Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich teile zunächst mit: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um die Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zu den deutsch-türkischen Beziehungen und um eine von der Fraktion der SPD verlangte Aktuelle Stunde zum Thema „Giftstoffe in Babynahrung" erweitert werden. Die Aktuelle Stunde wird nach der Debatte zur Regierungserklärung aufgerufen.
Des weiteren mache ich darauf aufmerksam, daß die heutige Fragestunde bis 15.00 Uhr verlängert wird und voraussichtlich alle Geschäftsbereiche heute aufgerufen werden.
Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Themen der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt:
Erstens. Berufsbildungsbericht 1994.
Zweitens. Maßnahmevorschläge der Arbeitsgruppe Berufliche Bildung.
Drittens. Sachstandsbericht zum Thema Schweinepest.
Viertens. Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz 1994.
Fünftens. Bericht über den Stand der Umsetzung von EG-Richtlinien in deutsches Recht.
Sechstens. Überprüfung von EG-Maßnahmen durch die Bundesregierung an Hand des Subsidiaritäts- und des Verhältnismäßigkeitsprinzips.
Das Wort für den einleitenden Bericht hat der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Professor Dr. Karl-Hans Laermann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Das Bundeskabinett hat heute den Berufsbildungsbericht 1994 zustimmend zur Kenntnis genommen und dazu festgestellt: In den neuen Ländern wurde auch 1993 eine ausgeglichene Ausbildungsplatzbilanz erreicht. Eine weitere deutliche Steigerung des betrieblichen Ausbildungsplatzangebots, insbesondere im Handwerk, hat dazu ebenso beigetragen wie die vom Europäischen Sozialfonds mitfinanzierte Gemeinschaftsinitiative des Bundes, der neuen Länder und Berlins.Bis Ende September 1993 wurden gut 99 000 neue betriebliche Ausbildungsverträge abgeschlossen. Das waren rund 4 % mehr als im Vorjahr. Durch die Gemeinschaftsinitiative erhielten seit Anfang Oktober 1993 8 000 weitere Jugendliche einen außerbetrieblichen Ausbildungsplatz. Ich stelle aber fest, daß außerbetriebliche Ausbildung nur ein Notbehelf ist und bleibt.Das Kabinett ist sich bewußt, daß der für 1994 prognostizierte Zuwachs von rund 10 000 Bewerbern in den neuen Ländern eine weitere Steigerung des betrieblichen Angebots erfordert. Das derzeit noch unzureichende betriebliche Ausbildungsplatzangebot ist nicht als unabänderlich zu akzeptieren. Durch diese Sichtweise würde die Wirtschaft vorschnell aus ihrer Verantwortung für die berufliche Bildung entlassen und auch in ihrer Ausbildungsfähigkeit unterschätzt werden. Noch längst nicht alle ausbildungsfähigen Betriebe bilden aus oder schöpfen ihre Möglichkeiten angemessen aus.Der Ausbildungsstellenmarkt in den neuen Ländern wird weiter sorgfältig beobachtet, und es werden Bemühungen seitens der Wirtschaftsverbände, des BMA, der Bundesanstalt für Arbeit, des BMWi und des BMBW unternommen, um das Ausbildungsengagement der Betriebe zu erhöhen. Ich werde dem Bundeskabinett bis zum 1. Juli 1994 über die Entwicklung berichten.In den alten Ländern ist 1993 insbesondere in großen Industriebetrieben das Ausbildungsplatzangebot zurückgegangen. Trotz eines insgesamt nach wie vor hohen Angebotsüberhangs gibt es vereinzelt erstmals seit Jahren regionale Angebotsengpässe.Alle Prognosen gehen davon aus, daß zukünftig mehr beruflich ausgebildete Fachkräfte gebraucht werden, um den Standortvorteil Deutschlands, d. h. die hohe berufliche Qualifikation der Menschen, zu sichern. Es muß deshalb nachhaltig davor gewarnt werden, die betriebliche Berufsausbildung aufgrund
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18844 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. April 1994
Bundesminister Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann konjunktureller Entwicklungen an kurzfristigen Kostenüberlegungen und Personalplanungen zu orientieren.
Auch das veränderte Bildungsverhalten der Jugendlichen führt seit Anfang der 90er Jahre zu einer rückläufigen Beteiligung am dualen System. Das signalisiert dringenden Handlungsbedarf.Damit die hohe Beteiligung junger Menschen an der dualen Berufsausbildung auch in Zukunft gesichert bleibt, muß die Attraktivität der Fachkräfteberufe und der Berufsbildung weiter erhöht werden. Es gilt, Karriere- und Aufstiegschancen, aus der beruflichen Bildung heraus, auch ohne akademisches Studium zu entwickeln.Der Berufsbildungsbericht wie auch der Bericht der von den Regierungschefs von Bund und Ländern Ende 1993 eingesetzten Arbeitsgruppe Berufliche Bildung führen dazu ein Bündel vordringlicher Maßnahmen auf. Das Bundeskabinett hat den Bericht der Arbeitsgruppe Berufliche Bildung und die von mir dazu vorgeschlagenen Umsetzungsschritte des Bundes heute beraten. Sie sieht vor allem fünf Ziele, die nachdrücklich verfolgt werden müssen:Erstens. In allen Teilen Deutschlands muß eine ausreichende Zahl qualifizierter betrieblicher Ausbildungsplätze angeboten werden. Die Wirtschaft darf in den alten Ländern ihr Ausbildungsangebot nicht zurückfahren. In den neuen Ländern muß das betriebliche Ausbildungsplatzangebot auch 1994 deutlich erhöht werden.Bund, Länder und Sozialpartner werden die Qualität der dualen Berufsausbildung durch beschleunigte Modernisierung der Ausbildungsinhalte verbessern.Zweitens. Die Attraktivität beruflicher Aus- und Weiterbildung muß für leistungsstärkere Jugendliche auch als Alternative zu Gymnasium und Studium gesteigert werden. Dazu werden anspruchsvolle anerkannte Zusatzangebote für die Ausbildung und darauf aufbauende Fortbildungsphasen entwickelt.Das Fremdsprachenlernen und die Förderung des Auslandsaustausches in der beruflichen Bildung sind zu intensivieren. Durch inhaltliche und zeitliche Verzahnung von Aus- und Fortbildung sollen neue anerkannte berufliche Bildungswege für gehobene und höhere Berufspositionen geschaffen werden.Für Jugendliche mit Hochschulzugangsberechtigung sollen die praxisorientierten dualen Ausbildungsangebote im Hochschulbereich ausgeweitet werden.Das Schlagwort Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung muß endlich in konkretes Handeln umgesetzt werden.Deshalb muß drittens das Ansehen der Berufsbildung in Arbeitswelt und Gesellschaft als entscheidende Voraussetzung für mehr Attraktivität verbessert werden. Unternehmen und Verwaltungen müssen mehr als bisher Personalentwicklungsmaßnahmen für Absolventen beruflicher Aus- und Weiterbildung vorsehen und deren Aufstiegschancen merklich verbessern.Das Kabinett wird sich noch 1994 mit Personalentwicklungsmaßnahmen und Aufstiegschancen für Absolventen beruflicher Bildung in der öffentlichen Verwaltung beschäftigen. Was wir brauchen, ist eine pluralistisch organisierte Weiterbildungspolitik.Viertens. Die Gleichwertigkeit der Berufsbildungsabschlüsse beim Zugang zu weiteren Bildungswegen muß anerkannt werden, damit die beruflichen Bildungswege durchlässiger werden. Bund und Sozialpartner fordern von den Ländern, Hauptschüler mit abgeschlossener dualer Berufsausbildung uneingeschränkt Realschülern gleichzustellen.Ferner wird der Bund auf einheitliche Regelungen des sogenannten dritten Bildungsweges hinwirken, die eine bundesweit anerkannte Hochschulzugangsberechtigung für qualifizierte Absolventen beruflicher Bildung sicherstellen. Es gilt, dem Trend der Verdrängung von oben nach unten entgegenzuwirken.Fünftens — und dies betone ich besonders —. Der Anteil von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ohne Berufsausbildung muß weiter verringert werden. Mein Haus hat dazu bereits ein umfassendes Handlungskonzept entwickelt, an dessen Umsetzung Länder und Sozialpartner mitwirken. In dieses Konzept sind Behinderte einzubeziehen, damit auch sie ihren Lebens- und Arbeitsinhalt finden. Ich weise hier auch auf das Benachteiligtenprogramm hin.Meine Damen und Herren, ich habe den Auftrag, dem Kabinett über die eingeleiteten Maßnahmen und die erreichten Fortschritte spätestens im April nächsten Jahres zu berichten. Da die Arbeitsgruppe Berufliche Bildung ihre Beratungen zügig und schnell durchgeführt hat und zu einem weitgehend einvernehmlichen Ergebnis gekommen ist, gebe ich der Erwartung Ausdruck, daß wir die in dem Papier vorgeschlagenen Maßnahmen auch zügig umsetzen können. Ich erwähnte bereits, daß die Bundesregierung die Schritte zur Umsetzung schon konzipiert hat.Herzlichen Dank.
Danke, Herr Minister Laermann.
Ich gebe im Zusammenhang mit den Themen, die heute anstehen, jetzt schon bekannt, daß es bereits eine lange Liste von Meldungen zum Punkt Schweinepest gibt, so daß wir uns darauf verständigen sollten, spätestens 13.20 Uhr, falls so viele Fragen sind, den Bereich Bildung abzuschließen, um noch Zeit für die anderen Fragen zu haben.
Die erste Frage zum Bereich Berufsbildungsbericht stellt Herr Rixe.
Herr Minister, zu einigen Punkten, die Sie hier vorgetragen haben, kann man uneingeschränkt ja sagen, aber ich habe eine Frage, was die Ausbildung insgesamt betrifft.Sie haben noch einmal ganz deutlich auf die Ausbildung in den neuen Ländern hingewiesen und gesagt, wie problematisch es in diesem Jahr wird. Wir wissen aber auch — und das geht auch aus Ihrer
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Günter RixeErklärung hervor —, daß im Jahre 1993 allein in der Industrie 26 000 Ausbildungsplätze nicht angeboten wurden. Sie haben jetzt wieder an die Wirtschaft appelliert. Ich frage Sie: Bleibt es wie in den letzten Jahren bei Ihrem Vorgänger wieder bei Appellen, oder denken Sie schon heute, nämlich im April, darüber nach, wie man denn diese Lücke schließen kann?Sind Sie bereit, das Benachteiligtenprogramm in den fünf neuen Ländern auszuweiten, und sind Sie bereit, nicht nur an die Wirtschaft zu appellieren, sondern ihr auch zu drohen — so sage ich einmal —, daß, wenn sie in diesem Jahr das nicht wieder aufholt, was sie im letzten Jahr versäumt hat, die Politik darüber nachdenken müßte, ob unser duales Ausbildungssystem eigentlich noch so hervorragend ist, wie wir das überall, wo wir auftreten — und das machen wir alle gemeinsam —, nach außen vermitteln? Das ist doch eine Frage.
— Ja, die Frage kommt.
Ich frage: Denken Sie jetzt schon daran, das Benachteiligtenprogramm für die fünf neuen Länder auszubauen, und überlegen Sie auch, wie Sie die gemeinsame Entscheidung zum Berufsbildungsbericht 1992, hier im Hause einstimmig beschlosssen, durchsetzen können, in der wörtlich steht, daß dieses Benachteiligtenprogramm für die fünf neuen Länder ausgebaut und den Berufsschulen dort Unterstützung gewährt werden soll?
Herr Kollege Rixe, erstens kann ich Ihnen versichern, daß wir sehr intensiv nachdenken und die Entwicklung sehr sorgfältig und sehr aufmerksam verfolgen. Ich vertrete aber nachdrücklich die Auffassung, daß wir uns, jedenfalls solange keine gegenteiligen Erfahrungen gemacht worden sind, mit den Zuständigen, mit den Verantwortlichen, also insbesondere mit den Vertretern der Wirtschaft, des Handels und der Verwaltungen, zusammensetzen müssen, mit ihnen sprechen und sie motivieren müssen. Wir müssen sie in der Tat darauf hinweisen, welche wichtige Aufgabe sie mit der Bereitstellung von Ausbildungsplätzen zu erfüllen haben.
Ich bin da sehr zuversichtlich und beziehe mich dabei auf die Gespräche, die bisher geführt worden sind. Ich habe daraus und auch aus den Ansätzen bei den Bemühungen der Wirtschaftsverbände den Eindruck gewonnen, daß wir sehr wohl davon ausgehen können, daß die Wirtschaft erkannt hat, welche Aufgabe und welche Verpflichtung sie hier hat.
Solange wir keine belastbaren Zahlen haben, würde ich gerne davon absehen, Ihnen konkretere Vorstellungen über mögliche Maßnahmen vorzutragen. Ich halte, um das deutlich zu sagen, nichts davon, jetzt zu drohen. Geboten sind vielmehr Zusammenarbeit und Kooperation. Dabei kommt es darauf an, mit welcher Überzeugungskraft man sich mit den Beteiligten unterhält.
Das Benachteiligtenprogramm und seine Bedeutung habe ich erwähnt. Ich habe auch erwähnt, daß
das im Maßnahmenkatalog, der gemeinsam von Bund, Ländern und den Sozialpartnern vorgelegt worden ist, enthalten ist. Wir arbeiten an den Umsetzungskonzepten und werden dabei auch die finanzielle Entwicklung berücksichtigen müssen. Nach der Haushaltslage — ich bin in bezug auf das, was Bildung und Ausbildung betrifft, positiv gestimmt — können wir dann entsprechende Maßnahmen ansetzen.
Sie bezogen sich auf den Beschluß zum Berufsbildungsbericht 1992. Ich denke, daß wir in der Kontinuität dieses Berichtes weiterarbeiten und weiterarbeiten wollen.
Danke. — Graf von Waldburg-Zeil.
Herr Bundesminister, habe ich recht verstanden, daß wir in diesem Jahr nur noch 8 000 außerbetriebliche Ausbildungsplätze gebraucht und damit den niedrigsten Stand der letzten Jahre erreicht haben? Wird dadurch nicht deutlich, daß diese Hilfskrücke allmählich abgebaut werden kann, weil es viel besser ist, eine vollständige betriebliche Ausbildung zu haben?
Herr Kollege Graf von Waldburg-Zeil, wir haben 8 000 außerbetriebliche Ausbildungsplätze in der Gemeinschaftsinitiative gebraucht.
— Zusätzlich zu den 99 000, die in die normale betriebliche Ausbildung vermittelt worden sind.
Ich möchte aber ausdrücklich darauf hinweisen, daß die Zahl der Neuzugänge in außerbetriebliche Ausbildung in den letzten beiden Jahren von etwa 35 000 auf 8 000 reduziert werden konnte. Ich wiederhole noch einmal: Außerbetriebliche Ausbildungsplätze sind ein Notbehelf. Unser Ansatz und unser Bemühen muß es sein, daß wir alle, die es wünschen, in die betriebliche Ausbildung bringen können.
Herr Keller.
Herr Bundesminister, ich habe eine Frage zur Ausbildungssituation Ost. Sie haben eingangs die absoluten Zahlen genannt.
Würden Sie bitte die Zahlen ergänzen: Wieviel Prozent der im Frühjahr 1993 bei den Arbeitsämtern gemeldeten Jugendlichen haben einen Ausbildungsplatz bekommen? Ist im Berufsbildungsbericht 1993 eine Gesamtbilanz der Lehrstellenentwicklung seit Oktober 1990 — das haben wir mehrfach gefordert — enthalten?
Die Frage nach der Statistik über das Ausbildungsplatzangebot, Herr Kollege Keller, beantworte ich wie folgt: Ich kann mich nur auf den Stand der statistischen Erhebung bis Ende Februar bzw. Anfang März beziehen; neuere Daten
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Bundesminister Dr.-Ing. Karl-Hans Laermannliegen noch nicht vor. Wir warten deswegen ab, weil wir weitere Informationen brauchen. Wir können die Verhältnisse etwa mit denen aus dem Jahre 1993 vergleichen; wir haben etwa parallele Entwicklungen.1993, zum Vergleich, hatten wir etwas über 100 000 gemeldete Bewerber, knapp 57 000 gemeldete Stellen ohne Gemeinschaftsinitiative. Zum Zeitpunkt Februar 1993 hatten wir etwa 83 000 nicht vermittelte Bewerber und 38 000 unbesetzte Stellen. Ich nenne dabei nur Globalzahlen.Dem steht das Ergebnis vom Februar 1994 gegenüber: 119 000 gemeldete Bewerber, 56 000 gemeldete Stellen — also fast gleichlautend —, 95 000 noch nicht vermittelte Bewerber, 36 000 noch unbesetzte Stellen.Diesen Zahlen entnehmen wir, daß es in diesem Jahr vielleicht noch einmal um 10 000 Stellen geht.Bezüglich der statistischen Zahlen, die Sie gewünscht haben, weise ich auf den Berufsbildungsbericht und insbesondere auf den Materialienband hin. Dabei handelt es sich allerdings um etwa 500 Seiten. Ich empfehle ein ausführliches Studium.
— Das habe ich nicht vor, Herr Kollege Kuhlwein. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Kuhlwein.
Herr Bundesminister, Sie haben in Ihrem Bericht angekündigt, die Bundesregierung wolle eine Stärkung der Attraktivität der beruflichen Bildung erreichen. Dazu zwei Fragen.
Erstens. Teilt die Bundesregierung unsere Auffassung, daß die Qualität der beruflichen Bildung auch nach 25 Jahren Gültigkeit des Berufsbildungsgesetzes durch eine grundlegende Evaluierung und Weiterentwicklung dieses Gesetzes gestärkt werden müßte?
Zweitens. Wie vereinbart sich die Position zur Verbesserung des Hochschulzugangs auch für Berufserfahrene, um berufliche Bildung attraktiver zu machen, mit der Haltung der Koalition im Bundestagsausschuß für Bildung und Wissenschaft gegenüber einem Gesetzentwurf der SPD-Fraktion, mit dem wir gerade eine bundeseinheitliche Regelung im Hochschulrahmengesetz angestrebt haben, die von Ihren Kolleginnen und Kollegen im Ausschuß jedoch abgelehnt worden ist?
Herr Kollege Kuhlwein, was die Frage der Notwendigkeit einer Gesetzesnovellierung im Bereich der beruflichen Bildung betrifft, bin ich nicht überzeugt, daß wir die vorhandenen Probleme und Schwierigkeiten etwa durch schlichte Gesetzesänderungen beseitigen könnten.
Ich denke vielmehr, daß sich auch im Zusammenhang mit den technologischen Veränderungen die Ausbildungsberufe verändert haben und die notwendigen Umorientierungen erfolgen müssen. Dies ist ein dynamischer Prozeß, und demzufolge haben wir auch die Daueraufgabe, diese Ausbildungsverordnungen den jeweiligen Entwicklungen anzupassen. Das geschieht, und es ist nicht ausgeschlossen, wie uns die Vergangenheit gezeigt hat, daß es neue Ausbildungsberufe und neue Ausbildungsordnungen gibt und geben muß.
Was die Frage des Zugangs über den dritten Bildungsweg, etwa über Meisterprüfungen, zu den Hochschulen betrifft, so denke ich, daß es nicht darum ging, dieses Gesetzesvorhaben generell auf Grund der Tatsache abzulehnen, daß es von der SPD-Fraktion eingebracht worden ist. Ich weise darauf hin, daß auch die Koalitionsfraktionen die gleichen Überlegungen angestellt haben. Sie sind aber der Auffassung — und ich teile die Auffassung der Koalitionsfraktionen —, daß hier sorgfältige Überlegungen notwendig sind.
— Sie wollen mir bitte zubilligen, daß ich den Beratungsstand im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft während der letzten drei Jahre nicht so intensiv verfolgen konnte, weil ich mich mit anderen politischen Feldern beschäftigt habe, insbesondere mit dem Bereich Wissenschaft und Forschung. Ich bitte um Nachsicht, wenn ich den Beratungsstand im einzelnen so nicht nachvollziehen kann.
Ich betone noch einmal — das ist auch die Grundlage dieses Berichts —, daß wir der Auffassung sind, daß wir die Forderung nach Gleichberechtigung von beruflicher und allgemeiner Bildung konkretisieren und umsetzen müssen. Ich betone gleichzeitig aber auch, daß das nicht allein dadurch geschehen kann, daß wir für qualifizierte Berufstätige den Zugang zu den Hochschulen eröffnen.
Soweit ich weiß, ging es ja bei Ihrem Gesetzentwurf darum, wie und unter welchen Bedingungen das geschehen soll. Im übrigen ist ja in vielen Hochschulgesetzen der Länder eine solche Möglichkeit bereits vorgesehen. Des weiteren haben Sie heute morgen im Ausschuß über die Vorschläge der Gemeinsamen Verfassungskommission beraten. Das heißt, wir müssen erst einmal wissen, inwieweit dem Bund die Kompetenzen erhalten bleiben, und erst dann wird es die notwendigen Beratungen zur Novellierung des Hochschulrahmengesetzes geben.
Danke. — Ich kündige bereits jetzt an: Wir verlängern die Regierungsbefragung bis 13.45 Uhr. Ich bitte die nachfolgenden Fragesteller zum Bildungsbereich, sich kurz zu fassen, weil das sonst zu Lasten der anderen geht.
Ich habe noch drei Meldungen zu diesem Thema. Bitte, Herr Dirk Hansen.
Herr Minister, ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie in Beantwortung der letzten Frage, die von der Opposition gestellt worden ist, klargestellt haben — nicht nur mit Blick auf die Diskussion vor einigen Wochen, sondern auch auf die heute morgen —, daß dem Fragesteller möglicherweise entgangen ist; daß es gewisse Vorränge beim Entscheidungsbedarf hinsichtlich bestimmter Anträge gibt.
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Dirk HansenInsofern ist, unabhängig von sachlichen Übereinstimmungen bei der vom letzten Fragesteller angesprochenen Problematik, darauf hinzuweisen:Es gibt einen Hintergrund der Verfassungsdiskussion, der eben doch sehr viel wichtiger ist. Diesen erst zu klären ist nötig, bevor man bestimmte Einzelfragen,
die in sich durchaus Übereinstimmung in diesem Hause — nicht nur im Ausschuß, sondern im ganzen Hause — erfahren, bespricht. Insofern ist es vollkommen zu begrüßen, daß Sie als Minister eben darauf verwiesen haben,
Ihre Frage!
daß da ein Vorrang ist. Ich
frage deswegen, bezogen auf Ihren Bericht, Herr Minister, folgendes. Sie haben zu Recht als Ziel der Bundesregierung artikuliert, daß das Angebot im Bereich der dualen Ausbildung nicht zurückgefahren werden dürfe. Ich frage die Bundesregierung, ob sie darüber nachdenkt, welche Maßnahmen ergriffen werden können, um ein erkennbares Zurückfahren des Ausbildungsangebots bei großen und größeren Betrieben zu verhindern. Wir wissen alle, daß der Mittelstand der Träger des dualen Angebots ist, und daß es ganz besondere Anstrengungen, gerade bei großen nationalen und international wirkenden deutschen Firmen gegeben hat, und daß hier dennoch das Ausbildungsangebot zurückgeht. Ich frage: Was kann getan werden, um diesen Trend aufzuhalten?
Ich möchte dazu erwähnen, Herr Kollege Hansen, daß das Bundesbildungsministerium Ende des vergangenen Jahres zur Beobachtung dieses Trends den Auftrag erteilt hat, die Gründe für den Rückgang des Ausbildungsplatzangebots festzustellen und zu analysieren. Es liegen jetzt die ersten Ergebnisse vor. Sie werden zur Zeit noch ausgewertet.
Es stellt sich dabei folgendes heraus: Es gibt im Grunde genommen drei Kategorien von Schlußfolgerungen. Etwa ein knappes Drittel — würde ich jetzt einmal fürs erste abschätzen — der Betriebe nimmt die Ausbildungskapazität aus Kostengründen zurück oder will sie zurücknehmen. Das betrifft nicht nur die Ausbildungsplätze, sondern das betrifft dann auch die Ausbilder selbst und die Weiterbildung der Ausbilder. Nach diesen Erkenntnissen werden wir uns natürlich um diese Unternehmen und diese Betriebe in erster Linie zu kümmern haben.
Ich stelle aber noch einmal fest: Der größte Teil der Betriebe geht nach wie vor von der Tatsache aus, daß die Personalentwicklungsplanung ganz entscheidend für die berufliche Bildung und Ausbildung im eigenen Bereich ist, und zwar auch deswegen, weil hochqualifiziert ausgebildete Fachkräfte und Arbeitskräfte in den Betrieben die Grundvoraussetzung für ein vernünftiges und erfolgreiches wirtschaftliches Arbeiten dieser Unternehmen sind.
Ich möchte das ausdrücklich herausstellen, um nicht diejenigen zu demotivieren, denen man unberechtigterweise Vorwürfe macht. Unser Augenmerk müssen wir auf die Betriebe richten, die aus ihrer wirtschaftlichen Situation heraus — das ist meistens der Anlaß gewesen — ihr Angebot in diesem Bereich zurückfahren. Auch da gibt es wieder einen engen Kontakt mit den Berufsverbänden und den Wirtschaftsverbänden, der fortgesetzt wird, um an dieser Stelle die Einbrüche zu vermeiden bzw. die Ausbildungsbereitschaft und die Ausbildungswilligkeit dieser Unternehmen erneut zu stärken.
Danke. — Frau Kollegin Odendahl.
Herr Minister, nachdem Sie sehr anschaulich die Phasen der Berufsbildungspolitik geschildert haben, nämlich die Nachdenkphase, die Appellierphase und die Motivierungsphase, gehe ich davon aus, daß sich die Phasenarbeit dieser Bundesregierung nicht mehr so langwierig abspielen kann wie im vergangenen Jahr und daß diese am 16. Oktober beendet sein wird.
Deshalb meine Frage an Sie — das hat mit der Handlungsphase zu tun —: Werden sich denn die Erkenntnisse aus dem Berufsbildungsbericht, die Sie heute haben, und die Erkenntnisse aus den Untersuchungen, die Ihr Haus dankenswerterweise über die Ausbildungsplatzangebote und deren Rückgang angestellt hat, schon in dem Haushalt, den Sie noch zu verantworten haben werden, in einer Handlungsphase wiederfinden?
Ich glaube, das interessiert hier, damit wir von der Drohungsphase wegkommen hin zu einer Handlungsphase. Es würde die Betroffenen unglaublich beruhigen.
Kurze Antwort, wenn es geht, Herr Minister.
Frau Kollegin Odendahl, ich bin um eine kurze Antwort gebeten worden. — Aus den Erfahrungen des letzten Jahres haben wir die Erkenntnis gewonnen, daß eine Entscheidung über „Rettungsmaßnahmen" im September zu spät ist. Ich wiederhole deswegen noch einmal: Das Kabinett hat beschlossen, daß zum 1. Juli zu berichten ist. Und dann wird man sehen, welche finanziellen Konsequenzen hier möglicherweise abzudecken sind.
Frau Kollegin Lörcher.
Herr Minister, die Beteiligung der ausländischen Jugendlichen an der beruflichen Bildung ist bei uns bekanntlich sehr viel niedriger als die der deutschen Jugendlichen. Was tut die Bundesregierung, um die Ausbildungsbeteiligung der ausländischen Jugendlichen zu erhöhen? Und insbesondere: Wie können Sie bei der öffentlichen Hand die Bereitschaft stärken, mehr ausländische Jugendliche auszubilden? Denn dort ist die Bereitschaft bis jetzt immer noch sehr gering.
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Frau Kollegin, ich fange mit der letzten Frage an. — Wenn Sie fragen, was wir tun wollen, um die Bereitschaft der öffentlichen Hand zu stärken, mehr ausländische Jugendliche auszubilden, dann kann sich diese Frage allenfalls auf den Bund beziehen; denn für die übrigen Bereiche wird zweifellos klar sein, daß der Bundesbildungsminister da überhaupt keine Entscheidungskompetenz hat. Auch hier könnte es sich lediglich um Appelle handeln.
Ich beantworte Ihre Frage dahin gehend, daß ich der Auffassung bin, daß auch die Verwaltung — und dazu gehört der öffentliche Dienst, dazu gehören auch die Bundesministerien — insgesamt überprüfen muß, wie es mit ihrer Ausbildungsbereitschaft steht. Auch das war Thema im Kabinett. Um es deutlich zu sagen: Diese Problematik ist der Bundesregierung bewußt.
Zu der Frage ausländischer Jugendlicher: Ich habe schon auf das Benachteiligtenprogramm hingewiesen. Im Bericht selbst werden Sie sehr ausführlich dargelegt finden, welche Möglichkeiten und welche Notwendigkeiten bestehen, auch ausländischen Jugendlichen bei ihrer Ausbildung zu helfen. Vor allen Dingen haben wir das Problem, daß wir sie erst einmal motivieren müssen — das ist eine Aufklärungs- und Beratungsarbeit —, überhaupt in ein Ausbildungsverhältnis einzutreten.
Die Schwierigkeiten sind bekannt. Maßnahmen sind eingeleitet und werden auch verfolgt. Wir werden uns weiter darum bemühen, die Ausbildungsbereitschaft der ausländischen Jugendlichen und die Möglichkeit, für sie einen Ausbildungsplatz zu bekommen, zu verbessern.
Vielen Dank, Herr Minister.
Ich rufe den Punkt „Schweinepest" auf. Ich sage hier schon — auch für den gleich amtierenden Präsidenten —, ich denke, daß bei dem wichtigen Thema die Fragesteller zum Zuge kommen müßten. Es haben sich jetzt schon acht Fragesteller gemeldet.
Ich beginne mit dem Kollegen Günter Graf.
— Nein, kein Bericht.
Herr Minister, Sie wissen, ich komme aus der Region, die seit Monaten von der Schweinepest extrem befallen ist. Wir erleben dort gegenwärtig eine Situation, von der ich hier gar nicht erzählen mag. Tag für Tag werden Tausende von Schweinen gekeult, zu weit über 90 % gesunde Schweine zur Fleischmehlfabrik gebracht und dort zu Fleischmehl verarbeitet. Die Landwirte, von denen diese Region zu 40 % lebt — mit vor- und nachgeordneten Betrieben —, stehen im Grunde genommen vor dem Ruin.
Diese Entwicklung wird dazu führen, daß bei der ohnehin vorhandenen Massentierhaltung, dieser hohen Konzentration, die ich persönlich immer beklagt habe, die kleinen und mittleren Betriebe, die jetzt praktisch dem Boden gleichgemacht werden, keine
Chance mehr haben werden, sich davon zu erholen, daß die Großagrarier, sage ich mal, mit ihrem Kapital wesentlich eher in der Lage sein werden, nach dieser ganzen Geschichte wieder Fuß zu fassen, so daß wir damit der Massentierhaltung noch mehr den Boden bereiten, was wir gar nicht wollen.
Meine konkrete Frage an Sie: Welche Ergebnisse können Sie heute verkünden, die das Gespräch gestern in Brüssel ergeben hat? Welche Möglichkeiten sehen Sie konkret, daß der Bund den betroffenen Landwirten auch finanziell unter die Arme greift? Wie stehen Sie dazu, daß dort jetzt durchgesetzt wird, daß die Möglichkeit einer Impfung in den betroffenen Gebieten besteht?
Verzeihung, Herr Minister. — Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, die Präsidentin hat soeben um eine Viertelstunde verlängert. Ich habe acht Fragesteller. Wenn jeder Kollege jetzt so lange redet wie Sie, Herr Graf, dann kommen wir weder mit der Fragestunde noch mit der Regierungserklärung pünktlich zu Rande. Ich bitte Sie also ganz herzlich, jetzt Fragen zu stellen und keine Debattenbeiträge zu leisten.
Bitte, Herr Minister.
Herr Präsident, ich will versuchen, kurz zu antworten. — Der Ständige Veterinärausschuß in Brüssel hat gestern getagt. Er hat den Antrag auf eine Notimpfung, den Niedersachsen über den Bund gestellt hat, zur Kenntnis genommen. Er wird erst in der nächsten Woche eine Entscheidung darüber fällen. Wir rechnen aber nach den Reaktionen der Mitgliedstaaten von gestern mit einer Ablehnung.Zweiter Punkt: Der Antrag — den wir gestellt haben — auf Aufhebung der landesweiten Sperre ist nicht diskutiert worden. Die Kommission und die Mitgliedsländer werden die Aufhebung der landesweiten Sperre erst dann diskutieren und beschließen, wenn Niedersachsen die dringend notwendigen Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung umgesetzt hat. Die sind bisher in Niedersachsen nicht umgesetzt worden. So ist die beschlossene Kennzeichnung der Schweine bisher in Niedersachsen nicht umgesetzt worden, sondern sie läuft in Niedersachsen gerade erst an. Das Vertrauen des Ständigen Veterinärausschusses und der Kommission in die Fähigkeiten der Verwaltung und der Landesregierung in Niedersachsen, dies konsequent umzusetzen, ist dadurch, daß jetzt Unregelmäßigkeiten bei der Auszahlung der Beihilfen festgestellt worden sind, natürlich nicht größer geworden. Dies weckt natürlich zusätzliche Zweifel an der Fähigkeit der Landesregierung, dies erfolgreich umzusetzen.Zu Ihrer Frage nach dem Impfen: Sie wissen, daß in der Europäischen Union 1988 und 1992 beschlossen worden ist, Tierseuchen, auch die Schweinepest, ohne Impfung zu bekämpfen. Dies ist von den Bundesländern im Bundesrat mit beschlossen worden. Dies hat auch die jetzige Landesregierung in Niedersachsen mit beschlossen. Es gibt in den anderen Mitgliedstaaten keine Bereitschaft, diese Regelung wieder aufzu-
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Bundesminister Jochen Borchertheben, weil man — wie ich finde, zu Recht — Niedersachsen vorwirft, sich seit 1992 überhaupt nicht auf die veränderte Seuchenbekämpfungssituation eingestellt zu haben. Es gab bei Ausbruch der Schweinepest keinen Krisenstab. Es gab keine vorbereiteten Maßnahmen, die Schweinepest unter völlig anderen Bedingungen zu bekämpfen. Wir haben seitdem erlebt, daß Seuchenbekämpfungsmaßnahmen unvollständig durchgeführt worden sind, daß der Transport von Tieren aus Sperrgebieten und Beobachtungsgebieten heraus nicht unterbunden werden konnte. Insofern sagen natürlich der Ständige Veterinärausschuß und die Kommission: Daß die Schweinepest bisher nicht erfolgreich bekämpft worden ist, liegt nicht daran, daß wir beschlossen haben, sie ohne Impfung zu bekämpfen, sondern liegt an der völlig unzureichenden Durchführung der Bekämpfungsmaßnahmen in Niedersachsen.Zu Ihrer Frage nach Hilfsmaßnahmen für die betroffenen Betriebe: Sie wissen, Seuchenbekämpfung und die daraus entstehenden Kosten sind Landesaufgabe. Ich finde, wir müssen mit den Ländern offen darüber reden. Wir können keinen Schönwetterföderalismus einführen, daß immer dann, wenn es sich um Erfolge handelt, die Länder zuständig sind, daß aber immer dann, wenn es Probleme gibt, der Föderalismus keine Rolle mehr spielt und der Bund zuständig ist. Deswegen habe ich das Land aufgefordert, Hilfsmaßnahmen für die Betriebe zu beschließen.Ich teile Ihre Auffassung, daß hier die Gefahr besteht, daß gerade bäuerliche Betriebe in existentielle Krisen geraten. Deswegen brauchen diese Betriebe dringend eine Hilfe. Daher hat die Bundesregierung bei der Landwirtschaftlichen Rentenbank ein Zinsverbilligungsprogramm initiiert, mit dem Kredite bei der Wiederaufstallung in Betrieben, in denen die Bestände getötet worden sind, finanziert werden können, ein Zinsverbilligungsprogramm, bei dem der Kredit auf 3 % verbilligt wird, mit drei tilgungsfreien Jahren und einer Laufzeit von insgesamt acht Jahren. Ich habe die Landesregierung aufgefordert, ihrerseits ein Notprogramm, ein Hilfeprogramm für die existenzgefährdeten Betriebe zu verabschieden. Dies ist nicht erfolgt.Daraufhin hat die Bundesregierung heute beschlossen — da sich die Landesregierung bis heute weigert, diesen Betrieben zu helfen —, von seiten des Bundes Hilfe zu leisten, um zu verhindern, daß die Betriebe in Existenznot geraten, um zu verhindern, daß der Veredlungsstandort Niedersachsen gefährdet wird. Wir haben deshalb heute beschlossen, daß den Betrieben, deren Tierbestände auf Grund der amtlichen Anordnung gekeult worden sind, in denen also die Tiere getötet worden sind, und in denen ein Wiederaufstallungsverbot von mindestens einem Monat besteht, ein Ausgleich für den entgangenen Deckungsbeitrag gezahlt wird. Vorgesehen sind 8 DM je Monat pro Mastplatz und 40 DM je Monat pro Sauenplatz. Diese Hilfe wird für die Zeit gezahlt, in der diese Ställe leerstehen — bis zum 15. April.Das Programm wird über den Bund abgewickelt. Wir hoffen, dadurch den existenzgefährdeten Betrieben in dieser Situation schnell helfen zu können. Wirerwarten aber dann von Niedersachsen eine Anschlußfinanzierung.
Herr Kollege von Hammerstein.
Herr Minister, die niedersächsischen Schweinemäster sind sehr empört. Sie wehren sich gegen die Sperrung von ganz Niedersachsen für den Export von lebenden Tieren. Meine Frage an Sie: Glauben Sie, daß der Ärger und die Wut der Bauern berechtigt sind?
Ich habe von Anfang an gesagt, die Sperre für ganz Niedersachsen muß aufgehoben werden. Dies ist eine Sperre, die alle niedersächsischen Schweinemäster unabhängig davon trifft, ob sie in dem Sperr- und Beobachtungsgebiet liegen bzw. ob sie mit dem Seuchengeschehen direkt etwas zu tun haben. Die Sperre ist verhängt worden, weil Niedersachsen illegale Schweinetransporte nicht unter Kontrolle bekommen hat.
Ich habe viel Verständnis für die Wut der Bauern in Niedersachsen. Aber die Sperre wird erst aufgehoben werden können, wenn Niedersachsen in der Lage ist, Tiertransporte wirklich zu kontrollieren
und die Schweine in Niedersachsen wirklich so zu kennzeichnen, daß illegale Transporte unterbunden werden können. Das Vertrauen der Kommission in die Fähigkeiten der Landesregierung, dies umzusetzen, ist nicht besonders groß.
Kollege Bredehorn.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister, ich habe hier eine Agenturmeldung vorliegen: Die niedersächsische Landesregierung rechnet zu Beginn der warmen Jahreszeit mit einer explosionsartigen Vermehrung des Schweinepestvirus.
Wir haben das ja schon einige Male gehabt — auch in Niedersachsen, zu Beginn der 80er Jahre — und das verhältnismäßig schnell mit der Impfung in den Griff bekommen.
Nun weiß ich ja — es ist völlig richtig, was Sie geschildert haben —, was inzwischen geschehen ist. Aber meine Frage: Ist nicht auch die Bundesregierung der Auffassung — man kann ja durch Erfahrungen klüger werden —, daß wir wieder zur Impfung kommen müssen, um wirklich dieser Seuche Herr zu werden? Ist die Bundesregierung bereit, in Brüssel entsprechend zu verhandeln, ist notfalls auch der Bundeskanzler bereit, sich hier einzusetzen?
Herr Kollege Bredehorn, wir werden bei den Mitgliedstaaten im Ständigen Veterinärausschuß eine Rückkehr zu einer flächen-
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Bundesminister Jochen Borchertdeckenden Impfung zur Seuchenbekämpfung nicht erreichen, weil andere Mitgliedstaaten, die die Schweinepest erfolgreich bekämpft haben, einen solchen Schritt nicht mitmachen. Die Verordnung der Europäischen Kommission sieht die Möglichkeit einer Notimpfung vor. Den Antrag, mit einer Notimpfung in einem genau definierten Gebiet die Schweinepest erfolgreich bekämpfen zu können, haben wir gestellt. Er ist von der Landesregierung Niedersachsen gestellt und über den Bund an die Kommission in Brüssel weitergeleitet worden.Voraussetzung für die Genehmigung eines solchen Antrags auf eine Notimpfung ist, daß Niedersachsen Maßnahmen beschließt, mit denen sichergestellt werden kann, daß geimpfte Schweine nicht außerhalb dieses Impfgebiets vermarktet werden, weil sonst die Gefahr besteht, daß dies zu Restriktionen in den Lieferbeziehungen innerhalb und außerhalb der Europäischen Union führt und durch nichtkontrollierte Schweinebewegungen die Schweinepest über geimpfte Schweine auch in andere Regionen transportiert werden kann.
Kollege Oostergetelo.
Herr Bundesminister, wir haben den Eindruck, daß niemand in Europa, kein Land, davor gefeit ist, daß Seuchen ausbrechen. Das haben die letzten 20 Jahre gezeigt. Wir sehen auch, daß sich dieses Problem in dem Gebiet, in dem wir eine große Konzentration haben, festgebissen hat.
Ich finde aber, es dient der Sache nicht, wenn die Schuldzuweisung jetzt einseitig vorgenommen wird. Damit es kein Versehen gibt: Ich bin für schärfste Kontrollen im Sperrgebiet. Nur, mir scheint es einer Bundesregierung nicht angemessen zu sein, daß sie hier nur Schuld verteilt, sondern wir müssen fragen: Was können wir tun?
— Ich glaube nicht, daß der Vorsitzende hier jetzt das Wort hat.
Herr Bundesminister, die landesweite Sperre im Export gilt unabhängig von der Solidität der Maßnahmen in den einzelnen Gebieten. Zwei Sätze zur Erklärung: In meinem Gebiet werden alle Ferkel flächendeckend numeriert, so daß überall in der Welt, wo auch immer sie sich aufhalten, kontrolliert werden kann, von welchem Hof sie kommen. Die Forderung der EG haben wir seit drei Jahren erfüllt.
Zweitens. Dreiviertel der Tiere werden nach NRW vermarktet. Die Maßnahme trifft uns, nur weil wir in Teilen zufällig ans Holländische grenzen, aber nicht zu Holland gehören, und obwohl zwischen uns und dem Sperrgebiet, in Teilen jedenfalls, NRW liegt. Es ist fast unzumutbar, daß wir bei uns, wo fast 80 % der Tiere betroffen sind, die Tiere nicht im eigenen Bereich vermarkten können, obwohl alle Schutzmaßnahmen erfüllt sind und es nachweislich keinen Seuchenausbruch durch diese Ferkel, die weitverbreitet verkauft werden, gibt. Meine große Bitte — und mein Antrag — an Sie ist, alles zu tun, daß die landesweite Sperre aufgehoben und das Gebiet so begrenzt wird, daß es kontrollierbar und die Lage finanzierbar bleibt.
Eine weitere Frage. Sie wollen jetzt Entschädigung leisten. Was wollen Sie in Zukunft gegen die Konzentration tun? Es ist jetzt wieder einmal bewiesen, daß dort, wo die Tierhaltung stark konzentriert ist, große Gefahren bestehen. Jetzt höre ich von Ihnen, wenn ich es nicht falsch verstanden habe, daß es wieder eine Entschädigung pro Tier gibt, unabhängig davon, wie groß die Mastbetriebe sind. Da ich weiß, daß die bäuerlichen Betriebe besonders leiden, frage ich Sie, ob Sie nicht eine Staffelung vornehmen wollen, damit die paar Bauern, die dort nichtindustriell produzieren, überleben können. Für Ihr Bemühen bedanke ich mich.
Sind Sie mit mir bereit, zu kämpfen, daß die landesweite Sperre aufgehoben wird, daß die Nichtbetroffenen nicht darunter leiden, nur weil sie Niedersachsen heißen? Da hilft kein Geschimpfe auf die Regierung. Beide Ecken liegen im Land Niedersachsen, und man kann nicht sagen: In einem Gebiet hast du nicht aufgepaßt, im anderen hast du aufgepaßt. So leicht darf es sich auch die Bundesregierung nicht machen.
Bitte, Herr Minister.
Herr Kollege Oostergetelo, es geht hier nicht um Schuldzuweisung. Aber es geht darum, deutlich zu machen, wer die Verantwortung hat. Seuchenbekämpfung ist Aufgabe der Landesregierung. Die Landesregierung in Niedersachsen ist dafür verantwortlich, daß die Maßnahmen in Niedersachsen nicht konsequent umgesetzt worden sind. Ich bin sehr viel zurückhaltender als der Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, der nach einem Artikel der „Oldenburger Volkszeitung" vom 7. April dieses Jahres dem Landwirtschaftsminister des Landes Niedersachsen Unfähigkeit vorwirft.Natürlich bin ich für eine Aufhebung der landesweiten Sperre. Dafür setzen wir uns ein. Aber wir haben die Verordnung einer landesweiten Sperre für Niedersachsen durch die Europäische Kommission mit allen Landwirtschaftsministern der Bundesländer beraten. Alle Landwirtschaftsminister der Bundesländer waren der Überzeugung, daß die landesweite Sperre so lange erforderlich ist, wie die Tiertransporte aus Niedersachsen nicht kontrolliert werden können. Es ist doch völlig unstreitig, daß illegale Transporte aus den Beobachtungsgebieten in Niedersachsen nach Baden-Württemberg, nach Nordrhein-Westfalen, nach Sachsen stattgefunden haben und die Gefahr mit sich bringen, daß die Seuche in diesen Ländern ausbricht. Die Länder haben natürlich ein Interesse daran, sicherzustellen, daß die Schweinepest nicht aus Niedersachsen in andere Regionen verbracht wird. Deswegen kann die Sperre erst aufgehoben werden, wenn Niedersachsen in der Lage ist, Tiertransporte wirklich lückenlos zu kontrollieren.Wir werden bei den Hilfen für die Betriebe, die von der Schweinepest betroffen sind, keine Staffelung vornehmen. Der Seuchenverlauf und der Ausbruch der Schweinepest zeigen, daß die Schweinepest nicht
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Bundesminister Jochen Borchertzuerst in den größeren Betrieben ausbricht. Vielmehr haben wir viele Fälle, daß die Schweinepest gerade in den kleineren Betrieben zuerst ausgebrochen ist. Wenn wir Staffelungen — etwa bei den Beiträgen der Tierseuchenkasse oder andere Staffelungen — vornehmen wollen, dann müssen wir sie entsprechend dem Seuchenrisiko vornehmen, aber nicht nach der Größe der Betriebe. Hier gibt es in dem betroffenen Gebiet eine Reihe von Ungereimtheiten, die die Landesregierung aufarbeiten muß, die ich hier nicht in allen Einzelheiten darstellen will, um die Verhandlungen in Brüssel nicht noch schwieriger zu gestalten.
Herr Kollege Stockhausen.
Herr Minister, sehen Sie auf Grund — ich sage das hier freundlich — des negativen Verlaufs der Bekämpfung der Schweinepest in Niedersachsen die Notwendigkeit, die Kompetenz im Veterinärwesen zur besseren und wirkungsvolleren Bekämpfung von Seuchen stärker auf den Bund zu verlagern? Ich frage als Hesse, als Angrenzer von Niedersachsen. Wir möchten nicht durch die schlampige Handhabung der Bekämpfung in Niedersachsen die Seuche eines Tages auch bei uns in Hessen haben.
Bitte, Herr Minister.
Die Verantwortung für die Seuchenbekämpfung liegt bei den Bundesländern. Ich finde, wir sollten jetzt nicht, weil ein Bundesland nicht in der Lage ist, dieser Verantwortung gerecht zu werden, fordern, die Kompetenzen auf den Bund zu übertragen. Es gibt andere Länder wie Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen und Schleswig-Holstein, in denen die Veterinärverwaltungen die Maßnahmen der Seuchenbekämpfung offensichtlich so konsequent durchführen, daß dort die Schweinepest erfolgreich bekämpft werden konnte. Deswegen geht es aus meiner Sicht nicht darum, Kompetenzen auf den Bund zu übertragen, sondern es muß darum gehen, in Niedersachsen Seuchenbekämpfung so zu organisieren, daß das Land seiner Verantwortung gerecht wird.
Kollege von Schorlemer.
Herr Bundesminister, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, daß die Länder für die Seuchenbekämpfung zuständig sind. Mich würde als Abgeordneter des Wahlkreises Osnabrück-Land, der in dem Bezirk liegt, der mit der Schweinepest im Augenblick zu tun hat, sehr interessieren, ob z. B. das Land Nordrhein-Westfalen — Sie haben es soeben in der Seuchenbekämpfung positiv herausgestellt —, im Gespräch mit den Bundesländern, zu dem Sie geladen haben, den Antrag Niedersachsens auf Impfung konkret unterstützt hat. Oder hat es gesagt: Aus unseren Erfahrungen halten wir dies als Bekämpfungsmaßnahme für falsch?
Alle Bundesländer haben erklärt, daß sie gegen eine Flächenimpfung zur Bekämpfung der Schweinepest sind, weil sie davon erhebliche Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit und den Handel innerhalb der Europäischen Union befürchten. Sie haben gesagt: Wenn Niedersachsen eine Notimpfung beantragt, dann soll Niedersachsen impfen. Aber Voraussetzung ist, daß Niedersachsen in der Lage ist, sicherzustellen, daß geimpfte Schweine nicht aus Niedersachsen in andere Regionen verbracht werden können. Die anderen Bundesländer sehen für sich nicht die Notwendigkeit, eine Änderung der Impfpolitik zu beantragen.
Kollege Thalheim.
Herr Bundesminister, welche Chancen sehen Sie, daß in Niedersachsen die Voraussetzungen für die Notimpfung geschaffen werden, und welche begleitende Unterstützung kann die Bundesregierung an diesem Punkt geben?
Bei der Impfung?
Um die Voraussetzung zu schaffen, daß die Notimpfung zur Eindämmung, die Frage von Herrn Bredehorn aufgreifend, tatsächlich unternommen werden kann.
Wir haben in mehreren Gesprächen mit der Kommission und dem Ständigen Veterinärausschuß versucht, die Mitglieder davon zu überzeugen, einen Antrag auf eine Notimpfung des Landes Niedersachsen zu befürworten. Wir haben Kritik an den bisherigen Notimpfungsanträgen mit dem Land diskutiert und das Land aufgefordert, einen veränderten Antrag auf Notimpfung zu stellen.
Die Chancen, einen solchen Antrag in Brüssel genehmigt zu bekommen, hängen davon ab, ob Niedersachsen jetzt im Land selbst die Voraussetzungen bei der Umsetzung der Seuchenbekämpfungsmaßnahmen schafft. Hier kann der Bund selber bei den Maßnahmen vor Ort nicht eingreifen. Wir sind immer bereit, beratend und unterstützend tätig zu werden. Aber es ist letztlich eine Aufgabe der Landesregierung, über die Landesverwaltung die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen.
Kollege Link.
Herr Bundesminister, ich komme aus einer der betroffenen Regionen, dem Landkreis Diepholz. Sie sind ja selbst dort gewesen. Ich weiß von vielen Landwirten, daß sie sehr wohl um die Fehler wissen, die in Hannover gemacht worden sind. Der Ministerpräsident, Herr Schröder, zweifelt mittlerweile wohl selbst daran, daß seine Kabinettskollegen in der Vergangenheit richtig gehandelt haben. Nun will er laut Pressemeldung den Bundeskanzler sprechen. Ist das richtig so?
Ich habe dies ebenfalls in der Presse gelesen. Bisher liegt weder bei dem Herrn Bundeskanzler noch bei mir die Anfrage nach einem
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18852 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. April 1994
Bundesminister Jochen BorchertGesprächstermin vor. Außer dieser Pressemeldung gibt es von seiten des niedersächsischen Ministerpräsidenten bisher offensichtlich keine weiteren Bemühungen um ein Gespräch.
Kollege Susset.
Herr Bundesminister, nachdem Sie sowohl vom Veterinärausschuß in Brüssel als auch von den Bundesländern wissen, daß zumindest auf absehbare Zeit eine Flächenimpfung nicht durchgeführt werden kann, stelle ich die Frage: Welche Möglichkeiten hat unter Umständen die Bundesregierung, auf die niedersächsische Landesregierung dahingehend einzuwirken, daß sie zumindest eine landesweit gleichgeartete Seuchenpolitik betreibt und nicht davon abhängig ist, was der Kreisveterinär im Kreis X oder der im Kreis Y an unterschiedlichen Auflagen macht?
Herr Kollege, Sie schildern die Schwierigkeiten, die wir in der Zusammenarbeit mit dem Land Niedersachsen haben. Wir wollten am Donnerstag voriger Woche die Sitzung des Veterinärausschusses, der gestern tagte, gemeinsam mit Niedersachsen vorbereiten. Dieser Termin ist von Niedersachsen mit der Begründung abgesagt worden,
die Beamten hätten keine Zeit; sie müßten eine Rede für den Landwirtschaftsminister vorbereiten.
Wir sind bei Beratungen im Ständigen Veterinärausschuß damit konfrontiert worden, daß parallel zu dem Impfantrag, den das Land Niedersachsen gestellt hat und den wir weitergeleitet haben — er wurde gestern diskutiert —, ein Alternativantrag eines Landkreises vorlag, den wir nicht kannten und den offensichtlich auch das Land nicht kennt. Das macht es nicht leichter, in Brüssel einen Impfantrag überzeugend und mit Aussicht auf Erfolg zu vertreten.
Frau Kollegin Hiebing.
Herr Minister Borchert, wie beurteilen Sie die Kritik des SPD-Europaabgeordneten am niedersächsischen Landwirtschaftsminister Funke wegen seiner Seuchenbekämpfungspolitik mit deutlich antieuropäischen Tendenzen?
— Wettig, Europaabgeordneter.
Ich glaube, daß die Kritik des Kollegen Wettig zutreffend ist, der dem Landwirtschaftsminister Funke aus Niedersachsen eine europafeindliche Politik in Niedersachsen vorwirft und ihm vorhält, mit der Kritik an der Europäischen Union
und mit der Kritik an der Politik in Europa von den eigenen Fehlern und Versäumnissen ablenken zu wollen. Er hat die Landesregierung und Herrn Funke aufgefordert, endlich im eigenen Land die Dinge in Ordnung zu bringen, statt auf Europa zu schimpfen. Ich kann seine Meinung voll unterstützen.
Kollege Heinrich.
Herr Minister, Sie haben von einer erfolgreichen Bekämpfung in anderen europäischen Staaten gesprochen. Ist Ihnen bekannt, daß im Rahmen einer erfolgreichen Bekämpfung der Schweinepest dort mit einem Notimpfprogramm gearbeitet worden ist? Wenn ja: Sind dort die gleichen Sperren die Voraussetzung dafür, und wie lange müssen solche Sperren bei einer erfolgten Notimpfung dauern?
Es hat nach der Verabschiedung der neuen Seuchenbekämpfungspolitik in Europa, der Bekämpfung ohne eine flächendeckende Impfung, noch keinen Antrag eines anderen Landes auf Genehmigung einer Notimpfung gegeben. Von daher liegen auch keine Erfahrungen vor, wie lange es bei anderen Notimpfungen gedauert hat, bis die Sperren aufgehoben werden konnten. Wir sind das erste Land, das einen Antrag auf Notimpfung stellt. So ist z. B. in Spanien die afrikanische Schweinepest ohne Impfung erfolgreich bekämpft worden. Auch in den anderen Bundesländern ist die Schweinepest ohne Impfung erfolgreich bekämpft worden. Von daher sind mit einem Notimpfantrag große Risiken verbunden, was die Dauer der Handelsbeschränkungen betrifft.
Kollege Hornung.
Meine Fürsorge. — Herr Bundesminister, in der Region Emsland-Nordhorn gab es bisher keine Pestfälle, aber dort stehen wöchentlich 33 000 Ferkel zum Verkauf an. Hiervon sind bisher immer 11 000 nach NRW gegangen und 22 000 in die sogenannten schwarzen Gebiete, nach Niedersachsen. Beide Absatzwege sind mittlerweile unterbrochen. Die Ferkelerzeuger wissen nicht, wohin sie mit ihren Schweinen gehen sollen. Ich stelle deswegen die Frage — sie wird auch in den betroffenen Betrieben gestellt —: Was sagt Brüssel dazu? Hat Brüssel diese Frage bedacht?
Diese Fragen sind in Brüssel bedacht worden. Sie sind auch in dem Gespräch mit den Bundesländern, auch in dem mit der Landesregierung Niedersachsen, beraten worden. Niedersachsen ist insgesamt ein Ferkelzuschußgebiet. Das heißt, die in Niedersachsen produzierten Ferkel können bei dem Bedarf in Niedersachsen auch in Niedersachsen untergebracht werden.Ich habe deshalb, weil hier jetzt Absatzwege neu organisiert werden müssen, die Landesregierung und den Berufsstand aufgefordert, Ferkelbörsen einzu-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. April 1994 18853
Bundesminister Jochen Borchertrichten, um die unterbrochenen Handelsbeziehungen durch solche Börsen aufzufangen. Dies betrifft die 11 000 Ferkel, die bisher aus der Region Niedersachsen heraus an Nordrhein-Westfalen gegangen sind.Die unterbrochenen Handelsbeziehungen hinsichtlich der 22 000 Ferkel innerhalb Niedersachsens sind keine Auswirkung der Brüsseler Beschlüsse, sondern Auswirkung von Beschlüssen, die die Landesregierung Niedersachsens gefaßt hat. Dies ist von der Landesregierung Niedersachsens zu verantworten.
Danke, Herr Bundesminister.
Frau Kollegin Würfel, Ihr Zwischenruf war zwar themenkonform, aber nicht ganz parlamentarisch.
Wir haben die Wortmeldungsliste abgearbeitet und die vorgesehene Zeit um 25 Minuten überschritten. Ich beende die Befragung der Bundesregierung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf: Fragestunde
— Drucksache 12/7201 —
Zuerst rufe ich den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Frau Staatsministerin Ursula Seiler-Albring zur Verfügung.
Die Frage 23, Frau Staatsministerin, soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 24 auf, die der Kollege Norbert Gansel gestellt hat:
In welchem Umfang haben die Türkei und Griechenland seit dem 3. Oktober 1990 militärisches Material aus der Bundesrepublik Deutschland erhalten?
Bitte, Frau Staatsministerire.
Entschuldigung, Herr Präsident, habe ich Sie richtig verstanden? Sie sprachen von der Frage 23. Diese hat der Kollege Gansel ebenfalls gestellt. Oder haben Sie die Frage 22 gemeint? Er ist nämlich da.
Nach meiner Drucksache steht bei der Frage 23 Hans Wallow. Die Frage 24 ist von Norbert Gansel, und der erwartet auch schon die Antwort.
Herr Präsident, in meinen Unterlagen ist von zwei Fragen des Kollegen Gansel die Rede.
Im Zweifelsfall sind die Drucksachen des Bundestages maßgeblich.
Ich möchte jetzt beide Fragen beantworten.
Verzeihung, wollen Sie beide Fragen des Abgeordneten Gansel zusammen beantworten?
Nein, nacheinander.
Herr Kollege Gansel, Ihre erste Frage erfordert im Hinblick auf den Umfang der Lieferungen von militärischem Material im Rahmen der NATO-Verteidigungshilfe und der -Materialhilfe ab 1990 umfangreiche Nachforschungen, die im Augenblick vom Verteidigungsministerium durchgeführt werden. Ich bitte daher um Ihr Verständnis, daß Ihnen noch nicht heute, aber so rasch wie möglich eine Gesamtaufstellung über die Lieferung von Waffen und Geräten aus militärischen Hilfsprogrammen an die Türkei und an Griechenland seit dem 3. Oktober 1990 übermittelt wird.
Ich möchte darauf hinweisen, daß die militärischen Hilfsprogramme, d. h. sowohl die NATO-Verteidigungshilfe als aber auch die -Materialhilfe, im Jahre 1994 auslaufen.
Zusatzfrage, Herr Kollege Gansel.
Herr Präsident, ich bin mit dem Verfahren einverstanden; was bleibt mir auch anderes übrig. Aber ich möchte die Staatsministerin doch fragen, ob sie nicht sehen muß, daß sich natürlich Fragen daran knüpfen, daß die Bundesregierung innerhalb von fünf Tagen nicht sagen kann, wie viele Waffensysteme seit 1990 in die Türkei und nach Griechenland gegangen sind. Das muß ja einen beträchtlichen Umfang haben, wenn man überhaupt nicht überblicken kann, was man alles geliefert hat. Daß ich also einen Rückschluß daraus ziehe, daß Sie die Frage so nicht beanworten können, werden Sie sicherlich akzeptieren.
Herr Kollege Gansel, nach unserer Geschäftsordnung sollen in der Fragestunde Fragen gestellt, keine Kommentare abgegeben werden. Diese Fragen sollen noch dazu kurz und präzise sein, steht in der Geschäftsordnung.
Darf ich trotzdem antworten, Herr Präsident?
Bitte sehr.
Herr Kollege Gansel, Sie sagten gerade selbst noch einmal, daß es sich hier um sehr umfangreiche Lieferungen handelt. Sie sind bekannt dafür, daß Sie außerordentlich präzise Antworten erwarten. Aus diesem Grunde möchte ich gerne mein Angebot wiederholen, daß ich, abgesehen von globalen Zahlen, die ich Ihnen hier selbstverständlich zur Verfügung stellen kann, darauf rekurrieren möchte, Ihnen eine detaillierte Aufstellung über Umfang und Art der Lieferungen so schnell, wie es möglich ist, schriftlich zur Verfügung zu stellen.
Wann kann ich ungefähr damit rechnen?
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18854 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. April 1994
Ich sagte ja, daß das Verteidigungsministerium diese Zahlen zusammenstellt. Ich werde mich gerne dafür einsetzen, daß das so schnell wie möglich zusammengestellt und Ihnen zur Verfügung gestellt wird.
Weitere Zusatzfrage, Kollege Koppelin.
Frau Staatsministerin, teilen Sie meine Auffassung, daß man über diese Lieferungen in seinem eigenen Büro einen umfassenden Überblick hat, wenn man das, was die Bundesregierung auf Kleine Anfragen geantwortet hat, verwahrt oder wenn man die Materialien sammelt, die man — wie der Kollege Gansel — als stellvertretendes Mitglied des Verteidigungsausschusses erhält?
Ich weiß nicht, wie gut die jeweiligen Büros organisiert sind, Herr Kollege Koppelin, aber es spricht doch einiges für Ihre Annahme.
Verzeihung, Ihre zweite Äußerung war keine Zusatzfrage, sondern nur ein Kommentar.
Hat die Frau Staatsministerin beide Fragen beantwortet?
Nein.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Welche Bestimmungen über Endverbleib und Einsatz der Waffen sind dabei vereinbart worden, und wie wird die Einhaltung solcher Vereinbarungen gewährleistet?
Gerne, Herr Präsident. — In den vertraglichen Abmachungen über militärische Hilfsprogramme, die im Fall der NATO-Verteidigungshilfe als Regierungsabkommen, im Fall der Materialhilfe als Ressortabkommen zwischen den Verteidigungsministerien abgeschlossen wurden, sind Klauseln über den Endverbleib der Waffen und Geräte — ich zitiere: „Die Bundesregierung wird die im Rahmen dieses Abkommens gelieferten Waffen und Geräte Dritten nicht ohne vorherige Zustimmung der Regierung der Bundesrepublik Deutschland überlassen" — sowie über den Einsatz der Waffen und Geräte — ich zitiere: „Die Waffen und Geräte, die die Regierung der Bundesrepublik Deutschland der Regierung nach diesem Abkommen liefert, werden durch die jeweiligen Streitkräfte ausschließlich in Übereinstimmung mit Art. 5 des Nordatlantikvertrages verwendet werden" — enthalten.
Ich möchte darauf hinweisen, Herr Kollege Gansel, daß Außenminister Kinkel am 5. April einen Brief an seinen türkischen Kollegen, Außenminister Çetin, geschrieben hat, in dem er auf die wachsende Aufmerksamkeit hinwies, die die Frage der Verwendung
der von Deutschland gelieferten Waffen in der deutschen Öffentlichkeit findet. Er appellierte in diesem Briefwechsel erneut an den türkischen Außenminister, für die Einhaltung der schon 1992 getroffenen Vereinbarungen Sorge zu tragen. Der türkische Außenminister hat dies in seinem Antwortschreiben vom 5. April auch zugesichert. Die Bundesregierung prüft zur Zeit sorgfältig sämtliche Hinweise, die über eine mögliche Nichteinhaltung dieser Vereinbarungen Auskunft geben können.
Zusatzfrage, Herr Kollege Gansel.
Herr Präsident, ich hatte vorhin gesagt, ich sei damit einverstanden, daß die Fragen schriftlich beantwortet werden können, wenn die Bundesregierung das in der Kürze der Zeit nicht bis heute geschafft hat. Wenn die Bundesregierung allerdings meint, daß ein Abgeordneter, um die Zahlen zusammenzustellen, selber in seinem Büro nachsehen könnte, dann beharre ich darauf, daß mir die Bundesregierung ihre Zahlen in dieser Woche zur Verfügung stellt. So geht es nicht.
Ich möchte hier amtliche Auskünfte haben und nicht nur auf mein eigenes Archiv angewiesen sein. Dann möchte ich die Zahlen diese Woche haben; dann akzeptiere ich es nicht, daß ich hier auf unbestimmte Zeit vertröstet werde.
Herr Kollege Gansel, ich hatte Ihnen das Wort zu einer Zusatzfrage gegeben.
Sie kommentieren jetzt die Frage des Kollegen Koppelin, der darauf hingewiesen hat, daß den Mitgliedern des Verteidigungsausschusses alle diese Zahlen schriftlich vorgelegt wurden.
Die Regierung hat das behauptet. Wenn das aber zutrifft, dann hätte mir die Bundesregierung ja heute amtlich Antwort geben können. Jetzt muß ich den Eindruck haben, daß die Zahlen nicht vor der heutigen Türkei-Debatte auf den Tisch gelegt werden sollen. Das akzeptiere ich nicht; denn ich habe ja eine Frage gestellt.
Herr Gansel, wir wollen jetzt darüber keine Debatte führen. Ich bitte Sie, Ihre erste Zusatzfrage zu stellen.
Hat sich die Bundesregierung z. B. durch die Entsendung eines Botschaftsangehörigen oder des Militärattachés in die südöstliche Türkei, in die Gebiete, in denen es die Auseinandersetzungen mit den Kurden gibt, selbst überzeugt, ob dort Waffen aus deutschen Lieferungen eingesetzt werden, oder verläßt sie sich ausschließlich auf die Auskünfte von Personen, die dort in privater Mission eingereist sind?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. April 1994 18855
Bitte.
Herr Kollege Gansel, ich kann Ihnen im Moment nicht beantworten, ob ein Kollege aus der Botschaft in diese Region gereist ist. Ich kann Ihnen aber sagen, daß die Bundesregierung zur Zeit nicht nur die Aussagen des Außenministers, die ich Ihnen soeben zitiert habe, bewertet, sondern auch die Unterlagen und Materialien, die uns zur Verfügung gestellt worden sind, auswertet und dann zu einem Schluß kommen wird.
Zweite Zusatzfrage.
Ist der Bundesregierung bekannt, was die Frankfurter Allgemeine Zeitung heute zitiert, daß der türkische Verteidigungsminister Anfang April im Südwestfunk gesagt hat, deutsche Waffen würden wohl gegen die PKK, nicht aber gegen das kurdische Volk eingesetzt, und würde sie einen solchen Einsatz für vertragsgemäß halten?
Herr Kollege Gansel, ich kann nur noch einmal darauf verweisen, daß der Außenminister der Türkei auf eine entsprechende Frage seines deutschen Kollegen u. a. unter Bezug auf Art. 5 des NATO-Vertrags darauf hingewiesen hat, daß die zur Verfügung gestellten Waffen, Waffensysteme entsprechend dem Vertrag verwandt werden.
Weitere Zusatzfragen zu diesem Komplex werden nicht gestellt. Vielen Dank, Frau Staatsministerin.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung auf. Zur Beantwortung ist die Parlamentarische Staatssekretärin Michaela Geiger erschienen.
Die Frage 1, die der Kollege Koppelin gestellt hat, bitte ich zu beantworten.
Billigt die Bundesregierung die Einberufungspraxis von Kreiswehrersatzämtern, am 24. März 1994 Einberufungsbescheide für die Grundwehrdiensteinberufung zum 5. April 1994 zu versenden?
Herr Präsident! Die Einberufung von Wehrpflichtigen zur Ableistung des Grundwehrdienstes erfolgt auf zwei Wegen: entweder durch direkte Zustellung des Einberufungsbescheids oder durch Vorbenachrichtigung und nachfolgende Zustellung des Einberufungsbescheids.
Wird der Einberufungsbescheid direkt zugestellt, soll er nach § 22 des Wehrpflichtgesetzes in Verbindung mit § 13 Abs. 4 Satz 3 der Musterungsverordnung vier Wochen vor dem Einberufungstermin zugestellt sein.
Hat der Wehrpflichtige eine Vorbenachrichtigung erhalten, die sechs bis acht Wochen vor dem Einberufungstermin versandt wird, kann der Einberufungsbescheid noch bis zu dem in der Vorbenachrichtigung genannten Datum zugestellt werden. Dieses Zustellungsdatum liegt ca. zehn Kalendertage vor dem Einberufungstermin.
Das Verfahren der Vorbenachrichtigung und nachfolgender kurzfristiger Einberufung ist notwendig, da
bei jedem Einberufungstermin eine nicht unerhebliche Zahl von Einberufenen Einwendungen erhebt. Da in begründeten Fällen Einberufungsbescheide aufgehoben werden, müssen die dadurch verursachten Ausfälle kurzfristig ersetzt werden. Dazu wurde das dargestellte Verfahren eingeführt, das sich in jahrelanger Praxis bewährt hat.
Zum Einberufungstermin 5. April 94 konnte an die Wehrpflichtigen, die eine Vorbenachrichtigung erhalten hatten, bis zum 24. März 1994 der Einberufungsbescheid versandt werden. Die Vorbenachrichtigung in dem vom Kollegen Koppelin genannten Fall wurde am 9. Februar 1994 zur Post gegeben.
Zusatzfrage, Herr Kollege Koppelin.
Frau Staatssekretärin, mit dem Hinweis, daß es sich nicht um einen Fall handelt, sondern um viele Fälle, derer Sie sich sicher haben kundig machen können, darf ich fragen, ob Sie es für akzeptabel halten, daß zwischen dem Empfang des Briefes, also 25. März, und dem Einberufungstermin genau vier Werktage liegen. Halten Sie das für akzeptabel?
Herr Kollege Koppelin, ich habe Ihnen ja gesagt, daß es in diesen Fällen ein Vorbenachrichtigungsschreiben gibt. Ich habe mir ein solches Schreiben vorlegen lassen. Da steht ganz genau, wie sich der Wehrpflichtige verhalten sollte. Es steht darin, warum er eine Vorbenachrichtigung bekommt — wegen der eventuellen Ausfälle —, und es steht auch darin, daß ihm der Einberufungsbescheid noch kurzfristig zugestellt werden kann und daß er damit rechnen muß. Es steht wortwörtlich darin:
Ich gebe Ihnen hiermit Gelegenheit, mir eventuell bestehende Gründe, die Ihrer Einberufung entgegenstehen, innerhalb von acht Tagen, also bis . . ., mitzuteilen.
Er ist also voll aufgefordert, Gründe, die seiner Einberufung entgegenstehen, zu nennen. Er kann sich daher rechtzeitig gegen eine Einberufung wehren, wenn er entsprechende Gründe dazu hat.
Die zweite Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, es ist sehr viel Theorie, was Sie hier soeben vorgetragen haben. Können Sie sich den kleinen Handwerksmeister vorstellen, der zwei Mitarbeiter hat, von denen einer so kurzfristig einberufen wird? Wie soll er verfahren? Wissen Sie, was auf ihn zukommt, wenn nur vier Werktage dazwischen sind? Wie soll er Aufträge entgegennehmen und abwickeln, wenn der Wehrpflichtige in einer so kurzen Zeit einberufen wird?
Er hat ja auf jeden Fall sechs bis acht Wochen Zeit. Wir haben viele Fälle, wo das passiert. Andererseits muß die Bundeswehr darauf sehen, daß die Stellen, die zu besetzen sind, auch besetzt werden. Wir müssen dies irgendwie bewerkstelligen und dazu einen vernünftigen Mittelweg finden. Nach dem, was wir an Rückläufen haben,
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18856 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. April 1994
Parl. Staatssekretärin Michaela Geigerglaube ich, daß das System im großen und ganzen ganz gut funktioniert.
Kollege Stockhausen, bitte.
Frau Staatssekretärin, würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage, daß die von Ihnen geschilderte langjährige Praxis des Einberufens von Wehrpflichtigen einem ordentlichen Mitglied des Verteidigungsausschusses bekannt sein müßte?
Herr Abgeordneter, ich möchte dazu keine Wertungen abgeben.
Herr Kollege Gansel, bitte.
Frau Staatssekretärin, können Sie begründen, warum — wie Kollege Koppelin sagte — ein Handwerksmeister mit zwei Mitarbeitern, der möglicherweise verwaltungsrechtsunkundig ist, in der Lage sein soll, innerhalb von vier Tagen einen rechtlich durchsetzungsfähigen Widerspruch einzulegen, wenn das Bundesverteidigungsministerium und das Auswärtige Amt mit mehreren tausend Mitarbeitern noch nicht einmal in der Lage sind, innerhalb von vier Tagen dem Bundestag auf Fragen von Abgeordneten Auskunft über Materialien zu geben, die angeblich beim Verteidigungsausschuß liegen?
Wenn ich gleich antworten darf, Herr Präsident: Herr Abgeordneter, erstens, glaube ich, unterschätzen Sie die Intelligenz unserer Handwerksmeister gewaltig. Die sind sehr viel gebildeter und gescheiter, als Sie jetzt unterstellen.
Zweitens. Vielleicht mögen Sie auf die Beantwortung der zweiten Frage von Herrn Koppelin warten; darin ist ganz genau das beschrieben, wonach Sie jetzt gefragt haben.
Da es keine Zusatzfragewünsche mehr gibt, rufe ich die Frage 2 des Abgeordneten Jürgen Koppelin auf und bitte um Beantwortung:
Wie kann vom Rechtsmittel auf Widerspruch innerhalb von zwei Wochen Gebrauch gemacht werden, wenn der Einberufungsbescheid am 24. März 1994 versandt wird und der Dienstantritt bereits am 5. April 1994 zu erfolgen hat?
Wehrpflichtige, die eine Vorbenachrichtigung erhalten haben, müssen verstärkt mit einer kurzfristigen Einberufung rechnen. Sie haben bereits nach Erhalt der Vorbenachrichtigung, die sechs bis acht Wochen vor dem Einberufungstermin versandt wird, ausreichend Zeit, dem Kreiswehrersatzamt ihre Hinderungsgründe mitzuteilen. Auch nach Erhalt des Einberufungsbescheids können sie Widerspruch einlegen.
Da der Widerspruch gegen den Einberufungsbescheid gemäß § 33 Abs. 5 Satz 2 Wehrpflichtgesetz keine aufschiebende Wirkung hat, müßten die Wehrpflichtigen gegebenenfalls einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs nach § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung beim zuständigen Verwaltungsgericht stellen.
Die Verwaltungsgerichte sind darauf vorbereitet, verstärkt an den letzten Werktagen vor dem Einberufungstermin derartige Eilanträge zu entscheiden.
In dem von dem Kollegen Koppelin genannten Fall standen dem Wehrpflichtigen nach Erhalt des Einberufungsbescheides vier Werktage für das dargelegte Rechtsmittelverfahren zur Verfügung. Von dem Zugang der Vorbenachrichtigung an standen ihm allerdings fast acht Wochen zur Verfügung.
Gibt es eine Zusatzfrage?
Frau Staatssekretärin, auch hier muß ich wiederholen, was ich vorhin gesagt habe. Es ist sehr viel Theorie, was Sie hier vortragen. Ich meine, Sie können nicht auf den ersten Bescheid verweisen. Es geht in meiner Frage um die Einberufung, die jemand am 25. erhält. Ich frage daher noch einmal: Halten Sie es für akzeptabel, vier Werktage für einen Widerspruch zur Verfügung zu stellen, für den im Einberufungsbescheid eigentlich 14 Tage Zeit gegeben wurden?
Ich möchte noch einmal mit dem Text der Benachrichtigung antworten. Darin steht ganz deutlich, daß der Wehrpflichtige damit rechnen muß, eine kurzfristige Einberufung zu erhalten.
Daneben gibt es einen zusätzlichen Verweis auf die Gelegenheit, die eventuell bestehenden Gründe, die der Einberufung entgegenstehen, zu nennen. Ein weiterer Hinweis lautet: Bitte unterrichten Sie Ihren Arbeitgeber, damit er sich betrieblich auf eine gegebenenfalls kurzfristige Einberufung einstellen kann. Es steht darin ganz deutlich, daß er schon sechs Wochen vor der Einberufung mit seinem Arbeitgeber reden soll.
Wenn er das versäumt, hat er sogar noch in den letzten vier Tagen die Möglichkeit dazu.
Herr Kollege Koppelin.
Frau Staatssekretärin, betrachten wir einmal das Verfahren, das ich geschildert habe, und Ihre Antworten. Wenn ich den Betroffenen diese Antworten gebe und das Verfahren mit ihnen erörtere, dann wird die Akzeptanz der Wehrpflicht in der Bevölkerung gerade bei diesen Personen immer geringer. Haben Sie dafür Verständnis?
Herr Koppelin, Sie sind nicht der einzige Abgeordnete, der mit solchen Fällen zu tun hat. Ich habe damit ganz genauso zu tun. Es ist manchmal schwierig.Aber auch für die Bundeswehr ist es schwierig, zu dem Personal zu kommen, das sie jedes Jahr braucht. Wir müssen einen vernünftigen Weg finden, der
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. April 1994 18857
Parl. Staatssekretärin Michaela Geigerbeiden Seiten gerecht wird. Ich glaube, daß dieses Weg, vor allem wenn wir als Abgeordnete immer wieder darauf hinweisen, wie so etwas läuft — das ist auch unsere Aufgabe —, durchaus gangbar ist.
Herr Kollege Kubatschka.
Frau Staatssekretärin, entsteht nicht der Eindruck, daß bei diesen kurzen Fristen von 14 Tagen, die vor allem innerhalb dei Widerspruchsfristen liegen, die Rechtsmittel zur Farce werden?
Schon mein Hinweis darauf, daß die Gerichte darauf eingerichtet sind, damit befaßt zu werden, zeigt, daß dies nicht dei Fall ist. Das wird immer wieder gemacht. Es zeigt auch, daß die Wehrpflichtigen mit diesen Mitteln umzugehen wissen und entsprechenden Rat bekommen.
Außerdem hat jeder, der gemustert wird und tauglich ist, damit zu rechnen, daß er einberufen wird. Das ist nichts Neues.
Weitere Zusatzfragen zu diesem Themenbereich? — Das ist nicht der Fall. Frau Staatssekretärin, ich bedanke mich für die Beantwortung.
Ich bitte jetzt einen Vertreter der Bundesregierung, möglichst des Bundeskanzleramts, folgendes zur Kenntnis zu nehmen: Die Kollegin Uta Würfel hat die Frage 3 zu dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit zurückgezogen. Sie möchte die Frage jetzt doch nicht zurückziehen, sondern schriftlich beantwortet bekommen. Ich bitte also, dies freundlicherweise dem Bundesgesundheitsministerium zu übermitteln.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf. Die von dem Kollegen Kubatschka gestellte Frage 4 soll ebenfalls schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Das gleiche gilt beim Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau für die Frage 5 des Abgeordneten Lowack. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Das gleiche gilt beim Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz für die Frage 6 des Abgeordneten Augustinowitz. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Mit welchem wirtschaftlichen Wachstum rechnet die Bundesregierung durch die Aufhebung des Rabattgesetzes, und wie hoch schätzt sie den dadurch evtl. zu erwartenden Zuwachs an Steuereinnahmen?
Frau Kollegin Blank, wie jede Deregulierungsmaßnahme wird auch diese dem Wettbewerb mehr Entfaltungsmöglichkeiten verschaffen und die Wachstumskräfte unserer Volkswirtschaft stimulieren. Eine Quantifizierung der Auswirkungen auf Wachstum und Steuereinnahmen ist allerdings nicht möglich.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie sich vorstellen, daß mich Ihre Antwort nicht befriedigt?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Ja, Frau Kollegin. Weil Sie in der Frage, die Sie schriftlich gestellt haben, ausdrücklich nach konkreteren Angaben gefragt haben, kann ich mir das sehr gut vorstellen. Aber ich bitte Sie um Verständnis dafür, daß bei der Einschätzung von Auswirkungen von Deregulierungsmaßnahmen eine Quantifizierung unmöglich ist. Daß gesamtwirtschaftlich jede Deregulierung Wachstumskräfte freisetzt, ist klar, aber in welchem Umfang, in welcher Quantität sich das auf Steuereinnahmen auswirkt, das kann man unmöglich vorhersehen.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie dann eventuell bereit, bei der in der nächsten Zeit stattfindenden Anhörung den Rat der Fachleute anzunehmen?
Dr. Reinhard Göhner, Pari. Staatssekretär: Frau Kollegin, die Bundesregierung wird selbstverständlich die Anhörung des zuständigen federführenden Ausschusses mit großem Interesse verfolgen. Die Beratung des Gesetzentwurfes liegt im übrigen jetzt in der Hand des Parlaments, nicht mehr in der der Bundesregierung.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bitte Sie, jetzt die Frage 8, die ebenfalls die Kollegin Renate Blank gestellt hat, zu beantworten:
Rechnet die Bundesregierung mit der Schaffung von Arbeitsplätzen durch die Aufhebung des Rabattgesetzes, und um wie viele Arbeitsplätze könnte es sich dabei handeln?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich beantworte Ihre Frage mit einem grundsätzlichen Ja. Aber auch hier gilt, daß eine Quantifizierung der Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt aus den gleichen Gründen nicht möglich ist.
Frau Kollegin Blank, wollen Sie eine Zusatzfrage stellen?
Herr Staatssekretär, können Sie sich vorstellen, daß durch eine Aufhebung des Rabattgesetzes eine weitere Konzentration im Handel z. B. durch die Möglichkeit der Ausgabe einer Jahresumsatzrabattkarte durch große Vollsortimenter eintreten und damit die Nahversorgung der Bevölkerung gefährdet werden könnte?Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, wir nehmen diese Frage sehr ernst. Sie wird
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18858 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. April 1994
Parl. Staatssekretär Dr. Reinhard Göhnerauch in die weitere Prüfung der Frage einzubeziehen sein, inwieweit wir durch ergänzende Bestimmungen im UWG Regelungen finden können, die etwa denen im Zusammenhang mit der Gewährung von Rabatten auf Mondpreise oder der Werbung mit Mondpreisen entsprechen können.Die von Ihnen jetzt angesprochene Frage der Konzentrationsauswirkungen muß allerdings vor dem Hintergrund der internationalen Erfahrungen verneint werden. Es gibt ja kein anderes Land, das noch ein solches Gesetz hat. Wir sind das einzige, das sich noch eine solche Regulierung leistet. Besondere Konzentrationswirkungen sind in den anderen Ländern in diesem Zusammenhang nicht festgestellt worden. Im übrigen haben sich die Regulierungen, die wir haben, in den vergangenen Jahren als nicht geeignet erwiesen, eine schon beachtliche Konzentration im Handel zu verhindern.
Zweite Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß trotz des Rabattgesetzes der deutsche Verbraucher im Einzelhandel die günstigsten Verbraucherpreise und den höchsten Wettbewerb hat?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, mir ist bekannt, daß es gerade im Handel heute schon eine Reihe von Verfahrensweisen gibt, bei denen faktisch Rabatte gewährt werden. Die von der Bundesregierung vorgeschlagene Regelung würde dazu führen, daß diese Verfahrensweisen legalisiert würden. Wenn Sie heute in vielen Bereichen Waren, vor allem langlebige Waren, die etwas teurer sind, erwerben, dann wissen Sie, daß in der Praxis Rabattgewährungen erfolgen. Das Rabattgesetz steht dem zwar entgegen, aber eine solche Verfahrensweise ist in der praktischen Anwendung nicht unterbunden worden. Ich denke, diese Sachverhalte muß man dabei berücksichtigen.
Herr Kollege Kubatschka.
Herr Staatssekretär, die Bundesregierung widerspricht damit den Ausführungen der Fachverbände, z. B. beim Einzelhandel, daß es wegen des Rabattgesetzes zu Konzentrationserscheinungen in der Wirtschaft kommen könne?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Ja, Herr Kollege, diesen Feststellungen widersprechen wir ausdrücklich. Das ist übrigens kein Unikum, sondern es kommt recht häufig vor, daß dann, wenn Veränderungen vorgenommen und auch bestimmte Besitzstände in Frage gestellt werden, betroffene Verbände sich dagegen wenden. Das halte ich für absolut legitim. Die Standpunkte dieser Verbände werden ja sicherlich vom Parlament, vom federführenden Ausschuß z. B. im Rahmen des vorhin angesprochenen Hearings entsprechend gewürdigt und berücksichtigt werden.
Ich muß Ihnen allerdings sagen, daß man bei der Bewertung solcher Stellungnahmen zur Konzentration doch auch beachten muß, wer diese Stellungnahmen vorträgt. Zum Teil sind es gerade Organisationen, in deren eigenen Bereichen in den vergangenen Jahren eine manchmal atemberaubende Konzentration stattgefunden hat, so daß diese Stellungnahmen auch unter diesen Gesichtspunkten sehr wohl zu hinterfragen sind.
Werden dazu weitere Zusatzfragen gestellt? — Das ist nicht der Fall.
Der Kollege Büttner , der die Fragen 9 und 10 gestellt hat, bittet um schriftliche Beantwortung. Ebenso sollen Frage 11 der Kollegin Dr. Elke Leonhard-Schmid und die Frage 12 des Kollegen Dr. Peter Ramsauer schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Der Fragesteller der Frage 22 ist nicht im Raum; es wird nach der Geschäftsordnung verfahren.
Dann darf ich mich bei Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, für die Beantwortung bedanken.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr auf. Zur Beantwortung steht uns Staatssekretär Dr. Wilhelm Knittel zur Verfügung.
Ich rufe Frage 13 auf, die der Kollege Dr. Ulrich Janzen gestellt hat:
Trifft es zu, daß die Prioritätenreihung der Schienenprojekte „Deutsche Einheit" nunmehr durch die Deutsche Bahn AG erfolgt, die Bundesregierung also keinen direkten Einfluß mehr auf die Prioritätenreihung dieser Objekte hat, und deshalb die Frage 49 der Drucksache 12/6892 nach einem Realisierungszeitraum und Fertigstellungstermin für die Strecke Lübeck-Stralsund nicht beantwortet werden konnte?
Ich bitte, Herr Staatssekretär, um Beantwortung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, die Antwort lautet: Nein.
Aus der Antwort zu Frage 49 der Drucksache 12/6892 geht eindeutig hervor, daß die Bundesregierung zusammen mit der Deutschen Bahn AG — ich betone: zusammen mit der Deutschen Bahn AG — die Prioritätenreihung für die einzelnen Schienenprojekte des Schienenwegeausbaugesetzes vornehmen wird. Dabei wird es darauf ankommen, wirtschaftliche Interessen der Deutschen Bahn AG mit verkehrspolitischen Notwendigkeiten in Einklang zu bringen.
Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, die Antwort klingt zunächst einmal überzeugend. Ich möchte trotzdem, weil die Antwort, die ich schriftlich bekommen habe, in diese Richtung ging, fragen: Wird die Prioritätenreihung durch die Bahn AG, begründet auf Wirtschaftlichkeitsüberlegungen, regionalpolitische und raumordnungspolitische Überlegungen zukünftig in die zweite Reihe drängen?
Bitte, Herr Kollege.Dr. Wilhelm Knittel, Staatssekretär: Das Verhältnis der Bahn AG zum Bund stellt sich in Zukunft so dar, daß hier ein Zusammenwirken stattfinden muß. Das
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. April 1994 18859
Staatssekretär Dr. Wilhelm Knittelheißt, die Bahn AG als privatrechtliche Aktiengesellschaft muß sich wie jede andere privatrechtlich organisierte Aktiengesellschaft im Wettbewerb bewegen. Sie muß also primär und vorrangig ihre Unternehmensinteressen, auf betriebswirtschaftlicher Grundlage berechnet, verfolgen. Alles das, was gesamtverkehrspolitisch oder auch aus den von Ihnen genannten spezifischen politischen Zielsetzungen einzubringen ist, muß durch die Bundesregierung, vertreten durch den Bundesverkehrsminister, erfolgen. Das Instrument dazu ist das im Schienenwegeausbaugesetz vorgesehene Mittel, daß der Bund entsprechende Maßnahmen mit finanziellen Zuwendungen ausgleichen muß, wenn sie sich von alleine nicht rechnen.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, daraus ergibt sich für mich tatsächlich die Zusatzfrage: Läßt sich aus der Tatsache der Umwandlung der Bundesbahn in die Deutsche Bahn AG ableiten, daß zukünftig auch die Ausarbeitung der Bundesverkehrswegepläne neuen Bedingungen unterliegt und sich dabei Bundesregierung und Bundestag in Abhängigkeit von der Deutschen Bahn AG befinden werden?
Dr. Wilhelm Knittel, Staatssekretär: Nein, nicht in planerische Abhängigkeit. Wenn Sie so wollen, besteht aber natürlich ein finanzieller Zusammenhang. Das heißt — noch einmal betont —, wenn der Bundestag in Zukunft im fortgeschriebenen Teil seines Schienenwegeausbaugesetzes den Ausbau eines Schienenweges vorsieht und die Bahn erklärt, daß sich der Ausbau in dieser Form nach ihren Unternehmensberechnungen nicht rentiert, dann wird der Bund sagen: Was berechnet die Bahn an Zusatzforderungen im Wege von Zuschüssen oder kostenlosen Darlehen seitens des Bundes, damit es sich rechnet? Dies ist das künftig neue Zusammenwirken von Unternehmenssicht und allgemeinpolitischer öffentlicher Hand.
Werden dazu weitere Zusatzfragen gestellt? — Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich Frage 14, die ebenfalls der Kollege Dr. Ulrich Janzen gestellt hat, auf:
Welche Glaubwürdigkeit ist der Anzeige des Bundesministeriums für Verkehr in der Ostseezeitung vom 11. Februar 1994 beizumessen, wenn mit einer Überschrift „Der Baubeginn bei Wismar schon im Frühjahr geplant" geworben wird, obwohl die Grundsteinlegung dazu bereits im Dezember 1992 stattfand, und Ministerpräsident Dr. Berndt Seite in einer Rede vor dem Landtag in Schwerin am 2. März 1994 „Zur Lage des Landes" erklärt: „Im zweiten Halbjahr 1994 wird mit dem Bau begonnen.' ?
Ich bitte um Beantwortung, Herr Staatssekretär.
Dr. Wilhelm Knittel, Staatssekretär: Die Aussage des Bundesministeriums für Verkehr in der „Ostseezeitung" zum Baubeginn der A 20 trifft zu. Nachdem das Investitionsmaßnahmegesetz für den Bau der Umgehung Wismar im Zuge der A 20 nach Abschluß des Gesetzgebungsverfahrens vor der Veröffentlichung steht und die Bauvorbereitungen weitgehend abgeschlossen sind, soll mit den Bauarbeiten im Mai 1994 begonnen werden.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, da ich meine Frage auf eine Aussage des Ministerpräsidenten des Landes Mecklenburg-Vorpommern erweitert hatte, der etwas anderes gesagt hat, und die Grundsteinlegung schon sehr lange zurückliegt, stelle ich die Zusatzfrage: Wie glaubt die Bundesregierung die offenbar doch nur schwer fixierbaren Bauzeiträume für die Objekte Deutsche Einheit mit den geplanten Zeiträumen des Einsatzes der Investmittel für diese Objekte in Übereinstimmung bringen zu können, und was wird mit den im Jahr 1994 nicht verbrauchten Mitteln für die A 20, falls Herr Seite recht behält?
Dr. Wilhelm Knittel, Staatssekretär: Zunächst einmal muß ich sagen, daß die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit ja ein größeres Milliardenvolumen umfassen. Wir haben die Zeiträume zunächst jeweils zugeordnet. Aus planungsrechtlichen und zum Teil natürlich aus haushaltsmäßigen Gründen müssen wir im weiteren Fortschreiten die einzelnen Daten aktualisieren.
Bezüglich der A 20, zu der Sie fragen, möchte ich sagen, daß wir da gute Fortschritte machen und daß der Bundesverkehrsminister hier Sorge getragen hat, daß die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit und insbesondere auch die A 20 vorrangig bedient werden, so daß ich jetzt für die A 20 keine Verzögerungen absehe.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich sehe das bei der A 20 etwas anders, so daß mich die trotz Beschleunigungsgesetz sich in der Praxis als schleppend darstellende Vorbereitung und Realisierung zu der Frage führt: Hält die Bundesregierung weitere Verfahrensänderungen für erforderlich, oder gibt es z. B. ein festes Rapportsystem des Verkehrsministeriums, das zu einer Stabilisierung der gegenwärtigen Situation der Verzögerungen führen könnte?Dr. Wilhelm Knittel, Staatssekretär: Ich habe den Eindruck, daß wir hier jetzt zügig vorankommen. Ich bitte zu bedenken, daß die Wiedervereinigung erst dreieinhalb Jahre zurückliegt. Ich bitte zu bedenken, daß es sich hier um eine völlig neue Autobahn handelt — angefangen von der Trassierung —, die völlig neu auch mit den Ländern abgestimmt und in den entsprechenden Verfahren durchgebracht werden mußte.Wir setzen alles für die Beschleunigung ein. So will ich erwähnen, daß wir am 25. Mai 1994 auf dieser etwa 10 km langen Stadtumgehung von Wismar gleichzeitig an vier Stellen mit dem Bau beginnen werden, so daß wir hoffen, diesen Abschnitt im Jahre 1996 vollständig fertiggestellt zu haben.Hinsichtlich der einzelnen Abschnitte mache ich darauf aufmerksam, daß z. B. für den Abschnitt Grevesmühlen bis Wismar-West der Baubeginn im Herbst vorgesehen ist, der nächste dann im Frühjahr 1995 im Abschnitt Schönberg bis Grevesmühlen. Ich denke, dies ist für eine völlig neue Autobahn ein außerordentliches Tempo.
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18860 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. April 1994
Werden dazu weitere Zusatzfragen gestellt? — Nein.
Dann rufe ich die Frage 15, die Kollege Horst Kubatschka gestellt hat, auf:
Welche Kosten durch den Bau und den Unterhalt von Kreis- und Gemeindestraßenbrücken entstehen für die Kommunen, da diese Kosten nach der Privatisierung der Deutschen Bundesbahn nicht mehr von der Deutschen Bahn AG übernommen werden, und beabsichtigt die Bundesregierung angesichts der angespannten Finanzlage der Kommunen, sich für eine Änderung dieser Regelung einzusetzen?
Ich bitte Herrn Staatssekretär um Beantwortung.
Dr. Wilhelm Knittel, Staatssekretär: Nach § 14 des Eisenbahnkreuzungsgesetzes gilt der Grundsatz, daß an Kreuzungen der Eisenbahnunternehmer die Eisenbahnanlagen, der Träger der Straßenbaulast die Straßenanlagen auf seine Kosten zu erhalten hat.
Im Jahre 1993 schätzte die Deutsche Bundesbahn die Zahl der von der Neuregelung betroffenen Straßenüberführungen auf 2 232 mit jährlichen Unterhaltungskosten — dies allerdings natürlich nur ganz grob hochgerechnet und geschätzt — von rund 4 Millionen DM.
Eine Änderung der seit dem 1. Januar 1994 geltenden Regelung ist nicht beabsichtigt.
Zusatzfrage?
Ich habe bloß eine Frage: War das ein Hörfehler: 4 Millionen?
Dr. Wilhelm Knittel, Staatssekretär: Ja.
Herr Staatssekretär, 4 Millionen DM bei über 2 200 Bauobjekten: Ist da die Baulast nicht sehr gering angesetzt?
Dr. Wilhelm Knittel, Staatssekretär: Ich habe mich, weil ich dieselben Zweifel hatte, Herr Abgeordneter, wie Sie, heute nochmal ausführlich damit beschäftigt. Mir ist immer wieder versichert worden, daß die Bahn dies nicht eigentlich ermitteln konnte und nur anteilig hochgerechnet hat nach den normalen Unterhaltungskosten für vergleichbare Straßen.
Ich möchte noch ausdrücklich hinzufügen, daß es sich bei dieser Zahl der Brücken nur um die Brückenbauwerke, die Überführungen in den alten Ländern handelt; denn — das als Antwort auf Ihre Frage — die Spezialregelung aus dem Jahr 1963 galt ja für die Überführungen in den neuen Bundesländern nicht.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, war die Interessenvertretung der Gemeinden, der Landkreise und Städte, also die Städtetage und die Gemeindetage, über diese Gesetzesänderung informiert, und wie hat sie darauf reagiert?
Dr. Wilhelm Knittel, Staatssekretär: Das kann ich Ihnen jetzt nicht sagen. Aber das Gesetzgebungsvorhaben der Bahnreform ist in den normalen Bahnen gelaufen. Ich muß sogar sagen, daß insbesondere die Länder, die ja nun auch in unmittelbarem Kontakt mit ihren Kommunalorganisationen stehen, hier in einem außerordentlich intensiven Maß an der Entstehung der Bahnreform beteiligt waren. Ich kann mich an kein
ähnliches größeres Gesetzgebungsverfahren erinnern, bei dem das der Fall war.
Ich will sagen, daß die Länder natürlich für eine Verlängerung dieser Sonderregelung aus dem Jahre 1963 eingetreten sind, daß aber im Gesetzgebungsverfahren, auch auf der Grundlage der Antwort der Bundesregierung im Bundesratsverfahren, diese Ausnahmeregelung von 1963 nicht verlängert worden ist.
Im übrigen darf ich auch noch kurz darauf hinweisen, daß die Ausnahmeregelung unter verschiedenen Gesichtspunkten nicht mehr zeitgemäß war. Erstens war sie eigentlich nur als Übergangsregelung gedacht. Zweitens führte sie jetzt dazu, daß von ihr praktisch nur westdeutsche Gemeinden bevorzugt wurden, denn ostdeutsche Gemeinden konnten von vornherein nicht in den Vorteil dieser Regelung kommen, weil sie ja anknüpfte an Vereinbarungen vor dem Jahre 1963.
Ich darf auch darauf hinweisen, daß einzelne Gemeinden sachwidrig bei der Erneuerung, selbst beim Neubau von Überführungen darauf hingewirkt haben, daß möglichst enge Brücken gebaut wurden, die nicht mehr den Verkehrserfordernissen genügten, nur damit sich entsprechend dieser Gesetzeslage die Straßenbaulast nicht ändert.
Ferner möchte ich darauf hinweisen, daß die Sonderregelung aus dem Jahre 1963 stammte, als es das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz noch nicht gab, mit dem der Bund seit Ende der sechziger Jahre den Ländern Finanzmittel zur Förderung des Ausbaus von Kommunalstraßen in beträchtlicher Höhe jährlich zukommen läßt.
Das geriet in die Nähe des Gesamtkunstwerks, Herr Staatssekretär.
Werden dazu weitere Zusatzfragen gestellt? — Das ist nicht der Fall.
Die Fragen 16 und 17 sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Dann bedanke ich mich für die sehr umfassende Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Post und Telekommunikation auf. Der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Paul Laufs steht uns zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 18 auf, die unser Kollege Detlef Parr gestellt hat:
Welche Notwendigkeit hat für die bundesweite sehr kostenträchtige Image-Aktion der Telekom bestanden, bei der Zug um Zug alle „alten" Telefonzellen durch neue Telefonhäuschen ersetzt werden, um sich nun auch farblich von der gelben Briefpost abzuheben ?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Parr, in der Farbgestaltung entsprechen die Telefonhäuschen grundsätzlich den Unternehmensfarben. Bis zur Postreform I waren sie ein Produkt der Post und damit gelb. Als Dienstleistung des Unternehmens Deutsche Bundespost Telekom zeigen sie nunmehr
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. April 1994 18861
Parl. Staatssekretär Dr. Paul Laufsdurch die Farbe Magenta die eindeutige Anbindung an das Unternehmen.Seit März 1991 — also seit nunmehr drei Jahren — ersetzt die Deutsche Bundespost Telekom abgenutzte, reparaturbedürftige und durch Vandalismus beschädigte Telefonhäuschen durch eine neue Generation. Hierbei werden dann auch die neuen Farben eingeführt.Eine generelle Auswechslung findet nicht statt. Sie erfolgt lediglich im Rahmen der eben angeführten Gründe und damit ohne zusätzliche Kosten. Die gesamte Umstellung wird einen Zeitraum von 10 bis 15 Jahren umfassen.
Herr Kollege Parr, Sie haben zwei Zusatzfragen. — Keine. Vielen Dank.
Will sonst jemand dazu eine Zusatzfrage stellen? — Das ist nicht der Fall.
Die Fragen 19, 20 und 21 sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, damit ist Ihre Aufgabe bereits erfüllt. Ich bedanke mich.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Eduard Lintner zur Verfügung.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, die Fragen 26 und 27 sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 28 auf, die unser Kollege Dr. Burkhard Hirsch gestellt hat:
Wann wird die Bundesregierung den Verfassungsschutzbericht für 1993 veröffentlichen, nachdem in den vergangenen Jahren die relativ späte Vorlage zu Erörterungen geführt hatte?
Ich bitte um Beantwortung.
Herr Kollege Dr. Hirsch, wie Sie wissen, wird Bundesinnenminister Kanther den Verfassungsschutzbericht für 1993 am 14. April, also morgen, in der Bundespressekonferenz in Bonn der Öffentlichkeit vorstellen.
Zusatzfrage?
Ich wollte dazu nur die Bemerkung machen, Herr Präsident, daß ich es als Zeichen einer guten Zusammenarbeit empfinde, wenn auf eine Anfrage hin sofort die Veröffentlichung des Berichtes erfolgt.
Ich fand besonders bezeichnend — wenn ich mich da einmischen darf, Herr Kollege Hirsch — den Einleitungssatz „wie Sie wissen".
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Und ich wollte sagen: So sind wir.
Ich entnehme Ihrer Äußerung, daß Sie keine Zusatzfragen stellen wollen.
Möchte sonst jemand eine Zusatzfrage dazu stellen? — Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 29 auf, die ebenfalls unser Kollege Dr. Burkhard Hirsch gestellt hat:
Wann wird die Bundesregierung den Kriminalitätsbericht für 1993 veröffentlichen, nachdem die Innenminister einer Reihe von Bundesländern jeweils für ihr Bundesland den Bericht bereits veröffentlicht haben?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Hier ist die Antwort nicht so einfach. Sie lautet: Die Veröffentlichung der Polizeilichen Kriminalstatistik erfolgt nach einem entsprechenden IMK-Beschluß gemeinsam durch den Vorsitzenden der IMK und das Bundesministerium des Innern im Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung.
Sie wird durch eine vom Arbeitskreis II „Innere Sicherheit" der Arbeitsgemeinschaft der Innenministerien der Länder eingesetzte Ad-hoc-Arbeitsgruppe, bestehend aus fünf Vertretern der Länder unter Vorsitz des Bundes, vorbereitet.
Die Ad-hoc-Arbeitsgruppe hat in der 13. Kalenderwoche getagt. Es ist beabsichtigt, den Bericht durch den Arbeitskreis II „Innere Sicherheit" in der 16. Kalenderwoche im Umlaufverfahren billigen zu lassen, so daß nach Beschlußfassung durch die IMK am 5. und 6. Mai 1994 die Veröffentlichung vorgesehen ist.
Zusatzfrage? — Nein. Die Frage 30 soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, für die offenbar besonders überzeugende Beantwortung. Das kann man wohl sagen, weil der Kollege Hirsch keine Zusatzfragen hatte. Ich danke vielmals.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen auf. Die Antworten wird uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald geben.
Ich rufe die Frage 31, die der Kollege Klaus Riegert gestellt hat, auf:
Kann die Bundesregierung die ihr bisher entstandenen Kosten für die begleitende Arbeit des 2. Untersuchungsausschusses „Treuhandanstalt" beziffern und angeben, wie viele Kilogramm und/oder Seiten Akten und Arbeitsunterlagen bis heute für die Arbeit des 2. Untersuchungsausschusses bereitgestellt wurden?
Herr Kollege Riegert, das Verfahren des Treuhand-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages führt, wie Sie als leidgeprüftes Mitglied dieses Untersuchungsausschusses sicherlich gerne bestätigen wollen, zu ganz erheblichen zusätzlichen Arbeits- und Kostenbelastungen sowohl bei der Bundesregierung als auch bei der Treuhandanstalt.
Der Ausschuß hat in mittlerweile fast 200 Beweisbeschlüssen die Beiziehung von Akten und sonstigen Unterlagen in einem Umfang beschlossen, der das in früheren Untersuchungsverfahren übliche Maß bei weitem übersteigt. Darüber hinaus fordert der Ausschuß immer wieder die Erstellung neuer Berichte, Aufstellungen und Übersichten. Bis jetzt wurden dem Ausschuß in Erfüllung eines Teils dieser Beweisbe-
18862 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 218. Sitzung, Bonn, Mittwoch, den 13. April 1994
Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald
schlösse von der Bundesregierung, einschließlich Treuhandanstalt, bereits etwa 139 000 Blatt zugeleitet. Diese Zahl wird in den nächsten Wochen und Monaten noch erheblich ansteigen.
Zur Verdeutlichung des hiermit verbundenen Arbeitsaufwandes darf ich darauf hinweisen, daß dieses Aktenmaterial nach der Verfassungsrechtsprechung vor einer Herausgabe an den Ausschuß Blatt für Blatt durchgesehen werden muß, um durch Kennzeichnung geheimschutzbedürftiger Aktenteile auch im Parlament den grundrechtlichen Daten- und Geheimschutz sicherzustellen. Außerdem müssen die Akten kopiert werden, um der Verwaltung die laufende Arbeit weiterhin zu ermöglichen.
Die durch den Treuhand-Untersuchungsausschuß verursachten zusätzlichen Kosten bei Bundesregierung und Treuhandanstalt lassen sich naturgemäß nur grob schätzen, da das Untersuchungsverfahren vielfältige Zuarbeiten durch die verschiedensten Stellen erforderlich macht. Die zusätzliche Arbeitsbelastung kann zudem vielfach nur durch Überstunden oder durch Zurückstellung sonstiger laufender Arbeiten bewältigt werden.
Für die Zusammenarbeit mit dem Untersuchungsausschuß sind in der Treuhandanstalt und bei den aufsichtsführenden Bundesministerien, also unterschiedlichen Häusern, Stabsstellen eingerichtet worden. Die hiermit verbundenen Personalkosten sowie die sonstigen Kosten des Treuhand-Untersuchungsverfahrens belaufen sich für die ersten sechs Monate seit Einsetzung des Untersuchungsausschusses insgesamt auf etwa 3 bis 4 Millionen DM. Die Kosten dürften sich bis zum Ende der Legislaturperiode voraussichtlich auf etwa 6 bis 8 Millionen DM erhöhen.
Zusatzfrage, Herr Kollege Riegert.
Herr Staatssekretär, sind in diesen geschätzten Kosten die normalen Arbeitskosten der Mitarbeiter der Treuhand und der Ministerien und die Kosten für die Überstunden enthalten?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ja und nein. Zunächst einmal: Die Treuhandanstalt macht bei sich eine buchungstechnische Festhaltung aller Kosten, die ihr entstehen, im personellen wie im sächlichen Bereich. Das ist allerdings beschränkt auf die Zentrale in Berlin und gilt nicht für die Niederlassungen und die Geschäftsstellen draußen im Lande. Deswegen sind nur grobe Schätzungen möglich.
Die Kosten insbesondere im Hause des Bundesfinanzministers, aber auch in den anderen Ministerien, werden nach den üblichen Kosten, die solchen Berechnungen zugrunde gelegt werden, pro Mitarbeiter gerechnet. Der sächliche Verwaltungsaufwand ist natürlich genauer kalkulierbar. Überstunden, soweit sie von Beamten geleistet werden, werden weder bezahlt noch abgegolten.
Insgesamt werden die Generalkosten, etwa die zusätzliche Belastung der Regierung, eher höher liegen als niedriger.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie Angaben über Kosten machen, die etwa beim Ausschußbüro für sachlichen und personellen Aufwand notwendig sind, die etwa für Zeugen und Zeugenentschädigungen und die bei den Fraktionen für Mitarbeiter notwendig sind?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Das kann ich nicht. Deswegen bitte ich noch einmal um Verständnis ob einer nur groben Schätzung. Die Kosten, die bei der Bundestagsverwaltung entstehen, sind nur teilweise mit in diese Berechnungsgrundlagen eingegangen.
Herr Kollege Klejdzinski, bitte.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß man den Wert eines Untersuchungsausschusses nicht unbedingt in Kilogramm Papier und Seitenzahlen ausdrücken sollte, und teilen Sie weiterhin meine Auffassung, daß der Untersuchungsausschuß deswegen nötig war, weil die Treuhandanstalt schludrig gearbeitet hat?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Zunächst einmal darf ich sagen, daß sich Sinn und Zweck eines Untersuchungsausschusses natürlich auch an einem vernünftigen Verhältnis zu Kosten und Arbeitsaufwand zu orientieren haben. Ich glaube, das dürfte wohl unbestreitbar sein.
Zum zweiten muß ich sagen: Wir müssen erst einmal abwarten, ob der Untersuchungsausschuß in der nur noch kurzen Zeit seiner Arbeit ein befriedigendes Prüfergebnis vorzulegen in der Lage ist. Dem möchte ich nicht vorgreifen.
Herr Kollege Janzen.
Herr Staatssekretär, darf ich aus der zielgerichteten Fragestellung und aus Ihrer ebenso klaren Antwort und auch aus der jetzigen Antwort ableiten, daß Sie vom Grunde her diesen Treuhand-Untersuchungsausschuß für überflüssig halten? Denken Sie dabei einmal an die gestern in Rostock durchgeführte kriminalistische Hausdurchsuchung gerade bei dieser Einrichtung.Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich verhehle gar nicht — warum auch, denn es war ja auch unter den Parteien im Hause keineswegs unbestritten —, daß ich persönlich kein Protagonist dieses Ausschusses gewesen bin und sehr große Sorge hatte, daß durch diese Ausschußtätigkeit die notwendigen Aktivitäten nicht nur bei der Treuhandanstalt, sondern insonderheit auch bei zu gewinnenden Investoren im Inland und Ausland gehemmt werden könnten. Es mehren sich die Anzeichen dafür, daß das auch der Fall ist.Aber die Entscheidung ist gefallen, und nachdem die Entscheidung mehrheitlich gefallen ist, habe ich mich auch als das für die Bundesregierung zuständige Mitglied zur Betreuung dieses Ausschusses an die Spitze der Bewegung gesetzt, die schwere Arbeit der Kollegen nachhaltig zu unterstützen und zu fördern.
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Herr Kollege Thiele.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Auffassung, daß die Kosten von bisher 4 Millionen DM für den Untersuchungsausschuß gegenüber den Beratungshonoraren, die die Treuhandanstalt im Jahre 1992 alleine in der Größenordnung von 400 Millionen DM ausgegeben hat, in diesem Zusammenhang nicht allzusehr ins Gewicht fallen?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Je nachdem, welche Relation zu welchem Aufgaben- und Tätigkeitsbereich man herstellt — ob das denn sachgerecht ist, Herr Kollege Thiele, ist eine andere Frage —, kann man natürlich bei solchen Zahlen schon sagen, daß sich, gemessen an dem Beratungsaufwand, die Kosten bescheiden ausnehmen.
Werden dazu weitere Zusatzfragen gestellt?
— Nein. Sie können nur eine Zusatzfrage stellen, wenn Sie nicht der Fragesteller sind.
Wenn also keine weiteren Zusatzfragen gestellt werden, dann ist diese Frage beantwortet.
Ich rufe die Frage 32 auf, die der Kollege Carl-Ludwig Thiele gestellt hat:
Ist der Bundesregierung bekannt, ob die Forderung von Herrn Zwick an Herrn Tandler in Höhe von 200 000 DM zuzüglich zwischenzeitlich aufgelaufener Zinsen von den Finanzbehörden gepfändet wurde?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Thiele, es tut mir persönlich immer besonders leid, wenn ich von vornherein aus Rechtsgründen gehalten bin, ausgerechnet Kollegen eine unbefriedigende Antwort geben zu müssen; denn Tatsachen, die den Finanzbehörden in einem Verwaltungsverfahren in Steuersachen über den Steuerpflichtigen selbst und Dritte bekanntwerden, unterliegen nun einmal dem Steuergeheimnis.
Da hierzu auch das Vollstreckungsverfahren nach der Abgabenordnung gehört, kann die Bundesregierung Ihnen die gewünschten Auskünfte leider nicht erteilen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich beziehe mich auf veröffentlichte Unterlagen im Fall Zwick. Deshalb bin ich der Auffassung, daß über diese veröffentlichten Dinge hier auch Angaben gemacht werden können.
Ist die Forderung denn nun gepfändet oder nicht? Es geht ja nicht darum, wer hier welche Steuererklärung offenzulegen hat, sondern es ist allein die Frage, ob die Verwaltungsbehörden des Landes Bayern ihrer Aufgabe nachkommen, entsprechende Beträge beizutreiben?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Weil ich diese auch unter kollegialen Aspekten, wie eingangs gesagt, unerfreuliche Diskussion erwartet habe, hatte ich Sie ja schon im Vorfeld darauf hinweisen lassen, daß ich einfach aus Rechtsgründen zu diesen Ihren Fragen nicht Stellung beziehen kann.
Daran ändert auch nichts, daß wir den Artikel im „Stern" kennen; natürlich kenne ich den. Aber das gibt mir doch nicht das Recht, den Inhalt dieses Artikels zu bestätigen oder zu dementieren; denn dann würde ich schon gegen das Steuergeheimnis, das Dritte schützen soll und nach unserem Verständnis auch schützen muß, verstoßen.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich habe erhebliche Zweifel, ob Sie diese Angaben nicht machen können. Ich werde es prüfen.
Ich bin von irgendjemandem aus irgendeiner Behörde der Regierung angerufen worden. Mir wurde mitgeteilt, daß Zweifel an der Möglichkeit der Beantwortung dieser Frage aus Gründen des Steuergeheimnisses bestünden. Ich hatte Zweifel an der Richtigkeit dieser Erklärung geäußert. Kurz darauf wurde mir mitgeteilt, daß es doch gehe.
Frage, Herr Kollege.
Frage: Warum wird mir von einem Ministerium mitgeteilt, daß die Frage gleichwohl gestellt werden kann, nachdem Sie mir vorher gesagt haben, es sei mir mitgeteilt worden, die Frage hätte nicht gestellt werden dürfen?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Nein, Herr Kollege Thiele. Die Frage kann natürlich sehr wohl gestellt werden. Nur, ich bitte noch einmal höflich um Verständnis, daß ich sie nicht beantworten kann.
— Daß Sie es nicht so sehr damit haben — entschuldigen Sie mir die Beantwortung der Zwischenbemerkung —, haben wir ja bei der Diskussion über den Zinsabschlag, § 30a der Abgabenordnung, hinreichend erfahren.
Zusatzfrage, Herr Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie denn fragen, ob Ihnen die Frage bekannt ist?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Was, bitte?
Herr Staatssekretär, ich möchte Sie fragen, ob Ihnen die Frage des Kollegen bekannt ist.
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Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ja, selbstverständlich. Ich habe doch gerade umfänglich dazu Stellung bezogen.
Damit beende ich die Fragestunde. Die restlichen Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe Zusatzpunkt 1 auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zu den deutschtürkischen Beziehungen
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Wir verfahren so.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In seiner Traueransprache für die Opfer des fürchterlichen Brandanschlags von Solingen hat Bundespräsident von Weizsäcker am 3. Juni 1993 das deutsch-türkische Verhältnis als eine Völkerfreundschaft bezeichnet — zu Recht. Diese Freundschaft hat eine lange und beispielhafte Tradition. Sie ist für uns ein wichtiges Gut, außenpolitisch wie menschlich. Die Bundesregierung hat den festen Willen, dieses Gut auch in schwierigen Zeiten zu pflegen.
Die enge Zusammenarbeit mit der Türkei ist kein Sonderinteresse Deutschlands, vielmehr das gemeinsame Ziel von NATO wie Europäischer Union. Nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion und den Umbrüchen in Mittel- und Osteuropa hat die Türkei als Brücke zwischen Europa und Asien und als Stabilitätsfaktor innerhalb der islamischen Welt noch weiter an Bedeutung gewonnen, und sie bedarf gerade jetzt der Solidarität. Ministerpräsidentin Çiller hat soeben ein wirtschaftliches Stabilitätsprogramm verkündet, das harte Maßnahmen und Opfer vorsieht. Gleichzeitig wird das Land, siehe Kommunalwahlen, von dem Erstarken des Islamismus geprüft. Der irakische Kurdenführer Talabani, mit dem ich heute abend ein Gespräch führen werde, hat soeben erklärt, nach seiner Einschätzung sei der wachsende Fundamentalismus in der Türkei eine gemeinsame Bedrohung sowohl für die Kurden als auch für die türkische Regierung.Meine Damen und Herren, zu einem freundschaftlichen Verhältnis, wie wir es zur Türkei haben, gehört aber auch, daß man sich gerade als Freund und Partner gegenseitig offen sagt, wenn es Probleme gibt, wenn etwas nicht stimmt. In diesem Geist und aus diesem Geist muß gesagt werden: Die Lage der Menschenrechte und die Lage der kurdischen Bevölkerungsgruppe in der Türkei sind nicht befriedigend. Im Gegenteil, die Lage hat sich verschlechtert. Das hat auch die Europäische Union in einer Erklärung zu denMenschenrechten in der Türkei vom 31. März 1994 feststellen müssen. Anlaß zu dieser Erklärung war die Aufhebung der Immunität und Verhaftung kurdischer Abgeordneter des türkischen Parlaments Anfang des letzten Monats. Die Bundesregierung hat unmittelbar nach Bestätigung der ersten Meldungen darauf hingewiesen, daß Maßnahmen gegen frei gewählte Mitglieder des türkischen Parlaments den Eindruck erwecken müssen, als solle die Stimme der kurdischen Bürger in der Türkei zum Verstummen gebracht werden. Wir haben bilateral, aber nunmehr auch im Rahmen der Europäischen Union unsere Erwartung zum Ausdruck gebracht, daß den kurdischen Abgeordneten Gelegenheit gegeben wird, von ihren verfassungsmäßigen Rechten Gebrauch zu machen. In diesem Zusammenhang setzt die Bundesregierung auf die Unabhängigkeit der türkischen Justiz.Gemeinsam mit meinem britischen Amtskollegen Douglas Hurd hatte ich am 20. Januar einen freimütigen Gedankenaustausch mit dem Kollegen Çetin, übrigens selber Kurde, mit dem ich laufend auch und gerade in den letzten Tagen in Kontakt stand und stehe. Dabei geht es u. a. auch immer wieder um die Situation der Christen und der Jeziden, um Folter in Polizeihaft und um die Einschränkung der Presse- und der Meinungsfreiheit.Damit keine Mißverständnisse aufkommen, meine Damen und Herren: Die Bundesregierung hält die Bekämpfung der terroristischen PICK selbstverständlich für legitim. Genauso aber gilt: Auch Terrorismusbekämpfung muß sich im rechtsstaatlichen Rahmen und im Rahmen der auch von der Türkei anerkannten völkerrechtlichen Standards bewegen.
Nach Überzeugung der Bundesregierung — das wird in allen Gesprächen von unserer Seite immer wieder verdeutlicht — kann die Kurdenfrage, die ja nicht nur in der Türkei ein Problem ist, ausschließlich mit friedlichen Mitteln und einvernehmlich zwischen der türkischen Regierung und den Kurden gelöst werden. Eine solche Lösung muß die kulturelle Identität der kurdischen Bevölkerung respektieren und wahren.
Meine Damen und Herren, zu dem Vorwurf, die Bundesregierung lasse es zu, daß aus Deutschland gelieferte Waffen gegen die kurdische Zivilbevölkerung eingesetzt werden, ist folgendes zu sagen. Die Türkei erhält seit 1964 von der Bundesrepublik Deutschland Verteidigungshilfe. Dies beruhte und beruht im übrigen auf einer Empfehlung des NATO-Rates. Damit erfüllte und erfüllt Deutschland eine Bündnisverpflichtung und trug und trägt mit der Stärkung der NATO-Südflanke zu unser aller Sicherheit bei. Diese Hilfe, von der ich soeben sprach, läuft 1994 aus.Zusätzlich zur Verteidigungshilfe erhält die Türkei Materialhilfe, d. h. Lieferungen von Überschußmaterial u. a. aus früheren Beständen der NVA. Im Zusam-
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Bundesminister Dr. Klaus Kinkelmenhang mit dem Golfkrieg wurden Lieferungen im Wert von insgesamt 1,5 Milliarden DM vorgesehen, von denen 1994 noch Materialien im Wert von 290,9 Millionen DM geliefert werden sollen. Danach sind keine weiteren Lieferungen mehr vorgesehen.1988 wurde eine Rüstungssonderhilfe vereinbart, die inzwischen bis auf eine Lieferung von 5,1 Millionen DM abgewickelt ist.In all den genannten Verträgen und bei all den genannten Lieferungen hat sich die Türkei dazu verpflichtet, die gelieferten Waffen und auch die gelieferten sonstigen Geräte ausschließlich in Übereinstimmung mit Art. 5 des NATO-Vertrages, also zur Verteidigung gegen einen bewaffneten Angriff, einzusetzen. Nach dem von der Bundesregierung am 26. März 1992 verhängten Lieferstopp hat die türkische Regierung in einem Briefwechsel nach einem Besuch, den ich damals in der Türkei abgestattet habe, am 2. Juni 1992 diese Verpflichtung nochmals ausdrücklich schriftlich bekräftigt.Die jüngsten Vorwürfe betreffend einen vertragswidrigen Einsatz deutscher Waffen hat die Türkei u. a. durch ein Schreiben von Außenminister Çetin vom 7. April vehement zurückgewiesen, nachdem ich ihn nochmals schriftlich und mündlich an die Einhaltung der türkischen Zusagen erinnert hatte. Gleichwohl hat die Bundesregierung entschieden, eine für den 15. April vorgesehene Lieferung im Rahmen der Materialhilfe so lange zu verschieben, bis die Prüfung der Vorwürfe abgeschlossen ist. Die Bundesregierung hat diesen Beschluß gefaßt, weil sie ihre Verantwortung ernst nimmt.Der Politische Direktor des Auswärtigen Amts hat gestern ein ausführliches Gespräch mit einer Abordnung von verschiedenen deutschen Menschenrechtsgruppen geführt. Das uns dabei übergebene Bildmaterial und die gegebenen Hinweise werden jetzt von Experten sorgfältigst geprüft, so wie wir das auch in der Vergangenheit bei jedem einzelnen Fall von angeblichen Verstößen getan haben.Ich habe in der Zeit seit 1992, seit dem vorhin erwähnten Briefwechsel, ca. vier- bis fünfmal auf Grund von vorliegenden Meldungen, es lägen Verstöße vor, Kontakt mit meinem türkischen Kollegen aufgenommen und mit ihm x-mal — weit mehr als vier- oder fünfmal —, bei jedem Zusammentreffen, über diese Materie gesprochen. Es war jedenfalls nie so, daß uns beweiskräftiges Material wirklich vorgelegt werden konnte.Das uns gestern übergebene Bildmaterial und die gegebenen Hinweise — ich muß es nochmals sagen — werden jetzt sorgfältig geprüft. Was ich bisher dazu sagen kann, ist, daß mir jedenfalls bis zur Stunde auch insoweit kein Material vorliegt, das in irgendeiner Form das unterstreichen würde, was behauptet worden ist. Ich kann allerdings vor Auswertung dieses Materials dazu keine endgültige Aussage machen. Ich will das abwarten und vorsichtig und zurückhaltend sein.Allerdings lege ich als Außenminister dieses Landes auf folgende Feststellung wert: Solange die Vorwürfe nicht stichhaltig belegt sind, hat jedenfalls die Bundesregierung keinen Anlaß, an den detaillierten Versicherungen der Vertragstreue eines freundschaftlich verbundenen Partners zu zweifeln.
Die Türkei macht uns darauf aufmerksam — sowohl durch den Verteidigungsminister wie auch durch den Außenminister —, ebenfalls schriftlich und mündlich in mehreren Telefonaten, daß Gerät aus früheren Beständen der NVA zwar tatsächlich im Südosten der Türkei stationiert ist, aber nur zur Sicherung der Grenzen insbesondere zum Irak und zu Syrien. Zugleich verweist sie darauf, daß gleiches Gerät auch von seiten Rußlands geliefert worden ist, und zwar in größerem Umfang.
— In größerem Umfang!
Meine Damen und Herren, am 10. November 1993 habe ich an dieser Stelle an alle in Deutschland lebenden Kurden appelliert: „Tragen Sie Ihre Konflikte nicht in Deutschland aus!"
„Glauben Sie nicht daran, daß Gewalt der Weg zu legitimen politischen Zielen — etwa des Minderheitenschutzes in Ihrer Heimat — sein könnte!" Für die Bundesrepublik wiederhole ich diesen Appell von hier aus mit allem Ernst und mit allem Nachdruck.Wie alle rund zwei Millionen türkischen Staatsbürger, die hier in Deutschland leben, sind auch die mehreren hunderttausend Kurden unter ihnen willkommene Gäste und Mitbürger in Deutschland, die unserer Fürsorge sicher sein können.
Es gilt aber selbstverständlich auch, was in jedem Land der Erde zu den Grundregeln der Gastfreundschaft gehört: Wer sie in Anspruch nimmt, hat Recht und Ordnung des Gastlandes zu respektieren.
Gesetzesverletzungen und Gewalt in Deutschland, gleichgültig, von welcher Seite und wie auch immer motiviert, wird die Bundesregierung nicht hinnehmen. Sosehr wir uns weltweit für den Schutz von Menschen- und Minderheitenrechten einsetzen, genauso entschieden lehnen wir die gewalttätige Auseinandersetzung hierüber in unserem Lande ab.
Wer das Gastrecht in Deutschland mißbraucht und straffällig wird, muß mit der vollen Härte unserer Gesetze, mit einem Strafverfahren und mit Ausweisung und Abschiebung rechnen.
Dabei wird selbstverständlich in jedem Einzelfallgeprüft werden, ob dem Betroffenen Todesstrafe oderFolter oder sonstige rechtsstaatswidrige Behandlung
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18866 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. April 1994
Bundesminister Dr. Klaus Kinkeldrohen. Deutschland ist und bleibt ein Rechtsstaat. Darauf sind wir stolz.
Die Türkei hat die Genfer Flüchtlingskonvention, die Europäische Menschenrechtskonvention und die UN-Folterkonvention unterschrieben. Wir bemühen uns um weitere Zusicherungen. Andererseits sind auch Mölln und Solingen nicht vergessen.
Das habe ich an den offenen Gräbern der Toten in der Türkei versichert. Das sollte heute, am Tage des Prozeßbeginns gegen die vermutlichen Verantwortlichen für das schreckliche Ereignis von Solingen, auch gesagt werden.
Meine Damen und Herren, unsere Beziehungen, die deutschen Beziehungen zur Türkei, waren, sind und bleiben für uns von hohem Wert. Um so wichtiger — ich wiederhole es — ist die Intensivierung unseres kritischen, aber eben auch partnerschaftlichen Dialogs mit unseren türkischen Freunden.Ich bitte alle, denen das Schicksal aller Menschen, in der Türkei wie in Deutschland, am Herzen liegt, an den Satz zu denken: Völkerfreundschaft ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein kostbares Gut. Daran wird sich die Politik der Bundesregierung auch in Zukunft, insbesondere in unserem Verhältnis zur Türkei, orientieren.Vielen Dank.
Als nächster spricht der Fraktionsvorsitzende der SPD, Hans-Ulrich Klose.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Türkei ist ein wichtiges Land, zu dem die Bundesrepublik Deutschland enge Beziehungen unterhält. Die geopolitische Bedeutung dieses Landes ist nach dem Zerfall der Sowjetunion eher noch gewachsen. Die Tatsache, daß es sich um ein islamisches Land handelt, das laizistisch regiert wird und demokratisch verfaßt ist, sollte nicht unterschätzt werden.
Demokratisch verfaßt! Die Praxis sieht bisweilen anders aus. Gelegentlich will es scheinen, daß nicht die Regierung des Landes, sondern die Militärs entscheiden.
Wenn es um Fragen von Rechtsstaatlichkeit geht, wachsen die Zweifel, ob dieses Land, das an der europäischen Option festhält, die dafür unerläßlichen Voraussetzungen erfüllt.
Keine Fraktion dieses Hauses war während der Asyldebatte bereit, die Türkei als sicheres Herkunftsland zu definieren. Über die Verhörmethoden der türkischen Polizei gibt es zahlreiche, sehr negative Berichte. In keinem Land der Erde sind in den letzten beiden Jahren so viele Journalisten ermordet worden wie in der Türkei.Wir Deutschen — das betone ich in Übereinstimmung mit dem Herrn Außenminister mit Nachdruck gerade heute — haben keinen Anlaß zur Selbstgerechtigkeit. Eine Richterrolle maßen wir uns nicht an. Wir haben unsere eigenen bitteren Erfahrungen und unsere eigene Geschichte. Es berührt uns aber, wenn in einem NATO-Land Menschenrechte verletzt werden. Wir haben jedes Recht, die Einhaltung der Menschenrechte einzufordern, nicht zuletzt weil bei uns viele Menschen türkischer Nationalität leben — Türken und Kurden, Mitbürger.
Es ist heute nicht die Gelegenheit und die Zeit, die Kurdenfrage in extenso zu debattieren. Die SPD-Fraktion hat dazu vor wenigen Wochen politische Grundsätze formuliert. Wir machen uns die Forderung nach Schaffung eines kurdischen Nationalstaates nicht zu eigen. Aber wir wiederholen: Es war ein kaum wiedergutzumachender Fehler türkischer, aber nicht nur türkischer Politik, den Kurden das Recht auf die eigene Sprache, Kultur und sogar ethnische Identität zu verweigern.
Dies, verbunden mit ökonomischer und sozialer Benachteiligung, ist der Kern des Konflikts, der militärisch nicht gelöst werden kann.
Es bedarf einer politischen Lösung, die den Gedanken der Autonomie — es gibt verschiedene Formen —einschließen muß.Die Verantwortlichen in der Türkei, die Militärs vor allem, sehen das noch immer anders. Sie führen einen regelrechten Krieg gegen die kurdische Bevölkerung im Südosten der Türkei. Die Zahl der Opfer, die dieser Krieg bisher gekostet hat, geht in die Tausende.Der Krieg wird — das scheint mir heute eher wahrscheinlich — in großem Umfang mit Waffen geführt, die diese Bundesregierung im Rahmen der besonderen Militärhilfe an die Türkei geliefert hat, gegen das ausdrückliche Votum der deutschen Sozialdemokraten. Dabei hat die Bundesregierung immer wieder in Abrede gestellt, daß deutsche Waffen gegen Kurden eingesetzt werden. Selbst überprüft hat sie es nie.
Wenn es richtig ist, was in dieser Woche in den Medien zu lesen war — der Außenminister hat dies heute ja bestätigt —, daß das Auswärtige Amt bei Bürgerkomitees und Menschenrechtsgruppen Beweise für den Einsatz deutscher Waffen im Südosten
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Hans-Ulrich Kloseder Türkei erbeten hat, dann ist das ein Beweis für das klägliche Versagen des Auswärtigen Amtes über viele Jahre.
Meine Damen und Herren, die Vertreter der Türkei verweisen zur Rechtfertigung für ihre Art der Kriegsführung im Südosten der Türkei auf die PICK. Richtig ist, daß sich die PKK zu einer eindeutig terroristischen Organisation entwickelt hat, die vor keiner Bluttat zurückschreckt. Wir verurteilen das ausdrücklich und aufs schärfste.
Da die PKK auch bei uns in Deutschland aktiv ist, war es richtig, den deutschen Ableger dieser Organisation zu verbieten. Richtig ist aber auch, daß das türkische Militär mit seiner Kampfführung die kurdische Bevölkerung in immer größerer Zahl in die Arme der PKK treibt, was deren Aktionen zusätzliche Wirkung verschafft und wiederum das türkische Militär veranlaßt, noch härter nicht nur gegen die PKK, sondern unterschiedslos gegen die kurdische Bevölkerung vorzugehen — ein Teufelskreis von Gewalt.Bis heute bestreiten die Verantwortlichen in der Türkei jedwede Schuld des eigenen Militärs. Schuld sind immer die anderen. Wenn das so ist — und wenn wir das glauben sollen —, wird das KSZE-Mitglied Türkei doch ganz gewiß nichts dagegen haben, zivile KSZE-Beobachter ins Land zu lassen, um die Verhältnisse vor Ort zu untersuchen und zu beobachten.
Von Ihnen, Herr Außenminister, erwarten wir eine sofortige Initiative in diesem Sinne. Die KSZE ist zuständig, nicht zuletzt, weil sich der Konflikt über die Türkei hinaus auszudehnen droht. Deutschland ist schon massiv betroffen, weil die PKK vor Terror auch in unserem Land nicht zurückschreckt. Das können und werden wir nicht hinnehmen.
Kurden, die als Asylbewerber nach Deutschland kommen, weil sie in der Türkei politisch verfolgt werden, die hier friedlich leben wollen und unsere Gesetze beachten, sind willkommen. Jene aber, die das Gastrecht mißbrauchen, die hier Straftaten begehen, müssen strafrechtlich verfolgt, verurteilt und ausgewiesen werden.
Dabei müssen allerdings die eigenen rechtsstaatlichen Standards beachtet werden. Damit will ich sagen: Der Vollzug der Ausweisung durch Abschiebung in die Türkei darf nur erfolgen, wenn in jedem Einzelfall die Prüfung ergeben hat, daß der Abgeschobene in der Türkei nicht gefoltert oder getötet wird. Dies verlangt die Europäische Menschenrechtskonvention, die wir zu beachten haben und die die Türkei zu beachten hätte. Daß sie es nicht tut, habe ich gesagt. Ich wiederhole es; denn dies ist der Kern unseres innenpolitischen Problems. Ich füge hinzu: Ineiner solchen Situation abermals auf Vereinbarungen mit der Türkei oder auf deren Zusicherung zu vertrauen, das reicht nicht aus.
Unser rechtsstaatliches Dilemma soll dabei nicht verschwiegen werden. Bedroht mit Folter und Tod sind in der Türkei in besonderem Maße die Aktivisten der PKK.
Wenn sie hier bei uns Straftaten begehen, werden wir sie in der Regel nicht abschieben können. Vielleicht sollten wir das auch gar nicht erwägen. Der Rechtsstaat erweist seine Stärke auch durch Verwirklichung des eigenen Strafanspruchs.
Auf diesen Strafanspruch sollten wir nicht opportunistisch verzichten.
Mit Blick auf die öffentliche Diskussion in der Koalition der letzten Tage rate ich Ihnen im übrigen: Sie sollten bei diesen Fragen weniger auf den deutschen Stammtisch als vielmehr auf die geltenden deutschen Gesetze achten.
Erlauben Sie mir zum Schluß noch eine Bemerkung: Vor Wochen hat das türkische Parlament die Immunität von acht Abgeordneten kurdischer Abstammung aufgehoben. Sechs von ihnen sitzen noch immer in Untersuchungshaft. Ihnen werden Straftaten vorgeworfen, die mit der Todesstrafe bedroht sind.
Ich gebe zu, daß die Aufhebung der Immunität auch in westeuropäischen Parlamenten zur Vorbereitung von Strafverfolgung ein normaler Vorgang ist. Es bestehen jedoch ernstliche Zweifel, daß es sich im konkreten Fall in der Türkei um einen normalen parlamentarischen Vorgang in einem normalen Strafverfahren handelt.
Ich sage es ganz offen: Wir haben eher den Eindruck, daß es sich um einen Akt politischer Verfolgung handelt.
Wir fordern daher, die inhaftierten Abgeordneten freizulassen, damit sie sich in Freiheit verteidigen und die gegen sie erhobenen Vorwürfe entkräften können.
Wir fordern, daß die Bundesregierung, die bei der türkischen Regierung, wie ich weiß, mehrfach interveniert hat, weiterhin auf die türkische Regierung
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18868 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. April 1994
Hans-Ulrich Kloseeinwirkt, um die Freilassung der Inhaftierten zu erreichen.Meine Damen und Herren, ich wiederhole meine Eingangsbemerkung: Die Türkei ist ein wichtiges Land, mit dem wir eng zusammenarbeiten wollen. Wir möchten diese Zusammenarbeit auf eine verläßliche und belastbare Grundlage stellen. Wir haben auch als Opposition durch praktische Politik dazu beigetragen.Zu einer belastbaren Partnerschaft gehört das Recht eines jeden Partners, sich zu Wort zu melden, wenn Vorgänge im Partnerland die Zusammenarbeit erschweren. Es ist leider nicht zu leugnen: Mit der politisch ungelösten Kurdenfrage destabilisiert sich die Türkei selbst. Der Versuch einer militärischen Lösung und die Art und Weise, wie dieser Versuch praktiziert wird, belasten unsere Beziehungen. Der Konflikt betrifft unmittelbar auch die Menschen in Deutschland.Das ist die Lage, meine Damen und Herren. Die Lage ist nicht gut. Wer meine dezidiert positive Haltung gegenüber der Türkei kennt, der weiß, wie leid es mir tut, dies in aller Offenheit feststellen zu müssen.
Als nächster spricht der Kollege Michael Glos.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Für Terror, Folter und eine Menschenrechte mißachtende Behandlung gibt es keinerlei Rechtfertigung. Über die Notwendigkeit, an vielen Orten dieser Welt den Menschenrechten mehr Achtung und Geltung zu verschaffen, besteht bei allen Fraktionen in diesem Hause uneingeschränkte Übereinstimmung.Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung nehmen ihre Verpflichtung und Verantwortung auf diesem Gebiet sehr ernst und handeln stets im Rahmen ihrer realen Möglichkeiten, auch in bezug auf die Minderheitenrechte der Kurden in der Türkei. Ich möchte deswegen im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion dem Bundeskanzler, dem Bundesaußenminister und selbstverständlich auch allen anderen Mitgliedern der Bundesregierung für diesen tatkräftigen und erfolgreichen Einsatz zugunsten der Menschenrechte herzlich danken.
Teile der Linken versuchen allerdings, der Bundesregierung für jede einzelne Menschenrechtsverletzung im Osten der Türkei eine konkrete Mitschuld zuzuschieben. Diese Schuldzuweisung ist nicht gerechtfertigt und in höchstem Maße, wie ich meine, unanständig, und ich weise diese Mitschuld zurück.
Der Bundesaußenminister hat in seiner Regierungserklärung unmißverständlich zum Ausdruck gebracht: Die Bundesregierung unterstützt die türkische Regierung und drängt auch deutlich auf die Einhaltung der Menschenrechte und auf angemessene Minderheitenrechte.Die traditionell guten und freundschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei gilt es weiter auszubauen. Es ist schon gesagt worden: Mit Freunden kann man sprechen.Kommenden Montag wird in Bonn ein deutschtürkisches Jugendabkommen unterzeichnet. Die Begegnung von türkischen und deutschen Jugendlichen soll wesentlich ausgebaut werden. Diese Freundschaft gilt es zu nutzen, um auch für die Kurden mehr Rechte zu erreichen.Wie in Deutschland kann die Lösung der Probleme in der Türkei allerdings ausschließlich durch die frei gewählte türkische Regierung und das türkische Parlament erfolgen. In diesem Zusammenhang bin ich allerdings auch der Meinung, daß sich die Türkei sehr fragen muß, ob das Inhaftieren von Parlamentariern der richtige Weg ist.
— Die Kritik war sehr deutlich herauszuhören.
Aber wir wollen friedliche Lösungen und freundschaftliche Beziehungen. Frau Kollegin, wenn Sie eine deutlichere Sprache wollen, so kann ich sie sehr gern sprechen: Im Widerspruch dazu stehen die Entgleisungen Ihres Vorsitzenden, Herrn Scharping.
Welche Ziele verfolgt Herr Scharping, wenn er der Türkei Völkermord an den Kurden vorwirft?
Wer als Kanzlerkandidat seiner Partei derart gravierende Vorwürfe gegen ein befreundetes Land erhebt, muß diese auch belegen können, wenn er ernstgenommen werden will.
Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident unterstellt zugleich, die Bundesregierung, die NATO und die Europäische Union hätten einem Völkermord an den Kurden fast untätig zugesehen.
Offensichtlich ist es Herrn Scharping auch entgangen, daß die verbotene Kurdische Arbeiterpartei PKK seit Jahren Terroranschläge in der Türkei und im Ausland verübt. Die PKK führt nicht nur Krieg gegen den türkischen Staat; sie hat inzwischen Tausende von unschuldigen Zivilisten ermordet. Der Versuch dieser terroristischen Organisation, ihre Ziele mit Gewalt durchzusetzen, wird von der internationalen Staatengemeinschaft, aber auch von führenden kurdischen Politikern abgelehnt.
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Michael GlosIch vermag nicht zu erkennen, wie die türkische Regierung mit leichtfertigen und nicht zutreffenden Vorwürfen zu einer kurdenfreundlicheren Haltung bewegt werden soll. Die Rede von Herrn Kollegen Klose hat sich ja wohltuend von den Behauptungen des Herrn Scharping in der „Augsburger Allgemeinen Zeitung" unterschieden.
Die SPD — das hat Herr Klose auch heute wieder getan — stellt Waffenlieferungen an die türkische Armee als moralisch fragwürdig oder als unmoralisch hin. Bewußt wird dabei übersehen und verschwiegen: Als NATO-Mitglied hat die Türkei an exponierter Stelle im Südosten des Bündnisses 40 Jahre lang in der Zeit des Kalten Krieges die Freiheit und damit auch die Grundlagen des Wohlstandes in Deutschland ermöglicht und gesichert.
Eine moderne Ausrüstung der türkischen Armee war und ist deshalb auch im deutschen Interesse. Die Türken haben sich stets als verläßliche Freunde der Deutschen erwiesen.
Nun wird auch behauptet, deutsche Waffen seien die Ursache für das gewaltsame Vorgehen gegen Kurden im Osten der Türkei. Ich meine, dieser Vorwurf ist unsinnig. Waffen alleine sind nie die Ursachen und Gründe für Gewalt. Die Türkei hat auch vor der deutschen Waffenhilfe über eine ausreichende Bewaffnung verfügt. Deutsche Waffen dürfen aber bei Konflikten im Innern nicht eingesetzt werden. Das ist ausdrücklich vereinbart.
Als NATO-Mitglied muß die Türkei diese strengen Maßstäbe einhalten. Die türkische Regierung wird von uns ausdrücklich aufgefordert, alle entstandenen Zweifel auszuräumen.Ich bin der festen Überzeugung: Gewalt dient der Sache der Kurden nicht. Wir dulden keine Gewalt und keinen Terror, mit dem innenpolitische Konflikte anderer Länder auf deutschem Boden ausgetragen werden. Kurdische Extremisten irren, wenn sie meinen, mit Straßensperren und brutaler Gewalt in Deutschland die Erreichung ihrer Ziele fördern zu können.Der Terror kurdischer Extremisten hat in den zurückliegenden Wochen eine neue, schreckliche Dimension erreicht. In Augsburg z. B. wurde versucht, Fahrzeuge und Polizisten mit Benzin zu übergießen und anzuzünden. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dankt dem Bundeskanzler, daß er im Namen der Bundesregierung sofort und unmißverständlich klargestellt hat, daß das ein unerträglicher Mißbrauch desGastrechtes ist, den hinzunehmen wir auf keinen Fall bereit sind.
Jeder, der das Gastrecht verletzt, muß wissen, daß er mit harten Strafen und außerdem mit Ausweisung und Abschiebung zu rechnen hat. Wir lassen keinen Zweifel daran: Terror und Gewalt — egal, durch wen, egal, zu welchem Zweck, egal, ob gegen Sachen oder Personen — werden nicht geduldet und mit rechtsstaatlichen Mitteln entschieden bekämpft.In Deutschland leben 1,8 Millionen türkische Staatsbürger. Rund 450 000 davon sind Kurden. Wir wissen, nicht einmal ein Zehntel von ihnen sympathisiert mit der PKK.Seit Jahrzehnten leben wir mit unseren türkischen Mitbürgern in Frieden und guter Nachbarschaft. Ich möchte heute noch einmal für meine Fraktion den Abscheu vor den extremistischen und terroristischen deutschen Gewalttätern, die friedliche türkische Mitbürger angegriffen haben, und meinen Ekel vor den Morden zum Ausdruck bringen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das friedliche Zusammenleben wird gefördert, wenn wir Gewalt und Terror von allen Seiten bekämpfen. Deswegen müssen wir gegen die gewalttätige Minderheit unter den Kurden unnachsichtig vorgehen.Wir handeln damit im Interesse der friedliebenden Kurden. Solange die stalinistisch ausgerichtete PKK mächtiger erscheint als staatliche Stellen auch in Deutschland, solange gelingt es ihr, Druck auf ihre kurdischen Landsleute auszuüben.Wer vorgibt, mit Gewalt die kurdischen Interessen zu vertreten, schadet ihnen, wie ich meine, in Wirklichkeit. Die menschenverachtende Strategie der PKK gilt es zu durchkreuzen. Das Verbot der PKK und vieler Tarnorganisationen ist und war deshalb richtig. Ich danke dem Bundesinnenminister für sein rasches Handeln.Alle Kurden in Deutschland fordere ich auf, künftig den Aktionen der PKK fernzubleiben und sich davon deutlich zu distanzieren. Wir müssen uns allerdings sehr ernst mit der Frage auseinandersetzen: Warum überzieht die PKK vor allem Deutschland mit ihrem Terror? Was verspricht sie sich von diesen Aktionen auf deutschem Boden?Ich muß die SPD fragen: Fühlen Sie sich wohl, möglicherweise von den Gewalttätern benutzt zu werden, die einen stärkeren Druck auf die türkische Regierung erzwingen wollen?
Ich habe Sie gefragt, ob Sie sich dabei wohlfühlen,wenn der Eindruck entsteht, daß Sie die Abschiebungvon Gewalttätern verhindern wollen, daß der Druck
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18870 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. April 1994
Michael Glosund die Art und Weise, wie man die Bundesregierung erpressen will, möglicherweise in Ordnung sei.
Sie könnten die Frage anschließend, ohne zu schreien, beantworten. Ich habe die Frage ganz ruhig gestellt, und ich erwarte eine ruhige Antwort.
Ich habe auch gelernt: Wer schreit, hat unrecht.
Wer Unterstützung mit Gewalt erzwingen will, erreicht das Gegenteil. Das Verständnis in der deutschen Bevölkerung nimmt deutlich ab. Jeder, der die PKK bekämpft, hilft in Wirklichkeit den Kurden und ihren Anliegen.Einer Terrororganisation ist dieser Zusammenhang nur schwer klarzumachen. Sonst würde die PKK ihre Aktionen nicht sichtbar fortsetzen. Das Gerichtsverfahren gegen kurdische Geiselnehmer und Erpresser in München wird auch in dieser Stunde zu öffentlichkeitswirksamen Auftritten mißbraucht.Wer mit seinen Forderungen, die Möglichkeiten des Rechtsstaats nicht voll auszuschöpfen, den Anschein erweckt, er hätte für das Verhalten ausländischer Extremisten auf Grund besonderer Umstände im Heimatland ein gewisses Verständnis, der muß wissen, daß er damit im Ergebnis der Ausländerfeindlichkeit bei uns Vorschub leistet.
Der friedlichen Mehrheit unserer Mitbürger aus der Türkei leistet er einen Bärendienst. Deutschland soll auch in Zukunft ein ausländerfreundliches Land bleiben. Es geht an die Grenze des Erträglichen, daß überhaupt noch darüber diskutiert werden muß, ob Straftäter sofort abgeschoben werden können oder sollen.
— Das ist nicht der Zweck, es ist auch das Recht.
Die Rechtslage nach unserem Ausländerrecht ist hier eindeutig. Eine Abschiebung ist auch bei politischer Verfolgung zulässig, wenn der Ausländer als eine Gefahr für die Sicherheit Deutschlands anzusehen ist.Eine vorherige strafrechtliche Verurteilung ist dazu nicht erforderlich, auch wenn Vertreter der SPD immer einen gegenteiligen Eindruck zu erwecken versuchen. Eine Einzelfallprüfung ist selbstverständlich notwendig.
Nach den gewalttätigen Ausschreitungen und Autobahnblockaden ging Ihre Partei zunächst aufTauchstation. Erst am 8. April hat Herr Scharping erklärt, auch er würde Kurden in die Türkei abschieben lassen. Gleichzeitig forderte der Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Herr Schnoor, ebenfalls SPD, konsequentes Ausweisen. Es geht aber um Taten, nicht um Worte. Was Herr Schnoor verschweigt, es geht nicht um die verwaltungsrechtliche Ausweisung, entscheidend ist die zwangsweise Abschiebung. Herr Schnoor und andere SPD-Innenminister haben sich noch vor wenigen Wochen massiv für einen generellen Abschiebestopp für Kurden ausgesprochen.Die stellvertretende SPD-Vorsitzende Frau Däubler-Gmelin erhebt gegen die Bayerische Staatsregierung schwere Vorwürfe,
weil Innenminister Beckstein eine konsequente, dem Rechtsstaat entsprechende Abschiebung von Kurden ankündigt und auch durchsetzt. Der Bayerischen Staatsregierung und der CSU wird vorgeworfen, so heißt es wörtlich in dem Interview von Frau Däubler-Gmelin, „nicht im Einklang mit unserer Rechts- und Verfassungsordnung zu handeln."Diesen Vorwurf weise ich energisch zurück.
Der SPD geht es dabei nicht um die Kurden. Die SPD will hier ein parteipolitisches Süpplein gegen die CSU kochen.
Ich darf daran erinnern, daß Niedersachsen im Januar und Februar 31 Kurden in die Türkei zurückgeschickt hat. Damals regierte in Hannover eine rot-grüne Koalition, und wenn Frau Däubler-Gmelin Vorwürfe erhebt, dann soll sie diese auch an diese Adresse richten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, das gemeinsame Ziel aller Fraktionen im Deutschen Bundestag muß es daher sein, die menschenverachtende Strategie der PKK zu durchkreuzen. Unser freiheitlicher Rechtsstaat hat die Pflicht, Leben, Gesundheit und Eigentum aller hier lebenden Mitbürger zu schützen. Für unsere Polizeibeamten bedeutet das, wie wir in Augsburg und anderswo erlebt haben, einen schwierigen und oft gefahrvollen Dienst, für den ich im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion herzlich danken möchte.
Extremisten und Gewalttäter dürfen auch in Zukunft in unserem Land kein Betätigungsfeld finden. Das gilt für Deutsche und für Ausländer.Herzlichen Dank.
Als nächster spricht der Fraktionsvorsitzende der F.D.P., Dr. Hermann Otto Solms.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit langer
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. April 1994 18871
Dr. Hermann Otto SolmsZeit leben wir mit der Türkei in einer engen und immer wieder erneuerten Freundschaft. Ich möchte sagen, daß das deutsch-türkische Verhältnis ein Verhältnis einer besonderen, einer einmaligen Freundschaft ist.Freundschaft bedeutet, daß man gute und schlechte Zeiten miteinander teilt und an Probleme gemeinsam heranzugehen versucht. Es bedeutet vor allem auch, daß man keine Scherbengerichte veranstaltet, wenn Dinge beim jeweils anderen im argen liegen, wenn der Freund Probleme hat.Ich darf daran erinnern, daß Anschläge auf türkische Wohnungen und Ausländerunterkünfte vor wenigen Monaten zu den beherrschenden Themen dieses Hauses gehört haben. Jeder, der in den letzten Monaten in die Türkei gereist ist, hat jedoch, wenn überhaupt, nur geringe Kritik an diesen Vorgängen gehört und zu spüren bekommen. Vorherrschend war vielmehr die spontane Zustimmung, mit der dort die deutsche Einheit und ihre positiven Folgen für Europa begrüßt worden sind. Vorwürfe wegen fremdenfeindlicher Ausschreitungen werden nur verhalten und von türkischen Politikern so gut wie gar nicht gemacht. Man unterstellt uns nicht generelle Ausländer- oder gar Türkenfeindlichkeit und nimmt uns ab, daß wir alles daransetzen, unsere inneren Probleme zu lösen und das Verhältnis mit unseren türkischen Mitbürgern sauber zu klären.Ungeachtet gelegentlicher Trübungen wird Deutschland in der Türkei als Leitbild gesehen, werden wir Deutschen dort gerade auch als Menschen geachtet und gemocht. Auch das geht auf eine lange Tradition zurück.Gestatten Sie mir einen geschichtlichen Exkurs. Nur wer das jahrzehnte-, wenn nicht jahrhundertelange Verfallstrauma des Osmanischen Reiches kennt, vermag die Angst der modernen Türkei vor weiterer Zerstückelung nachzuvollziehen. Regionalismus und Föderalismus sind dort Fremdwörter. Das Staatsmodell ist zentralistisch wie dasjenige Frankreichs, und wir kritisieren Frankreich deswegen auch nicht.Der Begriff „Minderheit" gilt selbst bei den Kurden als ein diskriminierender Begriff. Die Kurden wollen etwas ganz anderes. Als ein von der Geschichte ein ums andere Mal betrogenes Volk, auf fünf Staaten verteilt, immer wieder unterdrückt und verfolgt, hängen viele von ihnen dem Traum nationaler Einheit nach. Dieser ist jedoch mit friedlichen Mitteln augenscheinlich nicht zu erreichen.
Wer nicht der Gewalt das Wort reden will, muß ihnen zur Vernunft und Mäßigung raten und sie dabei unterstützen, ein Stück eigener Identität zu bewahren und zu entwickeln, allerdings in unveränderten Grenzen. Für Südostanatolien Hoffnung auf eigene Staatlichkeit oder eine politische Autonomie zu erwecken, die neue Grenzen zieht, bedeutet nach türkischer Lesart, jugoslawische Verhältnisse in Kauf zu nehmen.Derzeit allerdings sind die Zustände schrecklich genug; der Schwelbrand droht zum offenen Feuer zuwerden. Mit militärischen Mitteln ist der Konflikt nicht zu beenden. Das müssen wir unseren türkischen Freunden sagen.
Die große Mehrheit der türkischen Kurden hätte keinerlei Anlaß, aus dem Staatenverband wegzustreben und mit der PKK zu sympathisieren, wenn es den Schutz ihrer Identität und ihrer kulturellen Rechte in ausreichendem Maße gäbe. Auch das müssen wir natürlich unseren türkischen Freunden sagen.
Es ist eine Freundschaftspflicht, auf diese Dinge hinzuweisen.Zur Zeit besteht ein Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt, wobei sich Terrorismus und staatliche Machtentfaltung gegeneinander hochschaukeln. Damit muß Schluß gemacht werden, wenn wir zu einer friedlichen Lösung kommen wollen.Besonders unklug war die Inhaftierung kurdischer Parlamentarier, selbst wenn die Aufhebung ihrer Immunität formalrechtlich begründet gewesen sein mag. Damit nimmt sich nämlich die Regierung die noch verbleibende Chance, mit Kurdenvertretern zu verhandeln, die eine demokratische Legitimation besitzen.
Nicht zu leugnen ist natürlich, daß der militante Arm der Kurden, die kommunistisch orientierte PKK, alle Merkmale einer terroristischen Vereinigung erfüllt und massive Rechtsverletzungen im In- wie im Ausland, eben auch in Deutschland, begeht.
Im Prinzip ist und bleibt es innere Angelegenheit der Türkei, mit welchen Mitteln sie gegen Terrorismus vorgeht, sofern dabei rechtsstaatliche Grundvoraussetzungen erfüllt werden.
Ich darf an die massive Kritik erinnern, die zum Teil vom Ausland an der Terrorismusbekämpfung der 70er Jahre in Deutschland artikuliert wurde. Wir bewegen uns daher auf einem denkbar schmalen Grat, wenn wir über die Verhältnisse in der Türkei aus unserer heutigen Sicht urteilen und sie möglicherweise verurteilen. Das Land hat als NATO-Partner und als Brücke nach Osten seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion in vieler Hinsicht stark an Bedeutung gewonnen. Dies hat sich während des Golfkriegs gezeigt, als die Türkei einen Eckpfeiler gerade gegenüber einer neuen Bedrohung darstellte. Damals hat die Türkei hier nicht allgemeine Zustimmung und Unterstützung — jedenfalls nicht in der öffentlichen Diskussion — gefunden.Nicht zuletzt als Ausgleich hierfür ist damals ein Paket militärischer Hilfe geschnürt worden, das die jahrzehntelange NATO-Verteidigungshilfe ergänzte.
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18872 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. April 1994
Dr. Hermann Otto SolmsLeitgedanke dabei war, einen Bündnispartner gegenüber einem gefährlichen Aggressor wie dem irakischen Diktator nicht im Stich zu lassen.Alles, was damals beschlossen worden ist, bewegte sich im Rahmen der KSE-Vereinbarungen. Die Lieferungen sollen in absehbarer Zukunft ohnehin auslaufen. Sie erfolgen mit der rechtlichen und politischen Maßgabe, daß deutsches Gerät nur für die Verteidigung des NATO-Partners nach außen eingesetzt wird.Wir gehen davon aus, daß die Türken ihr Wort gehalten haben und halten werden, wenn sie zusagen, keine von Deutschland gelieferten Waffen im Krisengebiet Südostanatoliens einzusetzen. Der Beweis des Gegenteils, Herr Klose, ist nach wie vor nicht erbracht. Es war die Pflicht der Bundesregierung zu sozialliberalen Zeiten wie auch heute, jeweilige Verdächtigungen nachzuprüfen; der Bundesaußenminister tut dies auch heute.
Ich erwarte von Ihnen, daß Sie der gewissenhaften Prüfung der Bundesregierung mehr Vertrauen schenken als vermeintlichen Zeugen mit ausgesprochen unzuverlässigen Beweisen.
Die bisher vorgelegten Materialien enthalten jedenfalls keine schlüssigen Beweise.Die Bundesregierung hat dennoch sofort gehandelt und die Lieferungen einstweilen ausgesetzt. Nur wenn sich ein überzeugender Nachweis für den Mißbrauch deutscher Waffen erbringen läßt, wird man eine dauerhafte Aussetzung der Restlieferungen in Betracht ziehen müssen. Anderenfalls sind die Lieferungen fortzusetzen.Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik Deutschland übt Gastfreundschaft gegenüber den in ihren Grenzen lebenden Ausländern aus. Sie erwartet im Gegenzug, daß das Gastrecht respektiert wird, insbesondere, daß keine internen Konflikte aus dem Herkunftsland bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Handlungen auf deutschem Boden ausgetragen werden.
In der demokratischen Gesellschaft gibt es genug friedliche und legale Mittel, urn die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erwecken und bestimmte Ziele durchzusetzen. Ausländische Mitbürger, die unter Verletzung des Gastrechtes straffällig werden, müssen wissen, daß sie dieses Recht ein für allemal verwirken können. Sie müssen wissen, daß sie mit der Ausweisung und Abschiebung zu rechnen haben.Ich sage das ganz ausdrücklich für die F.D.P., und zwar für alle Mitglieder der F.D.P.-Fraktion, daß eine Abschiebung droht, wenn strafrechtliche Vergehen begangen werden.
Insbesondere geht es nicht an, daß Gruppen von ausländischen Mitbürgern gegeneinander oder gegen die Bundesregierung oder andere Stellen mit Mitteln der Nötigung bis hin zum Landfriedensbruch Druck ausüben oder mit Gewalt vorgehen. Vorzusehen ist in jedem Einzelfall — das ist das Entscheidende — ein möglichst zügiges Verfahren wegen der begangenen Straftaten und grundsätzlich eine baldige rechtskräftige Verurteilung.Es widerspricht dem deutschen wie auch dem internationalen Rechtsverständnis, den Eindruck zu erwecken, daß Täter pauschal abgeschoben werden
oder abgeschoben werden könnten. Das widerspricht auch unserer liberalen Rechtsordnung. Darauf hinzuweisen und die rechtlichen Zusammenhänge klarzustellen war nicht nur das Recht, sondern die Pflicht einer Bundesjustizministerin,
und dafür verdient sie unser Vertrauen.
Ich bedanke mich in diesem Zusammenhang ausdrücklich bei dem Kollegen Michael Glos als Sprecher der CSU hier im Bundestag, daß sich seine Äußerungen wohltuend von dem abgehoben haben, was der bayerische Innenminister dazu öffentlich gesagt hat.
Die Gerichte sollten von der bereits bestehenden Möglichkeit beschleunigter Verfahren Gebrauch machen. Anschließend kann die Abschiebung erfolgen, falls nicht ein rechtlicher Hinderungsgrund vorliegt.Ein solcher liegt im Falle der Türkei nicht vor — das ist wichtig —, wenn die türkische Regierung verbindlich zusichert, daß sie von der Vollstreckung der Todesstrafe absieht, Folter unterbindet und eine menschenwürdige Behandlung, darunter auch die Möglichkeit von Besuchskontakten und Überprüfungen beispielsweise durch das Internationale Rote Kreuz, zusagt. Das liegt dann in der Hand der Türkei.Ich möchte noch hinzufügen, daß die große Mehrheit der bis zu 400 000 kurdischen Mitbürger, die hier in Deutschland leben, friedlich ist und die Taten der PKK verurteilt. Wir müssen uns davor hüten, den Eindruck einer pauschalen Verurteilung unserer türkisch-kurdischen Mitbürger zu erwecken oder zuzulassen.
Lassen Sie mich zusammenfassen, meine Damen und Herren. Die Türkei ist einer der zuverlässigsten Freunde Deutschlands. Allerdings ist das Verhältnis auch schwierig und bedarf der ständigen Pflege und Erneuerung. Die Türkei bestimmt souverän über ihre eigene Staatsverfassung. Niemand hat ihr Vorschriften oder Vorhaltungen über ihren Staatsaufbau und darüber zu machen, wie sie ihr Staatsvolk definiert.Innenpolitische Probleme — und hierzu gehören auch Fragen des Umgangs mit Extremisten und Terroristen — können nicht durch Einmischung von außen gelöst werden. Jedoch hat die Türkei die Grundsätze elementarer Menschen- und Minder-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. April 1994 18873
Dr. Hermann Otto Solmsheitsrechte zu beachten, wie sie in internationalen Abkommen,
denen die Türkei ja beigetreten ist und die sie unterschrieben hat, geregelt sind.
Mit ihrer Mitgliedschaft in NATO, Europarat und KSZE hat sie die Werteverpflichtungen übernommen, auf denen diese Organisationen beruhen.Wir sind bereit, der Türkei bei der Vertretung und Durchsetzung ihrer legitimen Rechte und Interessen zu helfen. Das gilt auch und besonders für ihren Kampf gegen den PKK-Terror. Durch Verbot dieser Organisation haben wir dies unter Beweis gestellt.Was wir ihr anbieten können, ist Rat auf Grund unserer eigenen Kenntnisse und Erfahrungen der vergangenen 45 Jahre, und ich glaube, daß man bei einer freundschaftlichen Zusammenarbeit und der Wahrung der gegenseitigen Interessen auf diese Weise einen gemeinsamen Fortschritt erzielen können wird.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächste spricht die Abgeordnete Ulla Jelpke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was mich an der Debatte in den vergangenen Tagen, aber auch heute wieder, am meisten erschreckt, ist die grundsätzliche Bereitschaft von den großen Parteien, internationale Menschenrechtskonventionen und Grundrechte nicht nur in Einzelfällen zu brechen, sondern systematisch zu unterlaufen.
Die Bandbreite reicht dabei meines Erachtens von „sofort raus" bis „erst hier bestrafen und dann abschieben". Wer sich mit der Hoffnung beruhigen wollte, es handle sich um geistige Sonderwege eines bayerischen Innenministers, wird durch den Bundesinnenminister Kanther eines Besseren belehrt. Fortschritte habe es gegeben bei den Gesprächen zwischen Staatssekretären der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei, beide Seiten hätten großes Interesse an der Unterbindung terroristischer Aktionen, und dies führe zu Zugeständnissen der Türkei, verkündete Innenminister Kanther gestern vor den Medien. Die türkische Regierung, die seit Jahren einen tödlichen Umgang mit Menschenrechten pflegt, gesteht laut Kanther zu, daß sie Zugang zu Prozessen zwecks Beobachtung und zu den in die Türkei abgeschobenen Personen gewähren will. Unbeirrt hält Herr Kanther offensichtlich an seinen lautstark dementierten Plänen — die „FR" hat das Mustermenschenrechtsgefängnis genannt; ich denke, es ist nur eine andere Form der Kontrolle über die angeblichen Menschenrechtsverletzungen in der Türkei — fest.Mit dieser Abschiebungspolitik macht die Bundesregierung meines Erachtens deutlich, daß sie weiterhin eine Politik unterstützen will, die sie de facto zur Mittäterschaft von Menschenrechtsverletzungen macht.Herr Schäuble hat seiner Fraktion zu Beginn der Weihnachtsferien die Erkenntnis mitgegeben, daß die Grenzen zwischen Außen- und Innenpolitik immer mehr verfließen. Richtig. Weil das so ist, protestieren Kurden hier, in unserem Land, gegen die Unterstützung einer Regierung, die ihre Dörfer und Lebensgrundlagen zerstört und ihre Verwandten tötet und vertreibt. Sie protestieren auch, weil die fließenden Grenzen eine weitere Form der Kumpanei zwischen deutscher und türkischer Regierung hervorgebracht haben: die konsequente Behandlung der Kurden hier im Lande als Türken ohne die Förderung ihrer eigenen Sprache und Kultur.Herr Kinkel, wenn Sie hier heute berichten, daß Sie mehrfach der türkischen Regierung übermittelt haben, daß die Menschenrechte, die kulturellen Rechte der Kurden eingehalten werden, dann verlange ich eigentlich erst einmal, daß Sie das auch bei uns durchsetzen, daß nämlich Kurden hier nicht wie Türken behandelt werden. Diese Verlängerung der türkischen Politik in die Innenpolitik der Bundesregierung beruht ja nicht auf Blindheit und Uninformiertheit.Ich möchte den Kollegen Hirsch daran erinnern, daß er bereits 1979 an die Ausländerämter von Nordrhein-Westfalen schrieb, eine Differenzierung zwischen türkischen Staatsangehörigen nach kurdischer und nichtkurdischer Herkunft vom Standpunkt der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei sei grundsätzlich unerwünscht.Meine Damen und Herren, es ist doch, ohne beleidigend zu werden, kaum noch zu charakterisieren, wenn eine Regierung, unsere Regierung, 1994 Beweise für den Einsatz deutscher Waffen im Kurdengebiet haben will.Der Außenminister hat heute gesagt, er hätte keine Veranlassung, an der Vertragstreue der türkischen Regierung zu zweifeln. Ich habe einfach eine ganz simple Frage an Sie, Herr Kinkel. Sie haben heute berichtet, daß Sie vier-, fünf- oder sogar sechsmal in Ihrer kurzen Amtszeit mit Ihrem Freund, dem Außenminister Çetin, gesprochen haben und diese Dinge eingeklagt haben. Ich frage Sie: Warum muß es eigentlich so oft von Ihnen eingeklagt werden, wenn diese Vertragstreue doch eigentlich von Ihnen nicht in Frage gestellt wird?Sie haben sich heute auf Material berufen, das gestern auf einer Pressekonferenz von Teilnehmern vorgestellt wurde, die jetzt im März in der Türkei/ Kurdistan zu den Newroz-Feiern und den Kommunalwahlen persönlich vor Ort waren, Menschenrechtsverletzungen wahrnehmen konnten bzw. den Einsatz deutscher Waffen erneut dokumentiert haben.Ich möchte Sie daran erinnern, daß jedes Jahr diese Debatte hier läuft, jedes Jahr zu diesen NewrozFesten erneut Materialien vorgelegt werden. Ich bin fest davon überzeugt, daß die Bundesregierung politisch bisher gar nicht willens war, selber nachzuprüfen, ob deutsche Waffen gegen das kurdische Volk eingesetzt werden, weil z. B. Vorschläge abgelehnt
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18874 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. April 1994
Ulla Jelpkewurden, daß eine Beobachterdelegation des Bundestages — also nicht ein paar einzelne Abgeordnete, sondern wirklich eine Delegation des Bundestages — in diese Region fährt, sich vor Ort informiert und davon überzeugt, welche Waffen dort eingesetzt werden.Sie können auch nachvollziehen, daß nicht nur zu den Newroz-Feiern, sondern während des gesamten Jahres immer wieder Menschenrechtsorganisationen aus Europa, aber auch Deutschland in die Türkei/ Kurdistan gefahren sind und immer wieder diese Beweise mitgebracht haben. Außerdem gibt es Filmmaterial usw. usw.Also diese Politik des guten Glaubens in die Aufrichtigkeit des Partners, die Sie hier immer wieder verkaufen wollen, kann ich eigentlich nur noch als offene Lüge bezeichnen.Meine Damen und Herren, wir haben in der Menschenrechtsdebatte zu unserer Großen Anfrage 1992 über die Lage der Menschenrechtsverletzungen hier sehr viele Stimmen gehört, daß der Demokratisierungsprozeß generell unterstützt werden soll. Das ist insbesondere auch von dem Kollegen Stercken hier gesagt worden. Ich zitiere ihn:Wir haben jetzt nicht nur die Chance, dies als Zuschauer in der Türkei beobachten zu können, sondern wir haben als demokratische Freunde die Chance, durch unsere Zusammenarbeit diese neue Politik zu unterstützen und damit zu festigen.Wie gesagt, das wurde unter dem Stichwort „Demokratisierung" diskutiert.Heute stehen Sie meines Erachtens vor den Trümmern der Politik dieser Freundschaft.Wir allerdings sind die Opfer nicht, wie es manche hier gerne darstellen möchten. Opfer ist die kurdische Bevölkerung. Opfer sind immer noch die inhaftierten parlamentarischen Vertreter der Kurden in der Türkei. Opfer sind aber auch Menschen wie Lissy Schmidt und viele Journalisten, die in den vergangenen Jahren umgebracht wurden, die durch ihre Arbeit dazu beigetragen haben, daß das Bild der Bundesrepublik in den Krisen- und Kriegsgebieten dieser Welt nicht ausschließlich durch deutsche Waffen geprägt ist, sondern daß es da auch Menschlichkeit und Solidarität gibt. Sie tun dies im übrigen ohne jeglichen Schutz von deutschen Stellen, oft zusätzlich verfolgt durch deutsch-türkische Zusammenarbeit von Polizei und Geheimdiensten.Meine Damen und Herren, ich gebe zu, daß ich kaum Hoffnung habe, daß die Erinnerung an die Worte des Kollegen Stercken Sie nach zwei Jahren praktischer Erfahrung zu einer radikalen Umkehr in der Politik gegenüber der türkischen Regierung bewegen könnte. Allzuviel spricht für das Gegenteil. Denn meines Erachtens ist es eher so, daß der ungebrochene Wille zur Freundschaft der Waffen fortgesetzt wird. Chancen zum Dialog wurden mißachtet und in den Wind geschlagen. Wir haben sie hier oft genug vorgetragen.In den letzten Wochen sind Sie noch einen Schritt weitergegangen. PKK-Verbot, Verbot der NewrozFeiern und das unglaubliche Gerede des Kanzlers von einer „neuen Dimension des Terrors" in der Bundesrepublik ist Teil der gezielten innenpolitischen Stimmungsmache, die in diesen Wochen durch unser Land geht.Wie sagt es z. B. ein Kollege wie Herr Rüttgers, dem zu den Kurden nur folgendes einfällt: Kriminelle, Terroristen, Hochwasser könnten Kapazitäten von Bundesgrenzschutz und Polizei erschöpfen. Deshalb muß also der Einsatz der Bundeswehr im Innern ermöglicht werden, eine Forderung, bei der die Union auch nicht lockerlasse. Die Debatte muß auch noch dafür herhalten, gegen die doppelte Staatsbürgerschaft und gegen die gesetzlichen Regelungen von Minderheitenrechten Stimmung zu machen.Wer wie der Innenminister Kanther die Union für Republikaner wählbar machen will, wer wie Innenminister Beckstein, CSU, die Position rechter Wähler programmatisch — ich betone: programmatisch — vertreten will, der braucht Kollegen — —
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist beendet.
Ich glaube, daß ich noch einen letzten Satz sagen kann. — Ich möchte auf jeden Fall noch einmal auf die Ansätze hinweisen, die die SPD heute vorgeschlagen hat: KSZE-Vertreter, aber auch eine Konferenz zur Lösung der Situation in Kurdistan, die möglichst international besucht wird. Ich möchte weiterhin die Bundesregierung darauf hinweisen, daß nur eine Politik mit Dialog eine Änderung bringen wird, aber nicht eine mit Waffenlieferungen.
Danke.
Als nächster spricht der Kollege Gerd Poppe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lebten nicht Hunderttausende von Kurden unter uns in Deutschland, die uns immer wieder nachdrücklich an das Schicksal dieses 25-Millionen-Volkes erinnern, dann würde die deutsche Öffentlichkeit von den Ereignissen in der Türkei wohl nicht viel stärker berührt sein als z. B. von den entsetzlichen Mordbrennereien in Ruanda, der endlosen Tragödie in Afghanistan oder vielen anderen Konflikten, in denen Tausende oder gar Hunderttausende von Toten zu beklagen und Millionen Lebende in Gefahr sind. Auch in Kurdistan ist das so. Deshalb gehen uns die militärischen Auseinandersetzungen und der Terror gegen die Zivilbevölkerung sehr viel an, nicht nur deshalb, weil sie auch zu innenpolitischen Problemen in Deutschland führen.Die Türkei ist ein NATO-Partner, der offenbar der westlichen Wertegemeinschaft heute im Bestehen gegen den drohenden islamischen Fundamentalismus ebenso unverzichtbar erscheint wie früher als Süd-Ost-Pfeiler der NATO im Kampf gegen den Kommunismus. Früher wie heute — unter beiden
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Gerd Poppegenannten Voraussetzungen — spielte die Entwicklung der Demokratie in der Türkei immer nur eine Alibirolle. Weder das Parlament noch die Regierung der Türkei sind in ihren Entscheidungen souverän. Noch heute ist die letztlich entscheidende Staatsmacht der von den Militärs beherrschte „Nationale Sicherheitsrat", dessen Anordnungen als Hüter des kemalistischen Erbes nie in Frage gestellt wurden.Der Aufrüstung des türkischen Militärs wurde von den demokratischen europäischen Regierungen zu jeder Zeit mehr Aufmerksamkeit gewidmet als dem Aufbau einer pluralistischen, demokratischen, multikulturellen und multiethnischen Türkei. Und der technische Ausbau des Polizei- und Sicherheitsapparats in der Türkei war und ist allen deutschen Bundesregierungen immer wichtiger gewesen als die Hilfe bei der Entwicklung von Ausbildungsstrukturen, die zur Bekämpfung der Folter hilfreich wären. Daher ist die Angst vor Folter und Vergewaltigung letztlich das einzige, was Menschen in der Türkei miteinander verbindet, die zur falschen Zeit am falschen Ort — sei es in Südostanatolien oder in Istanbul — von der Polizei aufgegriffen werden.Seit 1981 ist in der Türkei kein Todesurteil mehr vollstreckt worden. Aber viele Menschen — Anwälte, Journalisten, Menschenrechtsaktivisten — sind seitdem Mordopfer, Opfer von extralegalen Hinrichtungen geworden. All das gilt bis heute für die gesamte Türkei, in der zwar eine Minderheit von Menschen um Demokratie ringt, in der aber gleichzeitig völkerrechtlich verbindliche und von Ankara akzeptierte Menschen- und Minderheitenrechte nicht das Papier wert sind, auf dem sie geschrieben stehen.Das jede Form von Minderheitenrechten mißachtende kemalistische Dogma von einem Volk, einer Nation in einem Staat zerreibt zwangsläufig die größte Minderheit in der modernen Türkei, die Kurden, zwischen dem Terror des Militärs und dem der stalinistischen PKK. Dieser realen Türkei, nicht dem schöngefärbten Zerrbild der amtlichen türkischen Propaganda, schickt sich die Europäische Union inzwischen an über die WEU-Assoziierung den Weg nach Europa zu öffnen. Es ist der nackte Terror von der NATO angehörenden Militärs im Südosten der Türkei, den die Bundesrepublik wie auch andere NATO-Partner nunmehr seit Jahrzehnten mit Waffenlieferungen alimentieren.Seit dem Rücktritt von Verteidigungsminister Stoltenberg und dem sich daran anschließenden Briefwechsel der Außenminister Çetin und Kinkel vor mehr als zwei Jahren lebt die deutsche Türkeipolitik mit der Lüge, deutsche Waffen würden nur im Rahmen des NATO-Vertrages eingesetzt. Beide Seiten können nur seit Jahren absichtlich aneinander vorbeigeredet haben.Die Bundesregierung beruft sich ausschließlich auf Art. 5 des NATO-Vertrages, der den Einsatz solcher Waffen bei inneren Auseinandersetzungen in den Vertragsstaaten verbietet.Herr Außenminister, Sie haben vorhin gesagt, der türkische Außenminister habe Ihnen in seinem fünfzeiligen Brief am 2. Juni 1992 in Ihren Auffassungen zugestimmt. Aber was steht in dem Brief? Ich zitiere:Die Regierung der Republik Türkei erinnert in diesem Zusammenhang an das neue strategische Konzept des Bündnisses, u. a. § 13, wie es am 7. November 1991 in Rom vereinbart wurde. — Also: Von vornherein hat der türkische Außenminister hier eine ganz eindeutig andere Position als Sie vertreten.
§ 13 läßt den Kampf — ich zitiere — gegen Terror und Sabotage ausdrücklich zu.
In der Hand des türkischen Regimes ist dieses Konzept zur Waffe gegen jede Form von kurdischem Selbstbestimmungsrecht geworden. Das Militär und die von ihm geduldete politische Klasse in der Türkei scheren sich um den mahnend erhobenen Zeigefinger des deutschen Außenministers nicht. Sie wissen, daß ihnen Schlimmeres nicht droht.Im Wissen um ihre wirtschaftliche und strategische Bedeutung für Deutschland und die NATO bemüht sich die Türkei nicht einmal, die deutschen Waffen und Schützenpanzer aus NVA-Beständen, die täglich gegen die Menschen in Türkisch-Kurdistan eingesetzt werden, vor der Öffentlichkeit zu verstecken. Es ist reiner Selbstbetrug der Bundesregierung, wenn sie sich weigert, wahrzunehmen, was seit Jahren jeder Besucher der kurdischen Kriegsrechtsprovinzen unübersehbar präsentiert bekommt. Meine Damen und Herren, die einzig konsequente Politik wäre es, die Waffenlieferungen nicht wiederaufzunehmen.Nun noch einige Bemerkungen zur aktuellen innenpolitischen Debatte. Um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Menschen, die das Demonstrationsrecht in Deutschland gewaltsam mißbrauchen, müssen sich vor deutschen Gerichten dafür rechtfertigen und die juristischen Folgen tragen. Es ist ja gerade ein Kennzeichen des Rechtsstaates, daß er nicht zwischen deutschen und ausländischen Straftätern differenziert, sondern sie gleichermaßen dem staatlichen Strafanspruch unterliegen.Die Genfer Flüchtlingskonvention setzt klare Grenzen für jede Form staatlichen Verfolgungs- und Abschiebebegehrens — auch in Deutschland. Rechtsbrecher in ein Land abzuschieben, das von internationalen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, der Internationalen Helsinki Föderation oder Human Rights Watch als Folterstaat klassifiziert wird, widerspricht diesen auch für uns bindenden Grundsätzen fundamental.In dem von uns heute eingebrachten Entschließungsantrag, der entgegen unserem Wunsch überwiesen werden soll, fordern wir deshalb ein Abschiebeverbot für alle kurdischen vermutlichen Demonstrationsstraftäter und statt dessen die notwendige strafrechtliche Klärung der Vorwürfe.Wir fordern weiter die Beendigung aller Verhandlungen über einen eventuellen Abschiebevertrag mit der Türkei und die Aussetzung der Abschiebung von kurdischen Flüchtlingen aus der Türkei. Eine Abschiebung in Folter und Tod darf es nicht geben.
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18876 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. April 1994
Gerd PoppeEine solche Entscheidung mag unbequem und für die vielbeschworene deutsche Bündnisfähigkeit Deutschlands problematisch sein, aber der Glaubwürdigkeit des deutschen Rechtsstaats würde sie allemal dienen.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Gallus.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich möchte eine Lanze für die Christen in Südostanatolien brechen, weil die Debatte bisher in dieser Hinsicht nicht mit der nötigen Deutlichkeit gesagt hat, was dort eigentlich los ist. Tatsache ist, daß die Christen in Südostanatolien vollends zerrieben werden zwischen der PKK, dem Militär und den sogenannten Dorfschützen.
Meine Damen und Herren, ich weiß, daß sich der Herr Bundesaußenminister sehr intensiv auch um diese Frage bemüht, aber dieses Parlament muß hier seine Stimme deutlich auch für die Christen der Türkei erheben.
Wenn die türkische Regierung, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, nicht in der Lage ist, das christliche Siedlungsgebiet zu schützen, dann versagt sie. Es muß möglich sein, ein jahrtausendealtes christliches Siedlungsgebiet in seinen Restbeständen zu erhalten.
Es ist schon ein starkes Stück, das mit dem Dorf Hassane passiert ist. Es mußte geleert werden, weil angeblich die Christen einmal zur PKK und einmal zum Militär gehalten hätten. Durch beide Seiten haben sie dann Tote beklagen müssen. Dann sind die Leute in die Westtürkei vertrieben worden. Dort sagt man natürlich: Ja, gut, da können sie leben.
Aber das Schönste an diesem Stück ist, daß vor sechs oder acht Wochen Abgeordnete aus der Türkei hier waren. Ich bin für Herrn Irmer hingegangen. Man muß die Dinge einmal beim Namen nennen. Da habe ich gefragt, was sie eigentlich von dem Dorf Hassane wissen. Entweder wollten sie nichts wissen, oder sie wußten nichts. Auf jeden Fall haben sie gesagt, sie wüßten nichts. Es kann doch nicht sein, daß in einem Land ein Dorf ausradiert wird, z. B. in Deutschland, und es dann Abgeordnete gibt, die noch nicht einmal wissen oder nicht wissen wollen, was in ihrem eigenen Land passiert. Gleichzeitig — wir können, bei aller Freundschaft, nicht nur in Schönwetter machen — spielt die Botschaft der Türkei alles in einer Art und Weise herunter, die die ganze Situation geradezu lächerlich machen muß.
Ich erinnere an die letzte Ausgabe des „Halbmonds" von der Botschaft. Da stand in bezug auf die Aberkennung der Immunität, die Deutschen sollten sich nicht so aufführen. In Deutschland werde jedes Jahr soundso vielen Abgeordneten die Immunität abgesprochen, und darüber rege sich kein Mensch auf. So verdreht man die Dinge, um die es in Wirklichkeit geht: um das Leben von Abgeordneten.
Wir müssen wie ein Mann aufstehen. Ich sage: Keine Patrone mehr für solch ein Land, solange wir solche Zustände haben!
Herr Gallus, ich muß leider trotzdem sagen — —
Einen Satz noch. — Den deutschen Innenminister bitte ich inständig, die Innenministerkonferenz der Länder möge wenigstens einzelnen Familien, die in Deutschland Verwandtschaft haben, die Genehmigung erteilen, daß sie hierherkommen können, und sie nicht dazu verdammen, daß sie in Städten der Westtürkei leben müssen, wo sie keine Zukunft haben.
Danke.
Als nächster spricht der Bundesinnenminister, Herr Manfred Kanther.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es ist nach dieser Debatte nicht viel nachzutragen. Mein Thema ist das innenpolitische.Es sind innerhalb von einem Jahr drei Wellen von Gewalt durch die PKK über unser Land gelegt worden. Die PKK ist jedenfalls bislang ersichtlich nicht lernfähig gewesen und hat den deutschen Staat in seiner Entschiedenheit unterschätzt. Das ist ein grober Fehler. Es sind 547 Personen bei den Unruhen vor Ostern festgenommen worden. Es gab 136 Verletzte, darunter 106 Polizeibeamte und 3 Feuerwehrleute. Das ist nicht erträglich. Es gibt niemanden in Deutschland, der das für hinnehmbar hält.
Es ist notwendig, daß wir darauf mit den Mitteln des Rechtsstaats reagieren. Aber es gibt überhaupt keinen Anlaß, das unentwegt als Besonderheit zu betonen, weil die deutsche Staatsgewalt immer mit den Mitteln des Rechtsstaats reagiert und nicht etwa im Ausnahmefall, wenn es sich um Kurden oder Angehörige der PKK handelt. Das liegt doch auf der Hand. Sie kann durch das Strafrecht reagieren — das wird geschehen —, und sie kann durch ausländerrechtliche Maßnahmen reagieren, auch das wird geschehen. Das kann geschehen, ohne daß jemand in Deutschland einsitzt, oder es kann geschehen, nachdem er eine Strafe verbüßt hat. Das ist die Frage der Behandlung des Einzelfalls.Wogegen ich etwas habe, ist, daß man mundvoll erklärt: Jawohl, Gewalttäter müssen ausgewiesen werden, und nicht mit erklärt, daß das allein nur sehr wenig bedeutet. Denn die Veränderung des ausländerrechtlichen Status, selbst wenn er mit Ortsbegrenzungen oder einem Verbot der politischen Betätigung verbunden wäre, ist etwas, was gewaltbereite und terrorbereite Menschen kaum sonderlich beeindruk-
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Bundesminister Manfred Kantherken wird. Das heißt, wesentlich ist, daß Gewalttäter abgeschoben werden.
Das ist keine Besonderheit, die sich jetzt plötzlich ergibt. Daß man in die Türkei abschiebt, geschieht in Deutschland jedes Jahr hundertfach, ist ein Stück ausländerrechtliche Normalität. Was eine Besonderheit darstellt, ist, daß nicht abgeschoben werden kann, wenn menschenrechtswidrige Behandlung oder Todesstrafe drohen, was im Zusammenhang etwa mit den Führern der PKK sein könnte. Insofern ist es von Bedeutung, daß wir Zusagen der Türkei verstärken wollen, die diese Gefahr ausschließen. Ich bin guten Mutes, daß uns das gelingen kann.Von einer großen Bedeutung ist aber, klarzumachen, daß die Abschiebung von gewalttätigen Kurden und PKK-Angehörigen keineswegs davon abhängt, daß wir zusätzliche Zusagen erhalten, sondern daß es Gegenstand einer Einzelfallprüfung nach dem Ausländerrecht ist, ob der gegenwärtige Zustand für die Abschiebung ausreicht oder etwa durch erweiterte Zusagen für die erkennenden Ausländerbehörden und Gerichte noch verbessert werden kann. Das ist die Situation.Es darf kein Zweifel daran sein, daß schwer straffällige Ausländer in Deutschland keinen Platz haben. Das muß deutlich werden. Anderenfalls verliert der Rechtsstaat die Gefolgschaft seiner Mitbürger, und zwar der deutschen wie der ausländischen.
Es gibt ganz sicher Anlaß, jetzt gemeinsam mit den Länderinnenministern über konkrete Aspekte des wiederholten Falles von Gewalttätigkeiten nachzudenken. Ich bin sicher in der Überzeugung, daß dem PKK-Verbot nachhaltiger nachgefaßt werden muß, als es bislang geschehen ist.Ich bin auch sicher, daß sich die Rechtslage insofern noch klarer stellen wird, als die Prüfung der Frage, ob die PKK eine terroristische Vereinigung im Sinne des Strafrechts ist, unverzüglich abgeschlossen werden muß und damit auch die Beteiligung der einzelnen, der Nichträdelsführer, an den Gewalttaten eine andere rechtliche Qualität gewinnt. Das muß ihnen klar sein.In den Einsätzen der Polizei vor Ostern, für die ich an dieser Stelle den Beamtinnen und Beamten der Polizei, außerordentlich danken möchte,
ist deutlich geworden, daß das Vorhalten einer intakten und jederzeit einsetzbaren Bereitschaftspolizei durch die Länder von sehr großer Bedeutung ist.
Ich lasse keinen Zweifel daran, daß der Bundesgrenzschutz die Ersatzbereitschaftspolizei der Lander weder ist noch wird.
Er hat andere Aufgaben—in der Grenzsicherung oder als Bahn- und Flughafenpolizei — und nur gelegentlich und im Ausnahmefall solche bereitschaftspolizeilicher Natur.Ich weise aber auch darauf hin, daß es durchaus eine gesamtgesellschaftliche Leistung darstellt, mit solchen Phänomenen fertig zu werden. Das ist vor Ostern gut gelungen. Unsere Mitbürger haben Beschwernisse auf den Straßen, die sich an diesem Wochenende durch Kontrollen und Zureisen ergeben haben, verständnisvoll hingenommen. Der Einsatz der Bahnpolizei war vorsorglich notwendig und hätte durchaus zu Beeinträchtigungen des Reiseverkehrs führen können.Es ist den Busunternehmern, die für eine ersichtlich gewalttätig zu werden drohende Veranstaltung keine Transportmittel zur Verfügung gestellt haben und ein Geschäft sich haben entgehen lassen, zu danken, daß sie so gehandelt haben.
Das bedeutet, daß wir ein breites Bukett von Maßnahmen für die kommende Zeit vor uns sehen müssen. Es ist leider nicht auszuschließen, daß sich die Gewalttätigkeit der PKK wiederholt. Aber die Reaktionen des Staates darauf werden immer strikter werden, bis die Gewalttätigkeit unterbunden sein wird. Das wollte ich in dieser Debatte einmal deutlich zum Ausdruck bringen.
Als nächster spricht der Kollege Hans Koschnick.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema der Regierungserklärung sollte das deutsch-türkische Verhältnis umfassen. Daß dabei auch die innenpolitischen Aspekte, das, was wir vor Ostern erlebt haben, die Reaktionen der Polizei bzw. die Angriffe auf die Polizei, einbezogen werden müssen, ist klar. Daß wir uns auch darüber unterhalten müssen: Was machen wir mit Straftätern, mit Gewalttätern in unserem Lande?, ist auch klar. Aber es ist nur ein Aspekt dessen, warum die Bundesregierung die heutige Regierungserklärung abgegeben hat.Der Herr Bundesaußenminister hat sich bemüht, deutlich zu machen, unter welchen Bedingungen die Bundesregierung das Verhältnis zur Türkei sieht. Der Sprecher der CDU/CSU hat sich in die Niederungen eines Vorwahlkampfes in Bayern begeben, anstatt sich in der Sache darüber zu unterhalten, warum die Fragen heute wirklich einer Klärung bedürfen.
Hier beginnt das Problem.
Das Zitieren von irgendwelchen Freunden aus meiner Partei, indem man den zweiten und dritten Halbsatz unterschlägt, hilft nicht weiter. Man kann nicht sagen: Er hat gesagt, Kurden können ausgewiesen werden, wenn sie das getan haben, wenn man nicht hinzufügt, daß er zugleich gesagt hat: wenn die rechtlichen Voraussetzungen das ergeben. Meine Damen und Herren, ich gehöre zu denen, die seit langem dafür plädieren, daß Straftäter, die in unserem
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18878 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. April 1994
Hans KoschnickLande sind und Dinge betreiben, die wir nicht dulden können, abgeschoben werden.Der Kampf gegen die Drogen-Mafia und andere Bereiche der Verbrechensbekämpfung hängen damit zusammen. Mindestens 80 % der Abschiebungen sind genau in diesem kriminellen Lager gewesen und nicht im Bereich der Asylanten. Heute wird alles vermischt und gesagt: Es sind die Asylsuchenden. Das stimmt einfach nicht. Das muß zuerst einmal klargestellt werden.Die zweite Frage. Es nützt nichts, wenn wir mit der türkischen Regierung etwa darüber verhandeln: Kriegen wir die Zusage, daß keine Todesstrafen verhängt werden? Meine Damen und Herren, die türkische Verfassung ist eine rechtsstaatliche Verfassung. Die Praxis — nicht in den Gerichten, aber in Polizeigefängnissen — ist etwas anderes. Wieso können Sie unabhängigen Richtern vorschreiben, welche Strafe sie verhängen können, wenn die Verfassung die Todesstrafe vorsieht? Wie wollen Sie erreichen, daß die Regierung dem Parlament etwas vorlegt, wo es in der Türkei doch das Recht des Parlaments ist, über die Vollstreckung einer ausgesprochenen Todesstrafe letztendlich zu befinden? So einfach darf man es der Öffentlichkeit nicht darstellen,
daß es genüge, wenn drei Staatssekretäre hinfahren, um diese Frage zu klären.Ich sage das übrigens nicht zum Außenminister; der weiß das. Ich sage es auch nicht zur Justizministerin; auch die weiß das. Ich glaube auch nicht, daß der Kanzler das nicht wüßte. Aber der Urlauber im Salzkammergut hat es wohl nicht ganz beachtet, als er im Fernsehen so kräftig auf die Justizministerin eingeschlagen hat. Nun sind Sie kräftig gebaut, verehrte gnädige Frau. Sie halten aus, was Bundeskanzler Kohl sagt. Gleichwohl wäre es doch wichtiger — das hätte auch eine Antwort bei der CDU/CSU erfordert —, zu sagen: So sollte man in der Koalition nicht miteinander umgehen.
Die einen machen auf die rechtsstaatlichen Begrenzungen aufmerksam. Sicher, der Bundesinnenminister hat recht; auch mir hängt es zum Halse heraus, jedesmal zu betonen, was für uns im Rechtsstaat selbstverständlich ist. Nicht jedesmal muß gesagt werden: selbstverständlich unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten. Ganz eindeutig: nein. Wir sollten das, was Völkerrecht oder was deutsches Recht ist, als selbstverständliche Grundlage betrachten. Aber dann müssen das auch die Innenminister verschiedener Länder — ich denke an einen solchen aus unserem Südstaat — das bei ihrer Darstellung beachten und dürfen nicht so tun, als brauchte man nur die Muskeln spielen zu lassen und zu sagen: Wir klären diese Fragen durch Abschiebung, und dann seid ihr armen Polizisten ab morgen geschützt.
Die armen Polizisten werden morgen und übermorgenwieder erleben, daß sie im Brennpunkt der Auseinandersetzungen stehen, von denen ich sage: Sie müßtendurch das aufgehoben werden, was in der Türkei geschieht.
Bürgerkriegsähnliche Zustände können wir in keinem Falle hinnehmen. Ich sage: Die Türkei, die nach 1933 eine große Zahl deutscher Flüchtlinge aufgenommen hat — politische Flüchtlinge, rassisch Verfolgte und andere —, hätte nie zugelassen, daß unsere Emigranten dort auf die Straße gegangen wären, um dort den Kampf gegen Hitler zu führen. Damals ging es wie heute darum, das Gastrecht des Staates zu beachten.
Wer sagt, es sei bloß Spielerei, wenn sich Kurden und Türken und andere herumprügeln, dem entgegne ich: Das ist keine Spielerei. Wer bei uns Schutz und Gastrecht haben will, muß sich auch wie ein Gast bewegen. Er muß wissen, daß er die Rechtsordnung dieses Staates zu beachten hat. Darüber gibt es keine Diskussion. Das muß klar sein.
Wie wir dann aber auf die Konflikte reagieren, meine Damen und Herren, darüber wäre eine bestimmte Nachdenklichkeit wirklich angezeigt. In Vietnam gab es einmal die Verbrennung eines buddhistischen Mönches. Bald darauf war das Regime Diem am Ende, weil die Welt aus diesem Akt der Selbstaufopferung notwendige Schlußfolgerungen gezogen hatte.In der DDR hatte sich Pfarrer Oskar Brüsewitz verbrannt, weil er nicht mehr durchhalten konnte, was sich da an Druck auf freie Religionsausübung entwikkelte. Viele von uns sind danach wach geworden und sagten: Es stimmt etwas nicht mit den Positionen, die damals so leichthin von vielen vertreten wurden.
— Wenn Sie nicht, dann kann ich nichts dafür. Ich jedenfalls bin damals aufgeschreckt. Vielleicht bin ich sensibel dafür; andere setzen sich hin und träumen weiter. Hören Sie auf mit Ihren Zwischenrufen! Wenn Sie nicht mit den Dingen in der DDR fertig geworden sind, dann ist das Ihr Problem. Ich habe schon damals aufgepaßt und gegen die Kommunisten gekämpft.
Warum reagiert eigentlich die Öffentlichkeit in Deutschland nicht, wenn sich hier zwei junge Kurdinnen verbrennen? Sie können fanatisch, fanatisiert gewesen sein, sie können zu sehr Anhänger der PKK gewesen sein, doch das genügt nicht als Antwort. Es kann aber auch sein, daß sie die Besorgnis und die Angst, die Erschütterung über das, was ihre Familien zu Hause erleben, zu einer solchen Verzweiflungstat gebracht haben. Ich weiß es nicht.Mich interessieren auch nicht die offiziellen Erklärungen. Es interessiert mich nur, ob wir eigentlich noch Mitgefühl haben, wenn jemand einen solchen Schritt tut. Wenn wir dieses Mitgefühl richtig sehen, ist das keine Wohltat für die PKK, ganz im Gegenteil. Es ist aber auch kein Freizeichnen der türkischen
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Hans KoschnickRegierung, schon gar nicht derer, die sich bemühen, die Verfassung zu einem Instrument rechtsstaatlicher Ordnung zu machen, und genau wissen, daß sie überall da, wo Kriegsrecht herrscht, nicht mehr Herr des Verfahrens sind. Ein Teil derer, die eine bessere Verfassung wollen, kann sich nicht durchsetzen, weil in ihrem Land andere Machtstrukturen gegeben sind. Ich habe das Wort „Militär" nicht gebraucht, ich meine aber das Militär. Ich weiß doch, was drüben in dieser Auseinandersetzung passiert.Wir sollten jedenfalls gemeinsam versuchen, in den Gesprächen mit den Türken Wege zu finden, die bei der Auseinandersetzung mit den Kurden zu anderen Formen führen.Ich sage Ihnen genauso: Es ist gefährlich, nur von Minderheiten zu sprechen. Es gibt kaum türkische Familien, in denen nicht in der zweiten und dritten Generation irgendwelche kurdischen Verwandtschaften sind. Dies sind nicht Minderheiten, wie wir sie kennen.Dieses Land besteht aus zwei großen Volksstrukturen, bewußt von Kemal Atatürk nach französischem Vorbild organisiert, auch nach den Prinzipien der Jakobiner, die man hier einmal im Negativen anführen muß: ein Volk, eine Sprache, eine Idee — Abstammung spielt keine Rolle. Dabei ist die kulturelle Identität von nicht geringen Teilen der Bevölkerung einfach an den Rand gespielt worden, mit all den Folgen, mit denen wir heute zu leben haben. Die identitätsbewußten Kurden sind übrigens am stärksten in der Zeit des Militärregimes, der Junta, an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden.Die späteren demokratischen Regierungen versuchten, Veränderungen herbeizuführen. Meine Hoffnung ist, daß unser tägliches Miteinander mit den Türken dazu beitragen wird, daß drüben ein anderes Gefühl für demokratische Auseinandersetzungen zwischen denen, die ihre Identität suchen oder behalten möchten, und denen, die dagegen sind, entsteht.Das Wort „Terror" kennen wir. Es wird Terror ausgeübt: Terror von der einen Seite, Terrorantwort von der anderen Seite. Aber manchmal haben wir uns auch gemeinsam bemüht, uns nicht nur an diesem einen Begriff festzuhalten, sondern zu sagen: Wir brauchen eine gemeinsame Zukunft. Der Nahe Osten ist ein Beispiel dafür. Lesen Sie nach, was noch vor Jahren etwa in Richtung PLO gesagt worden ist, was im Zusammenhang mit anderen Dingen auf Reaktionen des Staates Israel gesagt worden ist.Gerade weil wir das wissen und weil wir wissen, daß die Kurdenfrage nicht nur eine türkische Frage ist, sondern auch eine irakische, nicht zu vergessen eine iranische, eine syrische. Weil wir das genau wissen, gibt es auch bei uns keine Diskussion darüber, die Separation zu akzeptieren. Hier gilt: Wenn wir nicht die Büchse der Pandora öffnen wollen, werden wir gemeinsam die Aufgabe haben, nach zukunftsgerechten Lösungen zu suchen und nicht mit dem Knüppel draufzuhauen. Wir dürfen aber auch nicht akzeptieren, daß die Staatsgewalt in der Türkei den Knüppel benutzen kann.Laßt uns deshalb gemeinsam daran arbeiten, Wege zu finden, die den Kurden eine Chance geben, ihre Identität zu bewahren, während zur gleichen Zeit dafür einzutreten ist, daß der türkische Staat nicht in die Luft fliegt!
Als nächster erhält der Kollege Karl Lamers das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es gibt wohl kaum ein Thema, das die Verquickung von Innen- und Außenpolitik so sehr deutlich macht wie das Thema Türkei. Weil das so ist, müssen wir, so glaube ich, der darin innewohnenden Versuchung widerstehen, innenpolitisch populistisch zu argumentieren.
Ich finde, Herr Kollege Koschnick, dieser Versuchung hat heute, jedenfalls bis jetzt, jeder widerstanden, nicht zuletzt der Kollege Glos. Er hat sich dafür den Dank des Kollegen Solms eingehandelt. Wenn wir schon beim Danken sind, Kollege Solms, dann möchte ich mich bei Ihnen ganz herzlich für die Eindeutigkeit und Präzision Ihrer Ausführungen zum Thema Abschiebung bedanken.
Beim Thema Türkei sind aber nicht nur Innen- und Außenpolitik außerordentlich verwoben; das Thema ist auch ebenso komplex wie kompliziert, ebenso verworren wie verwirrend. Deswegen müssen wir der Versuchung widerstehen, simplizistische Antworten zu geben, Patentantworten geben zu wollen, weil wir sonst innen- wie außenpolitischen Schaden anrichten.Woran wird die Verquickung von Innen- und Außenpolitik deutlich? — Wenn in Anatolien Terror, Gewalt, bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen, dann droht die Gefahr, daß auch auf unseren Straßen Gewalt herrscht. Das haben wir erlebt. Wenn wir uns dagegen wehren wollen, dann gibt es keine Alternative zur Abschiebung; denn die Abschiebung ist ohne jeden Zweifel das wirksamste Mittel, um von solchen Gewalttätigkeiten abzuschrecken.Natürlich bin ich mir darüber im klaren: Damit ist das Problem nicht gelöst. Das wird auch niemand behaupten. Wichtiger ist, daß wir uns fragen: Können wir einen Beitrag dazu leisten, daß das Problem zwischen Türken und Kurden in Anatolien gelöst wird? Können wir helfen, die Gewalttätigkeit dort zu beenden?Wenn wir diese Frage untersuchen, dann wird uns sofort klar — das haben hier auch alle zum Ausdruck gebracht —, daß die Türkei in vielerlei Hinsicht ein Land von ungewöhnlicher Bedeutung ist. Dies gilt nicht nur wegen der geopolitischen Lage, von der Sie, Kollege Klose, zu Recht gesprochen haben, sondern auch, weil es trotz aller Einschränkungen und Begren-
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Karl Lamerszungen in der Tat das einzige Modell für einen zugleich demokratisch-laizistischen und muslimischen Staat ist. Alle diejenigen, denen an der Einhaltung der Menschenrechte gelegen ist, sollten das bedenken. Sie müssen daran interessiert sein, daß dieses Modell nicht kaputtgeht, sondern erfolgreich ist — so schwer dies auch sein mag.Ich finde, wir sind auch verpflichtet, den Menschenrechtsgruppen, die sich bei uns — natürlich oft zu Recht — über Folter in der Türkei und ähnliche Erscheinungen beklagen, zu sagen, daß das Anklagen, das An-den-Pranger-Stellen alleine nichts hilft.Die Lage ist kompliziert, weil Kurden und Kurden nicht dasselbe sind. Der Kollege Koschnick hat ja völlig recht: Die meisten Türken haben auch kurdische Ahnen
— und natürlich Ehepartner. Die Kurden leben nicht nur in Ostanatolien, sondern sie leben auch in vielen anderen Teilen der Türkei, und sie leben auch in Deutschland.Wenn wir die Schwierigkeit der Lage richtig beurteilen wollen, dann müssen wir berücksichtigen, daß die türkische Regierung an vielen Fronten kämpft. In ihrem Kampf mit den Kurden geht es auch um das Konzept des Nationalstaates, wie ihn die Türken verstehen. Darum geht es, um nicht weniger. Wenn man sich das vor Augen führt, dann, so glaube ich, ist jedem sofort klar, daß dies eine ungewöhnlich wichtige Frage für die Türken ist.Es geht in der Tat auch um die Einheit des Staates. Es geht um die Abwehr separatistischer Tendenzen. Die türkische Regierung kämpft auch gegen den Islamismus, der sich mit der Kurdenproblematik schon vermischt hat und immer enger zu vermischen droht. Damit kämpft sie für die Erhaltung des Kemalismus, d. h. aber: für das demokratisch laizistische Modell.Die Sache ist noch komplizierter: Gerade die Armee, die wir mit guten Gründen oft wegen Verletzungen der Menschenrechte, wegen exzessiven Gebrauchs der Waffen anklagen, ist oder will jedenfalls der Garant des Kemalismus sein.Darum geht es. Nochmals: Damit geht es nicht zuletzt um die Zukunft der Menschenrechte in der Türkei. Die Fronten sind ungeheuer kompliziert, verworren und nicht so einfach, wie sich das manche Menschenrechtsgruppen hier bei uns wünschen.Wenn die türkische Regierung dafür kämpft, dann verdient sie insofern unsere Unterstützung. Ich sage das ganz klar und deutlich. Aber ich füge hinzu: Ebenso deutlich müssen wir sagen, daß die Art und Weise, wie sie diesen Zielen gerecht zu werden versucht, oftmals das Gegenteil zu bewirken droht. Es ist keine Frage, daß die Art und Weise, wie die türkischen Sicherheitskräfte — nicht nur die Armee — gegen die Kurden vorgehen, die Kurden, die in ihrer großen Mehrzahl keine Terroristen und PKK-Anhänger sind, in die Arme der PKK drängt.In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach den deutschen Waffenlieferungen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich muß Ihnen offen gestehen, daß ich die Frage, ob denn diese deutschen Waffen bei dem Kampf gegen die Kurden eingesetzt worden sind, ja oder nein, für eine vergleichsweise nebenrangige Frage halte. Ja, schlimmer, sie droht das eigentliche Problem zu verdecken.Denn wenn ein Staat von seinen Streitkräften und den Waffen einen Gebrauch macht, der mit unserem Verständnis von dem Sinn und dem Einsatzzweck von Streitkräften und Waffen grundsätzlich unvereinbar ist, dann können wir grundsätzlich keine Waffen liefern, und zwar vollkommen unabhängig davon, ob sie konkret eingesetzt worden sind, ja oder nein.
Die wahre Bedeutung dieser Frage läßt sich auch so formulieren: Können wir einem Land, das Mitglied in der NATO ist, Waffen verweigern, einem Mitglied in der NATO, die wir doch immer als eine Wertegemeinschaft verstanden haben und die heute durch ihren Einsatz für die Achtung der Menschenrechte diesen Anspruch noch mehr oder mindestens genauso verdient wie früher?Die Frage ist außerordentlich schwierig zu beantworten. Wir müssen sie vor dem Hintergrund der Frage beantworten: Wollen wir, daß die Türkei Mitglied in der NATO bleibt? Natürlich wollen wir das.
— Daß Sie das nicht wollen, das versteht sich von selbst. Wir wollen es selbstverständlich.Deswegen ist es völlig unsinnig, Kollege Poppe, so etwas wie eine Suspendierung der NATO-Mitgliedschaft der Türkei oder ein Embargo gegen die Türkei zu fordern. Wir erreichen damit genau das Gegenteil von dem, was wir erreichen wollen — das müssen auch Sie versuchen —, nämlich daß die Werte, für die der Begriff NATO steht, in der Türkei wieder stärker beachtet werden, als es derzeitig der Fall ist.Das laute Anklagen und das An-den-Pranger-Stellen bedeuten im Grunde, die Türkei in die Arme derjenigen zu treiben, die schon mit offenen Armen da stehen, innerhalb der Türkei wie außerhalb der Türkei.
Was also ist zu tun? Leider haben die Waffenlieferungen, die die Bande zwischen der Türkei und der NATO, der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei stärken sollten, das Gegenteil bewirkt. Es ist keine Frage, daß unser Einfluß in der Türkei derzeitig nicht der größte ist. Auch deswegen mache ich keinen Hehl daraus: Ich bin froh, daß das am Ende dieses Jahres beendet ist.Aber damit sind wir nicht von dem Versuch suspendiert, unseren Einfluß geltend zu machen. Ich meine schon, daß wir alles tun sollten zu einer gemeinsamen Politik der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten zu gelangen. Wenn irgend etwas wert ist, neben der Politik gegenüber dem östlichen Teil unseres Kontinents zum Gegenstand der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in der Europäischen Union zu werden, dann ist es eine gemeinsame Mittelmeerpolitik, in der die Türkei eine ganz zen-
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Karl Lamerstrale Rolle spielt. Das müssen wir mit allen Kräften versuchen.Ich füge zum Schluß hinzu: Dazu gehört auch ein größeres Maß an Aufrichtigkeit gegenüber der Türkei.
Wir sollten nicht so tun, als gäbe es die Möglichkeit, daß das Verhältnis der Türkei zur Europäischen Union genau dasselbe werden könnte wie etwa das Verhältnis Spaniens zur Europäischen Union. Ich will es nicht deutlicher sagen, weil auch das im Augenblick vielleicht nicht opportun ist.Aber wir müssen uns schon klarwerden, was denn wirklich unsere Ziele für die Gestaltung des Verhältnisses zur Türkei sind. Wenn in letzter Zeit soviel von strategischer Partnerschaft in verschiedenen Richtungen die Rede war — hier, glaube ich, wäre der Begriff wirklich angemessen, strategisch im allerweitesten Sinne des Wortes, nicht nur in einem geopolitischen, sondern in einem weit darüber hinausreichenden Sinn.Wir sollten die Bundesregierung nachdrücklich auffordern, in diesem Sinne in der Europäischen Union und in der NATO aktiv zu werden.Vielen Dank.
Bevor ich Frau Zapf das Wort gebe, möchte ich folgendes sagen.
Frau Abgeordnete Jelpke, nachweislich des Protokolls haben Sie die Aussage gemacht, daß die Politik des Außenministers eine Politik der offenen Lüge sei. Dies kann weder ich noch das Parlament akzeptieren. Ich erteile dafür einen Ordnungsruf.
Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin Herrn Lamers dankbar für die Nachdenklichkeit, die er in dieser Debatte noch einmal betont hat, nachdem bereits Herr Koschnick diese Nachdenklichkeit praktiziert hat.Wir haben in der Tat ein sehr kompliziertes Thema vor uns. Ich bin auch Herrn Kollegen Gallus für seine temperamentvolle Intervention dankbar, möchte ihn aber darauf aufmerksam machen, daß es nicht nur um ein Dorf geht, auf das man so emotional reagieren sollte, sondern um 800 Dörfer, und daß dort nicht nur Christen betroffen sind, sondern eben auch Kurden.Eines verstehe ich allerdings nicht: Warum steht, da heute eine so wichtige Debatte über das deutschtürkische Verhältnis angesetzt worden ist, nicht der gemeinsame Antrag, der im Auswärtigen Ausschuß am 9. März einstimmig verabschiedet worden ist, auf der Tagesordnung?
Das hätte in der Tat hineingepaßt. Dort sind alle dieProbleme, die heute hier eine Rolle gespielt haben,angesprochen. Wir werden wahrscheinlich eine Dublette der Diskussion haben, wenn wir sie noch einmal behandeln werden.Herr Kinkel hat gesagt, wir müßten einen partnerschaftlichen Dialog mit der Türkei führen, und gerade in schlimmen Zeiten sei Solidarität von uns gefordert. Die Lage in der Türkei ist in der Tat beunruhigend. Der Kurdenkonflikt eskaliert, und — wie der Herr Staatssekretär heute vormittag im Verteidigungsausschuß ausgeführt hat — der Regierung entgleitet die Situation. Dies muß uns unter allen Gesichtspunkten, die heute schon einmal genannt worden sind, sehr irritieren und beunruhigen.Ich denke, das Stück Solidarität, das wir zeigen können, besteht nicht in einer Politik, die die Probleme unter den Teppich kehrt, sondern in einer Politik, die die Probleme sehr deutlich benennt. Wir müssen nämlich auf eine politische Lösung drängen. Das ist hier heute schon angeführt worden.Wir müssen aber auch dort ungeheuer kritisch nachfragen, wo wir Fragen haben. Das hat dann mit den deutschen Waffenlieferungen zu tun, nicht weil es peinlich ist, wenn Kurden mit deutschen Waffen erschossen werden, sondern weil die türkische Regierung andere Zusagen über den Einsatz dieser Waffen, der uns nun empören muß, gemacht hat. Ich möchte das — genauso wie andere das heute schon getan haben — klar von dem anderen Problem, nämlich demmenschenrechtlichen Problem, trennen.Ich möchte noch einmal auf die Debatte zurückkommen, die wir vor ziemlich genau zwei Jahren geführt haben, als zum ersten Mal ein solcher Stopp von Waffenlieferungen an die Türkei ausgesprochen wurde. Damals hat die SPD — es war ja nicht das erste Mal, daß wir die Waffenlieferungen abgelehnt haben — eine Alternative vorgeschlagen, die in der Tat eine politische Lösung oder jedenfalls der Ansatz einer politischen Lösung gewesen wäre.Wir haben gesagt: Wir wollen keine weiteren Waffen liefern, sondern wir wollen stattdessen ein Konzept von Wirtschaftshilfe und Hilfe für die Türkei in allen Bereichen entwickeln. Dieses Konzept ist bis heute von der Regierung nicht entwickelt worden. Wir sind heute in der Tat an einem Punkt, wo wir vor zwei Jahren in der Diskussion schon einmal waren.Damals hat die Bundesregierung in dem berühmten Briefwechsel zwischen Herrn Çetin und Helm Kinkel ausdrücklich festgestellt, daß militärische Unterstützung nur mit dem Ziel des Erhalts der Verteidigungsfähigkeit und damit sozusagen im Hinblick auf das Bündnis gegeben werde und daß die Bundesrepublik erwarte, daß die Waffen in Übereinstimmung mit dem NATO-Vertrag verwendet werden.Herr Çetin hat damals mit dem Hinweis auf § 13 der römischen Vereinbarung innerhalb der NATO vom 7. November geantwortet. Uns hat das damals schon berunruhigt, weil das, wie Herr Poppe zitiert hat, bereits der Hinweis auf die Terrorbekämpfung ist.Damals hat Herr Kastrup im Verteidigungsausschuß auf unsere Sorgen hin ausdrücklich ausgeführt, daß § 13 deshalb erwähnt worden sei, weil man der Türkei ein Stück Wahrung des Gesichts zugestehen wollte. Denn die Türkei hat sich geweigert, einen solchen
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Uta ZapfBriefwechsel vorzunehmen, wenn das als ein Schuldeingeständnis gelten könnte.Es wurde damals betont, daß sich in diesem Briefwechsel — so sei er zu verstehen — die Türkei eindeutig verpflichtet habe, deutsche Rüstungsgüter nicht mehr im Inneren einzusetzen. Deshalb sind wir jetzt so irritiert, wenn wir Augenzeugenberichte hören und Fotografien und Videos sehen, die zeigen, daß diese Waffen doch in dieser Auseinandersetzung eingesetzt werden.Wenn der türkische Außenminister im gleichen Zuge erklärt, der Einsatz deutscher Waffen sei in diesem Fall durch den NATO-Vertrag gedeckt und sie würden nur im Kampf gegen Terroristen — und das sei im Einklang mit den NATO-Richtlinien — angewendet, dann denke ich, daß diese Irritation, die wir heute wieder haben, durchaus ihre Begründung hat.Wenn Herr Çetin erklärt, daß der Stopp deutscher Waffenlieferungen eine Ermutigung der Terroristen sei, dann wird, ehrlich gesagt, meine Irritation noch ein Stückchen größer, denn entweder hat die türkische Regierung die Bundesrepublik damals hinters Licht geführt, oder die Bundesrepublik hat das billigend in Kauf genommen.Ich frage mich, wieviel Beweise wir noch für die Anwendung dieser Waffen brauchen. Ich habe vor zwei Jahren im Verteidigungsausschuß angeboten, ein Video, das ich durch einen Fachmann habe analysieren lassen, zur Verfügung zu stellen. Das ist damals nicht angenommen worden. Heute haben wir wieder Stapel von Fotografien.
— Herr Nolting, das ist ja mein Problem, daß man das nicht als Beweise anerkennt, sondern Ausflüchte in alle Richtungen macht. Wenn es 10 oder höchstens 15 russische Panzer der Bauart BTR 60 gibt und überall im südostanatolischen Gebiet diese Panzer in Scharen gesichtet werden, möchte ich wissen, ob darunter nicht doch einige der 300 Panzer aus deutschen Lieferungen sind und ob man das nicht zumindest nach der Plausibilität annehmen muß. Wenn dann noch Kennzeichen vorhanden sind und das trotzdem geleugnet wird, habe ich, ehrlich gesagt, dafür kein Verständnis.
Darum meine ich, daß es in der Tat an der Zeit ist zu sagen: Wir wollen diese Waffenlieferungen nicht mehr. Aber dies genügt natürlich nicht, sondern dann muß man auch in das politische Konzept einsteigen.Seinerzeit wurde verabredet, im Verteidigungsausschuß und im Auswärtigen Ausschuß eine gemeinsame Türkeidebatte durchzuführen. Das ist jetzt zwei Jahre her, und diese Debatte ist nicht durchgeführt worden. Es gibt bisher auch kein Konzept für Alternativen zur Militärhilfe für die Türkei, obwohl Herr Rühe damals gesagt hat, daß erstens die Lieferungen nur noch nach Erfüllung bestimmter Bedingungen und je nach dem Stand der Demokratisierung und der Entwicklung der Reformbemühungen in der Türkei erfolgen sollten und daß zweitens ein Konzept für Alternativen entwickelt werden solle. Beides ist nicht geschehen. Obwohl die Reformbemühungen steckengeblieben sind, ist immer weiter ausgeliefert worden. Es gibt Rückschritte, meine Damen und Herren, es gibt keine Fortschritte. Obwohl immer wieder der Verdacht aufgekommen ist, daß diese Waffen gegen Kurden eingesetzt werden, wurden die Lieferungen nicht eingestellt.Ich möchte noch einmal auf die Aufhebung der Immunität der DEP-Abgeordneten zu sprechen kommen. Es mag ja richtig sein, daß dies der türkischen Verfassung entspricht, aber dann muß man sich doch einmal anschauen, was diesen Abgeordneten vorgeworfen wird. Denen wird nämlich Separatismus vorgeworfen. Separatismus wird ihnen nicht deshalb vorgeworfen, weil sie einen eigenen Kurdenstaat gefordert haben, sondern weil sie gefordert haben, das Kurdenproblem nicht militärisch, sondern mit politischen Mitteln zu lösen. So sind die Fakten, und ich denke, das ist politisch unerträglich, und das dürfen wir nicht hinnehmen.
Ich kann es auch nicht akzeptieren, meine Damen und Herren, wenn von unseren türkischen Freunden immer gesagt wird — und ich sage das nicht ironisch, weil ich aus vielen Gründen wirklich engagiert bin —, eine Demokratisierung könne im Moment nicht stattfinden, sondern es müsse erst einmal das Terrorproblem gelöst werden. Das, was dort passiert, macht die Demokratie, soweit sie sich in der Türkei bisher entwickelt hat — und das war ja ein schwerer Prozeß seit dem Militärputsch —, wieder zunichte.Es muß in unserem ureigenen Interesse sein, dazu beizutragen, daß für dieses Problem keine militärische, sondern eine politische Lösung gefunden wird, zumal es auch uns betrifft.
Auf die innenpolitische Dimension ist ja bereits hingewiesen worden.Deshalb bitte ich Sie, auch die Vorschläge, die die SPD gemacht hat, aufzugreifen. Herr Klose hat darauf hingewiesen, daß man das Problem im Rahmen der KSZE aufgreifen müsse, daß man Beobachter schikken müsse. Ich denke, man kann noch weitergehen. Wir haben ja bereits einen Antrag in dieses Parlament eingebracht. Er schmort seit einem Jahr in irgendeiner Schublade. Ich weiß gar nicht, wo er verschwunden ist.Wir haben nämlich den Vorschlag eingebracht, eine internationale Kurdenkonferenz einzuberufen. Es ist ja mit Recht darauf hingewiesen worden, daß das nicht allein das Problem der Türkei ist. Meine Damen und Herren, wir haben heute nur von der Türkei geredet. Man könnte mit dem gleichen Recht, mit dem gleichen Engagement und mit dem gleichen Ärger über den Irak reden, und man müßte sich mit Sorge der augenblicklichen Situation der irakischen Kurden zuwenden, die nur überleben, weil die Alliierten sie durch eine UNO-Schutzzone sichern.Das Kurdenproblem betrifft also keineswegs nur die Türkei. Darum haben wir vorgeschlagen, den Versuch zu unternehmen, eine solche Konferenz einzuberufen.
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Uta ZapfDaß dies nicht einfach ist, weil solche Regime wie Iran, Irak und Syrien wesentlich starrer sind und überhaupt keine Sensitivität für Menschenrechte haben, wissen auch wir. Deshalb sollten wir nicht darüber klagen, daß wir über die Türkei diskutieren. Wir sollten es vielmehr so begreifen, daß wir bei der Türkei eine Chance sehen, die Verhältnisse zu verändern; bei anderen Regimen sehen wir diese Chance so schnell nicht.Ich denke, wir sind gerade dann gute Freunde und gute Partner für die Türkei, wenn wir in der Frage der Menschenrechte und in der Frage, wie man eine politische Lösung des Kurdenproblems erreichen kann, ernsthaft mit ihr ins Gericht gehen.Ich danke.
Ich erteile unserem Kollegen Uli Irmer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! An der innenpolitischen Diskussion der letzten Tage und Wochen hat mich folgendes gestört: Es wurde eine Art Gegensatz zwischen Abschiebung einerseits sowie Strafverfolgung und Strafverbüßung andererseits aufgebaut, als ob es sich hier um zwei qualitativ unterschiedliche Reaktionen handelte.
Es ist selbstverständlich so: Wer sich als Ausländer in unserem Lande nicht an die Gesetze hält, sondern sie bricht, muß mit beidem, sowohl mit Strafverfolgung als auch mit Abschiebung, rechnen. Ich sehe aber nicht ein, daß hier gesagt wird, ja, wir schieben die sofort ab, und die Strafverfolgung ist sozusagen eine Reaktion minderer Güte. — Nein, meine Damen und Herren, zur Rechtsstaatlichkeit gehört auch, daß der Strafanspruch des Staates durchgesetzt werden kann.
Bitte überlegen Sie das einmal praktisch. Nehmen Sie einen kriminellen Ausländer, der nicht eingesperrt wird, wenn er es verdient und überführt ist, der vielmehr einfach abgeschoben wird. Wer garantiert denn, daß er nicht illegal wenige Wochen später wiederkommt und sein kriminelles Unwesen weitertreibt? Insofern warne ich davor, zu sagen, daß die Abschiebung von Haus aus ein der Strafverfolgung und Strafverbüßung vorzuziehendes Mittel sei. Wir sollten als Rechtsstaat alle unsere Reaktionsmöglichkeiten in Betracht ziehen.
Zu der Frage, die uns hier eigentlich interessiert: Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß es in unserem eigenen Interesse liegt, daß sich die Türkei einer realistischeren Lösung des Kurdenproblems zuwendet. Es ist in unserem Interesse, weil wir sehr darauf achten müssen, daß die Türkei ihre Rolle, die unglaublich wichtig ist, auch in Zukunft wahrnehmen kann, ihre strategische Rolle in der Abwehr des aggressiven Islamismus an der Schnittstelle zwischen Europa und den islamischen Ländern Asiens.
Meine Damen und Herren, das ist unser Interesse. Es ist aber auch das Interesse der Türkei, und zwar aus folgendem Grund: Wenn es die Türkei nicht schafft, dieses ihr Urproblem vernünftig zu regeln, wird sie selbst möglicherweise dabei zugrunde gehen.
Hier ist gesagt worden, wir sollten mit Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei vorgehen. Wozu würde dies führen? Wenn es überhaupt eine Wirkung hätte, würde es dazu führen, daß die Ärmsten der Armen in dem Lande darunter zu leiden hätten. Das würde sie geradezu dem Islamismus in die Fänge treiben, so wie die überzogene türkische Reaktion auf den PKK-Terrorismus natürlich die Kurden der PKK in die Fänge treibt. Dies ist nicht im Interesse der Türkei.
Durch ihre Mitgliedschaft in unseren Organisationen — NATO, KSZE, Europarat — muß sie sich gefallen lassen, daß an sie höhere Maßstäbe angelegt werden als an ein beliebiges sonstiges Drittland. Hier liegt aber auch die Chance. Ich rege an, daß die Staatengemeinschaft in diesen Organisationen das Thema Kurdistan/Türkei auf die Tagesordnung in den Ministerräten setzt. Morgen findet in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates eine Debatte zu dem Problem statt. Wir sollten die Türken und auch die Kurden mit diesem Problem nicht allein lassen.
Ich möchte ein paar konkrete Vorschläge machen, wie wir vielleicht helfen können. Wir haben in unserem Land reichhaltige Erfahrungen in der Bekämpfung des Terrorismus mit legalen Mitteln. Warum bieten wir nicht den Türken an, an diesen Erfahrungen teilzunehmen, die wir haben? Warum regen wir nicht an, daß die Türkei die Ausrichtung ihrer Streitkräfte nach den Grundsätzen des Primats der Politik, der Inneren Führung und des Bürgers in Uniform versucht, so wie es bei uns geschieht?
Herr Kollege Irmer, Ihre Redezeit ist schon ein gutes Stück überschritten.
Ich bitte um Entschuldigung, Herr Präsident, und darum, daß ich diese letzte Anregung noch geben darf: Wir sollten anregen, daß die Türkei sich bereit erklärt, ihre Ordnungskräfte, ihre Polizei in Menschenrechten, in der Beachtung des Rechtes, in Psychologie und rechtsstaatlichen Grundsätzen zu schulen. Ich glaube, auf diese Weise könnten wir einen ganz konkreten Beitrag zur Lösung des Problems leisten.
Ich danke Ihnen.
Frau Parlamentarische Staatssekretärin Cornelia Yzer, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer die freundschaftlichen Beziehungen mit anderen Staaten fördern will, der muß bei der Jugend beginnen. Wir alle wissen dies, und wir alle wissen, wie wichtig ein gewachsenes Verständnis zwischen Völkern und Kulturen ist. Nur
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Pari. Staatssekretärin Cornelia Yzerso läßt sich manche Belastung, die es immer wieder zwischen Ländern geben wird, ohne Schaden ertragen. Das gilt gerade auch für die deutsch-türkischen Beziehungen. Deshalb setzt die Bundesregierung auf eine Förderung des deutsch-türkischen Jugendaustausches und hat die Mittel für diese Maßnahmen seit dem vergangenen Jahr verdoppelt.Aber wir alle wissen: Materielle Unterstützung reicht nicht aus. Wir brauchen auch vertragliche Grundlagen, gerade wenn wir uns vergegenwärtigen, daß die Vereinigungsfreiheit von Jugendlichen in der Türkei nach wie vor nicht schrankenlos gewährleistet ist. Deshalb bin ich froh, am Ende dieser Debatte Ihnen mitteilen zu können, daß am kommenden Montag der türkische Staatsminister für Jugend und Sport nach Bonn kommen wird, um hier das Jugendaustauschabkommen zwischen Deutschland und der Türkei zu unterzeichnen.Nach kurzen und zügigen Verhandlungen wird damit ein Werk geschaffen, das auf den ersten Blick im Vergleich zu den anderen hier heute genannten notwendigen politischen Maßnahmen eher wenig spektakulär erscheinen mag, aber es ist ein Werk, das in seiner Wirkung und Reichweite nicht unterschätzt werden darf.
Vielmehr wird mit der Unterzeichnung des Abkommens dem vielfältigen und umfangreichen Geflecht der deutsch-türkischen Beziehungen ein wichtiges Element hinzugefügt, denn mit dem Abkommen werden erhebliche Vereinfachungen für den Jugendaustausch geschaffen. Die Zahl der Begegnungen wird damit in der Folge erheblich zunehmen können, denn die türkische Regierung hat sich bereit erklärt — und das ist ganz besonders herauszuheben, weil es bislang ein Hemmschuh war —, den türkischen Jugendlichen die Ausreisesteuer, die bislang bei über 100 US-Dollar lag, zu erstatten, und die deutschen Konsulate werden künftig auf die Erhebung von Visa-Gebühren für türkische Jugendliche verzichten.
Damit werden wesentliche Hemmnisse der Vergangenheit beseitigt.Und noch eines wird wichtig sein: Das Spektrum der Partner für deutsche Trager in der Türkei wird erheblich erweitert. Auch Jugendliche, die bislang aus der Türkei heraus nicht an Austauschmaßnahmen teilhaben konnten, werden künftig dabeisein. Sie werden die Chance haben, unser Land kennenzulernen, und junge Deutsche werden die Chance haben, sich ein eigenes Bild von der Türkei und den Verhältnissen dort zu machen. Das sind die Chancen von morgen, und wir sollten uns heute darüber freuen.
Ich schließe die Aussprache.
Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/7226 zur federführenden Beratung an den
Innenausschuß sowie zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Meine Damen und Herren, bei allem Verständnis für die verlockende Sitzordnung hier und die gelegentliche Lust eines Kollegen, sich auf der Regierungsbank oder auf der Bundesratsbank zu sehen, und auch bei Verständnis für die Freude über die Rückkehr eines alten Kollegen: Die Abgeordneten sitzen nicht auf der Bundesratsbank oder auf der Regierungsbank, sondern die Plätze dort sind für die jeweiligen Verfassungsorgane vorgesehen.
— Frau Kollegin, wenn ich über die Meinen schimpfe, die dort hinübergehen, dann muß ich das in diesem Fall auch tun.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, würde ich dem Haus gern eine Mitteilung machen, die ich soeben von Herrn Staatsminister Helmut Schäfer erfahren habe. Die letzten Deutschen, die in Kigali — es waren Angehörige der Deutschen Welle — eingeschlossen waren, sind mit belgischer Hilfe befreit und ausgeflogen worden.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Notwendig zu ziehende Konsequenzen aus den aktuellen Fallen von Giftstoffen in Babynahrung
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Klaus Lennartz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion hat die Aktuelle Stunde zum Thema „Giftstoffe in Babynahrung" beantragt, weil es sehr große Unterschiede in den Auffassungen gibt, wie mit der Gesundheit unserer Kinder umzugehen ist und wie gesunde Nahrungsmittel politisch gefördert und vorgeschrieben werden können.Viele versuchen, den Babynahrungsskandal als Ökopanne der Woche abzutun. Wir folgen dem nicht, weil wir wissen: Die Verbraucher und die Verbraucherinnen in der Bundesrepublik Deutschland legen aus gutem Grund immer mehr Wert auf gesunde, schadstoffarme Lebensmittel. Die Menschen sind verunsichert, nicht nur wegen des Babynahrungsskandals. Eierskandal, Schweinepest —
— kann man sie damit verunsichern, liebe Frau Kollegin? —, Rinderwahnsinn, geschlossene Trinkwasserbrunnen im Osten und immer wiederkehrende Nachrichten über Schadstoffe in Lebensmitteln haben das Problembewußtsein in der Bevölkerung sehr geschärft. Immer mehr Menschen wollen sich gesund und schadstofffrei ernähren; sie werden immer mehr
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Klaus Lennartzverunsichert durch berechtigte schlechte Nachrichten über Nahrungsmittel.Leider gibt es diesen Common sense bei den handelnden Gruppen nicht: Nahrungsmittelproduzenten, Kontrolleure, Behörden und Politik sind unterschiedlicher Auffassung über das, was man „gesunde Lebensmittel" nennen kann, und den Weg, wie man solche gesunden Lebensmittel fördern kann. Eine unheilige Allianz zwischen unglaublichen Forderungen und Scheinargumenten verhindert die Aufstellung ökologischer Qualitätsziele, die sich nicht nur an Grenzwerten orientieren.So fordert der Konzernchef eines großen Nahrungsmittelunternehmens höhere Grenzwerte für Babynahrung; die Unglücksbehörde Bundesgesundheitsamt läßt die Verbraucherinnen und Verbraucher mit dem wertlosen Hinweis auf höhere Belastung bei Obst und Gemüse von Wochenmärkten allein; die Länderminister sind unterschiedlicher Auffassung über den Handlungsbedarf.Die Bundesregierung hat sich bisher strikt geweigert, ein stärkeres, ganzheitliches Verständnis von Gesundheit und Nahrungsmitteln zu erforschen und zu fördern, weil es nicht in die bestehenden Systeme der monokausalen Erklärungen paßt. Das Ökosystem Mensch ist jedoch, wie die Natur, hochkomplex, und Schädigungen, meine Damen und Herren, sind es ebenso. Was nutzt da der Hinweis, daß ein Kleinkind die belastete Babykost kiloweise pro Tag aufnehmen müßte, um Schädigungen zu erfahren?Niemand, meine Damen und Herren, weiß, in welchem Maße, mit welch wechselnden Zusammenhängen 4 000 Schadstoffe aus der Luft, Hunderte von Schadstoffen im Wasser und ebenso viele in der Nahrung sich dauerhaft auf die Gesundheit unserer Kinder und unsere eigene Gesundheit auswirken.Ich frage, meine Damen und Herren: Wer spricht über unser Immunsystem, das ja auch beeinflußt wird? Man führt dort eine Programmatik ein, die nicht mehr zu steuern ist. Darüber, so antwortet die Bundesregierung auf unsere Große Anfrage zum Thema „Kindergesundheit und Umweltbelastungen", gibt es erhebliche Wissenslücken und Forschungsdefizite. Die Bundesregierung muß sich jedoch vorwerfen lassen, daß sie trotz einer nunmehr fast zwölfjährigen Debatte dem Zusammenhang zwischen Umwelt und Gesundheit noch immer kaum Aufmerksamkeit widmet.Dafür, meine Damen und Herren, sprechen aber die Fakten für sich.
In den Ballungsgebieten leidet heute schon ein Viertel aller Kinder unter Allergien. Das kommt doch nicht von ungefähr, das muß doch durch irgend etwas induziert werden. Die Bundesregierung zeigt auch auf diesem Feld keine politische Führung; sie legt keine Qualitätsziele fest. Sie hat sich bisher gesträubt, ein umfassendes Forschungsprogramm zum Thema „Kind, Gesundheit und Umwelt" aufzulegen, das die vielfältigen Wechselwirkungen von Schadstoffen erfaßt.Die Bundesregierung weigert sich, gesunde Lebensmittel vorzuschreiben und im Rahmen eines vorsorgenden Gesundheitsschutzes zu fördern.
Dabei führt doch kein Weg daran vorbei, daß sich unsere Gesellschaft wieder stärker auf die Nahrungsmittelproduktion besinnen muß, Frau Kollegin, die den Anforderungen des menschlichen Organismus mehr entspricht als die heutigen Lebensmittel, die oft durch die Preistreiberei der Handelsketten agrarindustriell und somit hoch belastet produziert werden. Das ist doch die Wahrheit!
Die Bundesregierung bleibt die Antworten schuldig, wie sie biologische Anbaumethoden stärker fördern will, wie sie die Rahmenbedingungen der Vermarktung biologisch angebauter Produkte verbessern und sie politisch fördern will. Die Bundesregierung bleibt Initiativen schuldig, die die Festlegung einheitlicher europäischer Grenzwerte für Nahrungsmittel fördern, —
Herr Kollege, Ihre Zeit ist um.
--Initiativen, die Mindestanforderungen für Kontrollen in der Europäischen Union fördern sowie die Kennzeichnungspflicht über Herkunft, Inhalt und Herstellungsart von Lebensmitteln.
Solange wir zulassen, daß wirtschaftliche Interessen einer gesunden Nahrung vorgezogen werden, wird sich nichts verändern. Dann werden weiterhin in Monokulturen zuviel Pflanzenschutzmittel in die Nahrung gelangen können, dann werden weiterhin mit Medikamenten vollgestopfte Tiere auf engstem Raum mit widerlichen Futtermischungen gemästet, dann werden auch weiterhin viel mehr Schadstoffe, als auf Grund unseres wissenschaftlichen Standes nötig sind, in die Nahrungsmittelkette gelangen. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert Vorrang für die Gesundheit und damit Vorrang für die Verbraucherinteressen.
Herr Präsident, zum Schluß: Gesundheit, meine Damen und Herren, muß vor Umsatz gehen. Das sollte der Grundkonsens sein, auf den wir uns verständigen können.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, wir haben in der Aktuellen Stunde die Ordnung, daß jeder fünf Minuten spricht. Wenn einer sechs Minuten spricht, überzieht er um 20 %. Ich bitte, sich an die Ordnung zu halten. Wenn ich sage, es ist Schluß, dann noch einen Satz.
Als nächstem erteile ich der Kollegin Editha Limbach das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat ein Skandal, wenn Lebensmittel verunreinigt sind, insbe-
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Editha Limbachsondere wenn es sich um Lebensmittel für Kleinstkinder, also für Babys und Säuglinge, handelt. — Bei Säuglingen hoffe ich, daß Nahrungsmittel die Muttermilch ist, und die ist im allgemeinen nicht verunreinigt. —
Aber man muß, wenn man sich über so etwas ärgert, wenn man sich aufregt und wenn man sich zu Recht zum Anwalt der Bürgerinnen und Bürger macht, darauf achten, daß man an der richtigen Stelle die richtigen Worte sagt.
Ich denke erstens, es nutzt überhaupt nichts, wenn man, um Aufmerksamkeit zu erregen, übertreibt. Das haben die Medien leider teilweise getan.
— Nein, die Medien haben es teilweise getan. Sie haben beispielsweise Bilder von der schlimmsten Form von Neurodermitis gezeigt, von der man aber weiß, daß die betreffenden Kinder auf Grund von schlimmen Ereignissen so krank sind, aber nicht, weil sie die in Frage stehende Babykost zu sich genommen haben. Ich weiß natürlich auch, daß Eltern von Kindern, die zu solchen Krankheiten neigen, geraten wird, diese Kost nicht zu verwenden, sondern möglichst solche aus biologischem Anbau. Aber man darf auch nicht Ängste der Menschen nutzen, um sie in Panik zu versetzen.
Zweitens, Herr Lennartz, ich war etwas überrascht. Die Rede, die Sie gehalten haben, gehört in jeden Landtag in der Bundesrepublik Deutschland, aber nur zu ganz wenigen Punkten in den Deutschen Bundestag. Wie Sie selber wissen — und Sie sind auch kommunalpolitisch tätig, deshalb müßten Sie es noch besser wissen als andere —, ist das meiste dessen, was Sie hier kritisch angemerkt haben, überhaupt nicht Aufgabe des Bundestages, auch nicht Aufgabe des Bundesgesundheitsministers und seines Ministeriums, sondern Aufgabe der zuständigen Ministerien und Behörden der Länder.
Es geht nicht an, wie jetzt auch in der Verfassungsdiskussion, bei jeder Kleinigkeit zu versuchen, möglichst viele Kompetenzen auf die Länder zu verlagern und anschließend immer, wenn es brennt, nach der Feuerwehr Bund zu rufen oder gar zu behaupten, man sei gar nicht verantwortlich, der andere habe die Schuld. Das ist, finde ich, nicht angebracht.Wir haben — dafür sind wir verantwortlich — einen Grenzwert von 0,01 mg, der nicht überschritten werden darf. Dies ist ein Grenzwert — dazu werden noch Kollegen bzw. Kolleginnen sprechen —, den präzise nachzuweisen sehr schwierig ist. Mit anderen Worten: Unsere gesetzliche Regelung sieht eine möglichst reine, von Belastungen freie Kost für Babys vor, und das ist auch richtig so. Aber die Überprüfung dessen liegt eben nicht beim Bundesminister, liegt nicht bei diesem Parlament, sondern liegt bei den Landesbehörden. Und wenn es dort Fehler gibt, dann sollen sie auch dort beanstandet werden und nicht hier.
Ich schließe mich allerdings der Forderung an, daß der Herr Ministerpräsident Rau in seinem Land, daß der Herr Ministerpräsident Scharping in seinem Land und daß der Herr Ministerpräsident Eichel in seinem Land — ich kann noch ein paar mehr nennen; ich lasse es bei den dreien — für Ordnung sorgen. Diesem Appell schließe ich mich ganz energisch an.
Ich will noch ein Letztes sagen: Die Kindergesundheit ist in der Tat noch wichtiger als die Gesundheit von denen, die so alt sind wie ich. Aber: Auch hier muß man darauf achten, daß jeder an seinem Platz das tut, was er tun kann. Ich bin deshalb der Meinung, daß es richtig ist, daß wir uns auch auf der europäischen Ebene um eine Harmonisierung der Regelungen bemühen. In einigen Bereichen ist es schon geschehen, in anderen wird noch darum gestritten. Ich gehe davon aus, daß auch die Mütter und Väter in unseren europäischen Partnerländern für die Gesundheit ihrer Kinder einstehen und daß wir deshalb auch in Europa zu befriedigenden, weitergehenden Regelungen kommen, als wir sie schon jetzt haben.Vielen Dank.
Herr Kollege Lennartz, die Frau Kollegin Limbach hat Ihre Zeitüberschreitung wieder gutgemacht.
Frau Kollegin Würfel, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Meldungen aus jüngsten Tagen über Babynahrung, die Rückstände von Pflanzenschutzmitteln enthält, bewegen natürlich die Mütter und die Väter, aber sie zwingen uns Politiker auch — weil die Sozialdemokraten dies wünschten — uns heute damit in einer Aktuellen Stunde zu befassen, nämlich mit der Anwendung von Pflanzenschutzgiften und den damit zwingend vorhandenen Rückständen in der Nahrung.Worüber wir zu diskutieren haben, ist nicht, wie Herr Lennartz sagt, daß sich die Bundesregierung wieder allerhand vorwerfen lassen muß, sondern es geht darum, wie wir mit der Lebensmittelproduktion, mit der Fleischproduktion in Deutschland umgehen, wenn wir auf der einen Seite sagen, wir wollen keine Raupen im Blumenkohl, keine Blattläuse auf dem Salat, keine Würmer im Apfel, und andererseits sagen, wir wenden Schädlingsbekämpfungsmittel an, also Gifte, die sich dann selbstverständlich spurenweise auch in den Produkten befinden müssen, die wir essen. Das heißt also für uns hier, daß wir in dieser Debatte für eine sachgerechte Behandlung dieses Themas sorgen müssen; denn politisch verantwortliches Handeln und verantwortliches Handeln der Journalisten zeichnet sich dadurch aus, daß wir sachgerecht aufklären, daß wir also der Bevölkerung die Ängste nehmen und sie nicht noch weiter schüren.
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Uta WürfelEine Lebensmittelerzeugung für die gesamte Bevölkerung ohne Anwendung von Pflanzenschutzmitteln ist nicht möglich. Was dem Apfelwickler in der Apfelplantage den Garaus machen soll, ihn also töten soll, ist ein Gift, und das gelangt auch in den Apfel selbst. Dasselbe Gift, das die Möhre frei von Möhrenfliegen hält, findet sich in Spuren auch in der Möhre. Also kann es jetzt nur noch darum gehen, sicherzustellen, daß die feststellbaren Rückstände unterhalb der festgelegten Werte liegen, die zur gesundheitlichen Vorsorge der Lebensmittel essenden Menschen vom Gesetzgeber in Europa — da ist das alles harmonisiert — und in den nationalen Staaten festgelegt worden sind.Die für Rückstände zulässigen Werte, die nun bei uns in Deutschland durch die sogenannte Diätverordnung festgelegt sind, orientieren sich — das muß die Bevölkerung wissen — an Kranken und Kindern. Der höchste Grundumsatz wird im Verhältnis zur Nahrungsaufnahme bei einem sechsjährigen Mädchen gefunden. Diese Verordnung über diätetische Lebensmittel legt für Säuglingsnahrung den zulässigen Wert von 0,01 Milligramm pro Kilogramm Nahrungsaufnahme fest. Das ist ein hunderttausendstel Gramm. Das ist ein Hauch, das ist eine Spur, und darüber reden wir heute.Wenn wir jetzt immer sagen, im biologischen Landbau wird offenbar darauf geachtet, daß es diese in Spuren vorhandenen Schadstoffe überhaupt nicht mehr gibt, so stimmt das insofern nicht, als der Dreck über die Luft kommt und auch biologisch-dynamisch hergestellte Lebensmittel keineswegs ganz frei von der Aufnahme von Schadstoffen sind.
Wenn wir jetzt sagen, bei artgerechter Fütterung ist das möglich oder dann, wenn man homöopathische Tierarzneimittel anwendet, dann ist das richtig und bedeutet für uns, daß wir uns damit auseinanderzusetzen haben, welche Qualität von Nahrungsmitteln wir überhaupt haben wollen. Ist es richtig, völlig aromafreie Tomaten und Erdbeeren im Januar zu kaufen und zu essen,
oder sollten wir mehr Wert darauf legen, was wir insgesamt zu uns nehmen?Insgesamt noch einmal: Es ist für uns Politiker ein Gebot der Klarheit, heute hier zu betonen, daß die festgelegten Konzentrationen nun wirklich zulässig sind, daß jedes Kind und jeder Kranke ein Leben lang tagtäglich diese Spur an Schadstoffmitteln essen kann, ohne zu erkranken. Wir sollten daher bitte aufhören, hier im Deutschen Bundestag die Bevölkerung weiter zu verunsichern.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein neuer Lebensmittelskandal macht Schlagzeilen.
Nun haben wir es amtlich: Auch in Babynahrung befinden sich Giftstoffe. Zum wiederholten Male erfahren wir dabei, daß auch in diesem Fall Hersteller und Vertriebsketten unverantwortlich handelten und Behörden wiederum versagten.
Die Boulevardpresse malt sofort in gewohnter Professionalität ihr Horrorszenario, und tiefverängstigten Müttern wird vermittelt, daß sie nun mit dem Schlimmsten rechnen müssen.
— Hören Sie doch erst einmal zu! — Die Empörung der Menschen bleibt allerdings auch dann verständlich, wenn sie — gewissermaßen in einem zweiten Anlauf — erfahren, daß zum Glück ja alles nicht so schlimm ist, daß es nicht um akute Lebensgefahr für Babys geht. Aber die Langzeitwirkungen von Pestiziden sind beim heutigen Wissensstand noch völlig unklar.
Es wurde bereits auf die Große Anfrage und die Beantwortung Ihrer Regierung verwiesen.Es ist also schon empörend, daß es sogar auf diesem so überaus sensiblen Feld der Babynahrung Anbieter gibt, die sich ganz offensichtlich den Teufel um gesetzlich festgelegte Grenzwerte scheren. Empörend ist weiterhin, daß es selbst dann zu keiner konsequenten Rückholaktion kam, als seitens der staatlichen Lebensmittelüberwachung die Rückstände von Schädlingsbekämpfungsmitteln eindeutig nachgewiesen wurden. Empörend ist schließlich auch, daß zunächst weder die Öffentlichkeit noch gar die zuständigen Behörden in den anderen Bundesländern in sachgerechter Weise in Kenntnis gesetzt waren.Verallgemeinernd müssen Verbraucherinnen und Verbraucher feststellen: Die sogenannten Selbstkontrollmechanismen des Marktes funktionieren auf diesem Gebiet nicht.
Ob es sich um krebserzeugende Konservierungsstoffe, „hormonveredeltes" Kalbfleisch oder gifthaltige Babynahrung handelt — die Kette der Skandale reißt nicht ab. Profitmaximierung und ein moralvernichtender Konkurrenzkampf treiben zu immer riskanteren agrarindustriellen Erzeugungs- und Produktionsformen. Der Verbraucherschutz, dessen gesetzliche Grundlagen sich mit großer Regelmäßigkeit als lückenhaft erweisen, hinkt stets hoffnungslos hinterher.Offensichtlich liegen sogar die Möglichkeiten der zuständigen Landesbehörden, ihrer Informationspflicht umfassend und rechtzeitig nachzukommen, im argen. Obendrein führt ein noch immer uneinheitli-
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Dr. Barbara Höllches Recht innerhalb der Europäischen Union dazu — wie im vorliegenden Fall —, daß selbst streng und verantwortungsbewußt festgelegte nationale Grenzwerte nicht vor Schaden schützen können. Ich finde den Zungenschlag schon bedenklich, wenn hier wieder nur von Harmonisierung geredet wird und nicht von der eindeutigen Zielsetzung, daß es darum geht, tatsächlich die höchsten Grenzwerte festzulegen.Wie lang muß eigentlich die Chronik der skandalösen Einzelfälle noch werden, ehe sich die Bundesregierung dazu entschließt, die notwendigen systematischen Schritte zu tun, um endlich zu einem wirksamen Gesundheits- und Verbraucherschutz zu kommen? Spektakuläre Rückrufaktionen und demonstrativ verschärfte Kontrollen, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, können bekanntlich keines der hier anstehenden Probleme lösen. Bestenfalls wird nur deutlicher, daß jeweils nur die Spitze eines Eisbergs zum Vorschein gekommen ist.Nichts enthüllt den Standort, an dem wir heute angekommen sind, besser als die schockierend trokkene Feststellung der Experten: Wer die Babykost nun wieder selbst mit direkt auf dem Markt eingekauftem Gemüse zubereiten will, muß davon ausgehen, die zulässigen Grenzwerte um ein vielfach Höheres zu überschreiten als bei der beängstigenden Gläschennahrung.Vor diesem Hintergrund fordern wir die Bundesregierung auf, erstens die Kontrollauflagen und Informationsbefugnisse bzw. -pflichten der für die Lebensmittelsicherheit zuständigen Überwachungsbehörden sowie die Kennzeichnungspflichten der Hersteller endlich klar und eindeutig und vor allem ausreichend zu regeln, zweitens energischer darauf hinzuwirken, daß die Schadstoffgrenzwerte und die Überwachung ihrer Einhaltung im Rahmen der Europäischen Union vereinheitlicht werden — Absichtserklärungen genügen nicht; zumindest für Babynahrung sollte eine hohe, auch zeitliche Priorität gelten —, und drittens die Voraussetzungen für die Auswertung ökologischer Anbaumethoden nachhaltig zu verbessern, damit biologisch kontrolliert hergestellte Rohstoffe ausreichend zur Verfügung stehen.Ich denke, die Forderung: „Säuglingsnahrung muß praktisch frei von Pflanzenschutzmitteln sein, entsprechend belastete Produkte gehören nicht auf den Markt" verdient die volle Unterstützung des gesamten Hauses.Ich danke Ihnen.
Frau Kollegin Vera Wollenberger, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor fast einem Jahr hat BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN diesem Hohen Hause einen Entschließungsantrag zur Notwendigkeit von ökologischen Kinderrechten wegen der Gefährdung von Kindern durch Umweltgifte vorgelegt. Er sah vor, daß die Bundesregierung zu einer schnellen unbürokratischen Umsetzung einer Reihe von Maßnahmen zur Reduzierung der Gefährdungvon Kindern durch Umweltgifte aufgefordert werden soll. Seitdem schmort dieser Antrag im zuständigen Ausschuß, während der Anlaß der heutigen Debatte wieder einmal eine Presseveröffentlichung ist.Seit Tagen schlagen die Wellen wegen der Entdekkung toxischer Stoffe in industrieller Babynahrung hoch. Wieder einmal sind die Käufer verunsichert und besorgt. Rinderwahnsinn, Schweinepest, Kalbfleischhormone, Spritzmittel auf Obst und Gemüse, Nitrat im Wasser — die Schlagzeilen ändern sich, das Problem aber bleibt.Kinder werden übrigens nicht erst durch die Muttermilch, Lebensmittel oder Trinkwasser und Luft, sondern bereits im Mutterleib mit verschiedenen Umweltgiften überlastet. Dabei ist wissenschaftlich erwiesen, daß besonders die Entwicklung Ungeborener durch die Vergiftungskreisläufe in allen Lebensbereichen stark gefährdet ist, was u. a. die Abwehrkräfte, das Nervensystem, die Fortpflanzungsfähigkeit und das Erbgut schädigt. Immer öfter kommen mißgebildete Kinder auf die Welt, und keineswegs nur im Umkreis von Tschernobyl, sondern auch an Deutschlands und Englands Meeresküsten, wie wir seit kurzem aus dem Fernsehen wissen. Kann es sich ein Parlament da eigentlich leisten, notwendige Maßnahmen noch auf die lange Bank zu schieben? Wie halten wir es eigentlich mit der Verantwortung gegen- über unseren Kindern?An dieser Stelle muß ich sagen, Frau Würfel: Ihren Vorschlag, daß wir den Menschen doch beibringen sollen, daß sie ihre belastete Nahrung bitte angstfrei einnehmen sollen, halte ich einfach für zynisch.
Was sind das für Zustände, wo verängstigte Eltern, die ihrem Baby keine industrielle Kost mehr zumuten wollen, davor gewarnt werden, die Nahrung selbst zu kochen, da das Obst und Gemüse vom Wochenmarkt die zweihundertfache Giftmenge enthalten könnte? Wie weit geht unsere Toleranz oder, genauer gesagt, Ignoranz, wenn die Zeitungen schreiben, daß niemand mehr genau wisse, was er im Supermarkt eigentlich einkauft?
Jährlich werden 30 000 t Pflanzenschutzmittel in Deutschland versprüht. Im Osten unseres Landes dürfen sogar Pestizide zum Einsatz kommen, die im Westen schon verboten sind. Jedes Schulkind weiß heute, daß es gesundheitliche Belastungen über Nahrungsmittel und Trinkwasser gibt, solange Pestizide zum Einsatz kommen. Aber nach wie vor beträgt das ökologisch bebaute Ackerland nur 1 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche, und es gibt keine gezielten Förderungsmaßnahmen zugunsten einer umwelt- und gesundheitsverträglichen Nahrungsmittelproduktion. Wir sind Weltmeister im Export von Pflanzenschutzmitteln, auch solcher, die bei uns längst nicht mehr zum Einsatz kommen dürfen. Zum Teil werden sie von uns reimportiert als Zugabe zu den exotischen Früchten aus aller Welt.
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Vera WollenbergerEs stimmt, daß Deutschland die strengsten Verordnungen hat, was die Höchstmengenbegrenzung von Giftstoffen in Nahrung betrifft. Aber selbst diese strengen Bestimmungen reichen für Kinder nicht aus; denn die Werte für die zulässige Schadstoffbelastung in Lebensmitteln orientieren sich am Durchschnittsgewicht des erwachsenen Mannes, also 70 kg, und sind für den kindlichen Organismus viel zu hoch.
— Ichhabe jetzt nicht von der Babynahrung gesprochen, nicht von der Diätverordnung, sondern von den allgemeinen Werten. Diese orientieren sich an 70 kg Lebendgewicht eines männlichen Erwachsenen. Darüber rede ich.Wir laufen aber Gefahr, daß wir selbst diese Normen für die viel laxeren EG-Normen aufgeben müssen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordert deshalb die Bundesregierung auf, sich dafür einzusetzen, daß die strengeren Maßstäbe, die hier in Deutschland z. B. in der Diätverordnung festgelegt sind, für den gesamten Geltungsbereich der Europäischen Union durchgesetzt werden. Wenn das geschafft ist, müssen diese Werte unverzüglich noch weiter heruntergesetzt werden.Ich bin mir sehr wohl darüber im klaren, daß diese Forderung keineswegs eine technische ist. Eine konsequente Verringerung von Schadstoffen in Nahrungsmitteln und im Trinkwasser kann vielmehr nur durch einen ökologischen Umbau der Nahrungsmittelproduktion geschehen. Diese Forderung ist heute keine grüne Spinnerei mehr, sondern längst ein realpolitisches Postulat. Die Wende von der industriellen Landwirtschaft zur ökologischen ist überfällig. Die Politiker haben nur noch die Wahl, ob sie diese Wende selber anpacken oder durch die Verhältnisse dazu gezwungen werden.Vielen Dank.
Ich erteile dem Bundesminister für Gesundheit, Horst Seehofer, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit 1975 gilt für Rückstände aus Pflanzenschutzmitteln bei Babykost ein Höchstwert von 0,01 mg/kg. Dieser Höchstwert gilt bundeseinheitlich. Er gilt auch für importierte Produkte. Ein Verstoß gegen diese Regelung durch Überschreitung der Höchstwerte ist strafbewehrt.
Die Kontrolle liegt ausschließlich bei den Bundesländern. Die Verantwortung für notwendige Maßnahmen bei Überschreitung der Höchstwerte liegt ausschließlich bei den Bundesländern.
Das dem Bundesgesundheitsministerium zugeordnete Verbraucherinstitut in Berlin kommt bei der gesundheitspolitischen Bewertung der seit Januar in verschiedenen Bundesländern festgestellten Überschreitungen von Höchstwerten zu folgender gesundheitspolitischer Bewertung, die ich ausdrücklich teile:Für die in der Diskussion stehenden Überschreitungen von Pflanzenschutzmittel-Rückständen in der Säuglingsnahrung können keine nachteiligen Folgen für die Gesundheit von Säuglingen oder Kleinkindern angenommen werden.
Bei dieser Bewertung geht es von einer auf Grund der toxikologischen Daten für Lindan festgesetzten täglichen duldbaren Aufnahmemenge von 0,005 mg/kg Körpergewicht des Menschen aus.
Danach ergibt sich, daß z. B. einem 7,5 kg schweren Säugling — das ist ein Säugling von etwa sechs Monaten — täglich vier bis fünf Gläschen ohne Sorge gegeben werden können. Hersteller von Säuglingsnahrung empfehlen für sechs Monate alte Säuglinge die Verfütterung von täglich einem Gläschen als Beikost.
Das ist die gesundheitspolitische Bewertung. Jedoch sage ich trotz dieser gesundheitspolitischen Bewertung: Rückstände von Pflanzenschutzmitteln haben in der Babynahrung nichts zu suchen,
auch nicht in gesundheitlich unbedenklichen Mengen.
Das muß eindeutig sein.Das war die rechtliche und gesundheitspolitische Bewertung.Nun möchte ich doch einiges zurechtrücken, was in den letzten Wochen in der Diskussion etwas verrutscht ist. Das sollten wir mit aller Ruhe tun. Ich unterstreiche, was die Vorredner aus der Koalition gesagt haben: Wir sollten die Menschen mit Fakten und Argumenten bedienen und nicht mit Emotionen. Weil das Thema in den letzten Tagen nicht nur von einigen Presseorganen, sondern auch von Länderseite meines Erachtens nicht immer sachgerecht behandelt wurde, will ich einiges dazu sagen.
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18890 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. April 1994
Bundesminister Horst SeehoferEs kommt das Argument mit der unzureichenden Information, zunächst einmal zwischen Ländern und Behörden. Meine Damen und Herren, nach den mir zur Verfügung stehenden Informationen war die erste auffällige Messung in Baden-Württemberg am 11. Januar 1994. Es folgte eine ganze Reihe weiterer auffälliger Messungen insbesondere in Baden-Württemberg. Mein Haus hat am 5. April — ein erheblicher time-lag — nachgefragt, ob man nicht informiert werden könnte.
Wir sind über diese ersten Dinge am 11. Januar 1994 nicht von Amts wegen, sondern auf Grund unserer Rückfrage am 6. April 1994 von Baden-Württemberg informiert worden.
Meine Damen und Herren, dabei gibt es seit 1987 eine aktualisierte Grundlage, zwischen Bund und Ländern vereinbart, wie man in diesen Dingen, wo die Kontrolle in der Bundesrepublik Deutschland dezentral organisiert ist, zwischen den Bundesländern und zwischen Bundesländern und Bund zusammenarbeitet.Ich stelle erstens fest: Die Grundlagen für die Zusammenarbeit, für die Information — die nicht von uns aus in der Öffentlichkeit kritisiert worden ist, sondern von den Bundesländern einschließlich des Landes, aus dem ich stamme, problematisiert worden ist — sind gegeben. Sie wurden nur nicht praktiziert. Wir mußten uns von uns aus darum bemühen, die Informationen zu bekommen, und zwar nach über drei Monaten.Zweitens: die Information der Öffentlichkeit. Meine Damen und Herren, zunächst einmal scheint es so zu sein —ich muß immer sagen: es scheint so zu sein, weil das alles Informationen sind, die wir mühsam sammeln müssen —, daß die Maßnahmen, die auf Grund der Messungen und Überschreitungen der Höchstwerte erfolgt sind oder eingeleitet wurden, im Einvernehmen mit den betroffenen Behörden erfolgt sind. Jetzt muß man mir einmal erzählen, wo es den Paragraphen in der Bundesrepublik Deutschland gibt, der es verbietet, daß eine zwischen Behörden und Firmen einvernehmlich getroffene Lösung, nämlich die Rückholung der Produkte, der Öffentlichkeit mitgeteilt wird. Ich habe seit Anfang April nach diesem Paragraphen gesucht. Ich habe ihn nicht gefunden. Man muß über eine Rechtsgrundlage dann diskutieren — darauf komme ich noch zurück —, wenn man etwas gegen eine Firma unternimmt. Was spricht jedoch dagegen, wenn man mit einer Firma eine Rückholaktion vereinbart, über diesen Tatbestand die Öffentlichkeit zu informieren, entweder Behörde und Firma gemeinsam oder die Firma alleine?
— Wir wissen nicht, ob es vielleicht Bedingung war, obdie Firma gesagt hat: Wir holen nur zurück, wennkeine Öffentlichkeit hergestellt wird. Das weiß ich nicht.
— Das werden wir möglicherweise gleich hören.Aber selbst wenn das mit der Einvernehmlichkeit nicht zutreffen sollte: Wenn Baden-Württemberg oder ein anderes Bundesland der Auffassung waren oder sein sollten, es liegt eine Gefahr für die Gesundheit vor, dann sind die rechtlichen Grundlagen für die Information und Warnung der Bevölkerung gegeben. Wenn eine Gefahr vorliegt, ist die Grundlage gegeben.
Wenn die Bundesländer der Meinung waren, es liegt keine Gefahr vor, dann haben sie auch keine Berechtigung, vom Bund eine rechtliche Grundlage für die Information der Öffentlichkeit zu fordern.
So einfach ist das nach den Gesetzen der Logik. Herr Schäfer, daß ich da nicht ganz schiefliege, zeigt Ihre heutige Pressemitteilung zum Olivenöl, wo Sie plötzlich an die Öffentlichkeit gehen,
obwohl in diesem Zusammenhang von Ihnen keine gesundheitsgefährdende Maßnahme kritisiert wird. Trotzdem gehen Sie an die Öffentlichkeit, zugegebenermaßen ohne Markennamen.Aber in diesem Fall geht es um eine Überschreitung eines Höchstwertes, der strafbewehrt ist. Ich bin der Auffassung: Wenn etwas als Überschreitung des Höchstwertes strafbewehrt ist und man dazu mit den Firmen gemeinsam vorgeht, dann hätte man auch die Öffentlichkeit informieren können.
Harmonisierung in Europa: Meine Damen und Herren, wir können — darauf wirke ich hin — die Grenzwerte und Höchstwerte in Europa harmonisieren. Nur, wenn man das Ziel verfolgt — ich nehme an, das verfolgen wir gemeinsam —, daß wir den deutschen Standard als Grundlage der Harmonisierung nehmen, dann kann ich Ihnen nicht versprechen, daß uns das in absehbarer Zeit gelingt. Deshalb ist es eine Irreführung der Öffentlichkeit, jetzt auf die Harmonisierung der Grenzwerte in Europa hinzuweisen, obwohl man weiß, daß die Durchsetzung der deutschen Höchstwerte in Europa nicht von heute auf morgen zu bekommen ist.
In anderen Punkten haben wir schon Harmonisierung, z. B. was die Frage der Lebensmittelkontrolle, der Ausbildung und ähnliches betrifft.Ich komme, Herr Schäfer, einfach zu der Frage, warum Ihnen die angeblichen Mängel bei der Rahmengesetzgebung in Bonn alle erst Mitte April eingefallen sind, jetzt gerade, und nicht schon im Januar. Hätten Sie diese Erkenntnis wirklich im Januar, nach
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Bundesminister Horst Seehoferder ersten Messung am 11. Januar, gehabt, hätte es dank der Telekom ein Telefon gegeben. Ich hätte Ihnen zur Verfügung gestanden. Ich hätte auch zurückgerufen, wenn ich gerade in Baden-Württemberg unterwegs gewesen wäre. Dann hätten Sie mir im Januar eine Lücke mitteilen können.Was bei mir nachdenkliche Fragen aufwirft, ist, daß Sie drei Monate gebraucht haben und erst unter öffentlichem Druck plötzlich darauf gekommen sind, welche angeblichen Regelungslücken in der Bundesrepublik Deutschland Bonn bestehen.
Das ist die Grundregel, die Frau Limbach schon genannt hat: Wir haben in Deutschland einen Schönwetterföderalismus. Wenn es funktioniert, dann klopfen sich die Bundesländer, und zwar alle, auf die Schulter. Wenn der Blitz einschlägt, dann erinnert man sich plötzlich wieder: Es gibt ja auch noch einen Bundesstaat und Bonn. Meine Damen und Herren, dieses Spiel mache ich nicht mit.
Alle Bundesländer verhindern seit über zehn Jahren ein Krebsregistergesetz. Jetzt hat es Meldungen über angeborene Mißbildungen gegeben. Plötzlich fordert man von Bonn eine Registrierung dieser Fälle. Überall ist es das gleiche. Herr Schäfer, ich sage Ihnen: Wir brauchen nicht neue Gesetze in der Bundesrepublik Deutschland. Die Bundesländer sollten die bestehenden Gesetze richtig anwenden.
Ich erteile das Wort dem Umweltminister des Landes Baden-Württemberg, Harald Schäfer.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Ex-Kolleginnen! Liebe Ex-Kollegen! Der Weg von Stuttgart nach Bonn — so viel kann ich schon jetzt sagen — hat sich gelohnt, jedenfalls für mich. Bereits die bisherige Debatte — zumal der letzte Beitrag, Herr Kollege Seehofer — hat gezeigt, daß es dringend notwendig ist, einige Dinge klarzustellen. Ich kann dies aus Zeitgründen nur in Stichworten tun. Es sind und bleiben Stichworte.Erstens. Die Gesundheit der Bevölkerung hat absoluten Vorrang vor anderen Interessen. Darin sind wir uns, denke ich, einig. Aber genauso falsch, wie irgendein Abwägen in diesem Zusammenhang wäre, ist ein Schüren unbegründeter Ängste.
Was die Vorgänge um den Fall Lindan in Babynahrung angeht, so gehört es in diesem Fall zu einem seriösen Umgang mit den Fakten, festzuhalten, daß zu keiner Zeit irgendeine akute Gesundheitsgefährdung von Kleinkindern gegeben war.
— Ich komme zu den Ländern. Nur zufrieden!Zweitens. Eine lückenlose Kontrolle von Lebensmitteln auf Schadstoffe — es gebietet die Ehrlichkeit, das zu sagen — ist unmöglich.
Lebensmittelüberwachung kann nicht das wiedergutmachen, was z. B. durch falsche EG-Landwirtschaftspolitik oder durch nachlässigen Umgang mit Giftstoffen und Schadstoffen über Jahrzehnte hinweg verursacht worden ist.
Lebensmittelüberwachung kann immer nur Stichproben erheben und konkreten Verdachtsmomenten nachgehen.
In dieser Hinsicht haben die baden-württembergischen Behörden hervorragende Arbeit geleistet. Sie haben, als erste Landesbehörde, schon wenige Wochen
— das sage ich Ihnen doch gleich; hören Sie doch zu —, nachdem im November 1993 die AS-Babykost in Deutschland neu auf den Markt gebracht worden ist, Proben genommen. Sie haben als erste Landesbehörde unserer Lebensmittelüberwachung bundesweit Grenzüberschreitungen festgestellt und veranlaßt, daß mehrere Rückholaktionen durchgeführt worden sind, und diese Rückholaktionen überprüft. Am 11. Januar 1994 ist die erste Überschreitung festgehalten worden. Am 12. Januar 1994, einen Tag später, Herr Kollege Seehofer, haben wir das zuständige Landratsamt im bayrischen Lindau, wo sich der Sitz der Importfirma befindet, informiert. Wir haben am 14. Januar bundesweit Rückholaktionen für alle von Überschreitungen der Grenzwerte betroffenen Gläschen veranlaßt und durchgeführt.Wir haben unmittelbar danach acht weitere Proben genommen und haben in einer Probe weitere Grenzwertüberschreitungen feststellen müssen. Daraufhin ist Lindau erneut informiert worden. Erneut ist eine Rückholaktion durchgeführt und überwacht worden. Beide Rückholaktionen hatten einen Rücklauf von mehr als 90 %. Wenn Sie bedenken, daß die Babynahrung schon vier, fünf, sechs Wochen im Umlauf war, ist anzunehmen, daß ein Teil davon bereits verzehrt worden ist.Wir haben dann, von Januar bis März, aus diesem Babykostsortiment kontinuierlich Proben genommen, haben Ende März zwei weitere Überschreitungen festgestellt, wieder eine umfassende Rückholaktion veranlaßt und durchgeführt.
— Seien Sie doch jetzt einmal still und hören Sie zu! Aber Sie waren schon früher so.
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18892 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. April 1994
Minister Harald B. Schäfer
Drittens. Die baden-württembergische Verwaltung hat, Herr Kollege Seehofer, unverzüglich und umfassend die für den Fall formal zuständigen bayerischen Behörden über die Vorgänge informiert. Ich will kein Schwarzer-Peter-Spiel betreiben. Ich bin hier, um mich der Verantwortung zu stellen. Am 4. Februar hat mein Kollege Glück bzw. sein Ministerium vom Landratsamt Lindau Kenntnis erhalten.Ich sage hier ganz unumwunden: Es wäre besser gewesen — das ist für mich eine Folgerung aus diesem Vorgang —, wenn wir parallel auch die anderen Bundesländer und nicht nur das formal zuständige Bundesland Bayern informiert hätten.
Ich habe veranlaßt, daß das künftig der Fall sein wird.
Viertens. Uns ist vorgeworfen worden, wir hätten falsche Informationspolitik gegenüber den Verbrauchern betrieben, d. h. wir hätten die Öffentlichkeit bereits über die ersten Beanstandungen informieren sollen. Dazu ist folgendes zu sagen: Baden-Württemberg hat als eines der wenigen Bundesländer ein Ausführungsgesetz zum Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz, das die Informationsmöglichkeiten der Behörden ausdrücklich regelt.
— Das haben nicht alle Länder. Das müßten Sie eigentlich wissen, wenn Sie so reden.
— Nein, Herr Bundesminister Seehofer! Zu Ihnen sage ich nachher noch gesondert etwas. — Noch einmal: Dieses Gesetz untersagt beispielsweise Informationen für den Fall, daß das Produkt nicht mehr in den Verkehr gelangt ist und nach der Lebenserfahrung davon auszugehen ist, daß es, soweit es in den Verkehr gelangt ist, bereits verbraucht ist. Ich halte diese Passage, die mir — wie dem ganzen Landtag Baden-Württemberg — erst in diesem Fall in dieser Zuspitzung und konkreten Auswirkung bewußt geworden ist, für überholungsbedürftig. Aber insofern ist es leider nicht möglich, über jede Verunreinigung zu informieren.Jetzt sage ich etwas zu dem Vorgang Olivenöl. Wir, die Lebensmittelüberwachung Baden-Württemberg, haben 60 Sorten Olivenöl überprüft. Bei 53 haben wir Verunreinigungen mit Lösemitteln, mit Toluol, Xylol, sowie, wenn ich mich recht erinnere, bei 13 Verunreinigungen mit Benzol festgestellt. Ich darf, so wie es gegenwärtig aussieht, die Bevölkerung allgemein informieren. Ich darf, so die gegenwärtige Rechtslage, aber nicht die Produkte nennen. Das ist ein Zustand, meine Damen und Herren, der nicht haltbar ist und der geändert werden muß.
Jetzt zu Ihnen, Herr Kollege Seehofer: Ich habe in diesem Zusammenhang mit keiner Silbe auf irgendeinen anderen mit dem Zeigefinger gewiesen.
— Sie haben mich angesprochen. — Ich habe nicht mit einer Silbe gesagt: Der Bund hat seine Hausaufgaben nicht gemacht. Ich habe nicht mit einer Silbe gesagt: Die anderen Länder haben sich genauso verhalten wie wir. Bei Nitratüberschreitungen in der AS-Babykost haben sich andere Länder genauso verhalten wie Baden-Württemberg; sie haben Rückholaktionen veranlaßt, aber die Bevölkerung nicht informiert. Ich habe das doch nicht Bayern oder einem anderen Bundesland vorgeworfen.Ich sage nur — das sind einige der Konsequenzen, die ich jetzt für notwendig halte —: Ich fordere eine Novellierung des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes, die dem Schutz des Verbrauchers und seinen berechtigten Bedürfnissen nach Information mehr Gewicht gegenüber den wirtschaftlichen Interessen von Unternehmen einräumt als bisher.
Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, baldmöglichst eine Änderung des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes vorzubereiten, mit der die öffentliche Warnung in lebensmittelrechtlichen Dringlichkeitsfällen geregelt wird.Das Land Bayern war eines der Länder, die am meisten darauf hingewirkt haben.Ich halte es für notwendig, daß wir rechtlich den Grundsatz verankern, daß auch, was die Informationspflicht der Verwaltungen angeht, im Zweifel der Schutz des Verbrauchers Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen haben muß.
Ich halte es nicht für hinnehmbar, daß ich nicht das Produkt nennen darf, in dem, selbst wenn das nicht gesundheitsgefährdend ist, Lösemittel enthalten sind. Deswegen bin ich nicht erst seit heute dafür, daß der Verbraucherschutz in der Verfassung verankert wird.
Nach geltendem EG-Recht kann der Hersteller der AS-Babynahrung verlangen, daß seine Produkte wieder bei uns auf den Markt kommen. Dies ist geltendes EG-Recht.
— Er kann es verlangen, daß seine Produkte wieder bei uns auf den Markt kommen, auch wenn sie nach deutschem Recht gegen Grenzwerte verstoßen. Warum? Weil diese Produkte in Spanien wie in allen EG-Staaten außer Deutschland keine speziellen Grenzwerte für Babynahrung haben und weil, so die
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Minister Harald B. Schäfer
EU-Auffassung, keine Gesundheitsgefährdung zu erwarten ist.Vor diesem Hintergrund fordere ich die Bundesregierung auf, in Brüssel darauf zu dringen, daß in ganz Europa spezielle Grenzwerte für Babynahrung eingeführt werden, und zwar mindestens diejenigen Grenzwerte, die zur Zeit bei uns gelten.
Der letzte Punkt, aus dem wir gemeinsam Konsequenzen ziehen sollten, ist vielleicht der wichtigste; ich habe ihn schon angesprochen. Es ist eine Illusion, zu glauben, daß Vorgänge, wie wir sie gerade jetzt erlebt haben, für die Zukunft ausgeschlossen sind. Bei den herrschenden Umweltbelastungen ist es völlig unausweichlich, daß immer wieder Schadstoffe in Lebensmitteln auftreten.Dies gilt um so mehr — da sind alle angesprochen: der Bund, auch der Bundestag in seiner Kompetenz, zumal die Bundesregierung —, je stärker sich diejenigen durchsetzen, die Umweltschutz immer noch als irgendein Luxusgut für wirtschaftlich gute Zeiten ansehen.Es ist unerträglich, wenn dieselben Politiker auf der einen Seite eine Atempause für den Umweltschutz fordern und auf der anderen Seite bei den unausweichlichen Konsequenzen einer solchen kurzsichtigen Politik wie bei den Schadstoffen in Lebensmitteln lauthals zu klagen anfangen.
So, meine Damen und Herren, haben wir nicht gewettet.Wer saubere Lebensmittel, wer eine möglichst schadstofffreie Umwelt will, der muß die entsprechenden politischen Maßnahmen ergreifen, auch wenn sie unbequem sind, auch wenn sie Umdenken erfordern, auch wenn sie neue gesellschaftliche Wertentscheidungen verlangen.Was wir uns nicht leisten können, ist eine Umweltpolitik nach dem Motto: Schadstoff der Woche oder Schadstoff des Monats. Was wir brauchen, um mittel- und langfristig solche Vorgänge zu verhindern, ist eine ökologisch orientierte Gesamtpolitik.
Herr Kollege Schäfer!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe noch zwei Sätze. — Verunreinigungen in Lebensmitteln fallen nicht vom Himmel, sondern sie sind schlicht die Folge der Art und Weise, wie bei uns Nahrungsmittel hergestellt werden und wie mit Nahrungsmitteln umgegangen wird. Wir täten gut daran, Vorgänge wie diese zum Anlaß zu nehmen, noch viel konsequenter als bisher eine Politik zu machen, die qualitativ hochwertige Lebensmittel fordert und eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit betreibt.
Wenn wir gemeinsam, jeder in seiner Verantwortung, Herr Kollege Seehofer, diese Konsequenz daraus ziehen würden, dann hätte trotz manchen falschen
Zungenschlags diese Debatte eine positive Konsequenz gefunden.
Frau Kollegin Sigrun Löwisch, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Umweltminister Schäfer, ich habe Sie so verstanden, daß Sie, sobald Sie wieder nach Hause in unser schönes Stuttgart kommen, alles in Bewegung setzen werden, damit die Länder das tun, was sie machen können, nämlich beschließen, daß anders informiert wird. Wir sind beide der Meinung: Es hätte offensiver informiert werden müssen, und das ist — da beißt die Maus keinen Faden ab — Ländersache. Sie freuen sich ja immer darüber, daß die Lander noch soundso viel machen können.
Ergreifen Sie die Gelegenheit! Ich glaube, daß der Koalitionspartner Sie dabei unterstützen wird.
Ich möchte aber heute noch auf etwas anderes aufmerksam machen. Das hat auch sehr viel damit zu tun, wie wir mit dieser Frage umgehen. Natürlich ist es kein Wunder — das ist ganz klar —, daß die Eltern verunsichert sind und das Allerschlimmste befürchten. Die Ängste sind verständlich. Ich glaube, es gibt niemanden in diesem Haus, der das nicht ernst nähme.Das, was in der Regenbogenpresse stand oder im Fernsehen über den Bildschirm lief, kann die Eltern auch zu Folgerungen bringen, die gefährlich sind; mindestens genauso gefährlich wie das, was an Schadstoffmenge in Babykost vorhanden sein könnte. Das Kind würde mit dem Bade ausgeschüttet, wenn Eltern — ich weiß es von Kinderärzten — sagen: Gut, wenn diese Babykost, dieses Gemüse, diese Früchtebreie so gefährlich sind, dann füttern wir das eben nicht mehr. Dann lassen wir es. Wir stellen ganz schnell die Ernährung unseres Babys, unseres Kleinkindes um, und es bekommt eben nun mehr Milchprodukte. Daß dies aber viel gefährlicher als die Gefährdung ist, über die wir heute diskutieren, kann Ihnen jeder sagen.
— Liebe Frau Würfel, wir sind ja auch alle Mütter, und deswegen können wir uns ganz genau vorstellen, was passiert, wenn man die Ernährung eines Babys plötzlich radikal ändert.
Wir wissen doch: Das kann zu Durchfällen und zu allem möglichen führen.Wenn ich im Gespräch mit Kinderärzten höre, daß das eine Gefahr ist, dann sollten wir aus diesem Hause heraus die Eltern warnen: Bitte, seid vorsichtig, schüttet das Kind nicht mit dem Bade aus! Ihr braucht die
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Sigrun LöwischErnährung jetzt nicht zu ändern. Ihr könnt nach wie vor Gemüse, Früchtebrei usw. geben. Das ist das eine.
Das zweite ist: Wir kennen auch einen Trend bei den Eltern — ich finde ihn nicht ganz so gut —, der heißt: Zurück zur Natur, ja keine Chemie! Wir wissen auch von Kinderärzten, die berichten, daß als Folge davon Krankheiten wieder neu auftreten, z. B. Rachitis in verschieden starken Formen aus Vitamin-D-Mangel usw. Dieses Krankheitsbild war praktisch schon verschwunden. Wir kennen neu Eiweißmangel, von Eltern hervorgerufen, die übervorsichtig auf Allergien reagieren, Eisenmangel usw.Jetzt haben wir dazu noch die Diskussion über die Schadstoffe in der Babynahrung. Wir müssen den Eltern auch von dieser Seite aus sagen: Hört nicht auf falsche Propheten, die jetzt über dieses Thema sprechen, sondern geht zum Kinderarzt! Hört auf die Fachleute! Hört auf die Kinderärzte!
— Oh, da muß ich jetzt sagen, daß ich es gern den Kinderärzten weitergebe. Ich habe das von verschiedenen Seiten gehört. Es erschüttert mich etwas, daß auch von der F.D.P. kommt: Die Kinderärzte haben gar keine Ahnung! Dann frage ich Sie: Wer soll denn die Eltern am besten beraten? Sollen die Eltern denn wirklich über die Medien, über die Regenbogenpresse, über das Fernsehen beraten werden? Ist Ihnen das lieber?
— Ich würde sagen, die Kinderärzte sind in dieser Sache immer noch die erste und beste Adresse.
Ich glaube, das ist ein Thema, bei dem wir uns als Politiker nicht profilieren sollten. Wir sollten deswegen nicht Angst und Schrecken hervorrufen, sondern wir sollten ganz sachlich das sagen, was Sache ist, daß eine akute Gefahr Gott sei Dank nicht besteht.Wir sollten auch dafür sorgen — deswegen der Appell an die Bundesländer; ich erwarte, daß dort mehr getan wird als bisher —, daß offensiv informiert wird. Ich denke z. B. an die Vorratshaltung — —
Frau Kollegin, bitte keine weiteren Beispiele mehr. Sie sind am Ende Ihrer Redezeit.
Dann ende ich mit dem nochmaligen Appell an die Länder, das Richtige zum geeigneten Zeitpunkt zu tun.
Herr Kollege Ulrich Heinrich, Sie haben das Wort.
Jetzt kommt nicht der Kinderarzt.Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich teile die Wertung der gesundheitspolitischen Aspekte, die Bundesminister Seehofer hier vorgenommen hat. Ich bin der Meinung, daß unsere Nahrungsmittel insgesamt derzeit unbedenklich sind und ein Niveau an Qualität und an Rückstandsfreiheit haben, wie wir es in der Bundesrepublik Deutschland noch nie hatten.
Der Grenzwert 0,01 mg ist ein frei gegriffener Wert. Das ist gerade noch der Wert, der bei den derzeitigen Analysemethoden nachweisbar ist. Wenn man noch feinere Methoden hat, wird man wahrscheinlich noch mehr finden und nachweisen können. Derzeit können wir nicht mehr nachweisen. Das ist der Punkt.Wir werden in der Zukunft noch häufig mit Dingen, wie wir sie heute diskutieren, konfrontiert werden, nämlich damit, daß die 0,01 mg überschritten worden sind. Das ist nicht deshalb so, weil es gar nicht in unserer eigenen Macht liegt, die Dinge zu regulieren, sondern weil wir in Europa ein riesengroßes Harmonisierungsdefizit haben.
Solange wir die Zulassungspraktiken unterschiedlicher Pflanzenschutzmittel in Europa weiterhin so haben wie derzeit, gibt es überhaupt keine Möglichkeit, im Rahmen des europäischen Binnenmarktes, im Rahmen dessen, was auch an Kontrollen erlaubt ist — es gibt an der Grenze keine Kontrolle mehr, sondern die Kontrollen können nur stichprobenartig vorgenommen werden —, dieses Problem zu lösen.
In Spanien ist die Anwendung von Lindan im Obst- und Gemüseanbau zugelassen. Solange diese Zulassung besteht, können Sie überhaupt nicht garantieren, daß sich nicht auch Spuren von diesem Mittel auf den Nahrungsmitteln befinden. Das haben wir erlebt, und wir werden es auch in Zukunft erleben.Die Frage ist nur: Wie lange können wir den Grenzwert 0,01 mg politisch vertreten, wenn wir auf der anderen Seite die Durchführung nicht garantieren können? Wie glaubwürdig ist dieses Parlament und wie glaubwürdig ist die Europäische Union mit ihrer Gesetzgebung, hier eine entsprechende Durchführung zu gewährleisten?
Das Papier, auf dem 0,01 mg steht, ist geduldig. Aber wie sieht es nachher aus? Wie sieht es in der Produktion aus?
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Ulrich HeinrichIch benutze diese Rede ganz besonders gern dazu, vor Verbrauchern reden zu dürfen, die das politische Amt der verbraucherpolitischen Sprecher innehaben.Ich sage Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt noch eine zweite Seite der Medaille, und das ist die der Produzenten. Die sollten Sie bitte nicht vergessen.
Die Produzenten in der Bundesrepublik Deutschland, für die das strengste Pflanzenschutzmittelgesetz in der ganzen Welt gilt, müssen letztendlich mit ihren Produkten im Wettbewerb gegenüber den im Ausland produzierten Nahrungsmitteln bestehen. Es kommt nicht von ungefähr, daß Billigangebote vom Ausland kommen. Wann werden die verbraucherpolitischen Sprecher und die Verbraucherinformationen auch einmal darauf hinweisen, welche Qualität die deutschen Nahrungsmittel hier in unserem Lande haben?
Ich frage mich schon, warum wir hier von der Vergangenheit reden. Daß hier einiges im argen lag, haben wir gehört. Für mich kommt es darauf an, wie wir die Zukunft gestalten können.
Das können wir mit diesem Gesetz auf keinen Fall. An einem Vorsorgewert von 0,01 mg werden wir uns noch die Zähne ausbeißen, weil er nicht durchsetzbar sein wird, wenn wir nicht gleichzeitig ganz rigide auch in den anderen Bereichen die notwendigen Konsequenzen ziehen.
Hiervon sind wir noch meilenwert entfernt. Wir lügen uns selber in die Tasche, wenn wir glauben, wir könnten jetzt Beispiele nehmen und dann dem Verbraucher suggerieren, er wäre schon morgen erheblich weniger gesundheitlichen Gefährdungen ausgesetzt. Der geforderte Grenzwert von 0,01 mg ist nicht durchsetzbar, nicht machbar!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich sehe hier 0,00. Das ist fast schon der Grenzwert, nur noch der Einser fehlt.
Ich möchte zum Abschluß aber doch noch einmal an Sie alle appellieren, diese Sätze nicht zu vergessen, sondern in Ihrem weiteren Wirken, auch in der Gesetzgebung, diese Dinge mit zu berücksichtigen.Herzlichen Dank.
Herr Kollege Horst Sielaff, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das war eine sehr aufschlußreiche Rede, die wir eben gehört haben. Nur, Herr Heinrich, Sie haben in die falsche Richtung geschaut. Sie sollten nicht zur Opposition schauen, die all dies seit Jahren fordert, sondern in Richtung Bundesregierung. Herr Seehofer, Herr Borchert und Herr Töpfer sind Ihre Ansprechpartner.
Hier schöne Reden zu halten, aber dann nicht zu versuchen, einiges davon auch durchzusetzen, ist nicht ganz redlich.
Das, was Sie, Herr Heinrich, gesagt haben, ist völlig richtig. Ich unterstreiche, daß neben verbraucher-, umwelt- und gesundheitspolitischen Aspekten in dem Fall Pflanzenschutzmittel in der Babynahrung auch ein altrar- und ernährungspolitischer Bezug gegeben ist. Wir fordern ja seit Jahren — und zwar, wie ich hoffe, gemeinsam — qualitativ gute, gesunde und umweltverträglich produzierte Nahrungsmittel.Herr Heinrich, man muß dann aber auch sagen — und das geht dann auch in Ihre Richtung —, daß es den Landwirten in der Vergangenheit oft schwergemacht worden ist, ökologisch einwandfrei zu produzieren und gleichzeitig ein ausreichendes Einkommen zu erzielen.Im vorliegenden Fall hat die Firma Schiecker mit ausländischen Produkten zu Dumpingpreisen massiv einheimische Produkte aus dem ökologischen Landbau aus den Regalen vertrieben. Dies, Herr Seehofer, ist in der Tat kein Grund zur Verharmlosung.
— Nein, ich komme darauf. Auch innerhalb der EG, innerhalb der Kommissionen sind nicht die Länder diejenigen, die das durchsetzen können. Die Vertreter der Bundesregierung sitzen in den Kommissionen und nicht die der Länder.
Ich glaube, da muß der Adressat richtig benannt werden.
Ich halte es für eigenartig, wenn gesagt wird, man wolle das, wenn aber innerhalb der EU-Kommissionen praktisch keinerlei Durchsetzungkraft erkennbar ist.Alle Versuche, die Förderung ökologischer Produktionsmethoden zu intensivieren und somit Anreize für den ökologischen Anbau zu schaffen, werden durch solche Fälle wie den Fall Schiecker zunichte gemacht und gefährden den in Zuwachs begriffenen ökologischen Landbau.
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Horst SielaffDas ist gegen die Interessen der Verbraucher, meine Damen und Herren, genauso aber auch gegen die Interessen der Landwirte.Die Verbraucher sollten — da bin ich mit Ihnen, Herr Heinrich, auch einig; Sie haben das angedeutet — bei extrem preisgünstigen Agrarprodukten skeptisch bleiben. Umweltverträglich erzeugte und qualitativ hochwertige Produkte können unter einem gewissen Preis nicht produziert werden. Insofern sollte man immer skeptisch sein, wenn Dumpingpreise erkennbar sind.
Ein Zweites: Wir fordern seit Jahren — der Ernährungsausschuß sogar einstimmig; Sie haben es eben angesprochen, Herr Heinrich —, daß zumindest die deutschen Standards im Pflanzenschutz EU-weit gelten müssen und weltweit eingeführt werden sollen. Das in den Gläschen gefundene Lindan ist bei uns in Deutschland — darauf wurde hingewiesen — nicht zugelassen, in anderen EU-Ländern aber eben doch. Ich meine schon, daß die Vertreter der Bundesregierung diesen Skandal zum Anlaß nehmen müssen, um innerhalb der EU verstärkt und massiv darauf zu drängen, daß wir endlich einheitliche Pflanzenschutzrichtlinien bekommen.
Ich möchte als letztes auf ein Weiteres hinweisen, und zwar auf die strangulierende Wirkung der Konzentration bei den Handelsketten. Ihre marktbeherrschenden Stellungen haben ein, wie ich meine, bedrohliches Ausmaß erreicht. Erzeuger und Verbraucher von Lebensmitteln sind einer solchen Marktmacht geradezu ausgeliefert. Auch hier sollte sich die Bundesregierung einmal Gedanken machen, wie sie diesen Bestrebungen begegnen kann — wenn sie es wirklich will —, anstatt bei solchen Skandalen unsere seit Jahren vorgebrachten Forderungen theoretisch zu unterstützen.Einen letzten Satz: Für mich haben diese Ereignisse ein Gutes. Zum einen wurden die Verbraucher deutlich damit konfrontiert, wohin die Dumpingpreise führen können. Zum anderen hat der umweltschonende Landbau damit ohne sein eigenes Zutun die bestmögliche Werbung erhalten. Ich hoffe, daß dies auch bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern richtig ankommt.
Das Wort hat die Kollegin Anneliese Augustin.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! In der Gesundheitsfürsorge für unsere Mitbürger lassen wir uns von niemandem übertreffen.
In der Lebensmittelüberwachung legen wir strengsteMaßstäbe an. Dies gilt insbesondere für die Ernährungunserer Kleinkinder und Babys. Deswegen haben wirin der Babynahrung Grenzwerte vorgeschrieben, die in ihrer Tendenz gegen Null streben.
Zu Recht reagieren wir auf Überschreitungen dieser Grenzwerte. Es ist aber auf keinen Fall richtig, in Panik und Hysterie zu verfallen, wenn diese Grenzwerte geringfügig überschritten werden. So wäre es z. B. falsch, wenn nun verängstigte Mütter — vielleicht gehen auch einmal Väter einkaufen — Obst und Gemüse auf dem Markt einkaufen und versuchen, selbst die Babynahrung herzustellen. Denn es ist sehr wahrscheinlich, daß das, was auf dem Markt eingekauft wird, einen höheren Rückstand an Pestiziden hat als das, was in der industriellen Fertigung fachmännisch hergestellt wird.
Die SPD, Herr Lennartz, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die PDS und selbsternannte Umweltschützer proben heute zum soundsovielten Male den Akt der allgemeinen Verunsicherung —
wie ich meine, auf schwankenden Brettern, weil der Anlaß lediglich eine geringfügige Überschreitung des Grenzwertes an Lindan, einem zyklischen, chlorierten Kohlenwasserstoff, in der Babynahrung eines Herstellers ist.
Der Hersteller hat sein Produkt zurückgezogen. Nicht genug damit, andere Babykosthersteller haben, obwohl ihre Präparate nicht belastet sind, sofort weitere Vorsichtsmaßnahmen ergriffen.Wenn der BUND heute in einer Presseerklärung die Bundesländer auffordert, pestizidfreie Babykost durchzusetzen — und das ist auch in diesem Hause heute schon mehrfach angeklungen —, dann hört sich das zwar gut an, aber geht an den realen Möglichkeiten vorbei. Lindan, ein übrigens nicht krebserregendes Insektizid mit einer erfreulich kurzen Halbwertzeit von drei bis vier Tagen, ist ubiquitär, d. h. überall, sogar in der Erdatmosphäre, vorhanden. Es gibt also quasi keinen lindanfreien Raum.Dann müssen Sie einmal, Herr Lennartz, das Rezept sagen, wie man dann lindanfrei produzieren kann.
Ihre Forderung, Herr Lennartz, die auch Frau Wollenberger äußerte — sie ist aber schon verschwunden —, nach absolut insektizidfreien Erzeugnissen zeugt von erheblicher naturwissenschaftlicher Unkenntnis.
Unser Auftrag ist es, Grenzwerte festzulegen, die weit unterhalb der Grenze einer denkbaren Schädigung liegen. Dieser Aufgabe ist die Bundesregierung
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Anneliese Augustinwie immer in hervorragender Weise nachgekommen.
Die Aufgabe der Bundesländer ist es, dies zu überwachen. Und ich stelle fest, daß die Lebensmittelchemiker in den Ländern dieser Aufgabe in hervorragender Weise nachgekommen sind.Sie, meine Damen und Herren, scheinen es als Ihre Aufgabe anzusehen, unsere jungen Mütter zu verunsichern und sie damit zu unkontrollierbaren Fehlleistungen zum Schaden der Kinder zu veranlassen.
Das Wort hat die Kollegin Lieselott Blunck.
Frau Kollegin Blunck, wenn Sie liebenswürdigerweise vielleicht den Herrn Bundesgesundheitsminister nicht zu sehr reizen; er macht sonst Zwischenrufe, und ich habe keine Ordnungsgewalt über ihn.
Soll ich ihm jetzt Dispens erteilen, daß er bei mir gerne Zwischenrufe machen kann, wenn Sie das erlauben?Ich wollte ihn eigentlich überhaupt nicht reizen; denn ich finde, er hat genug zu tun, sich nun allmählich mit seiner Kollegin zu einigen, die vorhin geredet hat. Er will warnen, sie sagt aber, es ist alles ganz harmlos, das braucht er eigentlich nicht. Ich denke, da soll er zuerst anfangen, sich zu einigen. Darüber gibt es ja Streit.Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute haben wir Milbenkiller im Reisbrei, Lindan in der Gemüsesuppe, gestern hatten wir Glykol in Gummibärchen, und übermorgen haben wir Hormone im Kalbfleisch. Ständig hecheln wir neuen Versäumnissen, Manipulationen und Betrügereien hinterher. Dabei geht es nicht darum, den Lebensmittelskandal des Monats aufzuspüren und zu eliminieren. Was wir brauchen, ist eine Gesamtsicht zum Schutze der Gesundheit, der Umwelt und der Verbraucher.
Seit Jahren fordert die SPD einen vorsorgenden Verbraucherschutz. Sicherheit und Gesundheit der Verbraucher müssen integraler Bestandteil jeglicher wirtschaftlicher Aktivität werden.
Schadensvermeidung muß Vorrang vor nachträglicher Schadensbegrenzung oder Schadensbehebung haben.
Ich hätte es daher begrüßt, wenn der Verbraucherschutz in die Verfassung aufgenommen worden wäre. Das Grundgesetz begünstigt nämlich einseitig die Produzenten, die Anbieterseite. Marktwirtschaft setzt aber immer Marktgeschehen voraus, und das kann nur erfolgen, wenn beide Teilnehmer am Markt über die gleichen Chancen verfügen. Hätte der Verbraucherschutz heute Verfassungsrang, um die Sicherheit unserer Produkte stünde es dann bestimmt besser, und die Arbeit der zuständigen Kontrollbehörden wäre sicherlich auch einfacher.Seit Jahren fordern wir Sozialdemokraten auch für die Lebensmittelproduktion die konsequente Durchsetzung von Kennzeichnung, von Haftung und Kontrolle. Wir fordern, daß die Herkunft angegeben wird. Wir fordern, daß der Inhalt angegeben wird.
Wir fordern, daß die Herstellungsart angegeben wird. Herr Seehofer, das sind Sachen, die Ihnen im Bundestag ständig auf den Tisch flattern.
Sie verharmlosen, Ihre Staatssekretärin verharmlost.Nur wenn dies endlich verwirklicht wird, haben wir die Garantie, daß unsere Lebensmittel tatsächlich Mittel zum Leben und Gesundheitsgefährdungen wie im aktuellen Fall nicht zu befürchten sind.Das bedeutet Ausweitung der Produkthaftung und begleitende Risiko- und Sicherheitsforschung.
Das bedeutet Festlegung einheitlicher europäischer Grenzwerte. Ich denke einmal, Sie sind im Juli an der Reihe, dem Rat vorzusitzen; da könnten Sie das j a alles schaffen. Also, ich wünsche Ihnen das Beste und stärke Sie, damit es also wirklich gutgeht. Das bedeutet Mindestanforderungen für Kontrolle in der Europäischen Union, und das bedeutet einheitliche Vorschriften für eine rechtzeitige Warnung der Bevölkerung beim ersten Auftreten von Verdachtsmomenten.
Es kann doch nicht angehen, daß in dieser Republik 16 unterschiedliche Ausführungsgesetze eine europaweite Produktflut regulieren sollen.
Das müssen wir dringend in Ordnung bringen. Da hat natürlich die Bundesregierung Koordinationspflichten. Die hat sie bisher nicht wahrgenommen. Die Bundesregierung steht in der Verantwortung, hier endlich tätig zu werden und ein Gesetz für öffentliche Warnung zu erlassen.
Dabei muß sichergestellt sein, daß zumindestens in so sensiblen Bereichen wie Babynahrung schon die Überschreitung von Grenzwerten es rechtfertigt, den Namen des Herstellers in der Öffentlichkeit bekanntzumachen.
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18898 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. April 1994
Lieselott Blunck
Ich denke, auch Händler und Produzenten sind gut beraten, diese Forderungen zu unterstützen. Hohe Verbraucherstandards sind allemal auch ein Vorteil gegenüber dem Mitbewerber am Markt und sollten für einen ehrbaren Kaufmann eigentlich selbstverständlich sein.Die Lebensmittelkontrolleure können die Probleme allein nicht lösen. Sie sind hochmotiviert, gut ausgebildet, nur leider unterbezahlt
und auch noch schlecht ausgerüstet. Ihnen möchte ich an dieser Stelle für ihre nicht immer leichte Arbeit ganz besonders herzlichen Dank sagen.
Herr Kollege Dr. Walter Franz Altherr, Sie haben als letzter das Wort in dieser Aktuellen Stunde.
Herr Präsident! Sie haben mich überrascht. Ich war noch nicht auf meinen Auftritt gefaßt.
Das Thema ist ja nicht dazu geeignet, daß man aus dem Stegreif darüber referiert.
Ich möchte eingangs auf die Frau Kollegin Blunck eingehen. — Frau Kollegin Blunck, es würde Ihnen gut anstehen, einmal zuzuhören.
Verzeihung, Herr Kollege Altherr. Ich gebe mir nicht nur Mühe, mit Bemerkungen die Bundesminister von Zwischenrufen fernzuhalten, sondern ich versuche auch einen Dreh zu finden, Herr Kollege Schäfer, Sie davon abzuhalten.
Aber nein, wir sind ja heute nachsichtig.Frau Kollegin Blunck, Sie haben vorhin eine Aussage gemacht, die ich so nicht stehenlassen kann. Ich glaube, auch im Interesse aller Ärzte, die im Bundestag leider nicht so zahlreich vertreten sind, kann das in dieser Form nicht stehenbleiben. Sie haben gesagt, die Kinderärzte hätten keine Ahnung von der Babyernährung. Ich will Ihnen auch die faire Chance geben, das zurückzunehmen und zu sagen: Ich habe es nicht so gemeint. Dann können wir uns ja einigen.
— Herr Sielaff, bitte jetzt nicht ablenken.Mich hat doch überrascht, — wir waren insgesamt überrascht —, daß die Diskussion von seiten der SPD mit Herrn Lennartz eröffnet wurde. Wir waren insgesamt auch darüber überrascht, daß dieses Thema anscheinend eine Domäne der Umweltpolitiker in der SPD-Fraktion ist. Denn der Gesundheitsaspekt kamgar nicht zum Tragen. Anscheinend ist das Problem in Ihren Augen mehr ein Umweltproblem, also ein ökologisches Problem, ein ideologisches Problem, als ein Gesundheitsproblem.
Ich glaube, in der Rednerliste, d. h. bei der Auswahl der Referenten hätte es seinen Niederschlag finden können, daß Sie der Gesundheit den entsprechenden Stellenwert zukommen lassen.
Herr Lennartz, Sie haben ja vorhin die Chance gehabt, Ihre Kenntnisse der Umwelt und der Gesundheit darzulegen. Ich muß Ihnen ganz im Vertrauen und kollegial sagen: Die SPD wäre besser beraten gewesen, mit einem kompetenten Gesundheitspolitiker den Reigen zu eröffnen. Soviel dazu.Herr Umweltminister Schäfer, Sie haben gesagt: Die Fahrt nach Bonn hat sich gelohnt. Die Fahrt lohnt sich für Länderminister immer, wenn sie nach Bonn kommen. Ich hoffe nicht, daß Sie Befürchtungen hatten, daß es ein Gang nach Canossa für Sie werden könnte. So ist es ja nicht gewesen. Aber dennoch: Es war verwunderlich, daß Sie hier den Auftritt benutzt haben, um uns Ihre formaljuristische Unschuld darzustellen.
Das war ja gar nicht gefordert von Ihnen.
Sie haben ja dargelegt, daß Sie, formaljuristisch konsequent, die Untersuchung durchgeführt haben. Der einzige Vorwurf, den ich an Sie habe — den hätte Herr Lennartz an Sie richten müssen —: Sie haben zwar den Landrat in Lindau informiert, aber nicht den Landrat im Erftkreis. Das war Ihr Fehler.
Hätten Sie das getan, hätten Sie sich in den eigenen Reihen einigen Unmut erspart.
— Ich bin Pfälzer.Frau Kollegin Höll, auch Sie kommen jetzt an die Reihe. Wir machen das jetzt schön der Reihe nach durch. Ich habe ja nun die Chance als letzter Redner.Es ist doch verwunderlich, daß gerade Sie, die Sie der PDS angehören, die Sie aus der früheren DDR kommen, sich hier aufspielen als Wächterin der Gesundheit und der Umwelt. Ich möchte Sie einmal fragen, wie weit denn die Aktivitäten der früheren DDR bezüglich der Nitratbelastung des Trinkwassers gegangen sind.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. April 1994 18899
Dr. Walter Franz AltherrIch glaube, Sie hätten genügend Gelegenheit gehabt, schon damals Ihr umweltpolitisches Engagement zu zeigen.
— Gut, das freut uns. Wollen wir hoffen, daß Sie lernfähig bleiben.Der Kollege Sielaff hat sich natürlich insofern ganz elegant aus der Affäre gezogen, als er als agrarpolitischer Sprecher bewußt nur ein schmales Spektrum abgehandelt hat. Er hat das hier mehr in einem Dialog mit seinem Kollegen Heinrich getan.
— Herr Sielaff, Sie beide unterscheidet nur eines: Der Herr Heinrich ist Praktiker, und Sie sind Theoretiker. Sie sind da sehr wohl bewandert, aber wissen Sie, es fehlt dann eben doch der Bezug zur Praxis.
Ich will es damit bewenden lassen.
Noch kurz zu dem Thema: Was bedeuten denn Grenzwerte? Grenzwerte wurden auf Grund von empirischen Erfahrungen festgelegt, indem man von dem ausging, was man im täglichen Gebrauch über einen längeren Zeitraum festlegt. Man hat eine riesige Sicherheitsspanne gewählt, weil letztendlich molekularbiologisch die toxikologischen Schäden einer Grenzwertfestlegung bis heute nicht beweisbar sind. Wir haben schon von Herrn Heinrich gehört, daß allein schon die Analyse Probleme macht. Ob es nun massenspektrometrisch oder gas chromatographisch erfolgt, wir haben Probleme bei der Analyse dieser kleinsten Mengen.Da beginnt schon die Unsicherheit. Das hat sich auch in dem Beispiel Milupa gezeigt.
Das Öko-Institut hat eine Überschreitung der Grenzwertbelastung festgestellt, die Untersuchung des anderen Instituts hat das korrigiert. Ich will also vor der Gläubigkeit an Grenzwerte warnen.Herr Lennartz, wir leben leider — Frau Würfel hat es schon gesagt — auf einer Erde, die von Schadstoffenbelastet ist. Das ist richtig. Es ist unser aller Auftrag — gerade der der Politik als Fürsorgeinstanz gegenüber den Bürgern —, diese Belastung soweit wie möglich ist zu reduzieren.
Schon die Ärzte im Altertum haben gewußt, daß letztendlich alles eine Frage der Dosierung ist. Das gilt auch für Schadstoffe.
Herr Kollege Altherr, werfen Sie bitte einen Blick auf das rote Licht.
Herr Präsident, Sie haben mich mitten aus meinen Träumen aufgeschreckt. Ich bin Ihnen dennoch dankbar, daß Sie mir noch das letzte Wort gelassen haben.
Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist hilfreich, wenn wir solche Probleme sachlich diskutieren. Letztendlich zeigt es die Effizienz der Kontrollinstitutionen und auch der Gesetze, daß wir so viele angebliche Skandale aufdecken. Denn andernorts wird nichts aufgedeckt; dort gibt es keine Kontrollen. Das ist eben der Unterschied zur Bundesrepublik Deutschland.
Ich wünsche mir, daß unsere scharfen, stringenten Vorschriften als EG-harmonisierungswürdig erachtet werden.
Danke schön.
Die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, 14. April 1994, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.