar unabhängig davon, ob es sich um Wohnungen in tristen Schlafstädten oder in idyllischer Stadtrandgegend handelt, ob es sich um Plattenbauten oder um solide Mehr-, Ein- und Zweifamilienhäuser handelt, und ohne Rücksicht darauf, welche sozialen Strukturen sich inzwischen herausgebildet haben. Die progressive Erlösabführungsstaffelung — ein weiterer wesentlicher Kritikpunkt — setzt zudem die Unternehmen unter hohen Erfolgsdruck.Das Gesetz hat einen bestimmenden Webfehler. Ich werde hier einmal einen anderen Begriff einführen. Statt ständig zu sagen „mit der heißen Nadel genäht", kann man auch sagen: Es wurde unter rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten ohne Berücksichtigung der
Metadaten/Kopzeile:
704 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Dr. Christine Lucygakonkreten Situation von Wohnungsunternehmen und vor allem der Mieter in den neuen Bundesländern zusammengeschustert, als das Problem bereits hochexplosiv geworden war.
Im Februar 1994 brachte die SPD einen ersten Novellierungsantrag in den Deutschen Bundestag ein, der seinerzeit an der Koalitionsmehrheit gescheitert ist, die stur nach ihrem Prinzip „Friß, Vogel, oder stirb" verfuhr und an einem unzulänglichen Altschuldenhilfe-Gesetz festhielt.
Viele Verunsicherungen und Ängste der Menschen in den neuen Ländern hätten vermieden werden können, hätte es zeitiger eine Novellierung gegeben. Dann wäre es von vornherein nicht zu einem derartigen Druck auf die Unternehmen gekommen, den diese schon aus Überlebensgründen an die Mieter weitergeben mußten. Betroffene Mieter wiederum empfinden die Situation als beängstigend und mitunter die Sicherheit ihrer Wohnung als bedroht. Die heutige Debatte ist also überfällig.Unser am 6. Dezember eingebrachter neuer Novellierungsantrag entspricht einem breiten Interesse an der Klärung der bisher strittig gebliebenen Fragen, denen sich die Regierungskoalition auch unter Hinweis auf den Lenkungsausschuß nicht einfach entziehen kann; denn der Lenkungsausschuß hat bisher die damals in ihn gesetzten Erwartungen zum Ausräumen von Detailproblemen in dem Maße gar nicht erfüllen können, weil die schwerwiegenden Mängel des Altschuldenhilfe-Gesetzes nicht durch Retuschen aufgehoben, sondern nur konsequent als Ganzes geheilt werden können. Das kann der Lenkungsausschuß eben nicht leisten.Woher also Sie, Herr Minister, in diesem Kontext die optimistische Überzeugung nehmen, das Altschuldenhilfe-Gesetz bedürfe keiner Novellierung, mag vorerst Ihr Geheimnis bleiben. Wir wissen es besser. Die Wohnungswirtschaft weiß es besser, und verantwortliche Wohnungspolitiker in den neuen Bundesländern wissen es auch.
Die analog hier eingebrachten Anträge vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und von der PDS nehmen unser Novellierungsanliegen auf, ohne daß wir im Detail nun immer übereinstimmen müssen. Darüber müssen wir die Auseinandersetzung in den anstehenden Beratungen führen; denn es geht ja im Interesse der betroffenen Bürger und im Interesse der Wohnungswirtschaft um realitätsbezogene und machbare Lösungen.Die von uns vorgelegte Gesetzesnovelle fordert die Überprüfung eines Privatisierungszwanges, der weder die höchst unterschiedlichen Bedingungen von Unternehmen und Genossenschaften noch die Mieterinteressen ausreichend berücksichtigt. Unsere konkreten Forderungen hat im Detail bereits meine Kollegin Iris Gleicke beschrieben; dankenswerterweise hat Frau Eichstädt sie teilweise wiederholt. Ich kann mich deshalb etwas kürzerfassen.Ich möchte gleich hinzufügen: Niemand verkennt, daß ungeachtet aller Mängel das AltschuldenhilfeGesetz bei seinem Inkrafttreten zunächst den größten Druck von den belasteten Unternehmen genommen und in begrenztem Maße die Investitionsfähigkeit sichergestellt hat.
Genausowenig darf aber vergessen werden, daß das Altschuldenproblem der ostdeutschen Wohnungswirtschaft durch jahrelanges sehr hilfloses Agieren der Bundesregierung erheblich verschärft wurde. Allein durch Liegenlassen sind die Schulden immerhin in zweistelliger Milliardenhöhe weiter gewachsen. Bei aller Anerkennung des finanziellen Engagements, zu dem sich die Bundesregierung schließlich bereit erklärt hat: Für diesen, den ausschließlich hausgemachten Teil des Problems ist sie es, die die politische Verantwortung trägt. Das soll auch einmal ausgesprochen werden.
Daß das Altschuldenhilfe-Gesetz neben den partiellen Entlastungen auch zu neuen Problemen und Belastungen für Wohnungsunternehmen und vor allen Dingen für Wohnungsgenossenschaften geführt hat, wird auch aus einem Bericht des Unterausschusses Privatisierung deutlich, in dem es heißt, auch teilweise Privatisierungserfolge könnten — nun Zitat — „nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch eine Reihe ernstzunehmender Probleme" — ich betone: ernstzunehmender Probleme — „bei der Anwendung des Altschuldenhilfe-Gesetzes zu verzeichnen" seien.Diese Probleme macht der Unterausschuß vorwiegend folgendermaßen fest. Genannt wird zunächst die äußerst schwierige Privatisierung von zumeist unattraktiven Wohnungsbeständen in Plattenbausiedlungen. Der Wohnwert der Platte wird auch durch eine aufwendige Sanierung nicht besser. Die Sozialstruktur der Mieter und deren oft ungewisse persönliche Perspektive schaffen zusätzliche Erschwernisse. Die zu privatisierenden Wohnungen in Ordnung zu bringen kostet Zeit und Geld. Die progressive Erlösabführungsstaffelung ist dabei kontraproduktiv, denn den Unternehmen läuft ohne ihr eigenes Verschulden auch noch die Zeit weg.Das gleiche gilt, wenn die rechtskräftige Übertragung von Grundstücken nach dem Vermögenszuordnungsgesetz noch aussteht. Auch hier gibt es für die Unternehmen einen unverschuldeten Zeitverlust, der ihnen nach der Erlösabführungsstaffelung erhebliche finanzielle Nachteile bringt.Es bleibt letztlich nur die Möglichkeit, aus der Not eine Tugend zu machen, z. B. durch ein Zwischenerwerbermodell, wie es in meinem Wahlkreis Rostock aus der Not heraus entstanden ist. Dieses Modell der ROGEWO, das Sie sich jetzt so sehr auf die Fahnen schreiben, beweist auch: Solche Modelle können nur dann schadlos funktionieren, wenn der Vertrauens-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 705
Dr. Christine LucygaSchutz für Mieter dabei im Vordergrund durchgeführt und das Projekt in kommunaler Verantwortung steht und vor allen Dingen von sozialer Verantwortung getragen wird. Dann mag es gehen, aber auch nur dann.Nach wie vor bleibt es bei der Feststellung, daß mit der progressiven Erlösabführung die Weichen schon vom Grundsatz her falsch gestellt sind. Sollte es ein Anliegen des Altschuldenhilfe-Gesetzes sein, wie hier beredt ausgeführt, die Wohneigentumsbildung in den neuen Ländern zu fördern, dann geht für meinen Geschmack bei diesem Versuch zu vieles ins Leere und in die falsche Richtung.Ich habe vor dieser Debatte im Protokoll vom 27. Mai 1993 nachgelesen und die Privatisierungseuphorie der Bundesregierung im Zusammenhang mit den Altschulden damit begründet gefunden, daß — Zitat von Staatssekretär Grünewald — „die Integration der ostdeutschen Wohnungswirtschaft in die Soziale Marktwirtschaft in entscheidenden Punkten vorangekommen" sei. Diese Argumentation habe ich mir einmal durch den Kopf gehen lassen. Ich finde, sie ist nicht nur falsch, sondern irgendwie auch naiv und irgendwie auch ein bißchen unehrlich oder alles zusammen; denn Privatisierung von oben, gewissermaßen per Dekret und mit Zwangsjacke, hat doch mit Marktwirtschaft nur sehr wenig zu tun, mit Sozialer Marktwirtschaft schon überhaupt nichts.
Marktwirtschaft bedeutet für mich, die ich bisher nur wenig Erfahrung damit habe — denn ich habe es ja nicht von der Pike auf „gelernt", im Gegenteil —, daß Angebot und Nachfrage übereinstimmen, daß es Wahlmöglichkeiten bei Angeboten gibt, nicht aber, wie es jetzt geschieht, daß der Wohnraummangel die Preise treibt und daß die individuelle Privatisierungsentscheidung für die angebotene eigene Wohnung, die man eigentlich gar nicht kaufen möchte, womöglich ein Angstkauf unter dem Druck der Umstände ist. Angstkäufe kenne ich aus vergangenen Zeiten noch sehr gut. Aber das war wohl unter anderem Vorzeichen.
Nein, wir brauchen für die spezifischen Probleme der Wohnungswirtschaft im Osten Deutschlands auch ein problemgerechtes Herangehen. Es hat viel mit einem uns aus früheren Zeiten noch gut bekannten Gefühl von Entmündigung zu tun, wenn den Menschen im Osten zwar immer vorgehalten wird, alles sei marode, trist, verschuldet, schlecht, um sie anschließend genau für dieses marode, triste, verschuldete Zeug kräftig zur Kasse zu bitten. Auch über das geltende Genossenschaftsrecht hinweg bzw. über die besondere rechtliche Situation von Wohnungsgenossenschaften hinweg werden ihnen Privatisierungsauflagen diktiert, die den besonderen Charakter genossenschaftlichen Eigentums außer acht lassen. Von Achtung vor den Menschen und ihrer Lebensleistung zeugt dieses Herangehen nun nicht gerade.Wen wundert es eigentlich, wenn immer mehr Menschen zwar keine Lösung ihrer Probleme durch die Politik, dafür aber diese Art von Politik als ihr Problem sehen?
So müssen wir auch die immer lauter werdende Befürchtung, es könnte ab Mitte 1995 zu einer Mieterhöhungswelle erheblichen Ausmaßes in Ostdeutschland kommen, sehr ernst nehmen. In der Diskussion um die Einführung von Vergleichsmieten hat die Tatsache, daß zum gleichen Zeitpunkt auch die Zinsen aus Altschulden für Wohnungsunternehmen fällig werden, trotz des Statements der Bundesregierung, es werde keine direkte Belastung der Mieter durch Umlage des Kapitaldienstes für Altschulden geben, dafür gesorgt, daß hartnäckig das Gespenst einer Mietpreisexplosion im Osten Deutschlands umgeht.Die Wohnungswirtschaft ihrerseits hat bereits unmißverständlich deutlich gemacht, daß sie allein die Kapitaldienstleistungen für Altschulden und neue Kredite nicht tragen kann, und eine Investitionslücke in zweistelliger Milliardenhöhe prognostiziert. Diese Tatsache macht klärende Aussagen von Bund und Ländern notwendig, um den Mietern die Sorge und den Wohnungsunternehmen die Ungewißheit zu nehmen.Ich möchte jetzt zwar noch keine Ausführungen zur Vergleichsmiete machen, jedoch schon jetzt betonen: Die SPD-Fraktion wird weiter dafür streiten, daß die Mietentwicklung der Einkommensentwicklung nicht davonläuft. Rasch gehandelt werden muß übrigens auch deshalb, um eine verbesserte Teilentlastung für Wendebauten umzusetzen, die vom Lenkungsausschuß bereits Anfang Dezember vorgeschlagen wurde.Herr Minister, im Ausschuß sprachen Sie gestern von dem Ihnen bevorstehenden Vergnügen, heute den Antrag der SPD zur Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes zu debattieren. Ich kann Ihnen ein weiteres Vergnügen empfehlen, das Sie sich gönnen sollten: Machen Sie Nägel mit Köpfen, machen Sie mit bei der Novellierung des Altschuldenhilfegesetzes!
Das Wort hat der Kollege Josef Hollerith .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es mutet wie ein schlechter Treppenwitz der Weltgeschichte an, wenn sich die PDS heute zum Fürsprecher der Menschen in den Plattenbauten der früheren DDR macht. Die Menschen in den neuen Bundesländern wissen sehr wohl, wer die Kader, wer die SED-Verbrecher und Kommunisten waren und sind, die für den Zustand der Wohnungswirtschaft in der früheren DDR Verantwortung getragen haben.
Metadaten/Kopzeile:
706 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Josef HollerithMoralisch hat die PDS, haben Sie keine Berechtigung, sich als Hüter der Wohnungsinteressen der Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer aufzuspielen.Aber auch sachlich ist der PDS-Antrag eines Ersten Altschuldenhilfe-Änderungsgesetzes auf Drucksache 13/100 verfehlt. Die Privatisierung ist und bleibt der beste Weg, um Wohnungen dauerhaft zu sanieren, zu modernisieren und das Wohnumfeld attraktiv zu verbessern.Eigentlich hat der Bundesminister für Wohnungsbau die sachlichen Erklärungen in brillianter Weise gegeben. Aber nachdem gerade meine Vorrednerin wieder erkennen ließ, daß sie die Sachlichkeit der Argumentation offensichtlich immer noch nicht zu übernehmen bereit ist, muß ich noch einmal auf die Leistungen der Bundesregierung und der sie tragenden Koalitionsfraktionen hinweisen.
Mit dem Instrumentarium des AltschuldenhilfeGesetzes ist eine wirksame Entlastung der Mieter und Eigentümer von der sozialistischen Erblast erfolgt. Die finanziellen Aufwendungen von Bund und Ländern sind erheblich: 31 Milliarden DM durch die Teilentlastung von Altschulden allein beim Bund und ca. 7 Milliarden DM, je zur Hälfte von Bund und neuen Ländern, durch Zinshilfe. Neben dieser Altschuldenhilfe kommen umfangreiche staatliche Förderprogramme zur Modernisierung und zur Verbesserung des Wohnumfeldes hinzu: allein 630 Millionen DM Zinshilfe von 2 bis 5 % je nach Fördermaßnahme für bis zum 31. Dezember 1995 bewilligte Darlehen über einen Zeitraum von 10 Jahren durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau, 620 Millionen DM Städtebaufördermittel im Etat des Bundesbauministers allein für die neuen Länder. Als besonders bedeutsam zu nennen sind dabei vor allem die städtebaulichen Modellvorhaben und die städtebauliche Weiterentwicklung großer Neubaugebiete in den neuen Bundesländern. Dabei soll durch gezielte Fördermaßnahmen das Wohnumfeld in den in industrieller Fertigbauweise errichteten Großsiedlungen nachhaltig verbessert werden. Hinzu kommen zusätzliche Wohngeldleistungen zur sozialen Abfederung der Mietpreisanpassungen.Diese umfangreichen staatlichen Hilfen ermöglichen den Wohnungsunternehmen, zum einen mehr Kapital für die Modernisierung aufzuwenden und zum anderen ein stärkeres Engagement für den Wohnungsneubau zu leisten. Beide Maßnahmen helfen den Mietern, denn der beste Mieterschutz ist und bleibt ein großes Angebot bedarfsgerechter Wohnungen.Der durchschlagende Erfolg des AltschuldenhilfeGesetzes läßt sich auch daran ablesen, daß nahezu alle durch das Gesetz berechtigten Wohnungsunternehmen, Wohnungsgenossenschaften, Kommunen und private Vermieter einen Antrag auf Altschuldenhilfe gestellt haben. Insgesamt wurden über 33 000 Anträge eingereicht, darunter sind rund 30 000 private Vermieter.Eine erfolgreiche Privatisierung setzt allerdings auch ein hohes Engagement der Beteiligten voraus.Dazu zählt der Wille bei den politisch Verantwortlichen und der Wohnungswirtschaft. Dazu zählen umfassende und sachliche, seriöse Beratung der Mieter und Kaufinteressenten und ein Konzept für die Modernisierung und Aufwertung des Wohnumfeldes. Das Beispiel der Firma GEWOBA im Lande Brandenburg, welche den Quadratmeter Plattenbau für 3 000 DM angeboten hat, zeigt, daß es offensichtlich am Willen zur Privatisierung in Teilen der neuen Bundesländer fehlt.
Diese 3 000 DM sind entweder ein Modell des Abkassierens oder ein Abwehrinstrument, um die Privatisierung zu verhindern.
— Ich denke, daß es wohl beides ist.
Die Wohnungswirtschaft ist in besonderer Weise gefordert. Wir erwarten, daß sie die Mieter gründlich über alle Rechts- und Wirtschaftsfragen im Zusammenhang mit einem anstehenden Kauf informiert, daß sie eine sozial verträgliche Gestaltung der Verkaufspreise vornimmt und daß sichergestellt bleibt, daß kein nichterwerbsbereiter Mieter aus seiner Mietwohnung verdrängt wird. Auch sei daran erinnert, daß die Pflicht zur progressiven Abführung an den Erblastentilgungsfonds auf eine Forderung der Länder zurückgeht. Offen sind wir für kreative Lösungen, z. B. eine Eigentumsbildung durch Nutzung von Fondslösungen, um gesetzliche Vorgaben zu erfüllen.Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, ich habe sehr interessiert Ihren Ausführungen zugehört. Mir sind dabei zwei Dinge aufgefallen, die ich nicht nachvollziehen kann. Einmal Ihre grundsätzliche Einschätzung und Ihre grundsätzliche Kritik der Versammlungen von Wohnungseigentümergemeinschaften. Ich kann diese Einschätzung, daß hier im Regelfall ein Zusammentreffen von streitlustigen und streitsüchtigen Personen stattfindet, nicht nachvollziehen, im Gegenteil. Ich habe Wohnungseigentümerversammlungen immer als Veranstaltungen erlebt, wo demokratische Willensbildungsprozesse ablaufen und wo im Interesse des Eigentums entschieden wird.Ich muß auch bei dieser Gelegenheit eine grundsätzliche Anmerkung zum Instrument des Wohnungsteileigentums machen. Das Wohnungsteileigentum hat sich für Kapitalschwächere als hervorragende Möglichkeit bewährt, Wohn- und -Teileigentum zu erwerben, quasi als Einstieg, um sich später größere Einheiten leisten zu können. Es hat sich gerade bei jungen Menschen hervorragend bewährt, Wohnungsteileigentum durch Ansparmodelle zu begründen.Ich muß ein Zweites, was ich in Ihrem Vortrag so nicht akzeptieren kann, anmerken. Sie haben auch die Zwischenerwerbermodelle in Frage gestellt. Ich meine, wenn sie, wie es der Bundesbauminister erklärt hat, in der richtigen Vertragsgestaltung entwickelt und verwendet werden, dann sind sie sehr geeignet, unter Umständen fehlendes Know-how zu transferieren, um dadurch die gewollte Privatisierung zu verstärken, eine seriöse Beratung der Mieter zu leisten, die schwierigen Fragen der Trennung von Gemeinschafts- und Sondereigentum in großen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 707
Josef HollerithWohnanlagen der Plattenbauten zu lösen, die Modernisierung des Wohnumfeldes zu organisieren etc., so daß ich Ihre Kritik an diesem Zwischenerwerbermodell nicht teilen kann. Im Gegenteil, ich sehe darin ein hervorragendes Instrument, um das Ziel der sozialverträglichen Privatisierung zu erreichen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, meine Redezeit ist damit ausgeschöpft. Ich hätte gerne noch — —
Sie haben noch anderthalb Minuten.
Dann kann ich noch zu der Frage Käufer- und Verkäufermodelle einige Anmerkungen machen.
In manchen Passagen des Berichts des Unterausschusses — er ist hier eingehend diskutiert worden — schien es, als würde es sich urn einen ideologischen Streit über das Käufer- oder Verkäufermodell handeln. Das Verkäufermodell — ich muß es kurz ausführen — sieht vor, daß der Verkäufer die Modernisierung leistet, die Verbesserung des Wohnumfeldes gestaltet, die gesamte Infrastruktur neu herstellt und verbessert und schließlich die Sanierung des späteren Sondereigentums vornimmt. Im Unterschied dazu sieht das Käufermodell vor, daß diese Leistungen, also die Sanierung des Sondereigentums, die Modernisierung, die Verbesserung des Wohnumfeldes des Gemeinschaftseigentums, von den künftigen Wohnungsteileigentümern zu erbringen sind.
Ich meine, daß in der Praxis Flexibilität notwendig bleibt. Jedes dieser Modelle kann je nach dem Einzelfall das bessere sein. In kleinen Wohnanlagen mit überschaubaren Größen von 6, 8, 20 Wohneinheiten mag das Käufermodell geeigneter sein, da es die Chance bietet, das Teileigentum preiswerter zu verkaufen, während das Verkäufermodell im Regelfall sicherlich in großen Wohnanlagen mit 1 000 und mehr Wohnungen Vorteile bietet, weil die Aufteilung, die Modernisierung des Gemeinschaftseigentums und die Verbesserung des Wohnumfeldes aus einer qualifizierten Hand besser gewährleistet werden können. Insofern bitte ich, auch hier, wie bei allen anderen Fragen die Instrumente sehr sachlich, pragmatisch und flexibel zu nutzen.
Ich danke.
Das Wort hat der Kollege Achim Großmann .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will versuchen, auf die Diskussion einzugehen und noch einmal herauszuarbeiten, wo wir weitestgehend einer Meinung sein könnten. Ich will aber gleichzeitig aufdecken, Herr Minister Töpfer, wo Sie zugekleistert und nicht ganz die Wahrheit gesagt haben.
Zunächst einmal zum Positiven: Das Altschuldenhilfe-Gesetz ist im Grunde genommen ein gutes Gesetz; das ist nicht bestritten worden.
Wir haben bemängelt, daß es zu spät kommt. Aus den 36 Milliarden DM Altschulden, die zunächst bestanden, sind nun 59 Milliarden DM geworden. Dies resultiert z. B. daraus, daß Ihre Vorgängerin, Herr Töpfer, über mehrere Jahre hinweg versucht hat, die Schulden drittelweise auf Bund, Länder und Gemeinden zu verteilen. Das heißt, es sind Modelle verfolgt worden, die nicht greifen konnten. Ergebnis: Wir haben es jetzt mit viel höheren Schulden zu tun. Wenn der Bund nun bei Schulden, die früher insgesamt bei 36 Milliarden DM lagen, mit 31 Milliarden DM einsteigt, kann man sich an den Fingern abzählen, wie preiswert es für den Steuerzahler hätte werden können, wenn man auf dieses Altschuldenproblem sofort reagiert hätte.
Zweitens. Wir haben schon bei der Diskussion über das Altschuldenhilfe-Gesetz gesagt: Es hat Macken. Das ist nun einmal so. Auch viele andere Gesetze haben Macken. Wir haben in der letzten Legislaturperiode gerade in der Folge der deutschen Einheit eine Fülle von Gesetzen in teilweise sehr großer Hektik verabschiedet. Wir haben festgestellt, daß wir an sehr vielen Gesetzen haben nacharbeiten müssen. Das ist doch etwas ganz Normales. Das ist noch nicht einmal eine Kritik. Nur muß man zugeben, daß es Fehler gibt, und dann muß man an die Arbeit gehen und die Fehler ausmerzen. Das heißt, man muß sich der Aufgabe stellen, das Gesetz zu novellieren.
An dieser Stelle beginnt eine weitere Verzögerungstaktik, die ich für verhängnisvoll halte. Zunächst ist drei Jahre zugewartet worden, und die Schulden sind explodiert. Danach ist auch seitens der Bundesregierung gepokert worden. Ich kann das belegen. Ich habe mir ein paar Zitate aufgeschrieben. Zum Beispiel hat im Frühjahr 1994 Dr. Vogel vom Kanzleramt verkündet:
Für die Bundesregierung ist in der Altschuldenfrage das Ende der Fahnenstange erreicht.
so zu lesen in der Zeitung „Die Wohnungswirtschaft".
Im November 1994 hat der Vertreter der Bundesregierung, in diesem Fall der Vertreter des BMBau, bei der ARGE-Bau-Sitzung gesagt, die Haltung der Bundesregierung zu einer Novellierung des Altschuldenhilfe-Gesetzes sei noch offen. Eine Novellierung müsse jedoch finanzneutral sein. Es sei zu berücksichtigen, daß jede Änderung der Erlösabführung fiskalische Konsequenzen habe.
Herr Kollege Großmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Wenn mir das nicht auf meine sehr knappe Redezeit angerechnet wird.
Das wird nicht angerechnet.
Herr Großmann, verstehe ich Sie richtig, daß Sie den Koalitionsfraktionen der letzten Legislaturperiode vorwerfen,
Metadaten/Kopzeile:
708 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Hildebrecht Braun
daß sie nicht bereits vor drei Jahren zu einer erhöhten Belastung der Mieter dadurch beigetragen haben, daß sie gesagt haben, für drei Jahre solle im Moment noch nicht getilgt und nicht zurückgezahlt werden müssen?
Sie müssen stehen bleiben, Herr Kollege.
Herr Braun, von mir aus können Sie sitzen, aber die Tradition des Hauses verlangt, daß Sie stehen bleiben.Sie liegen falsch, denn auch jetzt, in den letzten anderthalb Jahren, zahlt die Bundesregierung die Zinshilfen. Dagegen sind in den ersten drei Jahren die Zinsen auf die Schulden draufgerechnet worden. Die Bundesregierung hat nicht reagiert und hat den Schuldenberg angehäuft. Die Zinshilfe, die man jetzt seit anderthalb Jahren zahlt, hätte man früher zahlen können, dann wären die Schulden wesentlich geringer gewesen. Das ist ein ganz einfaches Rechenbeispiel.
Ich bin bei dem Hinweis unterbrochen worden, daß die Bundesregierung Verzögerungstaktik eingeführt hat, und zwar auch im Lenkungsausschuß. Lieber Herr Kollege Rau, es ist nicht so, daß man mit Ihren neuen kreativen Vorschlägen, mit denen Sie heute gekommen sind, unbedingt bis zum Januar 1995 hätte warten müssen. Der Lenkungsausschuß ist seit Herbst 1993 bei der Arbeit, und bis heute sind die Leute anscheinend nicht auf diese Gedanken gekommen. Daß Sie sich diese Gedanken jetzt machen, zeigt doch, daß da in bestimmten Bereichen etwas hakt, daß es nicht funktioniert und nicht richtig vorangeht.Deshalb haben wir den Novellierungsantrag gestellt. Dies geschah auch deshalb, weil uns der Vertreter des BMBau im Unterausschuß gesagt hat: Im Lenkungsausschuß kann beschlossen werden, was will, es gibt keine Rechtsverbindlichkeit, die KfW kann trotzdem tun, was sie will. Was ist denn los? Ich werde gleich an ein paar Beispielen belegen, daß wir novellieren müssen. Es reicht eben nicht, daß wir nur im Lenkungsausschuß reagieren, abgesehen davon, daß der Lenkungsausschuß anscheinend nur Empfehlungscharakter hat und daß anschließend doch gemacht werden kann, was man will.Kommen wir zu den wirklichen Knackpunkten! Das sind zum einen — ich nenne sie einmal so — die Interimsgenossenschaft, die Sie vorschlagen, zum zweiten das Zwischenerwerbermodell, zum dritten die kleinen Wohnungsgesellschaften und zum vierten die gesamte fiskalische Frage, die auch im Lenkungsausschuß eine Rolle gespielt hat.Zu den Interimsgenossenschaften. Vor der Wahl hat die Bundesbauministerin gesagt, sie sehe ein, die Ausgründung von Genossenschaften werde man als Privatisierung anerkennen. Das war nach der Bundestagswahl vergessen. Jetzt gehen Sie in den Lenkungsausschuß und sagen: Ich habe jetzt eine neue Idee; wir machen jetzt eine ganz andere Art von Genossenschaften, eine Zwischendurch- Genossenschaft, wir gründen sie also, aber mit dem Ziel, sie möglichst schnell wieder aufzulösen. — Ich habe überhaupt nichts dagegen, daß man über neue Genossenschaftsmodelle diskutiert; das habe ich gestern auch im Ausschuß gesagt. Aber es geht darum, daß sich in den neuen Bundesländern vorwiegend die Menschen die Wohnungen nicht kaufen können, die kein richtiges Einkommen haben, um sich eine Wohnung leisten zu können. Das heißt, gerade in Ostdeutschland ist die Lösung Mietergenossenschaft die prädestinierte Lösung.
Warum — das muß mir einmal einer sagen — kommen wir auf die Idee, in den neuen Bundesländern, wo die Einkommen deutlich hinter der Entwicklung im Westen hinterherhinken, ein Versuchskaninchenmodell nach dem Motto Norweger-Genossenschaft aufzulegen, das wir in Westdeutschland noch nicht einmal probiert haben? Das heißt: Lassen Sie uns über neue Genossenschaftsmodelle nachdenken, aber bitte nicht im Rahmen des Altschuldenhilfe-Gesetzes. Modelle, die nur Versuchskaninchen sind, sind in Ostdeutschland angesichts der schwierigen Situation der Menschen, die dort leben, nicht zulässig.
Wir fordern Sie auf: Kehren Sie zu dem zurück, was Ihre Vorgängerin gesagt hat; lassen Sie Mietergenossenschaften zu; lassen Sie die Ausgründung von Genossenschaften aus dem kommunalen Wohnungsbestand zu!Zweiter Punkt: Zwischenerwerbermodelle. Wir sind für Zwischenerwerbermodelle; das steht auch in unserem Antrag. Nur ist es intellektuell völlig unredlich, wenn Sie z. B. in Ihrer Presseerklärung vom 3. Januar den ostdeutschen Bauministern vorwerfen, man habe sich ja von den Zwischenerwerbermodellen im Lenkungsausschuß zurückgezogen, obwohl sogar die SPD-Bundestagsfraktion diese Modelle vorschlage, und wenn Sie verschweigen, was wir vorgeschlagen haben. Darüber gehen Sie jovial hinweg, in der Hoffnung, daß die Journalisten das relativ flüchtig lesen und Ihre frohe Botschaft in die ganze Welt hinaustragen. In unserem Antrag gibt es ein Junktim zwischen der linearen Erlösabführung und den Zwischenerwerbermodellen. Das macht Sinn. Wenn wir nämlich Zwischenerwerbermodelle zulassen — über die vertraglichen Bedingungen will ich noch kurz sprechen —, dann ermöglichen wir, daß Zwischenerwerber jetzt kaufen, bis zum Jahre 2003 die Chance haben, zu privatisieren, also Eigentum zu bilden, und gleichzeitig — da die Grundbucheintragung entscheidend ist für die Erlösabführung — 30 % Erlösabführung zahlen. Die kommunalen Wohnungsunternehmen, die keinen Zwischenerwerber finden, weil ihr Wohnungsbestand relativ unattraktiv ist, und die ebenfalls die Zeit bis zum Jahre 2003 benötigen, profitieren davon nicht. Sie müssen 30 %, im nächsten Jahr 40 %, dann 50 % usw. progressive Erlösabführung leisten. Das heißt, hier gibt es eine Ungleichbehandlung. Das können wir nicht zulassen. Deshalb geht das so nicht.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 709
Achim GroßmannDas Folgende ist schon sehr unredlich, Herr Minister. Sie loben Herrn Meyer mit Verweis auf das Rostocker Modell. Sie haben im Lenkungsausschuß ein Papier auf den Tisch gelegt, das die unmittelbare und mittelbare Beteiligung des Veräußerers, also des Wohnungsbauunternehmens, am Zwischenerwerbermodell ausschloß. Das heißt, Sie haben noch vor zwei oder drei Wochen im Lenkungsausschuß ein Modell untersagen wollen, das in Rostock praktiziert worden ist und das Sie gerade über den grünen Klee gelobt haben. So geht das nicht; das ist sehr unredlich. Unser Zwischenerwerbermodell sieht vor, daß sich natürlich Kommunen und andere daran beteiligen können. Ich frage Sie: Warum kann nicht eine Landesentwicklungsgesellschaft zusammen mit der örtlichen Sparkasse und dem kommunalen Wohnungsunternehmen im Rahmen einer eigens gegründeten GmbH mit sozial vernünftig abgefederten Bedingung en zugunsten der Mieter über eine bestimmte Zeit ein Privatisierungsmodell durchführen? Das geht; das machen wir mit. Aber das, was Sie vorgeschlagen haben, machen wir nicht mit. Es ist unredlich, das alles in einen Topf zu werfen und dann mit dem Finger auf andere Leute zu zeigen.Meine Redezeit ist um. Ich habe gar nicht alle vier Punkte aufgreifen können. Vielleicht kann ich nur noch kurz etwas zu den kleinen Wohnungsbaugesellschaften sagen.
Es muß aber sehr kurz sein.
Ganz kurz. — Wenn eine Wohnungsgesellschaft 400 Wohnungen hat und dann noch privatisieren muß, dann ist es betriebswirtschaftlicher Unfug, diese Wohnungsgesellschaft überhaupt noch am L eben zu erhalten.
Vielen Dank.
Die Bundesregierung hat jederzeit die Möglichkeit, das Wort zu ergreifen.
Herr Präsident, ich wollte den Kollegen Großmann nur fragen, an welcher Stelle er in seinen Ausführungen einen Beleg dafür gegeben hat, daß seine Eingangsbemerkung richtig war, ich hätte in meinen Ausführungen die Wahrheit nicht gesagt.
Das alles ist zwar von der Geschäftsordnung her nicht ganz korrekt; aber ich gebe dem Abgeordneten Großmann trotzdem die Möglichkeit zu einer Antwort.
Ich meine, ich habe Ihnen an mehreren Stellen nachgewiesen, daß Sie sehr unredlich argumentiert haben. Wer unredlich argumentiert — die Wahrheit steckt bekanntlich im Detail, genauso wie der Teufel im Detail steckt —, muß sich diesen Vorwurf gefallen lassen.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß der Debatte zu diesen Tagesordnungspunkten angelangt.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 13/68, 13/100 und 13/230 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. — Ich sehe keine abweichenden Vorschläge. Dann verfahren wir so; die Überweisung ist beschlossen.
Wir kommen jetzt zu dem Punkt 2 der Tagesordnung:
Fragestunde
— Drucksache 13/213 —
Dafür haben wir uns einen Zeitraum von einer Stunde vorgenommen.
Ich rufe zunächst den Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern auf. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Eduard Lintner zur Verfügung.
Die Fragen 34 bis 38 werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 39 des Abgeordneten Frank Hofmann auf:
Beabsichtigt der Bundesminister des Innern eine Neuorganisation der Luft- und Bodenrettung unter Ausschluß des Bundesgrenzschutzes?
Herr Präsident, mit Genehmigung des Fragestellers würde ich gerne die Fragen 39 und 40 gemeinsam beantworten. Ist die Genehmigung erteilt?
— Gut, danke.
Dann rufe ich auch noch die Frage 40 des Abgeordneten Frank Hofmann auf:
Welche Absichten bestehen hinsichtlich der künftigen Organisation der zivilen Rettungsdienste?
Die Antwort lautet: Der Rettungsdienst in Deutschland obliegt, ungeachtet dessen, ob er zu Lande oder in der Luft durchgeführt wird, als Aufgabe der staatlichen Daseinsvorsorge im Bereich des Gesundheitswesens nach Art. 30 des Grundgesetzes ausschließlich den Ländern. Angesichts dieser eindeutigen Zuständigkeit obläge es alleine den Ländern, die Luft- und Bodenrettung neu zu organisieren. Dem Bund ist hierüber nichts bekannt.Was die Beteiligung des Bundes an der Länderaufgabe Luftrettung betrifft, ist folgendes anzumerken: Von den 50 bundesweit vorhandenen Luftrettungsstationen sind gegenwärtig 22 mit 31 Zivilschutzhubschraubern des Bundes besetzt, die fliegerisch vom Bundesgrenzschutz betreut werden. Die Zivilschutz-
Metadaten/Kopzeile:
710 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Parl. Staatssekretär Eduard Lintnerhubschrauber hat der Bundesminister des Innern den Ländern im Wege des sogenannten Doppelnutzens nach § 1 Abs. 2 des Zivilschutzgesetzes für Zwecke des Katastrophenschutzes und für den Einsatz in der Luftrettung zur Verfügung gestellt.Vor dem Hintergrund der Entspannung der weltpolitischen Sicherheitslage und der gegenwärtig schwierigen Haushaltssituation ist es unvermeidbar, auch die Ressourcen des Zivilschutzes auf ein unverzichtbares Mindestmaß zurückzuführen. Zu diesem Zweck wird der Bundesminister des Innern — worüber er seine betroffenen Länderkollegen bereits unterrichtet hat — die von den Beamten des BGS geflogenen Zivilschutzhubschrauber des Bundes im Laufe des Jahres 1995 aus sechs Stationen zurückziehen. Die rettungsdienstliche Versorgung der Bevölkerung in den betroffenen Regionen wird jedoch hierdurch nicht beeinträchtigt werden, da der Rückzug des BGS erst zu einem Zeitpunkt erfolgen wird, zu dem die Länder eine nahtlose Weiterführung der Luftrettung durch Vergabe der Stationen an neue Betreiber sichergestellt haben werden.
Herr Kollege, Sie haben zu jeder Frage zwei Zusatzfragen.
Herr Staatssekretär, nach welchen Kriterien werden bzw. wurden die sechs Stationen ausgewählt, die zuerst abgebaut werden?
Es gibt im wesentlichen zwei Kriterien. Zum einen muß das übrigbleibende Netz das Bundesgebiet abdecken, weil wir für den Verteidigungsfall noch ein Minimum an Vorbereitung treffen müssen. Zum anderen ist berücksichtigt worden, wie weit die Entfernung zur jeweiligen Hubschraubermutterstation, wenn Sie es so sagen wollen, ist.
Insgesamt ergibt sich die folgende Situation: Wir haben im Prinzip in jedem Land in Zukunft dann noch eine solche Rettungsstation und in den großen Flächenländern zwei. Bayern hat vier, so daß zwei unter Beachtung der übrigen Kriterien abgebaut werden sollen.
In welchen Dimensionen kommen durch den Rückzug des BGS neue Kosten auf die Krankenversicherungen zu?
Das kann ich Ihnen nicht exakt beantworten. Zunächst haben wir ja schon selber die Stundensätze etwa verdoppelt; wir haben sie also seit Ende letzten Jahres den tatsächlichen Kosten angepaßt. Was nun die privaten Betreiber solcher Stationen verlangen werden, wird davon abhängen, wer infolge eines Ausschreibungsverfahrens mit der Betreuung betraut wird und welche Verträge und Vereinbarungen dann das Land, das ja zuständig ist und bleibt, mit diesen Betreibern abschließt.
Gibt es weitere Zusatzfragen? — Gibt es Zusatzfragen von anderen Kollegen? — Das ist nicht der Fall. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundeskanzleramtes. Zur Beantwortung steht Herr Staatsminister Schmidbauer zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 5 des Abgeordneten Dr. Helmut Lippelt auf:
Hält die Bundesregierung die Aussage des Ex-Fallschirmjäger-Majors Raethjen, der — laut „Stern" und „Tagesthemen" — von 1979 bis 1983 im Auftrag des BND mehrere Hundertschaften von Gaddafis Wachregiment in „Nahkampf und lautlosem Töten" ausgebildet hat, für plausibel „Eine Operation dieser politischen Brisanz ist — aus meiner siebenjährigen Erfahrung heraus — nur möglich mit Kenntnis und Erfahrung der obersten Behördenleitung", und warum hat die Bundesregierung in diesen Jahren nichts dagegen unternommen, daß selbst heute noch vier Ausbilder dort arbeiten, obwohl spätestens seit Ende 1980 durch den Briefwechsel Raethjen — Bundeskanzleramt diesem das Unternehmen bekannt war?
Herr Staatsminister.
Herr Kollege, auf Ihre Frage darf ich Ihnen sagen, daß sich nach den vorliegenden Berichten des BND der Sachverhalt wie folgt darstellt. Ich gebe diesen Hinweis sehr bewußt, da wir, wie Sie wissen, auf Akten aus den 70er Jahren bis 1981 zurückgreifen müssen. Ich beziehe mich auf diese Akten und auf die entsprechenden Stellungnahmen der Dienste gegenüber dem Bundeskanzleramt und kann Ihnen auf der Basis dieser Akten antworten.Der frühere Major der Bundeswehr Raethjen hat die Ausbildungstätigkeit in Libyen auf eigenen Entschluß und ohne Auftrag des BND ausgeübt. Der BND hat im Gegenteil Herrn Raethjen schon im August 1978 eindeutig erklärt, daß er sich an dem Ausbildungsvorhaben nicht beteiligen werde. Die Kenntnis von dem Vorhaben reichte damals bis zum zuständigen Abteilungsleiter.Ich sage den Satz noch einmal: Ohne Mitwirken des BND hat Herr Raethjen, wenn überhaupt, diese Arbeit aufgenommen. Die Leitung hat — das ist ein interessanter Punkt — von dem Ausbildungsunternehmen am 11. April 1980 erfahren, nachdem sich Herr Raethjen an den BND gewandt hatte, weil ihm eine Fortführung dieses Unternehmens nicht mehr möglich erschien und weil er beim BND Unterstützung für seine weiteren beruflichen Pläne suchte.Die Leitung des BND hat jede Beteiligung an den Plänen des Herrn Raethjen abgelehnt. Der damalige Präsident des BND — das füge ich gleich hinzu, damit die Zusatzfragen zu diesem Bereich abgearbeitet werden können — hat einen Vermerk zu seiner Entscheidung gemacht. Sie lautete: Finger weg.Die Bundesregierung hat von dem Ausbildungsunternehmen des Herrn Raethjen erstmals durch dessen Brief vom 18. August 1980 erfahren. Herr Raethjen hatte damals und weiter im Brief vom 18. Oktober 1980 mitgeteilt, daß das Interesse der Libyer an seiner Ausbildungstätigkeit erlahmt sei und daß deshalb die Liquidation seiner Firma, die er für diese Tätigkeit gegründet hatte, eingeleitet werden mußte.Darin dürfte auch der Grund liegen, daß die damalige Bundesregierung keinen Anlaß zu eigenen Bemühungen um eine Beendigung der Tätigkeit des Herrn Raethjen in Libyen gesehen hat. Weder ihr noch den späteren Bundesregierungen wurde im übrigen bekannt, daß trotz des von Herrn Raethjen mitgeteil-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 711
Staatsminister Bernd Schmidbauerten Endes seiner Ausbildungstätigkeit angeblich noch weitere deutsche Ausbilder für das Wachregiment von Staatspräsident Gaddafi tätig waren und bis heute tätig sein sollen.Ich sage noch einmal zur Verdeutlichung der damaligen Situation: Im Jahre 1980 hat die Bundesregierung Herrn Raethjen auf seine Schreiben eine abschließende Mitteilung gemacht. Das heißt, die damaligen Kollegen Schüler und Lahnstein haben in entsprechenden Vermerken und Paraphen die zuständige Abteilung angewiesen, in Briefen an Herrn Raethjen in entsprechender Weise, wie mitgeteilt durch Recherchen des BND und des Bundeskanzleramtes, die Situation zu erläutern und damit abschließend zu bearbeiten.
Herr Dr. Lippelt, Zusatzfrage?
Ja. — Herr Staatsminister, da Sie die Berichte, die jetzt erschienen sind, gelesen und sich wahrscheinlich die Videos angesehen haben, frage ich Sie: Wie will das Bundeskanzleramt oder wie sollen betroffene Leute gegen diese aus ihrer Sicht geradezu ungeheuerlichen Verleumdungen vorgehen? Sie müssen doch irgend etwas zur Richtigstellung tun. Wie wollen Sie damit umgehen, daß in den Berichten beispielsweise ausgeführt wird, daß der BND mit Herrn Raethjen und mit seinen Mitarbeitern Decknamen vereinbart hat, daß der BND mit Herrn Raethjen unter dem Namen Randolin umgegangen ist und daß es einmal monatlich Treffen mit dem Nahostreferenten gegeben hat? Wie will dieser damit umgehen? Es stehen doch ungeheuerliche Behauptungen im Raum. Da genügt doch kein einfaches Dementi jetzt von Ihnen hier.
Herr Kollege, auf Ihre Frage darf ich Ihnen erstens sagen, daß das für diese Thematik zuständige Gremium des Parlaments, die Parlamentarische Kontrollkommission, all diese Punkte ausführlich erörtert hat. Ich darf Ihnen auch sagen, daß der Vorsitzende der Parlamentarischen Kontrollkommission des Deutschen Bundestages, der Kollege Dr. Willfried Penner, mitteilt, daß die Kommission umfassend, auch durch Vorlage von Dokumenten, unterrichtet wurde und einmütig zu dem Ergebnis kommt, daß die in der Öffentlichkeit erhobenen Vorwürfe gegen Institutionen des Bundes und Personen, die damit dienstlich befaßt waren, jeder Grundlage entbehren.
Aus dieser Stellungnahme des Kollegen Dr. Willfried Penner als Vorsitzenden des dafür zuständigen Ausschusses können Sie entnehmen, daß auch die Fragen, die Sie anschneiden, dort erörtert wurden.
Ich will hier keine Bewertung des Betroffenen vornehmen. Natürlich lesen die Bundesregierung und auch die Parlamentarische Kontrollkommission Berichte, die von dem ehemaligen Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes — das war er ja —, der auch im Bereich der Bundeswehr tätig war, gefertigt wurden, und die entsprechenen Medienveröffentlichungen. Sie gehen diesen Punkten sorgfältig nach und geben der Parlamentarischen Kontrollkommission zu allen Einzelheiten eine entsprechende Auskunft.
Die Frage, wieso wir das nicht anders richtigstellen, ergibt sich aus der Prozedur. Ich halte es für selbstverständlich, daß, solange sich eine Parlamentarische Kontrollkommission mit diesen Dingen beschäftigt, die Bundesregierung von sich aus nicht zu einzelnen Vorwürfen Stellung nimmt, sondern daß die Richtigstellung durch die Presseerklärung des Vorsitzenden der Parlamentarischen Kontrollkommission erfolgt ist.
Herr Kollege Lippelt, ich bin auch nicht sicher, daß die Sache damit ein Ende hat. Ich gehe davon aus, daß alle Ankündigungen in den entsprechenden Organen weiter betrieben werden. Auch diesen Dingen werden wir nachgehen.
Zweite Zusatzfrage, Herr Kollege Lippelt.
Herr Staatsminister, Sie haben bestätigt, daß das Kanzleramt durch den Briefwechsel Raethjen/Schüler von der Sache Kenntnis hatte. Hat sich denn das Bundeskanzleramt angesichts der späteren Probleme wie etwa mit Rabta mit der Tatsache, daß im BND gesagt wurde, wir haben damit nichts zu tun, zufriedengegeben?
Hat es nicht irgend etwas unternommen, um der Sache nachzugehen? Denn tatsächlich haben Leute aus dieser frühen Zeit ausgebildet. Wir hatten Riesenprobleme. Ich erinnere nur an das Stichwort Rabta. Sie hatten doch die Pflicht, mehr zu unternehmen, als nur dem BND Glauben zu schenken, der sagte: Finger weg. Dort ist doch etwas passiert, und das mußte doch unterbunden werden.
Herr Staatsminister Schmidbauer.
Herr Kollege Lippelt, selbstverständlich hat die Bundesregierung die Frage bilateraler Beziehungen zu diesem Land und mögliche Verstöße gegen gewisse Kriterien — Embargo oder Fragen der Söldneranwerbung — geprüft.
Zum heutigen Zusammenhang: Ich hätte auch nicht anders gehandelt als die Kollegen der damals SPDgeführten Bundesregierung, die das zu den Akten geschrieben haben, zumal auch der entsprechende Briefschreiber davon ausging, daß das Unternehmen, das er gegründet hat, dem Ende entgegengeht und liquidiert werden müßte.
Die damalige Bundesregierung konnte nicht mehr davon ausgehen, daß dieser Betrieb als Ausbildungsbetrieb in Libyen weiter aufrechterhalten blieb.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Hirsch.
Herr Staatsminister, können Sie mir bestätigen, daß schon in früheren Legislaturperioden, z. B. 1985, im Auswärtigen Ausschuß über angebliche Ausbildungshilfen für Libyen gesprochen wurde?
Ich kann Ihnen das bestätigen. Die Abgeord-
Metadaten/Kopzeile:
712 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Staatsminister Bernd Schmidbauernete Kelly hat den damals zuständigen Staatssekretär des BMI befragt. Dinge wie z. B. die Ausbildungshilfe sind dort besprochen worden. Ich kann Ihnen, wenn das gewünscht wird, die entsprechenden Stellen zitieren. Ich habe die Unterlagen dabei. Ich gehe jedoch davon aus, daß wir das, wenn es notwendig wird, im zuständigen Gremium machen. Das Protokoll ist übrigens jedem zugänglich.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Olderog.
Herr Staatsminister, der BND hat eine Beteiligung an diesem privaten Ausbildungsprojekt abgelehnt. Können Sie sagen, wie die Beteiligung bis zu dieser Entscheidung, also in der Vorbereitungsphase, beim BND ausgesehen hat?
Ich will die Protokollnotiz aus der PKK jetzt nicht heranziehen;
denn dies war ja Gegenstand der Berichterstattung in der PKK.
Ich kann allgemein ausführen, daß es Kontakte von Herrn Raethjen mit dem BND gegeben hat mit der Bitte, sich an diesem Unternehmen entsprechend zu beteiligen. Dies ist bis auf eine mittlere Ebene gediehen, und es wurde beraten, welche operativen Pläne durchgeführt werden sollten. Zu dem Zeitpunkt, als eine Genehmigung des zuständigen Abteilungsleiters anstand, hat dieser negativ entschieden.
Beim erneuten Vorlegen dieser operativen Maßnahme hat der zuständige Präsident, der damalige Präsident Herr Dr. Kinkel, dieses abgelehnt, und zwar mit dem Zitat, das ich vorhin erwähnt habe.
Daraus herzuleiten, daß es eine gemeinsame Strategie oder Operation mit Raethjen gegeben habe, ist falsch. Ich habe dies eingangs klar und deutlich gesagt und mich dabei auf die Unterlagen des Bundesnachrichtendienstes und auf diejenigen, die wir im Bundeskanzleramt zu diesen Vorgängen haben, gestützt.
Eine weitere Zusatzfrage der Kollegin Beer.
Herr Staatsminister, Sie haben in der Beantwortung der Frage des Kollegen Lippelt gesagt, daß Sie in der PKK Rückgriff auf Akten des Bundesnachrichtendienstes bis 1981 hatten. Die Frage des Fragestellers bezieht sich auf einen Zeitraum bis 1983. Heißt das, daß Ihre Bewertung auf der Sitzung der PKK unvollständig ist und daß Sie den Zeitraum bis 1983 nicht überprüft haben?
Frau Kollegin, das können Sie nicht daraus schließen. Im übrigen ist es Sache des Fragestellers, zu korrigieren, wenn er mit der Antwort nicht zufrieden ist. Ich hätte dann darauf hingewiesen. Der fragliche Zeitraum war eben 1981 abgeschlossen. Deshalb erübrigt sich eine Frage nach 1983. Das war meiner Antwort auch zu entnehmen. Ich sehe keine logische Begründung für Ihre Nachfrage.
1981 war der Vorgang zu Ende; die Jahre 1983 ff. sind jetzt selbstverständlich mit überprüft worden. Auch das kann ich Ihnen auf Ihre Frage sagen. Es ist also keine Lücke vorhanden. Der Vorgang Raethjen als solcher ist 1981 abgeschlossen.
Eine weitere Frage stellt Herr Kollege Neumann.
Herr Staatsminister, ist der Bundesregierung bekannt, ob der Bundesnachrichtendienst Kontakte zu der im Artikel zitierten Firma Telemit hatte oder Einfluß auf deren Aktionen nahm?
Der Bundesregierung ist bekannt — es ist ausführlich diskutiert worden, in welcher Form —, daß der Bundesnachrichtendienst zu der Firma Telemit Kontakte hatte.
Eine weitere Zusatzfrage von Herrn Kollegen Schlee.
Herr Staatsminister, der „Stern" berichtet, daß die Bundesregierung in den Jahren 1978/79 eine Zusage zur Übernahme der Ausbildung von Gaddafis Wachregiment gegeben habe. Können Sie eine solche Zusage bestätigen?
Herr Kollege Schlee, ich will auf die Frage danach, was uns im Hinblick auf Ausbildungsunternehmen des Herrn Raethjen bekannt war, noch einmal aus anderer Sicht eingehen. Das erlaubt mir Ihre Frage, und dadurch wird manches vielleicht verdeutlicht. Ich darf einmal zitieren:Der Bundesregierung war bis zur Veröffentlichung im „Stern" vom 5. Januar 1995 aus Schreiben des früheren Majors der Bundeswehr Raethjen vom 18. August und 18. Oktober 1980 sowie aus Berichten des BND vom Dezember 1980 bekannt, daß Herr Raethjen 1979 eine private Firma gegründet hatte, mit der er in Libyen im Auftrag der Firme Telemit ein Ausbildungsvorhaben für das Wachregiment des libyschen Staatspräsidenten durchführen wollte. Nach den Berichten des BND ging es um die Ausbildung von Scharfschützen. Nach Angaben des Herrn Raethjen waren die Mitarbeiter seiner Firma auch als Nahkampfausbilder und als Waffen- und Elektroniktechniker tätig.Herr Raethjen hat in seinem Schreiben außerdem mitgeteilt, daß er mit bis zu vier Mitarbeitern seiner Firma das Ausbildungsvorhaben in Libyen betrieben habe. Weitere Einzelheiten über das Zustandekommen und die Durchführung des Ausbildungsunternehmens waren der Bundesregierung nicht bekannt.Das heißt, nachdem sich Herr Raethjen beim Bundeskanzleramt als der dienstaufsichtsführenden Stelle über den Bundesnachrichtendienst beschwert
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 713
Staatsminister Bernd Schmidbauerhatte, kommt es zu diesem Ergebnis auf der Grundlage der Schreiben von Herrn Raethjen und der Berichte des Bundesnachrichtendienstes, die damals meine Kollegen der seinerzeitigen Regierung angefordert haben.Alle kommen zu dem Ergebnis: Dies ist das Ende der Fahnenstange, dies ist das Ende, das wir sehen müssen. Es wird gleichzeitig festgestellt, daß der Bundesnachrichtendienst in dieses Ausbildungsverfahren nicht involviert sei.
Weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Gansel.
Wie ist die Weisung des damaligen Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes — ich zitiere — „Finger weg!" umgesetzt worden, und welche weiteren Erkenntnisse des Bundesnachrichtendienstes über diese „private militärische Ausbildungshilfe" sind angefallen?
Herr Kollege Gansel, ich darf jetzt auf die Akten zurückgreifen: Fachliche Vermerke und ein erneuter Antrag des zuständigen Referats auf Nutzung von Raethjen — im Zusammenhang mit der Ausbildung in Libyen, ergänze ich — wurden durch die Leitung des Dienstes am 11. April bzw. am 20. April negativ beschieden. Die Akten enthalten den handschriftlichen Vermerk des damaligen Präsidenten Dr. Kinkel: „Finger weg!" Diese Entscheidung wurde Herrn Raethjen am 28. April 1980 mitgeteilt. — Also, am 28. April wurde ihm diese Negativentscheidung mitgeteilt.
Es wurde sichergestellt — dies haben auch Befragungen der zuständigen Referenten im Bundesnachrichtendienst ergeben —, daß es zu diesem Zeitpunkt keinerlei Mitwirkung des BND in diesen von Herrn Raethjen genannten Themenbereichen gegeben hat. Ich stütze mich hier auf Anfragen an die zuständigen Referenten und auch an diejenigen, die Verbindung mit Herrn Raethjen hatten.
Weitere Zusatzfrage, Herr Stadler.
— Nein, zwei Fragen hat nur der Fragesteller.
Ich mache das gerne, Herr Präsident. — Würden Sie das bitte wiederholen?
Es fehlt — darauf wollte ich nur der Höflichkeit wegen hinweisen — die Antwort auf den zweiten Teil meiner Frage. Nach der Geschäftsordnung dürfen wir mit einer Frage sozusagen zwei Bereiche berühren. Die Antwort auf den zweiten Bereich fehlte — das war sicherlich nur ein Versehen —, nämlich welche weiteren Erkenntnisse beim Bundesnachrichtendienst über dieses Projekt angefallen sind.
Es gibt über das hinaus, was ich zu den
Fragen geantwortet habe, nach den Unterlagen, die mir vorliegen, keine weiteren Erkenntnisse.
Herr Dr. Stadler.
Herr Staatsminister, damit es aus der Zusatzfrage von Frau Beer keine Mißverständnisse gibt, darf ich Sie fragen: Können Sie bestätigen, daß an Herrn Raethjen vom BND im fraglichen Zeitraum, von 1978 bis 1983, keine Ausbildungsaufträge erteilt worden sind?
Dies kann ich bestätigen, ja.
Es gibt keine weiteren Zusatzfragen.
Dann rufe ich die Frage 6 des Abgeordneten Winfried Nachtwei auf:
Besteht nach Kenntnis der Bundesregierung ein Zusammenhang zwischen den Dienstleistungen der in Absprache mit dem BND agierenden Firma Telemit Electronic GmbH und Parteispenden der Firma Telemit für die F.D.P. , wenn ja, welcher?
Herr Kollege, auf Ihre Frage darf ich Ihnen sagen: Der Bundesregierung ist ein solcher Zusammenhang nicht bekannt.
Im übrigen ist zu Ihrer Frage anzumerken — auch das will ich sagen —, daß es nicht der Realität entspricht, die Tätigkeit der Firma Telemit als die einer „in Absprache mit dem BND agierenden Firma" zu kennzeichnen. Sie dürfen daraus nicht schließen, daß es Quellen gegeben hat, wonach die Formulierung richtig ist: „in Absprache mit dem BND agierenden Firma". Dies trifft nicht zu. Es trifft aber zu — das habe ich vorhin auf die Frage eines Kollegen gesagt —, daß es in dieser Firma entsprechende Quellen gegeben hat.
Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, beziehen sich Ihre Nichtkenntnisse zu diesen Gerüchten, von denen wir öfter gehört haben, nur auf Aktenstudium, oder konnten Sie da auf weitere Quellen zurückgreifen?
Herr Kollege, auf Ihre Frage, ob es zwischen den Dienstleistungen der Firma und den Spenden an jemanden einen Zusammenhang gibt, kann ich Ihnen sagen, daß wir aus den Akten und all dem, was wir kennen, keine Verbindung sehen im Zusammenhang mit diesem Komplex.
Ich will Ihnen auch deutlich sagen, daß ich hier zu Parteispenden in der Bundesrepublik Deutschland keine Aussage machen werde. Vielmehr sage ich Ihnen auf die gezielte Frage hin, daß der Bundesregierung ein Zusammenhang, wie er konstruiert wird, nicht bekannt ist. Ich glaube, das ist sehr eindeutig.
Weitere Zusatzfrage? — Keine. Dann der Kollege Gansel.
Metadaten/Kopzeile:
714 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Haben der PKK, auf die Sie in Ihren Antworten schon verwiesen haben, Unterlagen vorgelegen, oder sind der PKK mündlich Informationen gegeben worden, die den Komplex Telemit und Parteispenden betreffen?
Herr Kollege Schmidbauer.
Selbst wenn ich es jetzt wüßte, würde ich darüber nichts sagen wollen. Aber im Zusammenhang mit den Aktionen eines Herrn Raethjen und der in Bezug stehenden Firma habe ich gesagt, daß es diesen Zusammenhang nicht geben kann. Er ist uns nicht bekannt. Ob es in anderen Zusammenhängen weitere Möglichkeiten gibt, dazu kann ich keine Ausführungen machen. Das muß man sehen, wenn die entsprechenden Fragen in der PKK gestellt werden. Derzeit liegen mir solche Unterlagen nicht vor, Herr Kollege.
Herr Kollege Hirsch.
Vorausgeschickt, daß ich gehofft habe, daß eine solche Frage gar nicht gestellt wird, und vorausgeschickt, daß die F.D.P. bereits im Oktober vergangenen Jahres öffentlich über drei Spenden der Firma Telemit aus den Jahren 1986, 1987 und 1988, also sehr viel später, in Höhe von insgesamt 36 000 DM an einen Kreisverband Rechenschaft abgelegt hat, frage ich die Bundesregierung, ob ihr aus dem hier relevanten Zeitraum, nämlich 1978/79, etwas darüber bekannt ist, daß zum damaligen Zeitpunkt erhebliche geldwerte Leistungen vom, wie es immer so heißt, Revolutionsführer Gaddafi an Bundestagsabgeordnete und Bundesvorstandsmitglieder der GRÜNEN geleistet worden sind.
Es ist der Bundesregierung nicht bekannt, daß zu dem damals relevanten Zeitraum irgendwelche Spenden in diesem Zusammenhang geleistet wurden. Ich kann Ihnen auch bestätigen, was nach meinen Akten ein Problem in der Fraktion DIE GRÜNEN war, daß es nämlich 1982 Reisen der GRÜNEN zu Gaddafi gegeben hat. Ich habe dabei auch ein Schmunzeln über die Berichterstattung in einigen Zeitungen nicht unterdrücken können, als dieser Besuch im Wüstenzelt beschrieben wurde. Ich kann dasselbe aus dem Jahre 1988 wiederholen. Da Herr Kollege Lippelt selber in der dpa-Meldung genannt wird, habe ich auch verstanden und bin auch sehr dankbar, daß Ihre Fragestellung vorhin diese Sachlichkeit hatte. Ich will Ihnen das durchaus einmal sagen. Ich habe die Situation 1982 und 1988 gesehen; aber dies ist kein Problem der Bundesregierung, sondern dies war ein Besuch der Mitglieder der Fraktion DIE GRÜNEN.
— Damit, Herr Kollege Hirsch, hat sich der Bundesnachrichtendienst nicht beschäftigt.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Neumann.
Herr Staatsminister, da es hier um Dienstleistungen der Firma Telemit geht, frage ich, ob der Bundesregierung bekannt ist, ob sie selbst — nicht der Bundesnachrichtendienst — die Dienste der Firma Telemit in den vergangenen 15 Jahren oder im Zeitraum von 1978/79 bis heute in Anspruch genommen hat.
Herr Kollege, würden Sie den Anfang Ihrer Frage bitte wiederholen?
Ob die Bundesregierung die Dienste der Firma Telemit in irgendeiner Form in Anspruch genommen hat.
Ich habe darüber überhaupt keine Kenntnis: weder aus der Aktenlage, noch sind mir Dinge bekannt, die dafür sprächen.
Herr Kollege Lippelt.
Herr Staatsminister, wären Sie bereit, sich bei mir zu entschuldigen, wenn Sie beim Nachlesen feststellen würden, daß ich weder in den 80er noch in den 90er Jahren das Land Libyen berührt habe?
Ich wäre sehr gern bereit, mich zu entschuldigen. Aber, Herr Kollege, ich habe das überhaupt nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, daß Sie sich im Zusammenhang mit den Reisen sogar gegenüber der Presse geäußert haben, nämlich über die Bewertung dieser Reise. Herr Kollege Lippelt, insofern entschuldige ich mich für etwas, was ich nicht gesagt habe. Ich habe Ihnen vielmehr ein Kompliment gemacht, als ich gesehen habe, daß Sie 1982 in einer Situation waren, die erforderte, die Reisen Ihrer Fraktionskollegen gegenüber dpa entsprechend zu bewerten. Ich kann Ihnen das Zitat zeigen.
Da es keine weiteren Zusatzfragen gibt und noch keine allgemeine Debatte stattfindet, kommen wir jetzt zur Frage 7 der Abgeordneten Angelika Beer:Trifft es zu, wie vom ehemaligen Bundeswehroffizier und BND-Mitarbeiter Hans Dieter Raethjen gegenüber dem Magazin „STERN" und in den ARD-Tagesthemen ausgesagt, daß Bundeswehrangehörige bzw. ehemalige Bundeswehrangehörige mit Wissen und auf Wunsch des BND in der Bundesrepublik Deutschland für den Dienst als Ausbilder hei der libyschen Armee angeworben wurden und dort auch als Ausbilder mehrere Jahre tätig waren?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 715
Frau Kollegin Beer, wie der Bundesnachrichtendienst dem Bundeskanzleramt mitgeteilt hat, ist ihm nicht bekannt, daß Bundeswehrangehörige bzw. ehemalige Bundeswehrangehörige in der Bundesrepublik Deutschland für den Dienst in der libyschen Armee als Ausbilder angeworben wurden und dort auch als Ausbilder mehrere Jahre tätig waren.
Der Bundesnachrichtendienst hat dazu weiter mitgeteilt, daß ihm zwar Informationen zugänglich waren, wonach das Verhältnis zwischen Herrn Raethjen und den mit ihm zusammenarbeitenden ehemaligen Bundeswehrangehörigen vertragsrechtlicher Art war, daß ihm jedoch nicht bekannt ist, wer auf libyscher Seite Vertragspartner des Herrn Raethjen und weiterer ehemaliger Bundeswehrangehöriger war.
Wie ich im übrigen schon auf die Frage von Herrn Kollegen Dr. Lippelt erklärt habe, waren die Ausbilder nicht im Auftrag des BND in Libyen tätig, auch nicht auf Wunsch des Bundesnachrichtendienstes.
Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, Sie haben vorhin bestätigt, daß der BND zwar nicht den Auftrag erteilt hat, daß er aber Kenntnis von den Vorfällen hatte. Ich frage, ob es zutrifft, daß Herr Raethjen in dieser Art dort tätig war. Auch das haben Sie inzwischen bestätigt.
Deswegen möchte ich jetzt von Ihnen wissen: Welche Schritte hat die Bundesregierung unternommen, um die im „Stern" vom 6. Januar veröffentlichten Vorwürfe zu überprüfen? Zu welchen Erkenntnissen ist sie gekommen?
Ich habe dem Parlament bereits bei der Beantwortung der ersten Frage mitgeteilt, daß wir nach diesem Schriftwechsel mit dem Bundeskanzleramt davon ausgehen, daß dieser Fall damit beendet war, zumal Herr Raethjen damals selber ausgeführt hat, daß er am Ende sei, aus welchen Gründen auch immer.
Die damalige Bundesregierung hatte keinen Grund, diesen Dingen weiter nachzugehen. Nach den Akten ist es ein damals abgeschlossener Vorgang, der auch als solcher zu bewerten ist.
Eine weitere Zusatzfrage?
Ja. — Über die Aktenlage hatten wir uns schon gestritten. Ich möchte fragen, ob der Bundesregierung § 109 h Strafgesetzbuch bekannt ist, wonach das Anwerben für einen fremden Wehrdienst mit Freiheitsstrafe zwischen 3 Monaten und 5 Jahren bestraft wird, wonach auch der Versuch einer solchen Anwerbung für einen fremden Wehrdienst strafbar ist. Und nach geltender Rechtsprechung ist auch die Anstiftung oder die Beihilfe zu einer solchen Tätigkeit strafbar. In welcher Form hat die Bundesregierung die Angaben des BND überprüft?
In Ihrer zweiten Frage gibt es den Bezug auf § 109h Strafgesetzbuch, wo dies angezogen wird. Das wird dort auch entsprechend beantwortet. Man kam zu dem Ergebnis, daß § 109h eben nicht relevant sei, sonst hätte man sicherlich entsprechende Schritte unternommen.
Weitere Zusatzfrage, Herr Dr. Lippelt.
Herr Staatsminister, da offensichtlich so vieles, was wir jetzt lesen, Mystifikation ist, möchte ich fragen: Gab es den Herrn Cornelius Hausleiter, NahostReferat BND, überhaupt, oder ist das auch eine Mystifikation?
Nach meiner Aktenlage, Herr Kollege, gab es diesen Mann.
Ob der so hieß, Herr Kollege, weiß ich nicht.
Herr Kollege Gansel.
Herr Staatsminister, können Sie mir erklären, wozu man eigentlich einen Nachrichtendienst braucht,
wenn sich jemand an eine Stelle der Bundesregierung wendet und mitteilt, er beabsichtige, in einem Land, das für die Unterstützung terroristischer Aktivitäten berüchtigt ist, Spezialisten im lautlosen Töten auszubilden, und ihm dann nur mitgeteilt wird, er möge die Finger davon lassen, aber sonst nichts weiter geschieht,
weil der § 109h des Strafgesetzbuches, der das Tätigwerden der Staatsanwaltschaft bedeutet hätte, nicht einschlägig sei? Wozu braucht man eigentlich noch einen Nachrichtendienst, wenn er sich um solche Fälle nicht kümmert?
Herr Schmidbauer.
Herr Kollege Gansel, ich versage es mir, die ganzen Zusammenhänge der damaligen Zeit zu bringen. Ich versage mir auch, die Zusammenarbeit mit bestimmten Staaten auf vielen Gebieten, die nachrichtendienstlich für uns relevant waren, und die Ergiebigkeit oder Nichtergiebigkeit der Dienste auch bei der damaligen Bundesregierung hier auszubreiten. Sie können davon ausgehen — das zeigen auch
Metadaten/Kopzeile:
716 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Staatsminister Bernd Schmidbauerdie Akten, die dem Kollegen Lahnstein vorgelegen haben —, daß die Dinge so einfach nicht gehandhabt wurden, sondern daß dort intensiv geprüft wurde: Welches sind die vielleicht richtigen Ansätze, etwas in einem Land zu unternehmen — beziehen Sie es ruhig auf Libyen —, welches sind die Vorteile, die sich daraus für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder — in der damaligen Situation — bei der Bekämpfung bestimmter Terroristen oder ähnlichem — was Sie sich leicht ausdenken können — ergeben?Man kommt unter Abwägung all dieser Gesichtspunkte zu dem Ergebnis, daß man sich an einer solchen Operation nicht beteiligt. Ich halte die Entscheidung, dies nicht zu tun, auch für den damaligen Zeitpunkt für richtig und begründe dies auch. Man hat aber unter Umständen andere Zugänge nötig, die parallel in diesem Zeitraum spielen, über die anders entschieden wird.Insofern würde ich empfehlen, daß Sie sich in diesem Zusammenhang mit den PKK-Kollegen speziell über diese Frage unterhalten. Die Antwort kann ich Ihnen nicht geben.
Zusatzfrage, Herr Kollege Hirsch.
Herr Staatsminister, sind Sie mit mir der Meinung, daß für die Aufklärung und Verfolgung möglicher Straftaten auf dem Gebiet der Bundesrepublik, also möglicherweise auch einer Straftat nach § 109h des Strafgesetzbuches, nicht der Bundesnachrichtendienst zuständig ist, sondern die Polizei und die Strafverfolgungsbehörden, und können Sie mir bestätigen, daß durchaus Strafverfahren nach § 109h StGB gegen Personen eingeleitet worden sind, die versucht haben, für Gaddafi Söldner zu werben, also z. B. gegen einen Herrn Koch und einen Herrn Leers, die für eine Desert Air Service Ltd. Bengasi, Gerichtsstand Paris, tätig geworden sind, wie ich Veröffentlichungen in der „Süddeutschen Zeitung" von 1979 und im „Spiegel" vom 12. November 1979 entnehme?
Ich kann also zusammenfassend fragen, ob Sie der Auffassung sind, daß gegen strafbare Handlungen in diesem Zusammenhang von den dafür zuständigen Behörden durchaus vorgegangen wurde und vorgegangen wird, sobald sich der Verdacht einer strafbaren Handlung ergab.
Das kann ich Ihnen bestätigen. Mir liegen alle diese Mitteilungen vor. Ich habe mir aus diesem Grunde die damaligen Vorgänge kopieren lassen, die das Presse- und Informationsamt zu diesen Punkten hatte. Es ist dort in der Tat von vielen solchen Vorgängen die Rede, die auch dazu geführt haben, daß es entsprechende Prozesse in einem bestimmten Raum gegeben hat. Die von Ihnen erwähnte Zeitschrift bzw. Zeitung handelt dies im November 1979 ausführlich ab.
Zusatzfrage, Herr Kollege Neumann.
Herr Staatsminister, nachdem Sie nun erklärt haben, welche Gründe seinerzeit in dem Abwägungsprozeß möglicherweise eine Rolle gespielt haben, möchte ich generell einmal fragen: Halten Sie es für die Aufgabe des Bundesnachrichtendienstes, in irgendeinem denkbaren Fall private Firmen zu bitten, Ausbildung für fremde Militärs oder Milizen zu organisieren?
Herr Kollege Neumann, ich kann Ihnen nur aus der Position von heute sagen, daß ich das nicht für opportun halte und es auch für falsch hielte, solche Dinge zu realisieren.
Zusatzfrage, Herr Kollege Olderog.
Herr Staatsminister, können Sie uns sagen, wie die Beziehungen zwischen Deutschland und Libyen damals ausgesehen haben und wo es eine Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern gegeben hat?
Es gab auf vielen Gebieten einen regen Austausch. Es gab in gewisser Weise auch eine Zusammenarbeit, die aus vielen Gründen zum damaligen Zeitpunkt notwendig war. Ich erinnere an die Vorgänge in diesen Jahren. Auch die zuständigen Minister der Bundesregierung haben diese Kontakte genutzt. Sie haben diese Kontakte letztendlich auch im Interesse der Bundesrepublik Deutschland wahrgenommen. Es gab vielfältige Beziehungen — Ende der 70er Jahre bis zu Beginn der 80er Jahre.
Ich kann auch dies im einzelnen noch erläutern: Es gab zwischen den Innenministern Kontakte, die zu diesem Zeitpunkt — auch von den Personen her — aus bestimmten Gründen notwendig waren. Es gab zu den Sicherheitsdiensten dieses Landes Kontakte, und es gab auch zwischen den Außenministern beider Länder Kontakte und entsprechende Gespräche.
Keine weiteren Zusatzfragen zu Frage 7.
Ich rufe die Frage 8 der Abgeordneten Angelika Beer auf:
Wann haben der damalige Präsident des BND, Dr. Klaus Kinkel, und wann das Bundeskanzleramt von der Anwerbung von Bundesbürgern für den Dienst als Ausbilder bei der libyschen Armee zum ersten Mal erfahren, und welche Konsequenzen wurden von den informierten Bundesbehörden, Bundesministern und Staatssekretären gezogen?
Frau Kollegin Beer, für den damaligen Präsidenten, Dr. Kinkel, gilt das, was ich auf die erste Frage über die Kenntnisse des BND gesagt habe. Das Bundeskanzleramt hat zwar durch die Schreiben des Herrn Raethjen von August und Oktober 1980 von dem Ausbildungsunternehmen erfahren, aber weder diese Schreiben noch die daraufhin angeforderten Berichte des BND enthielten Angaben darüber, wer die Mitarbeiter des Herrn Raethjen waren, wo und wie sie für das Ausbildungsunternehmen gewonnen worden waren, in welchen Vertragsverhältnissen sie standen und unter welchen Umständen die Ausbil-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 717
Staatsminister Bernd Schmidbauerdungstätigkeit stattgefunden hat. Es waren keinerlei Angaben enthalten, in denen Tatbestandsmerkmale des § 109h des Strafgesetzbuches zu erkennen gewesen wären.Wie ich auf die Frage von Herrn Kollegen Lippelt schon erklärt habe, hat das Bundeskanzleramt im August 1980 von dem Ausbildungsunternehmen — geichzeitig mit der Nachricht von Herrn Raethjen —erfahren, daß das Interesse der Libyer an seiner Ausbildungstätigkeit inzwischen erlahmt sei und die Liquidation seiner Firma eingeleitet werden mußte. Ich habe darauf hingewiesen, daß dies ein Grund dafür gewesen sein kann, warum von der damaligen Bundesregierung keine weiteren Maßnahmen zur Beendigung dieser Ausbildungstätigkeit getroffen wurden.
Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, es geht bei den hier angesprochenen Fragen um den Vorwurf, daß ein ehemaliger Bundeswehrangehöriger in Libyen tätig war, und zwar — wie Sie sagen, mit Kenntnis des Bundesnachrichtendienstes — in der Ausbildung einer Eliteeinheit von Muammar Gaddafi. Sie haben bestätigt, daß Herr Dr. Klaus Kinkel als Chef des BND Kenntnis davon hatte. Sie haben ausgeführt, daß die einzige Tätigkeit des damaligen BND-Präsidenten darin bestand, einen Kommentar zu schreiben, nämlich „Finger weg".
Wie bewerten Sie diese Maßnahme des Aktenvermerks „Finger weg"? Würden Sie mir zustimmen, daß der Chef des Bundesnachrichtendienstes es versäumt hat, die notwendigen Überprüfungen und die notwendigen Schritte einzuleiten, um eine Unterbindung der Tätigkeit des ehemaligen Bundeswehrangehörigen zu erreichen?
Frau Kollegin Beer, Sie können davon ausgehen, daß die Randanmerkung, die in den Berichten zitiert wurde, nicht der ganze Vermerk war. Sie können auch davon ausgehen, daß der jeweilige Präsident — gleichgültig, wie er heißt — nicht nur Vermerke abzeichnet, sondern auch dafür sorgt, daß die entsprechende Weisung in den entsprechenden Abteilungen umgesetzt wird. Davon müssen Sie ausgehen. Sie können auch davon ausgehen, denn der Beweis liegt ja mit den Schreiben von Herrn Raethjen an das Bundeskanzleramt eindeutig vor.
Er beschwert sich ja, daß der BND nicht mehr mit ihm in entsprechender Weise zusammenarbeitet. Er dreht die Argumente um und sagt, er habe das auf Veranlassung des BND gemacht, was nicht der Wahrheit entspricht, was auch nicht der Aktenlage entspricht. Das wurde im Rahmen der Diskussion in der Parlamentarischen Kontrollkommission glaubwürdig vorgetragen.
Zweite Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Sie haben mehrmals ausgeführt, daß Sie nicht bereit sind bzw. dies nicht tun dürfen, Unterlagen oder Ergebnisse aus der PKK hier mitzuteilen. Sind Sie bereit, die eben angesprochenen Unterlagen dem parlamentarischen Gremium, das dafür zuständig ist, die Arbeit der PKK zu überprüfen, nämlich dem Innenausschuß, zur Verfügung zu stellen und den Parlamentariern dieses Bundestages die Möglichkeit zu geben, sich von den Angaben zu überzeugen?
Frau Kollegin, wir haben hier ein Gremium — ich will es hier gerne einmal sagen —, das bis auf wenige Ausrutscher, die alle menschlich sind, die wir alle zu vertreten haben — je nach unserer Situation an dem entsprechenden Tag —, eine hervorragende Zusammenarbeit aufweist, wenn es um die Nachrichtendienste und die Kontrolle durch das Parlament geht. Ich kann Ihnen auch sagen, daß die Parlamentarier alles andere als zahm sind. Vielmehr wird dort sehr direkt und sehr intensiv nachgefragt.
Die entsprechenden Akten können verlangt werden. Von meiner Seite wurden bereits in der vorletzten Sitzung genau diese Akten angeboten. Sie konnten eingesehen werden. Ich werde auch immer wieder erklären, daß wir zu diesen Punkten den Kollegen, die vom Deutschen Bundestag dafür gewählt wurden, gern Akteneinsicht gewähren.
Ich weise noch einmal darauf hin, daß mit einer Pressemitteilung eines Gremiums, das vom deutschen Parlament mit der entsprechenden Mehrheit gewählt ist, an sich bestätigt wird, daß diese Berichte jeder Grundlage entbehren.
Zusatzfrage, Dr. Lippelt.
Herr Staatsminister, können Sie meinem Verständnis ein bißchen aufhelfen? Vielleicht habe ich ja alles falsch verstanden.
Sie haben mir geantwortet, daß es eine private Ausbildungstätigkeit gegeben hat, mit der der BND nichts zu tun hatte. Davon haben Sie erst erfahren, als etwas später Herr Raethjen Sie anschrieb und vorschlug, da zu helfen. Ihrer letzten Antwort entnehme ich, daß sich Herr Raethjen in diesem Brief offensichtlich darüber beschwert, daß das Interesse des BND nachgelassen hat, so daß er sich nicht mehr richtig gefördert sieht.
Habe ich da etwas mißverstanden, oder haben Sie sich mißverständlich und widersprüchlich ausgedrückt? Wie war es denn nun? Was war der Inhalt? Weshalb schrieb Herr Raethjen dem Bundeskanzleramt?
Herr Kollege Lippelt, ich habe eindeutig erklärt — ich nehme noch einmal die Antwort auf Ihre Frage auf —, daß der Bundesnachrichtendienst hier nicht involviert war, daß Herr Raethjen in seinen Schreiben an das Bundeskanzleramt — aus diesem
Metadaten/Kopzeile:
718 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Staatsminister Bernd SchmidbauerAnlaß hat das Bundeskanzleramt als dienstaufsichtsführende Stelle überhaupt zum erstenmal Kenntnis von diesen Vorgängen und um diese Vorgänge bekommen — etwas behauptet hat, auf das ihm geantwortet wurde: Sie liegen falsch, Sie unterstellen etwas, was nicht da war. Hier ist etwas auf eigene Rechnung passiert. Herr Raethjen hat in den Schreiben gleichzeitig behauptet, das alles sei schon wieder am Ende.Das mag von mir mißverständlich ausgedrückt worden sein. Es ist auch ein bißchen kompliziert, wie Sie, der Sie die Frage gestellt haben, genau wissen. Es ist auch für mich als den heutigen Koordinator sehr kompliziert, mich in einen Vorgang aus dem Jahr 1980 oder 1981 zurückzuversetzen.Ich sage noch einmal: Ich hätte aus der damaligen Situation heraus nicht anders entscheiden können als die Vorgänger, die so entschieden haben.
Herr Kollege Gansel.
Da ich mich vorhin bei meiner Zusatzfrage mißverständlich ausgedrückt habe, gibt mir diese Frage die Möglichkeit, mich zu korrigieren. Ich darf deshalb folgende Frage an Sie stellen: Der BND ist mit dem Komplex zweimal befaßt gewesen, und zwar zum erstenmal zu Beginn einer möglichen Aufnahme der Ausbildungstätigkeit und zum zweitenmal am Ende dieser Tätigkeit.
Meine Frage war: Wenn ein Abteilungsleiter schon beim erstenmal die Aufnahme der Ausbildungstätigkeit in Libyen abgelehnt hat, hat dann der Bundesnachrichtendienst in den Jahren danach ein Auge darauf gehabt, ob diese Ausbildung stattgefunden hat oder nicht? Welche Erkenntnisse sind darüber beim Bundesnachrichtendienst angefallen? Wenn Sie sagen: gar keine, darum hat sich der Bundesnachrichtendienst nicht mehr gekümmert, dann muß ich Sie fragen: Wozu ist er eigentlich da?
Herr Kollege Gansel, ich müßte jetzt die ganze Chronologie abhandeln. Auf Ihre Frage kann ich Ihnen noch einmal sagen — dann wird es, glaube ich, auch klar —, daß Herr Raethjen vielfältige Kontakte im Hinblick auf diesen Vorgang hatte. Angefangen hat das 1978. Diese Kontakte führten dann dazu, daß von dem zuständigen Abteilungsleiter am 17. August 1978 ein operatives Aufgreifen des Vorgangs untersagt wurde. Dies wurde am 21. August entsprechend übermittelt. Man hat dann, auch in der Zeit danach entsprechende Gespräche geführt.
Herr Raethjen schied — das will ich dazusagen, damit das klar wird — Ende 1978 aus dem Dienst der Bundeswehr aus. Er kam erneut auf den BND zu, und es erging erneut die Weisung, die Sache nicht weiter zu verfolgen. Auch im Laufe der nächsten Monate gab es wohl Kontakte — sage ich einmal —, die dann am 11. April 1980, nach einer Stellungnahme des zuständigen Präsidenten, endgültig als erledigt betrachtet werden konnten.
Ich habe Ihnen deshalb nur dieses Grobraster gegeben, weil die PKK im Detail informiert wurde.
Frau Kollegin von Renesse.
Herr Staatsminister, ich glaube, ich habe es einigermaßen richtig im Ohr, daß Sie auf eine Frage erwidert haben, nach Liquidation der Firma von Herrn Raethjen seien keine Maßnahmen getroffen worden, um eine weitere Tätigkeit zu unterbinden. Kann man daraus schließen, daß es solche Maßnahmen — oder zumindest Vorüberlegungen dazu—vor der Liquidation gegeben hat, um diese Tätigkeit zu beeinflussen oder sie zu unterbinden?
Sie haben den Antworten entnommen, daß es Kontakte zu Herrn Raethjen gegeben hat — ich sagte aber, daß Herr Raethjen zu einem bestimmten Zeitpunkt Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes war —, die auch dazu führten, Überlegungen anzustellen, um Kontakte, wie von mir geschildert, zu nutzen. In der Folge dieser Überlegungen ist man aber, bevor es um eine operative Maßnahme gegangen wäre, zu der Entscheidung gelangt, daß dies nicht gemacht wird.
Herr Kollege Dr. Hirsch.
Herr Staatsminister, urn noch einmal genau nachzufragen: Herr Raethjen hat 1978 gekündigt, ist also aus der Bundeswehr ausgeschieden.
— Ja, er ist aus der Bundeswehr auf eigenen Wunsch entlassen worden und hat eine eigene Firma gegründet. Seine Tätigkeit war ferner nicht mit irgendwelchen genehmigungspflichtigen Lieferungen verbunden. Also lag, wie Sie gesagt haben, keine strafbare Handlung vor. Gab es denn angesichts dieser Tatsachen überhaupt eine rechtliche Handhabe irgendeiner Bundesbehörde, die Tätigkeit des Herrn Raethjen zu unterbinden?
Nein, aus der damaligen Sicht nicht.
— Herr Kollege Gansel, ich nehme an, der Dienst ist so gut, daß er das auch getan hat.
Ich rufe die Frage 9, die der Kollege Gansel gestellt hat, auf:Wie ist das Bundeskanzleramt von der „Ausbildungstätigkeit" des ehemaligen Bundeswehroffiziers und BND-Mitarbeiters Hans Dieter R. in Libyen informiert worden, und welche Maßnahmen sind auf seiten der Bundesregierung getroffen worden, um die Umstände dieser Tätigkeit aufzuklären und sie zu beenden?Herr Staatsminister, Sie haben das Wort zur Beantwortung.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 719
Herr Kollege Gansel, das Bundeskanzleramt hat durch Schreiben des früheren Majors der Bundeswehr Raethjen vom 18. August und 18. Oktober 1980 über dessen Ausbildungstätigkeit erfahren. Ich wiederhole mich, aber Ihre Frage war so gestellt.
Da Herr Raethjen die Vorgänge, die er schilderte, im Bereich der Verantwortung des Chefs des Bundeskanzleramtes für den Bundesnachrichtendienst ansiedelte, hat das Bundeskanzleramt den Bundesnachrichtendienst um Bericht gebeten. Der BND hat im Dezember 1980 dazu zwei Berichte abgegeben.
Weitere Schritte zur Aufklärung der Umstände und zur Beendigung der Tätigkeit des Herrn Raethjen sind von der damaligen Bundesregierung nicht unternommen worden; vermutlich aus dem Grund, den ich in meinen Antworten auf die Frage des Kollegen Lippelt, der Frau Kollegin Beer und anderer schon genannt habe. Herr Raethjen hat selbst geschrieben, daß das Interesse der Libyer an seiner Ausbildungstätigkeit erlahmt sei und daß deshalb die Liquidation seiner für diese Tätigkeit gegründeten Firma eingeleitet werden mußte.
Zusatzfrage, Herr Kollege Gansel.
Ist der Vortrag über diesen ganzen Komplex, zu dem verschiedene Fragen gestellt worden sind, in der PKK auf Forderung der PKK-Mitglieder, der Abgeordneten oder auf Initiative der Bundesregierung erfolgt?
Das ist auf beidseitigen Wunsch, wenn ich mich recht erinnere, und auch auf Wunsch einzelner PKK-Mitglieder geschehen. Es ist dementsprechend verfahren worden. Wir haben sogar ausnahmsweise eine Art Sondergespräch geführt, um ins Details zu gehen. Ich sage einmal, beide Seiten haben Wert darauf gelegt, daß dies im Rahmen der Tagesordnung behandelt wird, zumal entsprechende Vorwürfe in der Presse dieses auch gerechtfertigt haben.
Herr Kollege Gansel, bevor ich Ihnen das Wort zur zweiten Zusatzfrage gebe, stelle ich eine geschäftsleitende Frage. Wären Sie einverstanden, daß vor der zweiten Zusatzfrage, die Sie nicht verlieren sollen, der Staatsminister die Antwort auf Ihre nächste Frage erteilt? Denn in drei Minuten schließen wir die Fragestunde. Diese Frage steht in einem Sachzusammenhang. Wären Sie einverstanden, wenn Sie dann Ihre Fragen stellen würden?
Einverstanden.
Dann rufe ich auch die Frage 10 des Abgeordneten Gansel auf:
Seit wann war der Bundesregierung bekannt, daß Mitarbeiter der Münchner Firma Telemit Electronic GmbH weitere Personen für den Dienst in einer militärischen oder militärähnlichen Einrichtung in Libyen angeworben haben, und aus welchen Gründen sind keine Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Verstoßes gegen den § 109h StGB eingeleitet worden?
Herr Kollege Gansel, der Bundesregierung war nicht bekannt, daß Mitarbeiter der Firma Telemit weitere Personen für den Dienst in einer militärischen oder militärähnlichen Einrichtung in Libyen angeworben haben. Weder die Briefe des Herrn Raethjen vom August und Oktober 1980 noch die daraufhin angeforderten Berichte des BND enthalten Angaben über solche Anwerbungsaktionen der Firma Telemit oder des Herrn Raethjen.
Zusatzfrage.
Da ich nicht nur nach dem Wissen des Bundeskanzleramtes bzw. des Bundesnachrichtendienstes gefragt habe, sondern der Bundesregierung, möchte ich Sie fragen, ob Sie mir die Frage beantworten können, ob mit diesem Komplex die deutsche Botschaft in Tripolis befaßt war und ob es darüber Aktenvorgänge im Auswärtigen Amt oder in der Botschaft in Tripolis gibt.
Ich kann Ihnen das nicht beantworten, aber ich will das gerne abfragen. Daß es aus heutiger Sicht Rückfragen gegeben hat, was die Ausbildungstätigkeit angeht, ist klar. Aber ich kann nicht feststellen, ob es entsprechende Unterlagen aus der damaligen Zeit in den zuständigen Ministerien gibt.
Herr Kollege Gansel, ich will es gerne abfragen, aber ich glaube, es ist schwierig. Ich fürchte auch, Herr Kollege Gansel, daß wir in einem bestimmten Bereich nicht weiterkommen, sondern uns weiterhin in Spekulationen ergehen müssen. Ich verspreche mir nicht sehr viel davon, wenn ich mich um Akten aus dem Jahr 1980 aus dem Auswärtigen Amt bemühe, die es dort geben könnte. Ich glaube, es ist nicht erfolgsversprechend.
Da ich zu diesem Komplex gegebenenfalls eine neue Anfrage stellen werde, weil ich es für relevant halte, möchte ich Sie doch bitten, Herr Schmidbauer, daß Sie dem von sich aus nachgehen und mit der üblichen Zuverlässigkeit antworten.
Herr Kollege Gansel, ich tue das gerne und lasse ermitteln, ob aus dem fraglichen Zeitaum 1978 bis 1981 im Zusammenhang mit Herrn Raethjen noch entsprechende Unterlagen im Auswärtigen Amt vorhanden sind.
Danke sehr.
Ich bedanke mich, Herr Staatsminister.Ich schließe die Fragestunde.Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat eine Aktuelle Stunde zu den soeben behandelten Fragen beantragt.Ich rufe daher auf: Aktuelle StundeZusammenarbeit der Bundesregierung mit Libyen
Metadaten/Kopzeile:
720 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Vizepräsident Hans KleinDie Fraktionen und Gruppen haben vereinbart, daß es jeweils nur eine Fünf-Minuten-Runde geben soll. Die Antragsteller erhalten als erstes das Wort.Frau Kollegin Beer, Sie haben zunächst zur Begründung Ihres Antrags das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich begründe den Antrag zur Geschäftsordnung vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gemäß Anlage 5, Nr. 1 b der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages.
Die Nachricht, zu der wir heute Fragen gestellt haben, ist ungeheuerlich. Der Bundesnachrichtendienst nämlich vermittelt dem libyschen Diktator für die Ausbildung seiner Elitetruppe einen ehemaligen Fallschirmjäger der Bundeswehr. Er bildete von 1978 bis 1983 mehrere Hundertschaften von Gaddafis Wachregiment mit Kenntnis der Bundesregierung und im Auftrag des BND aus, unter anderem — so der Bericht — im lautlosen Töten.
Die Beantwortung der Fragen durch den Staatsminister hat unter dem Strich mehrere neue Fragen aufgeworfen, weil er bestätigt hat, daß der Bundesnachrichtendienst von der Tätigkeit des ehemaligen Bundeswehrangehörigen Kenntnis hatte und ganz offensichtlich nichts unternommen hat, um diese Tätigkeit zu unterbinden.
Wie verhält sich die Bundesregierung zu einem Vorwurf, der auch in der internationalen Öffentlichkeit Aufmerksamkeit erregt? Sie weicht den schriftlich eingereichten Fragen aus. Die berechtigten Nachfragen der gewählten Abgeordneten werden mit einem Hinweis auf die PKK und den Bundesnachrichtendienst nicht in ausreichender Form beantwortet. Man weiß es nicht, man darf es nicht sagen. Diese Verschleierungstaktik hat schon einmal, nämlich im Zusammenhang mit der libyschen Giftgasfabrik bei Rabta — Sie erinnern sich sehr wohl —, für internationale und nationale Irritationen gesorgt.
Es ist noch keine drei Monate her — das ist in der Tat leichtfertig —, daß Meldungen über die Verquickung von F.D.P.-Politikern in undurchsichtige Spendeneinnahmen aus libyschen Quellen für Furore sorgten.
Frau Kollegin, Sie haben ausschließlich Ihren Antrag zu begründen und keinen Debattenbeitrag zu leisten.
Ich begründe den Antrag damit, daß die Fragen nicht beantwortet sind. Es ist doch skandalös, daß zu den neuen Vorwürfen von der Bundesregierung, insbesondere von Herrn Außenminister Kinkel auch in seiner politischen Verantwortung als ehemaliger BND-Chef, keinerlei Stellungnahme zu diesem Vorgang zu erhalten ist.
Die Standardformel des Nichtwissens kennen wir doch; sie ist zum prägenden Element der Außenpolitik von Herrn Kinkel geworden, wenn es um Kooperation und Zusammenarbeit mit menschenrechtsfeindlichen Regimen geht. Dies ist für uns, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, eine Weise, die wir nicht akzeptieren können.
Bitte, Frau Kollegin, ich muß Sie zur Sache rufen.
Sie haben erklärt — deswegen fordern wir die Aktuelle Stunde —, der BND habe nicht den Auftrag für die ungeheuerliche Tätigkeit in Libyen, nämlich den Auftrag zum lautlosen Töten durch ein Spezialregime, gegeben. Sie haben gesagt, er habe Kenntnis gehabt. Es kann nicht sein, daß die Bundesregierung und der Bundesnachrichtendienst bis auf einen Satz des Außenministers und damaligen BND-Vorsitzenden — „Finger weg davon!" — vollkommen untätig blieb und im Grunde alles geschehen ließ.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Auftrag oder Kenntnis zum bzw. vom lautlosen Töten, beides ist gleichermaßen skandalös und muß Maßnahmen nach § 109 h des Strafgesetzbuches zur Folge haben.
Die Beantwortung der von uns heute eingebrachten Fragen darf nicht der Arbeit der Parlamentarischen Kontrollkommission oder dem G-10-Ausschuß, soweit er bisher überhaupt betroffen und involviert ist, überlassen bleiben. Das Parlament und die Öffentlichkeit haben ein Recht auf vorbehaltlose Offenlegung. Wir wollen in dieser Aktuellen Stunde den ersten Schritt dorthin tun. Wir fordern die Bundesregierung auf, die neuen Fragen, die sich auch auf Grund der Beantwortung durch den Staatsminister ergeben haben, lükkenlos zu beantworten.
Was denkt sich die Bundesregierung eigentlich dabei, in einen Chor der internationalen Ächtung des libyschen Diktators einzustimmen,
gleichzeitig aber alles Erdenkliche zu unterlassen und damit zu gewährleisten, daß dieses Regime überhaupt an der Macht bleiben kann?
— Aus Ihrer Fraktion waren sehr viel mehr Abgeordnete in Libyen als aus der früheren GRÜNEN- Fraktion. Informieren Sie sich darüber!
Frau Kollegin, die Redezeit ist zu Ende. Bitte noch einen Satz.
Diese Doppelzüngigkeit der Bundesregierung muß beendet werden. Sie schadet der Außenpolitik und dem demokratischen Ansehen unseres Landes.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 721
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Unsere Forderung an die Bundesregierung lautet — wir hoffen, daß sich auch Herr Kinkel äußern und sich persönlich dieser Debatte stellen wird —: Erklären Sie hier, was Sie als damaliger BND-Chef und heute als Außenminister unterlassen haben! Denn es ist nicht immer nur die Frage — —
Frau Kollegin, es tut mir leid. So geht es nicht. Wir wollen doch bitte nicht solche Sitten in diesem Hause einführen.
Das Wort hat Kollege Dr. Lippelt.
Herr Präsident, ich war der Meinung, daß ich mich etwas später auf einige Argumente beziehen könnte, die nun vielleicht von den anderen kommen. Aber okay.
Ich möchte drei Bemerkungen machen. Meine erste Bemerkung: Herr Staatsminister, Sie haben vorhin zu Recht auf diese „tumben grünen Narren" angespielt, die sich mit politischer Naivität ins Zelt von Herrn Gaddafi setzen. Ich habe von Ihnen herausbringen müssen, daß Sie sich auf mich bezogen, weil in der Tat auch ich das gegenüber der Partei als naiv betrachtet habe. Aber während da die GRÜNEN ihre ersten naiven Schritte machen — heute sind sie übrigens in alle Richtungen verstreut, das wissen wir —, wird die richtige Realpolitik woanders gemacht. Die Arkana der Macht laufen ganz anders.
Nun mögen wir darüber streiten, Herr Schmidbauer, wie weit die Anregungen eines Dienstes der Bundesregierung gegangen sind. Ich nehme zur Kenntnis, was Sie gesagt haben. Es bleibt natürlich eine ganz deutliche Lücke. Sie haben bestätigt, daß Herr Raethjen erstens freiwillig seinen Dienst aufgegeben hat, daß er so, wie er sich verhalten hat, wahrscheinlich seinen ganzen Sold und seine Versorgung aufs Spiel gesetzt hat, daß er sich später beschwert hat und von dem Dienst nicht richtig gestützt gesehen hat. Da bleibt für mich einfach die Lücke: Kamen die Anregungen möglicherweise von einem Cornelius Hausmann, wie in der Presse berichtet wird, und war der dem Dienst möglicherweise etwas aus der Kontrolle geraten? Ich bitte, das genauer zu prüfen. Sonst bleibt hier eine enorme logische Lücke.
Die zweite Bemerkung, die ich machen möchte: Wir haben uns sehr um Rabta gekümmert, wir haben den Fraktionsvorsitzenden der größten Regierungspartei seinerzeit sehr ob der Ausführlichkeit des Berichts, den er durchgesetzt hat, gelobt. Aber hier tauchen doch neue Fragen auf. Wir wollen doch eine Kontrolle von Wirtschaftsfunktionären, die krumme Sachen machen. Gab es denn außer der mangelnden Kontrolle der Wirtschaftsberater überhaupt keine Kontrolle der Militärberater, die zu der Zeit noch ihr Spiel trieben? Zumindest an diesem Punkt muß man sagen, daß es große Lücken gab.
Meine dritte Bemerkung — das hat heute ein paarmal im Raum gestanden, und ich glaube, wir werden uns dem sehr widmen müssen —: Vor fünf, sechs Jahren hat es ausführliche Berichte — damals weniger im „Stern", viel im „Spiegel" — über eine sehr seltsame Geschichte gegeben, die mit Lieferungen von ABC-Waffen in den Irak zu tun hatten. Darauf war durchaus mein Eindruck gegründet, von dem ich dem jetzigen Außenminister seinerzeit geschrieben habe, weil ich mit ihm hierüber eine Kontroverse hatte. Ich habe ihm geschrieben: Natürlich nehme ich zur Kenntnis, daß Sie sagen: ich hatte von all dem keine Ahnung. Aber ich habe, wenn ich das politisch bewerte, den dringenden Verdacht, daß in einer Zeit, als der BND im Irak nach deutschen Terroristen suchte und deshalb eine große Nähe der Zusammenarbeit mit dem dortigen Geheimdienst gesucht hat, dieser Geheimdienst zu seinen Zwecken den BND unterwandert hat.
So kam es dann, daß Leute, die als freie Mitarbeiter ihren Sold vom BND bezogen — die Namen sind damals sehr häufig durch die Presse gegangen —, mithalfen, ein Milieu zu schaffen, aus dem heraus es möglich war, daß sie später dem Irak eine Giftgasfabrik verkaufen konnten. Hier hat eine Durchdringung der Dienste stattgefunden, die, glaube ich, wirklich aufgehellt werden muß.
Sie hat — es tut mir leid; ich muß es sagen — in den kritischen Jahren stattgefunden, von denen hier die Rede ist. Es bedeutet überhaupt nicht, daß man dem Behördenleiter irgendein Wissen oder irgendeine aktive Tätigkeit unterstellen kann. Hier liegt vielmehr ein strukturelles Problem vor, das letztlich auch bis heute noch die deutsche Außenpolitik sehr stark berührt.
Deshalb werden wir es weiter verfolgen müssen; ich denke, zunächst im Auswärtigen Ausschuß.
Ich will noch zu dem kommen, was Herr Raethjen in SAT 1 gesagt hat. Dort hat er gesagt, er habe auch den Auftrag gehabt, dem syrischen Geheimdienst, einer „befreundeten Nachrichtenorganisation", so eben einmal ein paar Pistolen zu liefern, und das im Auftrag des Dienstes, dem er damals angehörte. Damals war er nicht bei der Bundeswehr, sondern beim BND. Auch einen solchen Auftrag hat er gehabt. Diese Pistolen seien möglicherweise später im Zusammenhang mit dem Wiener Attentat aufgetaucht.
Ihre Redezeit ist um.
Es stehen also ungeheuerliche Behauptungen und Beschuldigungen im Raum. Sie müssen aufgeklärt werden.
Das Wort hat der Kollege Dr. Rolf Olderog.
Metadaten/Kopzeile:
722 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ungeheuerliches — das versichere ich Ihnen als Mitglied der Parlamentarischen Kontrollkommission für die Geheimdienste — gibt es nicht. Die Behauptungen zum Sachverhalt und die Bewertungen, wie sie von den GRÜNEN, insbesondere von der Kollegin Beer, vorgetragen worden sind, sind unzutreffend.
Wir haben uns in der Parlamentarischen Kontrollkommission mit dem Sachverhalt sehr eingehend befaßt. Wir haben — das ist ganz ungewöhnlich — dazu einstimmig einen Beschluß gefaßt und darüber hinaus beschlossen, daß das Ergebnis unserer Beratungen veröffentlicht wird. Dieser Beschluß zeigt in seiner Einstimmigkeit — der Kollege Penner wird dazu vielleicht noch etwas sagen —, wie eindeutig und klar die Sachverhaltsfeststellungen getroffen werden konnten und wie eindeutig auch die Bewertung dieses Sachverhaltes vorgenommen werden konnte.
Wieder einmal — so müssen wir leider feststellen — ist ein angeblicher Skandalartikel über einen unserer Nachrichtendienste in Kernfragen unzureichend recherchiert, ganz überwiegend auf unzutreffenden Hinweisen und auf leichtfertigen Vermutungen und Spekulationen, die als Tatsachen verkauft werden, aufgebaut. In dem leichtfertigen Verhalten des „Stern"-Journalisten drückt sich leider ein Vorurteil gegenüber unseren Diensten aus, das ich als langjähriges Mitglied der Parlamentarischen Kontrollkommission als völlig ungerechtfertigt empfinde.
Mein Eindruck ist, daß sich insbesondere im Bereich der Nachrichtendienste nicht nur die Bundesregierung, die Chefs und die Leitungen der Dienste, sondern auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Dienste peinlich um rechtstaatliches Verhalten bemühen.
— Peinlich heißt sorgfältig.
Das negative Vorurteil gegenüber unseren Diensten belastet sie. Ja, ich möchte sagen, daß die gegenüber den Diensten besonders mißtrauische und kritische Sicht der Medien, bestimmter Abgeordneter und großer Teile der Öffentlichkeit gelegentlich zu einer nicht gerechtfertigten Zurückhaltung, Zögerlichkeit und zu Handlungsverzicht der Dienste auch dort führt,
wo Recht und Gesetz eigentlich eine Handlungsermächtigung bieten und Handeln geboten wäre.
Andere Dienste im Ausland, so scheint mir, genießen ein größeres Vertrauen in ihrer Öffentlichkeit,
haben daher mehr Selbstsicherheit und können somit erfolgreicher arbeiten.
Meine Damen und Herren, ich habe Verständnis dafür, daß geheime Nachrichtendienste natürlich die Phantasie beschäftigen und manchen Journalisten zu etwas abenteuerlichen Spekulationsgeschichten verführen. Aber ich erinnere an die hohe Verantwortung, die die Presse bei uns hat. Das verpflichtet sie zu besonderer Sorgfalt. Auch in unserem Staat brauchen wir unverzichtbar geheime Nachrichtendienste. Gerade in einer so krisengeschüttelten Zeit wie der unsrigen heute gilt das wieder im besonderen. Ich bitte die Presse um mehr Sorgfalt und um Fairneß gegenüber unseren Diensten.
Herr Kollege Dr. Willfried Penner, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PKK hat ausführlich über Vorgänge im Zusammenhang mit der Firma Telemit beraten. Sie ist umfassend auch durch Vorlage von Dokumenten unterrichtet worden. Die Parlamentarische Kontrollkommission ist danach einmütig der Überzeugung, daß in der Öffentlichkeit erhobene Vorwürfe gegen Institutionen des Bundes und Personen, die damit dienstlich befaßt waren, jeder Grundlage entbehren. Das ist der Befund der PKK. Das ist auch der Befund der der SPD zugehörigen Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommission, nämlich von Dr. Peter Struck und von mir.Im einzelnen heißt das folgendes:Erstens. Das diesbezügliche dienstliche Verhalten des seinerzeitigen Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes, Dr. Klaus Kinkel, wie das seiner damaligen Mitarbeiter gibt zu Beanstandungen keinen Anlaß.Zweitens. Der BND hat auf unterschiedlichen Verantwortungsebenen ein Werben um Beteiligung an der Einrichtung einer staatlichen Schutzorganisation für Libyen unmißverständlich abgelehnt, was nicht ausschließt, daß es einen erfolglos werbenden Interessenten gab, der zur Zeit die Öffentlichkeit auf seine Weise informiert.Drittens. Das Bundeskanzleramt ist durchweg nur als Instanz für Eingaben eines Beschwerdeführers gegen ablehnende Entscheidungen des BND in einschlägiger Sache befaßt worden. Auch insoweit gibt die Bearbeitung zu Bemerkungen keinen Anlaß.Viertens. Die seinerzeitigen Bemühungen von Genscher und Baum um Zusammenarbeit mit Libyen im Bereich der inneren Sicherheit entsprachen der damaligen Lage und den damit verbundenen Möglichkeiten wie auch dem daraus folgenden nationalen Interesse. Überdies ist insoweit keine politische Initiative bekanntgeworden, die als anstößig erschiene.Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir eine abschließende Bemerkung. Auch bei den Diensten passieren Pannen und Fehler, ja hin und wieder auch Rechtsverstöße. Es ist jedoch völlig abwegig zu unterstellen, die Dienste seien gewissermaßen ein Hort von Illegalität, im Zusammenhang mit den Vorgängen um die Firma Telemit schon gar nicht. Die Arbeit der Dienste muß ein hohes Maß an Diskretion bewahren. Das ergibt sich aus der Natur der Sache.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 723
Dr. Willfried PennerDaraus eine Neigung zu rechtsungebundenem Verhalten abzuleiten entspricht nicht den Tatsachen.
Das Wort hat der Kollege Winfried Wolf.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Schäuble — wenn er mich in den Räumen hier hören kann —, Sie müßten sich noch gut an den 2. Januar 1989 erinnern. Damals schrieb William Safire in der „New York Times" die Sätze:
Die deutschen Händler des Todes leisten Hilfestellung für ein Auschwitz im Wüstensand.
Es ging um Rabta in Libyen. Herr Schäuble verantwortete damals den Bericht der Bundesregierung, in welchem der Bau einer solchen Giftgasfabrik mit deutscher Hilfe eingestanden wurde.
Werter Kollege Ulrich Irmer von der F.D.P., Sie stellten im Juni 1988 laut Bericht der „Welt" vom 10. Juni 1988 als F.D.P.-Obmann im Bonner Untersuchungsausschuß zum Hanauer Atomskandal fest, daß bundesdeutsche Firmen mit Genehmigung des Eschborner Bundesamtes für Wirtschaft an Libyen radioaktive Stoffe lieferten, die für die Herstellung einer Atombombe genutzt werden könnten.
Angesichts dieser Abgründe, welche sich bei einer Debatte zu Libyen in diesem Haus öffnen, greifen die Fragen der Kollegen Lippelt, Nachtwei und Gansel und der Kollegin Beer erstaunlich kurz, jedenfalls die ursprünglichen Fragen.
Da hat also ein Ex-Bundeswehrmajor und Ex-BND-
Mann namens Raethjen Gaddafis Leibgarde in lautlosem Töten und anderen Bestandteilen der abendländischen Kultur ausgebildet. Er tat dies formal im Dienste einer im BND-Umfeld gesichteten Firma Telemit, deren Eigner Libyen war. Bonn war zumindest seit langem informiert und schwieg sich aus oder saß die Sache aus. So weit, so schlecht. Es riecht nach der Forderung nach einem Untersuchungsausschuß.
Ich möchte vorab schon jetzt etwas Systematik in die Diskussion bringen und drei Feststellungen machen.
Erstens. Unbestreitbar ist: Bonn hat das Regime Gaddafi massiv unterstützt. Der Bau einer Giftgasfabrik in Rabta wurde von deutschen Unternehmen mit direkter Verbindung zur Bonner Regierung — über den damals staatlichen Konzern Salzgitter und über die staatlich massiv subventionierte Firma Imhausen/Lahr in Baden — betrieben. Es gab auch eine bundesdeutsche Hilfestellung bei der Umrüstung libyscher Jagdbomber für den Langstreckeneinsatz, so daß diese, z. B. mit Giftgas, Israel hätten erreichen können. Stichwort: die Firma Intec bei München.
Zweitens. Diese Art deutscher Außenpolitik läßt sich nicht nur für Libyen, sondern auch für den Irak und — hätten wir ausreichend Zeit — ebenfalls für Pakistan dokumentieren. Sie kennt die Komponenten: deutsche Hilfe für eine „islamische" Atombombe oder zumindest für „islamische" C-Waffen. Diese Massenvernichtungswaffen richten sich u. a. gegen Israel, und immer sind auch Nazi-Vergangenheiten und Neonazi-Aktualitäten im Spiel.
Der Chef von Major Raethjen beim BND war Cornelius Hausleiter. Immerhin wurde gesagt: Er hat sogar gelebt. Von ihm schreibt der „Stern", daß dessen „Vorliebe für Altnazis" bekannt war.
Bei der BRD-Irak-Connection spielte die Firma Rhein-Bayern Fahrzeugbau eine wichtige Rolle, ihr Chef der NPD-Politiker Anton Eyerle. Eyerles Spezialität und Firmenpraxis war, Geschäftspartnern Hitlerreden vorzuspielen. Es gab enge Verbindungen zur Bundeswehr, gerade beim Giftgasgeschäft mit dem Irak.
Schließlich eine dritte Parallele: Derartige Regimes wurden von deutschen Kreisen hochgerüstet und gegebenenfalls auch mal wieder fallengelassen — so geschehen im Irak. Die deutschen Steuerzahler zahlten 15 Milliarden DM für den Golfkrieg der westlichen Alliierten. Damit wurde u. a. das zusammengebombt, was zuvor mit anderen Steuergeldern militärisch hochgerüstet worden war. Vergleichbares gilt für Libyen: Hier unterstützt Bonn heute ein höchst fragwürdiges Wirtschaftsembargo. Unterstützt wurden auch die US-Luftwaffenangriffe auf Libyen in den Jahren 1981 und 1986.
All das hat natürlich etwas damit zu tun, daß die werdende alte und neue Großmacht Deutschland noch viel im Dunkeln munkeln muß. Daher die Krauterfirmen Imhausen, Karl Kolb, WET, RheinBayern, Intec und Telemit, die als Händler des Todes vorgeschickt werden. Deren Kleinheit steht aber in krassem Widerspruch zur High-Tech-Qualität ihrer Massenmordmaschinerie-Exporte, zu den optimalen Beziehungen zur Bonner Regierung, zur Bundeswehr, zum BND und zu den vielfachen Transfusionen aus staatlichen Geldtöpfen.
Halten wir als Zwischenergebnis für heute fest, was Angelika Beer im Deutschen Bundestag in der Libyen-Debatte vor fünf Jahren, am 17. Februar 1989, zutreffend ausführte:
Wir müssen ... inzwischen davon ausgehen, daß die Bundesrepublik so ziemlich alles zu liefern bereit ist, was tötet, wenn nur die Kasse stimmt . . . Wir treten ... für ein völliges Verbot aller B- und C-Waffen überall auf der Welt ein . . .
Ich möchte hinzufügen: Die Forderung nach absolutem Verbot von Rüstungsexporten, nach radikaler Abrüstung der Bundeswehr und nach Auflösung dieser geheimen Dienste wird gerade durch eine Debatte wie die heutige unterfüttert und begründet.
Das Wort hat der Kollege Norbert Gansel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst ein paar Bemerkungen zum Stil machen. Ich habe den Artikel im „Stern" sorgfältig gelesen, sonst hätte ich keine Anfragen gestellt. Er scheint mir sorgfältig recherchiert zu sein. Er deckt sich mit manchem, was man
Metadaten/Kopzeile:
724 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Norbert Ganselmal hier, mal da in 22 Jahren Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag gehört hat. Ich glaube, ein Journalist, der über die Informationen verfügt, die in dem „Stern"-Artikel weitergegeben werden und für die ein ehemaliger Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes und Bundeswehroffizier bürgt, und sie nicht veröffentlicht, verstößt gegen das journalistische Ethos.
Dazu gehört allerdings, daß sich der Journalist auch beim Bundesnachrichtendienst informiert. Wenn er das tut und als Antwort erhält — ich zitiere aus dem „Stern"-Artikel —, „daß der Dienst grundsätzlich weder zu seiner operativen Arbeit noch zu Angelegenheiten, die seine Mitarbeiter betreffen, Auskünfte erteilt", dann mag das für den Dienst korrekt sein, aber mindestens genauso korrekt ist es, wenn der Journalist dann seine Erkenntnisse veröffentlicht. Das war mein erster Punkt.Das zweite: Ich verstehe die künstliche Aufregung nicht. Abgeordnete haben mehr oder weniger interessante Fragen gestellt. Es gab mehr oder weniger interessante Antworten, die wir auswerten werden.Aus 22 Jahren Erfahrung und mit einigen Affären belastet kann ich sagen, ob das nun U-Boot-Geschäfte mit Südafrika waren, oder ob es die C-Waffen-Fabrik in Rabta war, oder ob es die Giftgas- und Raketenproduktion für Saddam Hussein war, all das haben wir von Journalisten erfahren. Alles ist abgestritten worden, und fast alles hat sich hinterher schrecklicherweise als richtig herausgestellt.
Deshalb ist es unsere Aufgabe zu fragen. Das ist Teil unserer parlamentarischen Kontrolle.
Drittens. Ich finde es bemerkenswert, und das sagt auch etwas über den Stil dieses Hauses aus, daß, wenn Abgeordnete Anfragen an die Bundesregierung stellen, sich die PKK das am Vormittag zum Thema macht, ohne es den Kollegen überhaupt zu sagen. Die Tagesordnung der PKK wird überdies geheimgehalten. Es ist bemerkenswert, daß, wenn wir am Nachmittag Antworten von der Bundesregierung erhalten, wir auf eine Pressemitteilung des verehrten Vorsitzenden der PKK verwiesen werden. Herrgott noch mal, wo leben wir denn eigentlich? Das ist doch ein Parlament.
Es wäre eine erhebliche Abkürzung des Verfahrens gewesen, wenn diese Drucksache der PKK als Tischvorleger, Tischvorlage verteilt worden wäre. Entschuldigung, Tischvorleger ist vielleicht nicht ganz falsch.
Deshalb will ich zur Sache nur sagen: Mich interessiert bei dieser Geschichte Telemit viel mehr als der Bundesnachrichtendienst, der sonst auch interessant ist: Ich habe nach 22 Jahren noch immer eine gute Nase, und ich sage Ihnen, die Sache stinkt. Die Firma Telemit hat Konkurs gemacht. Sie ist gewissermaßen tot. Ich habe den Eindruck, wir haben bei dem Kadaver bisher nur am Schwanz gezogen. Wollen wir mal sehen, was noch herauskommt.
Herr Kollege Dr. Burkhard Hirsch, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Schade, Herr Gansel, ich hatte gedacht, daß nach der klaren Erklärung des Kollegen Penner die Kette der Verdächtigungen abreißen würde.Herr Wolf, in was für eine Gesellschaft sind Sie geraten? Die Rede, die Sie hier gehalten haben, hätte genausogut vor 1989 mit denselben Worten in der Volkskammer gehalten werden können, und zwar ganz genau so.
Es ist unstrittig, daß strafbare Handlungen im Zusammenhang mit Lieferungen nach Libyen vorgekommen sind. Dieses Haus hat auf Vorlage der Bundesregierung dazu einmütig ganz entschlossene gesetzgeberische Maßnahmen getroffen.Ich bin erstaunt — das muß ich auch zu Frau Beer sagen —, wie leichtfertig Sie mit dem Ansehen von Personen umgehen, die hier nicht Stellung nehmen und sich wehren können.
Das finde ich unglaublich.Der Ausgangspunkt der Beziehungen zu Libyen und die damalige Einschätzung nicht nur in der Bundesrepublik war der Überfall auf die israelische Olympiamannschaft in München im Jahre 1972 und der Versuch, Kontakte zu arabischen Ländern aufzubauen. Dazu gehörte auch die Erkenntnis, daß deutsche Terroristen mutmaßlich in arabischen Ländern unterkamen und unterstützt wurden. Alle politischen Kräfte haben damals an die Bundesregierung appelliert, mögliche Kontakte zu arabischen Ländern, auch zu Libyen, aufzubauen und zu nutzen.Ich habe vorhin die Reise einer Delegation der GRÜNEN in der hier relevanten Zeit, 1978/79, nach Tripolis ins Spiel gebracht. Ich habe die Tatsache der Reise, obwohl ihr Thema die Bewunderung für basisdemokratische Elemente des Revolutionsführers war, überhaupt nicht kritisiert, einer Reise, an der Bundestagskollegen und Bundesvorstandsmitglieder der Grünen teilgenommen haben.Ich habe es nur als geschmacklos empfunden und empfinde es heute noch als geschmacklos, daß sie sich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 725
Dr. Burkhard Hirschdamals mit Weib und Kind zu dieser Reise haben einladen lassen.
Es sei ja schließlich die erste Afrikareise gewesen, die er gemacht habe, hat damals Roland Vogt gesagt. Das finde ich schon stark. Von Herrn Mechtersheimer will ich gar nicht reden.Es wurden politische Kontakte zur Bekämpfung des deutschen Terrorismus in arabischen Ländern aufgebaut. Die Unterstützungsleistungen in bezug auf polizeiliche Ausbildungshilfe für eine ganze Reihe von Ländern sind damals sowohl im Haushaltsausschuß wie auch im Auswärtigen Ausschuß dieses Hauses in aller Öffentlichkeit erörtert worden.Es hat damals da, wo solche Fälle vorlagen, z. B. illegale Werbungen, natürlich auch Strafverfahren der zuständigen Behörden gegeben. Ich wundere mich, daß ausgerechnet Sie, die wie wir eine Vermischung von Nachrichtendiensten und Polizei bekämpfen, fordern, daß sich der Bundesnachrichtendienst an der Aufklärung strafbarer Handlungen auf dem Gebiet der Bundesrepublik beteiligen soll. Das ist nicht seine Aufgabe, sondern Sache der Polizei und der Staatsanwaltschaft, und sie haben sie wahrgenommen.
Ich bitte das wirklich zur Kenntnis zu nehmen.Es hat nach unseren Feststellungen keine wirtschaftliche Beteiligung des Bundesnachrichtendienstes an der Firma Telemit oder irgendeiner Tochter gegeben. Es hat keine Beteiligung des Bundesnachrichtendienstes etwa an Lieferungen von irgendwelchen Ausrüstungsgegenständen der Firma Telemit nach Libyen gegeben. Es hat keine Beteiligung des Bundesnachrichtendienstes an Anwerbeversuchen der Firma Raethjen gegeben, sondern es ist ausdrücklich auf der Ebene des Abteilungsleiters und des Präsidenten jedwede Beteiligung des Bundesnachrichtendienstes unterbunden und abgelehnt worden. Das ist ausdrücklich negativ entschieden worden.Nun sage ich Ihnen: Ich weise für meine Fraktion die in den gestellten Fragen enthaltenen Unterstellungen als haltlos, leichtfertig und infam zurück.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Für einen gerechten, verfassungsgemäßen und
unbürokratischen Familienleistungsausgleich
— Drucksache 13/16 —Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Haushaltsauschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Nicolette Kressl.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! 1994, im internationalen Jahr der Familie, waren sich alle einig: Familie ist kein privates Hobby, sondern stellt eine bedeutende gesellschaftliche Leistung dar. Familienarbeit ist eine sinngebende und kreative Arbeit, bedeutet aber auch sehr viel Verantwortung und eine ganze Menge schwere Arbeit.Haus- und Familienfrauen, natürlich im entsprechenden Fall auch Männer, leisten pro Jahr durchschnittlich 53 Milliarden Stunden an Haus-, Familien- und Erziehungsarbeit, was bei ca. 20 DM Stundenlohn einen Wert von 1,1 Billionen DM darstellt.Die Familien stiften Nutzen für die Allgemeinheit, bezahlen dafür aber mit höheren privaten Kosten — neben vielen direkten Kosten, wie beispielsweise Kleidung für die Kinder, auch mit indirekten, wie z. B. der Miete für eine größere Wohnung und Benachteiligungen auf dem Wohnungsmarkt.Während also die Gesellschaft als Ganzes beispielsweise davon profitiert, daß die Kinder später u. a. die kollektiven Sicherungssysteme, sprich: die Sozialversicherungen, stabilisieren, werden die finanziellen Belastungen jedoch privat und zum großen Teil alleine von den Eltern getragen. All die Analysen waren und sind klar. Doch solche Erkenntnisse taugen ja nur dann etwas, wenn auch die entsprechenden politischen Konsequenzen gezogen werden, um die erkannten Ungerechtigkeiten aufzulösen.Wie aber sieht es mit diesem notwendigen politischen Handeln bei der Bundesregierung aus? Im Moment — so schätzen Experten — deckt der Familienlastenausgleich etwa ein Viertel der Kosten, die Familien zusätzlich tragen; und auch davon wird etwa die Hälfte von den Eltern selbst über Steuern erbracht.Der Armutsbericht des Deutschen Caritasverbandes macht klar: Kinder sind in der Bundesrepublik Deutschland zum Armutsrisiko geworden.
In den alten Bundesländern sind ca. 30 % der Sozialhilfebezieher Kinder und Jugendliche, im Osten sogar knapp 44 %. Im Vergleich zu 1983 brauchen heute doppelt so viele Haushalte von Ehepaaren mit Kindern Hilfe zum Lebensunterhalt.
Das derzeit geltende Steuerrecht bringt sogar das absurde Kunststück fertig, das traditionelle Familien- und Frauenbild festzuklopfen und gleichzeitig die Familie zu benachteiligen. In Wirklichkeit erschöpft sich doch die Anerkennung der Leistungen von Familien in Deutschland meist in blumigen Worten, z. B. indem Politikerinnen und Politiker dieser Regierung
Metadaten/Kopzeile:
726 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Nicolette Kressldas Bild der heilen Familie hochhalten und dann glauben, sie hätten damit schon genug getan.
Dieses Verhalten wird dann manchmal noch damit begründet, man dürfe die wertvolle Familienarbeit nicht „entwerten", indem man ganz konkret einen finanziellen Ausgleich dafür einfordere. Aber es ist nun einmal so, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ohne ausreichende ökonomische Sicherheit können sich die Mitglieder einer Familie nicht sicher fühlen. Wie sollen dann Eltern' ihren Kindern Geborgenheit und Sicherheit vermitteln können? Ich bitte Sie, dies bei Ihrer oft geführten Wertediskussion auch einmal zu bedenken.
Ich muß noch einmal fragen: Was aber tut die Bundesregierung? Wenn das Bundesverfassungsgericht nicht 1990 und 1992 in seinen familienpolitischen Urteilen eine deutliche Verbesserung des Kinder- und Familienlastenausgleichs gefordert hätte — womit es übrigens die Regierung ganz schön düpierte —, wäre es bis zum heutigen Tag bei den konservativen Lippenbekenntnissen geblieben.
Statt aber nun klar und deutlich zu formulieren, wie es weitergehen soll, und dann entsprechend zu handeln, gibt es bei der CDU/CSU einen familienpolitischen Wirrwarr ohnegleichen, ein Chaos, das man den Familien wirklich nicht zumuten kann. Da soll der verteilungspolitisch ungerechte steuerliche Kinderfreibetrag auch noch um 1 000 DM erhöht werden!
Dann will Herr Waigel plötzlich das Kindergeld ab dem zweiten Kind anheben, während Frau Nolte eigentlich lieber eine Erhöhung schon ab dem ersten Kind hätte. Statt solcher unsystematischen Korrekturen beim Kindergeld, wie sie der Finanzminister vorgeschlagen hat, will Herr Geißler das Kindergeld, 300 DM monatlich, als Abzug von der Steuerschuld gestalten, er sagt aber nichts zur Finanzierung.Herr Hintze fordert indessen, das Ehegattensplitting nur bei kinderlosen Ehepaaren zu kappen und von da zu Familien mit Kindern hin umzuschichten. Prompt erntet er Kritik von Frau Nolte sowie von konservativen CSU-Politikern, die natürlich am Ehegattensplitting in voller Höhe überhaupt nicht rütteln wollen.
— Nein, nicht zu Recht; das erkläre ich Ihnen gleich. — Demgegenüber würden Politiker der CDU-Sozialausschüsse das steuerliche Ehegattensplitting am liebsten abschaffen oder wie Herr Hintze umschichten, das Kindergeld auch schon für das erste Kind kräftig erhöhen und den Kinderfreibetrag auf 7 000 DManheben. Das ist nun tatsächlich die Schlaraffenlandlösung. Deshalb erfährt man natürlich auch nichts darüber, wie es finanziert werden soll.
Gespannt haben wir dann auf die Ergebnisse der CDU-Expertenkommission am Montag gewartet. Aber auch da hat sich nicht viel getan, gehört haben wir nichts.Aber schauen wir uns noch einmal die Vorschläge von Herrn Waigel etwas genauer an. Wie kommt er eigentlich dazu, für das zweite Kind ganze 30 DM mehr anzubieten, wo doch nun jeder weiß, daß gerade beim ersten Kind besonders viele neue Kosten auf die Eltern zukommen, vom Kinderwagen bis zur Erstausstattung bei der Kleidung? Ganz abgesehen davon, daß dieses Ein-wenig-Aufstocken hier und Einwenig-Aufstocken da nur ein Weiterwursteln im alten System ist und keinen wirklichen Reformansatz enthält.
Und was stellt sich die F.D.P. vor? Der Vorsitzende des Bundestagsfinanzausschusses, Herr Thiele, will das bisherige System des Familienlastenausgleichs „revolutionieren", wie er sagt. Seine Revolution bleibt jedoch auf der Grundlage der Koalitionsvereinbarung, der nun gar nichts Revolutionäres anhaftet.
Auch bei Thieles Vorschlag bleibt es bei den ungerechten Kinderfreibeträgen, und wie das Ganze finanziert werden soll, steht auch in den Sternen. Wirklich, ich frage mich nicht mehr, weshalb Eltern nicht mehr daran glauben, daß ihre Leistungen tatsächlich anerkannt werden sollen. Dieses Durcheinander, bei dem dann tatsächlich doch nicht viel geschieht, trägt wahrhaftig nicht zur Glaubwürdigkeit von Politik bei.
Die Familien haben nämlich etwas viel Besseres verdient: einen Ausgleich ihrer Belastungen, der gerecht ist, der einfach und klar ist und der solide finanziert ist. Genau solch eine Lösung hat die SPD- Fraktion mit dem Ihnen vorliegenden Antrag eingebracht.
Familien erhalten 250 DM Kindergeld pro Monat ab dem ersten Kind. Dies entspricht nach üblicher Berechnung einem jährlichen steuerlichen Freibetrag von 7 500 DM. Für kinderreiche Familien wird ein Familienzuschlag von 100 DM ab dem vierten Kind gewährt, der sich für jedes zusätzliche Kind um weitere 100 DM erhöht.Dieses Kindergeld ersetzt das bisherige Durcheinander von Kinderfreibetrag, Kindergeld, Kindergeldzuschlag und Einkommensgrenzen. Das Kindergeld wird direkt bei der Steuerfestsetzung von der Steuerschuld abgezogen. Wenn die Steuerschuld geringer als das Kindergeld ist, dann wird der Unterschied direkt vom Finanzamt ausgezahlt.Dieses Kindergeld wird gesichert finanziert, indem dafür ca. 17 Milliarden DM aus dem Wegfall der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 727
Nicolette KresslKinderfreibeträge, ca. 21 Milliarden DM aus der Umschichtung des Kindergeldes und der Kindergeldzuschläge und ca. 12 Milliarden DM aus der sinnvollen Begrenzung hoher Vorteile durch das Ehegattensplitting verwendet werden.Dabei muß natürlich berücksichtigt werden, daß die veränderte Form der Auszahlung des Kindergeldes zu Verschiebungen in der Finanzausstattung zwischen Bund und Ländern beiträgt. Diese finanziellen Verschiebungen müssen selbstverständlich ausgeglichen werden.Dieser Vorschlag der SPD behandelt Familien gerecht, ist eindeutig und entspricht den Vorgaben des Verfassungsgerichts.
Ich möchte Ihnen nochmals genauer ausführen, warum diese Lösung eine gerechte Lösung ist.
Frau Kollegin Kressl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hüppe?
Ja, wenn Sie die Uhr anhalten.
Frau Kollegin, darf ich Sie fragen, ob Ihnen bewußt ist, daß, wenn jedes Kind 250 DM Kindergeld bekommt, eine Sozialhilfeempfängerin letztlich netto keinen Pfennig mehr bekommt, Sie also damit keine Sozialhilfeempfängerin aus der Sozialhilfe herausholen, weil das Kindergeld voll auf die Sozialhilfe angerechnet wird?
Wir werden den Antrag in den Ausschuß bringen. Wenn Sie bereit sind, mit uns eine gerechte Lösung zu formulieren, dann werden wir auch für alles Lösungen finden. Darüber sollten wir wirklich miteinander sprechen.
Jetzt möchte ich noch einmal darüber reden, warum das ein gerechter Vorschlag ist. Wenn das politische Ziel eine gerechte und solidarische Bewertung der Familienarbeit ist, so sagt einem der gesunde Menschenverstand doch ganz klar, daß es weder gerecht noch solidarisch ist, wenn diejenigen, die wenig verdienen, auch besonders wenig staatliche Unterstützung erhalten. Aber bei den bisherigen Freibeträgen muß sich jemand mit gesundem Menschenverstand verwundert die Augen reiben, wenn er sich deren Auswirkungen ansieht. Spitzenverdiener haben doch tatsächlich 181 DM mehr in der Tasche, weil sie 181 DM Steuerentlastung haben, Niedrigverdiener aber nur 65 DM.Würde der Kinderfreibetrag übrigens wie geplant erhöht, würden sich diese völlig ungerechtfertigten Unterschiede noch verstärken. Da ist tatsächlich zu fragen: Wo bleibt da die Gerechtigkeit?
Genau die gleiche Frage ist zu stellen, wenn man die Vorteile durch das Ehegattensplitting betrachtet:Verheiratete Paare mit einem Spitzenverdienst können durch das Splitting bis zu knapp 23 000 DM im Jahr sparen, völlig unabhängig von der Frage, ob sie Kinder erziehen oder nicht. Natürlich kommt das Splitting oft Familien zugute. Aber rund ein Drittel aller Ehen, die die gleichen Vorteile genießen, ist ohne Kinder.Genausowenig berücksichtigt das Ehegattensplitting die Alleinerziehenden. In der Bundesrepublik Deutschland leben immer mehr Alleinerziehende. Sie sind wie Mehrkinderfamilien besonders häufig von Armut betroffen. Auch sie haben keine Vorteile vom Ehegattensplitting.
Was wäre also logischer, als diese Vorteile zu begrenzen? Wir sprechen hier übrigens nicht von der Abschaffung des Ehegattensplittings.Es wird Zeit, in der Politik endlich anzuerkennen, daß es nicht mehr den sozialen Automatismus von Ehe und Kindern gibt. Es wird Zeit, daß Politikerinnen und Politiker diese veränderten Strukturen erkennen, sie akzeptieren und endlich in die Politik einbringen,
damit endlich das eigentliche Ziel erreicht wird: der Schutz und die Unterstützung von Familien.Deshalb ist es nach unserer Überzeugung der richtige Weg, in einem ersten Schritt den Steuervorteil durch das Ehegattensplitting auf maximal 6 000 DM im Jahr zu beschränken und die frei werdenden Mittel dorthin umzuleiten, wo wir das Geld tatsächlich haben wollen: eben bei den Familien.Der SPD-Vorschlag ist auch ein unbürokratischer Vorschlag. Warum? — Duales System ist eine manchmal zu hörende, oft einfach übernommene, harmlos klingende Bezeichnung für das Chaos aus Freibeträgen, Kindergeld, Kindergeldzuschlägen und Einkommensgrenzen, mit denen sich eine Familie heute konfrontiert sieht.
Es ist dringend notwendig, den Bürgern endlich wieder mehr Transparenz anzubieten und sie nicht weiterhin solchen bürokratischen Ungetümen gegenüberzustellen.
Es wird endlich Zeit, die Bürger wieder mit weniger Behördengängen und Anträgen bei verschiedenen Institutionen zu belasten. Deshalb schlagen wir vor, daß das Kindergeld direkt von der Steuerschuld abgezogen wird bzw. direkt vom Finanzamt ausgezahlt wird. Auf jeden Fall sollte nur noch das Finanzamt zuständig sein.Leider kann ich einen entsprechenden Ansatz im ebenfalls vorgelegten Antrag vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht erkennen.Jeder, der vom modernen, vom schlanken Staat spricht, müßte dieser Lösung sofort zustimmen können; denn zu der Übersichtlichkeit für die Menschen kommt hinzu, daß bei dieser Finanzamtslösung nur noch eine Institution verantwortlich ist. Außer diesem Vereinfachungseffekt werden durch den geringeren
Metadaten/Kopzeile:
728 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Nicolette KresslVerwaltungsaufwand Kosten in Höhe von 650 Millionen DM entfallen.Ich begrüße in diesem Zusammenhang übrigens, daß sich der F.D.P.-Fraktionsvorsitzende Solms in der Haushaltsdebatte vor wenigen Wochen bereits klar für die Finanzamtslösung ausgesprochen hat und daß auch der Vorsitzende des Finanzausschusses, Herr Thiele von der F.D.P., bei seinem Modell ausdrücklich von einer Finanzamtslösung ausgeht.
Selbstverständlich entspricht der SPD-Vorschlag den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts. Dieses stellt nämlich frei, ob der Gesetzgeber die Minderung der steuerlichen Leistungsfähigkeit der Familien durch einen Freibetrag in Höhe des Existenzminimums oder durch ein entsprechendes Kindergeld ausgleicht. Also sind hier politische Verantwortung und politische Entscheidung gefragt. Die SPD hat gute Gründe — die ich bereits dargestellt habe —, sich für die gerechtere Lösung eines einheitlichen Kindergelds zu entscheiden.Natürlich sind 250 DM Kindergeld nur ein erster Schritt für eine umfassende familienfreundliche Politik. Wir müssen zusätzlich Rahmenbedingungen schaffen, die dafür sorgen, daß alle Kinder die Chancen und Möglichkeiten unserer Gesellschaft tatsächlich wahrnehmen können. Dazu gehören die Steuerbefreiung des Existenzminimums, Lebensräume für Kinder — also bezahlbarer Wohnraum —, familienfreundliche Arbeitszeiten und Arbeitsstrukturen sowie eine optimale Kinderbetreuung. Ich sehe jedoch kaum Initiativen der Bundesregierung, um die auf diesen Gebieten bestehenden Defizite abzubauen.Ein erster wichtiger Schritt aber bleibt, wie gesagt, die Sicherung der wirtschaftlichen Grundlagen der Familie. Für Kinder und Familien stehen bisher die ökonomischen Signale auf Rot. Lassen Sie dies nicht weiterhin zu, sondern gehen Sie mit der SPD einen sinnvollen und gerechten Weg! Sorgen Sie somit dafür, daß gesellschaftliche und ökonomische Rahmenbedingungen für Kinder wieder stimmen! Es lohnt sich, im Interesse von Familien gute Vorschläge aufzugreifen und auch einmal über seinen ideologischen Schatten zu springen.
Erste Anzeichen dafür waren in der jüngsten Debatte zu erkennen. Deshalb fordere ich Sie jetzt schon auf: Dokumentieren Sie Ihre so oft formulierte Familienfreundlichkeit und stimmen Sie dem SPD-Antrag zu!Vielen Dank.
Das war Ihre erste Rede in diesem Hause, Frau Kollegin Kressl. Ich möchte Ihnen dazu herzlich gratulieren.
Ich erteile nun das Wort an Frau Ministerin Nolte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn Familien in Deutschland heute ihre materiellen Bedingungen mit denen von kinderlosen Mitbürgern vergleichen, stellen sie fest, daß sie erheblich ungünstiger dastehen. Das gilt um so mehr, je mehr Kinder sie erziehen. Kinder bedeuten zumeist finanzielle Einbußen. In dieser Einschätzung stimme ich Ihnen zu. Daran gibt es auch nichts herumzudeuteln.Auch wenn es nicht Aufgabe des Staates ist und er es auch nicht leisten kann, die Unterhaltskosten für Kinder voll zu tragen, so hat er doch die Verpflichtung, Familien zu unterstützen. Auf Grund der unterschiedlichen Einkommensverhältnisse von Familien muß diese Entlastung von Unterhaltskosten gerecht und differenziert erfolgen.Die Unterstützung und Förderung von Familien beschränkt sich dabei nicht auf den Familienlastenausgleich. Unter dieser Koalition ist in den letzten Jahren vieles auf den Weg gebracht worden, angefangen beim Erziehungsurlaub mit Beschäftigungsgarantie, über das Erziehungsgeld, bis hin zur Anerkennung der Erziehungszeit in der Rente.
Wir diskutieren heute über die Vorstellungen der SPD zur Neugestaltung des Familienlastenausgleichs. Sie wollen das duale System des Familienlastenausgleichs durch Streichung des Kinderfreibetrages im Steuerrecht abschaffen, und Sie wollen die Kindergeldstaffelung zugunsten eines Einheitskindergeldes bei den ersten drei Kindern beseitigen. Sie halten Kinderfreibeträge für ungerecht, weil sie bei steigenden Einkommen einen wachsenden Entlastungsbetrag bringen.
Wir wissen alle, daß das Bundesverfassungsgericht von uns die steuerliche Freistellung des Existenzminimums für jedes Kind verlangt. Wer Kinder hat, soll nicht genausoviel Steuern zahlen wie Kinderlose mit gleichem Einkommen. Das heißt doch: Die Entlastung durch Kinderfreibeträge ist keine zusätzliche Förderung der Familie, sondern ausschließlich ein Gebot verfassungskonformer Besteuerung, das für alle Familien gilt.
Richtig ist natürlich, daß diese Freistellung auch über ein Kindergeld in entsprechender Höhe oder in einem dualen System aus Kinderfreibetrag plus Kindergeld erfolgen kann, wie es heute existiert.Für mich ist entscheidend, wieviel echte finanzielle Förderung, d. h. ohne Einberechnung der Freibeträge, wir für Familien mit niedrigen und mittleren Einkommen erreichen können. Ich halte es für notwendig, bei knappen Kassen Familienförderung auf diese Familien zu konzentrieren, dort aber auch zu spürbaren Verbesserungen zu kommen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 729
Bundesministerin Claudia NolteAuf differenzierte Verhältnisse sollte meines Erachtens differenziert reagiert werden. Während der Aufwand für Familien mit jedem Kind wächst, führt ein Einheitskindergeld zu einer mit der Kinderzahl steigenden Benachteiligung von Familien. Erst wer vier oder mehr Kinder hat, soll nach den Vorschlägen der SPD stärker gefördert werden. Allen das gleiche zu geben, egal ob dem Spitzenverdiener oder der teilzeitbeschäftigten alleinerziehenden Mutter, wird auf Dauer keine Akzeptanz finden.
Wer über ein hohes Familieneinkommen verfügt, braucht kein Kindergeld.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schmidt?
Ja, bitte.
Frau Ministerin, Sie haben jetzt wiederholt davon gesprochen, daß Sie eine differenzierte Förderung für Familien mit Kindern beabsichtigen. Sie sprechen davon immer sehr allgemein. Einmal sagen Sie, daß Sie das Kindergeld auch ab dem ersten Kind spürbar erhöhen wollen. Dann sprechen Sie auch davon, daß Sie Familien mit geringem Einkommen besonders fördern wollen.
Wissen Sie in etwa schon die Größenordnung? Was heißt „spürbar"? Was heißt eigentlich „geringes Einkommen" ? Diese Fragen sollten Sie beantworten, damit die Familien in diesem Lande wissen, was auf sie zukommt.
Ich habe großes Verständnis für diese Frage. Sie ist berechtigt. Ich denke aber, daß wir über die konkreten Zahlen in der Koalition Abstimmungen treffen müssen, bevor ich sie hier vom Rednerpult aus mitteile. Lassen Sie uns diese Zeit!
Ich finde es richtig, daß wir uns vorher ein gründliches Konzept überlegen, das auch längerfristig gilt.
Wir sollten hier jetzt keine Schnellschüsse abgeben. Aus dem Grunde werde ich hierzu jetzt keine Zahlen nennen.
Frau Ministerin, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Hanewinckel?
Ja.
Frau Ministerin, Sie haben soeben gesagt, daß wir ein einheitliches Kindergeld geben wollten und damit — wörtlich haben Sie es zwar nicht so gesagt, aber sinngemäß — quasi alle über einen Kamm scheren. Das stimmt ja so nicht. Unsere Vorschläge gehen weiter.
Ich möchte Sie fragen: Wie beurteilen Sie denn die Vorschläge Ihres Finanzministers? Da kann man ja nun wahrlich nicht davon reden, daß alle über einen Kamm geschoren werden; im Gegenteil: Die jetzige Regelung der Kinderfreibeträge ist schon mehr als sozial ungerecht. Sein Vorschlag, diese noch zu erhöhen, schiebt eindeutig Milliarden zu denen, die ziemlich gut verdienen.
Wie differenzieren Sie denn da? Wie stehen Sie zu den Überlegungen hinsichtlich einer nicht einheitlichen Versorgung von Familien, die gerade in eine andere Richtung abdriften?
Um auf die Differenzierung Ihres Modells einzugehen: Sie wissen selber, daß, wenn man ab dem vierten Kind eine Differenzierung vornimmt, jede 20. Familie davon profitiert. Das heißt, der größte Teil ist schon unter einem Einheitskindergeld zu betrachten.Ich habe zu den Äußerungen des Finanzministers bzw. zu seinen Vorstellungen gesagt: Es ist richtig, daß wir uns gemeinsam über eine Verbesserung Gedanken machen. Das ist ein guter Weg. Ich habe natürlich weitergehende Vorstellungen, und ich möchte diese auch zusammen mit dem Finanzminister in der erwähnten Richtung vorantreiben. Wenn ich dabei von allen Seiten Unterstützung bekomme, bin ich darüber nicht traurig.
— Ich habe Ihnen prinzipielle Bedenken genannt. Die können Sie nicht einfach so abtun. Sie bestehen.Die Beantwortung der Frage hinsichtlich der Finanzierbarkeit erfolgt natürlich sofort: Das gilt korrekterweise für alle Vorschläge. Das heißt: Auch wir müssen uns diese Frage stellen.Sie verweisen zum wiederholten Mal in Ihrem Antrag auf die Möglichkeit der Begrenzung der Wirkung des Ehegattensplittings. Lassen Sie mich dazu — es ist ja auch angeklungen — nur soviel sagen: In den meisten Fällen wirkt das Ehegattensplitting als Familienförderung. Ich halte überhaupt nichts davon, für eine Verbesserung von Familienleistungen innerhalb des gleichen Topfs umzuschichten und damit anderen Familien etwas zu nehmen.
Andererseits werte ich Ihren Antrag aber auch als ein Angebot, mit uns gemeinsam an der Entlastung der Familien mitzuwirken. Das heißt, ich hoffe, daß die SPD-geführten Länder bereit sein werden, sich an der Finanzierung angemessen zu beteiligen.
Metadaten/Kopzeile:
730 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Bundesministerin Claudia NolteDann wäre auch ein großer Schritt hin zu einem echten Familienleistungsausgleich möglich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch die Frage der Praktikabilität der in dem Antrag gemachten Umsetzungsvorschläge ansprechen. Meist ist es so, daß sich einfach erscheinende Lösungen am Ende in das Gegenteil verkehren. Ich habe doch Zweifel, ob es mit der Finanzamtslösung für den Familienleistungsausgleich wirklich gelingt, den Verwaltungsaufwand spürbar zu verringern. Ich ziehe diese Zweifel u. a. aus dem Gutachten zur Finanzamtslösung, das die Arbeitsgemeinschaft für wirtschaftliche Verwaltung bereits 1990 vorgelegt hat und das die Bundesregierung damals dem Bundestag zugeleitet hat.Dieses Gutachten kam zu dem Schluß, daß die Finanzamtslösung in Teilbereichen sogar einen größeren Verwaltungsaufwand mit sich brächte. Ich nenne einige Beispiele: Die Zuständigkeit nur einer staatlichen Stelle, also des Finanzamts, wird schwer zu erreichen sein, weil die Kindergeldverfahren bei der Bundesanstalt für Arbeit für bestimmte Fallgruppen bestehenbleiben müssen, so für Arbeitslose mit Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz, ausländische Arbeitnehmer mit Kindern im Ausland und für bestimmte Gruppen mit zwischenstaatlichen Sondervereinbarungen.
Frau Ministerin, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Kann ich den Aspekt Verwaltung erst zu Ende vortragen? Ich denke, die Frage paßt dann inhaltlich immer noch dazu.
Ein großer Teil der Bürokratie würde zudem auf die Arbeitgeber abgewälzt. Man müßte mit einem nicht unerheblichen Anstieg der Fälle von Pflichtveranlagung und Anträgen auf Lohnsteuerjahresausgleich rechnen.
Der Aspekt der praktischen Umsetzung darf nicht unberücksichtigt bleiben, wenn wir uns neuen Modellen zuwenden. Auch im derzeitigen System des Familienlastenausgleichs sind Verwaltungsvereinfachungen nötig und möglich. Über diesen Komplex sollten wir insbesondere auch mit den Ländern in Gespräche eintreten, ob es nicht praktikablere Lösungen gibt, die bisherige Auszahlung von verschiedenen Familienleistungen an einer Stelle zusammenzuführen. Vereinfachungen würden sich aber auch schon dadurch ergeben, daß der Kindergeldzuschlag in das Kindergeld integriert wird und wir die verschiedenen Einkommensbegriffe im Kinder- und Steuerrecht vereinheitlichen.
Im Ergebnis erhielte dadurch ein Teil der Familien zudem ein höheres Kindergeld.
Bitte, Herr Kollege.
Frau Ministerin, gestehen Sie zu, daß die Untersuchungen, die Sie zitiert haben, alle nicht das SPD-Modell des einheitlichen Kindergeldes und der Finanzamtslösung — Abzug von der Steuerschuld — zur Grundlage hatten, sondern daß diese Untersuchungen, die in den 80er Jahren angestellt wurden, auf der Basis des jetzigen sogenannten dualen Rechts mit all der Komplizierung, mit den Einkommensgrenzen usw., vorgenommen wurden, so daß es eine zitierfähige Untersuchung zu dem SPD-Modell auch unter dem Gesichtspunkt der Vereinfachung überhaupt nicht gibt?
Vielleicht gibt es keine dem Gutachten adäquate Untersuchung, aber ich denke schon, daß man aus dem Gutachten Schlüsse ziehen kann. Auch bei dem einheitlichen Kindergeld werden sich natürlich solche Fragen ergeben: Wie ist es mit ausländischen Arbeitnehmern mit Kindern im Ausland? Wie ist es mit denjenigen, die beim Arbeitsamt gemeldet sind? Wie werden die Verfahren abgewickelt, die die Arbeitgeber über normale Steuer abrechnen müssen und bei denen sie vielleicht in Vorauszahlung treten müßten? Das sind Fragen, die trotzdem bleiben. Einen Teil der Bürokratie muß der Arbeitgeber natürlich abnehmen. Auch der Zahlenabgleich, alles, was sich bei Verwaltungsvereinfachungen ergeben würde, bedeutet einen Aufwand, den wir nicht verschweigen dürfen und den wir beachten sollten. Ich habe versucht, darauf hinzuweisen, daß man nicht nur von einfachen Lösungen sprechen kann, sondern daß zu bedenken ist, daß jeweils gründlich untersucht werden muß, ob etwas machbar ist.
Gestatten Sie noch eine Frage?
Ja.
Herr Kollege Poß, bitte.
Da wir im Moment eine verstärkte Diskussion über Modernisierung, Verschlankung auch von Staatstätigkeiten und Vereinfachung haben: Wären Sie denn bereit, eine entsprechende Untersuchung in Auftrag zu geben, bei der auch die Elemente des SPD-Modells einbezogen würden? Bedeutet Ihre letzte Bemerkung, das müsse geprüft werden, daß auch Sie ausdrücklich bereit wären, ein solches Modell untersuchen zu lassen?
Ich sage ausdrücklich, daß ich sehr für Verwaltungsvereinfachung bin. Das, was in meinem Ressort liegt — Einkommensgrenzen und Kindergeldzuschlag —, möchte ich auf jeden Fall prüfen; das habe ich angedeutet. Ihre Anfrage richtet sich eher an das Finanzministerium. Sie können davon ausgehen: Bevor eine solche Lösung angedacht wird, wird das sehr wohl geprüft werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 731
Bundesministerin Claudia NolteLiebe Kolleginnen und Kollegen, in ihrem Antrag fordert die SPD von der Bundesregierung, einen gerechten, verfassungsgemäßen und unbürokratischen Familienlastenausgleich zu schaffen. Dies entspricht vom Ziel her eigentlich auch dem, was wir in den Koalitionsvereinbarungen niedergelegt haben. Wir werden daran festhalten, den Kinderfreibetrag anzuheben, das Kindergeld zu erhöhen und es gezielt denjenigen zugute kommen zu lassen, die es am dringendsten benötigen. Dies sind die Familien mit niedrigem Einkommen und mehreren Kindern, zu denen ich auch immer die Alleinerziehenden zähle.Dies bedeutet zielgenaue Familienförderung und Vereinfachung für den Bürger und die Verwaltung. Darüber, wie dies im einzelnen auszusehen hat, wird jetzt diskutiert. Wir werden uns in den nächsten Wochen in den Mehrheitsfraktionen, in der Koalition und in der Bundesregierung über Realisierungsmöglichkeiten und die konkrete Ausgestaltung unserer Ziele unterhalten und in absehbarer Zeit dann auch an dieser Stelle über die Gesamtkonzeption zu reden haben, die über das Jahr 1996 Bestand haben und über diese Legislaturperiode hinaus Perspektiven eröffnen muß.Hinsichtlich des Ziels, für die Familie Verbesserungen zu erreichen, sind wir nahe beieinander. Ich will meinen Beitrag dazu leisten, daß wir Wege finden, die alle Beteiligten — Bund, Länder und Gemeinden — gemeinsam gehen können.Danke schön.
Ich erteile Frau Kollegin Christine Scheel das Wort.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Der zentrale Punkt unserer Auseinandersetzung, die wir hier führen, ist doch leider die beschämende Tatsache, daß in diesem angeblich so kinderfreundlichen, familienfreundlichen und sozialen Land Familien mit Kindern jahrelang draufgezahlt haben. Es gibt Publikationen und Äußerungen von Vertretern der beiden großen Kirchen, es gibt Äußerungen von Vertretern der Wohlfahrtsverbände, die belegen, daß die Familien in den letzten Jahren regelrecht mit Kinderstrafsteuern belegt wurden, da eben kein echter Familienleistungsausgleich gewährt wurde und bis heute nicht gewährt wird.Hinter dem Begriff „Familienleistungsausgleich" verbirgt sich eine große Anzahl von familienentlastenden Regelungen. Ich möchte mich jedoch auf die zentralen Punkte der Diskussion beschränken, insbesondere auf das Ehegattensplitting, und die Kombination von Kindergeld und Kinderfreibetrag im sogenannten dualen System.Es gibt — das ist kein Geheimnis — durch den Kinderfreibetrag einen völlig unbegründeten Steuervorteil für Besserverdienende und für Ehepaare. Da gibt es Berechnungen, die, so denke ich, auch von der CDU/CSU nicht angezweifelt werden. Einkommensschwächere Personen sowie Personen, die über Transfereinkommen verfügen, sind in der Regel in der Situation, daß sie nicht vom Kinderfreibetrag profitieren, sondern nur die Möglichkeit haben, den Kindergeldzuschlag in Höhe von 65 DM zu bekommen, der diesen Mißstand allerdings unter dem Strich nicht behebt.Diese Instrumente, die in den letzten Jahren zum sogenannten Ausgleich für Familien mit Kindern geschaffen wurden, haben eine wachsende soziale Ausgrenzung von Alleinerziehenden, aber auch von Familien mit mehreren Kindern nicht verhindern können und dazu geführt, daß das Leben mit Kindern in der Bundesrepublik Deutschland für viele Menschen leider zu einem Armutsrisiko geworden ist. Wir kennen die gestiegenen Zahlen der Sozialhilfeempfänger, wir kennen auch die Zahlen der Armutsberichte, die immer wieder von verschiedenen Verbänden vorgelegt werden und im speziellen die Situation der Kinder, die zunehmend mit in die Sozialhilfe hineinrutschen, beklagen.Wir sind der Auffassung, daß das Existenzminimum der Kinder durch das bisherige System nicht gesichert ist. Hinzu kommt die für uns sozial vollkommen unverständliche Tatsache, daß Besserverdienende gegenüber den Durchschnittsfamilien und Geringverdienern mit Kindern weiter bevorzugt werden sollen und damit der Stellenwert der Kinder in der Familie finanztechnisch unterschiedlich bemessen wird. Das heißt, manche Kinder sind dann eben leider mehr wert als andere. Das kann und darf nicht sein.Dies kann in der Konsequenz nur bedeuten, daß der Kinderfreibetrag abgeschafft werden muß und durch ein Kindergeld ersetzt wird, das erstens den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichtes nach Steuerfreistellung des Existenzminimums entspricht und das zweitens — auch das ist ein ganz zentraler Punkt — den Ungerechtigkeiten des Kinderfreibetrages ein Ende setzt. Unter diesem Gesichtspunkt, Frau Ministerin Nolte, sind wir zu der Überzeugung gekommen, daß das Grundkindergeld pro Kind 300 DM betragen muß. Denn wenn man auf der einen Seite den Freibetrag abschafft und dies auf der anderen Seite über das Kindergeld kompensieren will, muß das Grundkindergeld in dieser Höhe angelegt sein, da wir nur so dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes nach Freistellung des Existenzminimums entsprechen können.Zusätzlich wollen wir, daß für einkommensschwächere Familien mit Kindern bis zu 250 DM gezahlt werden können. Wenn man dies insgesamt umrechnet, entspricht dies bei einem Spitzensteuersatz von 53 % einem fiktiven Kinderfreibetrag — ich sage dies aus CDU/CSU- und F.D.P.-Sicht — von 7 200 DM. Das heißt, wir entsprechen dem Bundesverfassungsgerichtsurteil auch im Bereich des Spitzensteuersatzes. Dies ist notwendig und auch begründet.Von den statistischen Ämtern bis hin zu den kirchlichen Verbänden rechnen Experten und Expertinnen immer wieder vor, daß der tatsächliche Aufwand für ein Kind im Monat bei 830 DM liegt. Ich weiß, daß es wünschenswert ist, dies umsetzen zu können. Ich weiß aber genauso, Herr Staatssekretär Faltlhauser, daß die Finanzierungsspielräume in diesem Bereich sehr eng sind und daß die Steuer- und Abgabenlast der Bürger und der Bürgerinnen die Schmerzgrenze bereits weit
Metadaten/Kopzeile:
732 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Christine Scheelüberschritten hat. Es stellt sich natürlich auch für uns die Frage: Woher nehmen?Ich will hier auch ganz ehrlich sagen, daß diese Kosten wahrscheinlich nicht insgesamt aufkommensneutral erwirtschaftet werden können. Das muß man zugestehen. Ich sehe aber auf der anderen Seite auch die Möglichkeit, da die Bundesregierung der Ansicht ist, daß sich die Solidargemeinschaft ihre Kinder etwas kosten lassen muß, daß man auch einen anderen Weg der Kompensierung finden kann, der bei bestimmten steuerlichen Möglichkeiten ansetzen kann. Wenn ich dann höre, daß bei der CDU und CSU im familienpolitischen Bereich die Zahl von 35 Milliarden DM kursiert, muß ich sagen, daß wir mit unserem grünen Modell um einiges tiefer liegen. Trotzdem lassen sich mit unserem Vorschlag Finanzierungspotentiale eröffnen, wenn Sie endlich bereit wären, die sogenannte heilige Kuh Ehegattensplitting endlich vom Eis zu nehmen.Wir haben das Ziel vor Augen, daß wir in unserer Gesellschaft alle Lebensformen gesellschaftlich und auch steuerlich mittelfristig gleichstellen. Es ist nicht so, daß wir etwas gegen die Ehe haben. Wir müssen als Individuum, Mann oder Frau, entscheiden können, welche Lebensform wir wählen. Jeder soll nach seiner Fasson glücklich werden, ob verheiratet oder nicht. Unser Steuersystem darf aber nicht eine Lebensform gegenüber einer anderen privilegieren, wenn auch noch Kinder im Spiel sind.Wir haben — das steht fest — 2 Millionen alleinerziehende Frauen und Männer in Deutschland, die beim bestehenden Steuersystem benachteiligt sind. Wir haben 1,5 Millionen nichteheliche Lebensgemeinschaften. Trotzdem halten Sie daran fest, die Ehe zu begünstigen. Ich denke, das ist der heutigen Zeit schlicht nicht mehr angemessen.Was mich auch wundert, ist, daß selbst unser Bundesfinanzminister, der immer Einsparungen vornehmen will, die Steuermindereinnahmen, die wir über das Ehegattensplitting haben, mit 36 Milliarden DM im Jahr beziffert. Er weiß sehr wohl, daß es sehr viele Familien gibt, die keine Kinder haben und vom Splitting hervorragend profitieren. Sie kennen die Anzeigen in den Tageszeitungen: Zahnarzt sucht junge 23jährige usw., weil er wegen der Steuer heiraten will. So ist es nun einmal, wenn man sich die Zeitungen anschaut. Ich denke, das kann nicht der Sinn der Sache sein.
— Natürlich macht er das wegen der Steuer. Es gibt auf dem Stellenmarkt auch andere Anzeigen, aber es gibt bestimmt einen großen Anteil, bei dem der Absetzungsgedanke eine Rolle spielt.
Wir wissen, daß sich auch enorme Einsparpotentiale ergeben können, wenn wir das duale System abschaffen. Frau Nolte hat das angesprochen und gesagt, dies würde Mehrkosten bedeuten. Es wurde durch die Zwischenfrage der SPD erkennbar, daß es in diesem Bereich noch kein Gutachten gibt. Ich gehe davon aus, daß durch die Abschaffung des mehrfachen Verwaltungsaufwandes, den wir mit dem dualen System haben, Einsparungen vorgenommen werden können. Wir stimmen hier auch mit SPD und F.D.P. überein, die ebenfalls die Berechnung und Auszahlung des Kindergeldes bei den Finanzämtern ansiedeln möchten.Frau Ministerin Nolte, Herr Thiele hat ja bereits eine Zahl in den Raum geworfen. Er hat vorgerechnet, daß 650 Millionen DM an Verwaltungskosten im Jahr eingespart werden könnten. Vielleicht könnten Sie sich einmal einigen. Ansonsten müßten wir ein Gutachten auf den Weg geben; das unterstützen wir sehr gerne. Unter dem Strich wird es, denke ich, auf alle Fälle eine Summe ergeben, bei der klar ist, daß es Einsparungen geben wird. Das genau ist es, was auch im Zusammenhang mit der Verwaltungsreform erreicht werden soll.Auf alle Fälle: Schaffen Sie ein Kindergeld, das das Existenzminimum sicherstellt! Das ist Ihr Auftrag. Schaffen Sie ein Kindergeld, das das Transfersystem billiger und transparenter macht! Sehen Sie zu, daß die heilige Kuh Ehegattensplitting vom Eis kommt, damit steuerliche Gerechtigkeit erreicht wird! Denken Sie bitte daran, daß nicht die Ehe bei allem im Vordergrund stehen darf, sondern diejenigen, auf die wir unsere Zukunft stützen, und das sind die Kinder.
Ich gebe nun das Wort an Frau Heidemarie Lüth.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine gewisse Kontinuität kann ich den von der CDU/CSU geführten Regierungen auch bei diesem Thema wahrhaft nicht absprechen. Frau Ministerin, Ihre Botschaft hörte ich wohl. Ich hoffe aber, daß ich mich ein bißchen verhört habe und Sie nicht meinten, Sie würden es prüfen, um letztlich alles beim alten zu lassen; denn eigentlich veränderte sich die Position der verschiedenen CDU/ CSU-Regierungen im Bereich der Erklärungen zur Familienpolitik und auch der praktischen Politik immer nur in Nuancen, was das Wiederholen nahezu Bleichlautender Formulierungen zur Folge hatte.So hat bereits Konrad Adenauer am 20. Oktober 1953, als das Ministerium für Familie ins Leben gerufen wurde, gesagt: Sie, die Bundesregierung, wird alles tun, um die Familie zu fördern. Als vordringliche Aufgaben wurden die Sicherung des gerechten Lohnes, der die materielle Existenz der Familien gewährleistet, sowie eine stärkere Berücksichtigung der Familie, insbesondere größerer Familien, in der Steuer-, Sozial- und Wirtschaftspolitik benannt.Vollmundiger geht es wieder, obwohl da schon das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes existierte, in der Regierungserklärung von 1991 zu, in der Bundeskanzler Kohl formulierte: Es bleibt unsere vornehmste Pflicht, die Familie zu stärken.Wir wollen die Familien noch stärker als bishersteuerlich entlasten; ihre Förderung durch Kindergeld wollen wir ausbauen ... Die Kinderfrei-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 733
Heidemarie Lüthbeträge werden wir schrittweise so erhöhen, daß das Existenzminimum für Familien mit Kindern nicht mehr besteuert wird. Das Kindergeld werden wir so ausgestalten, daß es nicht allein der Herstellung von Steuergerechtigkeit dient, sondern darüber hinaus Familien um so stärker fördert, je niedriger ihr Einkommen und je höher die Kinderzahl ist.Man muß schon sagen: Geraume Zeit braucht man in diesem Hohen Haus, um zu wirklichen Änderungen zu kommen.Mit der Koalitionsvereinbarung wird mit der wohlklingenden These „Deshalb werden wir den Familienlastenausgleich zu einem Familienleistungsausgleich weiterentwickeln" ein vorläufiger Höhepunkt erreicht. Dann folgen die eigentlich schon sattsam bekannten Aussagen über die Anhebung der Freibeträge, die Orientierung der Leistungen an der Anzahl der Kinder usw. All dies wird eigentlich, wie auch im Jahre 1991, als notwendige Entwicklungsrichtung proklamiert; einiges wird nun für 1996 in Aussicht gestellt. Aber der Handlungsbedarf ist wohl sicherlich weit dringlicher.Praktische Schritte wurden bisher nicht gegangen, obgleich konkrete Vorschläge von der SPD dazu schon in der vergangenen Legislaturperiode vorlagen. Im Gegenteil, diese Fragen, Vorstellungen und Lösungsansätze wurden seitens der Koalition immer wieder auf Rechenaufgaben reduziert.Was allerdings deutlich geworden ist und zu den Erfahrungen von vielen Familien, Alleinerziehenden, Kindern und Jugendlichen selbst gehört, ist der Widerspruch zwischen Erklärungen und Ankündigungen von familien- und kinderfreundlicher Politik und den tatsächlichen Lebensverhältnissen, vor allem der Normal- und Wenigverdienenden, von Familien mit Kindern unterhalb einer bestimmten Einkommensgrenze, von Alleinerziehenden und von all jenen, die heute von Arbeitslosigkeit, Kürzung von Sozialleistungen und dergleichen betroffen sind, also von denen, die heute schon die Aussagen des Bundeskanzlers vom Umbau des Sozialstaates als Abbau erleben können. Es ist wahrlich Zeit, von einer Diskussion über soziale Gerechtigkeit für Familien mit Kindern zu konkreten Schritten zu kommen.
Weiter heißt es in der Regierungserklärung: „Ohne Kinder verarmt eine Gesellschaft." In den neuen Bundesländern ist die Gesellschaft dann wohl dabei, an den Bettelstab zu kommen, sind doch hier die Geburtenraten auf das Niveau des Kriegsjahres 1944 zurückgefallen. Dabei ist der Kinderwunsch ein Wert geblieben, wird jedoch in seiner Verwirklichung von vielen Frauen und Männern zurückgestellt, weil existentielle Gegenwarts- und Zukunftssorgen es ihnen nicht leichter machen, Kinderwünsche Realität werden zu lassen.
Kinder werden gerade in den neuen Bundesländern — das wurde eigentlich über alle Fraktionen hinweg schon mehrfach betont — als Risiko für Wohlstand und für einen Arbeitsplatz empfunden. Daraus ergibt sich in der Finanzpolitik, aber auch in anderen Bereichen unbedingter Handlungsbedarf. Zur Zeit ist es doch so: Nach den gegenwärtigen Regelungen darf sich der Staat über das Steuerrecht in Lebensformen einmischen. Durch das Ehegatten-Splitting wird sichergestellt, daß die Tätigkeit eines Ehegatten im Haushalt steuerlich einer außerhäuslichen Berufstätigkeit gleichgestellt wird. Über die Vorteile des EhegattenSplittings wurde hier schon ausreichend gesprochen. Ein moderner Familienlastenausgleich, der diese Bezeichnung auch verdient und sowohl modernen Auffassungen von Ehe und Familie als auch aktuellen familienpolitischen Ansprüchen genügt, muß die objektiven Belastungen auf diesem Gebiet tatsächlich weitestgehend ausgleichen, und dies sicherlich sowohl steuerrechtlich als auch mit einer Kindergeldregelung.Die Abgeordnetengruppe der PDS unterstützt die Forderung der Fraktion der SPD nach Abschaffung der Kinderfreibeträge und Einführung eines einkommensunabhängigen Kindergeldes, meint aber, daß das nur der erste Schritt zur Abschaffung des dualen Systems sein kann. Auch die von der SPD-Fraktion vorgeschlagene Finanzamtslösung zur Zahlung des Kindergeldes könnte einen Schritt zur Entbürokratisierung und ein Schritt zu dem darstellen, was die Regierungskoalition „schlanker Staat" nennt, der nicht nur bundeshaushaltsfreundlich, sondern auch wirklich bürgerfreundlich ist. Das wäre verfassungsrechtlich ebenso unbedenklich wie die Vorschläge der SPD zur Einführung eines Familien-Splittings, das schon mehrfach angesprochen wurde.Tatsächliche Politik für Kinder und Jugendliche gestalten, das verlangt sicherlich eine völlige Neuorientierung in der Familienpolitik, nach der das Kind als eigenständiges Rechtssubjekt mit eigenen Forderungen an das soziale Milieu der Gesellschaft anzuerkennen und ihm eine soziale Grundsicherung, unabhängig von der sozialen Umgebung, in die Kinder hineingeboren werden, zu garantieren ist.Danke.
Das war die erste Rede der Frau Kollegin Lüth in diesem Hause. Ich möchte auch Ihnen herzlich gratulieren.
Ich erteile nun Frau Professor Gisela Frick das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Reihenfolge sind wir leider etwas außer Takt geraten.
Aber ich nehme an, daß die Gefahr einer Verwechslung zwischen dem Beitrag der Vorrednerin und dem Beitrag der F.D.P. nicht gegeben ist.
Metadaten/Kopzeile:
734 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Gisela Frick„Für einen gerechten, verfassungsgemäßen und unbürokratischen Familienleistungsausgleich": So betitelt die SPD ihren Vorschlag. Dieser ist jedoch weder gerecht noch verfassungsgemäß, und ob er unbürokratisch ist, ist zumindest sehr fraglich.
Ich will Ihnen auch sagen, warum.
Die SPD und auch das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen den Kinderfreibetrag abschaffen und durch ein einheitliches Kindergeld von 250 bzw. 300 DM ersetzen
— Moment, dazu komme ich —, mit der Begründung,der Kinderfreibetrag sei ungerecht, weil die steuerliche Entlastung mit steigendem Einkommen wachse.
— Ja, tatsächlich ist es so, wie Sie in Ihrem Antrag behaupten.Die monatliche Entlastung durch den Kinderfreibetrag für einen Spitzenverdiener beträgt zur Zeit nämlich — da muß ich Sie sogar korrigieren, weil mittlerweile ja der Solidaritätszuschlag dazugekommen ist — nicht 181 DM, sondern sogar noch 14 DM mehr. Für einen Geringverdiener sind es tatsächlich, wie Sie behaupten, 65 DM. Auch hier kommt der Solidaritätszuschlag in Höhe von 5 DM hinzu. Auch daran sehen Sie, wie gerecht der Solidaritätszuschlag ist, wie unterschiedlich er sich bei unterschiedlich hohen Einkommen auswirkt.
— Warten Sie doch bitte ab! Im übrigen ist es meine erste Rede, und auch ich habe, glaube ich, verdient, daß man mich zunächst einmal vortragen läßt.
Sie behaupten, es sei ungerecht. Ich gehe jetzt der Frage weiter nach: Ist es wirklich ungerecht? Diese unterschiedliche Entlastung ist doch nur ein Reflex unseres progressiven Einkommensteuertarifs und nichts anderes als die Folge davon, daß ein Spitzenverdiener bei 100 DM zu versteuerndem Einkommen eine Grenzbelastung von 57 DM hat, während ein Geringverdiener 100 DM mit knapp über 20 DM versteuern muß. Das sind jetzt schon die Zahlen für 1995. Finden Sie das ungerecht? Wenn ja, dann sollten Sie sich gegen den progressiven Tarif in der Einkommensteuer aussprechen. Dazu habe ich von Ihnen noch nichts gehört.
Oder haben Sie sich schon einmal dagegen gewandt, daß die Anschaffung beispielsweise eines Fachbuchs als Werbungskosten oder Betriebsausgaben beim geringverdienenden Berufsanfänger eine wesentlich geringere steuerliche Entlastung bringt als beim erfolgreichen Spitzenverdiener?
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie versuchen doch immer wieder, gerade im steuerlichen Bereich die Mitglieder der Koalition zu belehren. Vielleicht sehen Sie es mir als neuer Abgeordneten, die im vorparlamentarischen Leben als Professorin Steuerrecht und Verfassungsrecht gelehrt hat, nach, wenn ich das auch einmal bei Ihnen versuche, obwohl ich nicht allzuviel Hoffnung auf Erfolg habe.
Es kommt jetzt also ein kleines steuerpolitisches Exposé.Wir unterscheiden im Steuerrecht Fiskalzwecknormen und Sozialzwecknormen. Die Fiskalzwecknormen dienen dem eigentlichen Zweck der Steuer, nämlich Einnahmen für den Staat zu erzielen; die Sozialzwecknormen dienen anderen, außersteuerlichen Zwecken.
Im Bereich der Fiskalzwecknormen geht es um Belastungsgerechtigkeit, d. h. um die Frage: Was darf der Staat dem Bürger im Hinblick auf seine individuelle Leistungsfähigkeit als Steuer abverlangen? Im Bereich der Sozialzwecknormen geht es um Leistungsgerechtigkeit, d. h. um die Frage: Was muß oder will der Staat dem Bürger im Hinblick auf dessen individuelle Bedürftigkeit als Transferleistung zukommen lassen?Bei der Berücksichtigung von Kindesunterhalt im Steuerrecht bewegen wir uns im Bereich der Fiskalzwecknormen und damit im Bereich der Belastungsgerechtigkeit und gerade nicht im Bereich der Leistungsgerechtigkeit. Damit bekommt auch das von Ihnen ständig wiederholte Argument, dem Staat müsse jedes Kind gleich viel wert sein, meine ausdrückliche Zustimmung. Wir wollen doch keine unterschiedlichen Kinderfreibeträge für Spitzenverdiener und Geringverdiener.
Jedes Kind ist dem Staat gleich viel wert,
allerdings beim Abzug von der Bemessungsgrundlage. Die steuerliche Entlastungswirkung ist in einem
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 735
Gisela Frickprogressiven Einkommensteuersystem eben auch progressiv, und das ist genau richtig.
Meine Damen und Herren von der Opposition, hören Sie endlich auf, Fiskal- und Sozialzwecknormen zu vermischen! Hören Sie auf, das eigene schwer erarbeitete Einkommen, das dem Bürger nach Abzug der Steuerbelastung verbleibt, als staatliche Subvention zu betrachten!
— Schade!
Sonst sind Sie bald Wortführer einer wirklich umwälzenden Steuerreform, die etwa so aussehen dürfte: Wir geben unser ganzes Geld beim Finanzamt ab und erhalten dafür Essensmarken.
Wir, die F.D.P., haben ein anderes Menschenbild, und glücklicherweise ist das auch das Menschenbild unserer Verfassung, nämlich eine eigenverantwortliche, unabhängige Persönlichkeit, die ihr Einkommen zunächst für sich und ihre Familie erzielt und danach erst für die allgemeinen Aufgaben des Staates.
Damit komme ich zum nächsten Gesichtspunkt. Sie behaupten, Ihre Vorschläge seien verfassungsgemäß, und scheuen sich nicht, als Beleg dafür die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1990 wörtlich zu zitieren, soweit sie in Ihr Konzept paßt. Wir stimmen darin überein, daß das Existenzminimum eines Kindes steuerfrei bleiben muß. Zur Höhe führen Sie aus, das Existenzminimum eines Kindes liege bei 613 DM pro Monat, also bei 7 356 DM im Jahr. Auch hier können wir uns noch verständigen, zumal die Zahlen auf Angaben der Bundesregierung beruhen, denen zu mißtrauen ich natürlich keinen Anlaß habe.Wenn Sie dann aber behaupten, mit Ihrem Vorschlag eines einheitlichen Kindergeldes die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts erfüllen zu können, muß ich dem entschieden widersprechen. Zwar zitieren Sie richtig die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, nach der es dem Gesetzgeber freistehe, die kindesbedingte Minderung entweder im Steuerrecht — ich mache es jetzt kurz; wir alle kennen das Zitat — oder im Sozialrecht oder in einer Kombination von beidem zu berücksichtigen. Aber Sie haben versäumt weiterzulesen. Denn selbstverständlich ist es bei dieser grundsätzlichen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers nicht gleichgültig, wie hoch die jeweiligen Beträge angesetzt werden.Schon zwei Seiten weiter können Sie dazu lesen — ich helfe da mit einem wörtlichen Zitat nach —:Da die Minderung der Leistungsfähigkeit im verfassungsrechtlich gebotenen Umfang durch einen Abzug der Aufwendungen von der steuerlichen Bemessungsgrundlage berücksichtigt werden muß, wirkt sich die Entlastung in einem Einkommensteuersystem mit progressivem Tarif ebenfalls progressiv aus.
Mit der Ersetzung— jetzt kommt nämlich genau Ihr Modell —progressiv entlastender Kinderfreibeträge durch einen einheitlichen, von der Steuerschuld abziehbaren Entlastungsbetrag — oder durch das einheitliche Kindergeld — wird die Besteuerung im Vergleich zu Kinderlosen nicht nur linear, sondern auch hinsichtlich der Steuerprogression verschärft, soweit durch den Entlastungsbetrag die Besteuerung des Existenzminimums des Kindes nicht ausgeglichen wird.Das bedeutet im Klartext: Erstens. Der Kinderfreibetrag als Abzugsbetrag von der steuerlichen Bemessungsgrundlage mit progressiv entlastender Wirkung ist der verfassungsrechtlich gebotene und auch direkte Weg.Zweitens. Ein Kindergeld statt dessen wäre theoretisch möglich, wenn es in seiner Höhe so bemessen wäre, daß eine dem Kinderfreibetrag vergleichbare Entlastung einträte.Daraus folgt drittens: Wenn Sie an einem einheitlichen Kindergeld festhalten, reichen die von Ihnen vorgeschlagenen 250 DM nicht aus, da damit nur für Steuerpflichtige bis zu einem Grenzsteuersatz von ca. 40 %, wie Sie in Ihrem Antrag selber ausführen, das steuerfreie Existenzminimum erreicht wird.
Auch Sie sollten zur Kenntnis nehmen, daß wir mittlerweile Eltern mit einem Grenzsteuersatz von bis zu 57 % haben. Für diese müßte das Kindergeld 350 DM betragen.
Ein einheitliches Kindergeld von 350 DM für alle ist erstens jedoch derzeit nicht zu finanzieren.Zweitens — das ist noch wichtiger —: Es entspricht nicht unserem Menschbild, dem Bürger erst in Form von Steuern in die Tasche zu greifen, um ihm dann die eigentlich verfassungsgemäß gebotene steuerliche Entlastung in Form einer staatlichen Transferleistung auf Antrag zurückzugewähren.
Jürgen Borchert, der bekannte Familienexperte, hat es drastischer formuliert:
Metadaten/Kopzeile:
736 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Gisela FrickSie holen den Familien die Sau vom Hof und geben ihnen ein paar Koteletts zurück — und das auch nur auf Antrag!
— Ich weiß ja schon, was da kommt. Nun werden Sie einwenden, das träfe doch nur einen relativ kleinen Teil von Spitzenverdienern und sei deshalb zu vernachlässigen. Aber auch hier möchte ich Sie auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, nämlich auf Seite 659, verweisen, wo es heißt:Im Rahmen dieser Prüfung muß zwischen „vertikaler" und „horizontaler" Steuergerechtigkeit unterschieden werden.... Im Verhältnis zu kinderlosen Steuerpflichtigen gleicher Einkommensstufe, also auf horizontaler Ebene, kann die steuerliche Mehrbelastung von Steuerpflichtigen mit unterhaltsbedürftigen Kindern durch den eingangs genannten Umstand nicht gerechtfertigt werden. Andernfalls wäre, sofern nur das Einkommen hoch genug ist, jede steuerliche Ungleichbehandlung auf horizontaler Ebene hinzunehmen und das Gebot der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit außer Kraft gesetzt.Wir wollen das Gebot der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit nicht außer Kraft setzen und werden uns weiterhin dafür einsetzen, daß der bestehende Kinderleistungsausgleich systemgerecht verbessert wird. Das bedeutet, die Anhebung des Kinderfreibetrags auf das steuerliche Existenzminimum hat für uns als gerechte und verfassungsgemäße Lösung Priorität. Der Einführung eines ungerechten und verfassungswidrigen einheitlichen Kindergeldes erteilen wir eine klare Absage.Ich danke Ihnen.
Frau Kollegin Professor Frick, ich möchte auch Ihnen im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede gratulieren.
Ich erteile nun zu einer Kurzintervention Frau Kollegin von Renesse das Wort.
Frau Kollegin, auch ich möchte mich sehr herzlich für dieses ungeheuer lehrreiche Referat bedanken,
lehrreich insbesondere wegen der scharfen Unterscheidung nicht nur in systematischer, sondern auch in inhaltlich politischer Hinsicht zwischen der fiskalischen und der sozialen Betrachtungsweise von Steuern.
Ich als Jurstin habe gelernt, daß nach der Verfassung unser Staat in allen Bezügen sowohl ein gerechter — das heißt, dem Gebot der Gleichbehandlung, in Ihrem Sprachgebrauch der horizontalen Steuergerechtigkeit, folgender — wie ein sozialer zu sein hat und daß beides eine Schnittlinie ergeben muß.
Unser Modell hat durchaus den Gesichtspunkt der horizontalen Steuergerechtigkeit. Sie kennen sehr gut die Argumente, die dagegen eingewandt werden — wir haben sie vorhin von Frau Nolte gehört —: Wieso wollt ihr dem Zahnarzt mit fünf Kindern überhaupt noch Kindergeld geben? Darin sind wir uns einig: Horizontale Steuergerechtigkeit können wir nicht in den Orkus versenken. Das tun wir auch nicht.
Gleichzeitig haben wir den Unterschied zwischen dem Zahnarzt und dem Arbeitslosen, der halbtags erwerbstätigen Verkäuferin, der Alleinerziehenden und dem Hilfsarbeiter mit drei Kindern als Schnittlinie berücksichtigt. Wir werden sicherlich Gelegenheit haben, darüber noch lange zu sprechen.
Ich möchte Ihnen aber insbesondere empfehlen, daß Sie Ihre Ausführungen dem Finanzminister Waigel geben. Denn der Finanzminister macht mit dem dualen System, das Sie im Augenblick mittragen, hinsichtlich des Kindergeldanteils die gleiche Rechnung wie wir und tut dies unbeschadet Ihrer sehr lehrreichen Ausführungen offensichtlich mit einem Effekt, den Sie für grob verfassungswidrig halten müssen. Ich bitte darum, auch ihm die entsprechende Belehrung zuteil werden zu lassen.
Frau Professor Frick, Sie haben die Möglichkeit, darauf zu erwidern, wenn Sie es wollen.
Das muß nicht sein. Aus meiner Sicht ergibt es sich aber.
Das Waigel-Modell rechnet zwar das Kindergeld entsprechend um, aber es behält den Kinderfreibetrag als die eigentliche Meßlatte bei. Ich glaube, wir werden die Diskussion lieber im Finanzausschuß weiterführen als hier im Plenum. Es war, glaube ich, soweit klar.
Ich erteile nun dem Kollegen Dr. Karl Fell das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag war überflüssig, denn der Vorschlag der Regierung — das wußten Sie auch — kommt. Sie wissen, daß im Steuergesetz 1996 ein ausführlicher Vorschlag zur Neuregelung des Familienleistungsausgleichs notwendig ist.
— Ich habe Ihnen gesagt, daß er kommt, Herr Poß. Wie er inhaltlich aussieht, das werden wir, Sie genauso wie ich, dann erfahren, wenn er auf dem Tisch liegt. Wir werden uns dann damit auseinanderzusetzen haben. Heute haben weder Sie noch irgend jemand von uns eine Patentlösung zur Hand, um das ganze Problem vom Tisch zu bringen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 737
Dr. Karl H. FellNötig ist vielmehr, daß wir von unseren unterschiedlichen Standorten und Überlegungen her, wenn der Vorschlag auf dem Tisch liegt, über eine Neuregelung nachdenken und diskutieren, die den Vorgaben des Verfassungsgerichts gerecht wird.Zu Ihrem Vorschlag habe ich Ihnen bereits am 23. Juni des letzten Jahres gesagt: Der Vorschlag ist ungerecht, er ist nicht verfassungskonform, und er ist irreführend. Ungerecht und nicht verfassungskonform ist der Vorschlag, weil Sie die Vergleichsebene, um die es eigentlich geht, vernachlässigen. Frau Kollegin Frick hat das gerade schon dargestellt.Es geht bei gleichhohem Einkommen um den Vergleich zwischen dem, der keine Kinder hat, und dem, der Kinder hat. Ihr Vorschlag bedeutet, daß in beiden Fällen die gleiche Steuertabelle an das Einkommen angelegt wird. Im einen Fall wird daraus eine zu hohe Steuerschuld errechnet, und von dieser Steuerschuld lassen Sie dann Kindergeld nach. Das geschieht mit der Folge, daß dadurch, daß Sie den Betreffenden vorher belasten, jeder, der auch nur eine Mark Steuern zahlt, sein Kindergeld selber mit- oder vorfinanziert. Ich habe Ihnen schon damals gesagt, wie weit das reicht.Der Verfassungsrichter Professor Kirchhof, der der Berichterstatter für die für uns maßgeblichen Urteile war, hat bei einem Vortrag beim Steuerberaterkongreß in Dresden am 28. November des vergangenen Jahres noch einmal auf den grundlegenden Sachverhalt hingewiesen, daß im Rahmen einer progressiven Einkommensbesteuerung der Abzug des existenznotwendigen Bedarfs von der Bemessungsgrundlage erforderlich ist.Diesen Grundsatz verletzen Sie, denn die gesetzlich gewollte Progression rechtfertigt sich nur als Belastung des verfügbaren Einkommens, also der Einkommensteile, die nicht notwendigerweise für das Existenzminimum für einen selber und nicht notwendigerweise für das Großziehen von Kindern gefordert sind.Wir haben beim Existenzminimum Spielräume, weil jeder das Einkommen zur Verfügung hat. Deshalb, so Kirchhof, gilt für den existenznotwendigen Bedarf der Kinder, den nur die Eltern aus ihrem Einkommen zu befriedigen haben, während die Kinderlosen insoweit uneingeschränkt über ihr Einkommen verfügen können, daß eine einkommensteuerliche Belastung des den Kindern zustehenden Bedarfs von vornherein nicht gerechtfertigt ist. Hier sei allein der Abzug von der Bemessungsgrundlage gleichheitsgerecht. Das, Frau von Renesse, ist der Kern, der dahintersteckt. Hier muß die Gleichheit erst einmal im horizontalen steuerlichen Vergleich hergestellt werden.Wir kommen zweitens, meine Damen und Herren, zu der Frage des sozialen Transfers. Ich bin mit Ihnen der Meinung, daß wir uns nicht nur über diejenigen unterhalten dürfen, die den Steuerfreibetrag ganz oder zum wesentlichen Teil nutzen können, sondern daß wir uns auch darüber unterhalten müssen, wie wir es schaffen, daß in der materiellen Wirkung, in der Wirkung verfügbarer Einkünfte auch die anderen Familien — die Eltern, die Alleinerziehenden usw. — über den notwendigen Einkommensbetrag verfügen.Das ist genau die Gegenposition. Bei der Steuer greift der Staat dem Bürger in die Tasche. Da gibt es eine Grenze. Er darf nicht hineingreifen, wo existenznotwendiges Einkommen besteuert würde. Da gibt es nichts. Bei den sozialpolitischen Transfers ist es umgekehrt. Hier will der Bürger vom Staat etwas haben, weil er gar nicht soviel Einkommen zur Verfügung hat, daß er sein Existenzminimum erreicht. Hier sagt Kirchhoff genauso, wie wir das immer gesagt haben: Es muß darüber nachgedacht werden, welcher Betrag denn zur Verfügung zu stellen ist. Genau das ist der Punkt, meine Damen und Herren.
Ich habe den Eindruck, wir haben über zwei Fragen zu streiten. Die eine Frage heißt: Welcher Betrag muß der Höhe nach als notwendiger Aufwand für das Großziehen von Kindern denen, die die Kinder haben und sie großziehen, zur Verfügung gestellt werden?
Das ist der erste Streitpunkt, den wir haben. Dazu haben wir unterschiedliche Überlegungen.Zum zweiten, vielleicht sogar wichtigeren Punkt gibt es Ihren Vorschlag. Es ist neidlos anzuerkennen: Ihr Vorschlag ist populärer, leichter verständlich. Deshalb geht er den Leuten erst einmal leichter ein, weil sie gar nicht merken, daß ihnen vorher aus der Tasche gezogen wird, was sie nachher zurückbekommen. Der zweite Punkt also, über den wir zu reden haben, ist: In welchem transparenten Verfahren können wir für jeden verständlich die Vorgabe des Verfassungsgerichts — notwendiger Kinderunterhalt — erfüllen und organisieren, daß wir den Wirrwarr, den wir teilweise in bezug auf unterschiedliche Zuständigkeiten haben, überwinden?
— Herr Poß, darüber können wir nachdenken und gemeinsam reden.
Nur ist das nicht mit Ihrem einheitlichen Kindergeld erreichbar; denn — ich sage es noch einmal — Sie veranlagen zuerst, als wären keine Kinder da. Der Abzug von der Steuerschuld erfolgt von einer zu hohen Steuerberechnung. Das ist der Kern der Aussage. Darauf fehlt Ihre Antwort.
Ich habe eine Bitte. Wir haben in dieser Woche im Finanzausschuß schon darüber gesprochen. Ich bin sehr dafür, daß wir uns auch mit der Grundidee des Gutachtens der Bareis-Kommission beschäftigen, die vorschlägt, vielleicht sogar eine Option zu machen. Wir sollten uns nach der Regierungsvorlage, wenn wir das Steuergesetz 1996 haben, wirklich sine ira et studio
— Sie können es offensichtlich nicht! — und ohne jede ideologische Festlegung über Lösungen unterhalten und hoffentlich verständigen, die den Familien in der Sache helfen.
Metadaten/Kopzeile:
738 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Dr. Karl H. FellDenn das ist doch wohl klar: Die Familien haben nichts davon, wenn wir hier nur Systemstreitereien diskutieren.
Die Familien haben nur dann etwas davon, wenn es eine wirkliche, eine effektive Verbesserung gibt.
Das war das Angebot der Frau Ministerin Nolte. Das ist das Angebot, das wir als Koalition Ihnen machen, mit uns unter Berücksichtigung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts über solche effektiven Lösungen nachzudenken und uns darauf zu verständigen.
Frau Kollegin Christel Hanewinckel, jetzt haben Sie das Wort.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es ist geradezu abenteuerlich, was ich hier heute erlebe und höre, und zwar abenteuerlich, wenn ich mich an das erinnere, was wir die letzten vier Jahre — so lange gehöre ich diesem Hohen Hause an — hier immer wieder diskutiert haben.
Ich schätze Sie sehr, Herr Fell. Aber ich finde es trotzdem abenteuerlich, wenn Sie jetzt hier sagen: Wir wollen doch gemeinsam miteinander reden. Und was wird gemacht? Es wird jetzt über unseren Antrag diskutiert — das ist auch in Ordnung; dazu haben wir ihn eingebracht —: nur, wo bleibt denn bitte schön die Vorlage der Regierung? Wir werden von Monat zu Monat, von Debatte zu Debatte vertröstet. Sie haben immer die Vorlagen von uns, können sich darüber alles mögliche ausdenken, schimpfen und Vorlesungen halten.
Unsere Geduld hält vielleicht noch eine Weile an — wir werden dafür auch relativ gut bezahlt —, aber ich denke, die Geduld der Familien, der Kinder und Jugendlichen in diesem Lande ist allmählich am Ende.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fell?
Ja, bitte. Vizepräsident Hans Klein: Bitte, Herr Kollege.
Frau Kollegin Hanewinckel, ist Ihnen bekannt, daß das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber auf Grund der Entscheidungen, über die wir eben in diesem Zusammenhang schon diskutiert haben, aufgegeben hat, mit Wirkung zum 1. Januar 1996 eine Neuregelung zu treffen, und daß wir alle angekündigt haben, diese Lösung mit dem Steuergesetz 1996 zu präsentieren?
Das ist mir sehr wohl bekannt, Herr Fell. Nur, man muß es nicht so weit treiben, daß wir die Gesetzgebungsverfahren bis auf den letzten Drücker vor uns herschieben. — Das ist das eine.Das zweite: Es gab in der Vergangenheit genug Beispiele dafür — ich werde Ihnen noch einige nennen —, daß Familien verfassungswidrig besteuert wurden.In der Tat, meine Damen und Herren, die Lasten, die die Familien in diesem Lande zu tragen haben, sind wirklich erheblich. Durch Einsparungen in den öffentlichen Haushalten dokumentieren wir immer wieder, daß es damit noch weitergehen wird.Dabei sind Entlastung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Existenzsicherung von Kindern sowie Schutz und Förderung der Familie nicht nur das Gebot unserer Verfassung, sondern auch das Gebot der Stunde.Kinder zu haben ist nach den verschiedenen Armutsberichten der Armutsfaktor Nummer 1. Das wurde hier heute schon von vielen gesagt und ist offenbar auch allen bekannt. Kinder zu haben kostet mehrdimensional, da Familien nicht nur verfassungswidrig besteuert werden, sondern ihren Lastenausgleich zum Teil auch noch selbst finanzieren, da sie den Steuertopf, aus dem z. B. das Kindergeld kommt, selbst mit füllen.Dazu kommen als ganz reale Benachteiligungen: daß Frauen auf Erwerbseinkünfte und Rentenansprüche verzichten, wenn sie wegen Kinderbetreuung die Erwerbstätigkeit unterbrechen; daß Frauen bei unterbrochener Erwerbstätigkeit nur mit größten Schwierigkeiten wieder in den Beruf kommen; daß Frauen häusliche Pflege bisher fast nur für ein Dankeschön oder ein Vergelt's Gott geleistet haben; daß Alleinerziehende schneller arbeitslos werden und fast null Chancen haben, wieder einen Job zu bekommen; daß Familien das Renten- und Pflegerisiko der Kinderlosen absichern; daß Familien auf dem Wohnungsmarkt nicht nur nicht gern gesehen sind, sondern bei der Finanzierung auch massiv benachteiligt werden; daß Kinderbetreuungseinrichtungen wie Krippen, Kindergärten, Horte, Ganztagsschulen nicht genügend landesweit zur Verfügung stehen und daß nicht verheiratete Eltern bei Leistungen benachteiligt werden, z. B. bei Erziehungsgeld, Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe.Die Aufzählung läßt sich fortsetzen und macht deutlich, daß auch für dieses Haus noch eine ganze Menge Handlungsbedarf besteht.Die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sehen diesen dringenden Handlungsbedarf in der Familienpolitik, und das schon seit Jahren und nicht erst nach der Aufforderung durch das Bundesverfassungsgericht.Ein einheitliches, gerechtes Kindergeld von 250 DM pro Kind war nämlich schon 1990 Bestandteil unseres Regierungsprogramms. Die Koalition hat in den letzten zwölf Jahren nicht nur dafür gesorgt, daß es Kindern und Jugendlichen und damit den Familien immer schlechter geht, sie hat sich offenbar in den letzten vier Jahren auch nicht gedrängt gefühlt, den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes nachzukommen und einen gerechten und verfassungsgemä-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 739
Christel HanewinckelBen Familienlastenausgleich in Angriff zu nehmen und auch tatsächlich umzusetzen.
1994 war das Internationale Jahr der Familie — wie all denen, die hier sitzen, hinlänglich bekannt sein dürfte —, ein Jahr, das die Bundesregierung vorwiegend ideologisch genutzt hat. Es gab viele Festveranstaltungen, Seminare, Empfänge, neue Erkenntnisse, Veröffentlichungen, Berichte, viele schöne Worte, gute Bilder. Es gab sogar ein Familienparlament; wenn ich Sie daran erinnern darf. Nur, real verbessert hat sich für die Situation der Familien in diesem Lande nichts. Im Gegenteil, Sie haben den Familien immer wieder nur in die Tasche gegriffen. Ich möchte einige Beispiele aufzählen.Ab 1. Januar 1995 ist von Ihnen, der Koalition, der Solidaritätszuschlag wieder eingeführt worden, und er belastet die Bürger mit geringem Einkommen. Frau Professor Frick, selbst 5 DM sind eine wesentlich stärkere Belastung für diejenigen, die geringe Einkommen haben, als für diejenigen, die höhere Einkommen haben.
Sie haben es immer noch nicht geschafft, einen akzeptablen, finanzpolitisch tragfähigen Vorschlag für die steuerliche Freistellung des Existenzminimums vorzulegen. Sie bzw. Herr Waigel wollen den verteilungspolitisch ungerechten Kinderfreibetrag noch um 1 000 DM erhöhen. Die Differenz zwischen der Entlastung des Spitzenverdieners und der des Geringverdieners, die heute schon 116 DM pro Monat beträgt, würde auf monatlich 144 DM anwachsen.Sie haben das Erziehungsgeld für bestimmte Gruppen gekürzt und die Beantragung noch mehr bürokratisiert. Sie haben den Kindergeldzuschlag den Familien teilweise vorenthalten, weil die Bundesregierung es nämlich unterlassen hat, die Rechtsgrundlagen für den Kindergeldzuschlag 1993 an die geänderte Besteuerung des Existenzminimums anzupassen. Das scheinen Sie alles schon wieder vergessen zu haben.Sie reden von Verschlankung des Staates und von der Vereinfachung des Steuersystems, aber der Wirrwarr bei den Leistungen für die Familien bleibt, ebenso die Doppelarbeit für die Bürgerinnen und Bürger und die Verwaltung. Aber Frau Ministerin Nolte hat uns ja Hoffnung gemacht, indem sie erklärte, daß sie bereit sei, dies zu prüfen und dann auch zu finanzieren. Im voraus vielen Dank!Sie finanzieren durch das Ehegattensplitting weiterhin den Tatbestand Ehe; der Tatbestand Familie bleibt unberücksichtigt.Die SPD hat zu all diesen Punkten Vorschläge unterbreitet, die gerechter und weniger bürokratisch sind. Ich nenne nur einige: Statt des ungerechten Solidaritätszuschlages, der vor allem geringe und mittlere Einkommen belastet, gibt es unseren Vorschlag der Ergänzungsabgabe, die besser und gerechter als der Solidaritätszuschlag gewesen wäre. Statt des längst veralteten und inzwischen sehr ungerechten Ehegattensplittings gibt es unseren Vorschlag derKappung, um den ungerechtfertigt hohen Splittingvorteil für Höchstverdiener ohne Kinder zu begrenzen. Statt den verteilungspolitisch ungerechten Steuerfreibetrag beizubehalten — Herr Waigel will, wie wir gehört haben, das noch um weitere 1 000 DM ungerechter machen —, gilt es, ihn abzuschaffen und den Gewinn auf Alleinerziehende und diejenigen, die wenig verdienen, umzuverteilen.Meine Damen und Herren von der Koalition, ich hatte heute hier eigentlich von Ihnen noch etwas mehr erwartet; aber vielleicht werden die beiden Rednerinnen nach mir den Strauß noch etwas bunter machen. Nach den Mitteilungen im Ticker und in der Presse aus den letzten Wochen gibt es bei Ihnen die unterschiedlichsten Vorstellungen. Ich bin wahrlich die letzte, die nicht an vielen Vorschlägen interessiert wäre, und ich bin auch gern bereit, das Angebot von Herrn Fell sehr intensiv wahrzunehmen und um eine wirklich gute und gerechte Lösung miteinander zu streiten.Insofern würde ich gern etwas mehr an dem Streit in Ihrer Koalition teilhaben und bin mehr als ungeduldig, Ihren endgültigen Vorschlag zu sehen. Ich möchte Sie nur daran erinnern, daß in den letzten Wochen die unterschiedlichsten Vorschläge aus Ihren Reihen gekommen sind: Herr Waigel von der CSU, Frau Nolte von der CDU, Herr Link von der CDU und Herr Thiele von der F.D.P. kamen mit Vorschlägen und Modellen, die man sich durchaus anschauen kann. Wir könnten uns ja überall etwas Gutes heraussuchen; dann hätten wir unser Modell nämlich auch beieinander. Machen Sie es also nicht so schwer, arbeiten Sie bei unserem Vorschlag mit!Teilweise fand ich es ganz interessant, was da zu lesen war. Offenbar — das halte ich in der Tat schon für einen Fortschritt — herrscht Einigkeit in dem ersten Punkt, nämlich daß etwas geändert werden muß. Einigkeit gibt es bei Ihnen wohl auch in dem zweiten Punkt, daß der bisher von Ihnen praktizierte und bis vor kurzem immer hochgelobte Lastenausgleich wohl doch unzureichend und verfassungswidrig ist. Frau Ministerin Nolte hat das gestern im Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zutreffend so gesehen und auch gesagt.Wenn ich mir Ihre unterschiedlichen Forderungen und Modelle ansehe, fällt mir allerdings auf, daß das, was der Finanzminister, der doch eigentlich ein Fachmann dafür sein müßte, in petto hat, wohl das Unzureichendste ist und bei Realisierung seines Vorschlags durch die Erhöhung der Kinderfreibeträge die Ungerechtigkeiten noch vergrößert würden.
Da kann ich mich der Meinung meines Kollegen Link sehr gut anschließen, der gesagt haben soll — jetzt zitiere ich ihn aus einer Tickermeldung; ich füge das hinzu —, weil es vielleicht kein richtiges Zitat ist, aber ich finde es trotzdem zutreffend —: Die Vorschläge von Herrn Waigel haben mit Familienpolitik nichts zu tun.
— Das ist wohl wahr, da kann man ihm applaudieren.
Metadaten/Kopzeile:
740 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Christel HanewinckelIch hoffe in der Tat — das ist meine ernste Hoffnung —, daß die Familienpolitikerinnen und Familienpolitiker in der CDU/CSU und in der F.D.P. bereit sind, wirklich für ein familienpolitisch tragfähiges, gutes Modell zu streiten und da auch ihrem Finanzminister auf die Finger zu klopfen.
— Wir können ja gespannt zugucken und abwarten, wie sich das dort noch weiter entwickelt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Vorschlag für einen gerechten, verfassungsgemäßen und unbürokratischen Familienleistungsausgleich liegt auf dem Tisch. Von Ihrer Seite gibt es dagegen noch immer keinen zu beratenden Vorschlag — Sie vertrösten uns immer wieder —, obwohl die Regierungspartei — genau wie die Opposition — die Urteile und auch die Situation der Familien kennt — ich gehe davon aus, daß gerade Sie, Herr Fell, die Situation der Familien sehr gut keimen — und obwohl Sie einen entsprechenden Apparat, nämlich gleich zwei Ministerien, zur Verfügung haben, die das Ganze erarbeiten und auf den Tisch bringen könnten.
Unsere Geduld ist hier wirklich am Ende.
Im Internationalen Jahr der Familie, im Juni 1994, gab es in diesem Hause — vielleicht erinnern sich einige von Ihnen daran — eine einzige familienpolitische Debatte. Sie konnte damals geführt werden, weil zwei Große Anfragen und drei Anträge von der SPD zu debattieren waren. Ein Antrag kam aus dem Bundesrat. Von seiten der Koalition gab es nichts zu debattieren. Ich denke, es hätte Ihnen gut angestanden, im Internationalen Jahr der Familie, das sich wahrlich nicht nur für Ideologie geeignet hat, einen entsprechenden Vorschlag vorzulegen.Heute steht wieder ein Antrag der SPD zu einem familienpolitisch brennenden Thema, wie alle wissen, zur Debatte. Wir sind gespannt, wann wir die nächste familienpolitische Debatte in diesem Hause haben werden, die uns hoffentlich weiterführen wird.Wenn Sie es ernst meinen mit dem, was im Jahre 1994 im Lande auf und ab mit den Familien besprochen und ihnen versprochen wurde, und wenn Sie die Instanz des Bundesverfassungsgerichts ernst nehmen — als Verfassungsgericht und nicht nur als die am besten arbeitende Außenstelle des Bundesfamilienministeriums —, dann müssen Sie endlich auch unseren Antrag ernst nehmen, ihm zustimmen und mit uns daran arbeiten, daß er umgesetzt wird und daß die Forderungen, die wir im Hinblick auf Gerechtigkeit stellen, in diesem Lande endlich Recht und Gesetz werden.Die Familien in diesem Lande haben es sich nicht nur verdient — denn sie haben bisher bitter draufbezahlt —; den Familien steht auch nach dem Grundgesetz zu, daß ihnen endlich Recht widerfährt. Ich habe die Hoffnung, daß nicht erst noch andere Urteile vom Bundesverfassungsgericht gefällt werden müssen, damit es in diesem Hause gemeinsam mit Ihnen weitergeht.Vielen Dank.
Frau Kollegin Maria Eichhorn, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Hanewinckel, alles zu seiner Zeit. Wir werden unser Konzept rechtzeitig vorlegen; da können Sie sicher sein. Denn Familienpolitik ist eine der wichtigsten Aufgaben der kommenden Jahre; so steht es in unserer Koalitionsvereinbarung für die 13. Legislaturperiode.Wir alle sind uns einig — da stimme ich Ihnen zu —, daß die finanzielle Situation von Familien und Alleinerziehenden verbessert werden muß. Deshalb werden wir den Familienlastenausgleich zu einem Familienleistungsausgleich weiterentwickeln. Wir wollen die steuerliche Freistellung des Existenzminimums eines Kindes und als Ausgleich für diejenigen, die von der steuerlichen Freistellung nicht profitieren, eine entsprechende Kindergelderhöhung.
Mit der Orientierung der Kindergeldhöhe an Einkommen und Kinderzahl können wir gezielt diejenigen Familien unterstützen, die unsere Hilfe wirklich benötigen.
Sie argumentieren, die Kinderfreibeträge seien ungerecht.
Gleichzeitig weisen Sie jedoch bei der Begründung Ihres Antrags selber darauf hin, daß das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 29. Mai 1990 eindeutig klargestellt hat, daß es dem Gesetzgeber freisteht, die „kindesbedingte Minderung der Leistungsfähigkeit" — wie das Urteil es formuliert — im Steuerrecht zu berücksichtigen. Der Kinderfreibetrag bewirkt genau das, was nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erforderlich ist, um Eltern gegenüber Kinderlosen mit gleich hohem Einkommen gerecht zu besteuern. Die finanzielle Belastung von Familien darf nicht höher sein als die von gleich viel verdienenden Kinderlosen. Kinderfreibeträge dienen also der Steuergerechtigkeit. Sie sind keine zusätzliche Förderung der Familie.Die großen Familienverbände unterstützen das System aus Kinderfreibetrag plus Kindergeld. Sie wollen keine Abkehr vom bisherigen zweigliedrigen System, sondern wollen das Kindergeld zu einer echten familienpolitischen Leistung ausbauen. Das von der SPD vorgeschlagene Einheitskindergeld wird von den Fachverbänden abgelehnt. Das Gießkannenprinzip einheitlicher Kindergeldzahlungen ist mit der sozialpolitischen Zielsetzung einer gezielten Förderung von Einkommensschwächeren und Kinderreichen nicht vereinbar.Entsprechend unserer Koalitionsvereinbarung werden wir den Kindergeldzuschlag in das Kindergeld integrieren. Das bedeutet eine wesentliche Vereinfa-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 741
Maria Eichhornchung. Im Zusammenhang mit der Reform des Familienleistungsausgleichs ist es im Hinblick auf eine bessere Durchschaubarkeit wichtig, die verschiedenen Einkommensbegriffe im Kindergeldrecht und im Steuerrecht zu durchleuchten und möglichst zu vereinheitlichen.Die Vereinheitlichung und vor allen Dingen eine Vereinfachung beim Familienleistungsausgleich ist mir ein wichtiges Anliegen. Das System muß für den Bürger durchschaubar sein.Bei der von der SPD vorgeschlagenen Finanzamtslösung könnte die Auszahlung nur jährlich erfolgen. Das heißt, die Auszahlungsverpflichtung käme dann auf die Unternehmen zu, mit all den Schwierigkeiten, die damit verbunden sind. Das brächte keine Vereinfachung, sondern würde alles verkomplizieren.
Zudem schlägt die SPD vor, daß Bürgern, die keine oder nur geringe Steuern zahlen, das Kindergeld vom Finanzamt ausgezahlt werden soll. Das heißt, für immerhin ein Viertel der Kindergeldbezieher, die bisher nicht beim Finanzamt geführt werden, müßte eine eigene Kindergeldabteilung eingerichtet werden. Ist das eine Vereinfachung?Mit der Forderung nach Einschränkung des Ehegattensplittings treffen Sie jene Frauen, die zugunsten ihrer Kinder ganz bewußt auf eine Erwerbstätigkeit verzichten. Für jene jungen Ehepaare, bei denen beide Ehepartner berufstätig sind und beide eine gute Ausbildung haben, ergibt sich sowieso kein Splittingvorteil. Halten Sie es für gerecht, wenn Sie Frauen dafür bestrafen, daß sie sich bewußt für die Familie entscheiden? Wir von der CDU/CSU treten bekanntlich für die Wahlfreiheit ein. Das heißt auf der einen Seite aber nicht, daß wir nur die berufstätige Frau fördern. Das heißt auf der anderen Seite natürlich auch, daß wir Familienarbeit anerkennen.
Familienpolitisch wäre durch die Einschränkung des Ehegattensplittings nichts gewonnen, da Mehrbelastungen die Familien überwiegend selbst zu tragen hätten, während ledige Steuerpflichtige gar nicht und kinderlose Ehepartner, die beide verdienen, nur in geringem Umfang herangezogen würden.Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist das Ehegattensplitting eine an dem Schutzgebot des Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz orientierte sachgerechte Besteuerung. Wir leugnen zwar nicht, daß es Probleme gibt. Aber so zu tun, als gäbe es nur eine ideale Lösung, ist doch sehr kühn.Wie sah es denn aus, als Sie noch an der Regierung waren, Frau Hanewinckel? Ich gestehe, das ist schon sehr lange her. Damals zahlten Sie jahrelang nur 50 DM Kindergeld, und es gab keinerlei Freibeträge.
Damals sahen Sie offensichtlich keinen Handlungsbedarf, Frau Hanewinckel.Wir haben 1983 den steuerlichen Kinderfreibetrag mit 432 DM wieder eingeführt und schrittweise auf 4 104 DM erhöht. Wir haben für geringverdienende Familien den Kindergeldzuschlag eingeführt.
— Frau Hanewinckel, ich weiß, daß Sie das nicht hören wollen. Aber auch, wenn Sie es nicht hören wollen, bleibt das, was wir geschaffen haben, die große familienpolitische Leistung. Sie aber reden bloß immer von familienpolitischen Leistungen.
Wir haben das Erziehungsgeld, den Erziehungsurlaub und die Anerkennung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung eingeführt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hanewinckel?
Maria Eichhorn CDU/CSU): Bitte sehr, Frau Hanewinckel.
Bitte, Frau Kollegin.
Bleiben Sie tatsächlich weiterhin bei diesen Zahlen? In den verschiedenen Armutsberichten werden Zahlen genannt. Zum Beispiel haben wir über eine Million Kinder und Jugendliche, die von der Sozialhilfe leben müssen. Die kommen ja wohl aus Familien. Alleinerziehende Frauen in den östlichen Bundesländern sind inzwischen zu 44 % von der Sozialhilfe abhängig. Nennen Sie das familienpolitisch positive Leistungen der Koalition?
Frau Hanewinckel, Sie wissen genauso gut wie ich, daß die Berechnungen bei der Sozialhilfe sehr unterschiedlich zu betrachten sind; denn es sind z. B. in diesen Statistiken Zahlen enthalten, die sich dadurch ergeben, daß bestimmte Personen mehrfach in die Rubrik Sozialhilfe geraten sind. Diese Zahlen sind also differenziert zu betrachten.Aber ich habe ja gesagt: Ich stimme grundsätzlich mit Ihnen überein, daß die Situation von Familien verbessert werden muß. Da sind wir uns einig. Wie dies zu geschehen hat, ist eine andere Sache.Ich wehre mich nur dagegen, daß Sie immer so tun, als sei in den letzten Jahren nichts geschehen. Sie dürfen natürlich auch nicht außer acht lassen, daß wir seit der Wiedervereinigung eine große Last zu bezahlen haben, daß wir diese zwar gerne tragen, dem aber natürlich auch in den anderen Politikbereichen Rechnung tragen müssen. Aber nichtsdestotrotz haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, in dieser Legislaturperiode für die Familien etwas zu tun und den Familienlastenausgleich zu einem Familienleistungsausgleich weiterzuentwickeln.
Ich fahre fort mit dem, was wir geleistet haben: Wir haben Kinderberücksichtigungszeiten und Pflegeberücksichtigungszeiten eingeführt. Dies kommt gerade jenen zugute, die Sie gerade angesprochen
Metadaten/Kopzeile:
742 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Maria Eichhornhaben, Frau Hanewinckel. Wir haben die Bundesstiftung Mutter und Kind gegründet. Wir haben die Dauer für den Bezug des Unterhaltsvorschusses und die steuerlichen Ausbildungsfreibeträge erhöht.Das sind nur die wesentlichsten Punkte. Ich könnte noch mehr aufzählen.Wir haben seit 1982 eine konsequente Familienpolitik betrieben. Mit der Weiterentwicklung des Familienlastenausgleichs zum Familienleistungsausgleich werden wir die Familien weiter stärken und für eine spürbare finanzielle Entlastung von Familien sorgen.Wir sind dabei, ein Konzept zu entwickeln, das diesen Ansprüchen gerecht wird. Es ist jetzt unsere Aufgabe, zu diskutieren und zu entscheiden, wie dies im einzelnen gestaltet werden muß. Es gibt verschiedene Modelle, die in die Diskussion einbezogen und geprüft werden müssen. Dazu sollten wir uns aber genügend Zeit lassen, um schließlich eine Lösung zu finden, die für viele Jahre Bestand hat.
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, Professor Dr. Kurt Faltlhauser.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich mich den Glückwünschen zu den ersten Reden an die ersten drei Redner und Rednerinnen, die hier gesprochen haben, anschließen.Zur Rede von Frau Kressl wollte ich hier nur eine Anmerkung machen. Frau Kressl, Sie haben gesagt — das habe ich mitgeschrieben —: „Die ökonomischen Signale für die Familie stehen auf Rot." Ich glaube, da haben Sie zu sehr in den Farbtopf hineingelangt und — vielleicht für Sie verständlich — zu sehr auf den Moment unserer Debatte geschaut und zu wenig zurück auf die Arbeit dieses Hauses in den letzten 13 Jahren. In diesen 13 Jahren sind in diesem Haus zur Familienpolitik eine Fülle von neuen Maßnahmen geschehen, die insbesondere Frau Nolte hervorgehoben hat: im innovativen Bereich neue Dinge und Quantensprünge für die Familie.
Ich will sie nicht wiederholen.Die Größenordnungen dieser Maßnahmen, Frau Kollegin, waren erklecklich. Damals, 1982, haben wir für die familienpolitischen Maßnahmen noch eine Größenordnung von 27,5 Milliarden DM gehabt. Ende 1994 waren es 59,8 Milliarden DM. Das ist eine Verdoppelung des Gesamtvolumens.
Deshalb können Sie nicht so sehr in die Farbkiste greifen. Ich glaube, das ist ein sehr respektabler Sprung nach vorne.Jetzt fragen Sie — Frau Hanewinckel, Sie haben besonders darauf hingewiesen —: Wann kommt ihr denn endlich mal mit euren neuen Vorschlägen, die ihr angekündigt habt? Ich sage Ihnen: Diese Legislaturperiode ist jung. Wir haben gerade erst Koalitionsverhandlungen geführt.
Wir haben mit diesem Partner eine Grundlage geschaffen. Auf dieser Grundlage werden bereits die entsprechenden Gesetze verabschiedet. Hierher in den Bundestag kommt das Gesetz, in dem die ganzen Familienleistungen stehen, wenn es im Kabinett war. Im Kabinett wird es nach unserer bisherigen Berechnung am 22. März sein. Dann können wir ausführlich darüber diskutieren. Ich wäre vorsichtig, bereits über ein entsprechendes Konzept bis in die Millimeter hinein zu diskutieren, bevor es mit den Verbänden und mit den Fachleuten diskutiert wurde.Ich will nur sagen, daß wir seriöserweise zunächst einmal eine Größenordnung festlegen sollten. Der Finanzminister hat gesagt, er sei bereit, 6 Milliarden DM zusätzlich zu geben. Ich darf daran erinnern: Wir haben ein Moratorium für alle Ausgaben. Der Finanzminister hat für den Familienbereich ausdrücklich dieses Moratorium aufgehoben und zusätzlich 6 Milliarden DM zugesichert. Ich glaube, daß das angesichts der Haushaltsprobleme gerade im Jahr 1996, die Ihre Experten genauso kennen wie wir, eine ungewöhnliche Größe ist.
— Sie dürfen hinterher im Finanzausschuß noch ausreichend mit mir streiten, Herr Kollege Poß. Lassen Sie mich doch jetzt fortfahren!Nun können wir uns über die Instrumente streiten. Auch in Ihren eigenen Reihen gibt es ein Ringen darum. Aber ich meine, wir sollten zunächst einmal von Ihrem Konzept ausgehen, das Sie hier zur Debatte gestellt haben: einheitliches Kindergeld in Höhe von 250 DM. Dieser Vorschlag ist nach unserer Überzeugung haushaltspolitisch nicht verträglich und konzeptionell verfehlt.Zur finanziellen Seite: Für die verfassungsrechtlich gebotene Steuerfreistellung des Kinderexistenzminimums ist der Umweg über das einheitliche Kindergeld, wie Sie es wollen, das mit Abstand teuerste Instrument. Ein einheitliches Kindergeld von 250 DM, wie Sie es in Punkt 1 Ihres Antrags fordern, würde 13 Milliarden DM zusätzliche Haushaltsbelastung mit sich bringen. Gleichwohl würde das nur einem Kinderfreibetrag von etwa 6 000 DM entsprechen und deshalb den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügen, wie hier richtig schon angemerkt wurde.
Bei der reinen Kindergeldlösung, meine Herren vom Finanzausschuß, könnte die Umrechnung auf einen Kinderfreibetrag nicht mehr auf der Basis einer Steuerbelastung von 40 % erfolgen. Man bräuchte einen Umrechnungssatz von 50 %, um zu gewährleisten, daß das Kinderexistenzminimum bei allen Steu-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 743
Parl. Staatssekretär Dr. Kurt Faltlhausererpflichtigen in dem verfassungsrechtlich gebotenen Maß steuerfrei bleibt.Wenn man den verfassungsrechtlichen Anforderungen mit einem einheitlichen Kindergeld genügen wollte, müßte man das Kindergeld auf 300 DM erhöhen. Das würde 40,7 Milliarden DM kosten. Wenn man eine Einsparung durch Wegfall des Kinderfreibetrages in Höhe von 16,6 Milliarden DM und des Kindergeldzuschlages in Höhe von 1,4 Milliarden DM gegenrechnet, bleibt ein Negativsaldo von 22,7 Milliarden DM. Ich wiederhole also: Das einheitliche Kindergeld ist das teuerste Instrument.
— Herr Kollege Poß, hören Sie mir ruhig zu, damit wir die Diskussion im Ausschuß nicht noch einmal mühsam aufrollen müssen!
Jetzt wollen Sie in Ihrem Antrag die Finanzierung durch eine „maßvolle Begrenzung des Splittingvorteils" sicherstellen. Gegen diese Einschränkung des Ehegattensplittings sprechen wiederum konzeptionelle und haushaltsmäßige Gründe.
— Lachen Sie nicht zu früh! Ich rechne Ihnen das jetzt vor.
Zunächst einmal zu den haushaltsmäßigen Gründen: Sie werden Ihre 12 Milliarden DM durch eine „maßvolle Begrenzung des Splittingvorteils" nicht erhalten.
Das ist eine Scheinzahl. Die Ausweichreaktionen der Bürger wären so groß, daß so gut wie kein Geld übrigbliebe. Lassen Sie mich das rechnerisch darlegen: Das theoretische Volumen des Splittingvorteils beträgt 30 Milliarden DM. Er verringert sich auf knapp 10 Milliarden DM, wenn man berücksichtigt, daß Ehepaare nicht schlechter als Geschiedene gestellt werden dürfen, die das Realsplitting anwenden können. Von diesen verbleibenden 10 Milliarden DM entfallen auf steuerlich Kinderlose nur 3,3 Milliarden DM. In diesem Betrag sind auch noch Ehepaare enthalten, die Kinder großgezogen haben, bei denen aber die erwachsenen Kinder nicht mehr auf der Steuerkarte stehen. Ebenfalls noch nicht berücksichtigt sind die zu erwartenden massiven Ausweichreaktionen.Deshalb sage ich Ihnen: Von diesem großen Volumen in Höhe von zunächst 30 Milliarden DM bleibt am Schluß nicht mehr viel zum Gegenfinanzieren übrig. Sie aber schreiben in Ihrem Antrag, man erhalte allein durch diese Maßnahme 12 Milliarden DM. So seriös sind Ihre Rechnungen!
Wir sollten uns davor hüten, so etwas zu machen.
Sie zielen mit Ihren Kappungsvorstellungen beim Splitting gewissermaßen auf Ihre Idealvorstellung vom Einkommensmillionär, der ein mittelloses Mannequin heiratet, das am Swimmingpool liegt und Pralinen ißt.
— Das ist doch die schönste Vorstellung. Man kann auch noch mehr als die Pralinen hinzudichten. Herr Kollege Poß, wenn der Millionär nur 10 % der Einkünfte auf die Schöne überträgt, sinkt der Splittingeffekt dramatisch, wie Sie übrigens in einer sehr interessanten Tabelle in der Zeitung „Die Welt" nachlesen konnten. Diese Tabelle weist Ihnen auch aus, daß die von Ihnen geforderten Splittingeinschränkungen vor allem Familien mit Kindern und Arbeitnehmerfamilien treffen würden. Das ist die Realität Ihres Vorschlages.
Ich will an dieser Stelle noch einmal sagen: Wenn Sie hinsichtlich der Zahlen Gegenvorstellungen haben, sollten Sie sich mit uns im Finanzausschuß zusammensetzen. Wir haben die Zahlen vorliegen und können sie abklären. Vertrauen Sie zunächst einmal darauf, daß die Zahlen, die ich hier nenne, sehr seriös und gesichert sind!Wichtig ist mir deshalb noch einmal die Feststellung, daß die üblicherweise genannten Beträge, die auf der Annahme beruhen, man könne mittels irgendwelcher familienpolitischer Maßnahmen, mittels Einkommenskappungen oder sonstigen Manipulationen das herkömmliche Ehegattensplitting ausgleichen, weit überhöht sind. Sie sind meist völlig illusionär.Natürlich habe ich auch aus konzeptionellen Gründen Einwendungen gegen die Manipulation am Ehegattensplitting. Dieser Weg ist nämlich verfassungsrechtlich sehr gefährlich. Das Ehegattensplitting wurde eingeführt,
um eine Erhöhung der Steuerbelastung infolge der Eheschließung zu vermeiden.Herr Kollege Poß, wir sollten uns in diesem komplizierten Feld gegenseitig wirklich ein bißchen besser zuhören. Sonst kommen wir in der Debatte nämlich nicht voran. Ich hoffe, daß wir das wenigstens im Ausschuß besser machen können.
Herr Staatssekretär, diese Aufforderung hat beim Kollegen Poß ein Sprechbedürfnis ausgelöst.
Das ist viel besser als Zwischenrufe.
Bitte sehr.
Metadaten/Kopzeile:
744 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Herr Staatssekretär, zunächst werden wir die Zahlen von Ihnen bekommen. Das haben Sie schon im Ausschuß angekündigt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das ist wichtig, weil mir Ihre Rechnung doch etwas aus dem Handgelenk zu sein schien. Ich verbinde das mit der Frage: Wenn Sie den Zeitpunkt der Einführung des Splittings mit heute vergleichen, können Sie dann ignorieren, daß 1958 der sogenannte Splittingvorteil kaum eine Bedeutung hatte und heute nach dem vorgelegten Waigel-Tarif der Splittingvorteil bei 23 610 DM liegt? Meinen Sie, das ist ein Tatbestand, über den man aus steuerpolitischen, haushaltspolitischen und auch sozialpolitischen Gründen einfach hinweggehen kann?
Zunächst, Herr Kollege Poß, weiß ich nicht, ob meine Rechnungen falsch sein müssen, wenn ich sie aus dem Ärmel schüttele. Aber ich bestätige Ihnen, daß der Splittingvorteil nach unseren Tabellen beim höchsten Steuersatz bei fast 23 000 DM liegt. Es ist auch richtig, daß die entsprechende absolute Zahl beim Splittingvorteil natürlich gewachsen ist. Nur, das ist die Systematik der progressiven Besteuerung, wie sie freundlicherweise dargelegt wurde. Man hat auch entsprechend höhere Einkommen und zahlt in absoluten Zahlen dramatisch höhere Einkommensteuer. Das ist doch das Faktum. Also ist es im Grunde genommen nur eine systematische Folge der entsprechend gestiegenen Einkommen mit den entsprechend gestiegenen Steuern.
— Jetzt müßte ich eigentlich die Darlegung der Frau Kollegin von der F.D.P. wiederholen, aber ich glaube, wir sollten sie Ihnen zu lesen geben, dann braucht man das nicht ständig zu wiederholen.
Es heißt in der Praxis — ich darf wieder aufnehmen —: Vor allem dort, wo ein Ehegatte zur Erziehung der Kinder oder zur Betreuung von Enkelkindern oder zur Pflege von Angehörigen zu Hause bleibt, erzielt er kein Einkommen. Den würden wir durch eine Manipulation des Ehegattensplittings in besonderer Weise treffen. Wir wollen ihn — das sage ich in aller Deutlichkeit — ausdrücklich nicht treffen. Mit „Wir" meine ich diese Koalition. Mit Sicherheit wird hier nichts gemacht werden.
Das Selbstbestimmungsrecht der Ehegatten in ihren finanziellen Beziehungen untereinander wird durch das Ehegattensplitting geschützt. Dementsprechend ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dieses Splitting keine beliebig veränderbare Steuervergünstigung, sondern eine sachgerechte Besteuerung der Ehepaare entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit.
Ich kann nur warnen, Herr Kollege Poß, an dieses Ehegattensplitting heranzugehen. Die sich immer stärker verfestigende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gerade zu diesem Punkt verbietet nach meiner Auffassung jede Manipulation an diesem familienpolitischen Instrument. Wir können uns über verschiedene Instrumente raufen und streiten. Aber wir sollten gemeinsam aufpassen, daß wir nichts fabrizieren, was dann wieder mit Sicherheit verfassungswidrig ist.
Im übrigen fordern Sie doch ständig die Vereinfachung im Steuerrecht. Ich kann Ihnen sagen: Dieses Splitting ist geradezu ein Programm für eine einfachere Besteuerung. Das ist die einfachste und am leichtesten handhabbare Besteuerung für Familie und Ehe. Daß das einheitliche Kindergeld, so wie es von der SPD vorgeschlagen wird, auch aus verwaltungstechnischen Gründen kaum praktikabel ist, hat Frau Nolte schon dargelegt.
Ich frage noch einmal: Wie oft sollen wir denn noch Untersuchungen zu dem sogenannten Finanzamtsmodell — das sage ich auch in Richtung F.D.P. — machen? Die Untersuchungen, die vorliegen, Herr Kollege Poß, passen genauso auf Ihre Vorstellungen wie auf die vergangenen. Da liegt das Problem der Zusammenlegung beim Finanzamt.
Ich will zu den hier bereits genannten Einwänden nur noch einen hinzufügen. Glauben Sie denn tatsächlich, daß Ihre Landesfinanzminister bereit sind, diese zusätzlichen Verwaltungsaufgaben zu übernehmen, wenn sie nicht einmal bereit waren, die Verwaltungsaufgaben zur Bewältigung der Arbeitnehmersparzulage — „Peanuts" würden andere sagen — administrativ zu bewältigen? Das machen wir jetzt in Berlin in einer eigenen Stelle, weil die Länder nicht bereit waren, diese administrative Aufgabe zu übernehmen.
Wenn das nicht geschieht, passiert es mit Sicherheit auch nicht in der sogenannten Finanzamtslösung. Das ist eine rein pragmatische Frage an die Länder. Die Länder werden diese Fragen eindeutig beantworten. Darauf können Sie sich verlassen.
Herr Staatssekretär, der Kollege Poß würde gern eine weitere Zwischenfrage stellen.
Aber natürlich.
Bitte sehr.
Herr Kollege Faltlhauser, können auch Sie mir bestätigen, daß es bisher keine Untersuchung auf der Grundlage des SPD-Modells gibt und daß daher Ihre Behauptung, die Probleme, die bei den damaligen Untersuchungen eine Rolle gespielt hätten, würden bei dem einheitlichen Kindergeld genauso gelten, gegenstandslos ist?Lassen wir einmal Ihre sonstigen Bedenken in horizontaler und verfassungsmäßiger Hinsicht weg! Konzentrieren wir uns auf das Organisatorische! Es gibt keine Untersuchung auf der Grundlage unseres Modells, wobei ich bestätige, daß die Länder bezüglich der Kosten Befürchtungen haben.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 745
Herr Kollege Poß, Sie sollen fragen, nicht reden.
Herr Präsident, ich habe diese Fragejetzt etwas umständlich gestellt. Können Sie mir bestätigen, Herr Faltlhauser, daß es eine derartige Untersuchung nicht gibt?
Obwohl Sie nicht gefragt haben, habe ich Sie verstanden.
Zunächst bestätige ich, daß die Untersuchungen nicht auf der Basis des SPD-Antrages durchgeführt wurden. Das konnten sie auch gar nicht, weil der SPD-Antrag, wenn ich das richtig im Kopf habe, aus dem Jahre 1994 stammt und die Untersuchungen früher angestellt wurden.
Das Problem, das Sie mit einem einheitlichen Kindergeld aufwerfen, ist aber mit dem identisch, das wir schon bei früheren Untersuchungen hatten. Es geht um die administrative Zusammenführung in einem Haus.
— Insofern ist es das gleiche.
Bitte keinen Dialog. Sie haben eine Frage gestellt und die Antwort bekommen.
Herr Kollege Thiele möchte ebenfalls eine Frage stellen. Bitte.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Faltlhauser, noch ist der Bundesrat mehrheitlich SPD-geführt; wir werden in diesem Jahr dazu beitragen, das zu ändern.
Können Sie sich nicht vorstellen — es fällt manchmal schwer; da stimme ich Ihnen zu —, daß die SPD in dieser Frage möglicherweise doch mit einer einzigen Stimme für Bund und Länder redet? Es geht um die Frage, wie sehr eine Partei in sich geschlossen ist. Sie sagen, der Bund und die SPD — die Partei — plädierten für die Finanzamtslösung, während die SPD- Länder das nicht mitmachten. Können Sie sich nicht vorstellen, daß irgendwann, sei es auch unter dem derzeitigen Parteivorsitzenden Scharping, eine einheitliche Linie in der SPD erkennbar sein wird?
Insbesondere die letzte Anmerkung würde bedeuten: Prinzip Hoffnung, daß die SPD nicht nur in der Familienpolitik, sondern endlich auch einmal in anderen Fragen eine einheitliche Meinung vertritt. Das wird wohl sehr lange dauern. Ich glaube, daß das auch in diesem Punkt nur sehr schwer herzustellen ist.
Das ist mit Sicherheit ein Problem für die Länderadministration. Ich habe bisher die Erfahrung gemacht, daß der Pragmatismus der Ministerpräsidenten den dogmatischen Vorstellungen aus dem Bundestagimmer als Gewicht entgegengestellt wurde und sich dies auch im Bundesrat durchgesetzt hat.Es wäre schön — wenn ich das in meine Beantwortung einbeziehen darf, wobei ich mich ein bißchen an die SPD wende —, wenn wir z. B. die komplexen Fragen zum Steueränderungsgesetz 1996 gemeinsam mit den familienpolitischen Themen in etwas längerer Frist gemeinsam mit den Kollegen der SPD vorbereiten könnten, damit man kurz vor bzw. während der Sitzung des Vermittlungsausschusses bei diesen komplexen Dingen nicht unter unerträglichem Zeitdruck steht; dies ist wohl wahr. Ich habe aber den Eindruck, daß Sie immer mit unterschiedlicher Stimme sprechen. Beim Ehegattensplitting z. B. sagen mir die Finanzminister der SPD-Länder etwas ganz anderes als Sie hier. Das heißt, noch nicht einmal die Grundlagen stimmen.
Lassen Sie mich noch eine Anmerkung zum vielgenannten Familiensplitting machen. Die Einführung eines Familiensplittings wäre nach meiner Überzeugung ebenfalls verfehlt, da dies lediglich auf eine Erhöhung der Entlastung der Familien in den oberen Einkommensschichten hinausliefe.
Selbst bei einem Splittingfaktor für Kinder von nur 0,5 stiegen die Entlastungswirkungen in den höheren Einkommensschichten auf 975 DM im Monat, während Familien in den unteren Einkommensschichten leer ausgingen. Dies steht, wie ich meine, im Widerspruch zum eigentlichen Ziel des Familienlastenausgleichs, selbst wenn das Kindergeld für die Bezieher höherer Einkommen abgeschafft würde. Wer also davon spricht — ich verstehe ja, daß man vom Familiensplitting fasziniert ist —, wird, wenn er es sich genauer ansieht, zu dem Ergebnis kommen: Man verkennt die extrem unterschiedlichen Entlastungseffekte.Wir werden auf dieser Basis rechtzeitig und im richtigen Verfahren ein Konzept vorlegen, das auf zwei gesunden Beinen steht.Das eine Bein ist das unveränderte EhegattenSplitting mit dem Divisor 2. Das zweite Bein: Auf der Basis des sogenannten dualen Systems wollen wir den Kinderfreibetrag und das Kindergeld gleichzeitig und sachgerecht ausbauen. Unser Ideal ist dabei — das ist systematisch mit Sicherheit richtig —, das verfassungsrechtliche Gebot der Freistellung des Existenzminimums des Kindes durch das systemgerechte Instrument des Freibetrags idealerweise alleine zu sichern. Vor diesem Hintergrund kann dann das Kindergeld als sozialpolitische Maßnahme zielgerecht und sozial richtig ausgestaltet werden. Dabei werden wir versuchen, zugegebenermaßen bestehende Komplizierungen abzubauen, die insbesondere durch den Kindergeldzuschlag entstanden sind.Wir müssen mit Recht Streit — ich hoffe, daß er gemäßigt bleibt — über die Größenordnung und über das Konzept führen. Aber ich hoffe, daß dieser Streit auch konstruktiv geführt wird, damit wir möglichst
Metadaten/Kopzeile:
746 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Dr. Kurt Faltlhauserfrühzeitig ein vernünftiges familienpolitisches Konzept gemeinsam zustande bringen, denn wir müssen es gemeinsam machen, nicht nur in diesem Haus, sondern auch im Bundesrat. Dazu brauchen wir weniger Konzentration auf polemische Zuspitzungen, sondern gemeinsame konstruktive Arbeit für ein sehr lohnendes Ziel, nämlich der Familie und den Kindern zu helfen. Ich glaube, die Kinder und die Familien werden uns eine sachgerechte und gemeinsame Arbeit danken.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/16 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Besteht damit Einverständnis? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Zusatztagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Cem Özdemir, Kerstin Müller , Christa Nikkels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bleiberecht für vietnamesische Vertragsarbeitnehmerinnen und Vertragsarbeitnehmer der ehemaligen DDR in Deutschland
— Drucksache 13/231 —
Überweisungsvorschlag: Innenausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fünf Minuten erhalten soll. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Cem Özdemir das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die gemeinsame Erklärung der Staatsminister Hoyer und Schmidbauer mit Vertretern der Volksrepublik Vietnam hat bei den in Deutschland lebenden Vietnamesinnen und Vietnamesen für große Unruhe und Bestürzung gesorgt. Diese Unruhe liegt zum Teil in Mißverständnissen begründet, die in der gestrigen Fragestunde durch die anwesenden Staatsminister ausgeräumt werden konnten. Unruhe hat aber auch die Vollmundigkeit erzeugt, mit der diese Erklärung der Öffentlichkeit quasi als Patentlösung präsentiert worden ist.Die Zahl von 40 000 Menschen, die in den nächsten fünf Jahren abgeschoben werden — eine Zahl, die auch gestern wieder genannt wurde —, erscheint nach Auskunft von Fachleuten gewaltig überzogen. Hinzu kommt, daß über die Gesamtzahl der vietnamesischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in Deutschland größte Verwirrung herrscht, Verwirrung, die auch gestern wieder genährt wurde. Herr Staatsminister Schmidbauer sprach von 97 000 Vietnamesinnen und Vietnamesen in Deutschland, der Kollege Schanz in seiner Frage dagegen von rund 60 000. Im Gegensatz dazu halten sich nach Auffassung vieler Experten insgesamt nicht mehr als 40 000 vietnamesische Staatsbürger im Bundesgebiet auf. Der Eindruck, daß jeder von Abschiebung bedroht sein könnte, drängt sich angesichts dieser Verwirrung für viele Betroffene also förmlich auf.Tatsache ist: Die meisten Vietnamesinnen und Vietnamesen im Lande leben hier, wenn auch in einem ungesicherten Aufenthaltsstatus, völlig legal.Der öffentliche Eindruck, der durch die Erklärung von bundesdeutschen und vietnamesischen Regierungsvertretern entstanden ist, war allerdings ein anderer. Wenn Vietnamesinnen und Vietnamesen, wie mir mehrfach berichtet wurde, in diesen Tagen vermehrt angepöbelt und gefragt werden, was sie hier überhaupt noch zu suchen hätten, dann spricht dies zumindest nicht für die Informationspolitik dieser Regierung.
— Oder beider.Es ist unbestritten, daß die Situation der vietnamesischen Staatsangehörigen in Deutschland sehr differenziert betrachtet werden muß. Der Antrag meiner Fraktion bezieht sich auf diejenigen unter ihnen, die als Vertragsarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer in die DDR gekommen waren und dort ein Dasein als Lohnsklaven fristen mußten, um in erster Linie die Schulden der Volksrepublik Vietnam beim Bruderstaat DDR abzustottern. Diese gegenwärtig noch etwa 15 000 Menschen, die seit vielen Jahren ohne eine sichere Lebensperspektive auskommen müssen, haben einen Anspruch darauf, endlich den gesicherten Aufenthaltsstatus zu erhalten, der ihnen — bisher leider folgenlos — im Rahmen des Asylkompromisses versprochen worden ist.Die meisten dieser Menschen haben mittlerweile ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland gefunden; sie leben seit vielen Jahren hier. Ein Teil von ihnen hat nach der deutschen Vereinigung aus Angst vor Abschiebung oder deswegen, weil sie kurzfristig ihren Arbeitsplatz verloren hatten, einen Asylantrag gestellt. Dieser Umstand sollte ihnen nicht zum Nachteil gereichen. Die Angst vor Repressionen in Vietnam wegen sogenannter Westkontakte oder vor Umerziehungslagern entbehrte bekanntermaßen nicht jeder Grundlage.Einige von denen, die sich in die Illegalität abgedrängt fühlten, haben leider auch kleinkriminelle Geschäfte, hauptsächlich Zigarettenschmuggel, getrieben. Wir sollten aber nicht übersehen, daß dort, wo diesen Menschen die Erlangung eines legalen Aufenthaltsstatus leichter gemacht wurde, diese Kleinkriminalität auf nahezu Null zurückgegangen ist. Ich möchte als Beispiel die Stadt Rostock nennen, die damit für meine Begriffe eine durchaus erfreuliche Konsequenz aus den schlimmen Ausschreitungen in Lichtenhagen gezogen hat.Es steht uns gut an, meine verehrten Damen und Herren, wenn wir in der Frage der ehemaligen Vertragsarbeitnehmerinnen und Vertragsarbeitnehmer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 747
Cem Özdemirkeine ideologischen Fronten aufbauen und diese Menschen, die oft ein besonders hartes Schicksal erlitten haben, mit denjenigen Nichtdeutschen gleichstellen, die wie meine Eltern vor Jahren in die Bundesrepublik Deutschland gekommen sind.
So begrüßenswert es ist, wenn Rückkehrwilligen Existenzgründungshilfen gewährt werden, so unverhältnismäßig wäre es, Menschen gegen ihren Willen in ein Land abzuschieben, zu dem sie heute keinerlei lebensweltlichen Bezug mehr haben.Eine Verknüpfung von Entwicklungshilfeleistungen und der Lösung vermeintlicher Zuwanderungsprobleme ist unzulässig. Wir hätten erwartet, daß der Bundesentwicklungshilfeminister diesem Mißbrauch entschlossen entgegentritt.
Ich möchte Sie auch aus diesem Grund bitten, an dieser Stelle ein wichtiges Zeichen für Humanität und den Rechtsfrieden in diesem Land zu setzen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Zeitlmann.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Um was handelt es sich bei dem Antrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ein Bleiberecht für vietnamesische Vertragsarbeitnehmer aus der ehemaligen DDR zu begründen?Die Bundesregierung hat eine Erklärung über ein beabsichtigtes Abkommen mit der Volksrepublik Vietnam abgegeben, das zum Ziel hat, die Rückführung von Bürgern dieses Landes zu ermöglichen — ein Sachverhalt, über den man einmal ganz kühl nachdenken muß. Ich will das Abkommen nicht kritisieren. Es muß aber doch erlaubt sein, zu kritisieren, daß sich ein Land wie Vietnam über viele Jahre hin geweigert hat, seine eigenen Bürger zurückzunehmen, und dies offensichtlich erst dann macht und dem zustimmt, daß die eigenen Bürger zurückkehren, wenn es Entwicklungshilfe gibt. Das muß man auch einmal deutlich sagen. Das wird in der deutschen Öffentlichkeit nicht ganz frei von Kritik bleiben.Ich meine, es kann auf Dauer in unserem Land nicht Schule machen, daß Bürgerkriegsflüchtlinge, andere Flüchtlinge oder auch Vertragsarbeitnehmer, die zu uns kommen, nicht mehr zurückgeführt werden können, weil das Heimatland sich weigert, sie zurückzunehmen.
Das kann nicht in unserem Interesse liegen — auch das wird eine Rolle zu spielen haben —; denn dieses Land muß für neue Flüchtlinge aus anderen Konfliktregionen offen bleiben.Wir verlören die Akzeptanz in unserer Bevölkerung, wenn alle, die bei uns Zuflucht gefunden haben,Ansprüche darauf hätten, hierbleiben zu können, und wenn unsere Regierung immer wieder mit Ländern zur Erreichung dieser Rückführung finanzielle Verträge abschließen und Leistungen erbringen müßte.Ich möchte zur Frage der Vertragsarbeitnehmer sagen: Diese haben uns im Innenausschuß seit vielen Jahren beschäftigt. Es gab im Jahre 1990 eine Vereinbarung der damaligen Bundesregierung, daß der Aufenthalt der Vertragsarbeitnehmer maximal bis zum Ende ihrer vorgesehenen Arbeitszeit in der ehemaligen DDR verlängert werden sollte. Dies ist dann auch geschehen. Es gab zusätzlich im Jahr 1992 eine humanitäre Lösung im Zusammenhang mit dem Asylkompromiß, womit man erneut versucht hat, Einzelfälle humanitär zu lösen. Allerdings — das füge ich hinzu — war die Voraussetzung für die humanitäre Lösung damals, daß der hierbleibende Vertragsarbeitnehmer seinen Lebensunterhalt selber legal bestreiten konnte.Um diese Fälle geht es aber hier nicht, sondern es geht entweder um die Vertragsarbeitnehmer, die illegal hier sind und nach Abschluß eines Verfahrens zurückgeführt werden könnten, oder um solche, die die Voraussetzungen der damaligen humanitären Lösung nicht erfüllen, z. B. straffällig geworden sind oder ihren Lebensunterhalt in diesem Land nicht bestreiten können. Ich halte es für richtig, daß dieser Staat auf das Recht, solche Menschen zurückzuführen, wenn sie straffällig geworden sind und wenn sie dem Steuerzahler auf dem Geldbeutel liegen, nicht verzichtet und nicht quasi denjenigen, der nie zurückgeht, aber abschiebungsreif ist, noch dadurch belohnt, daß er dann, wenn er hierbleibt und auf Aufforderungen, das Land zu verlassen, nicht reagiert, in den Genuß der Unterlassung einer Rückführung ins Heimatland kommt.Meine Damen und Herren, ich meine auch, daß der Antrag völlig fehlgehen kann, daß ein Land nur dann zurückschicken darf, wenn diese Menschen freiwillig ausreisen wollen. Das kann es ja wohl nicht sein. Denn wo kämen wir dann mit unserem Ausländerrecht hin — ich habe gerade den Fall des straffällig Gewordenen genannt —, wenn man generell auf die Freiwilligkeit abstellen würde?Auf eines möchte ich noch hinweisen. Es gab ja nicht unerhebliche Probleme mit straffällig gewordenen Vietnamesen gerade im städtischen Bereich, im Berliner Umfeld. Deshalb kann ich diesem Antrag auf gar keinen Fall zustimmen.Herr Özdemir, ich muß der Äußerung von Ihnen widersprechen, daß auf Grund einer klaren vertraglichen Regelung — die wir nicht zu bewerten haben — zwischen der DDR und Vietnam irgendein menschlicher oder sonstiger Anspruch bestünde, hierbleiben zu können. Die Aufenthaltsdauer dieser Menschen hat man wiederholt verlängert; man hat auch humanitäre Lösungen gefunden.
Metadaten/Kopzeile:
748 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Wolfgang ZeitlmannAber nun kann es nicht darum gehen, jedem, der hier ist, generell ein Bleiberecht auf Dauer zu gewähren.
Meine Damen und Herren, denken Sie daran, wenn Sie jetzt an Jugoslawien und den dortigen Konflikt denken: Solche Regelungen, wie Sie sie hier vorschlagen, können auf Dauer nur fehlende Akzeptanz in unserem Volk zur Folge haben.Herzlichen Dank.
Das Wort bekommt nun Frau Dr. Sonntag-Wolgast.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unter den Minderheiten, die in unserem Land ohnehin mit Anfeindungen und Verachtung rechnen müssen, rangieren sicherlich die Vertragsarbeitnehmer auf der obersten Sprosse der Leiter. Sie gehören auch zu den Verlierern der Einheit.
Sie sind ja schon zu Zeiten des alten Regimes isoliert und diskriminiert gewesen, ghettoartig untergebracht und als Arbeitskräfte vielfach ausgenutzt. Sie werden das nicht bestreiten können. Nach der deutschen Vereinigung gerieten sie in eine völlig ungesicherte Lebenssituation. Es gab dann die ansteigende Arbeitslosigkeit. So wurden diese einstmals Angeworbenen zu lästigen Kostgängern. Hinzu kam, daß sich die Volksrepublik Vietnam weigerte, ihre Staatsangehörigen wieder aufzunehmen. Um Aufenthaltsstatus und Möglichkeiten des Hierbleibens gab es ein langwieriges Gerangel.Wir, die SPD, aber auch die Ausländerbeauftragten von Bund und Ländern und andere gesellschaftliche Gruppierungen bemühten sich um ein dauerhaftes Bleiberecht. Erst der Asylkompromiß vom 6. Dezember 1992 brachte Fortschritte. Schließlich einigten sich die Innenminister im Mai 1993 auf eine Bleiberechtsregelung für diejenigen, die vor dem 13. Juni 1990 eingereist waren — soweit es die familiäre Lage erforderte und die Betroffenen Arbeit oder Ausbildung nachweisen konnten.Es gibt aber natürlich auch andere, die später gekommen, die illegal eingereist sind oder Asyl beantragt haben. Viele Vietnamesen verdienen sich durch den Handel mit unverzollten Zigaretten Geld. Die Berichte und Bilder sind uns vertraut, ebenso Begegnungen mit diesen Menschen, die oft in zugigen Fußgängertunneln unter ziemlich kläglichen Bedingungen ihre Ware anbieten. Ebensowenig sollten wir allerdings auf der anderen Seite verschweigen, daß es auch Kriminalität in diesem Bereich gibt.Ich finde es gut, daß der Bundestag heute abend Gelegenheit hat, dieses oft verdrängte Thema wieder einmal zu debattieren. Den Anlaß liefert der vorliegende Antrag, liefern natürlich auch die Äußerungen von Vertretern der Bundesregierung über ein angebliches Rückführungsabkommen. Ich habe das Wort „angeblich" bewußt gewählt; denn das, was vor einer Woche ziemlich großspurig als „Abkommen" zwischen Bonn und Hanoi und als „ausgehandelte Vereinbarung" durch die Medien geisterte, verdient diese Bezeichnung nicht! Es handelt sich — Sie haben es zugegeben — bisher nur um eine so genannte „gemeinsame Erklärung über Ausbau und Vertiefung der deutsch-vietnamesischen Beziehungen",
die die Staatsminister Schmidbauer und Hoyer in den ersten Januartagen in Vietnam abgefaßt haben. Nicht mehr und nicht weniger ist das.Vietnam erklärt sich bereit, von seiner bisherigen Weigerung abzurücken und jährlich zwischen 2 500 und 6 000 Vietnamesen aufzunehmen, die vor der Abschiebung stehen. Aber reguläre Verhandlungen hat es noch nicht gegeben, geschweige denn ein Abkommen. Das ist auch gestern bei der Befragung der Regierung noch einmal deutlich eingeräumt worden. Nur leider hat es die Bundesregierung zugelassen, daß zumindest der Eindruck erweckt wurde, es existiere ein fertiges Abkommen und rund 40 000 Menschen müßten in einer Art Stufenprogramm in den folgenden Jahren gehen.Entsprechend groß war die Verwirrung, entsprechend rasch meldeten sich — völlig zu Recht — die Ausländerbeauftragten aus den neuen Bundesländern zu Wort und zweifelten die angegebenen Zahlen an. So hörten wir, z. B. vom Rostocker Ausländerbeauftragten, daß längst nicht alle der erwähnten 40 000 illegal in der Bundesrepublik seien, daß vielmehr etwa die Hälfte von ihnen eine Duldung habe oder im Besitz eines anderen Aufenthaltstitels sei.Lassen Sie mich auf das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und Vietnam eingehen. Es liegt in unserem Interesse, dieses Land ökonomisch und ökologisch zu stabilisieren und darauf einzuwirken, daß die Menschenrechte dort geachtet werden.
Übrigens, um auch das einmal klar zu sagen: Es war in der Vergangenheit das Parlament, das dafür sorgte und darauf drängte, daß sich in den Beziehungen etwas tat, zu einem Zeitpunkt, als die Bundesregierung noch eher aufs Bremspedal drückte. Daß jetzt von beiden Seiten die Kontakte intensiver werden und Vereinbarungen ins Auge gefaßt werden, ist im Prinzip zu begrüßen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, das angepeilte Rückführungsprogramm hat doch einen sehr fatalen Beigeschmack: Da wird ein Gebot des Völkerrechts, nämlich die Pflicht, ehemalige Bürgerinnen und Bürger eines Landes wieder aufzunehmen, mit Finanzspritzen für die Wirtschaft erkauft. Das kann eigentlich nicht ein wirklich gutes Konzept sein.
Ich will nicht mißverstanden werden: Verträge, die die Rückkehr von Flüchtlingen oder Gastarbeitern zu sozial und menschlich annehmbaren Bedingungen fördern und begleiten, sind grundsätzlich nichts
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 749
Dr. Cornelie Sonntag-WolgastSchlechtes. So etwas gab es auch in einem Abkommen von 1993, bezogen etwa auf die Boat people. Da waren Eingliederungshilfen und andere Angebote zur Reintegration enthalten. Jedoch erwähnt die gemeinsame Erklärung, um die es jetzt geht, für die Abzuschiebenden keine solchen wirtschaftlichen Hilfen zur Existenzgründung oder zur Wiedereingliederung. Da muß ich sagen: Als seinerzeit beim Asylkompromiß auf eine Lösung dieses Problems gedrungen wurde, hatten wohl diejenigen, die das wollten — dazu gehörte die SPD —, humane und entwicklungspolitische Ziele vor Augen, aber keinen bloßen Deal nach dem Motto: Nehmt uns eine unbequeme Gruppe von Menschen ab, und wir sorgen dafür, daß es mit den Geschäften aufwärtsgeht. Ich meine, daß die Bundesregierung die heutige Debatte als Appell nutzen sollte, um die anstehenden Verhandlungen wenigstens in humanitäre Bahnen zu lenken.Ich möchte noch kurz zum Antrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Stellung nehmen. Ich habe Verständnis für das Anliegen. Ich finde darin auch richtige Ansätze, aber keine schlüssigen Ergebnisse. Sie weisen natürlich zu Recht auf die traurige Geschichte vieler Vietnamesen hin, aber Sie gehen nicht darauf ein, daß es nun einmal unterschiedliche Gruppen mit unterschiedlichem Status gibt: die legal im Lande Lebenden mit Aufenthaltstiteln, daneben Illegale, ehemalige Vertragsarbeitnehmer ohne Aufenthaltsrecht sowie abgelehnte Asylbewerber.Dazu muß ich sagen: Auch wenn es sich um eine überschaubare Zahl von Menschen handelt, oft mit wirklich anrührenden Lebensgeschichten, wird es nicht möglich sein, daß sie alle nur auf freiwilliger Basis das ist ja Ihre Forderung — zurückkehren.
Das wäre eine Sonderregelung, auf die wir uns schon im Interesse anderer, die nach geltendem Recht ausreisen müssen, nicht verständigen können. Selbst wenn wir zu liberaleren Altfallregelungen kommen — Sie wissen, daß die SPD das im Einklang mit den sozialdemokratisch geführten Ländern anstrebt —, würde auch das nicht alle diese Fälle erfassen können.Mein Vorschlag zum Schluß: Lassen Sie uns im Ausschuß noch einmal in Ruhe über die Problematik sprechen! Machen wir vor allen Dingen der Bundesregierung klar, was in einem echten Rückkehrabkommen im Interesse der Humanität und einer weitsichtigen Entwicklungspolitik vereinbart werden müßte! Auf alle Fälle nicht nur Menschentransfer für bare Münze!
Ich erteile nun dem Kollegen Jörg van Essen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute morgen haben wir über ein Land geredet, in dem Krieg, Bürgerkrieg, Menschenrechtsverletzungen und das Sterben Unschuldiger auf der Tagesordnung stehen.Während der letzten Monate und Jahre haben uns die Greueltaten in Bosnien, Ruanda, Somalia, im Irak und an zahlreichen anderen Stellen der Welt in Atem gehalten. Außenpolitik scheint nur noch ein Hin- und Hereilen zwischen Krisenfällen, bilateralen und multilateralen Feuerwehrübungen und der Verhinderung größerer Flächenbrände zu sein.Meine Damen und Herren, es gibt auch gute Nachrichten. Es gibt Länder, die Krieg und Bürgerkrieg hinter sich gelassen haben. Sie sind den schweren Weg des Wiederaufbaus, gelegentlich mit einer problematischen Ideologie als Grundlage, gegangen; dennoch haben sie in stetiger politischer Entwicklung ein kleines Wunder vollbracht.Zu diesen Ländern gehört Vietnam. Seit dem Zwischenparteitag im Januar 1994, seit der Aufhebung des US-Embargos im letzten Februar, seit dem 40. Gedenktag für Dien Bien Phu ist die internationale Öffentlichkeit darauf aufmerksam geworden. Ebenfalls im Laufe des letzten Jahres hat sich herumgesprochen, daß hier ein weiteres asiatisches Land darauf wartet, in den internationalen Wirtschaftskreislauf einbezogen zu werden.Noch sind in der Welt die Boat people in Erinnerung, noch die Art und Weise, wie 1975 der Süden annektiert statt integriert wurde. Doch wenn man ein asiatisches Volk nur genügend lange gewähren läßt, so wird es eins tun: eine funktionierende Wirtschaft aufbauen.
Die Amerikaner haben das begriffen. Seit einem Jahr bereisen US-Unternehmer das Terrain, planen Investitionen, erkunden die günstigen Arbeitsmarktbedingungen. Nicht zuletzt die sehr guten Fremdsprachenkenntnisse der Vietnamesen werden in den Entscheidungsprozeß einbezogen.Mehr als überholte Ideologie — darin gleicht Vietnam seinem ungeliebten Nachbarn China — stehen die Erzielung hoher Wachstumsraten und die Steigerung der Exporterlöse im Vordergrund. Zwar ist das Ziel des Reformprozesses noch nicht klar definiert, doch hält man sich bei der Suche nach dem rechten Weg nicht lange auf, sondern handelt.Wenn beim ASEAN-Gipfel 1995 über den Beitritt Vietnams entschieden wird, wird ein Land hinzukommen, das aktiv und auf der Basis solider Wachstumszahlen mitzuarbeiten bereit ist. Das ASEAN-Regionalforum vom Juli 1994 hat diesem Land erstmals Gelegenheit gegeben, mit den Nachbarn als Partner mit gleichem Recht, nicht als Gegner zu reden.In den deutsch-vietnamesischen Beziehungen war es deshalb überfällig, einige Altlasten aus der Welt zu schaffen, die eine fruchtbare Zusammenarbeit über die Jahre verschleppt haben.Ein Punkt war die nicht erfolgte Altschuldenregulierung und die dadurch fehlenden Hermes-Deckungen. Dieser Punkt ist aus der Welt. Ein anderer Blockadepunkt war die Tatsache, daß Vietnam einer ganz wesentlichen Rechtspflicht bis vor kurzem nicht nachkam, nämlich der, seine eigenen Staatsangehörigen wieder ins Land zu lassen. Solche Praktiken
Metadaten/Kopzeile:
750 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Jörg van Essenwaren ein unseliges Erbstück der Zeiten, als noch kommunistische Staaten über Wohl und Wehe ihrer Bürger befanden, Dissidenten ausbürgerten und die Grenzen mal in die eine, mal in die andere Richtung dichtmachten.Diesen längst in den Mülleimer der Geschichte gehörenden Zustand durchbrochen und zugleich eine Basis für künftige Zusammenarbeit gelegt zu haben, ist das Verdienst der Staatsminister Hoyer und Schmidbauer.
Wir werden die nun beginnenden Verhandlungen ebenso erfolgreich weiterführen. Wir werden sie in eine Entwicklungszusammenarbeit einmünden lassen, einen Hermes-Plafond einrichten, ein Doppelbesteuerungs- sowie weitere Abkommen ratifizieren und die kulturelle Zusammenarbeit u. a. durch die Einrichtung eines Goethe-Instituts verbessern.Wir werden für die vietnamesischen Mitbürger, die hier leben, gerechte Lösungen finden. Zur Gerechtigkeit gehört, daß Vietnamesen, die unser Land verlassen müssen, nunmehr anderen Personen gleichbehandelt werden, die das auch tun müssen. Gerecht ist, daß die, die kriminell geworden sind, mit Konsequenzen dafür rechnen müssen. Und für einen Rechtsstaat selbstverständlich ist, daß die, die einen legalen Aufenthaltsstatus haben, weiter bei uns leben können.
Der Antrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN führt gerade nicht zu dieser Gerechtigkeit zwischen den verschiedenen Gruppen von vietnamesischen Mitbürgern. Wir können ihn deshalb nicht unterstützen.Vielen Dank.
Ich erteile nun das Wort der Kollegin Maritta Böttcher.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Gestern in Rostock-Lichtenhagen ausgeräuchert, heute rausgeworfen" — auf diese von Heribert Prantl in der „Süddeutschen Zeitung" entworfene Kurzformel läßt sich nach unseren Erkenntnissen die zutiefst erschrockene Stimmung bei den hier lebenden Vietnamesinnen und Vietnamesen nach Bekanntwerden der gemeinsamen deutsch-vietnamesischen Abschiebeerklärung vom 6. Januar treffend zusammenfassen.
Die Stimmungsmache, die von Mitgliedern der Bundesregierung, aber auch z. B. von dem Berliner Innensenator Dieter Heckelmann anläßlich der nunmehr vom Kabinett gebilligten „Gemeinsamen Erklärung" entfacht wurde, läßt Schlimmes befürchten. Nicht nur, daß sich die Bundesregierung von den Ausländerbeauftragten aus Berlin, Brandenburg und Rostock sagen lassen muß, daß ihre Angaben über „40 000 ausreisepflichtige Vietnamesen" falsch sind; auch die Begleitmusik — wenn z. B. der einschlägig bekannte Minister Spranger in bezug auf die abzuschiebenden Vietnamesinnen und Vietnamesen von „40 000 Illegalen" spricht — zielt darauf ab, in der Bevölkerung ein aggressives Klima gegen diese gesellschaftliche Randgruppe zu erzeugen.
Die Realität sieht doch so aus: Zunächst wurden die ehemaligen Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter aufenthaltsrechtlich gegenüber Arbeitsmigranten in den alten Bundesländern benachteiligt. Diejenigen Vietnamesinnen und Vietnamesen, die sich nicht in hoffnungslose Asylverfahren abdrängen lassen wollten, gerieten in unentrinnbare aufenthaltsrechtliche Schwierigkeiten. Arbeitslosigkeit, astronomische Wohnheimmieten und verschleppte Genehmigungen von Arbeitserlaubnissen führten zu dem Verlust von Aufenthaltstiteln. Ohne Wohnung und Arbeit gab es keine neuen Aufenthaltsbewilligungen und ohne diese keine neue Arbeit.
Aus diesem staatlich organisierten Teufelskreis blieb für allzu viele Vietnamesinnen und Vietnamesen, die aus den Bleiberechtsregelungen herausfielen, nur der Ausweg, unterzutauchen und unter den unmenschlichen Bedingungen der Illegalität zu versuchen, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Die Ankündigung der Bundesregierung, im Rahmen des „Asylkompromisses" eine „humanitäre Lösung für die DDR-Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter" zu finden, wurde nicht eingehalten. Nun versucht die Bundesregierung, ein von ihr verschuldetes Problem auf dem Rücken hier lebender Vietnamesinnen und Vietnamesen zu lösen.
Zunächst erpreßte sie Vietnam durch eine monatelange Blockade der Unterzeichnung eines Kooperationsabkommens der Sozialistischen Republik und der EU. Nun versucht sich die Bundesregierung mit einer Abschlagszahlung von 200 Millionen DM an Vietnam aus der Verantwortung zu stehlen.
Ein letztes Wort zu dem vorliegenden Antrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wir unterstützen selbstverständlich im Grundsatz das Anliegen Ihres Antrags. Aber daß Sie entgegen dem Entwurf Ihres Antrags nun plötzlich die gesamte Asylproblematik außen vor lassen, bedauere ich. Wir werden sicher Gelegenheit haben, im Innenausschuß darüber zu beraten.
Ich danke.
Ich schließe damit die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/231 an den in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuß vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 751
Vizepräsident Dr. Burkhard HirschIch rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 26. April 1994 zu den Konsequenzen des Inkrafttretens des Dubliner Übereinkommens für einige Bestimmungen des Durchführungsübereinkommens zum Schengener Übereinkommen — Drucksache 13/24 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß Auswärtiger AusschußNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen.Ich erteile zuerst das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Lintner.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 26. April 1994 haben die Vertragsstaaten des Schengener Durchführungsübereinkommens in Bonn ein Protokoll unterzeichnet, welches die Anwendung asylrechtlicher Normen im Hinblick auf eine Kollision zwischen dem Schengener Durchführungsübereinkommen und dem Dubliner Übereinkommen regelt.
Das Dubliner Übereinkommen bezieht sich auf alle Mitgliedstaaten der Union und wird voraussichtlich in diesem Jahr in Kraft treten. Gegenwärtig steht die Ratifikation des Übereinkommens durch vier Mitgliedstaaten noch aus. In der Bundesrepublik Deutschland ist das Ratifizierungsverfahren bekanntermaßen abgeschlossen. Die Ratifizierungsurkunde wurde am 21. September 1994 in Dublin hinterlegt.
Das Schengener Durchführungsübereinkommen ist bereits in Kraft getreten. Seine Inkraftsetzung hat sich durch technische Probleme mit dem Schengener Informationssystem verzögert. Die Anwendung des Schengener Durchführungsübereinkommens ist jetzt für den 26. März dieses Jahres vereinbart worden.
Beide Übereinkommen enthalten Bestimmungen darüber, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist. Die Regelungen sind im wesentlichen inhaltsgleich, enthalten aber Abweichungen im Detail.
Das Protokoll bestimmt, daß im Interesse der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit mit Inkrafttreten des Dubliner Übereinkommens ausschließlich dessen Bestimmungen Anwendung finden. Es bedarf deshalb nach Art. 3 Abs. 1 der Ratifizierung. — Soviel zu diesem erläuterungsbedürftigen Vorgang.
Vielen Dank.
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Jochen Welt.
Sehr geehrter herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bei dem uns vorliegenden Gesetzentwurf geht es um die Konsequenzen des Inkrafttretens des Dubliner Übereinkommens. Gemeinsam mit dem Schengener Übereinkommen übernimmt Dublin eine Pilotfunktion für das zusammenwachsende Europa durch den Abbau der Binnengrenzen und die Verpflichtung auf entsprechende Ausgleichsmaßnahmen. Dieses bezieht sich beim Dubliner Übereinkommen direkt auf ausgleichende Verfahrensregeln der Asylantragstellung.Sozialdemokraten haben die Verwirklichung eines Staatengebietes ohne Binnengrenzen stets gefordert und sich vehement dafür eingesetzt. Deshalb begrüßen wir, daß mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die Voraussetzungen für einen vollständigen Abbau der Personenkontrollen an den Binnengrenzen geschaffen werden können.Allerdings müssen wir auch heute wieder darauf hinweisen: Der Abbau der Binnengrenzkontrollen zwischen den Staaten in Europa darf keinesfalls zu Lasten der inneren Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger gehen.
Wegfallende Kontrollen an den Binnengrenzen unseres Landes müssen bei zunehmender internationaler Kriminalität durch entsprechende Maßnahmen inzwischen mehr als nur ausgeglichen werden.Fakt ist, daß gerade in letzter Zeit auf der französischen, aber auch auf der niederländischen Seite im Zusammenwirken mit deutschen Dienststellen verstärkt im grenznahen Bereich Kontrollen durchgeführt werden. Hintergrund sind der Zuwachs des Schleuserunwesens zwischen den Ländern und vor allem der wachsende Anstieg der grenzüberschreitenden Kriminalität. Fallen diese Kontrollen nun mit der Etablierung des Schengener Abkommens am 26. März dieses Jahres weg und gibt es dafür keine angemessenen Ausgleichsmaßnahmen auch über den formalen Schengen-Standard hinaus, kann auch diese Bundesregierung, kann auch der Deutsche Bundestag unseren Bürgern nicht erklären, wie die Sicherheit in Zukunft noch gewährleistet ist.
Gerade die Bevölkerung in den Grenzregionen sieht deshalb diesem Datum im März eher mit Schrecken als mit froher Erwartung entgegen.Wir fordern daher seit Jahren eine stärkere polizeiliche Kooperation zwischen den Staaten, wir fordern paritätisch besetzte Außengrenzstellen, und wir fordern den Aufbau einer europäischen Grenzpolizei.
Das Ziel der Übereinkommen, durch die vorgegebenen Ausgleichsmaßnahmen mehr Sicherheit zu schaffen, wird durch die bislang vorgesehenen Aktionen und vor allen Dingen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, durch deren dilettantische Umsetzung nicht erreicht.
Unter Polizeipraktikern wurde ja bereits vorab festgestellt, daß die im Schengener Übereinkommen genannten Ausgleichsmaßnahmen für die wegfallenden Binnengrenzkontrollen völlig unzureichend sind. Hier gilt es also nachzubessern.
Metadaten/Kopzeile:
752 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Jochen WeltWenn wir den neuen Problemen mit Erfolg begegnen wollen, brauchen wir z. B. auch die Harmonisierung des Waffenrechtes und langfristig einen einheitlichen Strafverbund in Europa. Auch brauchen wir dringend eine effektive Regelung der Nacheile, d. h. der polizeilichen Verfolgung von Straftätern auch über die Binnengrenzen hinaus.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es kann und darf doch nicht sein, daß die Grenzen für die Verbrecher aufgehoben werden und für die Polizei weiterhin bestehenbleiben.
Das Tempo, mit dem auch unter deutscher Präsidentschaft innere Sicherheit in Europa gestaltet wird, gleicht dem einer Schnecke. Allerdings werden insbesondere von Mitgliedern der Bundesregierung Luftblasen über eine verbesserte Sicherheit in Europa produziert. Aber jede grenzübergreifende Straftat, deren Zahl nun leider zunimmt, bringt diese Luftblasen zum Platzen. In einer Presseerklärung von Innenminister Kanther vom 30. Dezember 1994 zum Jahreswechsel heißt es u. a., daß während der Präsidentschaft der Bundesrepublik in der EU wichtige Fortschritte bei der Gewährleistung der inneren Sicherheit in Europa und 'bei der Lösung der Zuwandererfragen gemacht worden seien. Ich frage mich: Wo denn nur?
Die Wirklichkeit ist doch eine ganz andere. Keines der groß angekündigten Vorhaben ist in die Tat umgesetzt worden. Selbst die Verabschiedung der Europol-Konvention, die spätestens zum Oktober 1994 hätte erfolgt sein müssen, ist kläglich gescheitert. Wenn wir die innere Sicherheit in Europa ernst nehmen, dann brauchen wir mit Europol mehr als ein Informations- und Dokumentationszentrum. Wir brauchen Europol als gemeinsame, europäisch operierende, d. h. ermittelnde und den Bürger schützende Polizeieinheit.
Wenig Bewegung gibt es auch bei den für die Übereinkommen von Schengen und Dublin bedeutsamen Fragen des Asylrechts und der Zuwanderung. Auch hier bestimmen Stagnation und Hilflosigkeit die europäische Politik. Wo bleibt die gemeinsame europäische Zuwanderungspolitik als Voraussetzung dafür, daß Verfahrensvorschriften wie jetzt im Dubliner Übereinkommen erst einen Sinn machen? Wo bleibt die angekündigte Entschließung zu den Mindeststandards der Asylverfahren in Europa?Über die fehlenden Voraussetzungen braucht man sich angesichts der innenpolitischen Aktivitäten dieser Bundesregierung in der Ausländer- und Asylpolitik überhaupt nicht zu wundern. Die Politik der Bundesregierung gerade in den Bereichen der doppelten Staatsangehörigkeit, der Abschiebung von Kurden und der polititschen Beteiligung unserer ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger zeigt das eigentliche Dilemma auf. Verbesserungen im Interesse der betroffenen Menschen sind offensichtlich überhaupt nicht gewollt.Im Bereich der Durchsetzung asylrechtlicher Normen ist es für uns wichtig, nicht nur Zuständigkeiten, wie in Dublin und Schengen angesprochen, zu regeln, sondern auch den Standard des Asylverfahrens sowie die Unterbringung und Behandlung der Flüchtlinge klar zu definieren. Hierzu gehört vor allem eine einheitliche Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention durch die Mitglieder der EU. Darüber hinaus kann die geforderte Zuwanderungscharta die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen. Aber derartige Initiativen passen wohl nicht in die politische Landschaft.Der Staatssekretär im BMI, Dr. Schelter, hat es unlängst bei einer Berichterstattung vornehmer ausgedrückt: Bei der Formulierung eines Entschlusses über einen gemeinsamen Flüchtlingsbegriff z. B. habe die Bundesregierung wegen eines fehlenden Einigungswillens in Europa „erst gar keine Energie mehr investiert". Aber ohne Wollen und ohne Energie wird es kein Vorwärts in Europa geben. Ohne Nachdruck und ohne politische Energie wird es erst recht keine Klärung in der Asyl- und in der Zuwanderungsfrage geben.
Auf Grund der geographischen Situation Deutschlands mit seinen langen Grenzen Richtung Mittel- und Osteuropa muß doch gerade von Deutschland Druck ausgeübt werden, um sich mit den anderen Staaten darüber zu einigen, wie innerhalb der EU die Lasten und die Verantwortung für die einreisenden Flüchtlinge und andere Zuwanderer gleichmäßiger verteilt werden können. Hier fehlt es bis heute an praktikablen Ansätzen. Es ist schwer einzusehen, daß Deutschland den überwiegenden Teil insbesondere der Bürgerkriegsflüchtlinge aufnehmen muß. Genausowenig wird es für Frankreich hinnehmbar sein, daß algerische Fundamentalisten als Asylbewerber von Deutschland aus terroristische Aktionen und den Waffenhandel steuern.Sollen die in Rede stehenden Übereinkommen wirklich greifen und zum Erfolg führen, so reichen die gegenwärtigen Regelwerke nicht aus. Gefordert ist eine materiell-rechtliche Harmonisierung auf europäischer Ebene.Bei aller Freude über offene Grenzen begleiten derzeit leider Unsicherheit und Angst vor zunehmender Kriminalität in weiten Teilen der Bevölkerung den Gedanken an ein vereintes Europa ohne Grenzen — und dieses nur, weil die Vertragsstaaten, darunter auch die Bundesrepublik Deutschland, ihre notwendigen Schularbeiten entweder gar nicht, zu zögerlich oder nicht konsequent genug gemacht haben. Wer so leichtfertig mit der Verwirklichung von im Grundsatz guten und notwendigen Verträgen umgeht, der schadet nicht nur der inneren Sicherheit in Deutschland und Europa, sondern er zerstört vor allem die Akzeptanz eines vereinten Europas in der Bevölkerung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz der aufgezeigten Regelungslücken und Probleme wird die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 753
Jochen WeltSPD-Bundestagsfraktion dem Gesetzesantrag zustimmen. Wir fordern die Bundesregierung allerdings mit allem Nachdruck auf, weiter die notwendigen europäischen Verhandlungen zu führen, dies mit dem Ziel, zur Harmonisierung des Asyl- und Zuwanderungsrechts in Europa, zu wirksameren Ausgleichsmaßnahmen und zur weiteren Anpassung wesentlicher Rechtsgebiete zu kommen.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort bekommt nun der Kollege Michael Stübgen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Welt, eine ganz kurze, aber notwendige Ergänzung zu Ihrer Rede, zu einem Sachverhalt, von dem ich weiß, daß Sie ihn kennen, aber geflissentlich vergessen haben, ihn hier zu erwähnen; das ärgert mich ein wenig, deshalb muß ich es ergänzen.
Ich bin fast völlig mit Ihrer Analyse der Probleme im Bereich einer notwendigen stärkeren Integration der Innen- und Sicherheitspolitik in der Europäischen Union einverstanden. Aber Sie wissen sehr genau, daß dieser Bereich der Europäischen Politiken — Art. K des Vertrages der Europäischen Union, der sogenannte dritte Pfeiler der europäischen Politik — dem Einstimmigkeitsprinzip unterliegt. Sie wissen genau, welche Vorstöße die Bundesregierung in den letzten vier Jahren in diesem Bereich gemacht hat. Sie wissen auch sehr genau, welche Länder das blockieren und sich leider fast überhaupt nicht bewegen. Einige Regierungen dieser Länder, die sich da nicht bewegen, stehen Ihnen parteipolitisch deutlich näher als uns. Vielleicht lassen Sie uns darauf einigen, daß Sie versuchen, diese Länder mit diesen Regierungen zu überzeugen, weiterzugehen. Dann wären wir schon wesentlich weitergekommen.
Das ist heute aber nicht mein grundsätzliches Thema.
Mit der zur Überweisung vorliegenden Drucksache wird die seit Jahren in diesem Haus diskutierte Frage nach der Behandlung von Asylbewerbern innerhalb der Europäischen Union zunächst abschließend beantwortet. Jeder Bewerber, der in seinem Heimatland tatsächlich verfolgt wird, kann Aufnahme in einem der EU-Staaten finden, sofern er dies wünscht. Dies durchzuhalten ist aber nur möglich, wenn dafür Sorge getragen wird, daß offensichtlich unbegründete Asylanträge schnellstmöglich bearbeitet werden und die betreffenden Personen umgehend in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Zukünftig wird dies durch die in allen EU-Ländern gleich geltenden Vorschriften des Dubliner und des Schengener Abkommens gewährleistet.
Bereits heute zeigen sich erste positive Ergebnisse der gesamteuropäischen Asylpolitik, vor allem in Deutschland. Die Zahl der Asylbewerber ist erheblich zurückgegangen, was dazu geführt hat, daß die einzelnen Verfahren in kürzerer Zeit bearbeitet werden können. Darüber hinaus ist eine deutliche Beruhigung sowohl bei den Kommunen als auch bei den Bürgern der Bundesrepublik eingetreten.
Als nächsten notwendigen Schritt gilt es, die Funktionsfähigkeit des Schengener Informationssystems — kurz SIS genannt — schnellstens herzustellen, um das Schengener Abkommen endgültig in Kraft zu setzen. Mit Hilfe moderner Technik wird es dann möglich sein, die Anträge präziser abzuwickeln und vor allem Asylmißbrauch zu begegnen. Refugees in orbit, also Flüchtlinge, für die sich niemand zuständig fühlt, wird es zukünftig nicht mehr geben.
Die weitestgehende Öffnung innereuropäischer Grenzen kann nur mit einer strengen Kontrolle der Außengrenzen einhergehen. Diese Außengrenzkontrolle muß zukünftig als gesamteuropäische Aufgabe angesehen werden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Günter Graf?
Ja, bitte.
Herr Kollege Stübgen, nur zur Klarstellung — vielleicht habe ich es falsch verstanden —: Sie haben das Schengener Informationssystem in dem Zusammenhang erwähnt, daß dann die Bearbeitung der Asylanträge besser vonstatten gehen kann. Habe ich das so richtig verstanden?
Durch die zentrale Sammlung der Daten über illegale Einwanderer und Asylmißbrauch kann die Prüfung, ob ein Antrag berechtigt ist oder nicht, schneller abgeschlossen werden: durch SIS.Die Verschärfung der Außengrenzkontrolle muß zukünftig als gesamteuropäische Aufgabe angesehen werden. Ich würde mir wünschen, daß die finanzielle und personelle Ausstattung der jeweiligen Grenzposten bereits auf der Regierungskonferenz 1996 thematisiert wird.Ergebnis solcher Beratungen kann nur eine proportionale Verteilung der Lasten sein. Ansonsten werden die europäischen Grenzstaaten — Deutschland ist gegenwärtig ein europäischer Grenzstaat — durch die Kostenlast erhebliche Probleme bekommen, was unweigerlich einen negativen Einfluß auf die weiteren Integrationsschritte der Europäischen Union hätte.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte gerade im Zusammenhang mit dieser Debatte darauf hinweisen, daß die genannten Abkommen lediglich als vorläufige Maßnahme angesehen werden können. Sie werden auf Dauer den Ansturm von Menschen, die in ihrem Heimatland keine Zukunftsperspektive haben, nicht aufhalten. Schätzungen gehen davon aus, daß bis zu 70 Millionen Menschen vornehmlich aus der Dritten Welt und aus Osteuropa in den nächsten Jahren versuchen werden, in die Länder der Europäischen Union einzuwandern.
Metadaten/Kopzeile:
754 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Michael StübgenDaher müssen wir stetig bemüht sein, die Gründe für die Migrationsbewegungen in den Flüchtlingsländern selbst zu bekämpfen, dies insbesondere, weil an den Ostgrenzen unseres Staates schon jetzt eine Trennlinie zwischen Reich und Arm verläuft. Zusammen mit den Partnern in der Europäischen Union müssen wir für eine Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Asylsuchenden sorgen. Erste gute Ansätze bilden die Bemühungen der Bundesregierung, abgelehnten Asylbewerbern z. B. aus Rumänien, Polen oder Bulgarien durch strukturfördernde Reintegrationsprojekte die Rückkehr in ihre Heimatländer zu ermöglichen.
Weiterhin ist es wichtig, die Integration der osteuropäischen Staaten in die Europäische Union mit Ernst zu betreiben. Ich bin sicher, daß sich der Flüchtlingsstrom verringern wird, wenn den Bürgern dieser Staaten in den Ländern selbst eine absehbar sichere Zukunftsperspektive geboten wird.Bei aller Diskussion über die Absicherung unserer Ostgrenzen und der Hilfe für die unmittelbaren Nachbarstaaten müssen die baltischen Staaten, so meine ich, einen besonderen Platz einnehmen. Sie waren es, die sich frühzeitig von der Sowjetunion lossagten und westeuropäische demokratische Strukturen einführten. Dabei vertrauten sie auf die Unterstützung insbesondere der Bundesrepublik. Ich selbst hatte mehrfach die Möglichkeit, mir im Baltikum und auch in Kaliningrad — das zur Russischen Föderation gehört und gehören wird, aber geographisch auch zum Baltikum — ein Bild von der dortigen Lage zu machen. Ich konnte feststellen, mit welchem Eifer die Leute dort vor Ort versuchen, die neue demokratisch-politische und wirtschaftliche Situation zu stärken und auszubauen, und das bei den unglaublichen Problemen, vor denen sie stehen. Ich habe nur wenige getroffen, die Interesse daran haben, in ein westeuropäisches Land auszuwandern. Sie wollen bei sich die Situation verbessern und dort bleiben, wo sie ihre Heimat haben.Dieses und andere Beispiele stützen meine These: Abkommen wie die aus Schengen und Dublin sind lediglich ein vorübergehender Schutz unseres Systems vor einer nicht zu verkraftenden Immigrationswelle. Gelingt es uns nicht, den Menschen vor unserer Haustür eine realisierbare Zukunftsvision aufzubauen, wird sich der Druck auf die zentraleuropäischen Staaten erneut vergrößern. Um aber die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen über die Europäische Union verbessern zu können, muß der Deutsche Bundestag frühzeitig Kenntnis von den Planungen in Brüssel erhalten. Derzeit sind die Verhandlungsinhalte — z. B. zum europäisch-russischen Partnerschaftsvertrag — nicht einmal dem Europäischen Parlament bekannt.Hier wird es Aufgabe der Bundesregierung sein, sich auf der Regierungskonferenz 1996 weiterhin für eine Stärkung des Europäischen Parlaments und einer Verbesserung der Informationsschienen zu den nationalen Parlamenten einzusetzen. Dies führt automatisch zu einer höheren Transparenz europäischer Politik, die dringend notwendig ist, um das Vertrauender Bürger in ein gemeinsames Europa zu stärken. Die Abstimmungen zum Maastrichter Vertrag bzw. die Beitrittsabstimmungen in einigen Ländern haben uns noch einmal deutlich gemacht, wie groß der Nachholbedarf auf diesem Gebiet ist.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile nun das Wort der Kollegin Amke Dietert-Scheuer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das hier zur Entscheidung anstehende Protokoll zu dem Dubliner Übereinkommen ist nur ein Mosaikstein im Gesamtkonzept der EU-Staaten zur Abschottung gegen Flüchtlinge und Einwanderer. Wir haben gerade wieder erlebt, wie sich die Kollegen von SPD und CDU nach einer Intensivierung dieser Forderung gegenseitig überboten haben. Da wir uns gegen diese menschenverachtende Politik insgesamt wenden, werden wir natürlich auch diesen Gesetzentwurf ablehnen.Gerade heute berichtet die „Frankfurter Rundschau" — darauf wurde schon Bezug genommen — über einen drastischen Rückgang der Asylbewerberzahlen in Europa. Herr Kanther und seine Kollegen werden dies sicher als Erfolg verbuchen. Aber was steht dahinter?Sicher gibt es heute nicht weniger Menschenrechtsverletzungen, Verfolgung und Kriege auf der Welt als in den vergangenen Jahren. Flüchtlingen wird jedoch der notwendige Schutz verweigert: durch die Abschottung der Außengrenzen der EU, durch immer restriktivere Asylverfahren, durch Anerkennungskriterien, die der Verfolgungssituation von Menschen in keiner Weise gerecht werden.Die Abkommen von Schengen und Dublin legen fest, daß derjenige Staat für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist, in dem ein Flüchtling zuerst EU-Gebiet betreten hat. Ein anschließender Asylantrag in einem anderen EU-Staat ist nicht mehr möglich. Dagegen wäre rechtlich grundsätzlich nicht einmal viel einzuwenden, wenn in allen Staaten Asylverfahren garantiert wären, die den Mindeststandards der Genfer Konvention entsprechen.Dazu gehört ein faires Prüfungsverfahren, eine gerichtliche Überprüfung der Entscheidungen sowie vor allem ein Aufenthaltsrecht bis zum Abschluß des Verfahrens. Letzteres ist leider auch in der Genfer Konvention nicht mit der nötigen Klarheit geregelt. Vom UNHCR wurde eine solche Regelung zwar eingefordert, aber u. a. auch von der Bundesregierung abgelehnt. Die Zuständigkeitsregelung führt jedoch zu einer Konkurrenz aller Mitgliedsstaaten um die wirkungsvollste Abschreckungspolitik und den niedrigsten Standard in Asylverfahren.Durch die Definition sogenannter sicherer Drittstaaten, die zuerst in der Bundesrepublik mit dem unseligen Asylkompromiß gesetzlich festgelegt wurde, werden Flüchtlinge in Durchreiseländer abge-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 755
Amke Dietert-Scheuerschoben, in denen Schutz vor Verfolgung nicht gesichert ist. Es besteht die akute Gefahr, daß sie durch Kettenabschiebungen wieder im Verfolgerland ankommen.Die europäischen Staaten berufen sich gerne auf ihre gemeinsamen Werte von Demokratie und Menschenrechten. Sie sind aber nicht bereit, Flüchtlinge vor Menschenrechtsverletzungen zu schützen, sondern diffamieren sie als Schmarotzer und Bedrohung unserer Sicherheit, wie dies leider auch gerade durch den Kollegen der SPD wieder geschehen ist.Der Vertrag von Maastricht sieht die gemeinsame Einführung eines Visumzwangs vor, wenn auf Grund einer Notlage in einem Land eine größere Fluchtbewegung zu erwarten ist. So wird ganz bewußt verfolgten oder unter sonstigen Notlagen leidenden Menschen die Flucht erheblich erschwert, oft sogar unmöglich gemacht. Flüchtlinge werden damit geradezu in die Arme von Schlepperorganisationen getrieben, über die man sich hier so gerne beschwert.Aber auch Menschen aus sogenannten Drittstaaten, die schon länger in der EU leben, werden von der als liberale Errungenschaft gepriesenen Freizügigkeit sowie von politischen und sozialen Rechten ausgenommen. Gerade für die größten Einwanderergruppen, wie Türkinnen und Türken in der Bundesrepublik und Nordafrikaner in Frankreich, gelten nicht einmal so minimale Mitbestimmungsmöglichkeiten wie das kommunale Wahlrecht.Wir fordern ein Europa, das seinem demokratischen Anspruch gerecht wird. Ein Maßstab dafür ist der Umgang mit Minderheiten und Menschen anderer Herkunft und der Schutz von Flüchtlingen. Das Dubliner und das Schengener Abkommen leisten dazu keinen Beitrag.
Frau Kollegin, da das Ihre erste Rede im Hause war, möchte ich Ihnen herzlich gratulieren.
Ich erteile nun dem Kollegen Professor Edzard Schmidt-Jortzig das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Das, was wir hier zu beraten haben, ist lediglich ein erster Schritt auf dem Weg einer Harmonisierung des Asylrechts in Europa; nicht weniger, aber auch nicht mehr. Es geht bei dem jetzigen Schritt nämlich allein um die Klärung von Zuständigkeitsfragen. Als nächstes steht dann die Vereinheitlichung des Asylverfahrensrechts an. Hierzu sind, wie man hört und wie man auch weiß, Vorarbeiten schon weit gediehen. Auch das Parlament wird sich damit demnächst ausführlich zu befassen haben.
Aber als Ziel des ganzen Prozesses muß natürlich die Angleichung der materiellen Abmessungen des Asylrechts in Europa, mindestens in der Europäischen Union, bewerkstelligt werden. Nur dann wird zu diesem Thema ein einheitlicher europäischer Rechtsraum geschaffen. Nur wenn das erreicht ist, ist auch die große Änderungsanstrengung des deutschen Asylrechts von 1993, der sogenannte Asylkompromiß, politisch vollständig gerechtfertigt. Denn diese führte bekanntlich von der alten Asylgarantie ab, weil man die Alleinstellung der deutschen Verfassungslage beseitigen wollte, die zu dem starken Asylbewerberdruck führte. Das Ringen, die Mühen, die emotionale Diskussion und die anhaltende Kritik seither sind wohl allesamt noch präsent.
Jedenfalls legt ab 1993 auch der neue Artikel 16a Abs. 2 des Grundgesetzes das Ziel der Asylrechtsharmonisierung mit unseren Nachbarn an. Diese Vorgabe muß nun ausgefüllt werden. Die materielle Rechtsangleichung in Europa muß hier also geschafft werden. Systematisch würde man sich ohnehin eine andere Reihenfolge für die politischen Schritte wünschen: Zunächst käme die Harmonisierung in der Sache und erst dann die Vereinheitlichung von Zuständigkeiten und Verfahren.
Denn das zu beratende Protokoll mit seinen Geltungsanordnungen bedeutet unübersehbar, daß der zuständige Verfahrensstaat mit seinem Asylrecht auch die Sachentscheidung des konkreten Falles bestimmt. Das kann doch kaum zufriedenstellen, wenn die Standards dabei noch ganz unterschiedlich sind.
Im übrigen wird die Begeisterung beim vorliegenden Objekt natürlich dadurch gebremst, daß lediglich zwei ohnehin weitgehend gleichlautende Regelungen voneinander abgeschichtet werden, und dann auch noch solche, die noch gar nicht in Kraft gesetzt worden sind. Freilich erfaßt das nun allein geltende Dubliner Abkommen nominell alle Mitgliedstaaten der EU, während Schengen dies nicht tut. Das mag ein kleiner Fortschritt sein. Aber überwiegend ist das sogenannte Bonner Protokoll gegenüber dem Sachanliegen eben doch nur europarechtlicher Formalaufwand.
Gleichwohl aber wird man dem Protokollgesetz natürlich zustimmen können und müssen. Denn dieser kleine Prozeßschritt ist sowohl systematisch notwendig als auch im noch internationalrechtlich aufgebauten Europa leider unumgänglich. Nur darf es dabei auf gar keinen Fall sein Bewenden haben.
Vielmehr muß die weitere und vor allem wirkliche Asylrechtsharmonisierung mit Entschiedenheit vorangetrieben werden. Die Bundesregierung bleibt deshalb aufgefordert, dieses Ziel nicht aus den Augen zu lassen, es beständig zu fördern und die Erreichung dieses Zieles mit allen Kräften zu betreiben.
Danke sehr.
Herr Professor Schmidt-Jortzig, ich möchte auch Ihnen im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede gratulieren.
Metadaten/Kopzeile:
756 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Vizepräsident Dr. Burkhard HirschIch erteile nun der Kollegin Maritta Böttcher das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So sehr es zu begrüßen ist, wenn rechtliches Durcheinander in Ordnung gebracht wird, so vermögen wir dem heute zur Debatte stehenden Gesetzentwurf dennoch nicht zuzustimmen. Denn was von Ihnen schönrednerisch als „weiterer Schritt zur Harmonisierung von Asylverfahren in der Europäischen Union" verkauft wird, übersetzen wir folgendermaßen: daß Sie aber auch nichts unversucht lassen, die Festung Europa gegenüber Flüchtlingen bis ins letzte Detail auszubauen.
Das, was wir heute maßgeblich debattieren, ist die rechtliche Erstzuständigkeit in Asylverfahren, wie sie sich aus dem Dubliner Abkommen und dem Schengener Vertrag ergibt. Dieser Regelungsgegenstand ist ein gutes Beispiel dafür, wie Sie mit typisch deutscher Akribie auch noch nach dem letzten Schlupfloch für in Westeuropa um Hilfe nachsuchende Flüchtlinge suchen, um es dann flugs zu stopfen.
Die Realität sieht doch so aus, daß es selbst heute noch eine signifikant unterschiedliche Asylrechtsprechung in den verschiedenen EU-Staaten gibt. Das hat zum Teil deutlich voneinander abweichende Asylanerkennungsquoten zur Folge. Es ist aus unserer Sicht das elementare Menschenrecht eines um Anerkennung nachsuchenden Flüchtlings, sich in das Land zu retten, das ihm den besten Asylschutz gewährleistet.
Hingegen ist es aber Ihr, im Dubliner Abkommen festgeschriebenes, Ziel, dieses legitime Ansinnen systematisch zu untergraben. Sie schließen die Grenzen mit Zäunen, Wärmebildkameras und Nachtsichtgeräten. Und obwohl Sie ganz genau wissen, daß damit wahrlich kein einziges Problem der um Asyl nachsuchenden Menschen gelöst wird, stimmen Sie, wie zuletzt Bundesminister Kanther, dann auch noch ein demagogisches Heulen und Zähneklappern über die vermeintlich „gewissenlose und verbrecherische Schleuserkriminalität" an.
Zurück zur Erstzuständigkeitsregelung in Asylverfahren: Zu diesem Ansatz gehört, wie in Art. 15 des Dubliner Abkommens vorgesehen, die möglichst vollständige datenmäßige Erfassung von Identifizierungsmerkmalen von Flüchtlingen. Wohin dies führt, konnten wir in den vergangenen Tagen in der Diskussion um die sogenannte Asyl-Card verfolgen. In einer vom niedersächsischen Datenschutzbeauftrag ten unserer Ansicht nach zu Recht als verfassungswidrig bezeichneten Aktion sollen Asylbewerberinnen und Asylbewerber als gläserne Menschen, mit einer Chipkarte ausgestattet, zu reinen Objekten staatlichen Handelns degradiert werden, nämlich — ich zitiere — zu „Transporteuren der auf dem Chip gespeicherten Daten". Dies zeigt, welchen Preis Flüchtlinge für Ihre Überwachungsstaatspläne zu begleichen haben: Sie bezahlen mit ihrer Menschenwürde und ihrer völligen Entrechtlichung.
Machen Sie uns nichts vor: Wir sind, wie der niedersächsische Datenschutzbeauftragte, der Meinung, daß die Asyl-Card eine „Türöffnerfunktion" für die Einführung von Chipkarten bei der Überwachung anderer sozialer Randgruppen haben wird.
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell ist Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 13/24 an die Ausschüsse, die in der Tagesordnung aufgeführt sind, vereinbart. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen nun zu dem letzten Tagesordnungspunkt, Zusatzpunkt 8:
Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Veröffentlichung der Rede des Alterspräsidenten
— Drucksache 13/97 — Überweisungsvorschlag:
Ältestenrat
Ausschuß für Wahlprüfung,
Immunität und Geschäftsordnung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion BÜNDNIS 90/GRÜNE fünf Minuten Redezeit erhalten soll. Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Simone Probst das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beantragen, daß die Rede des Alterspräsidenten im Bulletin der Bundesregierung veröffentlicht wird. Dieser Antrag ist beileibe keine Sonderregelung, denn bisher sind alle Reden der Alterspräsidenten in diesem Organ veröffentlicht worden.
Der Alterspräsident Stefan Heym hat in Berlin gesprochen. Es hat keinen Widerstand gegeben. Es ist überhaupt kein Grund, ihn in irgendeiner Weise zu diskriminieren, nur weil er der Gruppe der PDS angehört. Es ist einfach lächerlich, der PDS demokratische Gepflogenheiten und übliche Rechte zu verwehren, wo doch eigentlich die politische Auseinandersetzung ansteht. Wir sind nicht bereit, uns dieser politischen Auseinandersetzung zu entziehen und uns hinter formalen Diskriminierungen zu verstecken, wie das anscheinend die Regierungskoalition tut.
Vielen Dank.
Ich erteile nun dem Kollegen Andreas Schmidt das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Probst, Sie haben sehr kurz geredet. Ich finde, die Kürze zeigt auch die Bedeutung Ihres Antrages.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 757
Andreas Schmidt
Ich finde wirklich, daß es eine Form der Beschäftigungstherapie ist, was Sie hier machen. Ich finde, es besteht keine politische Notwendigkeit, hierüber eine lange und große Diskussion zu führen.
Die Zielsetzung, des Antrages ist leider ebenso klar wie eindeutig. Sie wollen die Bundesregierung auffordern, die Rede des PDS-Alterspräsidenten des Deutschen Bundestages im Bulletin — —
— Lassen Sie mich doch einmal ausreden, Herr Kollege!
— Also gut, ich sage: Es geht um den Alterspräsidenten Stefan Heym, der Mitglied der PDS ist,
was für mich kein großer politischer Unterschied zu dem ist, was ich gerade gesagt habe.Jedenfalls soll die Rede im Bulletin der Bundesregierung abgedruckt werden, einem Mitteilungsblatt, in dem zu den unterschiedlichsten Anlässen auch Redebeiträge großer Abgeordneter der deutschen Parlamentsgeschichte wie Konrad Adenauer oder Willy Brandt veröffentlicht worden sind.Ich will sehr persönlich sagen, daß der Alterspräsident Stefan Heym für mich nicht in der großen demokratischen und rechtsstaatlichen Tradition steht, wie sie von Persönlichkeiten wie Konrad Adenauer und Willy Brandt verkörpert wird.
Ich bin schon verwundert, daß ausgerechnet die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die sich zu Recht rühmt, Bürgerrechtler aus der ehemaligen DDR in ihren Reihen zu haben, die unter Inkaufnahme persönlicher Nachteile Widerstand gegen den DDR- Staatsapparat geleistet haben, Urheber dieses Antrages ist.
Der Alterspräsident, um den es hier geht, ist ohne Zweifel ein frei gewählter Abgeordneter, aber immerhin auch ein Mann, von dem z. B. der Historiker Michael Wolffsohn gesagt hat, er sei — ich zitiere —„ein Selbstdarsteller ohne Rücksicht auf Prinzipien".
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wolf?
Bitte schön.
Herr Kollege Schmidt, Sie haben gerade gesagt, daß Sie Stefan Heym nicht in eine demokratische Tradition stellen würden mit anderen Personen, die Sie genannt haben. Stimmen Sie mir in der Feststellung zu, daß gerade Ihre Partei Stefan Heym bis zum Jahre 1990 just in diese demokratische Tradition gestellt und ihn als einen antistalinistischen Kämpfer für Demokratie geehrt hat?
Ich habe meine Meinung zu Stefan Heym. Ich habe mich mit seiner Biographie beschäftigt. Ich werde noch einige Zitate von ihm nennen, und dann werden Sie sehen, daß ich zu dieser Person eine klare Meinung habe. Diese Meinung wird mir auch die PDS in diesem Hause nicht verwehren können.
Meine Damen und Herren, Stefan Heym, ist ein Mann, der es nötig befunden hat, über den schicksalsträchtigen 17. Juni 1953 zu sagen, das Eingreifen der sowjetischen Panzer sei notwendig gewesen — ich zitiere „denn sonst wäre die DDR am Ende gewesen; und ich war für die DDR". Die Demonstranten bezeichnete er seinerzeit als — ich zitiere —,,keine Deutschen und keine Arbeiter, sondern etwas, das man aus dem Leibe der Nation auspreßt wie Eiter aus einem Furunkel". Auch dies sind Zitate von Stefan Heym, die er so gesagt hat und die, meine ich, auch Rückschlüsse auf seine Biographie zulassen.
Das bloße Innehaben — ich lege schon Wert darauf, das hier zu sagen — der Formalposition des Alterspräsidenten verändert nicht die eigene Biographie. Daß sich der Kollege Heym für die PDS hat in den Deutschen Bundestag wählen lassen, zeigt im übrigen, daß er aus seinen, wie ich finde, menschenverachtenden und antidemokratischen Äußerungen in der Vergangenheit bis heute nicht die richtigen Schlüsse gezogen hat.
Gerade auch im Hinblick auf die Opfer der SED-Diktatur empfinde ich keine moralische Verpflichtung, die Regierung zu bitten oder aufzufordern, die Rede des Alterspräsidenten im Bulletin der Bundesregierung zu veröffentlichen.
Es ist übrigens auch ein guter Grundsatz der Gewaltenteilung, daß einerseits die Bundesregierung in eigener Kompetenz entscheidet, was in den Publikationen der Exekutive veröffentlicht wird, und daß andererseits das Parlament in eigener Kompetenz darüber entscheidet, was in ihren Publikationen veröffentlicht wird.
— Das können Sie tun, Herr Kollege. Sie können aber nicht erwarten, daß wir uns dieser Kritik anschließen, weil wir dazu eine andere Auffassung haben.
Metadaten/Kopzeile:
758 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Andreas Schmidt
Die Rede des Alterspräsidenten Stefan Heym ist im übrigen im Protokoll des Deutschen Bundestages dokumentiert. Dies ist richtig und angemessen, aber im Hinblick auf den Inhalt der Rede und die Biographie des Redners völlig ausreichend, meine Damen und Herren.Ich habe noch einige Minuten, will aber hier Schluß machen, weil ich meine, daß das Thema erschöpfend behandelt worden ist. Vielleicht kann man mir die Zeit auf meinem Redekonto gutschreiben. Es wird andere Themen geben, die wichtiger sind, zu denen ich dann gerne wieder etwas länger Stellung nehmen möchte.Vielen Dank.
Herr Kollege, diesen Wunsch kann ich Ihnen leider nicht erfüllen, weil es mit der Geschäftsordnung nicht vereinbar ist. Ich werde aber in meinem Exemplar des Kürschner ein Sternchen dafür anbringen.
Ich erteile damit als nächstem dem Kollegen Freimut Duve das Wort.
Herr Präsident! Herr Kollege, ich weiß nicht, ob das, worüber wir hier reden, so nebensächlich ist. Wir werden über diesen Antrag wahrscheinlich noch intensiver diskutieren. Ich finde es aber gar nicht so schlecht, daß wir einmal über das merkwürdige Verhalten einer großen Bundestagsfraktion während der Rede des Alterspräsidenten und der Bundesregierung nach dieser Rede sowie über die Formulierung des Pressesprechers, als es massive Kritik gegeben hatte, reden. Es tut mir leid, Herr Vogel; ich freue mich, daß Sie da sind; es ist eine Ihrer letzten Wochen im Amt.
Herr Vogel, Sie haben damals gesagt: Wir als Bundesregierung wollten der PDS keine Plattform geben. Das kann man inhaltlich nachvollziehen. Ist es aber angebracht, daß der Pressesprecher der Bundesregierung den Stil, die Haltung, die wir uns seit 1949 erarbeitet haben, mit dem Wort Plattform sozusagen plattmacht?
Die Stillosigkeit lag darin, zu sagen: Jetzt ist es mal etwas anderes! Jetzt gucken wir auf den Sprecher und seinen Inhalt! Das, was man Gott sei Dank mit all den Menschen, die andere Berufe ausüben, nicht so leicht machen kann, wurde mit einem Schriftsteller getan. Der Schriftsteller steht, lebt und stirbt mit all dem, was er in seinem Leben gesagt und geschrieben hat. Diejenigen, die andere Berufe ausüben — auch die Juristen —, haben wunderbare Möglichkeiten, damit ihnen das, was sie in vielen Etappen ihres Lebens gedacht und gesagt haben, nicht so präzise serviert wird, wie Sie das heute gemacht haben.
— Ja, ich bin einverstanden. Ich sage nur: Wie können
wir, wenn wir Heym als Alterspräsidenten haben, eine
solche Entscheidung treffen? Ich habe das für ganz und gar falsch gehalten.
Ich bin im Auswärtigen Ausschuß und muß deshalb hin und wieder ins Ausland. Ich bin merkwürdigerweise selten auf einen Vorgang so häufig angesprochen worden wie auf diesen, auch in den Vereinigten Staaten. Leute, die sich mit Deutschland befassen, sprachen mich sowohl auf das Verhalten während der Rede an, wo von der Union ganz deutlich gemacht wurde: Wir bleiben drin, aber wir zeigen dem deutschen Fernsehpublikum per Miene, daß wir von dem Mann und allem Drum und Dran nichts halten! Und es kam dann die Kritik aus dem Bruch mit der Tradition, daß die Bundesregierung den Alterspräsidenten oder die Alterspräsidentin durch Veröffentlichung im Bulletin honoriert.
Paul Löbe ist in dieser Weise honoriert worden. Marie-Elisabeth Lüders von der F.D.P. ist in dieser Weise zweimal honoriert worden. Robert Pferdmenges ist so honoriert worden; Konrad Adenauer wurde schon erwähnt. Um William Borm hat es, was ich sehr tragisch finde, als er tot war, irgendwann plötzlich eine Diskussion über bestimmte Stufen seiner Biographie gegeben, die ich sehr bedauert habe. Es ging um bestimmte Kontakte, die er gehabt hat. Ich habe ihn lange gekannt, sehr gemocht.
Gehabt haben soll.
Gehabt haben soll, völlig richtig. Danke, Herr Präsident Hirsch. — Dann erschien Ludwig Erhard zweimal, später Alterspräsident Herbert Wehner, der große Demokrat mit einer dramatischen, von der deutschen Geschichte bestimmten Biographie mit unzähligen zitierbaren Dingen. Natürlich haben wir alle — auch Sie —ihn geehrt. Dann erschien dreimal Willy Brandt. Auch er ein Mann mit einer eigenen Biographie.Wenn dann Stefan Heym dort erscheint, dann kann man sagen: Mein lieber Stefan Heym, du stehst jetzt für die DDR, für die kommunistische Geschichte. Ich bin nun kein großer Freund von der PDS, das muß ich sagen.
Stefan Heym ist ein ehemaliger Kommunist, ein amerikanischer Offizier, ein Bürger der DDR, ein Jude, vielfach verfolgt, ein Deutscher, dessen Brechungen auch in seinen Büchern und auch in seinem Verhalten deutlich werden. Ich habe mich im Zusammenhang mit Havemann und meinem Engagement als Lektor von Schriften Robert Havemanns auch über ihn geärgert. Aber immerhin ist er dann doch zur Beerdigung von Havemann gekommen. Ich habe es für ungeheuerlich gehalten, daß angesichts einer solchen die deutsche Geschichte in ihren Brechungen gelebt habenden Biographie die Bundesregierung nicht die Gelassenheit aufgebracht hat und sagt: Das nehmen wir so hin, das ist das älteste demokratisch gewählte Mitglied des Deutschen Bundestages, wir hören uns diese Rede gelassen an, und wir erweisen ihr den gleichen Stil wie den Reden all seiner Vorgängerinnen und Vorgänger. Das wäre souverän gewesen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 759
Freimut DuveIch fand die Haltung der Bundesregierung außerordentlich unsouverän. Sie hat etwas getan — Herr Präsident Hirsch, auch Sie haben es seinerzeit kritisiert —, was ich für unser Parlament nicht möchte, nämlich zu überlegen: Wer von uns Mitgliedern ist ein Gegner, und wer ist eigentlich ein Feind? Der Feindbegriff — da sind wir uns einig, das weiß ich, weil wir uns kennen — darf nie in das Parlament. Der Feindbegriff gehört nicht in die Demokratie. Da gibt es auf allen Seiten und in allen Parteien manche unter uns, die das immer wieder lernen müssen. Herr Vogel — Sie können hier jetzt leider nicht dazu Stellung nehmen —, ich glaube, daß Sie diese Entscheidung längst bereuen. Aber indem Sie diese Entscheidung getroffen haben, haben Sie von einer Seite, die auch Präsident Hirsch seinerzeit kritisiert hat, den Feindbegriff in das Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative hineinkriechen lassen. Denn morgen entscheidet in einer Frage des Stils und der Form ganz jemand anders, der sich dann auf Sie und diese inhaltliche Begründung beruft und sagt: Dem eine Plattform geben? Der beansprucht Art. 5 des Grundgesetzes für sich?Herr Vogel, das war ein Ausrutscher. Es war aber auch eine Beschädigung für unseren Staat. Ich denke, Sie sollten anders als mein Vorredner die Souveränität haben zu sagen: Wir veröffentlichen das im Bulletin. — Damit ist die Sache erledigt, und wir setzen ein Zeichen des Stils und der demokratischen Gelassenheit. Die halte ich mit für das Wichtigste, was wir in den nächsten vier Jahren brauchen.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Jörg van Essen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundestag hat seine Beratungen heute mit der Debatte über Tschetschenien begonnen und tauscht sich nun über die Frage aus, ob eine bereits mehrfach abgedruckte Rede nochmals veröffentlicht werden soll. Das zeigt die Spannbreite der Gewichtigkeit der Themen.
Ich habe die Rede des Kollegen Heym mit großem Interesse verfolgt. Manchem habe ich zustimmen können; anderes fand ich ziemlich blauäugig. Einige Dinge erschienen mir nicht akzeptabel. Aber auch Kollegen aus meiner Fraktion haben Stefan Heym für seinen Redebeitrag Beifall gezollt. War die Rede so, daß wir uns als Parlamentarier darüber Sorge machen müßten, daß sie an möglichst vielen Stellen abgedruckt wird?
— Ich komme noch darauf, Herr Kollege.
Der Bundestag hat die Zeitung „Das Parlament"; die Rede des Alterspräsidenten ist dort selbstverständlich dokumentiert. Das Bulletin erscheint in der Verantwortung der Bundesregierung. Wie würden wir eigentlich reagieren, Herr Kollege Duve, wenn die Bundesregierung versuchen würde, Einfluß auf das zu nehmen, was in unserer Zeitschrift, der Zeitschrift „Das Parlament", erscheint?
Wir würden uns das mit Nachdruck verbitten, zu Recht, und sind deshalb gut beraten, uns umgekehrt nicht anders zu verhalten.
Aber ich gebe Ihnen, lieber Herr Duve, in einem recht: Es steht uns dann immer noch frei, über Stilfragen — das haben Sie ja zu Recht angesprochen — unterschiedlicher Meinung zu sein.
Ein weiteres Wort, das Sie, Herr Kollege Duve, verwandt haben, möchte auch ich aufgreifen: „Gelassenheit". Gelassenheit ist immer ein guter Ratgeber in der Politik. Ich bin sicher, daß dann, wenn man sich dieses Ratgebers Gelassenheit bediente, heute manches anders entschieden würde, die Frage, ob man die Rede abdruckt, aber vielleicht auch die Frage, ob wir über diesen Punkt tatsächlich im Parlament debattieren sollten.
Vielen Dank.
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Gerhard Zwerenz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde die drei Minuten, die mir zustehen, nicht damit ausfüllen, daß ich die Rede halte, die ich halten wollte. Ich meine, daß es angebracht wäre, daß, wenn darüber gesprochen wird, Stefan Heym Genugtuung widerfahren zu lassen, er dazu anwesend wäre. Das halte ich für notwendig.Ich glaube ferner, daß ich so antworten müßte, daß ich eine Antwort an die Adresse bestimmter Kollegen geben müßte, u. a. an den Kollegen Dregger und an den Bundeskanzler — an den Kollegen Dregger deswegen, weil er ja Alterspräsident geworden wäre, wenn es Heym nicht wäre, und weil er offensichtlich die Rede, die er als Alterspräsident hatte halten wollen, als erste normale Rede im 13. Bundestag gehalten hat. Darauf wäre einmal zu erwidern.Ich stelle lediglich jetzt fest: Hier stehen sich zwei politische Richtungen diametral gegenüber. Die Richtung, die behauptet, es hat am 8. Mai 1945 keine Befreiung gegeben, ist bei Ihnen integriert. Dabei finden Sie nichts; das gehört zu Ihrer Ordnung. Aber für Sie ist es ein unfaßbarer Vorgang, wenn ein Vertreter der großen, weit gestreuten, pluralistischen linken Literatur nach 1945 — gewiß ein umstrittener, aber auch ein verdienstvoller Mann — wie Stefan Heym hier sprechen soll. Denken Sie daran, wie Sie gehandelt haben, als Sie im Reichstag in Berlin wie ein Eisblock trotzig sitzengeblieben sind, als der Alterspräsident eingetreten ist.
Von da an haben Sie Obstruktionspolitik gemacht. Das finde ich nicht nur stilistisch falsch; darüber wäre einmal zu verhandeln.Deswegen möchte ich auch gern dem Bundeskanzler eine Antwort auf sein heutiges Verhalten geben. Es ist einfach mehr als nur ungehörig, zu einem Mann
Metadaten/Kopzeile:
760 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995
Gerhard Zwerenzwie dem Grafen von Einsiedel zu sagen: „Er hat doch ..." — Der Mann hat ein Recht auf seinen Namen. Er ist nun einmal ein Abgeordneter der PDS. Die Art und Weise, wie hier mit PDSlern umgegangen wird, bestätigt mich jedenfalls darin, daß es richtig war, in meinem Alter von fast 70 Jahren in dieses Parlament hineinzugucken, um zu sehen, was da eigentlich ist. Ich fühle mich nun in einer absoluten, radikalen Oppositionsrolle bestätigt; denn das, was Sie hier vorführen, ist unsachlich; das ist nicht demokratisch; das ist beschämend. Damit möchte ich schließen.Ich hoffe, daß ich die Rede, die ich jetzt nicht halten konnte, irgendwann noch halten darf.Ich danke Ihnen.
Ich erteile nun Herrn Bundesminister Bohl das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Zwerenz, ich möchte zunächst feststellen, daß für die moralische Erhöhung, die Sie meinen in Anspruch nehmen zu können, angesichts der Tatsache gar keine Veranlassung besteht, daß Sie in einer Partei sind, die sich nun einmal in der Nachfolge der SED befindet. Sie brauchen uns keine Belehrungen dazu zu geben.
— Herr Zwerenz, zur Kultur gehört auch, daß man sich zumindest gegenseitig anhört. Ich habe Sie angehört. Sie werden sicherlich die Geduld haben, mich ebenfalls zu ertragen.Ich möchte Ihnen ergänzend sagen: Bauen Sie doch bitte keinen Popanz auf! Der Bundeskanzler hat von dem Herrn Vorredner gesprochen und hat dann „der Vorredner" gesagt und hat „er" wiederholt. Daher brauchen Sie sich nicht hier hinzustellen und einen Popanz aufzubauen, als würde der Bundeskanzler die Menschenwürde eines Mitgliedes dieses Hauses nicht beachten. Ich muß ganz ehrlich sagen: Das ist das typische Verhalten, das die Mitglieder der PDS seit vier Jahren hier an den Tag legen. Wir werden das jedenfalls nicht mitmachen.Für die Bundesregierung ist folgendes zu sagen:Erstens. Das Bulletin erscheint seit dem 27. Oktober 1951 zur Unterrichtung der Öffentlichkeit über die Tätigkeit der Bundesregierung. Herr Kollege Duve, es ist nicht so, daß die Bundesregierung auf Grund der Tatsache, daß sie der Kontrolle des Bundestages unterliegt, verpflichtet wäre, das zu publizieren, was der Bundestag wünscht.
— Aber selbstverständlich können Sie Ihre Meinung äußern; das ist doch klar. Aber daraus ergibt sich keine Verpflichtung der Bundesregierung, dem zu folgen, was der Bundestag oder einzelne Abgeordnete kritisieren.Veröffentlicht werden Dokumentationen von Staatsverträgen, Regierungsabkommen, Regierungserklärungen, Reden, offizielle Meldungen, Glückwünsche, Beileidskundgebungen, diplomatische Agréments und amtliche Statistiken. Also, das Bulletin ist Organ der Exekutive. Es ist deshalb nicht für die Öffentlichkeitsarbeit anderer Verfassungsorgane zuständig. Das gilt insbesondere für Reden, die im Bundestag gehalten werden. Dort gehaltene Reden werden im Bulletin nur dann veröffentlicht, wenn sie als Erklärung der Bundesregierung vom Bundeskanzler bzw. vom zuständigen Fachminister vorgetragen werden.Seit Beginn der zweiten Legislaturperiode 1953 hat sich eine gewisse Tradition entwickelt, konstituierende Sitzungen des Deutschen Bundestages auszugsweise im Bulletin zu dokumentieren. In der Tat sind seit einigen Jahren auch die Reden der Alterspräsidenten der konstituierenden Sitzungen veröffentlicht worden. Aber z. B. bei der konstituierenden Sitzung des 5. Deutschen Bundestages 1965 ist die Rede des damaligen Alterspräsidenten Dr. Adenauer lediglich mit zwei kurzen Zitaten im Bulletin wiedergegeben worden. Die Rede ist keineswegs in toto publiziert worden.
— Das hätten wir vielleicht machen können. Ich war damals gerade in die CDU/CSU eingetreten. Ich war seit drei Jahren Mitglied und war noch nicht so weit nach vorne gedrungen.Zweitens. Auf der anderen Seite — das möchte ich mit Deutlichkeit sagen — ist die Funktion eines Alterspräsidenten ja mehr eine formale Funktion. Ich sage einmal nicht für die Bundesregierung, sondern als Abgeordneter dieses Hauses, daß ich es mir als präsumtiver Alterspräsident sehr wohl überlegen würde, ob ich eine solche Funktion wahrnehmen würde, wenn im Hause erkennbar so viel Widerspruch gegen meine Person, gegen meine Politik, gegen meine Alterspräsidentschaft bestehen würde. Ich würde das — ich rede von mir — mit Sicherheit nicht tun. Es muß nicht jeder Beifall klatschen; aber es muß für mein Empfinden eine gewisse allgemeine Zustimmung, ein Common sense, dafür da sein. Ich sage das als meine persönliche Meinung. Das ist nicht die Meinung der Bundesregierung.Richtig ist, daß Stefan Heym — ich muß zugeben, daß mich das schon überrascht hat — laut ARD- Sendung „Report" vom 21. November 1994 z. B. 1988 gesagt hat:Honecker ist ein Mensch, der sich verändert, der sucht. Glauben Sie bitte nicht, daß er geistig erstarrt oder verkalkt ist.1989 meinte Stefan Heym:Viele von den jungen Leuten in Ungarn und Österreich, die da jetzt jeden Abend samt ihrer Fluchtstory im Westfernsehen gezeigt werden, sind im Grunde genommen Spießbürger. Ihre Vorstellungen von Demokratie: „primitiv".Meine Damen und Herren, daß der zuständige Chef des Bundespresse- und Informationsamtes vor einem
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 761
Bundesminister Friedrich Bohlsolchen Hintergrund und weil auch keine rechtlichen Verpflichtungen bestehen, die allergrößten Schwierigkeiten hat, eine solche Rede zu publizieren und zu dokumentieren, ist, glaube ich, mehr als nachvollziehbar. Deshalb hat die Bundesregierung die Entscheidung des Regierungssprechers und Chef des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung mitgetragen.Es handelt sich jetzt um den Antrag einer Fraktion dieses Hauses. Wir haben die Stellungnahmen der Fraktion gehört. Der Bundesregierung liegt mit Sicherheit nicht am Herzen, daß dieser Vorgang der PDS in irgendeiner Weise die Chance gibt, sich selbst sozusagen eine Märtyrerrolle zu schaffen. Wir werden deshalb die Beratungen im Ausschuß abwarten, dort noch einmal unsere Position darlegen und auch gerne erfragen, was die Fraktionen dazu im einzelnen meinen.Wir haben jedenfalls nicht die Absicht, diesen Vorgang als Instrument der PDS benutzt sehen zu wollen, ihrem politischen Anliegen in irgendeiner Weise Vorschub zu leisten. Wir werden den Vorgang nach den Beratungen in den Ausschüssen innerhalb der Bundesregierung und der Koalition noch einmal bewerten.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/97 zur federführenden Beratung an den Ältestenrat und zur Mitberatung an den Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung vorgeschlagen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich möchte mir zum Abschluß, da wir hier in einem relativ kleinen Kreis zusammen sind, die Bemerkung erlauben, daß eine Entscheidung in innerer Souveränität getroffen werden möge, die uns eine weitere parlamentarische Behandlung dieses Vorgangs erspart.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 20. Januar 1995, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.