Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Gruppe der PDS/Linke Liste: Haltung der Bundesregierung zur Bedeutung der Braunkohle im Rahmen ihres Energiekonzepts vor dem Hintergrund von unmittelbar bevorstehenden Schließungen von Tagebaurevieren in den neuen Bundesländern und der anstehenden Eröffnung neuer Tagebaureviere in Nordrhein-Westfalen
2. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Haltung der Bundesregierung zur Einlagerung radioaktiver Abfälle in das Endlager für schwach- und mittelradioaktiver Abfälle Morsleben
3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rolf Olderog, Wilfried Bohlsen, Wolfgang Börnsen , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Michaela Blunk (Lübeck), Dr. Eva Pohl, Dr. Olaf Feldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Urlaubs- und Freizeitmöglichkeiten für behinderte Menschen — Drucksache 12/6290 —
4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Änderung des § 19 des Ausländergesetzes — Drucksache 12/6291 —
5. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des EG-Ausschusses zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament: Entschließung zur Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips — Drucksachen 12/4054, 12/6256 —
6. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des EG-Ausschusses zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament: Entschließung zum freien Personenverkehr gemäß Artikel 8a des EWG-Vertrags und zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament: Entschließung zum freien Personenverkehr gemäß Artikel 8 a — Drucksachen 12/5173, 12/5534, 12/6257 —
7. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des EG-Ausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Arbeitsprogramm der Kommission für 1993-1994 — Drucksachen 12/5190 Nr. 2.13, 12/6258 —
8. Beratung der Beschlußempfehung und des Berichts des Finanzausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Mitteilung der Kommission an den Rat und Vorschlag für einen Beschluß des Rates zur Gewährung einer Bürgschaft der Gemeinschaft an die
Europäische Investitionsbank für etwaige Verluste aus Darlehen für Vorhaben in Albanien — Drucksachen 12/4797 Nr. 3.2, 12/6259 —
9. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament: Entschließung zum Zahlungsverkehr Im Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion — Drucksachen 12/4505, 12/6260 —
10. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Der Europäische Investitionsfonds (EIF)
— Vorschlag für einen Zusatz zu dem Protokoll über die Satzung der Europäischen Investitionsbank, mit dem der Rat der Gouverneure der EIB zur Errichtung des Europäischen Investitionsfonds ermächtigt wird
— Vorschlag für einen Beschluß des Rates über die Mitgliedschaft der Gemeinschaft im Europäischen Investitionsfonds
— Drucksachen 12/4555 Nr. 2.6, 12/6261 —
11. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
— Mitteilung der Kommission zu den Interventionen der Europäischen Investitionsbank in den mittel- und osteuropäischen Ländern
— Vorschlag für einen Beschluß des Rates über eine Garantieleistung der Gemeinschaft für etwaige Verluste der Europäischen Investitionsbank aus Darlehen für Vorhaben in den mittel- und osteuropäischen Ländern — Drucksachen 12/5662 Nr. 3.4, 12/6265 —
12. Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/Linke Liste: Forderungen an die künftige Europapolitik der Bundesregierung — Drucksache 12/6282 —
13. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Rechtsakt vom 25. März 1993 zur Änderung des Protokolls über die Satzung der Europäischen Investitionsbank — Drucksachen 12/5941, 12/6300 —
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Handels- und Lohnstatistikgesetzes — Drucksachen 12/5886, 12/6309 —
16958 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Vizepräsident Hans Klein
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit es bei einzelnen Punkten der Tagesordnung und der Zusatzpunktliste erforderlich ist, abgewichen werden.
Darüber hinaus ist vereinbart worden, die Tagesordnungspunkte 18a, 18b und 18e abzusetzen. Die Punkte ohne Aussprache werden heute im Anschluß an die Aktuelle Stunde aufgerufen.
Weiter mache ich darauf aufmerksam, daß die Plenarsitzung am morgigen Freitag erst um 9.30 Uhr beginnt, und zwar vereinbarungsgemäß zuerst mit Tagesordnungspunkt 16 — zweite und dritte Beratung des Sozialgesetzbuches —, dem sich Tagesordnungspunkt 15 — die Europadebatte — anschließt.
Sind Sie damit einverstanden? — Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:
a) Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
— Drucksachen 12/4610, 12/5015 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 12/6280 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Rupert Scholz Ludwig Stiegler
b) Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Eisenbahnwesens
— Drucksachen 12/4609 , 12/5014 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
— Drucksache 12/6269 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Daubertshäuser Roland Kohn
bb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 12/6270 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Ernst Waltemathe Wilfried Bohlsen
Werner Zywietz
Zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. vor. Zum Eisenbahnneuordnungsgesetz liegen zwei Änderungsanträge und ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. vor.
Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die Aussprache über den Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Grundgesetzes namentlich abstimmen werden. Dies dürfte Viertel nach elf, halb zwölf der Fall sein.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. — Dagegen erhebt sich offensichtlich kein Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, erhält der Berichterstatter Klaus Daubertshäuser das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das gestrige Gespräch der Ministerpräsidenten beim Bundeskanzler hat im Ergebnis Präzisierungen erbracht. Diese Präzisierungen beziehen sich auf folgende Punkte:
Erstens. Die Regionalisierung wird um ein Jahr von 1995 auf 1996 verschoben. Dies bedeutet dann auch eine Verschiebung des Inkrafttretens des Personenbeförderungsgesetzes auf den 1. Januar 1996.
Zweitens. Artikel 106a des Grundgesetzes erhält eine Fassung, wonach den Ländern aus dem Steueraufkommen des Bundes für Zwecke des ÖPNV Mittel zustehen. Im Regionalisierungsgesetz erfolgt dann der Hinweis darauf, daß diese Mittel aus dem Mineralölsteueraufkommen zu erbringen sind.
Drittens. Die Ausgleichszahlungen des Bundes für 1996 werden von 8,2 auf 8,7 Milliarden DM erhöht.
Viertens. Die Revisionsklausel zur Dynamisierung wird um ein Jahr verschoben und kommt somit im Jahre 2001 mit Wirkung zum Jahre 2002. Die Einzelheiten der Berechnungsgrundlage, d. h. der Hinweis auf die Finanzkraft von Bund und Ländern, wurden komplett gestrichen.
Im Hinblick auf die Absicherung der Altlastenregelung für die Deutsche Reichsbahn wird zusätzlich ein Entschließungsantrag vorgelegt. Für den S-BahnVerkehr in Berlin, der durch den Mauerbau unterbrochen wurde, werden in den Jahren 1996 und 1997 vom Bund jeweils zusätzlich 100 Millionen DM bereitgestellt.
Diese Präzisierungen haben ihren Niederschlag in zusätzlichen Anträgen der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und F.D.P. gefunden; diese liegen Ihnen auf den Drucksachen 12/6311, 12/6312 und 12/6313 vor. Ich bitte Sie jedoch um eine redaktionelle Korrektur. In der Drucksache 12/6312 sind in Art. 4, Regionalisierungsgesetz, § 5 Abs. 2 Satz 2 die Worte „nach Satz 1" zu streichen.
Mit diesen Präzisierungen ist nunmehr sichergestellt, daß die Ergebnisse des Ministerpräsidentengespräches beim Bundeskanzler in unser Gesetzgebungsverfahren Eingang finden. Es war eine sehr hektische und fast eine stürmische Nacht. Ich möchte ganz herzlichen Dank sagen an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verkehrsministeriums und der Fraktionen, die es möglich gemacht haben, daß Ihnen
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16959
Klaus Daubertshäuser
allen diese Ergebnisse heute morgen in der Form eines Gesetzentwurfs vorliegen.
Herzlichen Dank.
Ich eröffne die Aussprache. Ich erteile das Wort unserem Kollegen Dr. Dionys Jobst.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Für die deutsche Verkehrspolitik bringt der heutige Tag eine geschichtliche Stunde. Mit der Bahnstrukturreform wird ein Werk auf den Weg gebracht, das in der deutschen Verkehrsgeschichte beispiellos ist. Der Deutsche Bundestag beschließt heute die größte Privatisierungsaktion, die es jemals gegeben hat. Ich darf daran erinnern, daß wir gerade bei der Privatisierung im Verkehrsbereich in dieser Legislaturperiode sehr erfolgreich waren. Ich erinnere an die Privatisierung der deutschen Flugsicherung; ich erinnere an die Privatisierung der Gesellschaft für Nebenbetriebe der Bundesautobahnen, die jetzt umgesetzt wird.
Mit der Reform der Bahn aber beginnt heute ein neues Eisenbahnzeitalter. Diese Reform ist ein Teil des Verkehrskonzepts zur Bewältigung der verkehrspolitischen Herausforderungen, vor denen wir stehen. Vor zehn oder fünf Jahren wäre eine Privatisierung der Bahn unmöglich, undenkbar gewesen. Heute haben wir erfreulicherweise einen breiten Konsens in unserer Gesellschaft bis in die Reihen der Eisenbahner hinein. Dies zeugt davon, daß die Bahnstrukturreform richtig ist.
Die verkehrspolitischen Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, erfordern eine andere, erfordern eine neue Bahn, die leistungsfähiger ist, die mehr Verkehr bewältigt und die weniger kostet. Wir wollen keinen Abbau von Arbeit bei der Bahn; wir wollen höhere Verkehrsleistungen der Eisenbahn.
Die Bahn steht im Wettbewerb mit anderen Verkehrsträgern und mit anderen Eisenbahnen in Europa. Diesen Wettbewerb kann keine Behördenbahn bestehen mit einer Infrastruktur aus dem letzten Jahrhundert, mit einer veralteten Organisation aus der Zeit, als die Bahn noch eine Monopolstellung hatte.
Die Strukturreform, meine Damen und Herren, nimmt die behördlichen und öffentlich-rechtlichen Bremsklötze endlich von den Schienen und bringt die unternehmerische Bahn. Die Bahn muß wieder ihre Rolle als leistungsfähiger und umweltfreundlicher Verkehrsträger wahrnehmen können. Die Bahn hat nicht mehr die dominierende Rolle im Verkehr, die sie einmal gehabt hat. Ihr Anteil an den Verkehrsleistungen beträgt im Personenverkehr nurmehr 6 %, im Güterverkehr 22 %. 1992 hat die Deutsche Bundesbahn nurmehr 250 Millionen Tonnen Güter befördert; dies ist das niedrigste Ergebnis seit den 50er Jahren.
Die Finanzsituation der Bundesbahn und der Reichsbahn ist fatal. 1993 werden beide Bahnen einen Verlust von 16 Milliarden DM einfahren, bei einer Bundesleistung von 23 Milliarden DM. Die Verschuldung wird heuer 67 Milliarden DM erreichen, obwohl die Altschulden 1992 im Betrage von 12,5 Milliarden DM auf den Bundeshaushalt übernommen wurden.
Sind diese Zahlen schon alarmierend, so würde eine dramatische Verschlechterung der Finanzsituation bei der Bahn eintreten, wenn nichts geschieht. Die Verschuldung, so wird prognostiziert, würde in den nächsten zehn Jahren über 380 Milliarden DM ansteigen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine solche Bahn wäre nicht mehr bezahlbar, sie würde den Haushalt sprengen. Die Folge wäre eine Schrumpfbahn mit erheblichen Nachteilen für die Bürger und auch für die Länder. Eine solche Bahn wollen wir nicht, und deshalb ist die Reform der einzige Weg, den finanziellen Niedergang der Bahn zu stoppen.
Für diese Bahnreform ist es daher höchste Eisenbahn. Wir brauchen einen Neubeginn auf einer neuen Grundlage. Wir müssen Verkehr auf die Schiene umlenken, um als zentrales Durchgangsland in Europa eine Verkehrskatastrophe auf unseren Straßen zu vermeiden. Deshalb ist für uns die Bahn Hoffnungsträger beim Verkehr, auch was die Erfordernisse für die Umweltbelange angeht. Schwere Transporte auf weiten Entfernungen gehören auf die Schiene. Die europäischen Zentren müssen mit Hochleistungsstrecken verbunden werden, und deshalb muß die Eisenbahn auch eine europäische Ausrichtung erhalten.
Ein Eckstein der Bahnstrukturreform ist die Regionalisierung des öffentlichen Schienenpersonennahverkehrs. Wir brauchen hier überzeugendere Angebote in den Ballungsräumen, aber auch in der Fläche. Unsere Städte müssen wieder lebenswerter werden. Die Chance, den öffentlichen Personennahverkehr zu verbessern, besteht nur über die Regionalisierung. Vor Ort kann am besten entschieden werden, was notwendig ist, was sinnvoll ist und was zugleich finanzierbar ist. Dies bedeutet, daß die Entscheidungsverantwortung und die Finanzverantwortung bei den Ländern und Kommunen liegen müssen.
Wenn es um Geld geht, ist der Appetit natürlich sehr groß. Der Kollege Daubertshäuser hat als Berichterstatter die letzten Ergebnisse eben vorgetragen. Wir freuen uns, daß die letzten Stolpersteine endlich weggeräumt werden konnten und die Vernunft jetzt endlich gesiegt hat.
Die Bahnreform, meine Damen und Herren, durfte kurz vor dem Ziel nicht mehr scheitern. Die Länder erhalten feste Beträge, und ich glaube, der Bund ist mit seinem Angebot sehr weit entgegengekommen.
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Dr. Dionys Jobst
Entscheidend ist aber für uns — dies kann nicht deutlich genug unterstrichen werden —, daß es jetzt möglich ist, enorme Investitionen in den öffentlichen Schienennahverkehr zu geben, wie sie bisher nicht möglich gewesen sind. Dies geht zum Vorteil der Kommunen, und dies dient auch unseren Bürgern. Vor allem ist es wichtig, daß nach dem Schienenwegeausbaugesetz in den nächsten neun Jahren 2,7 Milliarden DM Investitionsmittel zweckgebunden für den öffentlichen Personennahverkehr verwendet werden.
Meine Damen und Herren, die künftige Bahn ist eine unternehmerische Bahn. Dies bedeutet ihre Privatisierung, und deshalb muß das Grundgesetz geändert werden. Dies bedeutet die Befreiung von den Schulden und von den Altlasten, die bisher entstanden sind, und dies bedeutet auch die Abschaffung des öffentlichen Dienstrechts. Nur wenn die Eisenbahn vom überkommenen Haushalts- und Dienstrecht frei ist, kann sie auf dem Markt kaufmännisch agieren.
Der Vorstand der Bahn AG kann künftig unternehmerisch handeln. Dies bedeutet aber auch die volle unternehmerische Verantwortung. Ein Rückzug der Bundesbahnführung auf die Politik ist ihr insoweit nicht mehr möglich. Die Bahn AG wird Eigentümerin des Schienenweges, der Staat zieht sich aber aus sener gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung nicht zurück.
Die Eisenbahn ist für uns volkswirtschaftlich unverzichtbar. Deshalb behält der Bund die Verantwortung für die Schieneninfrastruktur. Alle künftigen Investitionen in den Fahrweg werden durch den Bund durch zinslose Darlehen oder durch Baukostenzuschüsse finanziert. Der Fahrweg ist nämlich die teuerste Angelegenheit bei der Bahn. Der Anteil der Fahrwegkosten an den Gesamtkosten beträgt beim Lkw 7 %, bei der Binnenschiffahrt 0,7 %, bei der Eisenbahn aber 34 %.
Die zentrale Aufgabe der künftigen Unternehmensführung wird sein, die Wettbewerbsfähigkeit der Eisenbahn zu stärken. Die Bahn braucht gleiche Wettbewerbsbedingungen.
Deshalb bleibt die Politik weiter gefordert, und wir bleiben in der Verantwortung. Wir als Verkehrspolitiker werden uns vom Thema Bahn nicht verabschieden. Wir werden uns damit zu befassen haben, was die Bahn als Unternehmen und als wichtiger Verkehrsträger leisten kann und was sie in Zukunft leisten muß.
Meine Damen und Herren, es ist prognostiziert, daß die Bahnreform den Haushalt in den nächsten zehn Jahren um 100 Milliarden DM entlasten wird. Niemand kann heute mit Sicherheit sagen, ob dieses große Ziel voll erreicht wird. Dennoch meine ich: Der Weg ist richtig, wir müssen diesen Weg beschreiten.
Die Bahnreform ist notwendig geworden im Interesse unserer Wirtschaft, im Interesse unserer Gesellschaft, im Interesse der ländlichen Räume, aber auch im Interesse der Eisenbahner. Wir brauchen wieder Zukunftsperspektiven für unsere Eisenbahner. Unsere Eisenbahner brauchen sich mit ihren Leistungen nicht zu verstecken. Die Eisenbahn hat zu allen Zeiten hervorragende Mitarbeiter gehabt. Diese Mitarbeiter waren stets ein wichtiges Kapital bei der Bahn. Der Abwärtstrend muß gestoppt werden; es muß wieder aufwärtsgehen, auch für unsere Eisenbahner.
Für die Mitarbeiter der Bahn ist es wichtig, daß die sozialen und die betrieblichen Einrichtungen für sie erhalten bleiben.
Meine Damen und Herren, die Bahnstrukturreform ist nur möglich geworden, weil alle verantwortlichen politischen Kräfte an diesem Kraftakt mitgewirkt haben. Daß dieses Werk gelungen ist, ist vielen zu verdanken. Ich möchte heute als Vorsitzender des Verkehrsausschusses diesen Dank an die Mitberichterstatter im Verkehrsausschuß des Bundestages übermitteln. Ich möchte hier insbesondere die Arbeit des verkehrspolitischen Sprechers der SPD-Fraktion, des Kollegen Klaus Daubertshäuser, würdigen, der eine wichtige Koordinierungsaufgabe geleistet hat.
Es ist meistens etwas bedenklich, wenn man vom politischen Gegner gelobt wird, aber dieses Lob ist wirklich verdient.
Mein Dank gilt den Mitarbeitern des Sekretariats des Verkehrsausschusses, den Mitarbeitern der Eisenbahnabteilung im Bundesverkehrsministerium. Beide Bereiche waren das ganze Jahr über besonders gefordert.
Mein Dank gilt dem früheren Bundesminister für Verkehr, Dr. Warnke, der die Regierungskommission eingesetzt hat und dem mit dem Vorsitzenden dieser Kommission, Herrn Dr. Saßmannshausen, ein guter Griff gelungen ist. Des weiteren möchte ich dem früheren Bundesverkehrsminister Professor Krause danken. Er hat diese Reform auf den parlamentarischen Weg gebracht.
Mein besonderer Dank gilt natürlich dem jetzigen Bundesverkehrsminister Wissmann, der die schwierige Abstimmung mit den Ländern herbeigeführt und die letzten Hindernisse aus dem Weg geräumt hat.
Danken darf ich auch den Regierungen der Länder,
die diese Reform mittragen. Schließlich gilt mein Dank den Eisenbahnern, den Personalräten und Gewerkschaften, die an dieser Reform mitgewirkt und diese Reform künftig umzusetzen haben.
Meine Damen und Herren, die Bahnreform ist ein Wagnis. Wir haben den Mut zum Wagnis aufgebracht. Es gibt keinen anderen Weg. Deutschland und Europa
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16961
Dr. Dionys Jobst
brauchen eine neue und eine starke Bahn der Zukunft.
Ich bin zuversichtlich, daß dieses Reformwerk erfolgreich ist. Wir stellen heute im Deutschen Bundestag die Signale für eine neue Bahn auf freie Fahrt. Der neuen Bahn und ihren Mitarbeitern gilt ein herzliches Glückauf bei der Fahrt in eine erfolgreiche Zukunft.
Danke.
Herr Kollege Waltemathe, wenn Sie die Dankesliste des Ausschußvorsitzenden erweitern möchten, dann geben Sie das doch Ihrem Kollegen Daubertshäuser mit ans Rednerpult. Er hat als nächster das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Entscheidung über die Bahnreform ist in der Tat ein Meilenstein in der verkehrs- und sogar in der wirtschaftspolitischen Geschichte dieser Republik. Sie ist ein ganz wichtiger Beitrag für die Modernisierung unserer Volkswirtschaft und die Eröffnung einer wesentlichen Zukunftschance für unser Land. Dies ist das Ergebnis harter und zäher Arbeit.
Auch ich will mit meinem, mit unserem Dank beginnen. Ich glaube, man muß ganz besonders herzlich den Verhandlungsführern von Bund und Ländern danke sagen, insbesondere aber Verkehrsminister Wissmann und den Ministerpräsidenten Rudolf Scharping und Hans Eichel.
Was sie, allen voran natürlich die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Abteilung Eisenbahn des Bundesverkehrsministeriums und der Hauptverwaltung der Bundesbahn, und — ich sage dies hier bewußt — die Mitarbeiter der Fraktionen in den letzten Monaten unter zum Teil fast unzumutbarem Zeitdruck und bis zur Grenze der physischen Leistungsfähigkeit geschafft haben, verdient außerordentlichen Respekt.
Auch ich will ganz besonders herzlich insbesondere der Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands und ihrem Vorsitzenden Rudi Schäfer, den ich oben auf der Tribüne sitzen sehe, danke sagen.
Er hat in einer außerordentlich schwierigen Phase vor dem Hintergrund berechtigter Ängste und Sorgen der Eisenbahner nie das große Ziel aus den Augen verloren, gleichwohl aber erfolgreich um jede Verbesserung für die Beschäftigten der Bahn gekämpft.
Das Ergebnis, das wir heute vorliegen haben, ist ein tragfähiges Konzept, ein Ergebnis, das der Bahn, ihren Beschäftigten und ihren Nutzern, aber auch der Verkehrspolitik insgesamt eine positive Zukunftschance eröffnet.
Nun kommt natürlich auch teilweise Kritik, komischerweise von Leuten, die ständig die Verkehrsverlagerung auf die Schiene, den Verzicht auf Streckenstillegungen usw. fordern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir aber eine deutliche Antwort. Seit der „kleinen Bahnreform" 1981, seit mehr als zwölf Jahren also, kämpfe ich zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen von der Arbeitsgruppe Verkehr für eine umfassende Reform der Bahn, für eine saubere Entschuldung, für die Trennung von unternehmerischer und politischer Verantwortung, für Gleichbehandlung bei Ausbau und Erhalt der Verkehrsinfrastruktur, für mehr Flexibilität im personalrechtlichen Sektor, d. h. Kippen des starren öffentlichen Dienstrechtes. Wir waren es, die bei der Verabschiedung des Bundesverkehrswegeplans erfolgreich darauf gedrängt haben, durch das Schienenwegeausbaugesetz endlich die rechtliche und planerische Gleichstellung von Schiene und Straße herzustellen.
Meine Damen und Herren, wie kann jemand vor diesem Hintergrund auf die Idee kommen, daß die SPD ausgerechnet dann aufstecken soll, wenn es nun darum geht, ihre Ziele auch tatsächlich konkret umzusetzen und zu normieren? Meine Damen und Herren, wer diese Bahnreform nicht will, der schreibt die alten, die gescheiterten Strukturen fest und erreicht damit weniger als nichts. Denn das hieße doch im Ergebnis: Der Schuldenberg wächst weiter ins Unermeßliche, der Ausbau der Schieneninfrastruktur wird vernachlässigt, und die Verkehrsanteile der Bahn sinken kontinuierlich. Gleichzeitig werden aber von allen politischen Ebenen weiterhin immer neue verkehrspolitische Wunschzettel bei der Bahn abgeliefert.
Es ist deshalb völlig unbestreitbar, daß es so wie bisher nicht mehr weitergehen kann, d. h. nur eine umfassende Reform kann diesen Teufelskreis durchbrechen.
Der gesetzliche Rahmen, den wir heute verabschieden wollen, eröffnet diese Chance für den Neuanfang. Natürlich haben nicht alle ihre Forderungen lupenrein durchsetzen können. Aber das ist doch das Wesen von Verhandlungen: Jeder knirscht an einer Stelle mit den Zähnen.
Dennoch sage ich: Dies ist ein gutes Ergebnis. Ich will diese Einschätzung unterlegen. Die Bahn als Unternehmen wird von den Fesseln des öffentlichen Rechts befreit —
— natürlich des Dienstrechts, völlig klar, Herr Kollege Kohn —, aber die Verantwortung des Staates für die Infrastruktur ist grundgesetzlich gesichert. Wer die Verantwortung des Staates ausschließlich am formalen Eigentum an den Schienenwegen festmacht, springt zu kurz. Entscheidend ist, daß der Staat auf Dauer Eigentümer der Fahrweggesellschaft bleibt und daß darüber hinaus seine Verantwortung für das Wohl der Allgemeinheit bei Ausbau und Erhalt der
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Klaus Daubertshäuser
Schienenwege in einer unzweideutig formulierten Gewährleistungsklausel im Grundgesetz festgeschrieben ist.
Meine Damen und Herren, diese jetzt gefundenen Formulierungen für die Änderung des Grundgesetzes sind qualitativ weit besser als das, was heute im Grundgesetz zur Bahn steht. Ja, sie sind mehr als das, was bisher in den geltenden Grundgesetztext hineininterpretiert wurde.
Meine Damen und Herren, erreicht wurde auch eine eindeutige Festschreibung der Finanzverantwortung des Bundes für das gesamte Schienennetz im Schienenwegeausbaugesetz. Um einen weitverbreiteten Irrtum zu beseitigen, sage ich hier noch einmal ganz deutlich: Die Bundesverantwortung betrifft wie bisher auch in Zukunft das Netz, auf dem Schienenpersonennahverkehr betrieben wird.
Untermauert werden diese Sicherungen der staatlichen Infrastrukturverantwortung schließlich durch klare Netzzugangsregelungen mit Vorrang für vertaktete und vernetzte Verkehre und auch durch ein sauberes Streckenstillegungsverfahren unter Beteiligung der betroffenen Gebietskörperschaften.
Meine Damen und Herren, künftig wird erstmals das Parlament mit dem Schienenwegebedarfsplan darüber entscheiden, welche Strecken ausgebaut werden. Und es entscheidet durch den Haushalt darüber, wieviel Geld dafür zur Verfügung gestellt wird. Das sind die entscheidenden Stellschrauben, nicht die Frage, ob eine privatrechtlich oder öffentlich-rechtlich organisierte Gesellschaft die Schienenwege verwaltet. Nicht das Etikett, die Inhalte sind entscheidend, und diese Inhalte sind stimmig.
Der zweite wichtige Punkt ist die Entschuldung der Bahn. Wir wollten einen völlig schuldenfreien Start der Bahn, weil sie nur so eine echte Chance für einen Neuanfang hat. Dies ist gelungen. Das ist eine großartige Leistung, für die insbesondere Verkehrsminister Wissmann Dank zu sagen ist. Ich kann nachvollziehen, welch harte Verhandlungen er innerhalb der Bundesregierung, innerhalb des Bundeskabinettes zu bestehen hatte. Man muß sich vorstellen: Der Bund hat nicht nur die rund 70 Milliarden DM Altschulden von Bundesbahn und Reichsbahn, sondern auch die Verantwortung für die Altlasten der Reichsbahn und die personalrechtlichen Lasten, die auf der bisherigen Anwendung des Beamtenrechtes bei der Bundesbahn beruhen.
— Das gehört aber dazu, wenn Sie wirklich Wettbewerb und Marktwirtschaft wollen, Herr Cronenberg.
Wenn man das zusammenrechnet, ist es ein Batzen von weit über 100 Milliarden DM, der ohne die Entschuldung im Rahmen der Bahnreform beiden deutschen Bahnen in kürzester Zeit endgültig das Genick gebrochen hätte, und wir hätten auf das Instrument Bahn wahrscheinlich verzichten müssen.
Die neue Unternehmensstruktur ermöglicht der Bahn vor dem Hintergrund eines schuldenfreien Starts weitere Aufwandsreduzierungen. Aber ich bin davon überzeugt, daß sich diese sogenannten AG-Effekte frühestens in fünf oder sechs Jahren bemerkbar machen. Sie werden nicht bereits im ersten Rutsch in der Bilanz ihren Niederschlag finden. Aber ob, wann und in welcher Größenordnung diese AG- Effekte realisiert werden, liegt nun in der Hand des Bahnmanagements.
Von entscheidender Bedeutung für die Sozialdemokraten waren und sind die personalrechtlichen Regelungen. Es ist uns in Zusammenarbeit mit der GdED gelungen, hier eine volle arbeits- und personalverfassungsrechtliche Besitzstandswahrung zu erreichen. Darüber hinaus ist durch eine Vorruhestandsregelung die Chance geschaffen worden, im Bereich der Bundesbahn den schwierigen Übergang auf den neuen Status so sozialverträglich wie nur irgend möglich zu gestalten.
Ein ganz wichtiger Punkt ist schließlich die unbedingte Sicherung der Eisenbahnerwohnungen. Im Gesetz ist nun eindeutig festgestellt, daß der gesamte Wohnungsbestand vom Bundeseisenbahnvermögen — also in der Verantwortung der öffentlichen Hand — nach den bisherigen Grundsätzen fortgeführt wird. Die DBAG wird mit dem Eisenbahnvermögen vertraglich sicherstellen, daß die Wohnungsförderung wie bisher fortgesetzt wird. Das heißt im Klartext: Kein Eisenbahner und seine Familie muß um seine Wohnung bangen. Das ist ein ganz wesentlicher, wichtiger Punkt, der hier festgeschrieben wurde.
Meine Damen und Herren, von zentraler Bedeutung für den Gesamterfolg der Bahnreform ist schließlich die Regionalisierung des Schienenpersonennahverkehrs. Der Nahverkehr ist heute das Rückgrat der Bahn. Sie bezieht daraus rund 40 % ihrer Einkünfte. Gleichzeitig ist in der alten Struktur der Nahverkehr aber auch der größte Zankapfel zwischen allen Beteiligten.
Was bisher stattfand, war ein übles Schwarzer-PeterSpiel, bei dem jeder versucht hat, seine Verantwortung auf den anderen zu schieben. Dieses SchwarzerPeter-Spiel wird durch die Regionalisierung endgültig beendet.
Die Länder bzw. die kommunalen Gebietskörperschaften sind in Zukunft die Besteller aller Nahverkehrsleistungen, egal ob es Bahn, Regionalbus, Stadtbus oder Straßenbahn ist. Damit ist die Voraussetzung dafür geschaffen, einen Nahverkehr aus einem Guß zu organisieren, der sich am Kundennutzen orientiert.
Nahverkehr aus einem Guß bedeutet auch, daß von der Nahverkehrs AG eine integrierte Produktpalette von Schiene und Bahnbus angeboten werden muß.
Ich sage hier ganz klar, ein Verkauf der Bahnbusse
wäre eine deutliche Schwächung der Bahn und des
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Klaus Daubertshäuser
ÖPNV gerade im ländlichen Raum. Dies darf nicht passieren.
Meine Damen und Herren, der Bund steht auch weiter in der Verantwortung, indem er den Ländern für den Bereich des Schienenpersonennahverkehrs ausreichende und dynamisierte Finanzmittel zur Verfügung stellen muß. Zusammen mit den bisher schon in den Ländern für den öffentlichen Personennahverkehr eingesetzten Mitteln sind die künftigen Aufgabenträger damit in der Lage, die verschiedenen Anbieter von Nahverkehrsleistungen im Rahmen eines integrierten Nahverkehrsplans zu vernetzen und ein verbessertes Angebot auf die Beine zu stellen, natürlich unter der Überschrift: Wettbewerb statt Einheitsangebot, Attraktivitätssteigerung statt Leistungseinschränkungen, Anbindung der Fläche statt Konzentration auf die Ballungszentren. So, wie es in der Vergangenheit war, ist der ländliche Raum völlig vernachlässigt worden. Das heißt, die vorliegenden Gesetze schaffen alle Voraussetzungen dafür, daß umfassende ÖPNV-Regionalkonzepte unter Einbeziehung der Schiene auch umgesetzt werden können.
Nun können auch in den ländlichen Räumen ökologisch verträgliche, moderne Verkehrssysteme angeboten werden. Das, was S-Bahn und Stadtexpress für die Ballungsräume sind, das sind die Regionalbahn und der Regionalexpress für die ländlichen Räume. Meine Damen und Herren, nur eine Bahn und ein ÖPNV, die den Menschen in allen Regionen, nicht nur in den Ballungsräumen, zur Verfügung stehen, sind es auch wert, aus Steuergeldern aller gefördert zu werden.
Nun sind die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß ÖPNV endlich auch intelligent organisiert werden kann.
Die Liste der von uns positiv bewerteten Elemente ließe sich im Detail fortsetzen. Ich glaube aber, es ist klar, daß die Bahnreform die Bahn in die Lage versetzt, in Zukunft eine tragende Rolle im Rahmen eines integrierten Gesamtverkehrskonzeptes zu übernehmen:
Die Bahnkunden werden künftig ein attraktiveres Angebot vorfinden, daß das Umsteigen auf die Bahn erleichtert.
Die Wirtschaft hat eine Transportperspektive, die der an seine Grenzen stoßende Straßenverkehr in naher Zukunft nicht mehr bieten kann.
Für die Eisenbahner schließlich ist die Bahnreform ein Licht am Ende des Tunnels. Sie haben bisher frustriert miterleben müssen, wie alle Produktivitätssteigerungen, alle ihre Anstrengungen doch zu nichts anderem geführt haben, als daß die Bahn immer tiefer in die Krise hineinfuhr. Sie haben jetzt die Chance, daß ihr Engagement nicht wirkungslos verpufft, daß wir die Motivation steigern, denn sie haben die Möglichkeit, auf Grund der flexibleren Personalwirtschaft in einem handelsrechtlich strukturierten Unternehmen für gute Leistungen auch bessere Gegenleistungen zu erhalten.
Diese positiven Effekte der Bahnreform sind Möglichkeiten und Chancen. Das heißt, der Gesetzgeber hat die Instrumente nun in den Orchestergraben gestellt; nun muß damit aber auch gespielt werden. Mit anderen Worten, Gesetzesvorgaben bleiben wirkungslos, wenn sie nicht aktiv genutzt werden.
Damit ist klar: Der gesetzliche Rahmen der Bahnreform ist nur der allererste Schritt hin zu einer Gesundung der Bahn. Die eigentliche Arbeit steht auf allen Ebenen noch bevor. Herr Dürr und das Management der künftigen Bahn AG müssen jetzt die innere Reform durchsetzen. Das heißt, Entschuldigungen mit Blick auf Dritte werden nicht mehr entgegengenommen.
Damit ist auch hier das Schwarzer-Peter-Spiel zu Ende.
Die Bundesregierung bleibt in der Pflicht, die heute noch zu Lasten der Bahn bestehenden Wettbewerbsverzerrungen auf dem deutschen und internationalen Verkehrsmarkt so rasch wie möglich abzubauen. Wir, das Parlament und die Bundesregierung, sind in der Verantwortung, bei der Aufteilung der Haushaltsmittel durch eindeutigen Vorrang für die Schiene dem Nachholbedarf im Bereich der Schieneninfrastruktur Rechnung zu tragen.
Insgesamt bleibt die Politik in der Pflicht, im Rahmen eines integrierten Gesamtverkehrskonzeptes weitere Schritte zur Verkehrsvermeidung, zur Eindämmung der Verkehrszuwächse und zur Verlagerung von motorisiertem Verkehr auf Bahn und Binnenschiff zu tun. Die Tarifpartner müssen die durch das Gesetz geschaffenen Möglichkeiten mit Leben erfüllen.
Meine Damen und Herren, ich sage es noch einmal: Die Bahnreform wird am Ende nur dann erfolgreich sein, wenn die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner auf ihrer Seite sind. Tarifpartner haben es in der Hand, dafür die Voraussetzungen zu schaffen. Herr Kollege Urbaniak, die Mitbestimmung, nach dem 76er Modell und die Besitzstandswahrungsregeln in den Bahngesetzen bilden dafür nur den Rahmen.
Die Lander schließlich müssen den abstrakten Begriff der Regionalisierung vor Ort mit Leben erfüllen. Ich habe großes Verständnis dafür, daß die Länder über ihre Ministerpräsidenten wie die Löwen um ausreichende Finanzmittel für diese neue Aufgabe gekämpft haben. Kein Ministerpräsident eines Bundeslandes könnte es verantworten, eine Aufgabe dieser Dimension nur unter dem Risiko der Preisgabe anderer wichtiger Aufgaben zu übernehmen.
Geld allein aber — auch das muß man sagen — ist nicht die einzige Voraussetzung für mehr und besseren Nahverkehr in der Zukunft. Hinzu kommen muß die intelligente Umsetzung durch Nahverkehrskon-
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Klaus Daubertshäuser
zepte, die die Bedürfnisse der jeweiligen Region im Sinne einer Maßanzuglösung befriedigen.
Wenn das gemeinsame Anliegen einer Qualitäts- und Quantitätsoffensive für den ÖPNV Erfolg haben soll, dann müssen die Länder auch in Zukunft über die Transfermittel für den Schienennahverkehr hinaus eigene Mittel zur Stärkung des ÖPNV einsetzen. Mehr Geld und die Möglichkeit, ÖPNV intelligent zu organisieren, meine Damen und Herren — damit sind die Weichen für einen Aufbruch „Pro ÖPNV" gestellt.
Meine Damen und Herren, die Lösung des Problems der Bahnreform hat aber darüber hinaus bewiesen, daß es nach wie vor sachorientierte Handlungsfähigkeit der Politik gibt.
Die gängige These, die einmal von unserem Bundespräsidenten in den Satz von der
Machtversessenheit auf den Wahlsieg und Machtvergessenheit bei der Wahrnehmung der inhaltlichen und konzeptionellen politischen Führungsaufgabe
gekleidet wurde, hat mit der Bahnreform zumindest ein überzeugendes Gegenbeispiel erhalten.
Auf einem wichtigen wirtschafts- und verkehrspolitischen Feld hat die deutsche Politik ihren Willen und ihre Fähigkeit zur ergebnisorientierten Problemlösung unter Beweis gestellt.
Schon vor fast zehn Jahren hat Hermann Josef Abs festgestellt:
Die wirtschafts- und gesellschaftspolitische Rolle der Deutschen Bundesbahn erlaubt es nicht, gerade im Hinblick auf die jüngste Vergangenheit, zögerliche Einzelvorschläge kompromißhaft zu verwirklichen zu suchen, sondern erfordert eine ergebnisorientierte, anhaltende Bereitschaft, die Gesamtheit der empfohlenen Maßnahmen einzuführen.
Dem ist nichts hinzuzufügen. Vielen Dank.
Herr Kollege Roland Kohn, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Debatte des Deutschen Bundestages vom 21. Oktober 1993 zum Wirtschaftsstandort Deutschland hat Bundeskanzler Helmut Kohl den denkwürdigen Satz ausgesprochen — ich zitiere —:
Es geht darum, die Zukunftsmöglichkeiten der I Bahn endlich voll auszuschöpfen. Deswegen richte ich auch an dieser Stelle an alle Verantwortlichen die dringende Bitte, daß die Bahnreform jetzt endlich verabschiedet werden kann.
Dieser Wunsch des Kanzlers ist bei uns Liberalen auf fruchtbaren Boden gefallen. Der Standort Deutschland kann sich keinen Standverkehr leisten.
Wir Freien Demokraten sind eben doch der stabile Faktor in dieser Koalition.
Schließlich sind wir und niemand sonst die treibende Kraft
für die Bahnreform gewesen. Dies ist die historische Wahrheit!
Fast auf den Tag genau vor zehn Jahren habe ich zusammen mit meinen früheren Fraktionskollegen Klaus-Jürgen Hoffie und Horst-Ludwig Riemer die Forderung erhoben, die Bundesbahn zu einem am Markt operierenden Unternehmen fortzuentwickeln.
Unsere damals formulierten Bahneckpunkte —
Trennung der Unternehmensbereiche, Trennung von Fahrweg und Betrieb, Beseitigung der politischen Durchgriffsmöglichkeiten auf die Bahn, Privatisierung, umfassende Reform der Bahngesetze, konsequente Marktorientierung — sind Gegenstand des Bahnreformpakets, über das wir heute entscheiden.
Ich habe in dem Jahrzehnt seither nach dem Motto gehandelt: Es ist süß und ehrenvoll, für die Bahnreform zu werben.
Leider haben erst die Bundesverkehrsminister Krause und Wissmann den politischen Mut gehabt, dieses Projekt tatsächlich anzugehen, und an dieser Stelle möchte ich Ihnen, Herr Minister Wissmann, ausdrücklich für Ihr Engagement danken und Ihnen sagen: Die Spätzle-Connection an dieser Stelle hat funktioniert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, daß es aber nicht möglich war, viel früher das Notwendige zu tim, stellt
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16965
Roland Kohn
der Reformfähigkeit unseres politischen Systems ein denkbar schlechtes Zeugnis aus.
Es ist auf Dauer verhängnisvoll für eine gedeihliche Entwicklung in unserem Land, daß Verkrustungen und Erstarrungen in Wirtschaft und Gesellschaft fast nicht mehr aufzubrechen sind. Erst unter dem Leidensdruck der Defizitentwicklung wurde endlich die Bahnreform auf die Schiene gebracht, und einem Baden-Württemberger werden Sie gewiß nachsehen, wenn er hinzufügt: Wieviel Geld der Steuerzahler hätten wir bei rechtzeitigem Handeln einsparen können!
Wo steht die Bahn heute?
Der Marktanteil der DB ist im Güterfernverkehr zwischen 1965 und 1990 von 40,6 % auf 24,7 % gefallen, im Personenverkehr von 11,2 % auf 6,2 %. Während das Bundesfernstraßennetz in den letzten Jahrzehnten massiv ausgebaut wurde, fährt die Bahn bis heute im wesentlichen auf einem Schienennetz, das im 19. Jahrhundert konzipiert und gebaut worden ist, wenn man einmal von den paar Kilometern Neubaustrecken absieht, die inzwischen für den Hochgeschwindigkeitsverkehr zur Verfügung stehen.
Wie sehr in der Vergangenheit die Bahn benachteiligt wurde, erkennen Sie daran, daß zwischen 1965 und 1990 die Streckenlänge der Bahn von über 30 000 km auf etwa 26 000 km geschrumpft ist, während sich in diesem Zeitraum die Streckenlänge der Bundesautobahnen verdreifacht hat. Das Wachstum im Pkw-Bestand, im Lkw-Bestand — Zahlen, die Ihnen allen bekannt sind — zeigt, daß wir alle ohne Ausnahme zu spät die Zeichen der Zeit erkannt haben.
Wir alle wissen auch, daß in dem genannten Zeitraum die SED durch Unterlassung von Investitionen die Substanz der Deutschen Reichsbahn aufgezehrt hat. Deshalb wird und muß nach dem Willen der Koalition in den nächsten Jahren das Investitionsschwergewicht auf den Verkehrsprojekten Deutsche Einheit und in den jungen Bundesländern liegen.
Finanziell betrachtet, stellt sich die Situation so dar: Jahresdefizit bei DB und DR rund 15 Milliarden DM, Gesamtschuldenstand der beiden Unternehmen rund 70 Milliarden DM, Finanzbedarf bis zum Jahre 2002 weit über 500 Milliarden DM.
Was also ist das Ziel der Bahnpolitik der Freien Demokraten? Ganz einfach: Wir wollen mehr Verkehr auf die Schiene bringen.
Denn die Bahn ist ein umweltfreundliches Verkehrsmittel. Außerdem werden wir angesichts des vorhersehbaren Verkehrswachstums jeden Verkehrsträger mit seinen systemspezifischen Stärken brauchen. Vor
allem ist auch die Vernetzung der Verkehrsträger angesagt. Statt Stau auf Gummirädern brauchen wir Schub auf Eisenrädern. Machen wir Deutschland zu Europas Bahnland Nummer eins!
— Ich freue mich schon heute auf die wichtigen Beiträge derjenigen, die von seiten der SPD jetzt so lautstark Beifall klatschen.
Welche Philosophie steckt hinter unserem Lösungsansatz? Wir sagen: Es ist eine staatliche Aufgabe, für eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur zu sorgen. Aber es ist keine originär staatliche Aufgabe, den Transport von Menschen oder Gütern selbst in die Hand zu nehmen. Der Staat ist nun einmal ein miserabler Fahrkartenverkäufer. Wohin staatlichdirigistische Transportlenkung führt, können wir am abschreckenden Beispiel der DDR-Verkehrspolitik studieren. Deshalb gilt für uns die Maxime: Die Bahn muß Fahrgäste und verladende Wirtschaft durch die Qualität ihres Dienstleistungsangebots im Wettbewerb mit den anderen Verkehrsträgern überzeugen. Wir müssen erreichen, daß die Menschen — nicht immer, aber immer öfter — sagen: Ich habe Lust auf Bahnverkehr.
— Kollegen, ich fürchte, Sie haben mich mißverstanden.
Wie sieht unser Konzept im einzelnen aus? Deutsche Bundesbahn und Deutsche Reichsbahn werden zusammengeführt und in privatrechtlicher Organisationsform zur Deutschen Bahn AG mit den Sparten Fahrweg, Güterverkehr, Personenfern- und Personennahverkehr umgewandelt. In einem zweiten Schritt werden dann aus den Sparten Aktiengesellschaften unter dem Dach einer Holding. Der Bund bleibt Mehrheitseigentümer der Fahrweg AG. Der Bund entschuldet die Bahn vollständig; er übernimmt die überhöhten Versorgungslasten sowie die Zusatzkosten für das Personal, die auf dessen öffentlich-rechtlichem Dienstverhältnis beruhen. Die Bahn wird aus den Fesseln des öffentlichen Dienstrechts befreit und vom Durchgriff der Politik erlöst.
Das Schienennetz wird für Dritte, z. B. für ausländische Eisenbahnunternehmen oder auch für Private, geöffnet, gegen Zahlung eines nutzungsabhängigen Entgelts, versteht sich. Die Fahrweg-Aktiengesellschaft wird die Aufgabe haben, dieses Schienennetz offensiv zu vermarkten. Für uns ist besonders wichtig: Der Zugang zu diesem Schienennetz muß diskriminierungsfrei möglich sein.
Der Bund bleibt finanziell für den Fahrweg verantwortlich, d. h. für den Unterhalt, den Aus- und Neubau von Schienenstrecken. Ich will in diesem Zusammenhang ausdrücklich betonen, daß wir in Zukunft wichtige Infrastrukturprojekte auch bei den Bahnen über den freien Kapitalmarkt werden finanzieren müssen.
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Roland Kohn
Für gemeinwirtschaftliche Leistungen, solche also, die sich betriebswirtschaftlich nicht rechnen, aber im öffentlichen Interesse liegen, wird das Bestellerprinzip eingeführt. Diejenige politische Instanz, die bestellt, muß auch bezahlen.
Ein weiteres Kernstück unseres Konzepts ist die Regionalisierung. Das bedeutet, daß Entscheidungen über den Nahverkehr in Zukunft vor Ort getroffen werden, in den Ländern, in den Regionen. Mit dieser Angebotskompetenz verbunden wird die Finanzverantwortung. Der Bund stellt den Ländern die bisher dafür eingeplanten Mittel zur Verfügung — und noch einiges mehr. So machen wir endlich Schluß mit der bisher praktizierten kollektiven Verantwortungslosigkeit, man könnte auch sagen: Heuchelei. Denn bisher konnte man vor Ort leichten Herzens jede, aber auch jede Forderung zum Nahverkehr, ob sinnvoll oder nicht sinnvoll, lautstark vorbringen; die finanziellen Auswirkungen konnte man ja bei denen da oben, in Bonn oder in Frankfurt, abladen. Deswegen sagen wir: Es ist richtig, daß die Verantwortung jetzt bei den Ländern und bei den kommunalen Gebietskörperschaften liegt.
Was die bisherigen Beamten bei der Bahn angeht, so werden sie — natürlich unter voller Wahrung ihrer Beamtenrechte — der DBAG als faktischem Arbeitgeber zugewiesen, soweit sie nicht freiwillig aus der DB ausscheiden oder sich beurlauben lassen wollen, um mit der DBAG einen selbständigen Arbeitsvertrag abzuschließen. Ich glaube, hier haben es alle Fraktionen gemeinsam — das betone ich an dieser Stelle ausdrücklich — geschafft, Lösungen zu finden, die für die Mitarbeiter der Deutschen Bundesbahn und der Deutschen Reichsbahn sozial verträglich sind.
Das also, meine Damen und Herren, sind die Kernpunkte des Reformkonzepts: kaufmännische Führung der Unternehmen, Öffnung und Wettbewerb auf der Schiene und Bestellerprinzip für gemeinwirtschaftliche Leistungen. Um dies zu ermöglichen, müssen wir die Grundgesetzartikel 73, 74, 80 und 87 ändern sowie das Grundgesetz um die Art. 87 e — Eisenbahnverkehrsverwaltung —, 106 a — Länderzuschuß —, und 143a — Übergangsrecht für die bisherigen Bundeseisenbahnen — ergänzen. Ferner schaffen wir sechs neue Gesetze und ändern 134 Gesetze und Verordnungen. Sie sehen, nichts gedeiht derzeit in Deutschland so üppig wie der Paragraphendschungel.
Wie wirkt sich dieses Reformkonzept finanziell aus? In den Jahren 1994 bis 2003 kommen auf den Bund insgesamt 245 Milliarden DM an Belastungen zu, davon 70 Milliarden DM Entschuldung, 68 Milliarden DM Fahrwegfinanzierung, 81 Milliarden DM Altlasten Deutsche Reichsbahn und 26 Milliarden DM überhöhte Versorgungslasten für DB-Mitarbeiter. Um diese Belastungen tragen zu können, müssen wir die Mineralölsteuer zum 1. Januar 1994 erhöhen.
Die positiven Effekte der Bahnumwandlung in eine Aktiengesellschaft verringern den Finanzbedarf im genannten Zeitraum um rund 100 Milliarden DM und entlasten in dieser Höhe den Bundeshaushalt.
Mit Beginn der Regionalisierung im Jahr 1996 wird der Bund den Ländern jährlich 15 Milliarden DM,
bestehend aus 8,7 Milliarden DM Fortführung Schienenpersonennahverkehr plus 6,3 Milliarden DM Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, zur Verfügung stellen. Bis zum Jahr 2000 soll dieser Betrag auf 17,3 Milliarden DM ansteigen. Außerdem sind zusätzlich Revionsklauseln vereinbart worden.
Der Bund räumt den Ländern einen Anteil aus seinem Steueraufkommen zweckgebunden ein, um damit den öffentlichen Personennahverkehr zu finanzieren, und zwar über die Mineralölsteuer. Nüchtern betrachtet, ist der Bund damit den Ländern in einem Maße entgegengekommen, daß ich mich fragen muß, ob der Bundesfinanzminister eigentlich nachts noch gut schlafen kann.
Angesichts dieser Sachlage möchte ich hier klar feststellen: Die Bundesländer haben im Zusammenhang mit der Bahnstrukturreform den Bund schamlos ausgepreßt.
Und wie bis in die letzten Tage hinein die Länder mit dem Verfassungsorgan Deutscher Bundestag umgegangen sind, ist einfach unerträglich.
Da haben die Ministerpräsidenten mit dem Bundeskanzler eine Vereinbarung getroffen, um diese am nächsten Tag wieder in Frage zu stellen. Da haben die Länderverkehrsminister im Auftrag ihrer Regierungschefs Positionen bezogen, denen die Länderfinanzminister widersprochen haben, ebenfalls im Auftrag ihrer Regierungschefs.
Und manche wollten die Zustimmung zu dem Jahrhundertwerk Bahnreform tatsächlich von der Elektrifizierung der Schienenstrecke zwischen Posemuckel und Kleinkleckersdorf abhängig machen.
Monatelang haben sich die politisch Verantwortlichen der Länder um die Bahnreform überhaupt nicht gekümmert. Dann allerdings sind sie plötzlich aufgewacht und waren sich sofort einig, als es darum ging, sich als Bundesbeutelschneider gegenüber dem Bund zu organisieren.
Am allerliebsten hätten sie statt Bahnprivatisierung eine „Bahn deutscher Länder" durchgesetzt, bei voller Finanzverantwortung des Bundes natürlich.
Ich sage ganz ruhig: Wenn die Länder auch in Zukunft nur kurzfristige Eigeninteressen verfolgen und nicht bereit sind, ihrer gesamtstaatlichen Verant-
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wortung gerecht zu werden, zerstören sie den Föderalismus von innen heraus.
Meine Damen und Herren, die Bahnreform, wie sie uns heute zur Entscheidung vorliegt, ist ein Jahrhundertwerk, ist eine Revolutionierung des Verkehrssektors und ein dringend notwendiger Impuls zur Stärkung unserer Volkswirtschaft.
Ich verhehle allerdings nicht, daß die Bahnreform noch mutiger und konsequenter ausgefallen wäre, wenn es allein nach uns Liberalen gegangen wäre. Die grundgesetzliche Verankerung des Allgemeinwohls bei den Verkehrsbedürfnissen ist für unsere Begriffe extrem weitgehend. Daß der Automatismus bei der Auflösung der DB-Holding preisgegeben werden mußte, schmerzt uns aus Gründen der Wettbewerbsgleichheit ganz außerordentlich. Schließlich ist die Festschreibung des Mehrheitseigentums des Bundes am Fahrweg eine schädliche Zementierung überkommener Strukturen.
Dennoch werden wir Freien Demokraten der Bahnreform aus Überzeugung zustimmen, weil die Richtung stimmt.
Nach Lage der Dinge war leider nicht mehr zu erreichen. Ein Scheitern des Gesamtprojekts hätte auf viele Jahre hinaus einen neuen Reformanlauf unmöglich gemacht und die Bahn durch mangelnde Attraktivität endgültig ins Verkehrsabseits befördert. Bahnpolitik wäre dann zur Sinngebung des Sinnlosen verkommen.
Ich sage aber auch deutlich: Weitere Schritte müssen erfolgen. Ich nenne vor allem die Durchforstung bürokratischer Regelwerke, wie der Eisenbahnbau- und -Betriebsordnung, um unnötigen Aufwand zu reduzieren. Ich nenne die Umwandlung der Kilometerpauschale in eine allgemeine verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale, um Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten der Bahn abzubauen.
Insbesondere jedoch muß die Zusammenarbeit der europäischen Eisenbahnen intensiviert werden, nach dem Motto: Schienen verbinden Europas Demokratien.
Ich sage an dieser Stelle ausdrücklich an die Adresse der Bundesregierung: Wir Freien Demokraten verlangen, daß jetzt endlich mit der Privatisierung der BahnbusGesellschaften ernst gemacht wird.
Wir haben seit langem in der Koalition eine gemeinsame Position in dieser Frage bezogen, und wir erwarten, daß jetzt tatkräftig gehandelt wird.
Was bringt die Bahnreform dem Kunden, was der verladenden Wirtschaft?
Herr Kollege, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Kollegen von Larcher zu beantworten?
Gern. Vizepräsident Hans Klein: Bitte sehr.
Herr Kollege, ich höre mit Vergnügen, daß Sie sich für eine verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale einsetzen. Ich frage Sie: Warum haben Sie im Ausschuß dagegen gestimmt? Warum haben Ihre Kollegen im Finanzausschuß ebenfalls gegen unseren Antrag gestimmt?
Erstens. Herr Kollege, ich habe in meiner eigenen Partei im Bundeshauptausschuß durchgesetzt, daß dieses Ziel, Umwandlung der Kilometerpauschale in eine allgemeine verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale, zum Ziel der F.D.P. erklärt worden ist.
Zweitens. Der Abgeordnete Roland Kohn hat nicht gegen diesen Vorschlag gestimmt, sondern, wenn Sie genau hingesehen hätten, hätten Sie gesehen, daß ich mich an der Abstimmung aus gutem Grund nicht beteiligt habe.
Drittens. Ich sage: Ich werde dies bei nächster Gelegenheit, die sich bietet — ich hoffe, im nächsten Jahr werden Chancen bestehen, wiederum mit der CDU/CSU Koalitionsverhandlungen zu führen —, zum Gegenstand der Koalitionsverhandlungen machen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, sicherlich wird mit dem Inkrafttreten der Bahnreform am 1. Januar 1994 nicht das goldene Bahnzeitalter ausbrechen. Aber die Politik hat jetzt die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß die Bahn als echter Dienstleister um Kunden werben, daß sie ihre Produkte marktgerecht entwickeln kann. Und nicht zuletzt: Der Steuerzahler wird langfristig entlastet.
Es liegt mir daran, hier zum Abschluß in aller Öffentlichkeit vielen Freunden innerhalb und außerhalb der F.D.P. zu danken, die mich über Jahre hinweg unterstützt und mir den Rücken gestärkt haben, vor allen anderen, den Mitgliedern des Bundesfachausschusses meiner Partei und den Freunden in der Arbeitsgruppe Verkehr der F.D.P.-Bundestagsfraktion. Konzeptionelle Weitsicht und zähe Beharrlichkeit der Liberalen zahlen sich heute endlich doch aus.
Jetzt gilt: Die Bahn muß sich am Markt bewähren. Es gibt keine Ausreden mehr. Management und alle Mitarbeiter sind gefordert, zu zeigen, was sie zu leisten imstande sind. Ich weiß von vielen Eisenbahnern, die sagen: Wann geht es denn endlich los? Wir wollen zeigen, was in uns steckt. — Jetzt haben sie die Chance dazu.
Ich setze auf diese Eisenbahner und auf die Gewerkschaften, die konstruktiv am Reformprojekt mitgewirkt haben. Wenn wir als Gesellschaft es mit
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Roland Kohn
der ökologischen Umsteuerung im Rahmen unserer marktwirtschaftlichen Ordnung ernst meinen, dann müssen wir dem Verkehrsträger Schiene eine Chance geben. Die Devise muß lauten: Freie Fahrt für freie Bahnen.
Herr Kollege Kohn, ich habe Sie vorhin nicht unterbrochen. Aber ich würde Ihnen gerne den Rat geben, wenn in einem Verfassungsorgan über ein anderes Verfassungsorgan gesprochen wird, sich möglichst nicht solcher Ausdrücke wie „Bundesbeutelschneider" zu bedienen.
Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Vorbereitung auf diese Debatte habe ich mir noch einmal die erste Lesung vorgenommen. Mit etwas Abstand und mit weniger Emotionen, die allein schon dieser Plenarsaal hervorruft, konnte ich eine Reihe von Passagen finden, die ich voll unterstützen würde.
So hat u. a. der Verkehrsausschußvorsitzende in der ersten Lesung gesagt:
Die Bundesbahn erbringt heute nur mehr 22 % der Verkehrsleistungen im Güterverkehr und nur mehr 6 % der Verkehrsleistungen im Personenverkehr.
Sie haben auch heute die Zahlen erneut genannt.
Dies sind für uns alarmierende Tatsachen, auch im Hinblick auf die Verkehrslawinen, die auf unseren Straßen heute schon vorhanden sind und weiter wachsen werden. Wir brauchen eine Bahn, die sich behaupten kann, die im Wettbewerb bestehen und die Verkehr an sich ziehen kann.
Herr Kollege Daubertshäuser, Sie haben gesagt:
Es gibt vorab keinen Blankoscheck für eine Grundgesetzänderung ... Nötig ... ist ... ein dauerhaft tragfähiges Sanierungskonzept, und zwar muß dieses Bestandteil einer grundlegenden Neuorientierung der deutschen und auch der europäischen Verkehrspolitik sein. Im Rahmen eines integrierten Gesamtverkehrskonzeptes ist dabei insbesondere der Einstieg in Konzepte zur Verkehrsvermeidung und zu einer europaweit gerechteren Anlastung der Wegekosten ... erforderlich.
Um auch der F.D.P. gerecht zu werden: Herr Kollege Kohn, Sie haben in der ersten Debatte gesagt:
Eines aber muß klar sein: Die große Bahnstrukturreform ... wird nur dann gelingen, wenn die Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten der Bahn schrittweise abgebaut werden. Ich denke dabei u. a. an die Ersetzung der Kilometerpauschale durch eine allgemeine, verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale .. .
Es ist vorhin darüber schon diskutiert worden. — Soweit zu diesen Auszügen aus der ersten Debatte. Das klingt alles irgendwie schön.
Leider ist von den hehren Vorstellungen, Wünschen und Zielen nicht mehr viel übriggeblieben. Sicher, es ist zu begrüßen, daß der Bund Eigentümer der Fahrweg AG mit allen Rechten und vor allem mit der Pflicht der Verantwortung bleibt.
Positiv ist zunächst auch, daß nach Art. 87 des Grundgesetzes der Bund das Wohl der Allgemeinheit gewährleistet. Mir ist allerdings schleierhaft, wie Sie das mit 51 % der Anteile an einem rein privatwirtschaftlich organisierten Unternehmen sichern wollen.
Was bleibt, ist purer Etikettenschwindel. Sie täuschen falsche Tatsachen, nämlich eine durchgreifende Reform der Bahn, vor und geben sich dann mit einer Veränderung der Organisationsstruktur zufrieden.
Die Bundesregierung kann sich einen erhöhten Verkehrsanteil der Bahn wünschen, soviel sie will. Sie wird ihr Jahrhundertwerk — oder besser: ihre Jahrhundertlüge — in den Sand setzen, wenn sie auf entscheidende verkehrspolitische Rahmenbedingungen verzichtet. — Kollege Klaus Daubertshäuser, die PDS/Linke Liste ist sehr wohl für eine Reform der Bahn — das haben wir immer wieder betont und entsprechende Anträge vorgelegt —, aber nicht für eine, die sich nur so nennt. —
So tut die Bundesregierung nach wie vor weder etwas dafür, die bestehenden Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten der Bahn zu beseitigen, noch sorgt sie für eine Neuordnung der Wegekostenanlastung für alle Verkehrsträger, die auch die sozialen und ökologischen Kosten berücksichtigt. Im Gegenteil: Allein die geplante Absenkung der Lkw-Steuer ab Januar 1994 von 10 000 DM auf 2 800 DM für einen 40-TonnenLkw wird dazu beitragen, daß die Bahn weitere Anteile am Güterverkehr verliert.
— Sehen Sie, genau das meine ich auch. — Selbst wenn wir die geplante Lkw-Vignette einrechnen, ergibt sich dennoch durch die Senkung der LkwSteuer ein Kostenvorteil für die Straßenverkehrsspeditionen. Weitere Wettbewerbsnachteile der Bahn liegen in der Mineralölsteuerbefreiung des Luftverkehrs, in der Umsatzsteuerbefreiung des internationalen Luftverkehrs, in der steuerlichen Bevorzugung des Individualverkehrs über die Kilometerpauschale, die jetzt erneut um 10 Pf/km erhöht werden soll, und natürlich in der staatlichen Infrastrukturpolitik, die den Straßenbau über Jahrzehnte forcierte, während die Bahn bislang 30 % ihres Netzes verlor. 4 500 Bahnhöfe bzw. Haltepunkte und 4 000 Güterannahmepunkte verschwanden. Wie viele werden noch folgen?
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Dr. Dagmar Enkelmann
Ein Wort zu den Altlasten der Deutschen Reichsbahn — da geht bei mir immer der Hut hoch —: Sie wissen ganz genau, daß sich der Waigel den Immobilienfonds der Deutschen Reichsbahn im Zusammenhang mit der Vereinigung sofort „ gekrallt" hat, so daß der in diese Bahnreform überhaupt nicht mehr eingeht. Es hätte die Chance bestanden, über diesen Immobilienfonds einen Großteil der Schulden der Bundesbahn — die Reichsbahn hatte nämlich keine Schulden — abzubauen.
Sicher fällt es schwer, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, in die Rolle des Buhmanns gedrängt zu werden, der das Inkrafttreten der Bahnreform zum 1. Januar 1994 verhindert — so ist Ihnen das ja vorgeworfen worden —, zumal dann, wenn einem vorgehalten wird, durch seine Verweigerungshaltung würde man an die 100 Milliarden DM Haushaltsgelder mit vollen Händen aus dem Fenster werfen.
Aber seien wir doch einmal ehrlich: Erstens sind, was den Spareffekt angeht, von den 100 Milliarden DM, die angeblich in einem Jahrzehnt gespart werden können, nach Prüfung des Bundesrechnungshofes „nur" 65 Milliarden DM übriggeblieben. Zugegeben, auch das ist nicht wenig. Aber ich meine, falsche Prioritäten, heute gesetzt, werden sich in deutlich höheren Ausgaben später rächen.
Zweitens kann ich es beim besten Willen nicht verantwortungsvoll finden, hier eine Reform zu verabschieden, die an einem zentralen Punkt schlicht und ergreifend übers Knie gebrochen werden sollte, nämlich bei der Regionalisierung des Schienennahverkehrs. Gerade hier aber werden die Weichen für die Zukunft der Bahn gestellt. Und bis heute kann niemand sagen — denn bei der Bahn existiert keine Trennungsrechnung —, wieviel der Nahverkehr nun tatsächlich kostet und welche Summen erforderlich wären, um eine attraktive Flächenbahn aufzubauen. Ob nun 7,7, 8,2 oder 9,0 Milliarden DM Transferleistungen vom Bund an die Länder — es ist völlig klar, daß damit höchstens der Status quo aufrechterhalten werden kann. Die dringend erforderliche Attraktivitätssteigerung hin zu einer systembeschleunigten Flächenbahn mit einem dichten Schienennetz und einem modernen Fahrzeugpark, mit gutem Komfort und kundennahem Service, mit vertakteten und optimal verknüpften Nah-, Regional- und Fernverkehrsnetzen und einheitlichem Tarifsystem kann damit auf keinen Fall finanziert werden.
Den endgültigen Umfang der neuen Bahn von marktwirtschaftlichen Prinzipien bestimmen zu lassen ist meines Erachtens verkehrspolitischer Unfug. Die gemeinwirtschaftlichen Aufgaben, die von Zigtausenden Nahverkehrszügen und S-Bahnen tagtäglich erfüllt werden, sind nun einmal nicht kostendekkend zu haben. Der Nahverkehr ist kein an betriebswirtschaftlichen Kriterien orientiertes Unternehmen und die Marktwirtschaft kein Allheilmittel, ein soziales und ökologisches schon allemal nicht. Eine private AG muß — das können wir hier relativ nüchtern feststellen — auf Gedeih und Verderb gewinnorientiert arbeiten. Der Profit ist das Maß aller Dinge. Da muß das Gemeinwohl zwangsläufig auf der Strecke
bleiben. Ausdünnungen und Stillegungen sind die Folge. Das ist nun einmal das Gesetz der Marktwirtschaft; das wird uns hier immer wieder gesagt.
Ein anderes Problem, das meines Erachtens dringender Erwähnung bedarf, ist der geplante Stellenabbau. Bei der Deutschen Reichsbahn fand und findet weiterhin ein personeller Kahlschlag statt. In den Jahren 1989 bis 1992 wurde rund ein Drittel der Belegschaft abgewickelt. Von den jetzt noch 167 000 Beschäftigten haben 23 000 ein vom Bahnvorstand im August unterbreitetes Angebot zum sogenannten freiwilligen Ausscheiden angenommen. Nach den Berechnungen des Bundesrechnungshofes sollen zum Schluß lediglich rund 70 000 Beschäftigte übrigbleiben. Dabei spielt es beim jetzigen und geplanten Stellenabbau keine Rolle, in welchem Bereich die Beschäftigten tätig sind. Es gibt ja eben keine konkreten Analysen, welche Leistung die Bahn mit welchem Bestand an Arbeitsplätzen für die Kunden erbringen kann und soll.
Dieser rigorose Stellenabbau findet statt, obwohl die Leistungsdefizite bei der Reichsbahn schon jetzt nicht mehr zu übersehen sind: Wegen fehlenden Personals wurden bereits Fahrpläne ausgedünnt, Fahrkartenschalter mußten ganz oder stundenweise geschlossen werden, den Gepäckdienst gibt es vielerorts schon nicht mehr, zahllose Überstunden müssen geleistet werden, und Urlaubssperren wurden verhängt. — So vergraulen Sie auch noch die letzten, die treu und brav zur Bahn gestanden haben. Und denen, die vielleicht vom Auto auf die Bahn umsteigen wollen, werden Barrieren durch fehlendes Auskunftspersonal, durch die Suche nach einem funktionierenden Fahrkartenschalter, durch fehlende Informationen über Fahr- und Anschlußzeiten und Fahrgeld gebaut — und das alles zu Lasten der Kundinnen und Kunden.
Vor diesem Hintergrund klingt es fast schon zynisch, Herr Kollege Wissmann, wenn Sie mit stolzgeschwellter Brust in einem Interview verkünden, die Vereinbarung zwischen Bund und Ländern habe für über 400 000 Arbeitsplätze eine Perspektive eröffnet. Sie wissen genausogut wie ich, daß das nicht der Fall ist. Bahnchef Dürr hat erst vor wenigen Tagen noch einmal darauf hingewiesen, daß es dabei bleibt, daß das Personal von Bundes- und Reichsbahn bis zum Jahr 2000 von 360 000 auf maximal 250 000 vermindert werden soll. Für die verbleibenden Beschäftigten der Reichsbahn gibt es bis heute keinen Stufentarifvertrag. Der wird wohl auch bis zum 1. Januar nicht mehr kommen. Die Folge ist, daß es in einem Unternehmen Beschäftigte erster und zweiter Klasse gibt. Das heißt, das unterschiedliche Tarifniveau wird auf unbestimmte Zeit festgeklopft, von der fehlenden gesetzlichen Regelung die Gesamtversorgung der Reichsbahn betreffend ganz zu schweigen.
Zum Schluß möchte ich einen Punkt ansprechen, der bisher gänzlich unter den Tisch gefallen ist. Es drängt sich nämlich die Frage auf, ob die angestrebten Kostenersparnisse durch marktwirtschaftliche Betriebsführung nicht auch zu abnehmenden Sicherheitsstandards führen. Es ist z. B. auffällig, daß die Zunahme schwerer Unfälle bei Gleisbauarbeiten zeitlich mit der Übernahme der Sicherung durch privat-
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Dr. Dagmar Enkelmann
rechtliche Bewachungsunternehmen zusammenfällt. Wo früher erfahrene Mitarbeiter der bahneigenen Gleisbauhöfe eingesetzt wurden,
tun jetzt kurzfristig angelernte Arbeiter aus Privatfirmen Dienst.
Meine Damen und Herren, für die Mehrheit in diesem Hohen Hause ist die Privatisierung offenkundig ein Zauberschlüssel, mit dem man spielend alle Türen öffnen kann. Ich meine, Sie verschließen sich damit einer wirklichen Lösung des Problems drohender Verkehrsinfarkt. Die kann nur in einer grundlegenden Wende der Verkehrspolitik liegen. Mit dieser Bahnreform aber machen Sie weiter wie bisher.
Ich möchte am Ende noch einen Hinweis in eigener Sache geben. Ich habe nachher eine Diskussionsrunde mit einer Schülergruppe aus Lauchhammer.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Nur ein Wort noch. — Sie müssen also für den Rest der Debatte leider auf mich verzichten.
Ich werde mir aber das Protokoll sehr gründlich durchlesen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Klaus-Dieter Feige.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach Jahren bahnpolitischen Tiefschlafs ist die Bundesregierung aufgewacht. Die finanziellen Risiken der anhaltenden Misere eines der größten Bundesunternehmen zwangen den Verkehrsminister, endlich ein überaus dringendes Reformprojekt anzugehen, für das die GRÜNEN ein Jahrzehnt vergeblich geworben haben. Und, Herr Kohn, die F.D.P. ist uns in diesen zehn Jahren nicht wesentlich aufgefallen, von Ihrer Rede heute mal abgesehen.
Wo waren Sie denn eigentlich gestern im Verkehrsausschuß, als gerade wieder eine Autobahn „festgemacht" wurde, mit Ihrem Bahnanspruch?
Den heute zu beratenden Beschlußempfehlungen des Rechts- und Verkehrsausschusses zur Grundgesetzänderung und zur Strukturreform der deutschen Eisenbahnen bescheinige ich die gute Absicht und Realisierbarkeit. Sie nehmen uns in einigen Positionen die Befürchtung, die wir nach dem ersten Reformansatz aus der Koalition haben mußten. Die mit den heutigen Gesetzesvorlagen vorbereitete Bahnreform
wird nun doch nicht zwangsweise zum Totengräber des öffentlichen Nahverkehrs werden oder zu umfangreichen Streckenstillegungen führen.
Ich gebe zu, daß dies nur durch das Miteinander der beiden größten Fraktionen dieses Hauses klappen konnte, und ich bin nicht einmal sonderlich unzufrieden darüber, wenn da nicht dieses unangenehme Gefühl der Funktionslosigkeit der kleinen Fraktionen bzw. Gruppen wäre. So habe ich Ihr Geschrei heute auch verstanden.
Eine große Koalition würde — das hat mir diese Elefantenhochzeit gezeigt — die demokratische Kultur in unserem Land noch weiter an den Rand des Zumutbaren treiben.
Meine Damen und Herren, dessen ungeachtet soll also zunächst uneingeschränkt das Gute aus diesem Reformprojekt hervorgehoben werden. Die Verantwortung für das Schienennetz verbleibt beim Bund und ist in ausreichendem Maße verfassungsrechtlich abgesichert. Angesichts der großen ökologischen Herausforderung für die Verkehrspolitik ist des unabdingbar. Nur der Bund kann gewährleisten, daß eine Schieneninfrastruktur erhalten und ausgebaut wird, die für die Bewältigung der Zukunftsaufgaben erforderlich wird. Nur der Bund kann für eine schlechte Bahninfrastrukturpolitik letztlich auch in die politische Verantwortung genommen werden.
Das vom Verkehrsausschuß in das Eisenbahnneuordnungsgesetz eingefügte Regionalisierungsgesetz regelt außerdem die Zuständigkeit und Finanzierung für den öffentlichen Personennahverkehr. Die Länder sind nun gehalten, den öffentlichen Nahverkehr selbst zu organisieren.
Meine Damen und Herren, leider hat es der Verkehrsausschuß versäumt, den Ländern im Regionalisierungsgesetz Mindeststandards für die ÖPNV- Bedienung vorzuschreiben. So wären der Vorrang der Schiene vor der Busbedienung und die Vermeidung z. B. von Mobilitätsbehinderung einzelner Bevölkerungsgruppen — z. B. von Frauen, Kindern und alten Menschen — zu gewährleisten gewesen. Und was unsere angemahnte Mitarbeit angeht: Diese wesentlichen Punkte sind von der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bereits im Frühjahr durch einen Antrag für ein Bundes-ÖPNV-Gesetz vorgestellt und in den Bundestag eingebracht worden.
Aber dennoch haben die Länder jetzt erstmalig eine ernstzunehmende Möglichkeit, moderne Bahnkonzepte vor Ort zu realisieren.
Herr Kollege Feige, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Waltemathe?
Sehr gern.
Herr Kollege Feige, ich hatte bisher immer geglaubt, daß die GRÜNEN beson-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16971
Ernst Waltemathe
ders basisdemokratisch sind. Wollen Sie wirklich sagen, daß der Bund jede Einzelheit den regionalen Gebietskörperschaften vorschreiben soll? Kann man das nicht vor Ort entscheiden?
Herr Waltemathe, ich glaube, das kann man vor Ort sehr gut mit beeinflussen. Aber ich denke, daß der Bund hier eine Rahmenkompetenz besitzt, die er auch wahrnehmen muß. Es hat nichts mit dem Verlust an Basisdemokratie zu tun, wenn ich ökologische gesamtstaatliche Zielstellungen formuliere und diese vorgebe; denn sonst würden wir hier nicht sitzen müssen, sondern könnten alles dezentral organisieren. Da gerade auch Bahnverbindungen über Regionalgrenzen hinweggehen und auch der öffentliche Personennahverkehr zwischen Regionen möglich sein wird, denke ich, daß die Bürger in Ost und West und auch z. B. die in Schleswig-Holstein und Bayern einen Anspruch darauf haben, daß für alle die gleichen Voraussetzungen geschaffen werden.
Selbst die Einbettung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes seitens des Bundes in die Finanzverhandlungen zwischen Bund und Ländern ist sinnvoll, da dadurch Länder und Gemeinden zeigen müssen, ob sie willens sind, für den Schienennahverkehr zu Lasten der Straße mehr zu investieren.
Die Bahnreform schafft die Voraussetzung, daß die Bahnen aus sich selbst heraus Verbesserungen des Leistungsangebotes erarbeiten können. Schließlich ist der Niedergang der Bahnbetriebe nicht allein der straßenorientierten Verkehrspolitik der Bundesregierung zuzuschreiben. Die bürokratischen Verwaltungsstrukturen der Behörde Bahn haben ihren Teil dazu beigetragen. Die Reformbahn ist ab 1994 im Prinzip endlich frei von den Verkrustungen der Behördenstruktur. Meine Damen und Herren, so weit, so gut!
Aber alle Anzeichen deuten darauf hin, daß die unternehmensbezogene Strukturreform dennoch Gefahr läuft, an den Kundenbedürfnissen vorbeizugehen. So droht die Fixierung auf den lukrativen Hochgeschwindigkeitsverkehr die Verbesserung des Schienennahverkehrs, der heute rund 80 % der Bahnpassagiere trägt, zu unterlaufen.
An dieser Stelle wird das verbleibende große Manko der Bahnreform deutlich; denn was fehlt, ist ein eindeutiger ökologischer Leistungsauftrag für die reformierte Bahn. Dieser müßte im Sinne der ökologischen Daseinsvorsorge den Bahnen klare Vorgaben definieren, mit denen diese z. B. auch zur angestrebten CO2-Minimierung um 25 bis 30 % im Verkehrssektor beitragen können. Das ist eine gesamtstaatliche Aufgabe.
Die Bahnreform ist primär eine Kosten- und Strukturreform geblieben. Eine Vision für ein neues Bahnzeitalter ist nicht inbegriffen und ist nicht erkennbar. Wie Bahn und öffentlicher Nahverkehr in Zukunft ihre Schlüsselrolle bei der Bewältigung der ökologischen Krise erfüllen sollen, bleibt in diesem Zusammenhang völlig offen.
Meine Damen und Herren, die Bahnreform kann daher nur ein erster, kleiner Schritt in eine neue, aber
richtige Richtung sein. Eine Renaissance der Bahnen muß so lange eine Illusion bleiben, wie die allgemeine Verkehrspolitik aus der Windschutzscheibenperspektive gemacht wird.
Selbst ein leistungsstarkes Bahnunternehmen hat im heutigen Wettbewerbsumfeld nur wenig Spielraum, eigene Angebotsverbesserungen auch in deutliche Zugewinne beim Marktanteil umzusetzen. Der Benzinpreis ist nach wie vor — bei Berücksichtigung der Inflation — niedriger als in den 50er Jahren. Auch die Erhöhung der Dieselsteuer um 7 Pfennig und die Einführung der Lkw-Vignette ändern an der Chancenungleichheit der Bahn nichts, da beide Maßnahmen deutlich von der Kfz-Steuer-Senkung überkompensiert werden. Im Endeffekt rollt der Güterverkehr auf den Straßen immer noch billiger als auf der Schiene.
Selbst die vorgeschlagene Bahnreform wird so die Verdoppelung des Straßengüterverkehrs nicht verhindern. Wie das Jahrhundertreformwerk, wie Sie es nennen, bei dieser Konstellation wirtschaftlich und finanzpolitisch ein Erfolg werden soll, ist für mich ein Rätsel, wenngleich ich wie der Abgeordnete Jobst versuche, in diesem Sinne kritisch-optimistisch zu bleiben.
Die Finanzierungsfrage ist und bleibt trotz der gestrigen Einigung zwischen Bund und den Ländern das Kernproblem des Gesamtprojekts. Die finanziellen Risiken sind erheblich und noch nicht voll überschaubar.
Die Übernahme der Altschulden in Höhe von über 13 Milliarden DM pro Jahr, die langfristige Absicherung der Besitzstände des verbeamteten Personals und die zusätzlich notwendigen finanziellen Unterstützungen des ÖPNV addieren sich zu einer Größenordnung von 25 bis 35 Milliarden DM pro Jahr. Ausbau und Modernisierung von Bahn und ÖPNV sind dabei nicht adäquat berücksichtigt. Ob die vom Bund zugesicherte Finanzierung für die Sicherung des Ist-Zustandes des Schienennahverkehrs ausreichen wird, müssen erst die Erfahrungen der nächsten Jahre zeigen.
Meine Damen und Herren, auf Grund dieser offenen Finanzierungsfragen wird in der Bundesrepublik die Verkehrspolitik der Regierung immer noch weit mehr ampelgeregelt, als daß Weichen oder Signale gestellt werden, wie sie es sehr euphorisch gesagt haben.
Die gestrige Diskussion zum Bau der Bundesautobahn A 20 im Verkehrsausschuß hat es erneut gezeigt: Statt den Straßenbauetat zusammenzustreichen, will die Bundesregierung in den nächsten 20 Jahren 11 600 km neue Fernstraßen bauen lassen. Das prognostizierte rasante Wachstum des Straßenverkehrs erhält dadurch zusätzlichen Raum.
Offenkundig wäre auch eine reformierte Bahn von dieser Entwicklung völlig überfordert. Ihre Anteile am Verkehrsaufkommen werden deshalb ohne Gegensteuerung weiter sinken. Wie schlecht die Position der Schiene unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen ist, zeigt in drastischer Weise eine Analyse des Ifo-Instituts. Das Güterverkehrsaufkommen der Eisenbahn ist danach auf das niedrigste Niveau seit 1953 zurückgefallen.
16972 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Dr. Maus-Dieter Feige
Ein neues Bahnzeitalter wird erst dann eingeleitet, wenn die Verkehrspolitik nicht nur in dem Bereich, über den wir heute diskutieren, sondern auf allen staatlichen Ebenen die ökologischen Herausforderungen annimmt und innovativ löst. Die Reduktion der Ozon-Vorläuferstoffe Stickoxyd und Kohlenwasserstoffe aus dem Straßenverkehr um 70 % bis 80 % sowie die Verminderung der CO2-Emissionen um 30 % bis zum Jahre 2005, längerfristig um 80 %, bilden dabei den Zielrahmen. Angesichts dieser Größenordnung wird sehr deutlich, wie weitreichend die ökologischen Zukunftsaufgaben der Bahn sind und auch mit der Bahnreform bleiben.
Meine Damen und Herren, die Bundesbahn — ab 1996 vielleicht besser: die Länderbahn — wird für eine ökologische Umwelt zweifellos erhebliche Anteile vom Straßenverkehr übernehmen müssen. Die erforderliche Dimension dieses Anteils verdeutlicht vielleicht folgende Hochrechnung: Für die Vervierfachung der Verkehrsleistung der Bahnen muß das Schienennetz zu einer Flächenbahn mit 6 000 Kilometern Neu- und 14 000 Kilometern Ausbaustrecken verdichtet werden. Das kann nur durch ein rigoroses Streichen der Straßenbaupläne umgesetzt werden. Sonst werden die Ziele selbst der bestgemeinten Reformansätze niemals erreicht.
Einen fairen Wettbewerb aller Verkehrsträger garantieren wir nur dann, wenn auch der Straßen- und Flugverkehr Schritt für Schritt für die durch sie selbst verursachten ökologischen Folgen aufkommen müssen.
Wenn die Autofahrer nun in alter Gewohnheit wieder als Melkkühe der Nation hingestellt werden, sollte man bedenken, daß der Straßenverkehr der am höchsten subventionierte Verkehrsbereich ist,
und das sogar ohne Anrechnung der ökologischen und sozialen Folgen.
Als letzten Satz: Alles in allem bleibt nach der Verabschiedung dieses Gesetzesvorhabens der größte Teil des Weges zu einer ökologischen Verkehrspolitik noch vor uns. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden sich ehrlich gemeinten Verbesserungsbemühungen nicht entgegenstellen.
Herr Kollege, Sie sind jetzt ein gutes Stück über die Redezeit.
Wir hätten dieser Bahnreform, wenn sie in eine ökologische Gesamtverkehrspolitik eingebettet worden wäre, jedoch viel leichter zustimmen können.
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile dem Bundesminister für Verkehr, Matthias Wissmann, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn am
1. Januar 1994 das Privatunternehmen Bahn seine Arbeit aufnimmt, beginnt für alle Beteiligten, viele tüchtige und leistungsbereite Mitarbeiter der Bahn, aber auch für die Führung eine Revolution, ein Umsetzungsprozeß, ein Umdenken, das über Jahre hinweg dauern wird und das die Bereitschaft aller zur Mitarbeit verlangt.
Ich muß sagen: Ich bin durch die Unterstützung aus den Reihen der Mitarbeiter der Bahn, der Gewerkschaften und der Führung der Bahn — Heinz Dürr ist heute hier in diesem Hause — ermutigt. Ich glaube, daß mit diesem Gemeinschaftsgeist, der bei der Unterstützung des Konzepts der Bahnreform sichtbar wurde, der Wandlungsprozeß vollzogen werden kann, aus der Staatsbehörde Bahn zu einem modernen Dienstleistungsunternehmen zu werden. Genau das ist unser gemeinsames Ziel im Interesse des Verbrauchers, des Steuerzahlers und des Bürgers.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Tomasi di Lampedusas berühmtem Roman „Der Leopard" heißt es an einer entscheidenden Stelle:
Nur wer vieles verändert, wird das Wesentliche erhalten.
Ich meine, daß das gute Zeichen an diesem Tag darin besteht, daß wir ein seit Jahrzehnten diskutiertes Konzept ohne wesentliche Veränderungen in den Grundzügen politisch durchsetzen und daß sich damit die deutsche Politik, und zwar über Parteigrenzen hinweg, handlungsfähig zeigt, Reformaufgaben nicht verschiebt,
sondern sie gemeinsam durchsetzt. Ich meine, daß es in einer Zeit allgemeiner Verdrossenheit vielleicht das Wichtigste ist, was wir gemeinsam leisten können: Handeln statt Reden,
Verändern statt Verschieben, Durchsetzen statt nur Diskutieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle wissen, daß wir im Interesse des Bürgers einer besseren Verkehrspolitik die Bahn bereiten müssen, daß wir mehr Verkehr auf die Schiene bringen müssen, daß auch der Autofahrer ein Interesse daran haben muß, daß er nicht in einigen Jahren bei dramatischen Verkehrszuwächsen auf den Autobahnen irgendwarnn nur noch „durchparken" kann, weil der Verkehrszuwachs alles erstickt, daß also eine Verlagerung auf die Schiene im Nahverkehr, im Güterverkehr und im Personenfernverkehr dringend geboten ist.
Dies geht zum einen durch größere Investitionen in die Schiene. Im Bundesverkehrswegeplan haben wir erstmals mehr Investitionen in die Schiene vorgesehen als in jeden anderen Verkehrsweg; bis zum Jahre 2012 sind Schieneninvestitionen für rund 6 000 Kilometer geplant.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16973
Bundesminister Matthias Wissmann
Zum anderen geht dies aber auch, wenn wir Strukturen verändern. Aus einer vom Dienstrecht gefesselten Bahn muß eine unternehmerisch agierende Bahn werden,
eine Bahn, die um Verkehrsmarktanteile kämpft, eine Bahn, die ihren Dienst am Kunden in den Vordergrund stellt, und eine Bahn, die leistungsbereite Mitarbeiter nicht demotiviert, sondern ermutigt; denn nur durch eine Veränderung im Denken und Handeln vieler bei der Bahn wird die große Operation gelingen.
Nur dann, wenn Kreativität und Leistung belohnt werden, wenn — wie in jedem Wirtschaftsunternehmen — Anreize für die Arbeit vorhanden sind und Hemmnisse einer Behörde entfallen, kann sich bei den Mitarbeitern der Bahn immer mehr ein Denken und Handeln entwickeln — dazu sind die Mitarbeiter ja bereit —, das das Dienstleistungsunternehmen und nicht Behördenstrukturen im Mittelpunkt sieht.
Wir haben in den letzten Jahrzehnten bei den Bahnen einen ständigen Rückgang der Verkehrsmarktanteile erlebt. In den letzten 30 Jahren sind die Verkehrszuwächse, die wir überall hatten, fast ausschließlich in den Straßen- und in den Luftverkehr gegangen. Die Bahnen sind im wahrsten Sinne des Wortes stehengeblieben. Schon seit zwei Jahrzehnten wird diskutiert, wie wir der ständigen Tendenz zum Rückgang der Verkehrsmarktanteile der Bahnen entrinnen können.
Wir wissen doch alle, daß nur dort, wo eine klare Kostenzuordnung und Gewinnorientierung gegeben ist, wo auch wirklich Kostendruck entsteht, Rationalisierungspotentiale ausgeschöpft werden. Wir wissen schon lange, und zwar heute Gott sei Dank über Parteigrenzen hinweg, daß Behörden dort, wo es um staatliche Hoheitsaufgaben geht, Sinn machen, daß aber wirtschaftliche Tätigkeit, die Tätigkeit eines Dienstleistungsunternehmens besser von privaten Unternehmen ausgeführt wird. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich bin deswegen froh, daß wir darüber, jedenfalls über weite Strecken, nicht mehr die alten ideologischen Diskussionen haben.
Allein die Sprengung der Fesseln des öffentlichen Dienstrechts bei der Bahn bringt dem Unternehmen eine Kostenentlastung von fast 60 Milliarden DM in zehn Jahren. Daß wir natürlich nicht nur die Strukturveränderung benötigen — AG, Öffnung des Schienennetzes für Dritte —, sondern auch die Entschuldung durchsetzen müssen, hat uns die Bahnkommission unter Leitung des sehr verdienstvollen Herrn Saßmannshausen als Konzept mit auf den Weg gegeben.
Der AG am 1. Januar 1994 die Schulden der alten Staatseisenbahnen zu belassen hätte bedeutet, ihr den Konkursantrag bereits mit auf den Weg zu geben. Deshalb übergeben wir dem neuen Unternehmen eine schuldenfreie Bilanz, ja wir übernehmen sogar die extrem hohen Belastungen der AG durch das Personal und das Material der Reichsbahn.
Unser gemeinsames Ziel ist — wir bringen es heute in einem Entschließungsvertrag der Fraktionen zum Ausdruck —, die Bahn in den neuen Bundesländern
auf das technische Niveau der Bundesbahn in den alten Bundesländern zu bringen.
Wir haben in einem entscheidenden Punkt des Bahngründungsgesetzes, und zwar ohne Haushaltsvorbehalt, gesagt, daß wir in den nächsten neun Jahren bis zu 33 Milliarden DM in die Erneuerung der Schienenstrecken in den neuen Bundesländern geben wollen. Wir brauchen diese Aufholjagd auch, damit die Tendenz der letzten Jahre, daß auch dort immer weniger Verkehr auf die Schiene geht, gestoppt wird und wir wieder eine bessere Einstellung zu den Bahnen und eine Stärkung des Schienenverkehrs auch in den neuen Bundesländern bekommen.
Meine Damen und Herren, wie wichtig die Veränderung ist, zeigt die Tatsache, daß die Bahnen allein für 1993 ein Jahresergebnis mit einem Defizit von rund 14 Milliarden DM erwarten und daß am Ende dieses Jahres rund 70 Milliarden DM Schulden bei Bundesbahn und Reichsbahn blieben. Hätten wir nicht gehandelt,
so würden wir die Bahnen in eine Schuldenlawine ohne Ende fahren lassen und wären zu einem Stillegungsprozeß gezwungen, den keiner von uns verantworten kann.
Ich glaube deswegen, daß wir jetzt allerdings bei den Bahnen — das ist nicht zuletzt eine Verantwortung der Führung der Bahn, aber ich bin überzeugt davon, daß sie sich dieser Verantwortung stellt — den inneren Umsetzungsprozeß beginnen müssen, daß wir die eingeleiteten Reformschritte verstärkt fortsetzen müssen, daß wir diejenigen, die bei der Bahn heute schon unternehmerisch gedacht und agiert haben, ermutigen und stärken müssen.
Ich nenne ein Beispiel, das manche von Ihnen kennen, das zeigt, daß heute schon Kreativität da ist, die aber mehr belohnt und gestärkt werden muß. Wenn jetzt durch eine gute Aktion der Bahnen in Norddeutschland der ökologische und ökonomische Unsinn beendet wird, daß eine große deutsche Kaffeefirma, die mit Schiffen ihre Kaffeebohnen aus der Welt bekommt, jeden Tag mit 30 Lkws von Bremen nach Berlin fährt und zurück,
wenn jetzt die Bahn es geschafft hat, daß diese ökologisch und ökonomisch unsinnigen Verkehrsleistungen beendet werden, weil die Bahn ein attraktives Angebot gemacht hat und dies jetzt im Güterschienenverkehr stattfindet, dann sollte das ein Beispiel für Hunderte in der Zukunft werden.
16974 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Bundesminister Matthias Wissmann
Ich glaube, wir brauchen das, wenn wir ökonomisch erfolgreich werden wollen und ökologisch verantwortlich handeln wollen.
— Herr Waltemathe, Sie sagen es: Die Bremer sind hier vorbildlich. Spätestens seit Ihrer letzten Haushaltsrede weiß ich, wie sehr Sie sich um diese parteiübergreifende vorbildliche Funktion bemühen.
Herr Bundesminister, der Kollege Dr. Seifert würde gern eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön.
Herr Minister, da Sie gerade eindrucksvoll aufzählen, daß die Bahnen auch Gewinn einfahren können, wenn sie einmal privat sein werden, frage ich Sie: Wäre es nicht für den Bund, z. B. für Ihren Kollegen, den Finanzminister, auch sehr schön, wenn eine wirtschaftlich arbeitende Bahn Gewinn einfahren würde und das z. B. für soziale Zwecke eingesetzt werden könnte im Sinne des Bundeshaushaltes?
Herr Kollege Seifert, wir werden sicher in der Lage sein — Herr Dürr sagt: bald —, zumindest in Teilbereichen der Bahn eine schwarze Null zu fahren, also aus den roten Zahlen herauszukommen. Aber ob wir insgesamt bei den Bahnen in einer absehbaren Zeit die Erträge erwirtschaften, die wir uns gemeinsam erhoffen, das bleibt abzuwarten.
Ich will allerdings eines ausdrücklich unterstützen: Wir dürfen in einer Zeit, in der wir das Umdenken in Richtung des Bahnverkehrs fördern wollen, keine psychologisch verhängnisvollen Fehler machen. Deshalb bin ich froh, daß es gelungen ist — dies war angesichts der Sparanstrengungen schwierig —, für die kinderreichen Familien dem Wuermeling-Paß zu retten,
daß es gelungen ist, das Interrailticket, das junge Leute in Deutschland und in ganz Europa auf die Bahn ziehen soll, nicht nur zu erhalten — es war ja gefährdet —, sondern es auf weitere Zonen in Europa zu erstrecken. Ludwig Erhard hat einmal gesagt: Die Hälfte der Wirtschaftspolitik ist Psychologie. — Ich bin davon überzeugt, auch die Hälfte des Erfolgs der Bahn hat mit Psychologie und mit Umdenken zu tun. Ich meine, daran sollten wir denken, wenn wir über Verkehrspolitik reden.
Gewinner der Bahnreform, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird in jedem Fall der Kunde sein, um den sich die Bahn AG dann wirklich bemühen muß, sowohl was den Komfort, was die Pünktlichkeit und Häufigkeit der Zugverbindungen als auch was den Preis angeht. Gewinner wird aber auch der Bürger sein, weil eine alte Befürchtung in der Diskussion um die Bahn ihre Gültigkeit verliert: Der Wettbewerb tritt
an die Stelle der bisher drohenden massenhaften Streckenstillegungen. Damit sichert die Bahnreform den Nahverkehr und ein großes Stück Lebensqualität für unsere Bevölkerung, insbesondere in den ländlichen Gebieten.
Natürlich — das ist heute erwähnt worden — gab es ein Ringen um die Frage, wie wir den Nahverkehr organisieren werden. Wir haben in Deutschland ja inzwischen die Angewohnheit, ein drei Viertel volles Glas immer als ein Viertel leer zu betrachten. Wir sollten über der Notwendigkeit eines solchen Ringens — wir haben nun sechs Monate hart verhandelt, und ich bin allen dankbar, die sich daran mit Engagement beteiligt haben — nicht vergessen, daß es uns damit gelingt, ein verkehrspolitisches Jahrhundertwerk endlich durchzusetzen.
Ich glaube, daß sollten wir in dieser Stunde besonders betonen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16975
Bundesminister Matthias Wissmann
Ich danke dem Bundesfinanzminister, für den das ein schwieriges Werk in einer finanzwirtschaftlich kritischen Zeit ist.
Ich stehe auch nicht an, dem Vorsitzenden der Ministerpräsidentenkonferenz, Herrn Scharping, für seinen persönlichen Beitrag zu dem Ergebnis zu danken, ebenso wie allen Ministerpräsidenten. Ich finde, es hat keinen Wert, jetzt die Ärgernisse der letzten Monate noch einmal aufzubereiten, Herr Kollege Eichel. Ich bin überzeugt, wir wollen gemeinsam in die Zukunft einer vernünftigen Bahn gehen. Ich füge hinzu, daß ich den Kolleginnen und Kollegen im Parlament besonders danke, den Berichterstattern, Dionys Jobst, Horst Gibtner, nicht zuletzt Klaus Daubertshäuser, der sich ungewöhnlich engagiert hat, und zwar in einem parteiübergreifenden Sinne.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, „Bürgernähe statt Zentralismus" steht im Mittelpunkt der Idee einer Neuorganisation des Nahverkehrs. Die Bahn AG hat sich im Nahverkehr ehrgeizige Ziele gesetzt: eine Steigerung der Personenkilometer im Nahbereich um rund 50 % bis zum Jahr 2000. Wir wissen, wie schwer dieses Ziel zu erreichen ist. Aber wir stellen Nahverkehrsinvestitionen in einer Größenordnung zur Verfügung wie nie zuvor in der Nachkriegsgeschichte.
Gleichzeitig fördern wir den Güterverkehr. Im Güterverkehr liegt eine Überlebensfrage der neuen Bahn. Denn hier haben Bundesbahn und Reichsbahn bisher drastisch Marktanteile verloren. Innerhalb von 30 Jahren sank der Anteil der Bundesbahn am Güterverkehr von 37 % auf nur noch 18 %.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Land, in dem man die Schieneninfrastruktur noch viel mehr vernachlässigt hat als in Deutschland, sind die Vereinigten Staaten. In den Vereinigten Staaten hat man Anfang der 80er Jahre eine große Güterverkehrsgesellschaft, Conrail, neu organisiert und privatrechtlich strukturiert. Vor dieser Neuorganisation machte Conrail pro Tag eine Million Dollar Verlust, heute, zwölf Jahre danach, pro Tag eine Million Dollar Gewinn. Was aber noch viel wichtiger ist als Gewinn und Verlust: Eine unternehmerisch agierende Bahn konnte dort auf den entscheidenden Strecken wieder Verkehrsmarktanteile zurückgewinnen. Und das ist doch genau das, was wir verkehrspolitisch und ökologisch gemeinsam brauchen.
Wir sollten von den guten Beispielen in anderen Ländern lernen und daraus für die innere Organisation der deutschen Bahnen Konsequenzen ziehen.
Meine Damen und Herren, die Bahnreform paßt in ein größeres Gesamtkonzept. Sie paßt in eine Vorstellung von Verkehrs-, Wirtschafts- und Ordnungspolitik, wo der Vorrang der privaten Organisation und nicht der Staatsorganisation gilt, in eine Wirtschafts-, Verkehrs- und Ordnungspolitik, wo der Vorrang nicht der zentralen Organisation gilt, irgendwo fernab vom Bürger, sondern wo man so viel Verantwortung wie möglich auf die unteren Ebenen verlagert. Unser Beispiel: Die Regionalisierung des Schienenpersonennahverkehrs.
Und die Bahnreform paßt in eine Verkehrs-, Wirtschafts- und Ordnungspolitik, wo man auf die Leistungsbereitschaft des einzelnen Mitarbeiters vertraut, wo man seine Motivation stärkt, wo man Strukturen beseitigt, die motivationshemmend sind.
Ich muß sagen: Ich war erfreut darüber, daß es in den letzten Monaten gelungen ist, dieses ganze Thema Bahnreform aus den sonst in Bonn häufig üblichen Bereichen ideologischer Verklemmung herauszuhalten. Es ist bemerkenswert, wenn die Verantwortlichen der Gewerkschaften im Kern die Bahnreform genauso wollen wie die Führung der Bahn unter Heinz Dürr.
Ich bin überzeugt davon, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht in Deutschland in vielen Bereichen so: Wir werden alle in der Politik nicht an Ansehen gewinnen, wenn wir jedes Thema ideologisch überhöhen und damit lösungsunfähig werden, sondern Ansehen werden wir gewinnen, wenn wir in entscheidenden Punkten handlungsfähig sind
und Probleme lösen, statt sie nur zu beschreiben.
Ich meine ohnehin, daß wir in unserem Land noch allzu häufig die Tendenz haben, glänzende Seminardiskussionen zu veranstalten, in denen sich jeder eindrucksvoll profiliert und aufzählt, was alles nicht geht. Glaubwürdigkeit zurückgewinnen werden die Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften aber nicht, wenn sie beschreiben, was alles nicht geht, sondern wenn sie zeigen, und zwar durch Handeln, wie man Dinge verändern kann.
Die Veränderungsfähigkeit unserer Gesellschaft ist die Voraussetzung dafür, daß auch der Standort Deutschland wieder an Attraktivität gewinnt. Deswegen bin ich froh, daß wir an einem großen, seit Jahrzehnten diskutierten Reformwerk der Bahnreform die Veränderungsfähigkeit unserer Gesellschaft beweisen.
Daß das parteiübergreifend geschieht, ist kein Nachteil. Ich finde, es ist ein Vorteil. Es gibt der Bahn und es gibt unserem Land eine gute Zukunftschance.
Ich erteile dem Ministerpräsidenten des Landes Hessen, Hans Eichel, das Wort.
16976 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte nun aus der Perspektive der Länder einige kurze Bemerkungen zu dem Gesetzeswerk, das heute hier im Bundestag und dann am 17. Dezember im Bundesrat verabschiedet werden soll, machen. Ich muß nicht alles wiederholen, was hier — und ich finde: zu Recht — von allen Seiten des Hauses über die Bedeutung der Bahn in der Zukunft und ihre Vernachlässigung in der Vergangenheit gesagt worden ist. Wäre das allen ein bißchen früher eingefallen, hätten wir es jetzt alle ein bißchen leichter.
Anläßlich der ersten Beratungsrunde im Bundestag am 26. März habe ich die Notwendigkeit einer Wende in der Verkehrspolitik hervorgehoben. Über diese Notwendigkeit besteht nach meinem Eindruck hier im Hause Konsens.
Für diese Wende in der Verkehrspolitik werden Sie die deutschen Länder und die deutschen Gemeinden als ganz starke Bündnispartner finden, und zwar quer durch alle parteipolitischen Richtungen. Das war der Sinn der nicht immer einfachen Verhandlungen zwischen Bund und Ländern. Ich sage ein bißchen salopp: Nicht immer fördern Generalisten die Verhandlungen. Die Auseinandersetzungen zwischen Bund und Ländern wurden immer nur als ein Finanzpoker wahrgenommen. Das ist ein Mißverständnis. Noch nie hat sich die Ministerpräsidentenkonferenz so intensiv mit verkehrspolitischen Fragen beschäftigt, wie das bei diesem Thema der Fall war.
Das ist eigentlich das zentrale Thema gewesen. Deswegen sage ich gerade zu Ihnen, Herr Kohn: Das, was Sie hier gesagt haben ist nicht richtig. Ich will Ihnen nur zwei Gegenbeispiele nennen. Der Bund wird in vielen Fällen — und wir merken es immer mehr — seinen verfassungsmäßigen Verantwortungen nicht gerecht. Das hat uns in unseren Erfahrungen geprägt.
Seit Jahren finanzieren wir im Hochschulbau vor. Selbst das wird uns nicht mehr erlaubt, obwohl der Bund mitfinanzieren müßte. Sie wissen selber: Was wir im Hause zur Zeit im Zusammenhang mit dem Arbeitsförderungsgesetz beschließen, ist nichts anderes als eine Lastenverlagerung in die Kommunalhaushalte.
Anschließend stehen die Kommunen bei uns, den Ländern, die wir für ihre Finanzausstattung verfassungsrechtlich verantwortlich sind, und verlangen von uns Geld zurück. So geht es nicht. Kein Verschiebebahnhof zwischen Bund und Ländern, sondern ein faires Miteinander!
— Was dem Bund passiert ist? Es war die Zeit der Solidarpaktverhandlungen oder — ich sage lieber — des Föderalen Konsolidierungsprogramms. Der Bundesfinanzminister hat leider eine falsche Propaganda
gemacht. Er hat nicht schlecht verhandelt. Es ist ein faires Ergebnis gewesen.
— Ich schicke Ihnen alle Zahlen zu. Die Legende, die in Bonn immer verbreitet wird, der Bundesfinanzminister sei dabei über den Tisch gezogen worden, muß ich in seinem Interesse zurückweisen. Das ist nicht wahr.
Wahr ist aber, daß er immer unterschlagen hat, welche Entlastungen er zum 1. Januar 1995 tatsächlich hat, und gemeint hat, sich damit einen verhandlungstaktischen Vorteil zu verschaffen. Nein, bei den Bund-Länder-Verhandlungen zur Bahnreform ging es nicht um einen Finanzpoker. Das ist leider auch in der Presse völlig falsch dargestellt worden. Sondern es ging darum, wie die Länder und Kommunen die Verantwortung für den Nah- und Regionalverkehr übernehmen können, ohne Streckenstillegungsprogramme durchführen zu müssen, wie dies der Bund jahrelang gemacht hat. Wir sind nicht bereit, diese Verkehrspolitik fortzuführen. Wir wollen den Regionalverkehr und den Nahverkehr ausbauen. Deswegen kämpfen wir für die richtigen Bedingungen.
Ich denke, wir haben ein Ergebnis erzielt, das man als Ministerpräsident verantwortlich seinem Kabinett zur Zustimmung vorlegen kann. Aber ich stimme auch allen zu, die gesagt haben, es sei nur ein erster Schritt. Es werden viele weitere Schritte folgen müssen, bevor wir angemessene gesetzliche Rahmenbedingungen zu einer neuen Verkehrspolitik in Deutschland haben.
Die Länder haben sich in erheblichem Umfange und auch unter Verzicht auf wichtige Positionen bewegt. Wir waren der Auffassung — Sie wissen, ein Bundesland wird aus diesem Grunde im Bundesrat der Grundgesetzänderung nicht zustimmen —, daß das Eigentum am Fahrweg eigentlich Bundessache bleiben sollte.
Wir waren dieser Auffassung.
Wir haben uns in einem langwierigen Prozeß einander angenähert, und zwar dadurch, daß die Gemeinwohl- und die Infrastrukturverantwortung des Bundes im Grundgesetz bei Aufgabe des staatlichen Eigentums am Fahrweg festgeschrieben worden sind. So führt man zwei Positionen zusammen. Deswegen teile ich auch nicht das, was aus meiner Sicht zu kritisch gegen diese Konzeption gesagt worden ist.
Nichtsdestoweniger werden wir die weitere Entwicklung noch sehr genau beobachten müssen. Nicht hinnehmbar wäre die Entwicklung zu einem Schienennetz, das die Infrastrukturverantwortung der öffentlichen Hand nicht widerspiegelt. Das wird nie unsere Zustimmung finden. Es kann auch nicht ein Schienennetz werden, das nur noch die Vermarktungschancen widerspiegelt; denn welche Konsequenzen das für die Raumordnung im Lande hätte, kann sich jeder sofort ausrechnen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16977
Ministerpräsident Hans Eichel
Deswegen haben wir Einigung in diesem Punkt.
Bei der Regionalisierung übernehmen die Länder die Verantwortung für den Regionalverkehr. Die Problematik der Regionalisierung ist in den Verhandlungen auch unter dem Aspekt der Qualität der Schieneninfrastruktur in den neuen Ländern erörtert worden. Es gibt aber nicht nur vernachlässigte Bahnstrecken in Ostdeutschland. Es hat nicht nur die SED vom Vermögen gezehrt. Das hat sie. Es gibt — wenn auch nicht im gleichen Umfang, das ist wohl wahr —vernachlässigte Bahnstrecken auch in Westdeutschland. Mit anderen Worten: Die Länder begeben sich hier in ein Risiko, das sie nicht voll überschauen können.
Die Zahlen sind noch nicht belastbar. Bei den neuen Bundesländern sind überhaupt noch keine Zahlen da. Sie müssen bitte verstehen, daß die Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer in diesem Punkte zögerlicher sind als die der alten; denn sie haben überhaupt keine Zahlen auf dem Tisch.
Ich sage deswegen auch: Ich bin froh darüber, daß wir in einem gemeinsamen Annäherungsprozeß die Garantie des Bundes erreicht haben, daß für vier Jahre zu definierten Kosten, die dann noch vom Bund übernommen werden, der Regionalverkehr auf dem jetzigen Stand bleibt. Dann werden wir in der ersten Revision sehen, wie hoch tatsächlich die Kosten sind. Bis dahin werden die Kosten von der Bundesbahn aufgearbeitet werden können.
Dann werden wir hier noch einmal gemeinsam offen und sehr fair darüber reden müssen, wie hoch die tatsächlichen Kosten zunächst nur des Statusquo-Verkehrs sind; denn die müssen auf jeden Fall vom Bund übernommen werden. Zeigt sich, daß die Kostenabschätzungen zu niedrig waren, gehen die Mehrkosten zu Lasten des Bundes. Das muß man sich ganz genau vor Augen führen.
Mit der Regionalisierung wird eine Aufgabe übertragen. Entsprechende Finanzmittel müssen mit übertragen werden. Auch wir haben in den Landeshaushalten — genauso wie die Gemeinden in den kommunalen Haushalten — für zusätzliche Aufgaben kein Geld mehr. Das sehen Freie Demokraten in der Kommunal- und der Landespolitik nicht anders.
Ich will bei der Gelegenheit noch auf etwas anderes hinweisen, weil es mir wichtig ist. Ich möchte auch an das anknüpfen, was Herr Daubertshäuser gesagt hat. Herr Bundesverkehrsminister, ich hielte es für sehr wichtig, wenn die Busgesellschaften und die Bahn zusammenblieben, und zwar aus einem ganz einfachen Grunde. Wenn Sie die trennen, wenn Sie dann zulassen, daß Parallelverkehre im ländlichen Raum organisiert werden, daß unterschiedliche Angebote gemacht werden, dann werden Sie nichts weiter erleben als weitere Streckenstillegungen im Lande und weiteren Verkehr auf der Straße.
Es muß jeder, der anbietet, gezwungen werden, sich mit anderen Verkehrsträgern zu koordinieren; denn sonst fahren viele Busse aus den ländlichen Gebieten in die Städte hinein, und die Schienenstrecken veröden. Das kann in niemandes Sinn sein. Wir brauchen eine Optimierung des Straßen- und Schienenverkehrs durch eine bessere Koordination der Bahn und der Busgesellschaften.
Ich sage das folgende an Sie, Herr Kohn, weil Sie offenbar am deutlichsten widersprechen. Wenn Sie meinen, daß alle Verkehrsträger zu einem vernetzten System verbunden werden sollen — dem stimme ich ausdrücklich zu —, dann gilt das aber auch für das Verhältnis von Bahn und Busgesellschaften. Nur als System kann man die Leistungen beider Verkehrsgesellschaften optimieren, nicht anders.
Deswegen halte ich es für einen schweren Fehler, wenn die Busgesellschaften von der Bahn abgekoppelt werden.
Nun zu den Voraussetzungen, unter denen wir bereit sind, den Regionalverkehr zu übernehmen und den Gesetzen zuzustimmen. Das ist inzwischen von Herrn Daubertshäuser als Ergebnis der gestrigen Besprechung klargestellt worden. Ich will dazu deutlich sagen — weil auch Sie, Herr Kohn, das erwähnt haben —: Es geht nicht darum, daß ein Verfassungsorgan das andere ändern will. Die Ministerpräsidenten sind kein Verfassungsorgan.
Das Problem, das wir zusammen hatten, war ganz offenkundig: Wie vermeiden wir möglichst noch ein Vermittlungsverfahren? Wie erreichen wir, daß Bundestag und Bundesrat — allerdings unter sehr großem Zeitdruck — zu einer gemeinsamen Beschlußfassung kommen und daß wir nicht hinterher feststellen müssen: Sie haben etwas in bestem Wissen beschlossen, was für die Länder untragbar ist, und anschließend haben wir ein Vermittlungsverfahren. Das war der Sinn. Ich denke, das müßte für jedermann verständlich sein.
Herr Ministerpräsident, Herr Kollege Kohn würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gern.
Wenn Sie zustimmen, möchte ich vor der Frage gern eine Bemerkung zum Kollegen Kohn machen. Der Herr Bundesverkehrsminister war bei mir hier oben. Er legt großen Wert auf die Feststellung, daß er bei der Auflistung seines Dankes an die Berichterstatter aus Versehen, Herr Kollege Kohn, Ihren Namen nicht erwähnt hat. Aber es drängt ihn, das zu tun.
Nun die Frage.
Ich bin tief gerührt. Ich habe vorhin, als der Kollege Jobst hier sprach, gesagt: Man hat vergessen, auch Herrn Sebohm zu danken.
Herr Ministerpräsident, mit Blick auf die Diskussion über die Privatisierung der Bahnbus-Gesellschaften: Würden Sie mir einräumen, daß sich das private Gewerbe bereit erklärt hat, die Verkehrsverbünde in der Abteilung Bahnbus komplett zu übernehmen, und
16978 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Roland Kohn
daß dadurch die Systemwirkung, die Sie zu Recht anmahnen, nicht in Frage gestellt wird?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, das ist mein Eindruck nicht. Ich will ausdrücklich sagen, Herr Kohn: Wir benötigen ein integriertes Angebot von Schiene und Straße im ländlichen Raum.
Wenn wir das nicht bekommen, wenn Sie ein konkurrierendes Angebot für Schiene und Straße bekommen, werden weitere Streckenstillegungen die Konsequenz sein.
— Sehen Sie, das ist der Unterschied. Wir reden doch, denke ich, über Verkehrspolitik; und wir reden über Raumordnungspolitik; und wir reden darüber, die ländlichen Räume auch mit Verkehrsleistungen zu versorgen.
Deswegen reden wir über ein integriertes System.
— Ja eben. Aber deswegen ist es notwendig, daß wir einen ständigen Optimierungsprozeß zwischen den verschiedenen Verkehrsträgern und nicht einen Verdrängungsprozeß bekommen. Das bedeutet, daß Sie dann auch das Angebot für beides in eine Hand bringen müssen; sonst geht das nicht.
Das können konkurrierende Gesellschaften sein. Was ich hier sage, schließt doch Konkurrenz nicht aus, Herr Kohn. Aber es verlangt vom Unternehmen, daß es gemeinsam für Schiene und Straße anbietet; nicht daß der eine nur für die Schiene, der andere nur für die Straße anbietet. Das ist der Fehler.
Meine Damen und Herren, ein Wort noch zu den finanziellen Fragen der Reform. Ich will deutlich machen: Wir werden eine erste Revision bekommen, wenn klar ist, was die jetzt vom Bund garantierten Verkehre tatsächlich kosten. Wir werden eine zweite Revision bekommen. Da geht es um die Frage: Welche Mittel sind erforderlich, damit erstens das System, das wir heute haben, verbessert werden kann? Wir haben im ländlichen Raum großen Nachholbedarf — sehen Sie sich das Schienensystem an —, auch im Westen.
Welche Mittel sind zweitens erforderlich, um in den Verkehrsverbänden zur Vertaktung des Verkehrs zu kommen? Das war immer unser Ziel; wir wollten eigentlich früher mehr Mittel haben, weil wir glauben — ich denke, daß die Verkehrspolitiker das gar nicht anders sehen können —, daß wir uns in den nächsten vier Jahren im Nah- und Regionalverkehr keinen Stillstand leisten können, sondern daß wir vorangehen müssen, und zwar nicht erst nach vier Jahren, sondern möglichst schnell.
Wir haben uns auf eine Stufenlösung zum Aufbau der dafür notwendigen Finanzen verständigt. Ich sage ausdrücklich: Ich denke, daß das Finanzierungssystem auch weiterhin konsensfähig bleibt.
Wie Sie wissen, gibt es sehr sorgfältige Untersuchungen, soweit man das überhaupt unter den heutigen Bedingungen kann, die davon ausgehen, daß wir, die Länder, für die Übernahme des Regionalverkehrs 14 Milliarden DM benötigen. Dem lagen Untersuchungen der vier Länder Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Hessen zugrunde, die allein 75 % des Regionalverkehrs bestreiten.
— Nein, es war nicht über den Daumen gepeilt, aber Sie haben natürlich recht, daß genaue Berechnungen des gesamten Finanzbedarfs nicht vorlagen, aber das, was wir hatten, war weitaus besser als das, was wir sonst an Zahlen für dieses Thema gehabt haben, wie Sie sehr wohl wissen, Herr Kohn.
Deswegen, denke ich, bilden die Finanzierungsmittel, wenn auch zeitlich gestreckt und damit wieder inflationsbereinigt weniger einen Sockel, der nach dem Ergebnis von gestern im Jahr 2001 mit Wirkung von 2002 überprüft wird. Man kann nunmehr den Ländern empfehlen, die Regionalisierung zu übernehmen. In späteren Jahren aber werden wir uns dann wieder verantwortlich unterhalten müssen.
Das große Bedenken, das ich habe und ich hier keinen Moment verhehlen will, ist die gleichzeitige Absenkung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes. Es gibt die Verstetigung auf dem Niveau von 6,3 Milliarden DM nur noch bis Ende 1996.
Ich sage Ihnen, ich glaube nicht, daß dieses Ergebnis trägt. Daran wird aber jetzt niemand von uns die Bahnreform scheitern lassen. Ich glaube aber, über diesen Punkt müssen wir uns — ich hoffe, dann unter finanziell etwas günstigeren Bedingungen — im Jahre 1995 neu unterhalten. Eine Reihe von Projekten, die insbesondere in den Ballungsgebieten, in den Städten wichtig sind, kommen jetzt ins Trudeln. Es kann von niemandem gewollt sein, daß z. B. der Ausbau von Stadtbahnstrecken, von S-Bahnstrecken in dem Zusammenhang nicht verwirklicht werden kann.
Es wäre ein schlechter Witz, die Regionalisierung — so wirkt es sich im Ergebnis im Moment dann aus — zu einem Teil aus den Nahverkehrsinvestitionen zu bezahlen. Das macht auf Dauer keinen Sinn. Das war ein Teil des Kampfes; den haben wir noch nicht gewonnen. Ich denke aber, alle Verkehrspolitiker müssen über dieses Thema noch einmal neu nachdenken.
Wir haben eine rechtlich einwandfreie Absicherung der Finanzierungsmittel im Grundgesetz — das war uns wichtig, ich bitte Sie um Verständnis dafür; die Länder sind da etwas mißtrauisch —, nicht Bundesfinanzhilfen, sondern ein originäres Recht der Länder auf diese Mittel für diese Aufgabe. Das ist uns, denke ich, vernünftig gelungen.
Auch die Zustimmung der Länder zu den Bahngesetzen ist künftig erforderlich. Bei der Zustimmung des Bundesrates — und damit komme ich zum Schluß,
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16979
Ministerpräsident Hans Eichel
meine Damen und Herren — geht es um die Rahmenbedingungen. Da will ich meine Sorge, die z. B. der Hamburger Bürgermeister viel drastischer ausdrükken würde als ich, noch einmal deutlich machen.
Wir übernehmen die Verantwortung — wir haben das auch gewollt — für den Regionalverkehr. Aber, meine Damen und Herren, den Verkehrsmarkt und die Chancen am Verkehrsmarkt bestimmt noch weitgehend der Bund, und es gibt eine Reihe Länderchefs, die die Vermutung oder die Ängste haben, daß der Bund dann eine Verkehrspolitik macht, bei der er, da er für den Fernverkehr auf der Schiene zuständig bleibt, diesen begünstigt, daß er im übrigen eine Verkehrspolitik macht, die weiter die Straße begünstigt, und daß wir dann eine Aufgabe übernommen haben, bei der wir die Marktchancen unsererseits nicht hinreichend mit beeinflussen können und dann doch wieder in große Defizite hineinfahren.
Ich bitte Sie also ganz herzlich, das ganz ernst zu nehmen. Nach allem, was ich heute hier im Bundestag gehört habe, gibt es darüber offenbar auch gar keinen Streit: Die Länder sind Verbündete des Bundes, wenn es darum geht, eine Wende in der Verkehrspolitik einzuleiten und eine ökologisch orientierte Verkehrspolitik zu machen, und zwar von allen Seiten.
Verzahnung von Nah-, Regional- und Fernverkehr, Verzahnung der Instrumente, mit denen wir das beeinflussen. Steuerpolitik: Meine Damen und Herren, ich habe mir die ganze Zeit Gedanken gemacht, warum der Bund sich so nachdrücklich gewehrt hat, die Mineralölsteuer zu einer Gemeinschaftssteuer zu machen. Ich habe eine einfache Erklärung; sie ist wohl auch zutreffend. Er will sie weiter als Finanzierungsinstrument, aber nicht als verkehrspolitisches Lenkungsinstrument benutzen, und das halte ich für einen Fehler.
Ich bin der Meinung, das gehört in ein Gesamtkonzept hinein, und dann wäre es vernünftiger gewesen, an der Mineralölsteuer viel direkter anzuknüpfen, aber wir haben uns da auf ein Level geeinigt, das auch für den Bund verträglich war. Ich vermute, es wird große Mineralölsteuererhöhungen geben, nur werden sie mit Verkehrspolitik nichts zu tun haben, und das kann man, glaube ich, ganz genau voraussehen.
Zum Schluß, meine Damen und Herren: Wir sitzen hier jetzt mehr denn je in einem Boot.
— Ja, Zug ist auch etwas Umweltfreundliches, je nachdem, wie es gemacht wird.
Es wird nicht mehr so sein — wir wollen das auch nicht —, daß die Länder oder die Gemeinden vom Bund etwas fordern, was er nicht will, sondern wir machen jetzt gemeinsam Verkehrspolitik. Das ist die Konsequenz der heutigen Entscheidung, und das heißt auch, wir müssen — und das wäre meine herzliche Bitte — mit ein bißchen mehr Verständnis als eine Staatsebene auf die jeweils andere reagieren.
Unterstellen Sie uns nicht Beutelschneiderei. Wir haben die Zweckbindung der Mittel gewollt, sogar die Länderfinanzminister, weil wir keinen zweiten Länderfinanzausgleich, sondern eine gute Verkehrspolitik wollten und weil wir nicht wollten, daß die Mittel, um die es hier geht, für andere Zwecke eingesetzt werden. Ich denke, was heute im Bundestag verabschiedet wird und — ich hoffe es — mit sehr großer Mehrheit am 17. Dezember im Bundesrat, ist ein guter und großer Schritt hin zu einer anderen Verkehrspolitik.
Ich bitte Sie aber, es bei dem nicht zu belassen, sondern mit den deutschen Ländern zusammen weitere Schritte zu einer ökologisch orientierten Verkehrspolitik zu gehen.
Nun hat der Kollege Horst Gibtner das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch ich komme nicht umhin, unserem Plenum zu sagen, daß unser heutiges Gesetzgebungsvorhaben eine wahrhaft historische Dimension hat, denn es geht ein Kapitel Eisenbahngeschichte zu Ende, das Zeitalter der zentralen Staatsbahn, das besonders mit dem Namen „Deutsche Reichsbahn" verknüpft ist. Aber auch die Deutsche Bundesbahn trägt diesen Charakter.
Am 1. April 1920 ist die Deutsche Reichsbahn aus den damaligen Staatsbahnen der Länder mit über einer Million Beschäftigter gegründet worden. Daneben bestanden viele Privatbahnen, im Gebiet der damaligen Sowjetischen Besatzungszone allerdings nur bis zu deren Enteignung im Jahre 1949.
Die Zentralisierung der Staatsbahnen war in den Artikeln 89 und 171 der Weimarer Verfassung festgelegt. „Wer die Eisenbahnen eines Landes in seiner Hand hat, ist Machtfaktor ersten Ranges in Politik und Wirtschaft", so Herr Groener, der erste Verkehrsminister der Weimarer Republik. Von Oktober 1924 bis Februar 1937 ist die Deutsche Reichsbahn dann als öffentlich-rechtliche Betriebsgesellschaft unter internationaler Aufsicht geführt worden und hatte umfangreiche Reparationsleistungen an die damaligen Siegermächte des Ersten Weltkrieges aufzubringen. Sie führte in dieser Zeit den Namen „Deutsche-Reichsbahn-Gesellschaft" .
Meine Damen und Herren, die Bedeutung der Deutschen Reichsbahn für die Weimarer Republik und der Reichsbahngesellschaft für die Siegermächte des Ersten Weltkriegs zeigt, daß die Bahnen als dazumal wichtigster Verkehrsträger Erträge abwarfen. Das hat sich geändert. Die Bahn war zunehmend dem Wettbewerb, insbesondere des Kraftverkehrs, ausgesetzt. Die Verkehrsmarktordnung, die ab 1931 eingeführt wurde, konnte die Bahn nicht vor der Konkurrenz schützen.
Längst hat der deutsche Staat, zunächst nur auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik, einen föderalen Aufbau — ein klarer Widerspruch übrigens zur bisherigen Zuordnung der Nahverkehrsaufgaben an die zentrale Staatsbahn.
16980 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Horst Gibtner
Es ist gut, meine Damen und Herren, daß die Vereinigung beider deutscher Bahnen und die Reform vollzogen werden, nachdem die föderalen Strukturen auch in den neuen Bundesländern gefestigt sind. Es hat sich ebenfalls als richtig erwiesen, daß beide deutsche Bahnen laut Einigungsvertrag bis Ende dieses Jahres als getrennte Sondervermögen weitergeführt wurden. So konnten sich die Bahnen und ihre Beschäftigten gründlich auf den Zusammenschluß vorbereiten. Sie haben sich mit großem Elan auf die Zukunft in der Deutschen Bahn AG vorbereitet. Denn das Kapitel „Zentrale Staatsbahn" wird nicht abgeschlossen, ohne ein neues, anspruchsvolles Kapitel Bahngeschichte zu eröffnen.
Meine Damen und Herren, ich finde es unerträglich und für die betroffenen Menschen, die mit den grundlegenden Strukturveränderungen in ihrem Unternehmen natürlich auch ihre Sorgen haben, wenig hilfreich, wenn die Vertreter der beiden Gruppen in diesem Hohen Hause, PDS/Linke Liste und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, düstere Prophezeiungen über die Zukunft der Bahn AG und des Schienenverkehrs in Deutschland aussprechen. Dazu, meine Damen und Herren, gäbe es viel zu sagen, aber die Chance zur sachlichen Auseinandersetzung ist verspielt; denn die Vertreter dieser beiden Gruppen haben nicht ein einziges Mal an der Arbeit der Berichterstatter und nicht ein einziges Mal an den Ausschußberatungen zur Bahnreform teilgenommen.
— Frau Kollegin Enkelmann, Sie waren ja nicht einmal während dieser Debatte die ganze Zeit im Plenarsaal. Und Herr Kollege Feige, wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen nach dem Kollegen Kohn werfen.
Herr Kollege Gibtner, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Enkelmann?
Ja, bitte.
Herr Kollege Gibtner, ich weiß nicht, ob Sie meine Rede gehört haben. Ich habe am Schluß meiner Rede gesagt, daß ich auf Grund einer Diskussionsrunde mit Schülerinnen und Schillern aus Lauchhammer den Plenarsaal zeitweise verlassen muß, und ich habe Sie um Ihr Verständnis gebeten.
Sind Sie bereit, diese Bitte um Verständnis entgegenzunehmen?
— Aber Herr Waltemathe! — Frau Kollegin Enkelmann, selbstverständlich habe ich das gehört; aber ich würde dieser Debatte um
die Bahnreform eine so hohe Priorität einräumen, und deswegen war ich dabei — —
Auch wenn Sie das sehr schlimm finden: Wer keine ausreichenden Kenntnisse über die Bahnreform hat, ist nun selbst daran schuld.
Kollege Gibtner, es gibt noch einen zweiten Wunsch nach einer Zwischenfrage, und zwar vom Kollegen Feige.
Mit Vergnügen.
Herr Gibtner, würden Sie mir bestätigen, daß sich die GRÜNEN und jetzt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN seit Jahren um eine Bahnreform bemüht haben, die dieser Intention von heute gerecht wird? Stimmen Sie mir zu, daß es das erste Mal wäre, daß die CDU/CSU-Fraktion wirklich daran interessiert wäre, auf die Worte der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu hören oder überhaupt zu reagieren?
Herr Dr. Feige, ich glaube, ich habe mit meinen Bemerkungen zu Ihrem mangelnden Engagement bei der Erarbeitung der Bahnreform bewiesen, daß ich den Grad Ihrer Mitarbeit sehr genau verfolgt habe. Wenn eine politische Gruppe, eine Partei große Beiträge zu einem solchen Reformwerk zu leisten hat, dann muß sie, bitte schön, auch mitarbeiten.
Meine Damen und Herren, ich darf aber sagen, daß die Zusammenarbeit der drei Fraktionen in diesem Hohen Hause, der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P., ganz anders verlief, und zwar sowohl bei der parlamentarischen als auch bei der außerparlamentarischen Vorbereitung des Gesetzeswerkes. Jeder von uns mußte von seinen ordnungspolitischen Idealvorstellungen ein Stück abrücken, um den Konsens zu erreichen, der die Zukunft des Schienenverkehrs in Deutschland sichert. Dies haben wir geschafft, weil wir es gewollt haben, meine Damen und Herren.
Ob Sie es glauben oder nicht, wir hatten auch mit Beamten des Bundesverkehrsministeriums und der Bahn zu tun, die nicht nur ungeheuer fleißig, sondern auch äußerst kreativ dazu beigetragen haben, daß wir dieses Ergebnis zustande gebracht haben.
Ganz anders ist mein Eindruck von den BundLänder-Verhandlungen. Herr Ministerpräsident Eichel, es tut mir herzlich leid: Dieses Feilschen um Geldbeträge bis in die letzten Stunden des gestrigen Tages
hinterläßt nicht nur bei mir und nicht nur bei der
Presse, sondern auch in der Öffentlichkeit den Eindruck, als sei es in erster Linie um Kriegsbeute
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16981
Horst Gibtner
gegangen und nicht um das gemeinsame Interesse an der Zukunft der Bahn.
Ich danke in diesem Zusammenhang besonders unserem Bundesverkehrsminister, Matthias Wissmann, und auch dem Bundeskanzler Helmut Kohl persönlich für ihren Einsatz in dieser Situation.
Meine Damen und Herren, besonders diese beiden Personen haben ihre Eignung als Brückenbauer unter Beweis gestellt.
Die sachliche Phase der Bund-Länder-Verhandlungen liegt schon etwas weiter zurück. Entscheidende Forderungen der Länder sind in die Gesetzentwürfe aufgenommen worden. So wurden das Mehrheitseigentum des Bundes an der Fahrweg AG, die Gemeinwohlverpflichtung des Bundes bezüglich Ausbau und Erhalt der Schienenwege sowie der Verkehrsangebote und der schon erwähnte Zustimmungsvorbehalt des Bundesrates zu allen diesbezüglichen Gesetzen im Grundgesetz verankert.
Nun wird die Regionalisierung erst ab 1. Januar 1996 wirksam. Ab diesem Zeitpunkt leistet der Bund seinen Finanzbeitrag für den öffentlichen Personennahverkehr der Länder, dessen Höhe im Jahre 1997 und dessen Steigerungsrate im Jahre 2001 überprüft werden sollen.
Die Bahn AG ist verpflichtet, das Nahverkehrsangebot der Jahre 1993 und 1994 mit dem jetzigen Finanzbeitrag des Bundes weiterhin zu gewährleisten. Die verhandelten Steigerungsbeträge sind zur Verbesserung des Nahverkehrsangebots bestimmt.
Von besonderer Bedeutung ist auch die Verpflichtung für die Bahn AG, daß 20 % der Investitionsmittel für Nahverkehrsinvestitionen einzusetzen sind. Das Eisenbahnneuordnungsgesetz verpflichtet den Bund, auch darauf hinzuwirken, daß der technologische Rückstand im Netz der bisherigen Deutschen Reichsbahn schnell abgebaut und aufgeholt wird.
In den nächsten neun Jahren sind 30 % der Investitionsmittel zur Bewältigung der wirtschaftlichen und ökologischen Altlasten der bisherigen Deutschen Reichsbahn reserviert. Im gleichen Zeitraum erstattet der Bund der DBAG auch die Kosten für einen erhöhten Personalbedarf infolge des technischen und betrieblichen Rückstands der Bahn in den neuen Bundesländern.
Das sind gesetzliche Festlegungen für die neuen Bundesländer, die sich sehen lassen können.
Ich bin überzeugt, daß die verstärkte Zuweisung von Haushaltsmitteln zu einer raschen Aufholung des Rückstandes führen und neue Kunden auf die Schienenwege holen wird. Die Beschäftigten der bisherigen Deutschen Reichsbahn arbeiten jedenfalls engagiert daran.
Schon heute ist das Image der Bahn in den neuen Bundesländern weitaus besser als noch vor zwei Jahren. Eine kürzlich veröffentlichte Umfrage der Industrie- und Handelskammer Berlin bei Unternehmen in Berlin und Brandenburg belegt dies: 52 % der befragten Firmen in Berlin und 20 % derer in Brandenburg erklären, daß sie die Bahn heute schon häufiger benutzen als vor zwei Jahren. Das ist schon ein erfreulicher Trend, aber es ist natürlich noch lange nicht das angestrebte Ergebnis.
Auch die heutige Verabschiedung der Gesetze zur Bahnreform ist noch nicht das Ergebnis, sondern der Startschuß für die Reform. Jetzt muß sie im Unternehmen umgesetzt werden. Das ist eine gewaltige, aber auch faszinierende Aufgabe. Diese Aufgabe wird nicht auf einen Schlag gelöst sein, die Reform ist ein Prozeß.
In diesem Prozeß werden Schwierigkeiten und vielleicht auch Rückschläge auftreten. Ich wünsche der künftigen Bahn AG, daß notwendige Nacharbeiten und Korrekturen dann so zielstrebig und kollegial mit dem Eigentümer und der Politik bewältigt werden, wie wir die Gesetze zur Einleitung der Bahnreform erarbeitet haben.
Ich wünsche den Menschen, die die Reform jetzt umzusetzen haben, Kraft und Erfolg. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, geben wir ihnen die Chance.
Als nächster erhält der Kollege Dirk Fischer das Wort. Ich darf Sie ganz herzlich bitten, nachdem die Akustik in diesem Saal zwar nicht besonders gut ist, aber immer besser wird, wenn man sich mit dem Nachbarn unterhält — zumindest hören wir hier alles, und Sie hören nichts mehr —, trotz der anstehenden namentlichen Abstimmung doch ein bißchen ruhiger als bisher zu sein.
Herr Kollege Fischer, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Verabschiedung des Gesetzespakets zur Strukturreform der Bahn ist der Beginn einer Ara, in der die Eisenbahn ihrer Rolle als der verkehrspolitische Hoffnungsträger gerecht werden kann, zum Nutzen der Kunden, zum Nutzen unserer Umwelt, aber auch zum Nutzen der deutschen und europäischen Volkswirtschaft.
Künftige Generationen werden hoffentlich nur noch in Büchern nachlesen können, daß es einmal eine Bahnbehörde nach öffentlichem Dienst- und Haushaltsrecht mit einer ausgeprägten Organisations- und Behördenkultur ohne jegliche Wettbewerbschance auf dem Verkehrsmarkt mit Milliardendefiziten gegeben hat. Ich hoffe, daß wir diese dann sehr bald auch aus der Wirklichkeit verabschieden können.
Ich will keine übermäßige Zeit der Geschichtsforschung widmen, sondern es geht jetzt darum, in die Zukunft zu blicken.
16982 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Dirk Fischer
Die Notwendigkeit eines zukunftsorientierten Konzeptes für die Bahn mit dem Ziel, mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen, und mit dem Ziel, eine dauerhafte Entlastung des Bundeshaushalts zu erreichen, wurde doch von uns allen, von der Regierung, von den Fraktionen des Deutschen Bundestages und auch von den Bundesländern, erkannt und, ich sage einmal: als ein Pakt der Vernunft jetzt auch umgesetzt.
Der Kollege Gibtner hat eben schon darauf hingewiesen, daß die Strukturreform der Bahn ein Prozeß ist. Die heutige Entscheidung des Parlamentes ist also nur der erste Schritt einer Entwicklung,
die jetzt beginnen muß und die in allen Köpfen der Kunden und der Mitarbeiter auch eine neue Philosophie des Eisenbahndenkens auslösen muß. Das ist entscheidend, um das Werk zu einem Gesamterfolg zu machen.
Wir wollen eine Entwicklung eines leistungsfähigen, umweltverträglichen und vor allem auch integrierten Verkehrssystems. Nicht das Gegeneinander der Verkehrsträger, sondern das Miteinander, ihre Kooperation, ist gefragt, nicht ihre Konfrontation. Das muß nach meiner Auffassung der Impuls der Stunde sein, der vom Deutschen Bundestag heute ausgeht.
Meine verehrten Damen und Herren, ich sage sonst voraus, daß wir die Herausforderung der auf uns zurollenden Verkehrsprobleme vor allem auch durch den internationalen Transitverkehr, den der europäische Verkehrsverteiler Deutschland bewältigen muß, nicht werden bewältigen können. Wir laufen sonst in eine Verkehrskatastrophe mit ökologischen Belastungen hinein, die wir alle nicht verantworten können. Dieses gilt es zu verhindern. Davon muß man heute ausgehen.
Die Bahnen haben bisher in einem Schienenverkehrsmonopol gearbeitet und eben nicht die Herausforderung des Wettbewerbs innerhalb dieses Verkehrsträgers gehabt. Ich glaube daran: Wettbewerb macht stark, Wettbewerb macht nicht schwach. Deswegen wollen wir, daß der Wettbewerb des Systems Schiene auch die Dienstleistungsunternehmen in der Zukunft stärker macht. Das ist unser Wunsch.
Meine Damen und Herren, wir werden jetzt die Voraussetzungen für künftigen Wettbewerb schaffen: die Öffnung des Schienennetzes auch für andere nationale Eisenbahnverkehrsunternehmen in Europa, auch für Dritte Nutzung gegen Entgelt, wo Angebot und Nachfrage darüber bestimmen, welches Entgelt im Einzelfall zu entrichten ist, d. h. wo der Preis auch ein Steuerungsmittel für die der Kapazitätsauslastung ist. Ich glaube, dies sind ganz wichtige Elemente, die wir dringend brauchen.
Den Begriff „die Bahn" als einheitliche Organisation wird es nicht mehr geben. Es wird für die selbständigen Bereiche wie Fahrweg, Güterverkehr und Personenverkehr Kapitalgesellschaften, die am Markt akquirieren und operieren und die ihre Geschäfte nach kaufmännischen Grundsätzen abwikkeln, geben. Das Bestellerprinzip wird im übrigen für eine marktgerechte und ertragsorientierte Preisgestaltung für die erbrachten Verkehrsleistungen sorgen. Es wird nicht mehr so sein, daß jeder ohne Ergebnis- und Finanzverantwortung ziemlich ungehemmt in die Tasche der Bahn und des Bundes greifen kann und sich dort selbst bedienen kann.
Also, um es deutlich zu sagen: Wer in der Zukunft die Musik bestellt, der muß auch den Preis bezahlen und das Geld dafür beschaffen, damit diese Dienstleistung anständig bezahlt werden kann. Ich glaube, dann werden wir erfolgreich sein können, so wie der Minister hier seine Hoffnung auf einen Erfolg der Bahnreform ausgedrückt hat.
Die Bahnreform ist aber — darauf muß deutlich hingewiesen werden — nicht nur ein nationales Anliegen der Bundesrepublik Deutschland, sondern ist eben auch eine Erfüllung und damit ein Element des überragend wichtigen Ziels der gemeinsamen Eisenbahnpolitik der Europäischen Gemeinschaft. Denn unsere Bahnreform ist ein Element und ist ein Teil der Philosophie der europäischen Eisenbahnpolitik, wie sie in der Richtlinie der EG von 1991 vom Rat ausgegangen ist. Das heißt, hier wird heute europäische Eisenbahnharmonisierung betrieben und beschlossen. Seien wir uns bitte auch dieser Angelegenheit voll bewußt.
Im EG-Binnenmarkt ist die strukturelle Neuordnung der staatlichen Eisenbahnen notwendig, da nach dem europäischen Wettbewerbsrecht Eisenbahnmonopole nicht mehr aufrechtzuerhalten wären. Die Eisenbahnen der EG müssen in der Zukunft rechtlich selbständig, unabhängig von den Regierungen und nach eigenwirtschaftlichen Grundsätzen geführt werden, und sie müssen zuvor finanziell saniert werden. Ich glaube, das ist eine ganz wichtige und die europäischen Eisenbahnen nach vorn bringende Angelegenheit.
Eine leistungsfähige, attraktive, wettbewerbsfähige Eisenbahn wird auch den Mitarbeitern der Deutschen Bahn Aktiengesellschaft eine überzeugendere, langfristige berufliche Perspektive eröffnen.
Endlich wird die Eisenbahn in die Lage versetzt, die Systemvorteile der Schiene auch in Erfolge im Verkehrsmarkt umzusetzen.
Die Deutsche Bahn Aktiengesellschaft muß mit Zukunftsinvestitionen einerseits, einem betriebsorientierten Kostenmanagement andererseits, mit der Delegation von Verantwortung und einer kundennahen Organisation die hohen Erwartungen in die neue Bahn der Zukunft erfüllen.
Bundesregierung und Parlament haben den ersten Baustein zur Strukturreform der Bahn gefertigt. Die große, vielleicht sogar viel größere Herausforderung, nämlich die Umsetzung der Bahnreform, die Zusam-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16983
Dirk Fischer
menführung zweier klassischer Behörden, die in gegensätzlichen Gesellschaftssystemen gewachsen sind, in ein nach privatwirtschaftlichen Regeln arbeitendes Unternehmen, dies ist die Herausforderung des Alltags in den nächsten Jahren.
Herr Kollege, einen kleinen Moment mal bitte!
Ich wünsche Ihnen allen, daß Sie demnächst kurz vor einer namentlichen Abstimmung reden sollen.
Vielleicht machen Sie, egal, in welcher Fraktion, in welcher Gruppe, dann auch einmal die Erfahrung, was es bedeutet, wenn sich hier in diesem Saal Konferenzen abspielen, wenn Sie glauben, all Ihre Geschäfte hier erledigen zu müssen. Und vielleicht denken Sie einmal daran, was es bedeutet, in so einer Situation hier zu sprechen, und haben ein bißchen Solidarität mit dem jeweiligen Redner. Sie müssen seine Ansichten nicht teilen, aber ihm wenigstens zuhören.
Herzlichen Dank. Herr Kollege, Sie haben wieder das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Die große Herausforderung der Zusammenführung, der Umsetzung der Bahnreform, anzunehmen, von der ich sprach, wird vor allem die Aufgabe des Unternehmens, der Unternehmensleitung und der Mitarbeiter sein.
Wir haben heute hier Herrn Dürr mit seinen Mitarbeitern begrüßt. Ich habe ihm einmal in einer etwas kritischen Situation der Beratung zugerufen, er möge doch bitte ruhig bleiben, die Bahnreform — das sicherte ich ihm zu — werde unter seinem Tannenbaum liegen. Dort wird sie auch liegen, das ist heute gewiß. Aber, Herr Dürr, es gibt auch Weihnachtsgeschenke, die außerordentlich anstrengende Arbeit auslösen. Als ich einmal eine Modelleisenbahn geschenkt bekam, habe ich das genauso empfunden. Also machen Sie es gut, ein in der deutschen Wirtschaftsgeschichte ziemlich einmaliges Vorhaben jetzt auch zu einem überzeugenden Alltagserfolg für uns alle zu machen.
Die innere Reform als die eigentliche Bahnreform muß jetzt realisiert werden. Wir brauchen ein schlüssiges Unternehmenskonzept, das dem künftigen Wettbewerb auf der Schiene gerecht wird, da der potentielle in- und ausländische Wettbewerber aufmerksam die Öffnung des deutschen Schienennetzes verfolgt und nicht ruhen, sondern zum Wettbewerb antreten wird. Dieser Wettbewerb muß jetzt bestanden werden.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Der Erfolg der Bahnreform als Kernstück der Verkehrspolitik dieser Bundesregierung und der sie tragenden Koalitionsfraktionen in dieser Legislaturperiode wird natürlich im wesentlichen von der Unternehmensstrategie selbst abhängen, aber ich möchte
an dieser Stelle auch sagen: Es war ein Glücksfall, daß in der konzeptionellen Phase ein Verkehrsminister wie Günther Krause, den ich auch hier im Raum herzlich willkommen heiße,
und in der operativen Phase Bundesverkehrsminister Wissmann erfolgreich zusammengewirkt haben, um dieses Werk jetzt auch parlamentarisch zu einem Erfolg zu bringen. Es gab in diesen Phasen oftmals die Gefahr des Scheiterns. Ich kann den Bundesverkehrsminister nur herzlich beglückwünschen, daß es gelungen ist, diese Gefahren des Scheiterns jeweils abzuwenden und durch geschicktes Verhandeln zu vermeiden. Ich glaube, das ist wichtig für uns alle.
Dynamik, Tatkraft, Sachverstand aus Wirtschaft und Industrie sowie unternehmerisches Geschick müssen sicherstellen, daß der zweite Schritt der Bahnreform, nämlich die innere Reform, jetzt in einem mehrjährigen Prozeß zu einem erfolgreichen Unternehmensprodukt auf dem europäischen Verkehrsmarkt führt.
Meine Damen und Herren, berechtiger Optimismus ist angesichts der breiten Zustimmung sowohl der Bundesregierung, des Parlaments, des Bundesrates, der Bahn selbst wohl geeignet, Hoffnung auszulösen, daß die Bahnreform insgesamt für uns alle ein voller Erfolg für Wirtschaft, Politik und letztlich auch für unsere Bürger in Deutschland und in Europa wird.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über die von den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. sowie der Bundesregierung eingebrachten Entwürfe zur Änderung des Grundgesetzes auf den Drucksachen 12/4610, 12/5015 und 12/6280.
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. auf Drucksache 12/6311 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Änderungsantrag einstimmig angenommen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung mit den soeben beschlossenen Änderungen zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei wenigen Gegenstimmen und einer Stimmenthaltung angenommen.
Interfraktionell ist vereinbart, trotz des in der zweiten Beratung angenommenen Änderungsantrages unmittelbar in die dritte Beratung einzutreten. Sind Sie damit einverstanden? — Dies ist der Fall, dann ist das mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen.
16984 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Vizepräsidentin Renate Schmidt
Wir kommen nun zur
dritten Beratung und Schlußabstimmung.
Ich weise darauf hin, daß nach Art. 79 des Grundgesetzes ein Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages erfordert. Das sind mindestens 442 Abgeordnete. Es ist dazu namentliche Abstimmung verlangt. Ich eröffne die Abstimmung.
Darf ich fragen, ob es noch jemanden hier im Saale gibt, der seine Stimme abzugeben wünscht? — Ja, Norbert Gansel möchte seine Stimme noch abgeben, wunderbar!
Darf ich fragen, ob es noch jemanden gibt, der seine Stimme abzugeben wünscht? — Ja, gibt es noch jemanden? — Könnten die Kollegen und Kolleginnen vielleicht ein bißchen schneller als sonst zur Urne schreiten!
Ich sehe, daß niemand mehr seine Stimme abzugeben wünscht. Damit schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführer und Schriftführerinnen, mit der Auszählung zu beginnen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung; erst dann werden wir über das Eisenbahnneuordnungsgesetz abstimmen können. Das wird nicht sehr lange dauern, Sie brauchen sich also nicht sehr weit zu entfernen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich bitte Sie ganz herzlich, Platz zu nehmen. Dieser Wunsch ist, wie immer, ernst gemeint; ihm ist ohne schuldhaftes Zögern Folge zu leisten. — Meine Damen und Herren! Die Sitzung ist wieder eröffnet. Ich bitte Sie, Platz zu nehmen. — Manchmal frage ich mich, was Sie eigentlich täten, wenn sich Ihre Kinder so verhalten würden.
— Beifall von den oberen Rängen ist nicht gestattet; ich freue mich in diesem Fall aber trotzdem darüber.
Ich darf Ihnen das von den Schriftführern und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entwurf zur Änderung des Grundgesetzes auf den Drucksachen 12/4610, 12/5015, 12/6280 und 12/6311 bekanntgeben. 575 Stimmen wurden abgegeben. Mit Ja haben gestimmt: 559.
Mit Nein haben gestimmt: 12. Enthaltungen gab es 4.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 575; davon:
ja: 558
nein: 13
enthalten: 4
Ja
CDU/CSU
Dr. Ackermann, Else Adam, Ulrich
Dr. Altherr, Walter Franz Augustin, Anneliese Augustinowitz, Jürgen Austermann, Dietrich Bargfrede, Heinz-Günter
Dr. Bauer, Wolf
Baumeister, Brigitte Belle, Meinrad
Dr. Bergmann-Pohl, Sabine Bierling, Hans-Dirk
Dr. Blank, Joseph-Theodor Blank, Renate
Dr. Blens, Heribert Bleser, Peter
Dr. Blüm, Norbert
Böhm , Wilfried Dr. Böhmer, Maria
Börnsen , Wolfgang Dr. Bötsch, Wolfgang
Bohl, Friedrich
Bohlsen, Wilfried Borchert, Jochen Brähmig, Klaus
Breuer, Paul
Brudlewsky, Monika Brunnhuber, Georg Bühler , Klaus Büttner (Schönebeck),
Hartmut
Buwitt, Dankward
Carstens , Manfred Carstensen (Nordstrand),
Peter Harry
Clemens, Joachim Dehnel, Wolfgang Dempwolf, Gertrud Deres, Karl
Deß, Albert
Diemers, Renate Dörflinger, Werner Doss, Hansjürgen Dr. Dregger, Alfred Echternach, Jürgen Ehlers, Wolfgang Eichhorn, Maria
Engelmann, Wolfgang Eppelmann, Rainer
Erler , Wolfgang Eymer, Anke
Falk, Ilse
Feilcke, Jochen
Dr. Fell, Karl H.
Fischer , Dirk Fockenberg, Winfried Francke (Hamburg), Klaus Frankenhauser, Herbert
Dr. Friedrich, Gerhard Fritz, Erich G.
Fuchtel, Hans-Joachim
Ganz , Johannes Dr. Geiger (Darmstadt), Sissy Geiger, Michaela
Geis, Norbert
Dr. Geißler, Heiner
Gerster , Johannes Gibtner, Horst
Glos, Michael
Dr. Göhner, Reinhard Göttsching, Martin Götz, Peter
Dr. Götzer, Wolfgang
Gres, Joachim Grochtmann, Elisabeth Gröbl, Wolfgang Grotz, Claus-Peter
Dr. Grünewald, Joachim Frhr. von Hammerstein,
Carl-Detlev Harries, Klaus Haschke ,
Gottfried
Haschke , Udo Hasselfeldt, Gerda Haungs, Rainer
Hauser , Otto Hauser (Rednitzhembach),
Hansgeorg
Hedrich, Klaus-Jürgen Heise, Manfred
Dr. Hellwig, Renate
Dr. h. c. Herkenrath, Adolf Dr. Herr, Norbert Hinsken, Ernst
Hintze, Peter Hörsken, Heinz-Adolf Hörster, Joachim
Dr. Hoffacker, Paul Hollerith, Josef
Dr. Hornhues, Karl-Heinz Hornung, Siegfried
Hüppe, Hubert Jäger, Claus
Dr. Jahn ,
Friedrich-Adolf Janovsky, Georg Jeltsch, Karin
Dr. Jobst, Dionys Dr.-Ing. Jork, Rainer
Dr. Jüttner, Egon
Jung , Michael Junghanns, Ulrich
Dr. Kahl, Harald Kalb, Bartholomäus Kampeter, Steffen
Dr.-Ing. Kansy, Dietmar Karwatzki, Irmgard Kauder, Volker
Keller, Peter
Kittelmann, Peter
Klein , Günter Klein (München), Hans Klinkert, Ulrich
Köhler ,
Hans-Ulrich
Dr. Köhler ,
Volkmar
Dr. Kohl, Helmut Kolbe, Manfred Kors, Eva-Maria Koschyk, Hartmut Kossendey, Thomas
Kraus, Rudolf
Dr. Krause , Günther
Krause , Wolfgang Krey, Franz Heinrich Kriedner, Arnulf
Dr.-Ing. Krüger, Paul Krziskewitz, Reiner Lamers, Karl
Dr. Lammert, Norbert Lamp, Helmut Lattmann, Herbert Dr. Laufs, Paul Laumann, Karl-Josef Lehne, Klaus-Heiner
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16985
Vizepräsidentin Renate Schmidt
Dr. Lehr, Ursula
Lenzer, Christian Dr. Lieberoth, Immo Limbach, Editha
Link , Walter Lintner, Eduard
Dr. Lippold , Klaus W.
Dr. Lischewski, Manfred Löwisch, Sigrun
Lohmann , Wolfgang
Louven, Julius
Lummer, Heinrich Dr. Luther, Michael
Maaß , Erich Männle, Ursula
Magin, Theo
Dr. Mahlo, Dietrich Marienfeld, Claire Marschewski, Erwin Dr. Mayer ,
Martin
Meckelburg, Wolfgang Meinl, Rudolf
Dr. Meseke, Hedda Michalk, Maria
Michels, Meinolf Dr. Mildner, Klaus Dr. Möller, Franz Molnar, Thomas
Müller , Elmar Müller (Wesseling), Alfons Nelle, Engelbert
Neumann , Bernd Niedenthal, Erhard
Nitsch, Johannes Nolte, Claudia
Dr. Olderog, Rolf Ost, Friedhelm
Oswald, Eduard
Otto , Norbert Dr. Päselt, Gerhard Dr. Paziorek, Peter Pesch, Hans-Wilhelm Petzold, Ulrich
Pfeifer, Anton
Pfeiffer, Angelika Dr. Pfennig, Gero
Dr. Pflüger, Friedbert Pofalla, Ronald
Dr. Pohler, Hermann Priebus, Rosemarie Dr. Probst, Albert Dr. Protzner, Bernd Pützhofen, Dieter Raidel, Hans
Dr. Ramsauer, Peter Rau, Rolf
Rauen, Peter Harald Rawe, Wilhelm Regenspurger, Otto Reichenbach, Klaus Dr. Reinartz, Bertold Reinhardt, Erika
Dr. Riedl , Erich Riegert, Klaus
Ringkamp, Werner Rode , Helmut Rönsch (Wiesbaden),
Hannelore
Romer, Franz
Dr. Rose, Klaus
Rossmanith, Kurt J. Roth , Adolf Rother, Heinz
Dr. Ruck, Christian Rühe, Volker
Dr. Rüttgers, Jürgen Sauer , Helmut Sauer (Stuttgart), Roland Schätzle, Ortrun
Dr. Schäuble, Wolfgang Scharrenbroich, Heribert Schartz , Günther Schemken, Heinz Scheu, Gerhard Schmalz, Ulrich Schmidbauer, Bernd
Schmidt , Christian Dr.-Ing. Schmidt (Halsbrücke), Joachim
Schmidt , Andreas Schmidt (Spiesen), Trudi Schmitz (Baesweiler),
Hans Peter
Dr. Schneider , Oscar
Dr. Schockenhoff, Andreas Graf von SchönburgGlauchau, Joachim
Dr. Scholz, Rupert Frhr. von Schorlemer, Reinhard
Schulhoff, Wolfgang
Schulz , Gerhard Schwalbe, Clemens Schwarz, Stefan
Dr. Schwarz-Schilling,
Christian
Dr. Schwörer, Hermann Seehofer, Horst Seesing, Heinrich Seibel, Wilfried
Seiters, Rudolf Sikora, Jürgen Skowron, Werner H. Sothmann, Bärbel Spilker, Karl-Heinz Spranger, Carl-Dieter
Dr. Sprung, Rudolf Steinbach-Hermann, Erika
Dr. Stercken, Hans Dr. Frhr. von Stetten, Wolfgang
Stockhausen, Karl
Dr. Stoltenberg, Gerhard Strube, Hans-Gerd Stübgen, Michael
Dr. Süssmuth, Rita Susset, Egon
Tillmann, Ferdi Dr. Töpfer, Klaus
Dr. Uelhoff, Klaus-Dieter Uldall, Gunnar Verhülsdonk, Roswitha
Vogt , Wolfgang
Dr. Voigt , Hans-Peter
Dr. Vondran, Ruprecht
Dr. Waigel, Theodor
Graf von Waldburg-Zeil, Alois Dr. Warnke, Jürgen
Dr. Warrikoff, Alexander Werner , Herbert Wetzel, Kersten Wiechatzek, Gabriele
Dr. Wieczorek , Bertram
Dr. Wilms, Dorothee
Wilz, Bernd
Wimmer , Willy
Dr. Wisniewski, Roswitha Wissmann, Matthias
Dr. Wittmann, Fritz Wittmann , Simon
Wonneberger, Michael Wülfing, Elke Würzbach, Peter Kurt
Yzer, Cornelia Zeitlmann, Wolfgang
Zierer, Benno Zöller, Wolfgang
SPD
Adler, Brigitte
Andres, Gerd
Bachmaier, Hermann
Barbe, Angelika
Becker , Helmuth Becker-Inglau, Ingrid
Berger, Hans
Bernrath, Hans Gottfried Beucher, Friedhelm Julius Bock, Thea
Dr. Böhme , Ulrich Börnsen (Ritterhude), Arne Brandt-Elsweier, Anni
Dr. Brecht, Eberhard
Büchler , Hans
Büchner , Peter Dr. von Bülow, Andreas Büttner (Ingolstadt), Hans Bulmahn, Edelgard Burchardt, Ursula
Bury, Hans Martin Caspers-Merk, Marion Catenhusen, Wolf-Michael Conradi, Peter
Dr. Däubler-Gmelin, Herta Daubertshäuser, Klaus
Dr. Diederich , Nils Diller, Karl
Dr. Dobberthien, Marliese Dreßler, Rudolf
Dr. Eckardt, Peter
Dr. Ehmke , Horst Eich, Ludwig
Erler, Gernot
Esters, Helmut
Ewen, Carl
Ferner, Elke
Fischer , Evelin
Fischer , Lothar Formanski, Norbert
Fuchs , Anke
Fuchs , Katrin Fuhrmann, Arne
Gansel, Norbert
Gilges, Konrad
Dr. Glotz, Peter
Graf, Günter
Großmann, Achim
Haack ,
Karl Hermann
Habermann, Michael Hacker, Hans-Joachim Hämmerle, Gerlinde
Hampel, Manfred Hanewinckel, Christel
Dr. Hartenstein, Liesel Hasenfratz, Klaus Heistermann, Dieter
Hiller , Reinhold Hilsberg, Stephan
Dr. Holtz, Uwe
Ibrügger, Lothar
Iwersen, Gabriele
Jäger, Renate
Janz, Ilse
Dr. Janzen, Ulrich
Jaunich, Horst
Dr. Jens, Uwe
Jung , Volker Jungmann (Wittmoldt), Horst Kastner, Susanne
Kastning, Ernst
Kemper, Hans-Peter Kirschner, Klaus
Klappert, Marianne
Dr. Klejdzinski, Karl-Heinz Klemmer, Siegrun
Dr. Knaape, Hans-Hinrich Körper, Fritz Rudolf Kolbow, Walter
Koltzsch, Rolf
Koschnick, Hans Kubatschka, Horst Dr. Kübler, Klaus Kuessner, Hinrich Dr. Küster, Uwe Kuhlwein, Eckart Lambinus, Uwe Lange, Brigitte
von Larcher, Detlev Leidinger, Robert
Dr. Leonhard-Schmid, Elke Lörcher, Christa
Lohmann , Klaus
Dr. Lucyga, Christine Maaß , Dieter Marx, Dorle
Mascher, Ulrike Matschie, Christoph Matthäus-Maier, Ingrid Mattischeck, Heide Mehl, Ulrike
Meißner, Herbert
Dr. Meyer , Jürgen Mosdorf, Siegmar
Müller , Albrecht Müller (Schweinfurt), Rudolf Müller (Völklingen), Jutta Müller (Zittau), Christian Neumann (Bramsche), Volker Dr. Niehuis, Edith
Dr. Niese, Rolf
Niggemeier, Horst Odendahl, Doris Oesinghaus, Günter Oostergetelo, Jan Opel, Manfred Ostertag, Adolf
Dr. Otto, Helga Palis, Kurt
Paterna, Peter
Dr. Penner, Willfried Peter , Horst Dr. Pfaff, Martin Pfuhl, Albert
Dr. Pick, Eckhart Purps, Rudolf
von Renesse, Margot Rennebach, Renate Reschke, Otto
Reuter, Bernd
Rixe, Günter
Schanz, Dieter Scheffler, Siegfried Schily, Otto
Schloten, Dieter Schluckebier, Günter Schmidbauer ,
Horst
Schmidt , Ursula Schmidt (Nürnberg), Renate Schmidt (Salzgitter), Wilhelm Schmidt-Zadel, Regina
Dr. Schmude, Jürgen
Dr. Schöfberger, Rudolf Schöler, Walter Schröter, Gisela Schütz, Dietmar
Dr. Schuster, R. Werner Schwanhold, Ernst Schwanitz, Rolf Seidenthal, Bodo Seuster, Lisa
Sielaff, Horst
Simm, Erika
Singer, Johannes
Dr. Skarpelis-Sperk, Sigrid
16986 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Vizepräsidentin Renate Schmidt
Dr. Sonntag-Wolgast, Cornelie Sorge, Wieland
Dr. Sperling, Dietrich
Steen, Antje-Marie Stiegler, Ludwig Dr. Struck, Peter Tappe, Joachim
Dr. Thalheim, Gerald
Thierse, Wolfgang Titze-Stecher, Uta Toetemeyer, Hans-Günther Urbaniak, Hans-Eberhard Vergin, Siegfried
Dr. Vogel, Hans-Jochen Wagner, Hans Georg Waltemathe, Ernst Walter , Ralf
Walther , Rudi Wartenberg (Berlin), Gerd
Dr. Wegner, Konstanze Weiermann, Wolfgang
Weiler, Barbara
Weis , Reinhard Weisheit, Matthias Weißgerber, Gunter
Welt, Jochen
Dr. Wernitz, Axel Wester, Hildegard Westrich, Lydia
Dr. Wetzel, Margrit Weyel, Gudrun
Dr. Wieczorek, Norbert Wieczorek , Helmut Wiefelspütz, Dieter
Wimmer ,
Hermann
Dr. de With, Hans Wittich, Berthold Wohlleben, Verena Wolf, Hanna
Zapf, Uta
Dr. Zöpel, Christoph
F.D.P.
Albowitz, Ina
Dr. Babel, Gisela Baum, Gerhart Rudolf Beckmann, Klaus
Dr. Blunk , Michaela Bredehorn, Günther Cronenberg (Arnsberg),
Dieter-Julius
Eimer , Norbert Engelhard, Hans A. van Essen, Jörg Friedhoff, Paul K. Funke, Rainer
Dr. Funke-Schmitt-Rink,
Margret
Gallus, Georg Ganschow, Jörg Genscher, Hans-Dietrich Gries, Ekkehard Grünbeck, Josef
Grüner, Martin
Dr. Guttmacher, Karlheinz Hansen, Dirk
Heinrich, Ulrich
Dr. Hitschler, Walter Homburger, Birgit Dr. Hoth, Sigrid
Dr. Hoyer, Werner Irmer, Ulrich
Kleinert , Detlef Kohn, Roland
Dr. Kolb, Heinrich L.
Koppelin, Jürgen
Dr.-Ing. Laermann, Karl-Hans Leutheusser-Schnarrenberger, Sabine
Lühr, Uwe
Dr. Menzel, Bruno Mischnick, Wolfgang Nolting, Günther Friedrich Otto ,
Hans-Joachim
Paintner, Johann
Peters, Lisa
Dr. Pohl, Eva
Richter , Manfred
Rind, Hermann
Dr. Röhl, Klaus
Schäfer , Helmut Schmalz-Jacobsen, Cornelia Schmidt (Dresden), Arno Dr. Schmieder, Jürgen
Dr. Schnittler, Christoph Schuster, Hans
Dr. Schwaetzer, Irmgard Sehn, Marita
Seiler-Albring, Ursula Dr. Semper, Sigrid
Dr. Solms, Hermann Otto Dr. Starnick, Jürgen
Thiele, Carl-Ludwig
Timm, Jürgen
Türk, Jürgen
Walz, Ingrid
Wolfgramm , Torsten
Würfel, Uta
Zurheide, Burkhard Zywietz, Werner
PDS/Linke Liste
Philipp, Ingeborg
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Dr. Feige, Klaus-Dieter Poppe, Gerd
Weiß , Konrad Wollenberger, Vera
Fraktionslos
Dr. Briefs, Ulrich
Dr. Krause , Rudolf Karl
Lowack, Ortwin
Nein
CDU/CSU
Schell, Manfred SPD
Wallow, Hans Wettig-Danielmeier, Inge
PDS/Linke Liste
Dr. Enkelmann, Dagmar Dr. Fischer, Ursula
Dr. Fuchs, Ruth Henn, Bernd
Dr. Heuer, Uwe-Jens Dr. Höll, Barbara Jelpke, Ulla
Dr. Keller, Dietmar Lederer, Andrea
Dr. Seifert, Ilja
Enthalten
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Köppe, Ingrid
Schenk, Christina
Schulz , Werner
Dr. Ullmann, Wolfgang
Der Gesetzentwurf ist mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit angenommen.
Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über die von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. sowie der Bundesregierung eingebrachten Entwürfe eines Eisenbahnneuordnungsgesetzes auf den Drucksachen 12/4609 neu, 12/5014 und 12/6269 Nr. 1.
Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt, die Gesetzentwürfe der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. sowie der Bundesregierung zusammenzuführen und in der Ausschußfassung anzunehmen.
Es liegen zwei Änderungsanträge der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. auf den Drucksachen 12/6286 und 12/6312 vor, über die wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 12/6286? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Dann ist dieser Änderungsantrag auf Drucksache 12/6286 einstimmig bei wenigen Stimmenthaltungen angenommen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 12/6312 mit der vom Berichterstatter vorgetragenen Berichtigung? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Dann ist dieser Änderungsantrag auf Drucksache 12/6312 ebenfalls einstimmig bei wenigen Stimmenthaltungen angenommen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung mit den soeben beschlossenen Änderungen zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei zwei Gegenstimmen und wenigen Enthaltungen angenommen.
Interfraktionell ist vereinbart, trotz der in zweiter Beratung angenommenen Änderungsanträge unmittelbar in die dritte Beratung einzutreten. Sind Sie damit einverstanden? — Dies ist der Fall. Dann ist das mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen.
Wir kommen damit zur
dritten Beratung und Schlußabstimmung.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung angenommen, und zwar bei zwei Gegenstimmen und einer Stimmenthaltung.
Unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/6269 empfiehlt der Ausschuß für Verkehr die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig bei zwei Stimmenthaltungen angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16987
Vizepräsidentin Renate Schmidt
und F.D.P. auf Drucksache 12/6313. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Gegenprobe! —Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Entschließungsantrag ebenfalls einstimmig bei wenigen Enthaltungen angenommen.
Wir kommen damit zum Tagesordnungspunkt 5:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung, anderer handwerksrechtlicher Vorschriften und des Berufsbildungsgesetzes
— Drucksache 12/5918 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 12/6303 —
Berichterstattung: Abgeordneter Ernst Hinsken
Dazu liegt ein Änderungsantrag des Abgeordneten Werner Schulz vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem dem Kollegen Ernst Hinsken das Wort.
Hier gilt wieder genau dasselbe: Diejenigen, die anderes zu tun haben, bitte ich, möglichst schnell den Saal zu verlassen, und die anderen bitte ich Platz zu nehmen und dem Redner bitte zuzuhören.
Darf ich bitten, daß diejenigen, die gerade etwas anderes zu tun haben, den Saal verlassen und die anderen sich bitte hinsetzen.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich zunächst dafür bedanken, daß bei dem wichtigen Thema der zweiten und dritten Lesung der Handwerksordnung ein störungsfreier Ablauf weiterhin gewährleistet ist.
Meine Damen und Herren: Ende gut, alles gut! Diese Überschrift möchte ich über die Handwerksnovelle setzen.
Nach monatelangen, viele Stunden umfassenden Verhandlungen, zu denen Spitzenvertreter des Handwerks, des DGB, des Kolpingwerkes und des Wirtschaftsministeriums hinzugezogen wurden, beraten wir heute abschließend die Novellierung der Handwerksordnung. Mit dieser zweiten und dritten Lesung setzen wir einen weiteren Meilenstein zur Fortentwicklung des Handwerksrechts.
Ich meine, daß es auch heute angebracht ist, kurz auf die Geschichte der Handwerksordnung in der Bundesrepublik einzugehen. Acht Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Handwerksordnung am 26. März 1953 von den Abgeordneten aller demokratischen Parteien im Deutschen Bundestag verabschiedet. Damit wurde ein Zustand der Rechtsunsicherheit und der Rechtszersplitterung beendet und endlich wieder eine einheitliche Grundlage für das Handwerk geschaffen. Vorangegangen waren damals jahrelange Beratungen und 53 Sitzungen der zuständigen Bundestagsausschüsse unter Leitung von Richard Stücklen, unserem ehemaligen Bundestagspräsidenten, den man zu Recht als „Vater der Handwerksordnung " bezeichnet.
1965 gab es die letzte Novelle zu diesem Gesetz. Meine Damen und Herren, seit dieser Zeit hat sich die wirtschaftliche Realität in Deutschland geändert. Die technischen und unternehmerischen Anforderungen an den Handwerksmeister, aber auch die Wettbewerbssituation haben sich grundlegend gewandelt. Es galt deshalb, für diesen bedeutenden Wirtschaftszweig mit ca. fünf Millionen Beschäftigten und über 750 000 Unternehmen das Gesetz so zu novellieren, daß es den Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft gewachsen ist.
Übrigens: Das Handwerk ist ein Wirtschaftszweig, in dem nicht nur Qualitäts- und Meisterarbeit erbracht wird, sondern in dem auch das Verhältnis zwischen dem Arbeitgeber einerseits und den Arbeitnehmern andererseits im großen und ganzen stimmt. Beide Seiten sind sich bewußt, daß sie in einem Boot sitzen, und ergänzen sich meistens gegenseitig.
Ich kann das insbesondere auf meinen Betrieb bezogen sagen.
Zudem ist das Handwerk ein Berufszweig, der sich auch in der momentanen rezessionalen Phase weitgehend krisenfest zeigt. Leider muß aber festgestellt werden, daß oftmals Fachkräfte fehlen. Deshalb ist es für mich besonders wichtig, die Forderung aufzustellen, auch das Bildungssystem zu andern. Denn was nützt es, Arbeit zu haben, wenn man diese nicht erledigen kann, weil Fachkräfte fehlen!
Wie sagte deshalb einmal der Präsident des Deutschen Handwerks, Heribert Späth: „Wir brauchen mehr Handwerker statt Mundwerker."
Ich glaube, dieser Satz ist auch in der heutigen Zeit von Gültigkeit.
Unbestritten: Oftmals gibt es auch Verärgerung über Handwerker, insbesondere dann, wenn der Handwerker nicht immer gleich da ist,
wenn er benötigt wird. In anderen Wirtschaftsbereichen ist das nicht so. Ein Beispiel: Niemand regt sich
darüber auf, beim Kauf eines Autos z. B. eine Lieferzeit
16988 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Ernst Hinsken
von einem halben Jahr in Kauf zu nehmen. Nur beim Handwerk hat man das Verständnis oftmals nicht.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, von einem Handwerksmeister wird heute viel verlangt. Er muß etwas vom Marketing verstehen, von Personalführung, und wenn er im grenznahen Bereich tätig ist, dann soll er möglichst auch noch Sprachen beherrschen, sich im Vertragsrecht auskennen und von Betriebswirtschaft etwas verstehen.
Das ist eine große Bandbreite, die andererseits den Handwerksberuf sehr schön macht. Das möchte ich als Bundestagsabgeordneter, der als praktizierender Handwerksmeister tätig ist, ausdrücklich feststellen.
Lassen Sie mich aber auch noch generell feststellen: Wir als Gesetzgeber sind verpflichtet: erstens die viel zu hohe Bürokratiebelastung, die insbesondere das Handwerk bedrückt, abzubauen; zweitens die Steuerpolitik weiterhin so auszurichten, daß sie insbesondere auch dem Mittelstand dient; drittens ein bundesweites Existenzgründungsprogramm bald wieder aufzulegen, damit die Bereitschaft, in die Selbständigkeit zu gehen, durch kleine finanzielle Anreize seitens des Staates gefördert wird.
— Kollege Pfuhl, darin sind wir uns ja einig.
Nun zum eigentlichen Thema des heutigen Tages, zur Verabschiedung der Handwerksnovelle. Hauptanliegen der Reform ist es, durch verbesserte Rahmenbedingungen die wirtschaftliche Entwicklungsfähigkeit von Handwerksunternehmen zu verbessern und auf diese Weise neue Impulse für wirtschaftliches Wachstum zu geben. Mit dem Ergebnis, das erst nach sehr schwierigen und langwierigen Verhandlungen gefunden werden konnte, kann man, so meine ich, zufrieden sein.
Meine Damen und Herren, wenn es alleine nach meinen Parteifreunden und mir gegangen wäre, wären bestimmt andere Akzente gesetzt worden. Das Ergebnis, das jetzt auf dem Tisch liegt, ist ein Kompromiß, der unter den drei großen Fraktionen des Bundestages erarbeitet wurde.
An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Kollegen herzlich für die konstruktive Zusammenarbeit bedanken: bei den Mitgliedern der eingesetzten Arbeitsgruppe, wie dem Vorsitzenden des Wirtschaftsausschusses, Herrn Ost, sowie dem wirtschaftspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Rainer Haungs, und Dr. Protzner aus dieser Fraktion, bei Herrn Kollegen Pfuhl, Professor Dr. Jens und dem Kollegen Schwanhold von der SPD-Fraktion sowie bei Herrn Dr. Hitschler und Herrn Grünbeck von der F.D.P.- Fraktion. Sie alle haben mitgearbeitet, ihr Bestes gegeben und darum gerungen, ihre Meinung nicht nur einzubringen, sondern sie auch umzusetzen.
Aber auch den tüchtigen Mitarbeitern der Fraktionen ist besonders zu danken.
Für sie galt in den letzten Monaten wahrlich nicht die 381/2-Stunden-Woche. Sie brachten zum Teil das Doppelte der Zeit mit ein, so daß wir gute Zuarbeit bekamen, um dieses Gesetzeswerk vorlegen zu können. Besonders hervorzuheben ist aber auch, daß sich der Parlamentarische Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium Dr. Kolb an fast allen Sitzungen beteiligt hat.
Somit war immer eine gute Verbindung zu dem Wirtschaftsministerium und den dort zuständigen Beamten hergestellt und gewährleistet.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, was sind die ausschlaggebenden wichtigen Punkte dieser Novelle? — Die Erweiterung des Handlungs- und Entwicklungsrahmens für das Handwerksunternehmen wird durch folgende Regelungen erreicht: Der Handwerksmeister darf bei der Ausführung eines konkreten Auftrages Arbeiten in anderen Handwerken, die das Leistungsangebot des eigenen Handwerks wirtschaftlich ergänzen, in Zukunft mit ausführen. So darf künftig z. B. der Tischlermeister, der einen Stuhl herstellt, diesen auch polstern, und der Elektromeister, der seine Leitungen verlegt, darf nach dieser neuen Vorschrift kleinere Fliesenarbeiten mit erledigen, z. B. wenn Fliesen beschädigt wurden.
Erleichtert wird auch die Möglichkeit des Handwerkers, seinen Betrieb zu erweitern. Erstens wird die Zahl der verwandten Handwerke, die der Handwerksmeister automatisch immer mit ausüben darf, erweitert. Zweitens darf der Handwerksmeister jetzt einen Meister aus einem anderen Handwerk als Betriebsleiter einstellen und wird dann mit diesem anderen Handwerk in die Handwerksrolle eingetragen. Und drittens erhält ein Handwerksmeister die Ausübungsberechtigung für ein anderes Handwerk oder Teile eines anderen Handwerks der Anlage A, sofern er Kenntnisse und Fertigkeiten diesbezüglich nachweist.
Damit bin ich bei einem weiteren wesentlichen Punkt, dem großen Befähigungsnachweis. Die Meisterprüfung als Voraussetzung für die Eintragung in die Handwerksrolle wird durch diese Novelle nicht angetastet.
Das war ein besonderer Wunsch der vielen Handwerker bundesweit. Bei allen beteiligten Fraktionen besteht die Überzeugung, daß ein Aufweichen des großen Befähigungsnachweises, der Wettbewerb unter den Handwerkern auf hohem Niveau garantiert, nicht in Frage kommt, nicht zuletzt auch deshalb, weil sonst unser duales Berufsausbildungssystem, um das wir von der ganzen Welt beneidet werden, in Frage gestellt wäre.
Meine Damen und Herren, wir haben deswegen auch das von vielen vorgeschlagene Ersitzen des Meistertitels nach zehn oder fünfzehnjähriger Gesellentätigkeit abgelehnt.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16989
Ernst Hinsken
Beibehalten wurde das sogenannnte Inhaberprinzip, nach dem der Inhaber eines Handwerkerbetriebs selbst den großen Befähigungsnachweis haben muß.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Öffnung der Handwerksordnung gegenüber den Anforderungen des europäischen Binnenmarkts. Den erweiterten Möglichkeiten der Mobilität von Arbeitnehmern innerhalb des EG-Binnenmarktes wird dadurch Rechnung getragen, daß ausländische Bildungsabschlüsse oder Zeiten der Berufstätigkeit bei der Gesellenprüfung ebenso wie bei der Meisterprüfung berücksichtigt werden.
Mit längeren Geburtswehen war die Frage der datenschutzrechtlichen Regelungen verbunden. In der neuen Handwerksordnung muß die Frage, welche Daten bei den Handwerkskammern gespeichert werden können und in welchem Umfang öffentliche und nichtöffentliche Stellen diese Daten abrufen können bzw. wer Auskunft aus der Handwerksrolle erhält, ebenfalls geregelt werden. Wir haben das getan. Die Vorschriften wurden zwischen den Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder in langwierigen Verhandlungen beraten.
Im Einvernehmen mit ZDH und DGB wurde auch die Mitgliedschaft in der Handwerkskammer neu geregelt. Künftig sollen auch Arbeitnehmer in Handwerksbetrieben mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung, die nicht handwerklich ist, zu der Handwerkskammer gehören. Damit werden andere Arbeitnehmer mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung den Handwerksgesellen gleichgestellt. Das war ein besonderer Wunsch des DGB, dem wir Rechnung getragen haben.
Nicht geändert wurde die Anlage A, also die Liste der Handwerksberufe. Dieses Thema wollen wir zu einem späteren Zeitpunkt aufgreifen.
Übrigens gibt es eine ganze Reihe von Vorschlägen, die auf die Zusammenfassung, Trennung oder Umbenennung von Handwerken der Anlage A abzielen. Diese Vorschläge, die durch Rechtsverordnung umgesetzt werden können, wurden seitens des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks dem Bundesministerium für Wirtschaft schon vor etwa zwei Jahren vorgelegt.
Geschehen, Herr Staatssekretär Dr. Kolb, ist allerdings bislang nichts. Ich sehe hier dringenden Handlungsbedarf. Deshalb fordere ich Sie auf, umgehend eine Rechtsverordnung gemäß § 1 Abs. 3 der Handwerksordnung zu erlassen und dabei alle Möglichkeiten einer Streichung, Zusammenfassung und Trennung sowie Neubezeichnung von Handwerken auszuschöpfen.
Herr Kollege, darf ich Sie bitten, zum Ende zu kommen. Sie sind schon einige Minuten über Ihrer Redezeit.
Ich bin sofort beim Schluß.
Ich spreche dies bewußt im Rahmen dieser Rede an, weil ich meine, daß hier dringender Handlungsbedarf gegeben ist.
Bei der Anlage B haben wir in etwa das aufgenommen, was uns hier von den Spitzen des deutschen Handwerks an die Hand gegeben wurde, was zwischen DIHT einerseits und Handwerk andererseits ausgehandelt wurde.
Meine Damen und Herren, es gäbe hierzu noch viel zu sagen. Meine Redezeit ist leider abgelaufen. Ich möchte mich nochmals bei allen Kollegen, die mitgearbeitet haben, herzlich bedanken und hoffe, daß diese Handwerksnovelle einen langen, langen Bestand, vielleicht über das Jahr 2000 hinaus, haben möge.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Nun hat der Kollege Albert Pfuhl das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Man mag es für eine geschickte Regie oder auch für Zufall halten, daß wir nach der eben beendeten ausführlichen Debatte über die Bahnreform ein zweites Gesetzesvorhaben diskutieren, das von allen großen Fraktionen hier im Hause gemeinsam getragen wird. Wenn die Not am größten ist und die Notwendigkeit besteht, sollten wir zusammenhalten und diese Fragen, wenn wir sie ausführlich diskutiert haben, dann auch lösen.
Der von der SPD, der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachte Gesetzentwurf zeigt, daß es bei gutem Willen möglich ist, über Parteigrenzen hinweg sachorientierte Lösungen zu erarbeiten. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich hervorheben, daß der gemeinsam vom Zentralverband des Handwerks, vom Kolpingwerk und vom Deutschen Gewerkschaftsbund erarbeitete Lösungsvorschlag, der Grundlage unserer Diskussion war und ist, eine wesentliche Voraussetzung auch für diesen Gesetzentwurf war.
Die Tatsache, daß es sich um einen Gesetzentwurf der Fraktionen handelt, verdeutlicht allerdings auch, daß die Bundesregierung tief und fest geschlafen hat. Ein Kollege von mir hat mir letztens gesagt, mindestens 10, 15 Jahre habe die Bundesregierung geschlafen. Das betrifft also alle, die in diesen 15 Jahren hier auf dieser Bank gesessen haben. Anders ausgedrückt: Wir mußten sie zum Jagen tragen.
Die Bundesregierung hat von sich aus nichts unternommen, um das Gesetz zur Ordnung des Handwerks zu novellieren. Dabei war dringender Handlungsbedarf gegeben. Herr Kollege Hinsken hat dieses hier ausführlich dargelegt.
Die letzte umfassende Novellierung aus dem Jahre 1965 war der letzte Teil, den der Bundestag für das Handwerk geleistet hat. Seit dieser Zeit ist nicht mehr
16990 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Albert Pfuhl
viel geschehen. Aber seit dieser Zeit haben sich die technischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen erheblich geändert, so daß entsprechende Anpassungen notwendig wurden. Dringend erforderlich war vor allem eine Verbesserung der bisher völlig unzulänglichen Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmer in den Organen der Handwerkskammern. Deswegen auch die gemeinsame Initiative der Fraktionen. Der Gesetzentwurf setzt hier an.
Die Novellierungsvorschläge zielen im wesentlichen auf eine flexiblere Handhabung der mit dem großen Befähigungsnachweis verbundenen Berufsausbildung und Ausübung im Handwerk und auf die Stärkung der Rechte der Arbeitnehmer in der Selbstverwaltung ab. Anders und deutlicher ausgedrückt: Wir wollen, daß das Angebot aus einer Hand erleichtert und erweitert wird. Dies liegt sowohl im Interesse der Handwerker, die ihre Geschäftsfelder sinnvoll arrondieren können, als auch im Interesse der Kunden.
Die bisherigen Bestimmungen der Handwerksordnung haben die Tätigkeit eines Handwerksmeisters relativ eng auf sein spezielles Gewerk, in dem er den großen Befähigungsnachweis erworben hat, begrenzt. Diese Beschränkungen sind nicht mehr zeitgemäß und auch wirtschaftlich und verbraucherpolitisch unvernünftig. Sie behindern die wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeit im Handwerk, und sie sind für den Kunden unzumutbar, der eine ganze Armada von verschiedenen Handwerkern beauftragen mußte, um simple Arbeiten miteinander ausführen zu lassen.
Mit den neuen Gesetzesbestimmungen kommt auch frischer Wind in die Handwerkswirtschaft. In Zukunft wird es möglich sein, daß Handwerker, die bereits durch die Ablegung einer Meisterprüfung die Befähigung in ihrem Handwerk nachgewiesen haben, daß sie, wie es traditionsgemäß heißt, meisterliche Kenntnisse und Fähigkeiten besitzen, unter bestimmten Voraussetzungen auch in anderen Handwerken Arbeiten ausführen zu können. Dies gilt z. B. auch im Rahmen eines konkreten Auftrages, in dem künftig ein Handwerksmeister auch Arbeiten eines anderen Handwerks ausführen kann, wenn sie mit seinem eigenen Leistungsangebot technisch und fachlich zusammenhängen und es auch wirtschaftlich ergänzen.
Von verschiedenen Seiten ist im Vorfeld der Beratungen im Hinblick auf diese Auflockerungen eingewandt worden, sie würden einseitig zu einer Begünstigung des Handwerks beitragen. So könne in Zukunft etwa ein Maurermeister problemlos das Geigenbauerhandwerk ausüben, wenn er über die erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten verfügt. Dies sei aber einem Nichthandwerker wie einem Musikalienhändler ohne Meisterprüfung nicht möglich. Ich halte dieses Beispiel, vornehm ausgedrückt, für sehr subtil oder, plastisch ausgedrückt, an den Haaren herbeigezogen; denn nach aller Lebenserfahrung wird sich ein Handwerker ganz überwiegend nur in einem solchen anderen Handwerk betätigen, in dem er Tätigkeiten ausübt, die mit seiner Haupttätigkeit artverwandt sind. In solchen Fällen reicht, fußend auf dem bereits abgelegten großen Befähigungsnachweis, der Nachweis auch der Kenntnisse und Fertigkeiten in neuen Tätigkeitsbereichen.
Um zu zeigen, worum es geht, möchte ich es etwas trocken und abstrakt darlegen. Wenn jemand seine Wände anstreichen lassen will und der Malermeister feststellt, daß der Putz bröckelt, mußte bisher der Maurer beauftragt werden. Künftig kann der Malermeister diese Aufgaben mit erledigen. War bisher für Installationen beispielsweise eines Heißwassergerätes im Badezimmer nach dem Gesetz eine ganze Heerschar von Handwerkern — Elektriker, Klempner, Installateure, Fließenleger — zuständig, so wird dies zukünftig von einem einzigen Handwerker erledigt werden können.
Die vorgesehen Erleichterungen bei der Berufsausübung knüpfen im Kern an dem großen Befähigungsnachweis an. Die Erweiterungen der handwerklichen Tätigkeit bleibt an die Person des Meisters geknüpft, der mit seiner Meisterprüfung oder einer ihr gleichwertigen Prüfung nachgewiesen hat, daß er die Qualifikation, Kenntnisse und Erfahrungen einer handwerklichen Berufsausbildung besitzt. Dieses Institut des großen Befähigungsnachweises wollen wir im Handwerksrecht und in der Handwerkswirtschaft erhalten. Bei dem Ausarbeiten der Rede bin ich auf einen Ausspruch gestoßen, den ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Er lautet:
Die Privilegierten, die drinnen sitzen, wollen anderen, die reinwollen, das Leben sauer machen. Man möchte sich abschirmen, Zäune um Berufe ziehen, man möchte abwehren, man möchte schützen, Positionen mit künstlichen Mitteln bewahren.
Meine Damen und Herren, dreimal dürfen Sie raten, von wem dieser Spruch stammt: von Ludwig Erhard.
So haben wir uns die Novellierung des Handwerksrechts nicht vorgestellt. Im Gegenteil: Wir wollen hier auflockern, wir wollen zusammenfassen, wir wollen die Möglichkeit geben, daß eine Liberalisierung auch in diesem Bereich stattfindet, aber unter der Voraussetzung, daß der große Befähigungsnachweis das Recht bietet, diese Handwerkstätigkeiten auch auszuüben.
Der große Befähigungsnachweis ist nicht, wie viele polemisch meinen, ein Relikt aus der Zunftordnung des Mittelalters — dieses wollen wir auch in Zukunft nicht —, sondern eine wesentliche Ursache für den hohen Ausbildungs- und Fortbildungsstand im Handwerk. Dies kommt auch der gesamten Wirtschaft zugute. Insofern ist die Meisterprüfung auch ein Gütesiegel unserer weltweit als vorbildlich anerkannten Ausbildung. Der Kollege Hinsken hat das schon deutlich gemacht.
Meine Damen und Herren, wir haben in der Bundesrepublik Gewerbefreiheit und das verfassungsrechtlich verbriefte Recht der freien Berufswahl. Mit dem großen Befähigungsnachweis, den wir für erforderlich halten, werden diese Freiheiten einge-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16991
Albert Pfuhl
schränkt, indem die Aufnahme als selbständiger Handwerker vom Besitz beruflicher Fähigkeiten und Fertigkeiten abhängig gemacht wird. Das Bundesverfassungsgericht hat diese subjektive Zulassungsvoraussetzung in einer Grundsatzentscheidung schon aus dem Jahre 1961 grundsätzlich anerkannt. Es hat jedoch auch deutlich gemacht, daß subjektive Zulassungsvoraussetzungen nur zum Schutze eines wichtigen Gemeinschaftsgutes gerechtfertigt sind.
Ich will hier nicht im einzelnen auf die Gründe eingehen, die vom Bundesverfassungsgericht für die Berechtigung des großen Befähigungsnachweises aufgeführt wurden. Wir müssen uns aber im klaren sein, daß wir uns bei der vorliegenden Novellierung der Handwerksordnung in dem sehr fragilen Spannungsfeld zwischen freier Berufswahl und Berufszulassungsbeschränkungen bewegen und daß wir sehr genau darauf achten müssen, daß verfassungsrechtliche Grenzen zu beachten sind. Ich glaube, das ist uns auch bei dieser Vorlage, die wir heute hier verabschieden wollen, gemeinsam gelungen.
Die Frage wird demnächst auch bei dem schon angesprochenen Thema Anhang A eine Rolle spielen. Im Zuge der vorbereitenden Beratung der vorliegenden Novelle ist von einer Reihe von Berufszweigen die Forderung erhoben worden, in die Anlage A der Handwerksordnung aufgenommen zu werden.
Zum besseren Verständnis sage ich hier noch einmal: In der Anlage A der Handwerksordnung sind alle diejenigen Berufe namentlich aufgeführt, die als Vollhandwerk gelten und für die die Bestimmungen der Handwerksordnung Anwendung finden. Eine Erweiterung dieser Anlage ist nur auf gesetzlichem Wege möglich. So soll es auch in Zukunft bleiben.
Die Aufnahme neuer Gewerbe in die Anlage A wäre im Unterschied zu der bisherigen Situation in den betroffenen Berufszweigen zwangsläufig mit den im Handwerk vorgesehenen Berufszugangsregelungen — wie für Lehrzeit, Meisterprüfung usw. — verbunden. Die mögliche Änderung der Anlage A bedarf deshalb einer sorgfältigen und seriösen Überprüfung, bei der alle betroffenen und sachverständigen Institutionen gehört werden sollten. Dies ist angesichts der Eilbedürftigkeit unseres Gesetzgebungsverfahrens heute nicht möglich gewesen.
Die Eilbedürftigkeit ist nach übereinstimmender Auffassung aller Fraktionen darin begründet, daß eine Reihe von Handwerkskammern 1994 zu Beginn des Jahres schon die Wahlen zu ihren Gremien durchführen müssen. Diese Wahlen sollen schon auf Grund des neuen Gesetzes durchgeführt werden. Die neuen Wahlrechtsbestimmungen sollen dabei Anwendung finden. Deswegen bedarf es auch einer Absprache mit dem Bundesrat,
daß er diese Verabschiedung noch in seiner letzten Sitzung dieses Jahres durchführt. Die Rücksprachen bei den einzelnen Ländern haben ergeben, daß der Wille dazu auch dort besteht.
Im übrigen darf ich darauf hinweisen, daß innerhalb der betroffenen Berufszweige selbst völlig unterschiedliche Positionen im Hinblick auf die Aufnahme in die Anlage A bestehen. Uns liegen jedenfalls unzählige Eingaben vor — vielen Abgeordneten des ganzen Hauses sind sie zugestellt worden —, in denen sich Betroffene sowohl für als auch gegen eine Aufnahme in die Anlage A aussprechen. Ganz zu schweigen davon, daß ein bedeutender und seriöser Dachverband innerhalb weniger Tage zwei völlig gegensätzliche Stellungnahmen zu dieser Frage abgegeben und zugestellt hat.
Meine Damen und Herren, Sie sehen also: Hier gibt es erheblichen Klärungsbedarf, und zwar nicht zuletzt auch im Hinblick auf die von mir eingangs angesprochene verfassungsrechtliche Bewertung. Wir werden nach unseren Vorstellungen, die wir auch in die Begründung dieser Novelle aufgenommen haben, den Bundesminister für Wirtschaft bitten, uns so schnell wie möglich eine fundierte Vorlage zu machen, die entsprechend den Versprechungen den einzelnen Verbänden gegenüber die Grundlage für unsere Arbeit und für eine baldige Verabschiedung bilden kann.
Nach meiner Auffassung kann es dabei nicht allein darum gehen, über die Aufnahme neuer Gewerbe in die Anlage A zu sprechen. Wenn wir schon dabei sind, sollte die Anlage A grundlegend überarbeitet werden; d. h. wir müssen dann auch über Straffung und Zusammenfassung von Handwerken sprechen,
um überflüssige Regulierung abzubauen und Handwerke mit einem breiten Leistungsangebot zu schaffen.
Eine Innung, die in den letzten fünf Jahren nicht mehr ausgebildet hat, die sich nur noch aus wenigen zusammensetzt, hat ihre Daseinsberechtigung als selbständige Innung verloren. Man muß sich Gedanken machen, wie man sie mit anderen Innungen zusammenfaßt, damit sie ihrer Aufgabe auch gerecht werden kann, im dualen System die Ausbildung durchzuführen.
Meine Damen und Herren, einige wenige Punkte: Zur Erleichterung führen nach dem Gesetz die Ausnahmebewilligungen für den Zugang zum Handwerk, die Verkürzung der vorgeschriebenen Gesellenzeit bis zur Meisterprüfung, die verfahrenstechnische Verbesserung bei der Ablegung der Meisterprüfung, z. B. auch die rechtliche Verselbständigung der einzelnen Prüfungsteile für die Meisterprüfung, und last, but not least erwähne ich auch die Regelungen über die Anerkennung von Meisterprüfungen, gleichwertigen Prüfungen und ausländischen Hochschuldiplomen.
In der Begründung zum Gesetzentwurf findet sich dazu u. a. eine Klarstellung, die, denke ich, vor allen Dingen für die neuen Bundesländer Bedeutung hat. Die Handwerkskammern in den neuen Ländern sollen nämlich ausdrücklich die Ausbildungsabschlüsse von Meistern der vormaligen volkseigenen Industrie als Voraussetzung für die Eintragung in die Handwerksrolle beachten. Da hat es in der Vergangenheit Schwierigkeiten gegeben, weil sich Meister in den
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Albert Pfuhl
sogenannten Genossenschaftsbereichen gegenüber den Meistern blockierten, die aus sogenannten Kombinaten kamen, diese Aufgaben aber mit der gleichen Ausbildung wahrgenommen haben. Dies hat uns hier in der Vergangenheit schon beschäftigt.
Ein ganz zentrales Anliegen des Gesetzentwurfs betrifft die Stärkung der Position der Arbeitnehmer in den Organen. Meiner Fraktion, der SPD, ist dies verständlicherweise ein ganz besonderes Anliegen, zumal der Deutsche Gewerkschaftsbund seit Jahrzehnten auf Nachbesserung gedrungen hat und es nunmehr zu einem Konsens zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften und dem Kolping-Verein über eine Verbesserung der Mitwirkung innerhalb der Kammern und der Innung gekommen ist.
Ein besonders wichtiger Punkt ist, daß nunmehr der Kreis der Kammerzugehörigen und damit auch der Wahlberechtigten über den Kreis der Meister, Gesellen und Lehrlinge hinaus alle Arbeitnehmer im Handwerk beinhaltet, die eine abgeschlossene Berufsausbildung haben. Denn in der Vergangenheit konnte z. B. ein Techniker im Installationsbereich, der keine Gesellenprüfung, sondern eine Ausbildung z. B. an einer Fachhochschule hatte, bei der Auswahl seiner Vertreter in den Kammern nicht mitwählen und mitbestimmen. Diese Änderung des Gesetzes war längst überfällig. Sie trägt den strukturellen Veränderungen im Handwerk Rechnung. Die alten Vorschriften haben dazu geführt, daß immer mehr Arbeitnehmer des Handwerks auf Grund der Veränderung nicht wählen durften; in der Zukunft ist dies möglich.
Ebenfalls von Bedeutung und längst überfällig ist die Streichung des Kriteriums der deutschen Staatsangehörigkeit als Voraussetzung für die Mitwirkung in den Organen der Handwerkskammern. Wir haben in vielen handwerklichen Berufen ausländische Arbeitnehmer, die sich mit der gleichen Berufsausbildung auf Grund des Fehlens der deutschen Staatsangehörigkeit nicht an den Kammerwahlen beteiligen durften, obwohl sie z. B. Gesellenprüfung oder sogar Meisterprüfung in einem Handwerk in der Bundesrepublik abgelegt hatten; die dürfen in der Zukunft mitwählen.
Eine andere wichtige Änderung betrifft die Beibehaltung des Wahlrechtes und der Mandate von Arbeitnehmern im Falle kurzfristiger Arbeitslosigkeit. Bisher verlor ein Arbeitnehmer im Handwerk sowohl sein aktives als auch sein passives Wahlrecht als auch sein Mandat mit sofortiger Wirkung im Falle der Arbeitslosigkeit. Diese Bestimmungen werden jetzt abgeschafft; damit ist eine alte Forderung auch unsererseits erfüllt.
Eine deutliche Verbesserung für Arbeitnehmer im Handwerk wird auch dadurch erreicht, daß der Freistellungsanspruch für die Ausübung eines Mandats präzisiert und eindeutig geregelt ist, so daß hier keine Streitigkeiten mehr zu erfolgen brauchen.
Abgeschafft haben wir auch das antiquierte Wahlmännersystem im Handwerk. Dieser alte Zopf, der die unmittelbare Ausübung des Wahlrechts der Arbeitnehmer im Handwerk einschränkte und behinderte, wird abgeschnitten.
Als letztes möchte ich das sogenannte Gruppenwahlrecht erwähnen. Nach dem jetzigen Wahlrecht benötigen die beiden Vizepräsidenten der Kammer, von denen je einer von den Betriebsinhabern und einer von den Arbeitnehmern gestellt wird, für ihre Wahl 51 %. Bei einer Zweidrittelmehrheit der Meister aber in den Kammern — die Arbeitnehmer verfügten nur über ein Drittel — ließ sich im Konfliktfall der Kandidat der Arbeitnehmer von den Arbeitnehmern allein nicht durchsetzen. Es bedurfte immer der Zustimmung der Meister. Dieses wird in Zukunft allein Sache der Mehrheit der Arbeitnehmervertreter in der Kammer sein, den Vizepräsidenten der Arbeitnehmerseite zu benennen.
Die Arbeiten an dieser Gesetzesvorlage waren kompliziert, wir haben uns manchmal auch gestritten. Um so mehr ist es aber zu begrüßen, daß sich die Parteien trotz mancher unterschiedlichen Auffassungen in den Details zu dieser Vorlage gefunden haben.
Dies ist im Hinblick auf die Handwerksordnung eine gute Tradition, denn sowohl das Gesetz zur Ordnung des Handwerks aus dem Jahre 1953 als auch die Novelle aus dem Jahre 1965 haben stets breite Mehrheiten gefunden. Ich denke, daß dies auch ein Zeichen für die Anerkennung der Bedeutung und Leistung des Handwerks ist, das zum zweitgrößten Wirtschaftsbereich in unserem Lande zählt und dessen Qualifikation und Leistungsfähigkeit wir auch damit stärken wollen.
In diesem Zusammenhang, meine Damen und Herren, kann ich es mir als Vertreter der Opposition nicht verkneifen, darauf hinzuweisen, daß die Bundesregierung bedauerlicherweise die konkreten Programme zur Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen auch im Handwerk im Laufe der letzten Jahre in den alten Bundesländern praktisch abgeschafft hat. Kollege Hinsken hat eben schon einiges erwähnt.
Ich erinnere hier beispielsweise an das Eigenkapitalhilfeprogramm und die verschiedenen Forschungsförderungsprogramme für kleine und mittlere Unternehmen. Nicht vergessen sollten wir auch, daß sich die von der Bundesregierung vorgesehene Abschaffung der sogenannten Aufstiegsfortbildung im Arbeitsförderungsprogramm insbesondere für das Handwerk nachteilig auswirkt. Diese Streichungen werden dazu führen, daß wir in Zukunft weniger Meister und damit im Handwerk auch weniger Existenzgründer haben.
Wir bedauern, daß die Regierungskoalition nicht bereit war, unseren konkreten Anträgen in den Haushaltsberatungen zu folgen und diese bewährte Förderung fortzuführen und qualitativ auszubauen.
— Verehrtester, wenn Sie dieses Wort Subventionsabbau in die Debatte werfen, dann gibt es Problemkreise, die viel größer sind und über die wir uns unterhalten sollten, als diese wirklich gute Förderung,
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16993
Albert Pfuhl
die wir in der Vergangenheit damit verwirklicht haben.
Gleichzeitig mit diesem Gesetz zur Novellierung des Handwerksgesetzes soll auch das Gesetz fiber die Handwerksstatistiken verabschiedet werden. Auch dieser Entwurf ist unstrittig. Er hätte allerdings, wie dies gefordert war, bereits einige Jahre vorher vorliegen können.
— Der kann sich gleich dazu äußern.
Zu guter Letzt noch ein Wort zum Schornsteinfegergesetz. Hier hat es z. T. Irritationen darüber gegeben, ob dieses Gesetz im Zusammenhang mit der Handwerksordnung verabschiedet werden sollte.
Wir haben aus den bereits erwähnten Gründen der Eilbedürftigkeit und wegen der sachlich notwendigen Klarstellung zu dem Schornsteinfegergesetz, das wir nicht ausführlich beraten konnten, auch hier eine gesonderte Beratung vorgesehen, wobei wir uns alle darüber einig waren, daß die soziale Problematik der Bezirksschornsteinfegermeister in den neuen Ländern so bald wie möglich einer Klärung bedarf und die Zuführung in das Versorgungswerk der Schornsteinfeger durchgeführt werden sollte. Dies ist bei dem Einigungsvertrag leider wahrscheinlich vergessen worden.
Es ist aber notwendig.
In diesem Zusammenhang müssen wir auch eines tun. Wir müssen das Schornsteinfegergesetz dergestalt ändern, daß Aufgaben, die die Länder teilweise den Bezirksschornsteinfegermeistern schon zugewiesen haben, in dem Bundesschornsteinfegergesetz keine rechtliche Handhabung finden. Dies muß geheilt werden. Deswegen sollten wir uns überlegen, ob wir nicht das Schornsteinfegergesetz als erstes in Angriff nehmen und schnellstens über die Bühne bringen, weil es im Zusammenhang mit der Diskussion am unproblematischsten ist.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, daß wir zu einer guten weiteren Zusammenarbeit im Zusammenhang mit der Aufgabe der Lösung der Anhänge A und B und des Schornsteinfegergesetzes kommen. Wir werden dann, glaube ich, am Ende sagen können, daß wir für das deutsche Handwerk eine Aufgabe gut gelöst haben.
Herzlichen Dank.
Als nächster hat der Kollege Josef Grünbeck das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte dem Kollegen Pfuhl für seine Rede ausdrücklich herzlich
danken, wenn ich auch zwei Dinge richtigstellen muß.
Daß die Parlamentsfraktionen die Initiative für diese Novelle ergriffen haben, verdanken wir unserer Einigkeit in der Sache von vornherein. Daß wir nicht gegen die Regierung, sondern mit der Regierung gearbeitet haben, haben die letzten Wochen und Monate bewiesen. Ich möchte ausdrücklich dem Wirtschaftsminister, seinem Staatssekretär, aber auch allen Beamten seines Hauses für die konstruktive Mitarbeit bei dieser Novelle herzlich danken.
Das zweite, lieber Herr Kollege Pfuhl: Daß Sie die finanziellen Einschränkungen beklagt haben, dafür habe ich durchaus Verständnis. Aber bitte haben Sie ebenfalls Verständnis dafür, daß wir im Grunde genommen auf eine konzertierte Aktion zur Sparsamkeit in allen öffentlichen Haushalten angewiesen sind. Alle wissen, daß wir darauf angewiesen sind. Da kann ich nicht immer sagen: Macht es bei anderen, nur bei mir selber bitte nicht. Deshalb stehen wir zu diesem Haushalt des Bundeswirtschaftsministers.
Meine Damen und Herren, ich habe eine ganz ernste Bitte vorzutragen. Im Vorfeld haben alle Fraktionen sachlich und mit gegenseitigem Verständnis diese Novelle zur Verabschiedung vorbereitet. Im Vorfeld der Verabschiedung dieser Novelle, vor wenigen Tagen, hat ein gewisser Journalist namens Möller im Westdeutschen Rundfunk in einem Hörfunkbeitrag zu ihr Stellung bezogen. Ich kann nur eines sagen: Wir Liberalen sind ja die letzten, die an der Pressefreiheit nagen oder an ihr zweifeln wollen,
aber es gibt keine Freiheit ohne Verantwortung. Was
manchmal in der Öffentlichkeit an Verantwortungslosigkeit verbreitet wird, ist nicht mehr zu überbieten.
Wir haben in allen Fraktionen gemeinsam erfolgreich gearbeitet. Ich muß Ihnen zwei, drei Kostproben — das trifft uns alle — aus dieser satirischen und in der Sprache fast nicht mehr vertretbaren Sendung vortragen. Der Herr Journalist sagte, daß der Mann, der einen Gehilfen anleitet — das betrifft die Bestatter; die diesbezüglichen Fragen haben wir mit aller Sorgfalt vertagt —, vor dem Sarg Falten im ausgelegten Teppich zu glätten, nichts gelernt haben muß. Ich frage: Was ist das für eine pietätlose Sprache? Die Sendung läuft auch noch unter dem Titel „Pietätlos".
Es ist ebenfalls noch die Rede von einer Frau, die als Kosmetikerin ihren Kunden „an die Pickel geht". Ich frage: Was ist das für eine vulgäre Sprache?
Oder zu unserer gemeinsamen Arbeit heißt es: In
Bonn hat sich eine kleine, aber entschlossene Gruppe
16994 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Josef Grünbeck
von Parlamentariern gefunden, die dem unwürdigen Treiben ein möglichst rasches Ende bereiten wollen. Ihre Forderung: Wer andere Menschen in den Sarg legt, Teppiche verlegt oder Schönheitsmasken auflegt, muß Meister sein.
Ich muß Ihnen ehrlich gestehen: Solche pietätlosen Dinge sollten wir ebenfalls öffentlich beim Namen nennen, die Pressefreiheit noch einmal in Schutz nehmen, aber die Presseverantwortungslosigkeit nicht widerspruchslos dulden.
Meine Damen und Herren, wir haben die Handwerksordnung, die ja eine Art Kleiderordnung für das Deutsche Handwerk ist, gemeinsam durchgearbeitet und verabschiedet. Sie war seit 1965 fällig. Es ist eine Initiative aller Fraktionen. Es war ein hartes Stück Arbeit und beweist eigentlich das von meinem Kollegen Hinsken schon zitierte Wort: „Handwerk ist kein Mundwerk, sondern harte Arbeit." Wir haben dem Rechnung getragen. Trotz traditioneller Strukturen im Handwerk war eine Anpassung fällig. Wir brauchen neue Technologien, wir brauchen neue Käuferschichten, wir brauchen neue Märkte, wir brauchen Nachwuchskräfte, wir brauchen Mobilität und Flexibilität. Die Novelle ist darauf ausgerichtet, mehr wirtschaftliche Möglichkeiten durch übergreifende Tätigkeiten zu ermöglichen.
Lassen Sie mich auch dazu eine Bemerkung machen. Ich habe sehr viele Briefe aus der Industrie mit der Frage bekommen, warum wir das gemacht haben. Warum haben wir das gemacht? Meine Kollegen haben dazu alles das betont, was richtig ist. Ergänzend darf ich noch einmal bemerken, daß natürlich in den letzten Jahrzehnten die Zahl der Generalbauunternehmer immer größer geworden ist und damit der Preis- und Auftragsdruck auf die kleinen Handwerksbetriebe immer größer wurde. Nun hat das Handwerk selber die Chance, dagegenzusteuern und in einem Wettbewerbsprozeß anzutreten. Darüber kann man doch nicht schimpfen; das muß man begrüßen. Wettbewerb ist immer positiv für den Bauherrn und den Verbraucher. Das haben wir richtig geregelt.
Es kommt natürlich auch zu einer Kosteneinsparung durch die von Herrn Pfuhl schon vorgetragene Philosophie „alles aus einer Hand".
Wir haben uns ebenfalls dem Nachwuchs gewidmet. Der große Befähigungsnachweis bleibt, insbesondere im Bereich der Ausbildung.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich dazu einmal ein ernstes Wort sagen. Ich danke dem deutschen Handwerk für die Ausbildungskapazität, die zu stellen es immer wieder bereit war, aber auch für die Qualität der Ausbildung. Wir haben in der Europäischen Gemeinschaft eine Bilanz, die besagt, daß die klassischen Industrieländer Italien und Frankreich bei jungen Menschen unter 25 Jahren mehr als 20 % Arbeitslose haben, Spanien, mehr als 30 %. Bei uns
liegt diese Quote unter 5 %. Das ist die Qualitätsbeweislast, die wir erbracht haben: Wir haben eine ordentliche Ausbildung, die den jungen Menschen einen Einstieg in das Berufsleben gewährleistet und es ihnen ermöglicht, eine Perspektive für ihren Berufsweg zu finden. Ich glaube, dafür dürfen wir danken.
Wir haben gleichzeitig aber auch die Frischluftzufuhr für den qualifizierten Nachwuchs geschaffen und der Jugend Perspektiven gegeben. Der Zugang zu handwerksähnlichen Betrieben wurde erleichtert, was auch notwendig ist.
Ich muß eines gestehen, weil wir von Subventionen geredet haben: Es gibt keinen Berufsstand oder keine Branche in der Bundesrepublik Deutschland, die so wenig auf Subventionen setzen wie der Mittelstand. Der Mittelstand in der Bundesrepublik Deutschland erarbeitet 60 % aller Steuern. Er stellt 60 % aller Arbeitsplätze und 80 % aller Ausbildungsplätze. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit der Meister liegt zwischen 60 und 70 Stunden. Die durchschnittliche Lebensarbeitszeit liegt bei etwa 70 Jahren. Die Handwerksmeister haben die kinderreichsten Familien. Was kann man eigentlich von einem Berufsstand wie dem Mittelstand in der Bundesrepublik Deutschland noch mehr verlangen?
Die Kosten für die Bürokratie sind viel zu hoch. Natürlich müssen wir daran denken. Ein Unternehmen mit 10 000 Beschäftigten hat dieselben Fragebogen für statistische Erhebungen wie ein Betrieb mit zehn Mitarbeitern auszufüllen. Wenn ich das auf die Einzelkosten einer betrieblichen Kostenrechnung umschlage und feststelle, was für den kleinen und mittleren Unternehmer an kaum noch zu erbringender Leistung beim Staat abgeliefert wird, muß ich sagen, daß es Zeit für uns wird, zur Kostenbereinigung und zur Statistikbereinigung in unserem Lande zu kommen. Die Kosten für den einzelnen Mitarbeiter sind zu hoch.
Die Anlage A haben wir aus rechtlichen Gründen ausgeklammert. Das wurde hier schon wiederholt betont. Wir werden das sorgfältig prüfen und fordern die Bundesregierung ja auch in einem Antrag auf, qualifizierte Vorschläge zu erarbeiten.
Typisch für das Handwerk ist: Die Novelle kostet nichts. Wir haben keine Kosten; wir erhöhen nur die Effizienz. Und das ist ja nicht bei jedem Gesetz, das wir hier einbringen, der Fall. Wir wollen lediglich Preiserhöhungen vermeiden, was eher zur Senkung der Kosten führen wird, und wir strebem strukturelle Verbesserungen an.
Lassen Sie mich zum Schluß noch einmal zusammenfassen. Erstens. Es wird im Handwerk nicht mehr so sein, wie es war. Aber es wird mit dieser Novelle besser werden. Wir brauchen die Zukunftschancen nur zu nutzen.
Zweitens. Wir müssen die Frischluftzufuhr für die einzelnen handwerklichen Berufe sicherstellen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16995
Josef Grünbeck
Drittens. Die neuen Länder brauchen den verstärkten Mittelstand. Das wird helfen, den Aufbau dort zu beschleunigen.
Meine letzte Bemerkung ist, meine Damen und Herren: Auf die Herausforderungen des europäischen Binnenmarkts kann durch diese Novelle besser reagiert werden.
Das Handwerk hat in seiner Tradition immer seine Aufgaben erfüllt. Die F.D.P.-Fraktion wird die weitere Modernisierung dieser handwerklichen Ordnung begleiten, und zwar positiv und mit dem herzlichen Dank an den Wirtschaftsminister.
Nun hat Herr Staatssekretär Dr. Kolb das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Novellierung der Handwerksordnung wird dafür Sorge getragen, daß sich das Handwerk dem wirtschaftlichen Wandel und den technologischen, institutionellen und rechtlichen Änderungen der Rahmenbedingungen anpassen kann.
Ich danke den Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen und auch der SPD dafür, daß sie so engagiert zusammengearbeitet haben. Wir haben einen konstruktiven Dialog gehabt, und es ist gute Arbeit geleistet worden. Wir haben viel erreicht. Alle Beteiligten, auch der ZDH und die Gewerkschaften, hatten das gemeinsame Ziel der Stärkung der Leistungsfähigkeit des Handwerks vor Augen. Dieser Grundkonsens hat zum Erfolg geführt.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?
Bitte sehr, Herr Kollege.
Ernst Hinsken CDU/CSU): Herr Staatssekretär, pflichten Sie mir bei, daß durch die Abwesenheit der Kollegen der Gruppe PDS/Linke Liste und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gezeigt wird, welche Bedeutung sie dem Handwerk beimessen — sie halten es nicht einmal für erforderlich, bei dieser für das Handwerk sehr wichtigen Debatte zugegen zu sein —, und daß das nicht verstanden werden kann?
Herr Kollege Hinsken, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu. Ich möchte darauf hinweisen, daß die Anwesenheit des Bundesministers Günter Rexrodt hier deutlich macht, daß die Bundesregierung, die F.D.P. dem Handwerk ein besonderes Gewicht und besondere Bedeutung beimißt.
Herr Abgeordneter Hinsken, sosehr wir beide und wahrscheinlich auch alle anderen die Abwesenheit von ganzen Gruppen kritisieren, so glaube ich dennoch, ist es nicht Aufgabe der Bundesregierung, das zu kritisieren, sondern es ist unsere Aufgabe, dies als Parlament zu tun.
— Herr Kollege Hinsken, Sie sollten sich die Zustimmung zu dieser Meinung dann aber nicht von der Bundesregierung holen, sondern von einem Kollegen des Parlaments, der als Parlamentarier und nicht als Vertreter der Bundesregierung spricht.
Jetzt beenden wir das Ganze, weil wir weitermachen wollen.
Die Novelle bringt ein gehöriges Mehr an Flexibilität. Im Interesse der Handwerker und der Verbraucher wird die Leistungspalette des Handwerks wesentlich erweitert und Abgrenzungsprobleme unter Handwerkern reduziert. Das Stichwort: Angebot aus einer Hand, wobei am großen Befähigungsnachweis — das halte ich für wichtig — festgehalten wird.
Ferner werden Betriebserweiterungen u. a. dadurch erleichtert, daß das Betriebsleiterprivileg auf die Ausübung wirtschaftlich zusammenhängender Handwerke auch bei Personen und Personengesellschaften ausgeweitet wird. Dadurch werden wesentliche, neue Akzente gesetzt.
Die genannten Verbesserungen tragen dazu bei, die Anpassungsfähigkeit eines Handwerksunternehmens an neue Entwicklungen in seinen Märkten wesentlich zu steigern.
Gelungen ist auch, die Handwerksordnung für die Anforderungen des Europäischen Binnenmarktes und des Europäischen Wirtschaftsraums weiter zu öffnen. Der größere europäische Markt schafft neue Chancen für ein grenzüberschreitendes Angebot für Handwerksunternehmen und neue Chancen für die Arbeitnehmer. Ich denke, daß es diese Chancen sind — und nicht nur vermutete Bedrohungen —, die im Handwerk in Zukunft stärker gesehen werden.
Über die Anlage A, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir lange diskutiert. Es wurden viele Vorschläge für eine Erweiterung auf den Tisch gelegt. Sie konnten aber in diese Novelle nicht aufgenommen werden. Es war nicht ohne weiteres erkennbar, daß die verfassungsrechtlichen Anforderungen erfüllt werden. Auch werden diese Vorschläge, zumindest einige davon, innerhalb der Handwerkerschaft selbst
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Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolb
noch kontrovers diskutiert. Deswegen sage ich noch einmal: Zu recht wurden bei dieser Novelle neue Handwerke in die Anlage A nicht aufgenommen.
Wir wollen dem Handwerk mehr Freiräume ermöglichen. Deshalb begrüße ich die Entschließung der Fraktionen des Deutschen Bundestages zur Überarbeitung der Anlage A. Es geht jetzt darum, überflüssige Regulierungen abzuschaffen.
Die Anlage A, so die Entschließung, soll so überarbeitet werden, daß breitere Handwerke entstehen und der große Befähigungsnachweis weiter gestärkt wird.
Diese Überarbeitung, bei der auch die Vorschläge des Handwerks berücksichtigt werden sollen, konnte aber in der zur Verfügung stehenden kurzen Zeit nicht realisiert werden. Das Inkrafttreten der Novelle zum 1. Januar 1994 war vorrangiges Ziel unseres Handelns. Wir brauchen und wollen jetzt den Impuls für das Handwerk.
Es besteht die Vorstellung, Herr Kollege Hinsken, man könne die Anlage A mittels Rechtsverordnung nach § 1 Abs. 3 der Handwerksordnung ändern. Wir wollen das prüfen, aber ich möchte hier auch vor Illusionen warnen. Die Ermächtigungsgrundlage gibt dem Bundesministerium für Wirtschaft lediglich die Möglichkeit, auf Grund technischer und wirtschaftlicher Entwicklungen eingetretene tatsächliche Veränderungen rechtlich nachzuvollziehen. Alles, was darüber hinausgeht, können wir mit dieser Rechtsverordnung nicht klären. Wir müssen sehen, was mit diesem Instrument zu machen ist.
Die Anlage B wird mit dieser Novelle um eine Reihe handwerksähnlicher Gewerbe erweitert. In der Diskussion war eine Verordnungsermächtigung. Sie konnte aus verfassungsrechtlichen und auch aus politischen Gründen nicht aufgenommen werden.
Insgesamt, liebe Kolleginnen und Kollegen, glaube ich sagen zu können, daß die Koalitionsarbeitsgruppe auf eine erfolgreiche Arbeit zurückblicken kann. Die Novelle ist ein politischer Erfolg, mithin auch ein wichtiger Beitrag für mehr Freiheit bei der Handwerksausübung, für Offenheit und die wirtschaftliche Weiterentwicklung des Handwerks.
Schließlich und nicht zuletzt: Die Novelle trägt auch den Forderungen des von Bundesminister Rexrodt vorgelegten Standortberichtes der Bundesregierung Rechnung. Sie ist ein wesentliches Element der wirtschaftspolitisch notwendigen und überfälligen Deregulierung.
Zum Schluß möchte ich hervorheben, zu welch positiven Ergebnissen konstruktive Zusammenarbeit führen kann. Wenn ich an die Kontroverse um die Deregulierungskommission denke, auch wenn ich an die erste gemeinsame Sitzung zur Beratung der vorliegenden Novelle denke und dann das heutige Ergebnis sehe, so können wir alle doch sehr zufrieden sein. Sicherlich gibt es auch einige, die sagen werden: Das ist nicht genug. Aber diese Leute verkennen, daß es in der Politik der Kompromisse bedarf. Diese heute vorliegende Novelle ist das Ergebis eines gelungenen Kompromisses und wird — davon bin ich überzeugt — wesentlich zur Verbesserung der Situation im Handwerk beitragen. Allen, die daran mitgewirkt haben, sage ich hierfür nochmals besten Dank.
Vielen Dank auch für Ihre Aufmerksamkeit.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Dr. Hitschler das Wort.
Ich beziehe mich in meiner Kurzintervention auf die Rede vom Herrn Kollegen Pfuhl und auch auf Passagen der Aussagen von Herrn Staatssekretär Kolb.
Sie wissen, meine Damen und Herren, daß es Wünsche und Bestrebungen gegeben hat, neue Berufe in die Anlage A aufzunehmen, und wir in der Kürze der Zeit nicht mehr in der Lage waren, diesen Wünschen Rechnung zu tragen. Das hat bei verschiedenen Berufsgruppen, die betroffen sind, zu der Einstellung geführt, wir würden das sozusagen aus Jux und Tollerei machen. Es werden gegen uns schwere Vorwürfe erhoben. Diese Vorwürfe, meine ich, müssen wir zurückweisen.
Ich darf das tun, Herr Kollege Pfuhl, mit dem Hinweis auf das von Ihnen sehr richtig geschilderte Spannungsverhältnis zwischen dem Grundrecht auf Berufsausübung einerseits und der Zutrittsbeschränkung andererseits, die im Prinzip im großen Befähigungsnachweis begründet liegt. Ich darf darauf hinweisen, daß die verfassungsrechtliche Prüfung vor Aufnahme einer neuen Berufsgruppe in die Anlage A eben ein sehr schwieriger Akt ist, der nicht auf die Schnelle durchgeführt werden kann.
Deshalb möchten alle Fraktionen des Deutschen Bundestages, die daran beteiligt waren, diesen Handwerksgruppen von dieser Stelle aus versichern, daß wir nach der Verabschiedung dieser Novelle zur Handwerksordnung in einem nächsten Schritt darangehen werden, dies nachzuholen und zu überprüfen, wie die Anlage A überarbeitet werden kann. Das ist, glaube ich, notwendig, damit hier nicht der Vorwurf zurückbleibt, es sei, obwohl sich ZDH und DIHT auf eine gemeinsame Haltung geeinigt hätten, nur der böse Wille der Parlamentarier, daß diese Berufsgruppen jetzt nicht aufgenommen würden.
Wir sichern eine sehr sorgfältige und verfassungsrechtlich notwendige Prüfung dieser Fragen zu.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Rainer Haungs das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das deutsche
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16997
Rainer Haungs
Handwerk hat bei der Bewältigung der drei großen Aufgaben, die heute in der Wirtschaftspolitik vor uns stehen, Beachtliches geleistet. Bei der Überwindung der Rezession ist es dem deutschen Handwerk im großen und ganzen besser als anderen Wirtschaftszweigen gelungen, die Krise zu bewältigen.
Wir wollen — dies ist auch Aufgabe der Wirtschaftspolitik, und das wurde vom Herrn Staatssekretär auch so dargelegt — unsere Wirtschaftsordnung modernisieren. Wir wollen in diesem Zusammenhang auch marktwidrige Regelungen entfernen. Vor allem aber — dies ist das Wichtigste —: Im Sinne der Kunden soll so gehandelt werden, daß Handwerksleistungen in Zukunft mehr nachgefragt werden können.
Die Arbeiten zu dieser Novelle, liebe Kolleginnen und Kollegen, gestalteten sich mühsamer als erwartet. Dies hatten allerdings Kenner der Materie vorausgesagt. Bereits die erwähnten Vorschläge der Deregulierungskommission waren bei vielen umstritten und führten zu heftigen Reaktionen. Dies war rational nicht immer nachvollziehbar, änderte es doch nichts an der Tatsache, daß sich im Handwerksrecht im Laufe der Jahre ein großer Modernisierungsstau angesammelt hatte. Dies war vielen klar, nur nicht immer den Betroffenen.
Die Koalitionsfraktionen versuchten erfolgreich unter Einbindung der Opposition, der Gewerkschaften und der Handwerksvertreter, nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg das vielleicht Richtige zu beschließen, sondern bei allen neuen Regelungen auf große Akzeptanz hinzuarbeiten. Persönlich versuchte ich dabei, meine berufliche Erfahrung aus 30jähriger Tätigkeit als Lehrling, Geselle und geschäftsführender Gesellschafter mehrerer Handwerksunternehmen einzubringen.
Ich bin mit meinen Vorrednern der Meinung, daß sich das Ergebnis sehen lassen kann, auch wenn es nicht alle Wünsche erfüllt. Es bleibt für alle dem Handwerk verpflichteten Abgeordneten auch in Zukunft sehr viel Arbeit, nicht nur bei Anlage A und B, sondern auch bei der fortführenden Gestaltung dieses wichtigen Bereiches unserer Wirtschaft.
Dem Wunsch des Handwerks, den großen Befähigungsnachweis, wie sich die Meisterprüfung nennt, im Kern zu erhalten, wurde entsprochen. Die Zukunft im europäischen Binnenmarkt wird es zeigen, ob wir hiermit nicht eine Form der Inländerdiskriminierung im Wettbewerb mit europäischen Handwerkern aus unseren Nachbarstaaten haben, die von vielen jungen Existenzgründern bei uns als wenig hilfreich angesehen wird. Aber es war der Wunsch des Handwerks, und wir sollten uns nicht anmaßen, eine Politik über die Wünsche der Betroffenen hinweg zu machen.
Der Zugang zur Handwerksausübung — dies wurde von den Vorrednern erwähnt — wurde erleichtert. Alte Zunftschranken wurden überwunden. Leistungen aus einer Hand sind in Zukunft möglich. Dies bringt die notwendige Flexibilität in eine allzu starre Ordnung. Der wirtschaftliche und technische Zusammenhang bei der Ausführung einer handwerklichen Leistung im Interesse des Kunden und im Interesse des Handwerkers überwindet endlich die wirklichkeitsfremde Situation und legalisiert wirtschaftliche Vernunft.
Die Anlage A der Handwerksordnung muß in Zukunft überarbeitet werden. Es müssen neue Berufe aufgenommen werden. Hier sind viele Wünsche genannt worden. Sie werden überprüft. Alte Berufe muß man ebenfalls daraufhin überprüfen, ob sie als Vollhandwerk nach wie vor zur Ordnung A gehören oder ob sie eher in der Liste B richtig aufgehoben sind. Andere Berufe muß man auch wieder zusammenfassen.
Die generelle Absicht, überflüssige Regelungen abzuschaffen und Handwerksberufe umfassend so zu ordnen, daß innerhalb eines großen Rahmens eine Spezialisierung zukunftsgerichtet möglich ist, wird wohl die Aufgabe für die nächste oder die nächsten Legislaturperioden — ich glaube, das eine für die nächste Legislaturperiode, das Fortführende für die nächsten Legislaturperioden — sein.
Auch ich darf mich dem Dank anschließen, daß wir auf diesem schwierigen Gebiet, wo wir Stunden um Stunden zugebracht haben, im großen und ganzen einen Kompromiß jenseits von Parteidifferenzen zustande gebracht haben. Wir hoffen gemeinsam — jeder aus seinem Blickwinkel —, daß wir schon Voraussetzungen geschaffen haben, eine dynamische Entwicklung des Handwerks für die Zukunft zu gestalten und dadurch auch den Beitrag zur Umstrukturierung unserer Wirtschaft zu leisten.
Wir wissen alle — insofern nehme ich auch den Wunsch der Opposition nach stärkerer Förderung von neuen Existenzen auf —, daß nur die kleinen und mittleren Unternehmen im Handwerk, im Mittelstand in der Lage sind — keine anderen Unternehmen —, in Zukunft die Arbeitsplätze für unsere Mitbürger zur Verfügung zu stellen, die notwendig sind, um das Problem Nummer eins, Beseitigung der Arbeitslosigkeit, lösen zu helfen. Insofern glaube ich, daß das Handwerk mit dieser Novellierung bessere Zukunfts-
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Rainer Haungs
bedingungen hat, und dies war die Absicht der Novelle, die wir heute beschließen.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurf zur Änderung der Handwerksordnung, anderer handwerksrechtlicher Vorschriften und des Berufsbildungsgesetzes auf den Drucksachen 12/5918 und 12/6303.
Dazu liegt ein Änderungsantrag des Abgeordneten Werner Schulz auf Drucksache 12/6304 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist dieser Änderungsantrag bei einer Stimmenthaltung einstimmig abgelehnt.
— Dies wird sicherlich im Protokoll vermerkt werden.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Damit kommen wir zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen.
Ich darf noch darauf hinweisen, daß nach § 31 Abs. 1 der Geschäftsordnung vom Kollegen Dieter-Julius Cronenberg eine persönliche Erklärung zum Tagesordnungspunkt 5 vorliegt, die zu Protokoll genommen wird.* )
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Abwasserabgabengesetzes
— Drucksache 12/4272 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
— Drucksache 12/6281 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Harries Susanne Kastner
Josef Grünbeck
*) Anlage 2
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich erteile als erstem dem Kollegen Klaus Harries das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heute anstehende Änderung und Ergänzung des Abwasserabgabengesetzes kommt, wie ich meine, zum richtigen Zeitpunkt. Einmal deswegen, weil Städte, Gemeinden und Kreise darauf warten, daß eine Entlastung kommt. Wir kennen die finanzielle Not der Kommunen. Sie brauchen in dieser finanziell angespannten Zeit ein Zeichen von uns, daß wir ohne Aufgabe von Umweltstandards auf dem richtigen Wege sind und ihnen helfen.
Es warten aber nicht nur die Kommunen auf dieses Zeichen, sondern genauso weite Teile unserer Wirtschaft. Sie brauchen Entlastung in der Phase der Konjunkturschwäche und in der Phase der Strukturschwäche.
Wichtig ist aber zu wissen — das ist hervorzuheben und zu unterstreichen —, daß das Schwert eines wirksamen Gewässerschutzes nicht entschärft wird. Im Gesetz, das wir heute zur Änderung und Ergänzung des Abwasserabgabengesetzes beschließen, bleiben die ordnungsrechtlichen Bestimmungen im vollen Umfang erhalten. Die marktwirtschaftlichen Abgabe- und damit Lenkungsmaßnahmen über den Preis werden zwar geändert, ohne aber ihre Wirksamkeit zu verlieren.
Die Opposition wird hier mit Sicherheit gleich das Abgehen von bewährten und notwendigen Umweltstandards an die Wand malen.
Dem kann ich nur widersprechen.
Dies ist zu kurz gesprungen und wird, wie ich gesagt habe, der Situation, in der wir heute leben und sicher auch morgen noch leben werden, überhaupt nicht gerecht. Wir sind mit der Umweltschutzpolitik der Bundesrepublik im Vergleich zu allen anderen Nachbarstaaten und vor allem zu den EG-Staaten immer noch gut oder besser. Wir liegen im Rang immer noch vorne.
Ich nenne einige Beispiele, etwa die von der Bundesregierung eingeleitete und immer wieder unterstützte FCKW-Politik. Ich nenne auch — trotz aller Schwierigkeiten — die Abfallpolitik. Ich nenne die CO2-Politik, den Katalysator. Ich erwähne auch ausdrücklich, daß die Bundesregierung und die Regierungskoalition weiterhin bereit sind eine EnergieCO2-Steuer einzuführen, um ein wirksames Umweltschutzmittel zu bekommen, wenn sie denn in Europa lückenlos kommt, wenn sie aufkommensneutral ist und ohne Erhöhung der Staatsquote erfolgt.
Es ist schon bemerkenswert, daß die Opposition, die mit Sicherheit gleich auf das Abgehen von bewährten
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16999
Klaus Harries
Standards hinweisen wird, selbst keinerlei Bedenken hat, vorzuschlagen — sie hat das in den Ausschüssen getan —, doch weitere Verrechnungsmöglichkeiten für Investitionen der Kommunen einzuführen. Das ist die oft erlebte und wiederholte Politik, auf der einen Seite zu geben und auf der anderen Seite zu nehmen.
Sie zeigen keine Konsequenz in der Wirtschafts- und Umweltpolitik. Das widerlegt im Grunde Ihre Argumente, die Sie dazu bringen, hier — voraussichtlich — gegen das Abwasserabgabengesetz zu stimmen.
Meine Damen und Herren, die Novellierung, die heute ansteht, beruht auf einer Initiative des Bundesrates. Der Anstoß kam vom Freistaat Bayern. Die Änderung, die der Bundesrat vorschlug, bezog sich im wesentlichen — beinahe ausschließlich — auf weitere Verrechnungsmöglichkeiten von Abgaben und Investitionen im Kanalbereich. Wir, die Regierungskoalition, haben uns nach sehr eingehenden Vorgesprächen und Beratungen — auch mit der Opposition — nicht mit dieser Änderung begnügt, wir haben sie in diesem Umfange auch nicht akzeptiert, sondern haben, wie wir meinen, ein umfassenderes Konzept erarbeitet und vorgelegt, das auf der einen Seite der Konjunktur- und Strukturlage Rechnung trägt, das aber auf der anderen Seite — ich unterstreiche das, weil es wichtig ist — Umweltstandards im Grunde überhaupt nicht verändert.
Was ist also der Inhalt dessen, was wir heute zur Abstimmung stellen? Erstens. Wir geben ein Zeichen in Richtung Meßlösung. Ich gestehe zu, daß es zunächst nur ein Zeichen ist. Es verweist aber auf einen konsequent einzuhaltenden Weg, der in Zukunft gegangen werden muß. Die Meßlösung trägt dem Grundsatz des Verursacherprinzips in vollem Umfang Rechnung
und ist im Grunde die gerechte, praktikable und einfachere Lösung. Das ändert aber nichts daran, daß diese Meßlösung, obwohl sie schon heute technisch möglich wäre, der Vorbereitung durch die Vollzugsbehörden, durch die Länder bedarf. Hier brauchen wir eine Vorlaufzeit.
Wir haben durch Einfügung von Elementen der Meßlösung in die Novellierung, die heute ansteht, einen ersten Schritt getan und werden unsere politische Absicht durch eine ergänzende Entschließung zum Ausdruck bringen. Die Weiche ist mit dem Einstieg in die Meßlösung, die den Bundestag in der nächsten Legislaturperiode abschließend beschäftigen wird, gestellt. Meßlösung bedeutet allerdings auch — ich unterstreiche das —, daß die Konzeption und die inhaltliche Ausgestaltung des Gesetzes auch der Meßlösung angepaßt werden muß.
Zweitens. Wir senken und stabilisieren die Abwasserabgabe. In der jetzigen Gesetzesfassung ist eine Steigerung von 70 auf 90 DM zum Ende dieses Jahrhunderts, also in wenigen Jahren, vorgesehen. Hierin sehen wir eine Belastung von Wirtschaft und Kommunen, die geändert werden sollte. Wir sehen
darin im übrigen auch eine Erleichterung für die Vollzugsbehörden der Länder, die ja nach der jetzigen Fassung im Grunde immer wieder sehr kurzfristig aufgefordert sind, zu neuen Meßbescheiden und neuen Festsetzungen zu kommen.
Ich darf im übrigen gerade an dieser Stelle darauf hinweisen, daß die Kontinuität der Abgabe bedeutet, daß die Abgabe in ihrer Höhe noch immer so interessant ist, daß sie zur Verrechnung führt und daß Investitionen durch die Kommunen — sprich: dritte Reinigungsstufe, wenn sie denn erforderlich und möglich ist — und weitere Investitionen durchgeführt werden.
Drittens. Wir senken die Restverschmutzungsabgabe nicht auf Null, sondern um die Hälfte. Auch hier bleibt das Schwert nicht nur in der Scheide, sondern regt zu Investitionen an.
Wir anerkennen Investitionen gerade bei der chemischen Industrie — oft gescholten —, die jetzt in der Lage ist, Verbesserungen auch im Teilstrombereich auf ihren Grundstücken, auf ihrem Betriebsgelände, wenn sie nachweislich zur Senkung des Schmutzwasseranteils führen, zu verrechnen.
Wir haben die Anregung des Bundesrates zwar minimiert und zurückgeführt, aber in einem wichtigen Kern gelassen, indem nämlich Investitionen auch beim Hauptsammler verrechnet werden können.
Es gibt gerade zu diesem Punkt Anträge, Anregungen und immer wieder Forderungen von Kommunen und Trägern von Abwasserbehandlungsanlagen aus dem ländlichen Raum, die mit Recht darauf hinweisen, daß die Schaffung von Leitungen von entfernt liegenden Dörfern, von einzeln liegenden Gehöften, von den Streusiedlungen zur Abwasseranlage in dem größeren Kirchdorf zu teuer und nicht zu bezahlen sei und daß hier verrechnet werden müsse.
Wir haben uns mit diesem Problem befaßt, haben diese Anregungen aber abgelehnt, weil wir der Meinung sind: Hier tun unsere Länder als Vollzugsbehörden zuviel. Es ist nicht erforderlich, meine Damen und Herren, daß der letzte Bauernhof, das letzte Haus im Außenbereich, die Streusiedlung eine Leitung zur Kläranlage erhalten und damit eine starke finanzielle Belastung verursachen. Hier können die Länder, ohne gegen § 7a des Wasserhaushaltsgesetzes zu verstoßen, handeln und Befreiungen bzw. Ausnahmen vorsehen. Das bedarf nicht des Gesetzes.
Meine Damen und Herren, wir haben schließlich und endlich eine Kompensation zugunsten der neuen Lander eingeführt, daß also Investitionen, die in den neuen Ländern von Kommunen oder der Wirtschaft getätigt werden, angerechnet werden. Auch ich weiß, daß abgewartet werden muß, ob dieser Möglichkeit große Bedeutung zukommt. Auch ich habe meine Zweifel, wenn es um Städte und Partnergemeinden geht, sehe hier aber positive Möglichkeiten insbesondere für unsere Industrie und Wirtschaft.
Wir sind der Meinung, daß dieses Gesetz der Zeit, in der wir leben, und dem Umweltschutz gerecht wird. Wir werden ihm zustimmen und fordern den Bundesrat auf, dem kurzfristig zu folgen.
17000 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Klaus Harries Vielen Dank.
Das Wort hat nun der saarländische Minister für Umwelt, Herr Josef Leinen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Trotz wortreicher Erklärungen kann man es drehen und wenden, wie man will: Die vorgelegte Novelle zum Abwasserabgabengesetz ist kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt für den Umweltschutz in Deutschland.
Im Gegensatz zu meinem Vorredner kann ich nicht erkennen, wie mit dieser Novelle das Schwert der Abwasserpolitik geschärft wird. Das Gegenteil wird der Fall sein: Das Schwert wird in der Scheide bleiben und an der Klinge stumpf gemacht. Das ist die Folge dessen, was Sie hier vorgelegt haben.
Meine Damen und Herren, die Abwasserabgabe wird in einem Maße ausgehöhlt und verstümmelt, daß ein gewässerökologischer Lenkungseffekt nicht mehr erkennbar sein wird. Das einzige ökonomische Instrument, das wir in der deutschen Umweltpolitik haben, wird mit dieser Novelle zu Grabe getragen. Personen und Institute, die das seit vielen Jahren verfolgen, haben dazu ihre Studien und Erklärungen abgegeben.
Es ist ein falsches Signal und ein schlechtes Omen, was uns in der Umweltpolitik bei anderen Sektoren in dieser schwierigen Zeit noch droht.
Eine Abgabe ohne Lenkungseffekt ist wie ein Auto ohne Motor. Ich sage: Es wäre ehrlicher, in diesem Fall das Abwasserabgabengesetz ganz abzuschaffen; wir in den Ländern würden dann wenigstens den Verwaltungsaufwand sparen.
Wenn der Lenkungseffekt nicht vorhanden ist, hat das ganze Gesetz keinen Sinn mehr.
Wie weit wir zurückfallen, zeigt das Sondergutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen aus dem Jahre 1974. Schon damals wurde ein Abgabensatz von 80 DM pro Schadeinheit gefordert. Daß jetzt, mehr als 20 Jahre später, der Abgabensatz auf 70 DM pro Schadeinheit eingefroren werden soll, zeigt die völlige Unklarheit und auch die Unzulänglichkeit der Umweltpolitik in der heutigen Zeit.
Mit dieser Novelle entfällt der Anreiz zu einer weitergehenden Vermeidung und Reinigung von schädlichen Abwässern. Deshalb ist diese Novelle, Kolleginnen und Kollegen, ein Hemmnis für die Technologieentwicklung und auch ein Hemmnis für weitergehende Investitionen in der Industrie und in den Kommunen. Es wird wieder billiger, die Abwasserabgabe zu zahlen, anstatt in Abwassermaßnahmen zu investieren. Sie werden sehen: Die Grenzwerte werden gerade eben eingehalten, aber das, was
darüber hinaus technisch möglich ist, wird bei diesen Abgabensätzen nicht mehr gemacht.
Deutschland läuft damit Gefahr, die eingegangenen Verpflichtungen zum Schutz der Nordsee und der Ostsee nicht zu erfüllen. Diese Novelle gibt ein völlig falsches Signal. Statt einer Verstärkung des Gewässerschutzes das Wort zu reden, reden Sie einer Verlangsamung das Wort; das war ja auch der Tenor Ihrer Präsentation. Das ist ein falsches Signal für die Kommunen und auch ein falsches Signal für die Wirtschaft.
Das Abwasserabgabengesetz kennt in zwölf Jahren nun schon die vierte Novelle. Es liegen noch nicht einmal die Erfahrungsberichte über die zweite und die dritte Novelle vor, und schon kommen wieder erhebliche Umstellungen und damit auch Unsicherheiten auf den Vollzug vor Ort zu. Diese Kurzatmigkeit nützt nichts, sondern schadet. Sie werden sehen, daß der Zug gebremst und angehalten wird; wir werden damit nicht, wie wir es im Sinne der Nordsee und der Ostsee machen müßten, das Tempo beschleunigen.
Seit dem Robbensterben und dem Auftreten der Killeralgen in Nord- und Ostsee sind noch keine drei Jahre vergangen; wir alle haben vor den Mikrophonen gestanden und eine Verschärfung und Beschleunigung der Abwasserreinigung gefordert. Viele sind dem gefolgt und haben jetzt Investitionen vorbereitet. Sie stoppen das Pferd im Galopp, und ich sage Ihnen: Schon mancher Reiter ist bei einer solchen Operation kopfüber gepurzelt. Dies droht uns in der Abwasserpolitik.
Wir alle wollen einen zügigen Fortschritt bei der Abwasserreinigung in den neuen Bundesländern, aber die in der Novelle vorgeschlagene Verrechnungsmöglichkeit wird dazu so gut wie nichts beitragen; Sie werden das sehen. Die Kompensationsregelung ist verfassungsrechtlich bedenklich und im Verwaltungsvollzug recht aufwendig.
Ich kann nicht erkennen, welche Kommune oder welcher Betrieb vor Erledigung der eigenen Hausaufgaben auf Zuschüsse oder auf Maßnahmen zur dauerhaften Verbesserung der Abwassersituation verzichten würde. Insofern ist das ein Scheinargument und auch eine Scheinaktivität. Es wäre besser, gezielter und sachgerechter, in den jungen Bundesländern ein Sonderprogramm Abwasserreinigung mit Mitteln durchzuziehen, die wir haben, die uns die EG gibt und die aus dem Fonds deutsche Einheit stammen,
als den Eindruck zu erwecken, mit den 100 Milliarden DM, die dazu notwendig sind, würde über die Kompensationsregelung ein relevanter Beitrag geleistet werden. Dies wird nicht der Fall sein.
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Minister Josef M. Leinen
Meine Damen und Herren, wenn Sie sagen, Sie wollen die Kommunen entlasten,
dann kann ich die Tragfähigkeit dieses Argumentes nicht erkennen, weil jene Kommunen in Deutschland, die Abwasserreinigung mit eigenen Haushaltsmitteln und nicht mit den Gebühren der Verursacher bezahlen, falsch organisiert sind.
Wenn das in den Kommunen richtig organisiert ist, gibt es durch die gebührenfinanzierte Abwasserreinigung keine Belastung der kommunalen Haushalte. Insofern liegt Ihr Argument daneben und bestärkt eigentlich Kommunen, die noch keine Abwasserwerke oder eigenen Organisationsmodelle gewählt haben, um eine gesonderte Kostenrechnung für diesen Millionenaufwand zu haben. Das ist also kein Argument, das man ins Feld führen kann.
Meine Damen und Herren, die Länder haben Novellierungsvorschläge erwartet, die den Vollzug des Abwasserabgabengesetzes erleichtern. Ich gebe Ihnen recht: Der Ersatz der Bescheidlösung durch eine Meßlösung könnte zu einer zeitnahen Veranlagung, zu einer gerechteren Abgabenerhebung und zu einer spürbaren Entlastung der Verwaltungsbehörden führen. Aber dieser Vorschlag soll nach Ihrem Willen erst in der nächsten Periode kommen.
Ich verkenne nicht die Übergangsschwierigkeiten, aber ich meine, das wäre eine echte Novelle wert gewesen. Da wir alle erkennen, daß wir auf die Kürze noch nicht so weit sind, es zu formulieren und schon direkt zum 1. Januar umzusetzen, hätten wir uns allen einen Gefallen getan, wenn wir die Erfahrungen mit der zweiten und dritten Novelle abgewartet hätten. Der Bundestag hat von der Regierung bis Ende dieses Jahres einen Bericht über die Erfahrungen mit der zweiten und dritten Novelle verlangt, und schon vor Ende dieses Jahres haben wir die vierte Novelle, die wieder einiges von dem zurücknimmt, was wir als Signal einer fortschrittlichen Umweltpolitik in die Öffentlichkeit und an die Adressaten gegeben haben.
Wir hätten uns einen Gefallen getan, wenn wir die gesamte Gesetzesnovelle nochmals gründlich überdacht hätten, damit wir mehr Umweltschutz bekommen und nicht, wie ich befürchte und voraussage, weniger. Das Kriterium „mehr Umweltschutz" erfüllt Ihre Vorlage nicht, und deshalb wünsche ich mir, daß dieses Gesetzeswerk nicht durchgeht.
Danke für die Aufmerksamkeit.
Als nächster hat der Kollege Josef Grünbeck das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon eigenartig, was der Minister aus dem Saarland hier abgeliefert hat. Er hat nämlich von einer Verlangsamung gesprochen. Hier möchte ich Sie an folgendes erinnern, Herr Minister: Wir beraten seit einem Jahr diese Novelle, und gestern hat die SPD-Bundestagsfraktion einen neuen Antrag eingebracht. Ist das keine Verlangsamung? Wenn ein saarländischer Regierungsvertreter hier auftritt, habe ich immer den Eindruck, daß er über die Verlangsamung von Problemlösungen redet, aber die Erhöhung der Schuldenstände beschleunigt.
Das ist immer eine Problematik, bei der wir uns mit Ihnen auseinandersetzen müssen.
Sie haben von den erhöhten Verwaltungskosten gesprochen. Schauen Sie sich mal an, wie unterschiedlich die Verwaltungskosten in den Ländern verrechnet werden. Es gibt Länder mit einem ganz niedrigen Satz an Verwaltungskosten und Länder mit einem hohen Satz an Verwaltungskosten. Diejenigen, die den niedrigen Verwaltungskostensatz haben, sind die fähigen Länder, die ein solches Problem organisieren können. Diejenigen Länder, die die hohen Verwaltungskosten haben, sind die, die das nicht können. Da muß man sie anhalten, die Verwaltungskosten überall zu senken.
Was die Bundesländer angeht, habe ich Ihnen einen netten Brief entgegenzuhalten, den der Umweltminister von Thüringen der Präsidentin geschrieben hat.
— Auch ohne Berücksichtigung der charmanten Zwischenruferin darf ich fortfahren. Der Umweltminister schreibt:
Berücksichtigt man die angespannte wirtschaftliche Lage, die sich in hoher Arbeitslosigkeit und niedrigen Einkommen ausdrückt — das ist auf Thüringen bezogen — belasten die hohen Abwassergebühren die Bevölkerung Thüringens besonders. Die Landesregierung ist deshalb bemüht, Einfluß auf die Reduzierung der Preise zu nehmen. Aus diesem Grunde halte ich die Novellierung des Abwasserabgabengesetzes für notwendig und messe dabei den Neuregelungen in § 10 Abs. 4 und 5 Abwasserabgabengesetz besondere Bedeutung zu. Durch die Novellierung des Abwasserabgabengesetzes wäre ein spürbarer Beitrag zur Verringerung der Abwasserpreise in Thüringen möglich.
Dem kann man nur beipflichten. Nicht beipflichten kann man Ihrer sogenannten Bescheidlösung, weil Sie von vornherein Geld einfordern, für das Sie möglicherweise gar keine Leistung erbringen. Deshalb hat diese Koalition richtig entschieden.
Ich möchte noch eines betonen — das hatte ich schon aufgeschrieben, ohne Ihre Rede gehört zu haben, Herr Leinen —: Der Gewässerschutz in Deutschland ist sowohl vorbildlich in der Gesetzgebung — das hat mein Kollege schon betont —, als auch fortschrittlich in der technologischen Entwicklung, und zwar in der Verfahrenstechnik als auch in der Werkstofftechnik.
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Josef Grünbeck
Die Entsorgung ist in unserer Bundesrepublik in allen Bereichen der Umweltprobleme zunehmend kein Problem der Gesetzgebung, der betroffenen Verbände und der Wirtschaft, sondern wird immer mehr zu einer Standortfrage. Wir müssen uns dazu durchringen, auch zu dem Standort zu stehen, wenn wir irgendwo eine Entsorgungsanlage brauchen, sei dies eine Abwasseranlage oder eine Abfallanlage. Sobald ein Standort auch nur in Erwägung gezogen wird, sind Sie immer die ersten, die sich in die Proteste einreihen, den Standort verhindern wollen
und damit auch die Lösung des Problems verlangsamen.
Im übrigen ist bei Ihnen im Umweltbereich viel populistischer Aktionismus im Spiel. Mir wäre es lieber, wir würden etwas sachlicher miteinander umgehen.
Einen ordnungspolitischen Durchbruch bietet der Vorschlag dieser Regierung.
Was Sie zur Meßlösung dargelegt haben, ist doch völlig verkehrt. Wir hatten vor zehn Jahren natürlich noch nicht die technischen Möglichkeiten, eine Meßlösung anzubieten. Jetzt haben wir die erprobte Möglichkeit, die Meßwerte der Schadstoffe nicht nur permanent zu untersuchen, sondern sie auch permanent aufschreiben zu lassen. Somit bekomme ich über die Abwasserqualität eine regelmäßige und belegbare Kontrolle.
Nun werfen Sie uns vor, daß wir nur den Einstieg wagen. Soll man denn die Dummheit begehen und in einer neuen Technologie sofort auf breitester Ebene losmarschieren? Oder sollten wir nicht erst einmal die neuen Lösungen im Einzelfall, als Pilotprojekt erproben — das war unser Beschluß — und dann erst in die breite Öffentlichkeit durchdringen?
Das Verursacherprinzip wird damit gewahrt. Ich bin enttäuscht von Ihnen, die Sie sich seinerzeit mit uns gemeinsam in der sozialliberalen Regierung eigentlich das Verursacherprinzip auf Ihre Fahnen geschrieben haben. Wir haben im Abwasserbereich jetzt das erste Mal die Möglichkeit, tatsächlich auf das Verursacherprinzip zurückzugreifen, weil wir die technischen Möglichkeiten dazu haben. Nun sagen Sie, das sei Pfusch. — Nein, es ist genau das Richtige, daß der mehr zahlen muß, der mehr Schadstoffe einbringt.
Was können wir denn eigentlich Besseres machen, als das Verursacherprinzip so in Vollzug zu bringen?
Die Meßlösung bedeutet auch eine Kostensenkung. Sie haben im Ausschuß gesagt, die Senkung der Kosten käme nur der Industrie zugute.
Demjenigen, der so einen Unfug daherredet, muß ich endlich einmal sagen, daß wir bei der Trinkwasserversorgung in immer größerem Umfang auf die Oberflächengewässer zurückgreifen müssen. Das trifft gerade auf Sie im Saarland zu, Herr Minister. Je schlechter die Qualität der Oberflächengewässer ist, um so teurer und qualifiziert schwieriger wird die Wiederaufbereitung zur Gewährleistung der Trinkwasserversorgung unserer Bevölkerung. Wenn Sie das nicht zur Kenntnis nehmen, dann vernachlässigen Sie, daß der Kubikmeter Wasser bei schlechtem Oberflächenwasser für den Verbraucher entsprechend teurer wird.
Das ist keine Gesetzesnovelle für die Industrie, sondern eine Gesetzesnovelle für den Umweltschutz, für die Industrie und für die Verbraucher. Deshalb halten wir sie für richtig.
Ich muß Ihnen noch sagen: Daß die Kanalinvestitionen verrechnet werden, halte ich für eine gute Lösung. Meine Damen und Herren, wir haben große Klagen bekommen, daß wir die Investitionen für die Kanalleitungen in diese Gesetzesnovelle mit einbezogen haben. Wir haben dies aus dem einfachen Grunde getan, weil es — natürlich länderspezifisch verschieden — in der Kanalisation erhebliche Leckagen gibt, die repariert oder saniert werden müssen. Deshalb ist dies richtig, zumal in manchen Bereichen die Kanalisation im Durchschnitt zwei Drittel, die Kläranlage selbst aber bloß ein Drittel der Mittel verschlingt.
Ich finde, daß die Stellungnahmen der Kommunen manchmal enttäuschen. Ich bin nicht nur über die Ungerechtigkeit der Strukturierung der Verwaltungskosten in Sorge, sondern ich bin auch etwas über die Ehrlichkeit der Abrechnung in Sorge. Bei sorgfältiger Nachprüfung stellen wir in manchen Ländern fest, daß die Verrechnung gegenüber dem Verbraucher leider Gottes nicht immer ganz kostengerecht erfolgt. Ich denke nur an die völlig unterschiedlichen Abschreibungsmodalitäten. Die Ehrlichkeit dieser Verrechnung wird der F.D.P. demnächst — hoffentlich gemeinsam mit unserem Koalitionspartner — eine Anfrage an die Regierung wert sein. Und auch Sie von der SPD sind eingeladen, sich da anzuschließen.
Die Sorgen der Kommunen, daß in diesem Bereich keine Finanzen vorhanden sind, muß man wirklich einmal öffentlich aussprechen. Es gab in der Abwasserentsorgung Pilotprojekte; das Land Niedersachsen ist mit großem Vorbild vorangegangen. Mit sogenannten Betreibermodellen konnten bei der Privatisierung von Abwasseranlagen 20 bis 30 % der Investitionskosten und 20 bis 30 % der Betreiberkosten gespart werden. Für mich hat eine Kommune kein Recht, hier zu klagen, daß das Geld ausgeht, wenn sie nicht alle Chancen zur Kostensenkung wahrnimmt, und das heißt Privatisierung mancher Anlagen.
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Josef Grünbeck
Das ist eine Forderung unserer Fraktion.
Bedauerlich ist — da schließe ich mich meinem Kollegen Harries an —, daß wir die Kompensationslösung nicht so zustande gebracht haben, wie wir sie gern gewollt hätten. Meine Damen und Herren, ich muß Ihnen ehrlich gestehen — und da besteht wohl quer durch alle Reihen Übereinstimmung —: Daß die Bundesländer es abgelehnt haben, die entsprechenden Fördermittel in Kompensation den neuen Bundesländern zufließen zu lassen, ist nicht nur ökologisch kaum vertretbar. Es mangelt da auch an Solidarität mit unserer deutschen Einheit.
Der ökologische Effekt ist nachgewiesen. Aus dem Gutachten ist ersichtlich, daß wir beispielsweise bei 1 000 DM Einsatz im Westen bei der dritten oder vierten Reinigungsstufe einen ökologischen Effekt von 3 bis 4 % erhalten. Mit der gleichen Summe können Sie bei der ersten und zweiten Reinigungsstufe in den östlichen Bundesländern 30 bis 40 % erreichen. Wenn unsere Solidarität in unserem vereinten deutschen Land nicht mehr ausreicht, um solche Erkenntnisse im Gesetz umzusetzen, dann haben sich die Länder mit ihrem Egoismus eigentlich einen schlechten Dienst erwiesen.
Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Wir werden beim Abwasserrecht, beim Abfallrecht, bei allen Umweltgesetzen nach mehr Akzeptanz im europäischen Raum suchen müssen. Es wird uns nichts helfen, wenn wir den Rhein sauberhalten und die Franzosen uns die Kalisalze hineinwerfen. Es wird uns nichts helfen, wenn wir die Elbe sauber machen und die Tschechen uns über die Grenze massenweise Frachten liefern. Die Ostsee wird durch internationale Verschmutzung belastet.
Wir müssen alle gemeinsam die Erkenntnis akzeptieren: Wasser und Luft haben keine Grenzen. Wir müssen dem Umweltschutz in allen Bereichen zu internationaler Akzeptanz verhelfen. Denn eines steht fest, meine verehrten Damen und Herren: Der Frieden in Europa kann nur sichergestellt werden, wenn wir den Frieden mit der Natur finden. Der vorgelegte Gesetzentwurf ist ein Schritt dahin.
Ich danke Ihnen sehr.
Als nächste hat die Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf zur Änderung des Abwasserabgabengesetzes geht an den Realitäten der Kommunen insbesondere in Ostdeutschland vorbei. Leider offenbart sich bei dieser Gelegenheit wieder einmal, daß vom Bund und zum Teil den Ländern auf die Kommunen wenig Rücksicht genommen wird. Es macht offensichtlich Spaß, sie an der kurzen Leine der zweckgebundenen Zuweisungen zu führen. Es müssen endlich die notwendigen Mittel für eine Sanierung und Modernisierung der Kanalsysteme und der Kläranlagen insbesondere in den ostdeutschen Kommunen bereitgestellt werden. Hier stimme ich dem Minister aus dem Saarland voll zu.
Für verfassungsrechtlich bedenklich halten wir auch die Einführung einer Kompensationsmöglichkeit von Investitionen in ostdeutschen Kommunen mit in Westdeutschland zu zahlenden Abgaben. Das hat nämlich mit Solidarität nichts zu tun.
Doch die Handlungsfähigkeit der Kommunen wird ebenso durch eine neue Qualität bedroht, nämlich durch die im Maastrichter Vertrag niedergelegten Konvergenzkritierien zur Schaffung der Europäischen Währungsunion. Danach ist die Verschuldung der öffentlichen Hand zu begrenzen, wodurch ein starker Zwang zur Privatisierung in allen Bereichen der Kommunen ausgeübt wird. Dazu möchte ich einige Bemerkungen mehr machen.
Viele deutsche Kommunen befürchten, daß durch den Maastrichter Vertrag die kommunale Selbstverwaltung, die es in vergleichbarer Form in anderen Mitgliedstaaten nicht gibt, durch EG-Regelungen weiter eingeschränkt wird. Sie steht schon heute fast nur noch auf dem Papier. In Brandenburg liegt z. B. das, was tatsächlich in der Selbstverwaltung der Kommunen liegt, im Durchschnitt bei etwa 6 %.
Herr Kollege Harries, Sie haben vorhin von der finanziellen Not der Kommunen gesprochen. Die Verantwortung dafür liegt doch vor allen Dingen beim Bund. Sehen wir uns doch nur einmal das Sparpaket an, das hier beschlossen worden ist. Etwa 100 bis 150 Millionen DM zusätzliche Finanzausgaben ergeben sich daraus allein für die Kommunen in Brandenburg, vom Sinken der Kaufkraft ganz zu schweigen. Für Brandenburg bedeutet das 300 bis 500 Millionen DM weniger an Kaufkraft, was letzten Endes heißt, daß sich die Einnahmen der Kommunen deutlich verringern würden. Die Verantwortung liegt also hier im Bund, und diese können wir nicht einfach abschieben.
Frau Kollegin Enkelmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Kollegen Hitschler?
Nein, ich möchte von Herrn Hitschler keine Frage.
— Das wird mit uns ja auch so gemacht.
Wir meinen, daß auch die Befürchtungen nicht unberechtigt sind, daß die Entscheidungen von Brüssel, Straßburg und Maastricht einen weiteren Demokratieabbau an der Basis politischer Entscheidungen
— nämlich auch in den Kommunen — bedeuten, der auch durch weitere Befugnisse für das EG-Parlament, wie sie die SPD immer wieder gebetsmühlenartig fordert, nicht zu kompensieren ist.
Es wird heute viel von Politikverdrossenheit gesprochen. An die Bundesregierung sei hier die Frage gestellt, wie sie in Zukunft Menschen für die Politik gewinnen will, wenn der größte Teil des öffentlichen Lebens in den Kommunen privatisiert wurde. Welchen Sinn haben kommunale Parlamente noch, wenn öffentliche Politik privatisiert wird? Die Tatsache, daß in vielen Gemeinden in Brandenburg
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Dr. Dagmar Enkelmann
kein Bürger bereit ist, für das Parlament überhaupt zu kandidieren, hat vor allem damit zu tun, daß der Entscheidungsspielraum für die Parlamente immer geringer wird.
Meine Damen und Herren, in der Bundesrepublik wurde bis zur Vereinigung die Abwasserbeseitigung nur in Niedersachsen und dort nur zu ca. 5 % privat betrieben. In der Diskussion um die Privatisierung der Abwasserbeseitigung wie auch der Wasserversorgung wird oft argumentiert, die Einbeziehung privaten Kapitals entlaste die öffentlichen Haushalte. Diese Aussage ist, obwohl sie seit Jahren wiederholt wird, äußerst kurzsichtig. Werden die Investitionen durch Eigenkapital beispielsweise eines privaten Betreibers finanziert, so wird dieser sein Eigenkapital kalkulatorisch nach Marktkonditionen verzinsen. Finanziert sich der private Betreiber selbst am Kapitalmarkt, so ergeben sich mindestens gleiche Finanzierungskosten, wie sie der Kommune bei entsprechender Kreditaufnahme entstehen würden.
— Solange kommunales Eigentum vorhanden ist, natürlich.
Privates Kapital kann also nicht die Finanzierungskosten, die letztendlich in jedem Fall von den Bürgerinnen und Bürgern zu tragen sind, senken.
Die Erfahrungen im Osten belegen eher das Gegenteil.
Das häufige Argument, die private Finanzierung der Abwasserbeseitigung schaffe den kommunalen Spielraum für die Realisierung anderer kreditfinanzierter Aufgaben, ist ebenfalls nicht schlüssig, da dieser Spielraum letztlich durch die Leistungsfähigkeit der Kommunen bestimmt wird. Unter der Leistungsfähigkeit der Kommunen wird verstanden, daß langfristig die Ausgaben der Kommunen durch entsprechende sozialverträgliche Einnahmen gedeckt sein müssen.
Die Tatsache, daß aus der Sicht der Kommunen an die Stelle der Kredittilgung die Zahlung eines Entgelts an den privaten Betreiber tritt, schafft keine zusätzlichen Einnahmequellen, d. h. der Spielraum der Kommunen ändert sich an dieser Stelle nicht.
Soviel zur Privatisierung der Abwasserentsorgung, die von einigen Politikern mit Inbrunst eines religiösen Glaubensbekenntnisses verkündet wird. Politik sollte jedoch etwas mit Wissen zu tun haben und weniger mit Glauben. Daher wissen wir, daß wir die vorgesehene Novellierung ablehnen müssen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun spricht Herr Staatssekretär Wieczorek.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist schon sehr interessant, einmal zu verfolgen, wie mäßig und leise die Diskussion über die Novellierung des Abwasserabgabengesetzes begann. Es war übrigens eine Bundesratsinitiative, über die wir im Umweltausschuß zu sprechen hatten, und eine entsprechende Erweiterung durch die Bundesregierung, bei der ich mich freue, daß unsere Konzeption durchsetzbar war.
Auf der anderen Seite erlebt man, mit welch wenig gebotener Sachkunde hier diskutiert wird. Frau Kollegin Enkelmann, ich zähle mich auch zu diesen gottesfürchtigen Menschen — ich bin an sich einer —, aber indem Sie Ihre alten Ladenhüter immer wieder vorbeten, wird die Situation nicht anders.
— Sie müssen sich einmal mit der Realität beschäftigen. Wir haben in den alten und in den neuen Bundesländern mittlerweile an die 80 private Betreibermodelle oder Kooperationsmodelle in Planung, Bau oder Betrieb mit einem gebundenen Investitionsvolumen von 6,5 Milliarden DM. Wissen Sie überhaupt, wieviel Arbeitsplätze dadurch geschaffen wurden? Sie sollten sich einmal solche Modelle ansehen und nicht nur darüber reden, wie schlecht das alles ist.
Die alten Ladenhüter, kommunale Kredite, sind alles Dinge — ich bin gerne bereit, mit Ihnen und den entsprechenden Fachleuten ein Gespräch zu führen —, die wir in der öffentlichen Diskussion nicht brauchen. Sie bringen die Bürgermeister, die in den neuen Bundesländern vor Investitionen von über 200 Milliarden DM stehen, genau auf den alten Weg, den man 40 Jahre lang in der alten Bundesrepublik beschritten hat, und führen damit in eine Sackgasse. Wir sollten endlich einmal offen über diese Dinge sprechen.
Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, ohne Ihren Redefluß zu stoppen, daß der Kollege Hitschler das Bedürfnis hat, die von seiner Partei mit getragene Bundesregierung befragen zu dürfen.
Frau Präsidentin, selbstverständlich.
Nein, das ist überhaupt nicht verboten. Ich mache nur darauf aufmerksam, daß Dreiecksfragen, was der Kollege Staatssekretär von den Äußerungen der Frau Kollegin Enkelmann hält, nicht zulässig sind. Ich sage es nur sicherheitshalber.
Das beabsichtige ich auch nicht zu fragen, Frau Präsidentin.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17005
Dr. Walter Hitschler
Meine Frage geht dahin, ob Sie in der Lage sind, Herr Staatssekretär, uns und vielleicht der Kollegin Enkelmann einen Überblick darüber zu geben, wie sich die kommunalen Gebühren aus diesen Gebührenhaushalten in den letzten Jahren und insbesondere in der letzten Zeit explosiv entwickelt haben. Bekanntlich sind die kommunalen Gebühren jene Preise, die von allen Preisen am stärksten gestiegen sind und die Lebenshaltungskosten am stärksten in die Höhe getrieben haben.
Das ist ja nicht unbedingt ein Ausweis für die besondere Wirtschaftlichkeit und Sinnhaftigkeit solcher kommunalen Betriebe.
Herr Kollege, um der Kritik der Präsidentin zu entsprechen und keine Dreiecksantwort zu geben, verweise ich auf den Bericht, der gestern im Kabinett zur Entwicklung des Gebührenaufkommens in der kommunalen Abwasserbeseitigung und Abfallentsorgung vorgelegt wurde. Wir haben sehr differenzierte, aber in den letzten Jahren exorbitant steigende Belastungen in den Kommunen, nicht nur in den Bereichen Wasser und Abwasser, sondern auch im Bereich der Abfallwirtschaft.
Aber, Frau Kollegin Enkelmann, kommen wir noch einmal auf das Thema zurück. Wir sind keine Privatisierungsfetischisten. Wir wollen auch gar nicht das Grundgesetz ändern. Der Art. 28 bedeutet uns sehr viel. Wir sehen auch Chancen, bei Privatinvestitionen die hoheitlichen Rechte der Kommunen besser ausfüllen zu können.
Aber was wir wollen, ist ein Wettbewerb zwischen den Öffentlich-Rechtlichen und den Privaten. Dazu wird die Bundesregierung in allernächster Zeit einige Entscheidungen treffen, z. B. im Bereich der steuerlichen Belastungen. Es ist doch gar nicht einzusehen, daß ein Privatinvestor im Sinne unternehmerischer Tätigkeit im Abwasserbereich 15 % Mehrwertsteuer bezahlt und die Kommune gar nichts, obwohl sie das gleiche tut. Wir wollen Wettbewerb. Wir wollen Wirtschaftlichkeitsvergleich. Dann werden wir ja sehen, welche Lösung die bessere ist. Wesentliche finanzielle Mittel werden wir jedenfalls von seiten des Staates
— wie auch hier im Antrag der SPD steht — vom Fonds Deutsche Einheit und aus Fördermitteln der EG zur Verfügung haben. Es ist ja alles richtig, und es passiert ja auch.
— Entschuldigen Sie, Sie sollten sich einmal damit befassen, welche enormen Mittel die Bundesregierung, also der Bund in den vergangenen Jahren 1991 und 1992 mit dem Programm ökologischer Aufbau und jetzt auch mit der Verstetigung des Fonds Deutsche Einheit aus EG-Mitteln in die neuen Bundesländer gebracht hat, und sollten auch einmal aufmerksam registrieren, daß z. B. der Freistaat Sachsen einen lange von der Bundesregierung gemachten Vorschlag aufgenommen hat, nämlich GA-Mittel — Gemeinschaftsaufgabe regionale Wirtschaftsstruktur — auch im Bereich der Umweltinfrastruktur einzusetzen. Das hat z. B. den Freistaat Sachsen in die Lage versetzt, in den nächsten Jahren über 600 Millionen DM zur Förderung von Wasser- und Abwasserprojekten zu haben. Andere Bundesländer können diesem Weg ruhig folgen.
Meine Damen und Herren, ich will an dieser Stelle noch einmal kurz auf die Änderungen eingehen. Wir haben einmal die Ermäßigungsregelung für den Restschmutz. Außerdem soll der Abgabesatz nicht mehr bis auf 90 DM, sondern bis auf 70 DM ansteigen. Das bedeutet nicht, daß wir Umweltstandards mindern wollten oder Leute, die mehr Schadstoffe einleiten, belohnten, sondern es ist das Ergebnis der Tatsache, daß das Abwasserabgabengesetz in Verbindung mit dem Wasserhaushaltsgesetz und der Entwicklung der Technik der Entlastung der Gewässer eine ganze Menge an Gewinn für die Umwelt gebracht hat, so daß eine weitere Steigerung — wie vom Bundesrat 1990 verabschiedet, von der Bundesregierung aber schon damals nicht gewollt — nicht notwendig ist.
Die bedeutendsten Veränderungen — das ist hier auch schon gesagt worden — ergeben sich im Bereich der Verrechnung der Abwasserabgabe mit den dem Gewässerschutz zugute kommenden Investitionen. Meine Damen und Herren, es geht doch hier gar nicht darum, jemanden zu belohnen, der ein Kanalnetz baut, einen Sammler baut oder ein Straßennetz baut, sondern darum — das betrifft vor allem auch die neuen Länder —, dann zu kompensieren, dann die Investitionen gegenzurechnen, wenn deutliche Reduzierungen der Belastung von 20 % im Teilstrom und im Gesamtstrom beim Einleiten in das Gewässer insgesamt zu einer Minderung führen. Wenn es nicht gewaltige Entlastungen sind, so sind es immerhin doch Entlastungen. Ich denke, das ist auch eine deutliche Verbesserung dessen, was ursprünglich im Bundesrat diskutiert wurde.
Nun komme ich zum letzten Punkt: Verrechnung der Investitionen in den neuen Bundesländern. Wir wissen, wie schwierig dieses Thema ist. Aber wir wissen natürlich auch, daß die Kommunen hier theoretisch Solidarität üben könnten, wobei wir zugeben, daß das sehr schwierig ist, denn auch die westdeutschen Kommunen stehen vor gewaltigen Herausforderungen z. B. bei der Erneuerung der Kanalisation.
Wenn wir uns einmal den Nebenkriegsschauplatz der dritten Reinigungsstufe anschauen, dann wissen wir: Es geht gar nicht um die dritte Reinigungsstufe, sondern eigentlich um die Kanalisation; denn die dritte Reinigungsstufe belastet die Gesamtinvestition nicht einmal zwischen 10 und 15 %, während das Kanalnetz mit über 70 % durchschlägt. Auch hier werden wir also eine Erleichterung bekommen. Nein, wir meinen natürlich hier auch Wirtschaftsunternehmen, die z. B. in den neuen Bundesländern in die Umweltinfrastruktur investieren; man sollte hier einen Anreiz schaffen, diese Maßnahmen zügig und schnell durchzuführen.
17006 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Parl. Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek
Meine Damen und Herren, den Einwand, insbesondere die erhebliche Ausweitung der Verrechnungsmöglichkeiten werde zu einer drastischen Absenkung des Abgabeaufkommens führen, kann ich nicht gelten lassen. Man muß immer wieder betonen: Mit der Abwasserabgabe wollen wir nicht dem Staat zusätzliche Einnahmen verschaffen, sondern den Gewässerschutz verbessern, und zwar durch geeignete Investitionen. Die Ausweitung der Verrechnungsmöglichkeiten wird insofern starke Innovationsimpulse auslösen. Wer investiert, soll abgabemäßig belohnt werden. Das ist seit jeher ein Prinzip der Abwasserabgabe.
Die letzte, erst zum Schluß in das Novellierungskonzept aufgenommene Änderung betrifft die Meßlösung; Herr Kollege Grünbeck hat darüber ausführlich gesprochen. Mein Haus hat sich entschieden den von starken Kräften unterstützten Versuchungen widersetzt, durch Einführung einer Option auf eine Veranlagung nach gemessenen Werten die Abgabenbelastung und entsprechend die ökonomische Anreizwirkung der Abwasserabgabe fast zu halbieren, ohne daß sich an den Abwasserverhältnissen etwas ändert.
Wir wollen jetzt in einer Probephase, in einer Modellphase neben den im Bescheid festgesetzten Überwachungswerten im Falle einer Heraberklärung nach § 4 Abs. 5 sehen, wie wir Erfahrungen mit den Meßprogrammen sammeln können. Wir müssen auch darauf aufmerksam machen, daß es für die geforderten Meßwerte noch gar nicht die entsprechenden Programme gibt. Das müssen wir ausweiten; das muß sich entwickeln. Deshalb werden wir mit Augenmaß diese Modellversuche begleiten. Ich glaube auch, daß wir hier kooperative Partner bei den bescheidenden Behörden finden werden.
Meine Damen und Herren, in der zu fassenden Entschließung sind bereits die Weichen für eine grundlegende Reform des Abwasserabgabenrechts gestellt. Ich begrüße den der Bundesregierung gestellten Novellierungsauftrag ausdrücklich.
Wir werden ihn ernst nehmen.
Es war von vornherein klar, daß das, wie wir alle wissen, recht kompliziert und strikt auf die aktuellen Erfordernisse des wasserrechtlichen Vollzugs ausgerichtete Abgabensystem nach fast 20jähriger Praxiserprobung auf den Prüfstand gehört. Dabei werden vor allem die Fortschritte, die im Ordnungsrecht bei der Durchsetzung der Mindestanforderungen an Abwassereinleitungen nach § 7 a Wasserhaushaltsgesetz erreicht worden sind, und die daraus zu ziehenden Schlußfolgerungen für die Aufgaben und die Ausgestaltung eines künftigen Abwasserabgabensystems zu würdigen sein.
Bei der in der nächsten Legislaturperiode anstehenden Novelle werden wir die Gelegenheit nutzen, eine zukunftsorientierte, der gestiegenen Bedeutung marktwirtschaftlicher Instrumente in der Umweltpolitik angepaßte Konzeption der Abwasserabgabe vorzulegen. Wir werden dabei auch eine grundsätzliche
Diskussion über das Verhältnis von Ordnungsrecht und Abgaberecht führen müssen.
Die hier nur angedeuteten Perspektiven machen deutlich: Von Stillstand oder gar Rückschritt in der Gewässerschutzpolitik kann keine Rede sein.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Nun spricht Frau Kollegin Susanne Kastner.
Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Das von der sozialliberalen Koalition 1976 verabschiedete Abwasserabgabengesetz regelt bis heute die einzige echte Umweltabgabe. Die Abwasserabgabe ist — wie wir heute so gern sagen — eine echte Ökosteuer. Dieses ökonomische Instrument des Umweltschutzes regelt: Wer viel Dreck in die Flüsse einleitet, muß viel zahlen; wer wenig einleitet, muß wenig zahlen. Dies wollten wir doch alle. Dreimal jedoch ist dieses Gesetz inzwischen von Ihnen novelliert und zum Teil auch abgeschwächt worden.
Heute steht die vierte Novelle zur Debatte, mit der die Bundesregierung einen Gesetzentwurf des Landes Bayern zum weiteren Absatteln mißbraucht. Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, wollen und werden mit dieser Änderung Ihren eigenen Umweltminister ad absurdum führen
— Herr Grünbeck, hören Sie doch zu, was Herr Töpfer gesagt hat —, der noch 1990 bei der dritten Novelle stolz verkündet hat, „daß dieses neue Abwasserabgabengesetz ein weiterer Baustein für das Gesamtpaket des in dieser Legislaturperiode vorgelegten Ausbaus zu einer ökologischen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland ist". Sie selbst führen diesen Umweltminister heute vor, weil Sie trotz der Warnung vieler Sachverständiger in der Anhörung des Umweltausschusses — ich nenne beispielsweise nur das Bundesumweltamt, den BBU, den Bundesverband Gas- und Wasserwirtschaft und das Finanzwissenschaftliche Institut der Universität Köln — dafür sorgen, daß diese erste und einzige erfolgreiche Ökosteuer in ihrer Wirkung im wahrsten Sinne des Wortes verwässert wird.
Diese Novelle könnte auch überschrieben sein mit „Novelle zur Abschaffung des Abwasserabgabengesetzes und zu einer Umwandlung in ein Wirtschaftsförderungsgesetz".
Diese zutreffende Überschrift habe nicht ich erfunden, sondern renommierte Wissenschaftler, wie Sie vielleicht wissen.
Sie wollen heute, ohne die Umsetzung und die Auswirkungen der dritten Novelle überhaupt abgewartet zu haben, eine Fülle von Änderungen vornehmen und damit in Sachen Umweltschutz einen gewaltigen Schritt zurückgehen. Sie nutzen die Finanznot der Städte und Gemeinden, zu der die Bundesregierung ja nicht unmaßgeblich beigetragen hat, dazu, die
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17007
Susanne Kastner
Kosten für die Sanierung und Beseitigung von Umweltschäden wieder zu Lasten der Steuerzahler statt zu Lasten der Verursacher abzuwälzen.
Es bestand noch vor kurzem weitgehend Konsens in diesem Haus, daß vorsorgender Umweltschutz billiger ist als Sanierung und daß die Sanierungskosten ja wohl von den Verursachern zu tragen sind.
Jetzt aber, angesichts der allgemeinen Rezession, beginnen wir wieder mit der leidigen Diskussion der 80er Jahre, daß Umweltschutz Luxus sei, den man sich nur bei wirtschaftlicher Hochkonjunktur leisten könne.
Ich frage mich manchmal, ob Sie die Studien, Expertisen und Papiere aus dem Haus Ihres eigenen Umweltministers und auch des Bundesumweltamtes überhaupt schon einmal gelesen haben, denn dann hätten Sie ja eigentlich lernen können, daß der Umweltschutz und die damit verbundene Industrie bei uns inzwischen ein entscheidender Wirtschaftsfaktor ist.
Auch die kurzsichtigen Rechnungen, man müsse nur die Umweltstandards wieder herunterfahren, um der Wirtschaft für einige Zeit Kosten zu ersparen, sind doch schon längst widerlegt.
— Doch, mit dieser Novelle wollen Sie das, Herr Grünbeck. — Jeder kann zumindest heute wissen, daß die Nachsorge immer teurer ist, als Schäden und Verschmutzungen gar nicht erst zu produzieren.
All dies wissend, wollen Sie aber heute die vierte Novelle oder, besser gesagt, die Abschaffung des Abwasserabgabengesetzes beschließen. Es scheint ja etwas dran zu sein an dem „Kuhhandel" mit den Wirtschaftspolitikern der Regierungskoalition, den das „Handelsblatt" am 28. Oktober dieses Jahres beschrieb. Von einem Kuhhandel ist dort die Rede, nachdem bisher in dieser Legislaturperiode „überhaupt nichts gelaufen ist". Und weiter — ich zitiere wörtlich, und wer jetzt zitiert ist, der fühlt sich sicher auch betroffen —:
Überzogene Regulierungen wie beim Abwasserabgabengesetz würden zurückgedreht, um andere Projekte wie das Bodenschutzgesetz und das Kreislaufwirtschaftsgesetz doch noch durchs Parlament zu bringen.
Selbst wenn ich Ihnen einmal zugute halte, daß hiervon vielleicht nur ein Teil oder die Hälfte stimmt, bleibt das doch in der Tat ein starker Tobak.
Schaut man sich die von Ihnen geplante Änderung des Abwasserabgabengesetzes an, dann bestätigt sich der Verdacht eines Kuhhandels
zu Lasten unserer natürlichen Ressourcen und zur Subventionierung der interessierten Wirtschaft allerdings. — Vom Kühemelken versteht der Kollege da drüben vielleicht ein bißchen mehr.
Sie wollen die Abgabesätze zunächst auf dem heutigen Stand einfrieren und erst 1997 wieder um 10 DM anheben, wohl wissend, daß diese Abgabesätze schon heute deutlich geringer sind als die tatsächlich durch die Schadstoffeinträge verursachten Kosten.
Sie wollen die Verrechnungsmöglichkeit auf Investitionen für Sammelbecken erweitern, obwohl diese Baumaßnahmen kaum Schadstoffe beseitigen und damit am Sinn des Gesetzes einfach vorbeilaufen.
Sie wollen Investitionen in den neuen Bundesländern auf die Abgabe im Westen anrechnen lassen, was kaum praktikabel sein wird, verfassungsrechtlich bedenklich ist und für die Kommunen einen zusätzlichen Verwaltungsaufwand bedeutet, der in keinem Verhältnis zu den Kosten steht.
Sie wollen den Einstieg in die Meßlösung jetzt, obwohl die tatsächlichen Schadstofffrachten nicht konkret gemessen werden können — Herr Grünbeck behauptet, es könne sein; im nächsten Satz sagt er dann, es müßten aber noch Pilotprojekte finanziert werden; was denn nun, fragt man sich dann — und immer von einzelnen Meßwerten auf die Gesamtfracht umgerechnet werden muß. Sie kündigen die dazugehörigen und notwendigen Gesetze und Gesetzesänderungen erst für die nächsten Jahre an, vielleicht auch auf dem Hintergrund, daß sich in den nächsten Jahren die Regierung ändert.
Mit diesen Kernpunkten Ihrer Novelle schwächen Sie das Verursacherprinzip, schaffen Sie den Anreizcharakter des alten Gesetzes weitgehend ab und steigern Sie den Verwaltungsaufwand auch für Kommunen und Länder derart, daß die Forderung nach völliger Abschaffung des Gesetzes nur noch eine logische Schlußfolgerung sein kann.
Ich weiß schon, daß Sie mir immer wieder die Stellungnahmen der kommunalen Spitzenverbände vorhalten,
die sich weitgehend positiv zu Ihren Novellierungsvorschlägen geäußert haben.
Aber ich sage Ihnen jetzt schon: Dieselben Verbände
werden in einem Jahr wieder bei uns anklopfen und
17008 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Susanne Kastner
sich über den unsinnigen Verwaltungsaufwand beschweren, den diese Novelle verursachen wird.
Daß sich die Kommunen bei ihrer desolaten Finanzlage über jede einzusparende Mark freuen, wird ja keinen von uns wundern. Aber ich sage Ihnen, und zwar auch als aktive Kommunalpolitikerin, die ich noch bin: Hier wird zu kurzfristig gedacht und auch zu kurzfristig gehandelt.
Ich weiß ja, daß fast überall Kommunalwahlen vor der Tür stehen und daß es jedem Kommunalpolitiker schwerfällt, neue Gebührenerhöhungen verkünden zu müssen. Aber die Sanierung verunreinigter Gewässer muß irgendwann einmal bezahlt werden, und es ist dann eben einfach billiger, Verunreinigungen erst gar nicht zuzulassen und die notwendigen Investitionen heute zu tätigen, als anschließend teure Sanierungsprogramme zu bezahlen. Die Nordsee ist nur zu retten, wenn Phosphor und Stickstoff aus dem Wasser unserer Flüsse entfernt werden oder, besser noch, gar nicht erst eingeleitet werden.
Herr Töpfer ließ im Sommer dieses Jahres die frohe Botschaft verbreiten, die Wasserqualität der deutschen Flüsse sei in den letzten Jahren fast überall besser geworden,
es bedürfe aber bei einigen Gewässern noch weiterer Maßnahmen. Alles schön, alles richtig. Ich frage Sie dann aber: Warum jetzt das Erreichte wieder aufs Spiel setzen? Warum jetzt Verschmutzungen zulassen, die wir dann wieder sanieren müssen?
Warum wollen Sie unseren Kindern und Enkelkindern neben all den Schulden, die wir und insbesondere Sie ihnen hinterlassen, auch noch den Dreck hinterlassen,
obwohl es schon heute möglich wäre, ihn zu verhindern, und dies auch volkswirtschaftlich billiger wäre?
Ich kenne das Argument, daß es doch besser sei, jetzt die Kläranlagen und Abwasserkanäle in den neuen Ländern zu sanieren, als die dritte Reinigungsstufe im Westen einzufordern. Dies klingt logisch und auf den ersten Blick unglaublich einfach und bestechend; aber es ist eine reine Augenwischerei, weil die bei den Kommunen im Westen eingesparten Mittel ja gar nicht in die neuen Länder fließen werden. Die Finanznot der Kommunen wird durch eine Verwässerung oder Aussetzung des Abwasserabgabengesetzes nicht behoben werden, aber die Länder, insbesondere die neuen, werden noch weniger Mittel zur Verfügung haben, um Investitionen zur Verbesserung der Abwasserreinigung schwerpunktmäßig zu fördern.
Die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern können die notwendigen Investitionen zur Kläranlagenmodernisierung, zum Ausbau des Kanalsystems und zur Trinkwassersanierung nicht über die schon heute sehr hohen Gebühren alleine finanzieren. Hier müssen Bund, Länder und die Europäische Union zielgerichtet fördern. Das haben Sie gar nicht bestritten. Sie sagen: Der Antrag der SPD ist in dieser Frage richtig. Die Gebührenbelastung der normalen Verbraucher im Westen und im Osten wird durch diese Novelle aber nicht gesenkt werden, da die Abwasserabgabe nur einen sehr, sehr kleinen Teil dieser Gebühren ausmacht.
Der Bundesrat wird die Scheinfunktion dieser Novelle, die gerade den Bürgerinnen und Bürgern der neuen Bundesländer nur Sand in die Augen streut, hoffentlich noch verhindern. Der Beschluß der Umweltministerkonferenz aus der letzten Woche stimmt mich da sehr hoffnungsvoll. Vielleicht sollten Sie sich den Beschluß noch einmal durchlesen; ich kann ihn Ihnen aber auch gerne noch einmal vorlesen.
Da heißt es:
Die Umweltministerkonferenz vertritt die Auffassung, daß sich die Abwasserabgabe als einzige bundesweit eingeführte Lenkungsabgabe bewährt hat. Dabei tritt die Umweltministerkonferenz Bestrebungen entgegen, über den Beschluß des Bundesrates hinaus dieses marktwirtschaftlich wirkende Instrument unvertretbar einzuschränken.
Dem habe ich eigentlich nichts mehr hinzuzufügen.
Sie, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen von der Koalition, sollten sich darüber im klaren sein: Gerade im Interesse des Wirtschaftsstandortes Deutschland können wir einen Rückschritt im Umweltschutz einfach nicht zulassen.
Nur wenn die Infrastruktur in den neuen Ländern schnell verbessert wird, werden wir dort Arbeitsplätze erhalten und neue schaffen. Sauberes Trinkwasser, saubere Flüsse und Seen und eine moderne Abwasserreinigung gehören dazu. Deshalb lehnen wir den Gesetzentwurf und den Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen ab und fordern Sie auf, unserem Entschließungsantrag, den Sie ja in Ihren Wortbeiträgen auch für richtig erachtet haben, zuzustimmen.
Als nächster spricht der Kollege Dr. Gerhard Friedrich.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Kastner, da Sie, genauso wie ich, aus Bayern stammen, wissen Sie doch: Kuhhandel ist in Bayern ein ehrenwertes Geschäft.
Ich will Ihnen gern übersetzen, was ich damit gemeint
habe. Wir befinden uns in einer etwas schwierigen
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17009
Dr. Gerhard Friedrich
wirtschaftlichen Großwetterlage. Die Bürger beklagen sich über immer mehr Abgaben; die Wirtschaft ist international immer weniger wettbewerbsfähig. Angesichts dessen meinen wir, daß wir, wenn wir in der Umweltpolitik dort, wo es notwendig ist, Anforderungen anheben müssen, zum Ausgleich der Gesamtbelastung z. B. der Wirtschaft in anderen Bereichen Übertreibungen streichen müssen.
Das ist die Übersetzung des Begriffs Kuhhandel, den Sie hier verwendet haben; Sie haben mich ja zitiert.
Frau Kastner hat sich heute, weil sie mit Wirkung auf die Bundesmedien geredet hat, etwas leichter getan. Im Ausschuß ist mir aufgefallen, Frau Kollegin Kastner, daß Sie — wie hier — gesagt haben: Die ganze Richtung paßt mir nicht. Heute hat Herr Leinen von „verwässern" geredet, Sie haben von „absatteln" gesprochen. Das Erstaunliche im Ausschuß war, Frau Kollegin Kastner, daß Sie zwei weitere „ Verwässerungsanträge " gestellt haben.
— Doch!
Es waren Anträge, die man im Grunde genommen nur stellen kann, wenn man das Anliegen der Kommunalpolitiker — und jetzt auch der Koalition — akzeptiert. Ich habe den Eindruck, Sie halten hier Reden, um zu sagen: Bundesweit bleibt die SPD umweltpolitisch an der Spitze der Bewegung. Der andere Antrag hingegen war etwas für Ihren Wahlkreis. Damit wollten Sie Ihren SPD-Bürgermeistern wohl sagen: Wir sind ja auch noch ein bißchen vernünftig.
Sie wissen doch ganz genau, Frau Kollegin Kastner, daß bei dem von Ihnen erwähnten Abwasserabgabengesetz-Hearing die kommunalen Spitzenverbände — ich glaube, es war Herr Dr. Landsberg — gesagt haben, sie fühlten sich durch das gesamte Recht der Abwasserreinigung überfordert. Ich habe Dr. Landsberg gefragt, ob er für CDU- oder CSU-Kommunalpolitiker spricht. Er hat gesagt, er rede auch für die SPD-Kommunalpolitiker. Die fühlen sich total überlastet, meine Damen und Herren!
Und um bei Ihrem Begriff des Absattelns zu bleiben: Einer, der neuerdings zu den Absattlern gehört, ist Ihr SPD-Umweltminister Schäfer aus Baden-Württemberg.
Der hat einen ganz erstaunlichen Brief an den Bundesumweltminister geschrieben und ganz vorsichtig angefragt, ob man im Bereich der Abwasserreinigung nicht wieder ein bißchen zurückführen kann.
Der kann nur nicht so klar reden, weil er hier bei der
letzten Veränderung des Abwasserabgabengesetzes
den Minister Töpfer als Umweltschlappi bezeichnet hat.
Es war ihm ja alles viel zu wenig. Aber seit er nicht mehr Theoretiker hier im Bundestag ist, sondern Praktiker in Baden-Württemberg geworden ist, hat er erkannt, daß nicht alles, was er hier erklärt hat, in der Praxis sinnvoll und vollziehbar ist.
Meine Damen und Herren, ich will die kurze Zeit nutzen, um dem Herrn Leinen zu antworten, der sich ja zum Teil zu Recht auf Institute berufen hat, die sehr für Umweltabgaben eintreten. Es ist vor allem ein finanzwissenschaftliches Institut in Köln, das in Äußerungen bzw. in Aufsätzen tatsächlich befürchtet hat, daß hier etwas verwässert wird, daß eine Umweltabgabe entschärft wird.
Jetzt muß ich ein bißchen in die Details der Theorie der Umweltabgabe gehen. Ich bin eigentlich mit Ihnen ein Anhänger dieses Instruments. Wir haben aber speziell im Wasserrecht das Problem, daß wir ein ganz strenges materielles Ordnungsrecht haben, also ganz strenge Grenzwerte, niedergelegt in § 7 a Wasserhaushaltsgesetz und in den Verwaltungsvorschriften zum Vollzug dieses Gesetzes. Gleichzeitig erheben wir hier eine Umweltabgabe, eine sogenannte Lenkungsabgabe. Diese hatte, Frau Kollegin Kastner, so, wie wir sie mit dem Kollegen Harries in der letzten Legislaturperiode konstruiert haben, ursprünglich zweierlei Funktionen:
Sie sollte zunächst einmal den Vollzug des Ordnungsrechts beschleunigen, weil der § 7 a Wasserhaushaltsgesetz keine Fristen enthält. Wenn die Anforderungen des § 7 a erfüllt sind, sollte die Abwasserabgabe nach einigen wenigen Jahren eine Restverschmutzungsabgabe werden. Jetzt haben wir die Situation, daß wir Fristen zum Vollzug des materiellen Wasserrechts haben, und zwar in einer EG-Richtlinie. Deshalb ist es eigentlich nicht mehr ganz erklärbar, weshalb wir beim Vollzug des § 7 a und der strengen Grenzwerte zweimal Druck machen, nämlich einerseits durch Fristen und andererseits durch Abgaben.
Aus meiner Sicht müssen wir, wenn wir mehr Zeit haben — das ist jetzt vor den Wahlterminen nicht möglich —, das Wasserrecht insgesamt neu überdenken.
Wenn wir mit Abgaben konsequent arbeiten wollen, wofür ich sehr bin, dann müssen wir das Ordnungsrecht ganz radikal zurückschneiden,
weil man menschliches Verhalten nicht doppelt steuern kann.
17010 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Dr. Gerhard Friedrich
Es hat keinen Sinn, etwas zu verbieten und dann hinterher eine Strafsteuer zu verlangen. Wir müssen darüber noch insgesamt neu reden.
Vielen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Abwasserabgabengesetzes auf den Drucksachen 12/4272 und 12/6281 Nr. 1.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen damit zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung auf der Drucksache 12/6281 empfiehlt der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf der Drucksache 12/6285. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Dieser Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Wir kommen damit etwas verfrüht zum Tagesordnungspunkt 1. Zur Fragestunde. Ist die Bundesregierung darauf eingestellt? — Wunderbar.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf: Fragestunde
— Drucksache 12/6254 —
Zunächst kommen wir zu den Dringlichen Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit — Drucksache 12/6293 —. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek zur Verfügung.
Ich rufe die Dringliche Frage 1 des Kollegen Dr. Erich Riedl auf:
Auf Grund welcher Genehmigungen deutscher Behörden konnte der zur Zeit an der deutsch-albanischen Grenze mit etwa 450 Tonnen zum Teil hoch toxischen Pestiziden beladene Güterzug Deutschland verlassen, und welche Maßnahmen werden gegen den Auftraggeber dieser von einer Firma in Hannover gelieferten Pestizide aus der ehemaligen DDR ergriffen?
Frau Präsidentin! Herr Kollege Riedl! Für den Export der Pflanzenschutzmittel waren sowohl unter pflanzenschutzrechtlichen als auch unter außenwirtschaftsrechtlichen Aspekten keine Genehmigungen erforderlich. Die nach EG-Recht notwendigen Notifizierungsvorschriften wurden beachtet.
Bei grenzüberschreitenden Beförderungsvorgängen auf der Schiene sind die internationalen RID- Regeln zu beachten. In Deutschland ist je nach Transportgut beim Bahntransport außerdem die Gefahrgutverordnung Eisenbahn einschlägig. Soweit sich die Pflanzenschutzmittel aus den letzten beiden Lieferungen wieder in Deutschland befinden, haben die zuständigen Landesbehörden eine ordnungsgemäße Zwischenlagerung sichergestellt und die agrochemischen Zentren zur Entsorgung verpflichtet.
Hinsichtlich der in Albanien befindlichen Pflanzenschutzmittel ergeben sich nach den gegenwärtigen Erkenntnissen der Bundesregierung keine Anhaltspunkte dafür, daß der Export illegal war und die Landesbehörden insoweit Maßnahmen gegen die Auftraggeber der Hannoveraner Firma ergreifen.
In diesem Zusammenhang ist festzustellen, daß die Staatsanwaltschaft Hannover das Ermittlungsverfahren gegen die Firmenverantwortlichen wegen Verstoßes gegen § 326 Abs. 1 StGB eingestellt hat. Dort wurde geprüft, ob vermutete Abfallexporte oder die Entsorgung in Albanien strafrechtlich relevant sind. Diese Frage wurde verneint.
Zusatzfrage, Herr Kollege Riedl? — Bitte.
Herr Staatssekretär, wenn man sich die Bilder dieses Gifttransportes einmal vor Augen hält, wenn man sich einen Bericht näher anschaut, der schon im Sommer von einer Expertenkommission gemacht worden ist, und wenn ich einen Bericht der deutschen Botschaft in Tirana zitieren darf, in dem es wörtlich heißt: ,,Unfaßbar ist, wie der Zug überhaupt Deutschland verlassen konnte", dann frage ich mich, ob das alles so, wie Sie es hier guten Gewissens erklärt haben, mit EG-Vorschriften oder mit Gesetz und Recht vereinbar sein kann.
Es kann doch nicht wahr sein, daß ein derartig voluminöses, hochgefährliches Gift in, soweit ich weiß, 17 Eisenbahnwaggons, auf Gesetz beruhend, nach Albanien transportiert werden kann und daß nach Auskunft der albanischen Behörden ein albanischer Empfänger nicht feststellbar ist. Wenn das Recht und Ordnung ist, Herr Staatssekretär, dann können wir doch unsere Arbeit hier einstellen.
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Riedl, meine Aufgabe war es, die rechtliche Situation zu beleuchten. Die tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen Ihren Schilderungen.
Ich muß hierzu erklären, daß Albanien bis 1990 jährlich 10 000 t Pflanzenschutzmittel eingeführt hat und daß nach dem Sturz der alten Regierung diese Menge drastisch auf 80 t heruntergefahren wurde,
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17011
Parl. Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek
wobei Lieferverträge weiter bestanden. Auch die albanische Botschaft in Bonn hat den jeweiligen Eingang solcher Pflanzenschutzmittel bestätigt.
Da es sich aber hier bei dem Zug in Bazje, auf den Sie eingehen, in dem sich ca. 217 t Pflanzenschutzmittel befinden, um eine potentielle Bedrohung der Umwelt, besonders um eine Bedrohung des in unmittelbarer Nähe sich befindlichen Shkodersees handelt, hat der Bundesumweltminister — entgegen der nicht bestehenden Verantwortung der Bundesregierung — in Vorwegnahme eines EG-Vorhabens, über 3 600 t Pflanzenschutzmittel, die aus dem Bereich der EG und der Weltbank nach Albanien geliefert wurden, zurückzuführen, einen Antrag beim Bundesfinanzminister gestellt, die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, die erforderlich sind, um zunächst einmal vor Ort die Pflanzenschutzmittel zu sichern und neu zu verpacken, damit keine weiteren potentiellen Umweltgefahren entstehen.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht mit mir der Auffassung — auch wenn ich anerkenne, daß eine rechtliche Verantwortung für diesen Gifttransport im Augenblick nicht feststellbar ist —, daß, wenn es zu Unglücken, zur Umweltverseuchung, zur Wasserverseuchung oder auch zu Personenschäden kommt, eine ganz enorme politische Verantwortung auf Deutschland und auf die deutschen Behörden zukommt?
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Solche Vorgänge, wie sie hier von Ihnen dargestellt wurden, sind natürlich nicht dazu angetan, das politische Ansehen der Bundesrepublik Deutschland in einem sich in einer besonders schwierigen Situation befindlichen Land wie Albanien zu stärken.
Zusatzfrage, Frau Kollegin Caspers-Merk.
Herr Staatssekretär, hängt die Verantwortung der Bundesrepublik nicht auch daran, daß wir einen falschen Abfallbegriff haben, der es ermöglicht, daß auf ganz legale Weise durch die Umdeklaration von Schadstoffen zu Wertstoffen oder Reststoffen diese exportiert werden können, wenn nur nachgewiesen werden kann, daß sie am Bestimmungsort entweder entsorgt oder gebraucht werden? Wären Sie als Bundesregierung nicht aufgefordert, den Abfallbegriff zu ändern?
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Caspers-Merk, der von mir geschilderte Vorgang hat keinen Bezug zum deutschen Abfallrecht. Ich sage noch einmal: Unter Beleuchtung der Rechtssituation handelte es sich hier im Jahr 1991 und 1992 um einen ganz legalen Export von Pflanzenschutzmitteln.
Ich bin auf Grund der Tatsache, daß ich gehalten bin, hier kurz zu antworten, nicht in der Lage, Ihnen die einzelnen Rechtsakte zu erklären. Es würde mindestens einer Viertelstunde bedürfen, Ihnen das alles einsichtig darzustellen.
Zusatzfrage, Frau Kollegin Kastner.
Herr Staatssekretär, gilt dieser Begriff auch für Produkte, die diesem Land geschenkt werden?
In diesem Zusammenhang hätte ich von Ihnen gerne noch gewußt, was der Bundesumweltminister in dieser für das Zusatzabkommen zum Baseler Obereinkommen doch sehr dringlichen Frage gemeinsam mit den Ländern unternehmen wird, damit dieses Zusatzabkommen jetzt möglichst schnell auf dem Tisch liegt und von seiten der Bundesrepublik verabschiedet werden kann.
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Kastner, inwieweit Pflanzenschutzmittellieferungen per Schenkung oder gegen Bezahlung nach Albanien erfolgten, kann ich von dieser Stelle aus nicht nachvollziehen.
Sie wissen, daß die Bundesregierung mit der Einbringung der entsprechenden Ratifizierungsgesetze zum Baseler Übereinkommen immer betont hat, daß bis zum 6. Mai nächsten Jahres — dann tritt es nämlich in Kraft — die entsprechenden Voraussetzungen im nationalen Recht — z. B. Ratifizierung der EG — Abfallverbringungsrichtlinie — geschaffen werden müssen, um den Export gefährlicher Abfälle außerhalb der OECD zu unterbinden.
Ich muß aber noch einmal betonen, Frau Kollegin Kastner, es handelt sich hier, formaljuristisch betrachtet, nicht um einen erfolgten Export von Abfällen, sondern von Pflanzenschutzmitteln.
Eine weitere Zusatzfrage der Frau Kollegin Jutta Müller.
Herr Staatssekretär, das ist nicht die erste Schlagzeile, die uns erreicht, in der es um solche Dinge geht. Ist Ihnen oder Ihrem Haus bekannt, ob noch mit weiteren Fällen zu rechnen ist, in denen solche Stoffe vor allen Dingen in Länder des Ostblocks verbracht wurden, auch wenn sie als „segensvolle Geschenke" deklariert wurden?
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Müller, Sie kennen die entsprechenden Meldungen in den Medien. Das war nicht der erste Fall, es wird bestimmt auch nicht der letzte sein. Deshalb ist es erforderlich, daß die Rechtsakte, die ich beschrieben habe, so schnell wie möglich umgesetzt werden und das Parlament sich in aller Form bemüht, auch die Voraussetzungen, die EG-Begrifflichkeit im Abfallrecht, wenn Sie auf Abfälle abstellen, einzuführen und das Kreislaufwirtschaftsgesetz bis zum 6. Mai 1994 zu verabschieden, um bündig sowohl dem Baseler Übereinkommen als auch dem neuen Abfallbegriff im neuen Gesetz Rechtskraft zu verschaffen.
— Ich sagte gerade, soweit Sie von Abfall sprechen.
Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zur zweiten Dringlichen Frage des Abgeordneten Dr. Erich Riedl :
17012 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Vizepräsident Helmuth Becker
Welche Sofortmaßnahmen werden seitens der deutschen Behörden getroffen, um die sofortige Entsorgung dieser „Giftbombe" sicherzustellen, und welche konkreten Gefahren bestehen derzeit für die Bevölkerung, nachdem soeben bekannt geworden ist, daß ein Teil der Giftstoffe aus den Behältnissen entweicht?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Die deutschen Experten haben schon während ihres Aufenthalts in Albanien auf das Gefährdungspotential, das insbesondere von dem Zug ausgeht, aufmerksam gemacht und Empfehlungen zur Sicherung gegeben. Zusätzlich hat die deutsche Botschaft in Tirana die albanische Regierung nochmals entsprechend unterrichtet.
Der Bundesumweltminister ist zu der Überzeugung gelangt, daß wir die albanische Regierung bei der Entsorgung der Pflanzenschutzmittel nicht unter Hinweis auf rein formale Aspekte alleinlassen können und dürfen. Es ist vielmehr politisch geboten, daß sich die Bundesregierung zumindest bei den sofort erforderlichen Sicherungsmaßnahmen am Zug in Bazje auch unmittelbar engagiert, um Gefahren für Menschen und Umwelt abzuwenden.
Der Bundesumweltminister beabsichtigt deshalb, ein kompetentes Unternehmen möglichst umgehend mit der technischen Sicherung zu beauftragen. Mit gestrigem Datum wurde Bundesminister Waigel gebeten, die dafür notwendigen Haushaltsmittel zur Verfügung zu stellen.
Nach Feststellung der deutschen Experten ist der Zustand der Verpackung von 7,1 t Delicia-FribalEmulsion am kritischsten zu bewerten, die in über 280 Glasballons mit 25 Litern in mehreren Waggons in Bazje vorgefunden wurden. Beim Bruch eines oder mehrerer dieser Glasballons ist eine Kontaminierung des Wassers eines in Sichtweite gelegenen Sees nicht auszuschließen. Da 25 % dieses Pflanzenschutzmittels aus Testbenzin bestehen, ist die Feuergefahr nicht zu unterschätzen.
Herr Staatssekretär, da für mich der eigentliche Skandal darin besteht, daß diese Pestizide Deutschland überhaupt verlassen konnten, und zwar in einer Weise, die nach meiner festen Überzeugung den Tatbestand nicht nur der Transportgefährdung erfüllt, sondern auch den Tatbestand der Gesundheitsschädigung und Gesundheitsbeeinträchtigung all der Menschen, die auf dem Transportweg in die unmittelbare Nähe dieser Gifte gekommen sind — ich möchte ausdrücklich anerkennen, daß die Bemühungen der Bundesregierung um die Initiativen, die Sie soeben genannt haben, das Äußerste sind, was Regierung und Behörden tun können —, frage ich mich, ob der, der dies alles verursacht hat, nicht hinter Schloß und Riegel gehört.
Und wenn ich mir eine Gerichts- bzw. Staatsanwaltschaftsschelte erlauben darf: Wie kann die Staatsanwaltschaft so ein Verfahren einstellen? Ich frage Sie: Wird denn für die Millionenbeträge, die der Steuerzahler jetzt ganz offensichtlich aufbringen muß, diese Firma nicht zum Schadenersatz herangezogen? Es kann doch nicht wahr sein, daß der Steuerzahler für all diese Beträge aufkommen muß.
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Riedl, ich möchte hier noch einmal auf die Gesetzeslage aufmerksam machen. Der Export von in Deutschland nicht zugelassenen Pflanzenschutzmitteln ist auf der Grundlage des § 23 Abs. 2 möglich, in dem auch steht, daß Pflanzenschutzmittel ordnungsgemäß, sicher verpackt und mit Gebrauchsanweisung, die sowohl Hinweise auf die Anwendung als auch auf die Gefahr für die menschliche Gesundheit enthält, versehen sein müssen. Das war, wie Sie sich selber überzeugen konnten, in Bazje nicht mehr der Fall. In diesem Sinne liegt hier eine Ordnungswidrigkeit vor, die mit einer entsprechenden Geldbuße geahndet werden kann.
Aber die Schwierigkeit — und das hat auch die Expertenkommission vor Ort feststellen können — besteht darin, daß heute nicht mehr nachweisbar ist, ob es bereits in der Bundesrepublik Deutschland eine mangelnde Transportsicherung gab oder ob dieser Zustand erst in Albanien entstanden ist.
Wir haben Informationen, daß Bürger aus der Umgebung dort z. B. Plastebehältnisse, Kunststoffbehältnisse, Kanister aus den Waggons, die zu dem Zeitpunkt noch nicht gesichert waren, entnommen, geleert und für die eigene Trinkwasserversorgung genutzt haben.
Herr Staatssekretär, da mir noch eine zweite Frage zusteht: Wie kommt es eigentlich, daß die albanischen Behörden sagen, es gebe gar keinen Empfänger für diese Pestizide, die ja nicht zuletzt auch auf Grund dieser Tatsache ganz offensichtlich auf diesem Bahnhof lagern? Kann man denn eigentlich solche Giftstoffe exportieren, ohne daß ein Empfänger feststeht?
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Riedl, ich sagte vorhin, daß die albanische Botschaft in Bonn bei jeder Lieferung — bis auf die zwei zurückgewiesenen, von denen ich vorhin schon sprach — bestätigt hat, daß sie in Albanien angekommen ist.
Der Empfänger ist heute in dem Sinne nicht mehr feststellbar, weil die Unternehmen, die vor der Machtübernahme durch demokratische Kräfte in diesem Land noch existierten, nicht mehr vorhanden sind. Es existieren privatisierte Unternehmen, die keine unmittelbare Rechtsnachfolge darstellen.
Kollege Dietmar Schütz, bitte, Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär Wieczorek, ich habe bisher für richtig gehalten, was mein Kollege Riedl gefragt hat, ob man das nicht bestrafen könne. Sie haben gesagt, das sei nur mit einer Ordnungswidrigkeit zu belegen. Welche Intentionen und welche Bemühungen stellen Sie denn an, um das zu ändern? Sie wissen ja, gerade im Umweltstrafrecht haben wir überall den Tatbestand, daß wir nur mit Ordnungswidrigkeiten reagieren. Wir wollen ja bei der Reform des Umweltstrafrechts versuchen, nachzubessern. Tun Sie an dieser Stelle etwas!
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schütz, Sie wissen — ich habe das gerade
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17013
Parl. Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek
beschrieben —, daß wir bei nationalen Umsetzungen von EG-Richtlinien — ich habe z. B. auch das Baseler Übereinkommen erwähnt — eine stärkere Terminierung der Begriffe „Wirtschaftsgut" bzw. „Abfall" vornehmen wollen. Sie wissen auch, daß in diesem Zusammenhang — das greift erst dann, wenn diese Dinge in nationales Recht umgesetzt sind — das Umweltstrafrecht bereits verschärft wurde, auch im Abfallbereich. Strafrechtlich verfolgen kann ich allerdings erst dann, wenn der EG-Abfallbegriff auch im deutschen Recht entsprechend festgelegt ist.
Frau Kollegin Susanne Kastner, Sie haben jetzt das Wort zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie mir sagen, wieviel Geld die Regierung oder der Finanzminister dem Bundesumweltminister für das Jahr 1994 bewilligt hat, nachdem ja inzwischen — sicher auch Ihnen — bekannt ist, daß Albanien kein Einzelfall ist, daß Rumänien kein Einzelfall war, sondern daß bereits eine Hitliste dieser „Geschenke" bzw. Exporte nach Osteuropa existiert?
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Kastner, ich kann mich nur wiederholen. Der Bund ist hier sozusagen nicht Schadenshaftender, sondern hier ist eine politische Entscheidung getroffen worden. Sie wissen, daß wir im Zuge der Ratifizierung des Baseler Übereinkommens und der EGAbfallverbringungsrichtlinie über die Frage der Staatshaftung, der Verantwortlichkeit Bund/Land bzw. der Privatwirtschaft zur Zeit sehr intensiv diskutieren und auch zu einem Ergebnis kommen werden.
Meine Damen und Herren, damit sind die Dringlichen Fragen des Kollegen Dr. Erich Riedl zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit abgehandelt.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung.
Die Fragen 32 und 33 des Kollegen Dr. Karl-Heinz Klejdzinski werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Zur Beantwortung steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Eduard Lintner zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 15 der Abgeordneten Frau Brigitte Baumeister auf:
In wie vielen Fällen — aufgegliedert nach Bundesländern — sind nach Kenntnis der Bundesregierung seit Einführung der Überprüfung von Asylbewerbern mittels des Automatischen Fingerabdruck-Identifizierungs-Systems auf Grund der Auswertung der Fingerabdruckblätter Konsequenzen bei Mehrfachbewerbern gezogen und Leistungen eingestellt worden?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin Baumeister, die Antwort lautet wie folgt: Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge informiert die jeweils zuständigen Ausländerbehörden der Länder umgehend über jeden Fall einer Mehrfachantragstellung, der durch das Automatisierte Fingerabdrucksystem beim Bundeskriminalamt aufgedeckt wird. Die Unterrichtung der zuständigen Landessozialbehörden und Strafverfolgungsbehörden obliegt auf Grund einer Bund-Länder-Absprache den Ausländerbehörden.
Es muß davon ausgegangen werden, daß seitens der Länder auch entsprechend verfahren wird. Allerdings liegen dem Bundesministerium des Innern keine näheren Erkenntnisse darüber vor, ob dies ausnahmslos der Fall ist. Das Bundesministerium des Innern hat deshalb in der von der Innenministerkonferenz eingesetzten Arbeitsgruppe „Rückführung" am 5. Oktober dieses Jahres auf diesen Punkt nochmals nachdrücklich hingewiesen. Um entsprechende zuverlässige Angaben zu erhalten, sind umfangreiche Recherchen unter Beteiligung der Ausländer- sowie Sozialbehörden erforderlich.
Das Bundesministerium des Innern wird auf der nächsten Bund-Länder-Koordinatorensitzung am 14. Dezember 1993 die Problematik noch einmal aufgreifen.
Seit Einführung des Automatisierten Fingerabdrucksystems am 3. Dezember 1992 haben rund 236 000 Überprüfungen stattgefunden. Dabei sind rund 33 000 Mehrfachanträge festgestellt worden; dies sind rund 14 % der überprüften Fälle. Eine Aufteilung nach Bundesländern ist derzeit statistisch nicht möglich.
Keine Zusatzfrage? —
Dann rufe ich die Frage 16 der Abgeordneten Frau Brigitte Baumeister auf:
Welche Summen — aufgegliedert nach Bundesländern — betragen die sich hieraus ergebenden Einsparungen an Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Hier kann ich Ihnen folgende Antwort geben: Das Asylbewerberleistungsgesetz ist erst am 1. November dieses Jahres in Kraft getreten. Statistische Angaben von seiten der Länder über Einsparungen an Leistungen liegen deshalb noch nicht vor. Es ist aber beabsichtigt, nach Ablauf einer bestimmten Erfahrungsfrist die Länder zu bitten, entsprechende statistische Angaben zur Verfügung zu stellen.
Zusatzfrage der Kollegin Baumeister.
Herr Staatssekretär, können Sie Angaben darüber machen, wann frühestens mit Zahlen zu rechnen ist?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Also, immer unter dem Vorbehalt, daß die Länder unserer Bitte nachkommen, würde ich meinen, daß im Abstand von vielleicht einem Vierteljahr entsprechende Angaben gemacht, daß zumindest bereits Tendenzen genannt werden können.
17014 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Wir kommen nunmehr zur Frage 17 des Kollegen Günter Graf. Diese soll schriftlich beantwortet werden, ebenso die Frage 18 des Kollegen Jürgen Augustinowitz. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Nun kommen wir zur Frage 19 des Kollegen Hans Wallow:
Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung im Hinblick auf die wachsende Vernetzung — auch mit modernen Kommunikationsmitteln — der rechtsextremen Szene innerhalb der Bundesrepublik Deutschland und mit dem Ausland?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Wallow, hier die Antwort: Zur Vernetzung von rechtsextremistischen Organisationen und militanten Rechtsextremisten hat die Bundesregierung bereits in der 74. Sitzung des Innenausschusses am 22. September 1993 berichtet; im Protokoll dieser Sitzung auf Seite 28 nachzulesen.
Ergänzend dazu ist folgendes anzumerken: Vernetzungsansätze im Nahtbereich von Skinheads und rechtsextremistischen — insbesondere neonazistischen — Personenzusammenschlüssen sind in Einzelfällen vorhanden, wenn auch nicht typisch. Vernetzungsansätze mit rechtsextremistischen Parteien sind gegenwärtig noch marginal. Allerdings läßt sich vor allem in den neuen Bundesländern die Abgrenzung dieser Parteien zu Neonazis und Skins auf Grund der diffusen, auf örtlicher Ebene noch wenig differenzierten rechtsextremistischen Szene zum Teil nur schwer in der von den Parteiführungen geforderten Weise verwirklichen.
Eine Steuerung der militanten Rechtsextremisten, insbesondere der rechtsextremistischen Skinheads, durch den organisierten Rechtsextremismus ist mit diesen Kontakten bislang noch nicht verbunden.
Die gegen die „Antifa-Bestrebungen" des Hamburger Neonazis Christian Worch gerichteten Aktivitäten sind die derzeit maßgeblichen Gefährdungskomponenten im deutschen Rechtsextremismus. Die von Worch angestrebte Vernetzung im informationellen Sinne bildet einen Beobachtungsschwerpunkt des Verfassungsschutzes.
Mit der Nutzung der Informationstechnik entstehen neue Möglichkeiten der Strukturierung und Vernetzung, die auch als Steuerungsmittel einsetzbar sind. Diese besonders für einen überregionalen Informationsaustausch interessanten Kommunikationswege sind inzwischen auch von Rechtsextremisten erkannt worden. Die relativ niedrigen Investitions- und Betriebskosten werden wie in fast allen Geschäftsbereichen auch im Rechtsextremismus zu einer noch stärkeren Bedeutung dieser neuen Kommunikationsform führen.
Zum Ausland liegen uns keine Erkenntnisse vor.
Herr Staatssekretär, ich hätte gerne noch etwas zu der technischen Vernetzung, über die Art und den Umfang, gewußt. Das, was Sie gesagt haben, war sehr allgemein.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, unter der Voraussetzung, daß Sie wissen, daß ich Jurist und kein Techniker bin, erlaube ich mir, zumindest die Begriffe zu erläutern. Es handelt sich beispielsweise um „Mail boxes", deren Zugang durch unterschiedliche Paßwörter gesperrt ist. Je geheimer die Informationen aus der Sicht des Installateurs sind, um so weniger Leuten ist das diesbezügliche Paßwort bekannt, um so weniger Leute können also diese Information abrufen.
Herr Staatssekretär, in der Sitzung des Innenausschusses, die Sie ansprachen, hat der Präsident des Bundeskriminalamtes keine Kenntnis über eine derartige Vernetzung gezeigt. Wie erklärt sich die Bundesregierung dies?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Das erklärt sich einfach dadurch, daß derartige Kenntnisse damals noch nicht vorhanden waren. Möglicherweise sind diese Dinge seinerzeit noch nicht so intensiv genutzt worden, wie dies in letzter Zeit festgestellt worden ist.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministeriums des Innern. Ich darf mich bei Ihnen, Herr Staatssekretär, herzlich bedanken. Ich habe dies bei Herrn Staatssekretär Wieczorek vergessen; deshalb tue ich dies hiermit auch noch.
Wir kommen nunmehr zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Zur Beantwortung steht uns Frau Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl zur Verfügung.
Die Frage 2 des Kollegen Claus Jäger soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Das gleiche gilt für die Frage 34 des Abgeordneten Simon Wittmann . Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen damit zu Frage 35 der Abgeordneten Frau Margret Funke-Schmitt-Rink:
Was hat der Nationale Drogenrat, der die Bundesregierung beraten soll, seit seiner Arbeitsaufnahme geleistet?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Frau Kollegin, Aufgabe des aus 13 unabhängigen Experten verschiedener Fach- und Berufsbereiche zusammengesetzten Nationalen Drogenrates ist es, die Bundesregierung in grundsätzlichen Fragen aus dem Gesamtspektrum der Drogenpolitik zu beraten.
Der Rat soll durchschnittlich zweimal im Jahr tagen. Seine konstituierende Sitzung fand am 21. Januar 1993 statt. Dabei wurde eine grundsätzlich zustimmende Bestandsaufnahme der Drogenpolitik auf der Grundlage des Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplanes vorgenommen. Eine vertiefende Diskussion wird auf der nächsten Sitzung am 16. Dezember 1993 stattfinden.
Zwischen den Sitzungen besteht für das Bundesgesundheitsministerium die Möglichkeit, sich an die Mitglieder zu wenden und sie um Stellungnahmen zu wichtigen Themen zu bitten. So wurden den Mitgliedern des Drogenrates im Mai 1993 eine Expertise zu Fragen der Liberalisierung des Umgangs mit illegalen
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17015
Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Drogen, im Juli 1993 Daten zur Entwicklung der Zahlen im Drogenbereich vorgelegt. Beide Themen sollen auf der Grundlage der eingegangenen Stellungnahmen der Drogenratsmitglieder bei der nächsten Sitzung erörtert werden.
Frau Staatssekretärin, wie erklären Sie sich den Unmut z. B. des Fachverbandes Drogen und Rauschmittel über die Nichttätigkeit des Drogenrats?
Frau Kollegin, ich kann nicht bestätigen, daß der Drogenrat untätig war. Ich habe gesagt: Eine Sitzung wurde durchgeführt; die nächste Sitzung wird im Dezember stattfinden. Inzwischen sind uns zwölf Stellungnahmen zur Liberalisierungsexpertise, fünf Stellungnahmen zum BKA-Bericht eingegangen. Da kann man, glaube ich, von Untätigkeit nicht sprechen.
Frau Staatssekretärin, wie erklären Sie sich denn, daß die Öffentlichkeit überhaupt nichts vom Nationalen Drogenrat weiß?
Frau Kollegin, ich bin nicht dafür zuständig, inwieweit sich die Presse diesem Thema widmet. Wir haben allerdings in einer Pressemitteilung vom 21. Januar 1993 auf den Nationalen Drogenrat hingewiesen.
Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zur Frage 36 des Kollegen Klaus Kirschner:
Wann hat der Bundesminister für Gesundheit zum ersten Mal von Vorwürfen gegen Arzneimittelfirmen, u. a. der Firma Rentschler, erfahren. wonach die Erprobung nicht zugelassener oder für bestimmte Indikationen nicht zugelassener Arzneimittel, beispielsweise des Arzneimittels Fiblaferom, durch Verordnung dieser Mittel zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung finanziert worden sei?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Herr Kollege Kirschner, das Bundesministerium für Gesundheit hat Anfang Oktober aus der Presse von den Vorwürfen erfahren.
Zusatzfrage des Kollegen Kirschner.
Frau Staatssekretärin, Sie haben in Beantwortung meiner Frage am 27. Oktober mitgeteilt, daß Sie die Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenversicherung um Stellungnahme gebeten haben. Ich habe die Frage: Ist in der Zwischenzeit eine solche Stellungnahme eingegangen? Wenn nicht: Wann rechnen Sie damit, daß diese Stellungnahme eingeht?
Herr Kollege Kirschner, wir haben bisher Stellungnahmen vom VdAK, von den BKK, von den IKK, von den landwirtschaftlichen Krankenkassen, von der Seekasse und von der Bundesknappschaft, daß es keine greifbaren Hinweise gibt. Ebenso liegt uns eine
Bleichlautende Antwort vom Bundesverband der Ortskrankenkassen vor.
Keine weitere Zusatzfrage? — Dann rufe ich die Frage 37 des Kollegen Klaus Kirschner auf:
Wann hat die Firma Rentschler für das Arzneimittel Fiblaferon für eine weitere Indikation klinische Versuche angemeldet, und wann hat sie einen entsprechenden Zulassungsantrag beim Bundesgesundheitsamt gestellt?
Frau Staatssekretärin, bitte.
Herr Kollege Kirschner, die Frage, wann die Firma Rentschler für das Arzneimittel Fiblaferon für eine weitere Indikation klinische Versuche angemeldet hat und wann sie einen entsprechenden Zulassungsantrag beim Bundesgesundheitsamt gestellt hat, betrifft geschützte Firmendaten. Eine Auskunft zu dieser Frage kann nur mit Zustimmung der Firma gegeben werden.
Frau Staatssekretärin, ich gehe davon aus, daß die Bundesregierung die öffentliche Diskussion verfolgt hat. Deshalb frage ich: Ist nach Auffassung der Bundesregierung die Tatsache, daß das Arzneimittel Fiblaferon offensichtlich in einer großen Zahl von Fällen für eine nicht zugelassene Indikation verordnet worden ist, ein Anhaltspunkt dafür, daß die geltenden gesetzlichen Regelungen zur Durchführung klinischer Versuche und zur Kostenübernahme durch die Krankenkassen systematich umgangen worden sind und damit sozusagen ein grauer Markt für Arzneimittel in einer nicht zugelassenen Indikation geschaffen worden ist?
Herr Kollege Kirschner, ich habe ja gesagt, daß wir auf unsere Anfrage bei den Krankenkassen bisher noch keine entsprechende Antwort erhalten haben. Es ist also noch nicht geklärt, wie groß die Zahl der Fälle ist, in denen Fiblaferon für ein nicht zugelassenes Anwendungsgebiet verordnet worden ist. Bevor die Sachverhalte, die der Verordnung von Fiblaferon zugunde liegen, nicht hinreichend geklärt sind, kann über derartige Zusammenhänge nur spekuliert werden. Die Bundesregierung beteiligt sich an derartigen Spekulationen nicht.
Frau Staatssekretärin, kann ich davon ausgehen, daß die Bundesregierung alles tut, um diesen Sachverhalt wirklich lückenlos aufzuklären? Ich denke, daß hier doch offensichtlich Handlungsbedarf gegeben ist, da offensichtlich klinische Versuche im Rahmen der Arzneimittelzulassung durchgeführt werden, insbesondere mit Arzneimitteln, die bereits für eine Indikation zugelassen sind, aber für eine andere Indikation eingesetzt werden.
Herr Kollege Kirschner, ich stimme Ihnen zu, daß wir diesem Tatbestand auf jeden Fall nachgehen müssen. Es muß gewährleistet sein, daß die Krankenkassen von der Tatsache der klinischen Prüfung eines Arzneimittels mit einer neuen Indikation Kenntnis erhalten. Die Bundesregierung wird sicherstellen, daß dies auch erfolgt. Die näheren Einzelheiten müssen aber
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Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl
noch mit den Beteiligten erörtert werden. Sofern sich dann die Notwendigkeit ergibt, ist gegebenenfalls auch eine Änderung des Arzneimittelgesetzes in Erwägung zu ziehen.
Meine Damen und Herren, wir haben damit die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit abgehandelt. Ihnen vielen Dank, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Manfred Carstens zur Verfügung.
Die Frage 38 des Abgeordneten Ortwin Lowack und die Frage 43 des Abgeordneten Horst Kubatschka werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Die Fragen 41 und 42 der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel sowie die Fragen 44 und 45 des Abgeordneten Hans-Eberhard Urbaniak werden zurückgezogen.
Nunmehr rufe ich die Frage 39 des Kollegen KarlJosef Laumann auf:
Welche Auswirkungen hat das Inkrafttreten des Tarifaufhebungsgesetzes für die deutsche Binnenschiffahrt, insbesondere für die Partikuliere, und sieht die Bundesregierung Möglichkeiten — ähnlich wie Holland —, die Interessen der deutschen Binnenschiffer durch einen nationalen Ordnungsrahmen für eine Übergangszeit bis zur Einführung eines europäischen Binnenschiffahrts-Marktsystems abzusichern?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Die freie Preisbildung, die mit dem Inkrafttreten des Tarifaufhebungsgesetzes möglich wird, bringt für die Binnenschiffahrt angesichts bestehender Überkapazitäten sowie konjunktur- und strukturbedingter Rückgänge beim Ladungsangebot sicherlich Übergangsschwierigkeiten mit sich, eröffnet ihr aber gleichzeitig neue Chancen im Wettbewerb mit anderen Verkehrsträgern. Sie bietet die Möglichkeit, sich von den bisherigen zum Teil starren Marktstrukturen zu befreien und innovativ und flexibel neue Betätigungsfelder zu erschließen. Mit der freien Preisbildung bestimmen Angebot und Nachfrage den Preis. Überkapazitäten und die augenblicklich insgesamt schwierige Konjunkturlage wirken sich zur Zeit ungünstig auf die Ertragslage der Binnenschiffahrt aus. Deshalb wie in den Niederlanden an einem Ordnungsrahmen festzuhalten wäre jedoch sehr fragwürdig. Die Binnenschiffahrt würde im Wettbewerb mit Schiene und Straße möglicherweise auf der Strecke bleiben.
Karl-Josef Laumann [CDU/CSU): Herr Staatssekretär, sind Sie denn nicht auch der Meinung, daß wir Deutsche allen Grund haben, bevor wir — dies hängt ja damit zusammen — in der EG weitere Liberalisierung beschließen, stärker darauf zu bestehen, daß andere Länder dann die Harmonisierung machen, und daß hier die deutschen Binnenschiffer einen Opfergang gehen müssen, weil andere nicht harmonisieren?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Ich gebe Ihnen insoweit völlig recht, als wir von den Niederlanden, aber auch den anderen entsprechend praktizierenden EG-Ländern nachhaltig und nachdrücklich zu fordern haben, daß z. B. das dortige Tour-de-rôleSystem aufgehoben wird. Darin stimme ich Ihnen vollständig zu.
Dann sehe ich das also richtig, daß die Bundesregierung in diesem Bereich die Interessen der deutschen Binnenschiffahrt und nicht etwa die der anderen vertritt? Dann habe ich auch die Frage: Was will die Bundesregierung tun, um die auf uns zukommenden Verdrängungswettbewerbe aus dem osteuropäischen Raum im Bereich der Binnenschiffahrt zu verhindern? Denn daß osteuropäische Binnenschiffahrtsgesellschaften billiger fahren können als unsere, sollte wohl auch der Bundesregierung bekannt sein.
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Wir haben in der Frage Binnenschiffahrt einen sehr umfassenden Bericht an den Verkehrsausschuß des Deutschen Bundestages gegeben. In diesem Bericht haben wir in verschiedenen Punkten im einzelnen zum Ausdruck gebracht, was die Bundesregierung unverzüglich in einigen Fällen und mittelfristig in anderen Fällen tun will. Unter anderem gehört dazu — das ist nicht unwichtig —, daß der Zugang der osteuropäischen Binnenschiffahrt zu den EG-Gewässern nicht völlig ohne Regeln vonstatten gehen darf, weil dort ein Preisniveau herrscht, das bei EG-Staaten als völlig unnormal zu bezeichnen ist.
Wir sind auch sicher, auf diesem Gebiet zu Erfolgen zu kommen. Aber nicht nur auf diesem Gebiet, sondern auch sonst gibt es einige Ansätze, z. B. bei der Frage der Kabotageverlängerung. Es gibt einen Untersuchungsauftrag, den wir für die Bundesregierung übernommen haben, inwieweit es innerhalb der EG in Sachen Binnenschiffahrt und Partikuliere Wettbewerbsverzerrungen gibt. Das alles, auch zu diesem Punkt, wird dann in der nächsten Woche so weit wie möglich schon im Verkehrsausschuß des Deutschen Bundestages und vermutlich dann in der nächsten Woche auch hier im Deutschen Bundestag behandelt werden. Ich hoffe, daß eine Lösung zum Tragen kommt, mit der die deutsche Binnenschiffahrt eine gute Zukunft angehen kann.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Dietmar Schütz.
Herr Staatssekretär, wenn, wie Sie gesagt haben, die Holländer und Belgier nicht das Tour-de-rôle-System aufgeben — das steht ja möglicherweise zu befürchten —, haben wir dann Instrumente, um die Wettbewerbsfähigkeit unserer Binnenschiffer aufrechtzuerhalten, und haben wir dann Instrumente, um zu sagen: Dann halten wir uns auch nicht daran?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Ich glaube nicht, daß man die Frage des Tour-de-rôle-Systems unverzüglich und direkt in die Wettbewerbslage der Binnenschiffer in der EG einbeziehen kann. Dabei gibt es recht unterschiedliche Positionen. Es gibt sogar Partikuliere und Binnenschiffer, die es lieber sähen,
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Parl. Staatssekretär Manfred Carstens
wenn es dieses Tour-de-rôle-System noch eine Zeitlang gäbe.
Aber das ist nicht die Frage, sondern eigentlich ist die Frage die, die der Kollege Laumann eben gestellt hat. Wenn es darum geht, in Europa zu harmonisieren, dann dürfen wir nicht nur bei uns harmonisieren, sondern dann muß das auch in den Niederlanden und woanders geschehen. Auf den weiteren Teil der Frage kann ich dann gleich die Antwort geben, wenn ich auf die Frage 40 des Kollegen Laumann antworte; denn dort hat er danach gefragt.
Ich rufe die Frage 40 auf:
Ist die Bundesregierung bereit, das Verhalten der Holländer in dieser Angelegenheit vor dem Europäischen Gerichtshof auf seine Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung prüft zur Zeit die Erfolgsaussichten einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof über die Vereinbarkeit des niederländischen Ordnungsrahmens mit dem Europarecht.
Keine Zusatzfragen. — Dann sind wir damit am Ende der Abhandlung dieses Geschäftsbereiches. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Carstens, vielen Dank.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 46 des Abgeordneten Albert Deß auf:
Welche Mengen Schmierstoffe gehen nach Kenntnis der Bundesregierung in der Bundesrepublik Deutschland jährlich verloren bzw. werden nicht sachgerecht entsorgt, und welche Umweltgefahren entstehen nach Ansicht der Bundesregierung durch diese Mengen?
Herr Präsident! Herr Kollege Deß, nach den der Bundesregierung vorliegenden Informationen wurden in 1991 von den rund 1,228 Millionen t abgesetzten Schmierstoffen etwa 723 000 t als Altöl wieder eingesammelt und einer Verwertung bzw. ordnungsgemäßen Entsorgung zugeführt.
Der Bundesregierung liegen keine Hinweise der für den Vollzug des Abfallrechts zuständigen Länder über eine illegale Entsorgung der Differenzmenge von 500 000 t Altöl vor. Vielmehr ist nach wie vor davon auszugehen, daß der größte Teil dieser Öle bestimmungsgemäß verbraucht wird. Dies gilt vor allem für Motorenöle, die teilweise während des Betriebs verbrannt und über das Abgas emittiert werden. Verfahrensöle bleiben als Weichmacher in Kunststoffen und Kautschuk, Verlustschmierstoffe gehen gebrauchsbedingt vollständig als Sägekettenöl, Zweitaktmotorenöl, Drahtseilschmierstoff und für ähnliche Anwendungen verloren. Teile der Öle verbleiben außerdem als Reste oder Anhaftungen in Transportbehältern und Verpackungen, an behandelten Metallteilen, Spänen und Schleifschlämmen aus der Metallbearbeitung oder als Restölmengen in Altautos. Nicht auszuschließen sind allerdings auch direkte Verluste durch Leckagen, Havarien usw.
Eine zahlenmäßige Aufschlüsselung auf die einzelnen Bereiche ist zur Zeit nicht möglich. Ebenso ist eine Abschätzung der konkreten Umweltgefährdungen durch Schmierstoffe wegen der unübersehbaren Vielzahl möglicher Inhaltsstoffe, vor allem der im einzelnen nicht bekannten Rezepturen mit ganzen Additivpaketen, zur Zeit nicht möglich.
Herr Staatssekretär, gibt es, da schon bekannt ist, daß viele Öle verlorengehen, bei der Bundesregierung Überlegungen, Verlustschmierstoffe zu verbieten, die die Umwelt gefährden, und dafür Produkte zu verwenden, die die Umwelt weniger gefährden, z. B. Produkte auf pflanzlicher Basis?
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Deß, ein Teil der Verlustschmierstoffe wird durch Verbrennungsprozesse umgesetzt, wie schon von mir beschrieben, der andere Teil der Verlustschmierstoffe — ich denke hier an Schleifschlämme besonders im Bereich der Metallindustrie — ist nach § 5 Abs. 1 Satz 3 Bundes-Immissionsschutzgesetz zu vermindern bzw. ordnungsgemäß zu verwerten.
Es gibt eine sehr interessante Entwicklung im Bereich des Einsatzes von Bioölen. Sie wissen, daß zumindest in einem Bereich, bei den Kettenschmierölen sowie bei Schmierstoffen und Schalölen, das Umweltzeichen bereits vergeben wurde. Größere Probleme haben wir noch bei den Hydraulikölen.
Herr Staatssekretär, Ihnen ist bekannt, daß der deutschen Landwirtschaft zugemutet wurde, daß Atrazin im nationalen Alleingang verboten wurde, und die Landwirtschaft wesentlich teurere Ersatzprodukte verwenden muß. Warum erläßt die Bundesregierung nicht auch im nationalen Alleingang ein Anwendungsgebot dort, wo bereits heute bessere Schmiermittel zur Verfügung stehen?
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Deß, ich muß noch einmal darauf hinweisen, daß es hier Entwicklungen gibt. Wir wären auch bereit, im Bereich der Hydrauliköle weitere Anwendungen zu ermöglichen, wenn die Fragen der Erfassung, der Sammlung und der Verwertung gelöst sind. Sie wissen, daß das bisher nicht der Fall ist. Ich erinnere hier an die Altölverordnung. So können z. B. beide Ole nicht vermischt werden — eine Vermischung kann auch in der Landwirtschaft vorkommen —, da ansonsten keine Wiederaufarbeitung möglich ist. Außerdem weise ich noch einmal darauf hin, daß auch in den Bioölen wie bei den Mineralölen Additive enthalten sind. Hier ist noch eine ganze Menge Forschungs- und Entwicklungsbedarf vonnöten.
Meine Damen und Herren, die Fragen 47 und 48 des Kollegen Klaus Harries sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir sind damit auch mit der Behandlung des Geschäftsbereichs des Bundesministeriums für Um-
17018 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Vizepräsident Helmuth Becker
welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit fertig. Noch einmal herzlichen Dank, Herr Staatssekretär, daß Sie hier waren.
Wir kommen nunmehr zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Post und Telekommunikation.
Alle drei eingereichten Fragen sollen schriftlich beantwortet werden. Es handelt sich im einzelnen um die Frage 49 des Abgeordneten Simon Wittmann und die Fragen 50 und 51 des Abgeordneten Gernot Erler. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Nunmehr rufe ich den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf. Zur Beantwortung der hier gestellten Frage 52 des Kollegen Hans Wallow:
In welcher Art und welchem Umfang liefert die Bundesregierung Rundfunksendern Informationsmaterial für Sendungen, das dann bei der Ausstrahlung von den Hörern nicht als staatliche Information identifiziert werden kann?
steht uns Herr Staatssekretär Dietrich Vogel zur Verfügung. Bitte, Herr Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, erstens: Alle Rundfunksender erhalten von uns direkt Informationsmaterial, z. B. Pressemitteilungen oder andere Produkte des Bundespresseamtes oder der Ministerien. Die Anstalten verwenden dieses Material nach ihrem Gutdünken und geben eine Quelle an oder tun es auch nicht.
Zweitens. Das Bundespresseamt hat bekanntlich die Aufgabe, die Politik der Bundesregierung darzustellen und zu erläutern. Um diese Aufgabe möglichst umfassend erfüllen zu können, unterhält das Amt seit vielen Jahren und auch unter wechselnden Regierungen vertragliche Beziehungen zu Herausgebern spezieller Informationsdienste für Rundfunkanstalten und zu entsprechenden Agenturen. Diese Agenturen erhalten von uns Material zu politischen, wirtschaftspolitischen und ganz allgemeinen Themen. Die Herausgeber produzieren daraus in eigener Verantwortung Beiträge für Rundfunkanstalten und bieten sie jetzt vor allem privaten, aber auch öffentlich-rechtlichen Anstalten an. In diesem Jahr — 1993 — hat das Schwergewicht solcher Beiträge bei sogenannten Ratgebersendungen, bei der Europapolitik und beim Solidarpakt gelegen. Das Presseamt selbst tritt dabei nicht in irgendwelche direkten oder indirekten Beziehungen zu einer Rundfunkanstalt. Diese Beziehungen werden allein von den Agenturen unterhalten.
Die Leistung der Herausgeber bzw. der Agenturen wird vom Bundespresseamt honoriert. Im Jahre 1993 sind dafür insgesamt 1 545 000 DM ausgegeben worden. Bei 2 860 Sendeminuten aller Rundfunkanstalten, die damit von den Agenturen beliefert worden sind, sind das Kosten von 540 DM je Sendeminute. In der Branche gilt das als ein sehr niedriger Preis.
1992 haben wir für diese Zwecke 1,1 Millionen DM ausgegeben. In diesem Jahr ist es mehr geworden, weil das Interesse der Anstalten an solchen Beiträgen gewachsen ist und die Zahl der Rundfunkanbieter — der privaten — immer noch steigt.
Um auf den wahrscheinlichen Kern Ihrer Frage zu kommen: Ich habe nicht die geringsten Bedenken, bei allen derartigen Beiträgen den Absender, nämlich die Bundesregierung, klar und deutlich und ganz unmißverständlich zu nennen. Sehr häufig wird dieser Absender in den Beiträgen ja auch genannt. Ich halte das auch für die bessere Lösung. Wir haben keinen Grund, die Herkunft dieser Meldungen zu verschweigen. Aber ob die Bundesregierung als Absender genannt wird oder nicht, ist Sache der Rundfunkanstalten und der Spezialagenturen. Sie haben das selber zu entscheiden.
Meine Damen und Herren, das war natürlich mehr ein Vortrag zu dieser Frage als die Beantwortung der Frage. Ich muß allerdings darauf hinweisen, daß die Frage so gestellt ist, daß sie eine kurze Antwort der Bundesregierung überhaupt nicht ermöglicht. Ich bitte aber, daß wir nach den Richtlinien der Fragestunde verfahren: kurze Fragen und kurze Antworten.
Bitte, Herr Kollege Wallow.
Kurze Frage, Herr Staatssekretär: Sehen Sie nach Ihren Ausführungen wirklich die Staatsfreiheit des Rundfunks nach Art. 5 GG gewährleistet, wenn der Adressat nicht in jedem Falle weiß, daß das Material von der Bundesregierung kommt?
Dietrich Vogel, Staatssekretär: Ja, Herr Abgeordneter, ich sehe das. Jeder Rundfunkredakteur hat die Freiheit, so etwas zu nehmen oder nicht zu nehmen.
Wird für den Hörer erkennbar, daß es sich um bezahlte Beiträge handelt?
Dietrich Vogel, Staatssekretär: Es sind keine bezahlten Beiträge der Rundfunkanstalten. Es sind Angebote von Agenturen, die wir finanzieren. Wir haben niemals daraus ein Hehl gemacht. Jedermann, der sich für diese Fragen interessiert, weiß das.
Das war nun wieder vorbildlich.
Nun, Herr Staatssekretär, herzlichen Dank für die Beantwortung der Fragen und dafür, daß Sie hier waren.
Wir kommen nunmehr zu den Fragen, die das Bundeskanzleramt direkt betreffen. Zur Beantwortung steht uns Herr Staatsminister Anton Pfeifer zur Verfügung. Inzwischen ist auch Herr Kollege Dr. Klaus Kübler anwesend.
Ich rufe die Frage 53 des Abgeordneten Dr. Klaus Kübler auf:
In welcher Art hat der Bundeskanzler bei seinem China-Besuch das Thema der Menschenrechtsverletzungen in Tibet angesprochen, und hat der Bundeskanzler den chinesischen Ministerpräsidenten zum Dialog mit dem geistlichen Oberhaupt Tibets, dem Dalai Lama, aufgefordert?
Bitte, Herr Staatsminister.
Herr Präsident! Herr Kollege Kübler! Der Bundeskanzler und als sein persönlicher Beauftragter Staatssekretär Kastrup haben in Parallelgesprächen und im
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17019
Staatsminister Anton Pfeifer
Rahmen einer Vormission alle mit den Menschenrechten in der Volksrepublik China zusammenhängenden Fragen offen und sehr konkret angesprochen. Aus der Sicht der Bundesregierung, insbesondere auf Grund ihrer Erfahrungen in diesem Zusammenhang, ist es im Interesse der Betroffenen opportun, diese Fragen und eventuelle Ergebnisse diskret zu verfolgen.
Lieber Kollege Pfeifer, Sie wissen, daß ich eine Reihe von Fragen stellen muß. Natürlich ist mir Ihre Äußerung viel zu allgemein. Dies ist auch der Hintergrund meiner Fragen, weil auch ich nur die allgemeinen Erkenntnisse aus der Presse habe.
Ich wiederhole deshalb meine Frage sehr präzise, ob und bei welchem Gespräch das Thema Tibet angesprochen worden ist, und ob im Zusammenhang mit Tibet auch die Frage angesprochen worden ist, daß sich die Bundesrepublik für einen Dialog zwischen der chinesischen Regierung und der Seite des Dalai Lama einsetzt.
Anton Pfeifer, Staatsminister: Herr Kollege Kübler, zunächst sind diese Menschenrechtsfragen in mehreren Gesprächen angesprochen worden. Ich sehe, daß Sie mich durch Ihre Zusatzfrage doch bewegen wollen, zu Einzelheiten Stellung zu nehmen. Aber weil ich weiß, daß es auch Ihnen darum geht, daß Menschen konkret geholfen wird, bitte ich Sie nochmals um Verständnis, wenn ich an dieser Stelle auf diese Einzelheiten nicht eingehen möchte. Ich möchte Ihnen aber sagen, daß es nach meinem Wissen heute abend die Möglichkeit gibt, im zuständigen Unterausschuß des Bundestages auch diese Frage zu erörtern. Nach meiner Kenntnis wird auch Herr Staatssekretär Kastrup dort sein. Selbstverständlich bin ich gerne bereit, Ihnen persönlich in einem Gespräch noch einige dieser Fragen zu beantworten.
Da es, Herr Staatsminister Pfeifer, mir nicht um Namen geht und damit auch nicht um Einzelpersonen, ist meine Frage erneut die — und ich glaube, darüber muß man auch öffentlich Rechenschaft ablegen —, ob über Tibet in dieser doppelten Hinsicht gesprochen wurde: Menschenrechtsfragen allgemein und auch Fragen des Dialoges.
Anton Pfeifer, Staatsminister: Aber wenn man Menschen helfen will — und der Bundeskanzler hat das Thema am 24. November hier im Bundestag angesprochen — und wenn man vor allem Ergebnisse für Menschen erzielen will, dann ist es manchmal besser, wenn man über Einzelheiten aus solchen Gesprächen nicht spricht. Ich möchte Sie noch einmal um Verständnis bitten.
Wir kommen nunmehr zur Frage 54 des Kollegen Dr. Klaus Kübler:
Hat der Bundeskanzler die Namensliste von 20 politisch Inhaftierten dem chinesischen Ministerpräsidenten in einem Gespräch übergeben, und hat der Bundeskanzler weitere Menschenrechtsfragen wie z. B. die Zwangsarbeit in Umerziehungslagern oder den Besuch von Vertretern des Internationalen Roten Kreuzes in Gefängnissen angesprochen?
Bitte, Herr Staatsminister.
Anton Pfeifer, Staatsminister: Herr Kollege Kübler, der Bundeskanzler hat in der Plenarsitzung des Deutschen Bundestages am 24. November 1993 erklärt, daß er während seines Besuches in China seine Gesprächspartner auf die Menschenrechte angesprochen, auf die große Bedeutung dieser Frage hingewiesen und der chinesischen Regierung in Abstimmung mit amnesty international und dem Kommissariat der Deutschen Bischöfe eine Liste mit mehr als 20 Namen übergeben hat. Im Hinblick auf die erfragten näheren Einzelheiten möchte ich mich auf meine Antwort auf die vorherige Frage beziehen.
Ist die Bundesregierung dann der Auffassung — unterstellt, ihre Art der Antwort wäre zu akzeptieren —, daß die amerikanische Regierung, insbesondere der Präsident Clinton, übrigens auch der Vorgänger, Präsident Bush — hier gibt es überhaupt keine Unterschiede —, nicht Einzelnamen — die habe ich auch nicht abgefragt, auch nicht in meinen Fragen —, aber sehr klar und eindeutig die Menschenrechtsfrage, auch differenziert nach Sachthemen, nicht nach Personen, angesprochen hat? Und ist die Bundesregierung nicht der Auffassung, daß man hier in verbündeter Form und damit auch viel, viel wirkungsvoller vorgehen könnte?
Anton Pfeifer, Staatsminister: Herr Kollege Kübler, die Bundesregierung hat gestern ihren zweiten Bericht an den Deutschen Bundestag über die Menschenrechtspolitik verabschiedet. Im Hinblick auf Ihre Frage möchte ich dann doch zum Ausdruck bringen, daß dieser Bericht im einzelnen ausweist, daß die Bundesregierung sich unter anderem auch mit China besonders intensiv um einen Menschenrechtsdialog bemüht, wie dies auch beim Besuch des Bundeskanzlers der Fall war und jetzt in der Nacharbeit dieses Besuches weiter der Fall ist. Auch das hat der Bundeskanzler am 24. November hier im Bundestag zum Ausdruck gebracht. Aus diesem Bericht ergibt sich auch im einzelnen, daß der Menschenrechtsdialog mit China inzwischen eine gewisse Stetigkeit und Qualität erreicht hat und daß dieser Dialog das gesamte Spektrum der Beziehungen auf dem Gebiet der Menschenrechte umfaßt. Es wird ja in der kommenden Woche Gelegenheit sein, diesen Bericht hier im Bundestag zu diskutieren.
Herr Staatsminister Pfeifer, ich darf noch einmal meine Frage wiederholen, ob es politisch klug ist — lassen Sie mich wirklich so offen fragen —, in der Menschenrechtspolitik so vorzugehen. Ich gebrauche jetzt nicht ein so hartes Wort wie gestern in der Asiendebatte, weil ich so heftige Proteste bekommen habe, sondern ein harmloses Wort. Ich frage, ob gegenüber einem Land, das kommunistisch strukturiert ist, wo selbst Dissidenten, die irgend etwas machen, auch während des Kanzlerbesuchs verhaftet worden sind und wo in übereinstimmender Weise auch zwischen Koalition und Opposition die Auffassung besteht — ich meine Kollege Scharrenbroich und andere —, daß sich da nichts bewegt, nicht eine vergleichbare Haltung zwischen den Vereinigten Staaten, Frankreich, Großbritannien, also Clinton, Mitterrand, Major und der Bundesrepublik ansteht, damit nicht der Anschein entsteht, daß wir die Menschenrechtspolitik in dieser Frage gegen-
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Dr. Klaus Kübler
über China nicht genauso ernst nehmen wie die Amerikaner, die Franzosen und die Engländer.
Anton Pfeifer, Staatsminister: Ich denke, daß wir diese Frage nicht weniger ernst nehmen als andere. Auch das ist im zweiten Bericht über Menschenrechtspolitik, den die Bundesregierung gestern verabschiedet hat, dargelegt, und darin kommt auch im einzelnen zum Ausdruck, welche Zusammenarbeit in internationalen Organisationen geschieht.
Aber da Sie eben nach dem konkreten Besuch gefragt haben, so ist es auf Grund der bisher gemachten Erfahrungen im Interesse der Menschen opportun, daß wir uns so verhalten, wie ich es hier tue.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende der Behandlung der Fragen aus dem Bereich des Bundeskanzleramtes und des Bundeskanzlers. Ich danke Ihnen, Herr Staatsminister Anton Pfeifer, für die Beantwortung der Fragen.
Außerdem sage ich noch einmal: Vielleicht gibt es im Frühjahr eine Gelegenheit, mit einer chinesischen Delegation, die hier weilt, diese Fragen weiter zu vertiefen.
Meine Damen und Herren, der letzte Geschäftsbereich ist der Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes.
Zur Beantwortung steht uns Herr Staatssekretär Helmut Schäfer zur Verfügung.
Die Frage Nr. 55 des Kollegen Ortwin Lowack und die Frage Nr. 58 des Kollegen Norbert Gansel sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Es verbleiben uns die beiden Fragen des Abgeordneten Georg Gallus, nämlich die Fragen 56 und 57. Ich rufe zunächst Frage 56 auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß bei den AuseinanderSetzungen in Südost-Anatolien zwischen der türkischen Armee und den kurdischen Gruppen die dort wohnenden Christen immer mehr in Mitleidenschaft gezogen werden?
Bitte, Herr Staatsminister!
Herr Kollege, der Bundesregierung ist bekannt, daß die Christen in der Südosttürkei wie die dort lebende Zivilbevölkerung insgesamt zunehmend zwischen die Fronten des Konfliktes mit der kurdischen Terrororganisation PKK geraten. Da sich der Kurdenkonflikt in letzter Zeit spürbar verschärft hat, ist auch ihre Situation schwieriger geworden.
Herr Staatsminister, ist der Bundesregierung auch bekannt, daß das Dorf Hasana bis zum 20. November total von den syrisch-orthodoxen Christen geräumt werden mußte, weil es am Abend des 20. November bombardiert werden sollte? Ist das Dorf nun bombardiert worden, oder ist es auf Grund der Einwendungen der Bundesregierung nicht bombardiert worden? Das möchte ich jetzt wissen.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich kann Ihnen nicht genau sagen — Sie haben die Frage nicht schriftlich gestellt —, was mit dem von Ihnen genannten Dorf inzwischen geschehen ist. Ich darf
aber ganz allgemein sagen: Weil die PKK in Dörfer dieses Gebietes vordringt, dort zum Teil Munition deponiert, die Leute zwingt, sich so zu verhalten, wie sie es will, ist es dazu gekommen, daß die türkische Regierung mehrmals solche Dörfer hat räumen lassen, und zwar nicht, weil dort Christen wohnen, sondern weil die PKK diese Menschen durch Gewalt für ihre Zwecke benutzt hat.
Wir haben aber — das hat unsere Botschaft wiederholt auch auf Anweisung des Amtes getan — in der Türkei sehr deutlich gesagt: Wir müssen darauf achten, daß diese Kampfhandlungen nicht dazu führen, daß die dort lebenden christlichen Minderheiten ständig betroffen werden.
Herr Staatsminister, stimmt es — wie ich einer Meldung entnommen habe —, daß die türkische Regierung Hisbollah-Kämpfer gegen die PKK ausbildet und mit Waffen ausrüstet, die PKK ihrerseits aber eine christenfreie Südosttürkei will und deshalb keinerlei Rücksicht auf dort lebende Christen nimmt, die Christen sogar für die Greueltaten an Muslimen in Bosnien verantwortlich macht?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Mir ist eine solche Nachricht nicht bekannt, daß die Türkei jetzt Hisbollah-Kämpfer gegen die kurdische PKK ausrüste. Die Türkei hat den Kampf gegen diese Bewegung bisher mit eigenen militärischen Mitteln geführt. Wir hatten im Bundestag wiederholt Gelegenheit dazu — auch kritisch — Stellung zu nehmen.
Ich kann nur sagen, daß wir die türkische Regierung bislang auch auf die Lage der kleinen christlichen Minderheiten hingewiesen haben, die hier zwischen die Fronten geraten sind und die Opfer dieser Auseinandersetzung werden, und daß wir — wie zuletzt beim Besuch der türkischen Premierministerin hier — darauf achten werden, daß diesen Christen, die dort leben, nicht noch mehr zugemutet wird, als das bisher der Fall war, und daß man auf jeden Fall versucht, sie zu schonen.
Meine Damen und Herren, die Zeit für die Fragestunde ist abgelaufen. Ich hoffe aber, daß Sie einverstanden sind, daß wir die Antwort auf die letzte Frage des Kollegen Gallus, die Frage 57, noch zulassen:
Ist die Bundesregierung bereit, dafür zu sorgen, daß die Christen aus diesem Gebiet in ihren Dörfern wohnen bleiben dürfen oder — sollte dies nicht möglich sein — ein Weg gefunden wird, daß sie in der Bundesrepublik Deutschland oder in anderen europäischen Staaten Asyl bekommen können?
Bitte, Herr Staatsminister.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege Gallus, die Botschaft Ankara steht in Kontakt mit Vertretern der christlichen Kirchen in der Südosttürkei und beobachtet die Lage der dortigen christlichen Minderheiten sehr genau. Die Möglichkeiten der Bundesregierung, auf die Türkei einzuwirken, sind beschränkt, da die von den türkischen Sicherheitskräften im Einzelfall getroffenen Maßnahmen — ich habe das schon gesagt — von der türkischen Regierung regelmäßig als im Rahmen der Terrorismusbekämpfung notwendig begründet worden sind.
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Staatsminister Helmut Schäfer
Es haben bereits zahlreiche christliche Bewohner der Region in der Bundesrepublik Deutschland Aufnahme gefunden. Unbeschadet der Prüfung in jedem Einzelfall, ob eine Aufnahme möglich ist, muß auf die für diesen Personenkreis bestehende Alternative hingewiesen werden, daß in der Westtürkei, vor allem in den Großstädten, in denen es christliche Gemeinden gibt, auch Möglichkeiten für eine Zuflucht bestehen.
Herr Staatsminister, leider sind mir auch Fälle bekannt, daß unsere zuständigen Vertretungen in der Türkei nicht in jedem Einzelfall so gehandelt haben, daß diese Menschen, wenn sie einen Aufenthalt bei Verwandten hier in der Bundesrepublik gesucht haben, entsprechend schnell und reibungslos „abgewickelt" worden sind.
Wollen Sie dafür Sorge tragen, daß in der Zukunft angesichts des Personenkreises, der verjagt worden ist, ohne daß irgend jemand gesagt hat, wo sie eigentlich bleiben können, so schnell und so reibungslos wie irgend möglich etwas geschieht?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege Gallus, Sie wissen, daß für die Zulassung von Asylanten in Deutschland in erster Linie die Innenbehörden der Lander verantwortlich sind.
Ich bin aber gem bereit, einzelne Fälle, die Sie jetzt ansprechen und die wohl auch mit der Erteilung von Ausreisegenehmigungen oder Visa im Zusammenhang stehen, mit Ihnen anzusprechen und Ihnen auch zu helfen, diese Fälle in dem von Ihnen angesprochenen Sinne zu lösen.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Fragestunde.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD
Haltung der Bundesregierung zur Einlagerung radioaktiver Abfälle in das Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle Morsleben
Zunächst einmal hat der Abgeordnete Dietmar Schütz das Wort. Bitte sehr.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ohne Planfeststellungsverfahren, ohne Öffentlichkeitsbeteiligung, ohne gründliche gutachterliche Prüfung hat sich die Bundesregierung per Einheitsvertrag in Morsleben ein Endlager genehmigt.
Wir haben diese Aktuelle Stunde beantragt, weil die Bundesregierung dieses ihr so zugefallene Endlager jetzt aktuell für schwachradioaktive Abfälle nutzen will,
als ob sie alle nach dem Atomgesetz erforderlichen Genehmigungsschritte durchmessen hätte.
Nicht nur die Bürger vor Ort fragen sich, ob wir dieses Danaergeschenk der deutschen Einheit annehmen sollen oder nicht. Die Bundesregierung will dies tun. Sie sagt, sicherheitstechnische und rechtliche Bedenken stünden einem Betrieb des Endlagers Morsleben nicht entgegen. Ich meine, das ist schlicht Unfug, und Sie wissen das auch. Selbstverständlich bestehen rechtliche Bedenken und sicherheitstechnische Probleme, nur glauben Sie sich darüber hinwegsetzen zu können.
Ich will mich in meinem Beitrag mit der Frage auseinandersetzen, ob die Bundesregierung gut beraten war und ist, ohne eigenes, öffentliches Prüfverfahren eine derartige Anlage weiterzubetreiben.
Formal mag man der Meinung sein, weil ihr das Bundesverwaltungsgericht dieses Endlagergeschenk ausdrücklich als Rechtens bestätigt habe, ginge das so. Ich will mich nicht nur mit den formalen Gründen des Bundesverwaltungsgerichts auseinandersetzen, weil die politische Verantwortung gleichwohl beider Bundesregierung bleibt.
Allerdings vermag ich nur unter Mühen die Vorstellung des Bundesverwaltungsgerichts nachzuvollziehen, daß der Betrieb in Morsleben auf Grund einer Genehmigung der DDR erfolgte, für deren Erteilung materielle Anforderungen mit im wesentlichen gleicher Zielsetzung in bezug auf die Gewährleistung von Leben und Gesundheit gegolten hätten wie für entsprechende Anlagen in der Bundesrepublik Deutschland. Die gleichen materiellen Voraussetzungen seien dort geprüft worden.
Das Bundesverwaltungsgericht hat die fehlende Beteiligung der Öffentlichkeit und potentieller Drittbetroffener und deren Grundrechtsschutz,
insbesondere also von Leben und Gesundheit, als nicht in jedem Fall unverzichtbar angesehen, weil der Gesetzgeber in einer Situation war, diese Anlagen in ein neues Rechtssystem überzuleiten. Zudem handele es sich um eine befristete Übergangsregelung. Ein Konzept der Langzeitsicherheit sei in einem dafür vorgesehenen Planfeststellungsverfahren später einer erstmaligen gründlichen Überprüfung zu unterziehen.
Wenn wir es, meine Damen und Herren, sowieso machen müssen, wie das Bundesverwaltungsgericht es sagt, wieso machen wir es nicht schon jetzt?
In vergleichbaren Fällen haben wir bei den Atomanlagen der ehemaligen DDR, die auf Grund des Einigungsvertrages auch befristet weiterbetrieben werden konnten, von keiner dieser befristeten Übergangsregelungen Gebrauch gemacht, obwohl dies der Einigungsvertrag auch erlaubt hätte.
17022 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Dietmar Schütz
Ich erinnere daran, daß wir nach dem Vertrag die Kernkraftwerke fünf Jahre und auch die DDR-internen Atomtransporte zwei Jahre lang hätten durchführen können. Mit guten Gründen haben wir darauf verzichtet, und das sollten wir hier auch tun.
Ich frage die Bundesregierung, warum sie nicht auch für das Endlager Morsleben auf die sichere Seite geht
und in einem nach dem Atomgesetz vorgesehenen Verfahren gründlich und sorgfältig unter Beteiligung der Öffentlichkeit und der kritischen Wissenschaft prüft, ob Morsleben als Endlager für schwachradioaklive Stoffe geeignet ist. Warum tut sie das nicht jetzt?
Während der Diskussion zum Einheitsvertrag mußte die Rechtsüberleitung zügig und schnell gehen. Dafür bestand und besteht in der Öffentlichkeit Akzeptanz. Jetzt gibt es für dieses Argument der schnellen Herstellung der Rechtssicherheit keine Akzeptanz mehr. Jetzt gilt wegen der möglichen Sicherheitsgefährdung durch ein solches Endlager, daß Sorgfalt, Genauigkeit und kritische öffentliche Prüfung absolute Priorität haben müssen.
Die Bundesregierung muß sich dieser Anforderung stellen. Die Dauerbetriebsgenehmigung der DDR, deren Rechtsetzung Sie doch sonst nie akzeptiert haben, einfach zu übernehmen ist ein sehr billiger Versuch — „billig" im doppelten Sinne —, vom Entsorgungsnotstand der deutschen Atomwirtschaft abzulenken. Sie haben nie die Rechtsetzungsbefugnisse und Rechtsetzungsmacht der DDR bei so wichtigen Sachen akzeptiert, nur an dieser Stelle tun Sie das.
Es ist erstaunlich.
Ich fordere deshalb die vorläufige Stillegung des Endlagers Morsleben und die sofortige Einleitung eines neuen, ordnungsgemäßen, nach bundesdeutschen Standards durchzuführenden Genehmigungsverfahrens. Vor dessen Abschluß ist jeder Betrieb rechtlich bedenklich und politisch nicht zu verantworten. Ich will im Bild der griechischen Mythologie bleiben. Ich habe vorhin vom Danaergeschenk gesprochen. Wir sollten die Büchse der Pandora nicht öffnen, sollten sie geschlossen halten. Leider tut das die Bundesregierung nicht. Wir wollen sie prüfen.
— Wir wollen den Abfall dorthin bringen, wo wir nach
einem ordnungsgemäßen Verfahren die Voraussetzungen dafür geschaffen haben. Das sollten wir tun.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Klaus Harries das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die niedersächsische Umweltministerin betreibt in ihrem Lande eine ausstiegsorientierte Vollzugspolitik in Sachen Kernenergie. Das ist rechtswidrig und widerspricht ihrer Zuständigkeit. Die Energiepolitik wird in Bonn gemacht. Das Atomgesetz ist ein Bundesgesetz; die Länder haben zu vollziehen. Das ist eine rechtswidrige Obstruktionspolitik. Das macht nicht nur die niedersächsische Umweltministerin, sondern das gilt ebenfalls für andere rot-grün regierte Länder. Man beruft sich zur Begründung für diese rechtswidrige Obstruktionspolitik darauf, daß man für den Schutz der Bevölkerung zuständig sei. Das ist im Grunde ein schlimmes Argument.
Aber ich bleibe ganz freundlich und sage: Das ist ja nur die halbe Wahrheit. Wir machen schon seit einigen Jahrzehnten Energiepolitik mit Kernenergie. Sie wurde schwerpunktmäßig unter Ihren Bundesregierungen begonnen, und Sie nehmen mit Recht ebenfalls für sich in Anspruch, daß die damalige zuständige Bundesregierung eine Schutzfunktion für die Bevölkerung wahrgenommen, aber eben auch Energiepolitik gemacht hat, was überhaupt nicht zu trennen ist. Das nehmen wir genauso für uns in Anspruch. Wir sind nicht blauäugig und nicht einäugig. Das ist für uns eine zusammenhängende Betrachtungsweise. Das machen wir ohne jeden Sicherheitsrabatt.
Lieber Herr Schütz, Sie haben eben dargelegt, daß die Bundesregierung nach der Wiedervereinigung unbesehen Morsleben übernommen habe. Sie haben recht: Morsleben ist von der damaligen DDR-Regierung als Endlager für schwach- und leichtradioaktive Stoffe genehmigt gewesen. Wir haben es aber nicht unbesehen übernommen. Leider sind Sie dann nur mit formalen und formalistischen Argumenten und Betrachtungsweisen gekommen.
Wir haben Gutachter und die Reaktorsicherheitskonferenz gehört. Greenpeace hat eine Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht eingelegt. Sie wurde zurückgewiesen. Alle Prüfungen und alle Untersuchungen, die durchgeführt worden sind, haben uns und der Bundesregierung bestätigt, daß man Morsleben als Endlager für leicht- und schwachradioaktive Abfälle aus Kernkraftwerken benutzen kann. Das ist schließlich von dem zuständigen Gericht in Magdeburg bestätigt worden. Der Bundesumweltminister hat aus politischen, nicht aus rechtlichen oder anderen Gründen, um die Debatte zu versachlichen, gegenüber dem sachsen-anhaltini-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17023
Klaus Harries
schen Umweltminister zugestanden, daß er das diesbezügliche Urteil des OLG Magdeburg, wenn es die Zulässigkeit nur für die neuen Länder bestätigt, anerkennen werde und den Einzugsbereich von Morsleben nicht auf die gesamte Bundesrepublik Deutschland ausdehnen wolle. Sie ersehen daraus einfach, daß wir uns in schwieriger Entsorgungssituation um Sachlichkeit und um Vernunft bemühen. Keine Leichtfertigkeit, sondern ein Blick für das Ganze und auch ein Blick für die besondere, anhaltende Situation der neuen Bundesländer! Das sollten Sie bedenken.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie zäumen bei Ihrer — ich sage es jetzt unfreundlich, aber es ist genau das, was ich meine — Obstruktionspolitik gegen die Kernenergie das Pferd von hinten auf
und sagen, weil die Entsorgung nicht gesichert sei, gar nicht gesichert werden könne, müsse man nein zur Kernenergie sagen.
Das ist ein nicht stimmiges, ein nicht überzeugendes, ein falsches Argument. Denn wenn wir, Herr Schütz, noch keine Endlager haben — ich nenne Konrad, ich nenne Morsleben —, dann liegt das nicht daran, daß sie aus wissenschaftlichen, aus naturwissenschaftlichen Gründen nicht genehmigungsfähig wären, sondern es liegt allein daran, daß hier wirklich eine ausstiegsorientierte Vollzugspolitik gemacht wird, daß hier im Grunde Politik vor Ort gegen Zuständigkeit des Bundes gemacht wird, um die ganze Kernenergiepolitik und damit einen wichtigen Bereich unserer Energiepolitik zu Fall zu bringen.
Im Grunde sollten wir uns, meine Damen und Herren, wirklich bemühen — und ich benutze die Aktuelle Stunde, die Sie beantragt haben, dazu, dies zu sagen —, uns punktuell zu verständigen. Ich will gar nicht den niedersächsischen Ministerpräsidenten zitieren, aber nun habe ich es beinahe — leider — gesagt: Der ist hier ganz anderer Meinung. Er hat zwar noch vor Monaten gesagt, „Konrad" sei unverantwortlich, gar nicht genehmigungsfähig; jetzt sagt er, „Konrad" sei selbstverständlich zulässig.
Wir erkennen alle, daß wir Lager für schwach- und leichtradioaktive Stoffe brauchen. Also sagen wir endlich ja zu einem Endlager! Das sind wir unserer Wirtschaft, das sind wir uns allen, das sind wir der Schutzfunktion gegenüber der Bevölkerung in jeder Weise schuldig. Das muß geschehen. Machen Sie mit!
Das Wort hat nunmehr Professor Dr. Jürgen Starnick.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit 1981 wird Morsleben als Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle
betrieben. Es wurde von der ehemaligen DDR als ein I zentrales Endlager konzipiert und erhielt im April 1986 die Dauerbetriebsgenehmigung. Im Zuge der Verhandlung des Einigungsvertrages wurde die Eignung dieses Endlagers geprüft und festgestellt, daß, gemessen an den atomrechtlichen und sicherheitstechnischen Anforderungen der Bundesrepublik, keine Gefährdungen bestehen, die eine Einstellung des Betriebs rechtfertigen würden.
Warum streiten wir uns also heute? Einerseits wird kritisiert, daß kein bundesrepublikanisches Genehmigungsverfahren vorliegt, zum anderen wird die Betriebssicherheit dieses Endlagers bezweifelt. Ersteres halte ich für Spiegelfechterei; und ich möchte auch keine rechtliche Beurteilung vornehmen, zumal der Kollege Baum hierfür in meiner Fraktion der Berufenere ist. Spiegelfechterei nenne ich es deshalb, weil es wohl auf den Zustand dieses Lagers ankommt, wenn ernsthaft die Frage gestellt werden soll, ob Morsleben für die Endlagerung der vorgesehenen Abfälle geeignet ist.
Die Bundesregierung hatte schon frühzeitig sowohl bei der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit als auch bei der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe Sicherheitsanalysen in Auftrag gegeben. Diese Analysen ergaben eindeutig, daß eine Gefährdung, die eine Stillegung des Betriebs zwingend erforderlich machen würde, nicht gegeben ist.
Gleichwohl hat der Bundesumweltminister die Einlagerung von radioaktiven Abfällen in Morsleben zunächst ausgesetzt und die Reaktorsicherheitskommission gebeten, eine zusätzliche Stellungnahme zum Betrieb dieses Endlagers abzugeben. Diese Stellungnahme liegt seit Mai 1991 vor. Sie besagt, daß für den genehmigten Betriebszeitraum bis zum Jahre 2000 eine vom Anlagenbetrieb ausgehende Gefährdung ausgeschlossen werden kann. Schäden für Dritte seien nicht zu befürchten. Die Sicherheitskriterien der Reaktorsicherheitskommission werden als voll erfüllt erachtet.
Die Reaktorsicherheitskommission kam also zu dem Ergebnis, daß aus sicherheitstechnischer Sicht eine Fortsetzung des Einlagerungsbetriebs unbedenklich ist. Auch der SKA-Ausschuß der Strahlensicherheitskommission kam zu einer gleichartigen generellen Bewertung des Endlagerbetriebs.
In keiner Weise kann man aus den vorliegenden Gutachten eine Bestätigung der allgemein verbreiteten Behauptung finden, Morsleben saufe ab. Auch die etwas abgemilderte Behauptung, das Grundwasser werde verseucht, erweist sich durch die Gutachten als unhaltbar. Um es einmal präzise zu sagen: Es treten genau an fünf Stellen des Endlagers saline Lösungen aus dem umgebenden Salzgestein in die Grube. Drei davon entstanden bereits zur Zeit der Salzablagerung bzw. durch Umlösungsvorgänge innerhalb des Salzstockes.
Die Tropfstellen im Bereich des sogenannten „Bunten Firsts" sind bergbaubedingt. Nur die Tropfstelle im Lager H steht im Zusammenhang mit dem grundwasserführenden Deckgebirge über der Salzstruktur. Diese Tropfstellen sind bereits seit 1907 bekannt. Die
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Dr. Jürgen Starnick
durchschnittliche Zutrittsrate der letzten 25 Jahre liegt bei ca. 7 m3 pro Jahr.
Die Beherrschung einer solchen Menge hat sich bisher nie irgendwo als bergbautechnisches Problem erwiesen. Hieraus eine Gefährdung ableiten zu wollen, widerspräche allen hydrogeologischen, gebirgsmechanischen und bergmännischen Erkenntnissen.
Da es nun aber zur guten Übung geworden ist, daß in solchen Bereichen auch jeglichem aufkommenden Verdacht vorgebeugt werden muß, wurde ein Maßnahmenkonzept ausgearbeitet, das von unabhängigen Gutachtern als effektiv bewertet wurde. Damit wäre ein verstärkter Zufluß, der bisher weder erkennbar noch wahrscheinlich ist, jederzeit in den Griff zu bekommen.
Entgegen so macher publizierter Meinung, haben hier also die Verantwortlichen einen kritischen Sachverhalt keineswegs ignoriert, sondern ihn überprüft, hinterfragt und sogar eine doppelte Absicherung vorgenommen. Der Briefwechsel zwischen Greenpeace einerseits und dem BMU, dem Bundesamt für Strahlenschutz und mit der Deutschen Gesellschaft zum Bau und Betrieb von Endlagern für Abfallstoffe andererseits, belegt beispielhaft, daß man mit der vorgetragenen Kritik konstruktiv umgegangen ist.
Gleichwohl ignoriert Greenpeace die dargelegten Argumente, könnte doch durch sie die eigene Grundhaltung in Frage gestellt werden. Nichts ist schlimmer, als an der eigenen Gläubigkeit zu rütteln. Bei einer Organisation wie Greenpeace habe ich dafür sogar ein gewisses Verständnis.
Was mir allerdings unverständlich bleibt, ist, daß sich die große Oppositionspartei
auf die von Greenpeace gezogene Rille setzt. Sie weiß doch ganz genau, daß wir, gleichgültig ob wir Kernkraftwerke heute abschalten oder sie weiterbetreiben, Endlager brauchen.
Das wird auch von den Umweltschutzverbänden nicht bezweifelt. Die SPD fordert ja Endlager bei jeder guten Gelegenheit. Ihre Haltung und ihr Handeln im Einzelfall, sei es in Morsleben oder anderswo, ist aber genau darauf ausgerichtet, jedes Endlager solcher Art zu verhindern. Ich meine, bei soviel politischer Schizophrenie mögen Sie solches selbst zu verantworten haben. Aber beklagen Sie sich nicht darüber, daß der Bürger ein solches Verwirrspiel nicht immer begreift. Daß Ihnen einige Stammwähler abhanden kommen, läßt sich daraus durchaus begründen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nunmehr Frau Dr. Höll.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Die Bundesregierung hat keine sicherheitstechnischen und rechtlichen Bedenken, wieder radioaktive Abfälle im atomaren Endlager Morsleben einzulagern", so lauten die ersten Zeilen einer Agenturmeldung vom 30. November dieses Jahres.
Des weiteren heißt es: „Zur Struktur des Deckgebirges des Endlagers und möglichen Wasserzuflüssen in den Salzstock sollen die Untersuchungen den Angaben zufolge 1995 abgeschlossen werden. Bisherige Ergebnisse schlössen die Langzeitsicherheit des Lagers nicht aus." Ich bitte Sie, hier wirklich genau hinzuhören: „Bisherige Ergebnisse schlössen die Langzeitsicherheit nicht aus." Mit anderen Worten: Vielleicht ist Morsleben ja dicht. Wir wissen es nicht genau, aber es könnte sein. Das reicht uns.
Herr Töpfer, ich muß an dieser Stelle fragen: Was ist denn nun wirklich mit dieser Tropfsteinhöhle los? Sie haben sich schon mehrfach hingestellt und verkündet: Morsleben ist sicher! Offensichtlich, laut dieser Agenturmeldung, sind Sie aber selbst nicht davon überzeugt, oder Sie waren eben voreilig. Ich frage mich wirklich, wie kann man so etwas schon vor Abschluß der Untersuchungen verkünden? Wie kann man so etwas nutzen?
— Wenn sie abgeschlossen sind, dann müssen Sie die Meldungen Ihres Hauses überprüfen und wirklich nachfragen, wie lange entsprechende Untersuchungen laufen und wie lange nicht. Ich beziehe mich hier auf die offizielle Verlautbarung des Ministeriums.
Ich glaube, Politik sollte in diesen Fragen wirklich etwas mit Wissen zu tun haben und nicht mit Glauben. Morsleben ist nicht sicher. Per Einigungsvertrag hat sich die Bundesregierung ohne Planfeststellungsverfahren und ohne Öffentlichkeitsbeteiligung ein Endlager genehmigt. Morsleben erfüllt nicht einmal die laschen Kriterien, die von der Bundesregierung bisher an die Errichtung und den Betrieb eines Endlagers für radioaktive Abfälle gestellt werden. Für eine vergleichbare Anlage, Schacht Konrad in Niedersachsen, hat die Anhörung der Öffentlichkeit fünf Monate gedauert.
Ich glaube, gerade bei diesem diffizilen Problem der Kernenergie sollte man sehr bewußt mit der Öffentlichkeit umgehen, um hier eine tatsächliche Aufklärung zu erreichen. Einfach über die Menschen hinwegzugehen ist schon sehr unverschämt.
— Gerade weil es nicht um Panikmache, sondern um eine sachliche Diskussion geht, wäre es notwendig, tatsächlich Transparenz herzustellen.
Die angefochtene DDR-Betriebsgenehmigung für Morsleben reicht nur noch sieben Jahre. Der Schutz des Menschen und der Umwelt vor radioaktiver Verseuchung ist nicht gewährleistet. Die Stabilität des
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Dr. Barbara Höll
Grubengebäudes ist durch Zuflüsse aus dem Deckgebirge gefährdet. Ein Greenpeace-Gutachten bestätigt, daß unkontrollierte Zuflüsse zum Absaufen und Einstürzen des Bergwerkes führen können. Die Folge wäre eine radioaktive Verseuchung des Grundwassers. Gutachter des Bundesamtes für Strahlenschutz stützen diese Vorwürfe.
Auch Herrn Töpfer dürften diese Fakten bekannt sein. Die Greenpeace-Aktivistin Inge Lindemann hat bereits mehrmals den Umweltminister persönlich darüber informiert und versucht, ihm ins Gewissen zu reden. Eigentlich müßte sie ihm mittlerweile im Traume erscheinen.
Ich finde es schon etwas hanebüchen, wenn Sie hier vorwerfen, daß mit dieser Aktuellen Stunde heute das Pferd von hinten aufgezäumt werde.
Es ist doch gerade so, daß wir keine Politik machen können, indem wir nur vorne anfangen und es uns nicht interessiert, wie unsere Kinder und Enkel mit den Abfällen, die wir heute produzieren, leben müssen.
Wenn man auf die Anfragen zurückgreift, die Frau Dr. Enkelmann hier an die Bundesregierung gestellt hat, und bedenkt, daß heute bereits 88 Anträge für die Endlagerung in Morsleben gestellt sind, dann ist doch der Druck auf den Schwanz des Pferdes so stark,
daß Sie davon abgehen, hier tatsächlich eine sachliche und ordentliche Entscheidung zu treffen.
Die anwachsenden Atommüllberge bringen nicht nur Herrn Töpfer ins Schwitzen. Ab 1995 ist die Lagerung von über 17 000 m3 schwach- und mittelradioaktiver Abfälle ungewiß. Der drohende Entsorgungsnotstand wird immer offensichtlicher. Die Atomwirtschaft hat ein großes Interesse, die Abfälle, die in Zwischenlagern keinen Platz haben, in Morsleben verschwinden zu lassen.
Meine Damen und Herren, sieben Jahre könnte Morsleben maximal noch betrieben werden. Welches Stillegungskonzept hat die Bundesregierung eigentlich für die Grube? Wenn Morsleben schon nach DDR-Recht genehmigt wurde und die Bundesregierung die Genehmigung als rechtmäßig ansieht, wäre es nur konsequent, die Stillegung solchermaßen vorzunehmen. Hier muß man aber auch wirklich klar sagen, daß das DDR-Konzept das einfache Absaufenlassen der Grube vorsah. Ist dies der Standard, der in Zukunft auch für andere Endlager gilt?
Nach dem Regierungsrücktritt in Sachsen-Anhalt, den nun leider nicht stattfindenden Neuwahlen, aber nach dem Antritt der neuen Regierung bietet sich hier eine Chance für einen Neuanfang bei der Atompolitik dieses Landes.
Frau Dr. Höll, bei der Aktuellen Stunde kann ich nicht großzügig sein. Ich muß dringend bitten, zum Schluß zu kommen.
Ja, ich möchte schließen: Unserer Meinung nach darf Morsleben nicht genehmigt werden und ist schon heute eine schwere atomare Altlast für kommende Generationen.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile nunmehr das Wort dem Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon eine ziemlich makabre Woche: Gestern wurde der ungeheuerlichste Waldschadensbericht, den es in der Bundesrepublik bisher gab, vorgestellt. Am gleichen Tag stimmt nicht nur der Verkehrs-, sondern auch der Umweltausschuß dem Bau der Ostseeautobahn A 20 zu.
— Da sieht man, welches Verständnis Sie von diesem Wechselverhältnis zwischen Natur und Wirtschaft haben.
Heute debattieren wir in einer Aktuellen Stunde über die Zukunft des Atommüllagers in Morsleben, während am gleichen Tag in Phebus ein Atomunglück, der Super-GAU, erprobt wird.
Pünktlich zum Auftakt dieses zynischen Experiments hat sich die Bundesregierung beeilt, meine Kleine Anfrage zu beantworten. Freunden des schwarzen Humors empfehle ich die Lektüre der Drucksache 12/6318.
Aus dieser Antwort möchte ich Ihnen nur zwei ziemlich wahllos herausgegriffene Kostproben vorstellen, die Ihnen belegen, daß das BMFT glaubt, die Abgeordneten sind bescheuert, oder — das bleibt wirklich nur noch als Alternative — es gar selbst ist.
Auf die Frage nämlich, woher die Regierung die Gewißheit nimmt, daß das Experiment völlig harmlos sei, antwortet die Bundesregierung, sie stütze ihre Einschätzung auf ihr — Zitat —
volles Vertrauen zur verantwortungsbewußten Durchführung der französischen Genehmigungsverfahren.
Und auf die Frage, inwieweit bei diesem experimentellen Wahnwitz Bedienungsfehler auszuschließen seien, antwortet die Bundesregierung wörtlich:
Um Bedienungsfehler auszuschließen, ist der geplante Ablauf des Versuchs schriftlich festgelegt worden.
17026 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Dr. Klaus-Dieter Feige
Na prima. Wenn ich mich recht erinnere, gab es auch in Tschernobyl damals schriftliche Festlegungen.
Leider hat man übersehen, daß es Ereignisse gibt, die nicht vorhersehbar und damit auch nicht kalkulierbar sind.
Es gehört schon eine ganze Menge Größenwahn dazu, zu glauben, daß technisches und natürlich auch menschliches Versagen in Osteuropa der Regelfall ist, aber in der EG praktisch auszuschließen sei.
Und was hat das nun alles mit Morsleben zu tun? Eine ganze Menge. Es steht nämlich zu befürchten, daß die Sicherheitsbedenken auch im nationalen Kontext in der gleichen Manier ausgeräumt wurden wie in bezug auf Phebus. Wahrscheinlich gibt es auch schriftliche Ablaufpläne. Und ansonsten geht es nach dem Motto: Wenn das Teufelszeug man bloß erst von der Erdoberfläche verschwunden ist, dann gilt wieder „Aus den Augen, aus dem Sinn"!
Morsleben war und ist für die Atomgemeinde — und da gehört der Bundesumweltminister eindeutig dazu —
natürlich ein Geschenk des DDR-Himmels. Doch die Wiederaufarbeitung ist inzwischen gescheitert, die Verfahren in Sachen Schacht Konrad und Gorleben dümpeln angesichts heftigen Widerstands vor sich hin.
Vielleicht haben Sie auch gehofft, daß da im Osten, in Morsleben, der Widerstand nicht so organisiert ist, aber bei uns gilt: Wir lassen uns nicht teilen, um beherrscht zu werden!
Aber in Morsleben tun Sie so, als gäbe es nicht längst einen gesellschaftlichen Energiekonsens. Und der besagt: Die Atomkraft ist ein lebensgefährlicher Irrweg — nicht erst seit Harrisburg oder Tschernobyl.
Nur, in der Koalition und — leider muß ich das auch sagen — bei einigen radioaktiven Strahlemannköpfen der sozialdemokratischen Partei ist das noch nicht angekommen. Die Quittung für Ihre Ignoranz werden Sie im Laufe des nächsten Jahres bekommen. Und ergänzend: Daran sollte bitte die SPD, die auch sehnsüchtig einen Wahlkampf in Sachsen-Anhalt sucht, denken, wenn sie dort ihr Wahlkampfkonzept vorbereitet.
Ich frage mich manchmal, ob Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, angesichts der potentiellen Gefahren der Atomtechnologie überhaupt noch ruhig schlafen können. Aber das können Sie offenbar. Sie hinterlassen aber der Menschheit ein strahlendes Erbe. Hauptsache heute Profite, ansonsten nach uns die Sintflut!
Meine Damen und Herren, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wissen, daß das strahlende Erbe der fehlgeleiteten Atompolitik, der Atommüll, der atomare Schrott der Reaktoren irgendwann einer halbwegs umwelt- und menschenverträglichen Lagerung zugeführt werden müssen. Doch es gibt weltweit bis heute kein sicheres Endlager. Es gibt noch nicht einmal ein Konzept für ein wirklich sicheres Endlager. Und wenn wir in geologischen Dimensionen denken, werden wir das auf der Erde vielleicht überhaupt nicht haben. Aber auch deshalb, weil diese Konzeptionen noch nicht vorliegen, ist Morsleben vorläufig stillzulegen.
Wir brauchen ein Ausstiegskonzept, in das dann auch ein Entsorgungsprogramm integriert ist. Wir sind auch bereit, an der Beseitigung der Sünden der Vergangenheit mitzuwirken. Aber unabdingbare Voraussetzung ist der Ausstieg aus der Atomkraft, nicht erst am Sankt-Nimmerleins-Tag, sondern unverzüglich. Von dem Tag an, an dem wir wissen, wieviel Atommüll überhaupt noch anfällt, von dem Tag, ab dem wir wissen, wann der letzte Reaktor vom Netz geht, werden wir mit unserer Kraft sehr viel bewegen können. Aber ich denke, daß wir gar nicht dort mithelfen müssen, sondern daß an dem Tag auf dem Platz, wo Herr Wieczorek sitzt, der erste grüne Umweltminister sitzen wird. Ich hoffe, daß dann die Opposition ihre Mithilfe bei unserem Projekt genauso an den Tag legen wird, wie sie sie heute einfordert.
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Abgeordneter Dr. Feige, Sie haben die Regierung als „bescheuert" bezeichnet. Ich möchte das als unparlamentarisch zurückweisen. Vielleicht können Sie es auch im Protokoll korrigieren.
Ich erteile nunmehr dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek das Wort.
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, meine Damen und Herren! Nach der sattsam bekannten Horrorstunde des Kollegen Feige möchten wir nun langsam wieder zu den Tatsachen zurückkehren.
Wie Sie alle wissen, haben wir mit der deutschen Einigung — manche haben schon vergessen, nach welchem Artikel des Grundgesetzes wir in der Bundesrepublik Deutschland aufgegangen sind — das Endlager für radioaktive Abfälle in Morsleben übernommen, das bereits seit etwa zehn Jahren in Betrieb war und dessen Dauerbetriebsgenehmigung laut Einigungsvertrag, im Atomgesetz niedergelegt im § 57 a, bis zum 30. Juni des Jahres 2000 fortgilt.
Herr Kollege Starnick hat hier darauf hingewiesen, daß bereits vor der Wiedervereinigung der Bundesumweltminister eine Menge von Untersuchungen veranlaßt hat, Sicherheitsanalysen mit einem klaren Ergebnis: Gemessen an den atomgesetzlichen und sonstigen sicherheitstechnischen Anforderungen bestehen keine Gefährdungen, die eine Einstellung des Betriebes erforderlich machen.
Wir haben weitere Empfehlungen der Reaktorsicherheitskommission, die diese Bewertung noch einmal bestätigen. Ich brauche das hier nicht zu wiederholen. Das heißt, einem Weiterbetrieb bis zum Jahre 2000 steht nichts im Wege.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17027
Parl. Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek
Ferner ist festzuhalten, daß der Bundesumweltminister im Sinne der Verbesserung und Optimierung der Technik und der Sicherheit wesentliche Maßnahmen, die in der Sicherheitsanalyse empfohlen worden sind, umsetzen ließ und damit heute — gemessen an dem Zustand vor dem 3. Oktober 1990 — ein deutliches Mehr an Sicherheit geschaffen hat und ein Mehr an Kenntnissen über das Endlager gewonnen wurde.
Dabei gilt für die Zukunft folgendes: Im Endlager werden nur schwach radioaktive Abfälle mit überwiegend kurzlebigen Radionukliden und vergleichsweise geringen Aktivitätskonzentrationen, insbesondere von Alpha-Strahlern, eingelagert.
Herr Kollege Feige und andere, wenn Sie immer von nächsten und übernächsten Generationen reden, merke ich immer wieder, daß Sie etwas über Kernenergie in Ihrer Ausbildung nicht erfahren haben. Da werden Sie gar keine Radioaktivität mehr feststellen. Sie wissen doch ganz genau, woher ich komme. Ich habe ein bißchen mehr Wissen und ein bißchen mehr Erfahrung mit diesem sehr schwierigen und sensiblen Gebiet als Sie. Ich habe seit 20 Jahren Umgang mit der Wismut, einem sehr traurigen Kapitel, das mit diesem nichts zu tun hat. Sie können mir schon unterstellen, daß ich davon etwas verstehe, zumindest etwas mehr als Sie.
Meine Damen und Herren, es werden nur noch feste Abfälle verstürzt, die nicht brennbar sind. Flüssige Abfälle dürfen nicht mehr im Endlager angeliefert werden.
Alle im Endlager Morsleben einzulagernden radioaktiven Abfälle müssen unabhängig von ihrer Herkunft aus den neuen oder alten Bundesländern den Anforderungen an endzulagernde Abfälle genügen. Die Erfüllung der Endlagerungsbedingungen setzt voraus, daß nur konditionierte Abfälle angeliefert werden dürfen.
Die Einhaltung der Endlagerungsbedingungen wird durch umfangreiche Produktkontrollmaßnahmen an den radioaktiven Abfällen übeprüft.
Was die Langzeitsicherung, meine Damen und Herren, betrifft, so haben unabhängig von den bereits zu DDR-Zeiten angestellten Überlegungen verschiedene Institutionen in ihren Arbeiten unter Zugrundelegung konservativer, pessimistischer Annahmen nachgewiesen, daß das 0,3-mSv-Konzept als Schutzziel deutlich eingehalten wird, selbst wenn man die Berechnungen über Hunderttausende von Jahren ausdehnt. Gleichwohl wurden die im Rahmen der Genehmigung zulässigen geringen Anteile an langlebigen, Alphastrahlen aussendenden Radionukliden vorsorglich noch weiter reduziert.
Neben der Langzeitsicherheit sind auch die betrieblichen radiologischen Auswirkungen auf die Umgebung auf Grund der Abwässer und Abwetter erneut untersucht worden.
Meine Damen und Herren, auch in Zukunft ist gewährleistet, daß alle Grenzwerte eingehalten werden. Dies wird im übrigen durch ein Umgebungsüberwachungsprogramm kontrolliert.
Bei der sicherheitstechnischen Beurteilung sind auch Ergebnisse berücksichtigt worden, die z. B. von Prof. Herrmann angeführt wurden. Dies gilt insbesondere für die „Tropfstellen". Hier wurde von Anfang an vorsorglich in der Sicherheitsanalyse und der Empfehlung der Reaktor- und Strahlenschutzkommission ein Zusammenhang mit Grundwässern aus dem Deckgebirge unterstellt.
Meine Damen und Herren, Bedenken gegen das Endlager können daher an der Sicherheit nicht festgemacht werden.
Auch wenn nach wissenschaftlichen Gutachten und Expertisen kein Besorgnispotential für Schäden des Betriebspersonals, der Bevölkerung oder der Umwelt besteht, hat der Bund unter dem Gesichtspunkt der Vorsorge ein Konzept technischer Maßnahmen erarbeitet, um wider Erwarten eventuell erhöhte Laugenzutritte beherrschen zu können. Dieses geotechnische Konzept, das unabhängige Gutachter als wirksam und realisierbar bewerten, stellt damit eine Vorsorge gegen Ereignisse dar, die nach den Erfahrungen im Endlager und dem bisherigen Kenntnisstand nicht auftreten werden.
Meine Damen und Herren, für den Zeitraum nach dem 30. Juni des Jahres 2000 ist ein Antrag auf Erteilung eines Planfeststellungsbeschlusses beim Umweltministerium des Landes Sachsen-Anhalt gestellt worden, der auch die mögliche Stillegung umfaßt. Gegen die Planfeststellungsfähigkeit bestehen keine begründeten Bedenken.
Der Bundesumweltminister hat am 9. November 1993 mit Greenpeace und seinen Sachbeiständen die von dort erhobenen Bedenken allumfassend erörtert. Greenpeace konnte keine Argumente anbringen, die die Sachposition des Bundes in Frage stellen. Es wurde Greenpeace nochmals und wiederholt angeboten, noch einmal schriftlich bis zum 19. November 1993 seine Argumentation vorzutragen. Auch hierbei konnte Greenpeace keine rechtlichen und tatsächlichen Gründe, Argumente oder Bedenken vorlegen, die unsere positive Sicherheitsbeurteilung in Frage stellen konnten.
Die vom seinerzeitigen staatlichen Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz der DDR am 22. April 1986 erteilte unbefristete Dauerbetriebsgenehmigung gilt nach der deutschen Vereinigung als Planfeststellungsbeschluß nur — wie schon mehrmals betont — bis zum 30. Juni 2000 fort. Der Planfeststellungsbeschluß umfaßt radioaktive Abfälle sowohl aus dem alten wie dem neuen Bundesgebiet. Die endlagerbaren Abfälle sind also nicht mehr nur auf solche aus dem Staatsgebiet der ehemaligen DDR beschränkt. Die juristischen Dinge wurden hier dazu schon erörtert. Allerdings — und das wurde ja auch betont — ist zu der Frage der rechtlichen Zulässigkeit einer Einlagerung von Abfällen aus den alten Bundesländern beim Oberverwaltungsgericht Magdeburg ein Eilantrag gestellt worden. Wir werden die Entscheidung abwarten und uns dieser Entscheidung dann auch entsprechend beugen.
Meine Damen und Herren, zusammenfassend stelle ich fest, daß kein begründeter Anlaß zur Besorgnis bei einem Weiterbetrieb des Endlagers Morsleben besteht. Fest steht allerdings auch, daß das Endlager
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Parl. Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek
Morsleben ein Bundesendlager ist und damit für alle Bundesländer — nicht nur für die neuen — als Endlager zur Verfügung stehen muß. Meine Damen und Herren, die Einheit Deutschlands ist auch insoweit unteilbar. Dies wird im übrigen auch für das Endlager Konrad in Salzgitter gelten, wenn dort solche radioaktiven Abfälle aus den neuen Bundesländern beseitigt werden sollen, die für eine Endlagerung in Morsleben nicht geeignet sind.
Es kann kein Zweifel bestehen, daß die sichere und endgültige Beseitigung radioaktiver Abfälle im öffentlichen Interesse liegt. Mit dem betriebsfähigen Endlager Morsleben kann diesem öffentlichen Interesse Genüge getan werden. Es gilt nun, dieses Ziel rasch anzustreben und mit der Einlagerung erneut zu beginnen.
Meine Damen und Herren, zum Abschluß noch eine Bemerkung. Wenn sich die vielen Theoretiker, die heute gesprochen haben, aufraffen würden, nach Morsleben oder Konrad zu fahren, würde ihr Kenntnisstand in schwindelnde Höhen kommen, und man hätte eine ganz andere Einstellung zu diesem Problem, als man sie hier im Plenum hat. Frau Kollegin Klemmer, wir beide waren auch in Königstein; Sie konnten damals leider nicht mit unter Tage fahren aus Gründen, die verständlich sind. Man würde dann hier nicht so reden, wenn man die Realität einmal kontrolliert hat.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Reinhard Weis das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach Auffassung des Bundesumweltministeriums bestehen keinerlei Gründe für den Verzicht auf eine erneute Einlagerung ins radioaktive Endlager in Morsleben. Herr Staatssekretär Wieczorek hat uns das eben erzählt.
Herr Wieczorek, Sie sind sehr polemisch meiner Frage nach den Halbwertzeiten ausgewichen. Ich möchte Ihnen sagen, daß sechs Jahre Berufserfahrung im Kernkraftwerk Deutschland mit entsprechenden strahlenschutztechnischen Unterweisungen mir auch ein Gefühl dafür gegeben haben, welche Wirkung mittel- und schwachradioaktive Stoffe haben. Darauf hätten Sie sachlicher antworten und darauf eingehen können.
Wir müssen jederzeit damit rechnen, daß die Einlagerungen beginnen. Darum hat meine Fraktion diese Aktuelle Stunde beantragt. Der heutigen Situation vorausgegangen waren zwei Kleine Anfragen meiner Fraktion im Frühjahr und Herbst dieses Jahres. Die sicherheitstechnischen und rechtlichen Einwände gegen die Betriebsgenehmigung für das Endlager Morsleben konnten für uns von der Bundesregierung nicht ausgeräumt werden. Das atomare Endlager in Morsleben entspricht unstreitig nicht den bundesdeutschen Sicherheitsanforderungen für den Bau und Betrieb von Endlagern aus dem Jahre 1983.
— Herr Baum, das müssen auch Sie zur Kenntnis nehmen. Sonst müßte nicht nach Ablauf der durch den Einigungsvertrag bis zum 30. Juni des Jahres 2000 geretteten Betriebsgenehmigung aus DDR-Zeiten ein Planfeststellungsverfahren durchgeführt werden. Herr Staatssekretär Wieczorek sagte uns das eben, und auch in der Antwort der Bundesregierung vom 16. November ist diese Aussage enthalten.
Auf zweifelhafter rechtlicher Grundlage wird in Morsleben ein völlig unbefriedigendes Sicherheitskonzept der DDR übernommen. Wenn, wie Herr Staatssekretär Wieczorek hier eben gesagt hat, die Bundesregierung erklärt, daß es sich nach dem Vollzug der deutschen Einigung in Morsleben uneingeschränkt um ein Bundesendlager handelt, dann ist zu befürchten, daß die Bundesregierung anstrebt, diesen unbefriedigenden Sicherheitsstandard auf ihr gesamtes Endlagerkonzept ausdehnen zu wollen.
Welches aber sind die gravierenden Sicherheitsprobleme in Morsleben? Erstens wäre zu nennen, es besteht Unklarheit über das tatsächlich in Morsleben bisher eingelagerte radioaktive Inventar aus DDR-Zeiten. Zweitens, die geringe Salzschwebe zwischen den alten Abbauen und dem Deckgestein genügt nicht einmal den Anforderungen an ein Gewinnungsbergwerk, geschweige denn an ein radioaktives Endlager. Drittens. Der Salzstock in Morsleben weist Laugenzuflüsse auf, deren Ausmaß gegebenenfalls nicht mehr kontrolliert werden kann. Die Absicht der DDR-Regierung, die Flutung des Endlagers als Stillegungskonzept vorzusehen, bedeutet nichts anderes als das Eingeständnis, mittelfristig ein Absaufen des Endlagers nicht verhindern zu können.
Diese von mir genannten drei Punkte führen vor allem zu einer grundsätzlichen Einschränkung der Langzeitsicherheit des Endlagers. Bis heute gibt es weder eine abschließende Aussage zur Langzeitsicherheit noch ein Stillegungskonzept für das Endlager, das den Sicherheitskriterien der Reaktorsicherheitskommission entspräche.
Meine Fraktion wird deshalb im Bundestag einen Antrag einbringen, der die Bundesregierung dazu auffordert, erstens jegliche Einlagerung im Endlager für radioaktive Abfälle Morsleben vorerst auszusetzen, zweitens eine Entscheidung über den weiteren Betrieb des Endlagers vom Ergebnis eines nach bundesdeutschem Atomrecht durchzuführenden Genehmigungsverfahren abhängig zu machen, drittens in diesem Rahmen einen Nachweis der tatsächlichen Langzeitsicherheit zu erbringen und viertens im Zuge eines Stillegungskonzeptes auch eine Untersuchung einzuleiten, durch die geprüft werden soll, ob und wie das im Endlager liegende radioaktive Inventar wieder geborgen werden könnte, wenn sich erweist, daß das Endlager nicht planfeststellbar sein wird.
Nach unserer Meinung ist nur durch die sofortige Einleitung eines Planfeststellungsverfahrens die Aussicht gegeben, den Streit um die Eignung des Endlagers Morsleben sowohl in der Fachwelt als auch in
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Reinhard Weis
der Öffentlichkeit, z. B. im Raum Helmstedt, in Niedersachsen, zu schlichten und Zustimmung für ein Endlagerungskonzept zu erreichen.
Die Bundesregierung sollte deshalb jetzt diesen Forderungen nachkommen. Zeit für ein ordentliches Genehmigungsverfahren nach bundesdeutschem Atomrecht muß immer sein. Wir haben diese Zeit; denn durch die Vereinigung hat sich der Endlagerungsnotstand nicht verschärft, und ohne Vereinigung hätte die Bundesrepublik auch ohne Morsleben auskommen müssen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Harald Kahl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es vergeht fast keine Woche, ohne daß in unserem Land Themen wie „Sicherheit von Kernkraftwerken", „Beseitigung des Atommülls" oder gar „Ausstieg aus der Kernenergie" medienwirksam ausgebreitet werden.
War es vor kurzem ein von der Gesellschaft für Strahlenschutz in Dresden veranstaltetes Symposium zu Fragen der Strahlengefährdung in der Region Sachsen/Thüringen mit der Schlagzeile „Krebsalarm in der Wismut-Region", so ist es heute das Endlager für radioaktive Abfälle in Morsleben.
In Dresden wurde seitens der Gesellschaft für Strahlenschutz in einer Vorab-Pressekonferenz ein Katastrophenszenario entworfen, nach dem sowohl das Krebsrisiko für die Bewohner der Wismut-Region als auch die Sanierungskosten um jeweils das Zehnfache höher veranschlagt werden müßten, wohlgemerkt ohne wissenschaftlich fundierte Begründung.
Die Gegenargumentation während des Symposiums, gegeben vom Bundesamt für Strahlenschutz, von der Wismut und vom sächsischen Umweltministerium vorgetragen, fielen — wen wundert es — unter den Tisch.
Eine Parallele dazu sehe ich in der Thematik der heute von der SPD beantragten Aktuellen Stunde. Wenn Sie, Frau Kollegin Klemmer von der SPD-Fraktion, in Ihrer Pressemitteilung vom 8. November 1993 behaupten, das Problem der Entsorgung des atomaren Mülls bleibe weiter auf der Strecke und werde fahrlässig ignoriert,
so muß ich Ihnen sagen: Damit ignorieren Sie beispielsweise die beachtlichen Erfolge bei der Sanierung der Wismut-Region, für die die Bundesregierung jährlich ungefähr 800 Millionen DM ausgibt.
Mir scheint: Das Hauptproblem der Entsorgung des atomaren Mülls in Deutschland liegt in der Verweigerung und Blockadehaltung der Opposition.
Kollegin Klemmer, wenn Sie schreiben, daß die Zweifel internationaler Experten an der Endlagerung in Salzstöcken immer größer werden, dann sei darauf verwiesen, daß z. B. in Frankreich und England schwach- und mittelradioaktive Stoffe lediglich über Tage deponiert werden
und diese Tatsache dort keineswegs eine solch überzogene Protestreaktion wie in Deutschland hervorruft.
Die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe sowie das Bundesamt für Strahlenschutz stellten im April dieses Jahres fest, daß neue geowissenschaftliche Erkenntnisse keine Anhaltspunkte ergeben, die einer Wiederaufnahme des Einlagerungsbetriebes entgegenstehen. Die bestehende Genehmigung des Endlagers, die noch zu DDR-Zeiten vom SAAS erteilt wurde und laut Einigungsvertrag bis 30. Juni 2000 gilt, ist eine Überleitungsregelung, die nach geltendem Atomrecht in ein Planfeststellungsverfahren mündet. Dieses bereits begonnene Verfahren wird entscheiden, ob das Endlager Morsleben nach dem 30. Juni 2000 weiter als solches genutzt werden kann oder stillgelegt wird. An diesem Verfahren wird die Öffentlichkeit in vollem Umfange beteiligt.
Im übrigen erklärte sich die Bundesregierung in der Vergangenheit stets und ständig dazu bereit, mit den Gegnern der Einlagerung in Morsleben zu sprechen. So hat beispielsweise erst am 9. November der Bundesumweltminister erneut mit Greenpeace deren Fragen und Bedenken zu Morsleben eingehend erörtert. Jedoch mußten wir wie bei den vorangegangenen Erörterungen dieses Themas feststellen, daß von Greenpeace keine neuen Fakten auf den Tisch gelegt wurden, die gegen einen Betrieb des Endlagers Morsleben sprechen. Die jüngsten Aktionen von Greenpeace lassen eher den Eindruck aufkommen, daß es Greenpeace nicht primär um Morsleben, sondern um ein Medienspektakel geht. Greenpeace geht es nicht um Sicherheit und sichere Verwahrung von schwach- und mittelradioaktiven Stoffen, sondern generell um den Verzicht auf Kernenergie, und dazu dient Morsleben als Vorwand.
Deutschland hat weltweit das höchste Sicherheitsniveau bei Kernkraftwerken. Kurzfristig auf Kernenergie zu verzichten ist töricht und hieße, die Spitzenstellung, die Deutschland bei der Reaktorsicherheit besitzt, aufzugeben und das Forschungspotential auf diesem Gebiet lahmzulegen. Auch das wäre ein weiterer Schritt zur Demontage des Wirtschaftsstandortes Deutschland.
Meine Damen und Herren! Wir produzieren Atommüll; wir haben ein sicheres Endlager und eine gültige
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Dr. Harald Kahl
Betriebsgenehmigung bis zum Jahr 2000. Morsleben — das ist die einhellige Auffassung der Reaktorsicherheitskommission, des Bundesamtes für Strahlenschutz und der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe — ist sicher. Deshalb gibt es aus meiner Sicht überhaupt keinen Grund, dagegen zu opponieren.
Es wäre wünschenswert, wenn die Opposition und Greenpeace zu einem konstruktiven Meinungsaustausch zurückkehren und nicht durch spektakuläre, medienwirksame und populistische Aktionen Verunsicherungen in die Bevölkerung tragen würden.
Damit ist letztlich keinem gedient.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Gerhart Rudolf Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es handelt sich um ein Thema, mit dem wieder Ängste geschürt werden sollen.
Es gibt andere Gebiete in der Politik, wo dies auch geschieht. Ich finde das nicht gut. Eine Partei, die Regierungsverantwortung übernehmen will, muß sich der Verantwortung für die Entsorgung stellen. Das tun Sie in Niedersachsen nicht. Wäre der Energiekonsens zustandegekommen, Herr Kollege Müller, hätte sich Herr Schröder durchgesetzt, dann hätten wir nämlich auch Konrad auf dem Wege und müßten nicht allein über Morsleben sprechen.
Was muten Sie eigentlich den neuen Bundesländern zu, wenn Sie bei Konrad Obstruktion betreiben? Herr Schröder war ganz klar bereit, Konrad laufen zu lassen, weil er sieht, daß wir eine Pflicht zur Entsorgung haben.
Es handelt sich um schwach- und mittelaktive Abfälle. Wir haben in den 70er Jahren ein Entsorgungskonzept entwickelt, das eben nicht die Augen verschließt und nicht die oberflächliche Lagerung, sondern eine wirklich vorsorgende Lagerung in tiefen Gesteinsformationen für schwach- und mittelaktive Abfälle vorsieht. Das war eine gemeinsame Politik der damaligen Koalition, von der Sie sich verabschiedet haben. Übrigens erinnere ich mich ja auch daran, daß Sie dem Einigungsvertrag zugestimmt haben. Da haben Sie diesem Konzept ja auch zugestimmt.
Es gibt die berechtigte Frage — und dieser hat sich die Bundesregierung unabhängig von den rechtlichen Gegebenheiten gestellt —: Kann man Abfälle dieser Art in Morsleben denn verantwortbar einlagern? Ich bin kein Fachmann; ich habe nicht die Fähigkeit, Gesteinsformationen zu beurteilen, aber ich habe mir angesehen, was die Fachleute gesagt haben — und das sind ernstzunehmende Fachleute. Danach gibt es
überhaupt kein Faktum, das uns veranlassen könnte, von der Entscheidung der Bundesregierung abzuweichen.
Es ist dargelegt worden, daß die Schutzziele des Atom- und Strahlschutzrechtes — unseres Rechtes, nicht des DDR-Rechtes — eingehalten werden. Das ist in ernstzunehmenden Stellungnahmen der Reaktorsicherheitskommission, auf die wir uns immer gestützt haben, bei einem Sicherheitskonzept für Kernenergie in unserem Lande nachgewiesen, das — das sage ich — weltweit wirklich mit an der Spitze liegt.
Wir haben die Sicherheitskriterien eingehalten, die Ende der 70er Jahre in der Bundesrepublik erarbeitet worden sind. Wir haben keinen Sicherheitsrabatt für Morsleben gegeben, wie das mitunter behauptet wird. Die RSK hat ihre Sicherheitsgrundsätze beachtet. Wir haben zusätzliche Gutachten in Auftrag gegeben. Wir haben in einer GRS-Sicherheitsanalyse festgestellt, daß trotz pessimistischster Annahmen die Schutzziele selbst für den nicht zu erwartenden Fall des Absaufens des Endlagers weit unterschritten werden, daß wir also einen Schutz haben, der auch noch diese Risiken mit einbezieht. Eine Gefahr des Auftretens von Tagesbrüchen unter Berücksichtigung der aktuellen Situation wird nicht als gegeben angesehen. Rechtlich, wie ich schon gesagt habe, gibt es nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von 1992 keine Hinderungsgründe.
Ich möchte also zusammenfassend feststellen, daß von niemandem Fakten vorgelegt wurden, die diese Auffassung erschüttern könnten und die gegen den Betrieb des Endlagers Morsleben sprächen. Ich fordere die Opposition, insbesondere die SPD, erneut auf, sich aktiv an Bemühungen um einen Energiekonsens, d. h. auch um einen Entsorgungskonsens, in unserem Lande zu bemühen.
Ich meine, daß der Bundesumweltminister, von dem ich weiß, daß er in Fragen der Reaktorsicherheit sehr ernst an die Sache herangeht, seine Pflicht tut, und wir unterstützen ihn weiter dabei.
Danke.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Siegrun Klemmer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das 1986 von der ehemaligen DDR für den Dauerbetrieb genehmigte Endlager Morsleben steht sozusagen stellvertretend für das Desaster der deutschen Entsorgung radioaktiver Abfälle. Die Atomindustrie, unterstützt durch die Bundesregierung, hat sich in eine Sackgasse begeben. Sie müßten eigentlich, liebe Kollegen, heute erkennen, daß die Endlagerung nuklearer Abfälle zur Gretchenfrage der weiteren Nutzung der Kernenergie geworden ist.
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Siegrun Klemmer
Denn das Endlagerproblem ist nach dem heutigen Stand von Wissenschaft und Technik nicht nur in Deutschland, sondern weltweit als ungelöst zu betrachten.
Auch Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, können sich doch dieser allgemeinen wissenschaftlichen Erkenntnis eigentlich nicht länger verschließen. Das Endlager Morsleben weist neben den von meinen Kollegen schon angesprochenen rechtlichen Bedenken erhebliche Sicherheitsmängel auf, die insbesondere den Standort und Fragen der Langzeitsicherheit betreffen. Der Nachweis der Langzeitsicherheit für das Endlager Morsleben ist bisher nicht erbracht worden, obwohl der Nachweis der Langzeitsicherheit nicht a priori zeitlich begrenzt werden sollte.
Hinzu kommt, daß die bisherigen Rechenmodelle zur Langzeitsicherheit der Realität nicht gerecht werden. Es fehlen dynamische Modelle, die auch die langfristige Instabilität von Klima und Geologie berücksichtigen. Die von seiten der Bundesregierung favorisierte Endlagerung in Salzformationen birgt eine Menge von Problemen in sich, die in den vorliegenden Planungen nicht ausreichend berücksichtigt worden sind.
— Ich spreche über Morsleben, Herr Kollege Baum.
Dazu gehören u. a. eine hohe Korrosivität, Eindringen der Lösungen, das Auspressen konterminierter Lösungen sowie eine geringe mittelfristige Stabilität technisch geschaffener Hohlräume. Im konkreten Fall Morsleben existieren heute schon derart gravierende Fakten, daß die weitere Einlagerung radioaktiver Abfälle sofort gestoppt werden muß.
— Ich komme sofort dazu, Herr Kollege Kampeter. Seien Sie ein bißchen geduldig, ich habe ja noch drei Minuten.
Die Salzschwebe des Lagers variiert zwischen 30 und 300 m, müßte aber durchgängig mehr als 100 Meter betragen, um die Sicherheit des Lagers zu gewährleisten.
Zusätzlich gefährden Zuflüsse aus dem Deckgebirge die Standortsicherheit des Lagers.
Angesichts dieser schweren Sicherheitsmängel muß die Frage gestellt werden, warum sich Herr Minister Töpfer über diese Mängel und die ungeklärte rechtliche Situation so rigoros hinwegsetzt und Morsleben weiterbetreiben will. Zur Beantwortung dieser Frage — das wissen Sie ganz genau, Sie wollen sie nur nicht beantworten — muß man sich den Entsorgungsdruck vor Augen halten, unter dem die deutschen Kraftwerksbetreiber stehen.
Das Problem spitzt sich durch den von Ihnen geplanten Weiterbetrieb der Atomkraftwerke jährlich zu. In den nächsten beiden Jahrzehnten — ich möchte Ihnen das mit einigen Zahlen veranschaulichen — werden unter den Annahmen, daß die Energieerzeugung konstant bleibt, daß kein weiterer Reaktorbau stattfindet und die Wiederaufbereitung abgebrannter Brennelemente fortgeführt wird, folgende Abfallmengen zu erwarten sein: Die derzeit 6 000 t abgebrannter Brennelemente erhöhen sich auf 16 000 t. Dazu kommen: 1 300 Glaskokillen zu je 1501 Nettovolumen, das entspricht der 1,5fachen Kapazität des Lagers Gorleben; 6 400 Fässer mit Hülsen und Strukturteilen aus den Wiederaufbereitungsanlagen, das entspricht der 4,4fachen Kapazität des Lagers Gorleben; 128 000 Gebinde mittelradioaktiver Abfallstoffe, das entspricht der 18,9fachen Kapazität des Lagers Gorleben; mindestens 75 000 m3 Betriebsabfälle aus Kernkraftwerken, das entspricht immer noch der 6,3fachen Kapazität des Lagers Gorleben. Das dürfen Sie dann addieren.
Diese Zahlen sind nicht erst sei heute bekannt, sie verdeutlichen aber den deutschen Entsorgungsnotstand.
In dieser desolaten Situation kommt Herrn Töpfer natürlich jedes Lager gelegen, sei es auch rechtlich und wissenschaftlich noch so zweifelhaft. Im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung— das ist hier schon gesagt worden — ist ihm sozusagen eine Morgengabe in das Ehebett gelegt worden, die ihm wie gerufen gekommen ist:
ein komplettes Atommüllendlager.
Angesichts der für die Umwelt gravierenden Hinterlassenschaften der ehemaligen DDR — wenigstens diese Einsicht sollten Sie doch akzeptieren — wie den völlig devastierten Uran- und Kohlebergbaulandschaften, den Standorten der Chemiebetriebe und ähnlichem ist es nur schwer vorstellbar, daß die DDR ausgerechnet in der Frage der Entsorgung radioaktiven Mülls gewissenhaft gearbeitet hat.
Wider besseren Wissens versuchen Herr Töpfer und die Atomlobby nun, der Öffentlichkeit klarzumachen, daß Morsleben den bundesdeutschen Sicherheitsanforderungen genügt. Gutachten, in denen schwerwiegende Mängel festgestellt wurden, werden bis heute nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Daher besteht für uns der begründete Verdacht, daß mit der Mißachtung bundesdeutscher Standards in Morsleben auch die Anforderungen für die geplanten Standorte Gorleben und Schacht Konrad gesenkt werden sollen.
Der Standort Morsleben ist nicht nur ungeeignet für die Lagerung radioaktiver Abfälle, sondern müßte im
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Siegrun Klemmer
Grunde genommen dringend saniert werden. Seit 1986 sind mehr als 13 000 m3 fester und flüssiger Abfälle deponiert worden, und zwar nicht nur in Fässern. Gucken Sie sich das einmal an!
Frau Abgeordnete Klemmer, ich muß auf Einhaltung der Redezeit bestehen.
Der Herr Staatssekretär hat mich überflüssigerweise eingeladen. Ich kenne es.
Ich denke, Sie müssen endlich akzeptieren, daß die Frage der Endlagerung nur zusammen mit der Frage des endgültigen Ausstiegs aus dieser Energie betrachtet werden kann.
Der Abgeordnete Heinz Seesing hat nun das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Gewisse Vorgänge in Morsleben am 8. November haben mir schon zu schaffen gemacht. Es war, so glaube ich, der 8. November, an dem Frau Klemmer ihre Pressemitteilung, die vorhin zitiert wurde, herausgab.
Da überwinden also Leute die Sicherheitsanlagen des Atommüllendlagers Morsleben, dringen in den Kontrollraum ein und beeinträchtigen den sicheren Betrieb des Lagers. Man kann sicher Sympathien für Greenpeace haben. Ich muß gestehen, daß das auch bei mir zeitweise der Fall war. Gelegentlich hatte ich sogar recht viel Sympathie für die eine oder andere Aktion. Aber das in Morsleben am 8. November dieses Jahres hat mir .ernsthaft Sorge gemacht — nicht weil sich die Frauen und Männer angekettet haben und ein Transparent aufspannten, nein, weil hier von Leuten, die für viele junge Menschen Vorbildfunktion einnehmen,
offener Rechtsbruch begangen wurde.
Was soll man eigentlich von den Sicherheitsvorschriften halten, wenn man sich so bedenkenlos darüber hinwegsetzt, nur um öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen? Solche Vorschriften sind ja schließlich erlassen worden, um das Leben und die Umwelt zu schützen. Es ist an der Zeit, daß wir wieder lernen, uns an Recht und Gesetz zu halten und alles zu tun, daß diese eigentliche Selbstverständlichkeit auch wieder in die Köpfe aller Menschen hineinkommt.
In die Köpfe der Menschen muß aber auch hineinkommen, daß nun endlich das Problem der Endlagerung von radioaktiven Stoffen gelöst werden muß. Selbst der entschiedenste Gegner der Kernenergie muß sich intensiv darum bemühen, wenn er denn
seine Bedenken gegen die Kernenergie wirklich ernst nimmt.
Drei Fraktionen dieses Hauses haben besonders in den 70er Jahren die Kernenergie aus vielerlei wohlerwogenen Gründen nach vorne gebracht. Eine Fraktion hat sich dabei besonders hervorgetan, die heute glaubt, sich durch Ausstiegsbeschlüsse ihrer Partei aus der Affäre ziehen zu können. Wir werden Sie, sehr verehrte und liebe Kolleginnen der SPD, aus Ihrer Verantwortung nicht entlassen.
Und da Sie inzwischen wohl auch einsehen, daß der schnelle Ausstieg aus der Kernenergie Deutschland schadet, müssen Sie sich jetzt mit allen vernünftigen Kräften auf den Weg machen, auch diejenigen Probleme der Kernenergie zu lösen, die bisher nicht gelöst werden konnten.
Wir sind ja auch bereit, die direkte Endlagerung als weitere Entsorgungsform für abgebrannte Brennstäbe im Atomgesetz festzuschreiben. Dabei gehe ich davon aus, daß abgebrannte Brennstäbe nicht mehr wiederaufbereitet, sondern für die direkte Endlagerung vorbereitet werden. Und dafür brauchen wir das Lager sicher nicht heute und morgen, aber in einigen Jahrzehnten. Wir können also getrost auch den Wunsch des von der SPD wohl nicht besonders geliebten niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder erfüllen,
neben Gorleben auch noch andere Standorte auf die Eignung als Endlager für abgebrannte Brennstäbe zu erkunden. Bis dahin müssen wir eben andere Plätze haben, um die Brennstäbe zu lagern.
Probleme bietet uns jetzt aber die Endlagerung von mittel- und schwachradioaktiven Abfällen. Zwischenlager für die allermeisten dieser radioaktiven Abfälle hätten wir nicht nötig gehabt, wenn es in Deutschland rechtzeitig ein betriebsbereites Endlager für diese Abfälle gegeben hätte. Statt dessen sind wir durch die Verzögerung bei der Bereitstellung eines Endlagers bereits jetzt in der Situation, daß weitere Zwischenlagerkapazitäten geschaffen werden müssen.
Können wir uns eigentlich solche Zustände — auch volkswirtschaftlich gesehen — noch leisten? Für eine gewisse Zeit kann Morsleben noch Abfälle aufnehmen. Aber es geht kein Weg daran vorbei: Konrad muß jetzt in Betrieb gehen. Wenn Sie, meine Damen und Herren, einmal in aller Ruhe über diese Problematik nachdenken, werden auch Sie darauf kommen, daß diese Verweigerungshaltung keine Wählerstimme mehr bringt. Im Gegenteil: Die Inbetriebnahme von Konrad würde zeigen, daß man eine staatstragende und den Menschen Sicherheit gebende Haltung hat und sie nicht nur beredet.
Ich danke Ihnen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17033
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Michael Müller das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich drei Vorbemerkungen machen. Die erste Vorbemerkung ist: Sie können natürlich so interpretieren, daß Sie sagen: Die Diskussion in dieser Aktuellen Stunde über Morsleben macht man, um sozusagen eine Obstruktionspolitik in Sachen Atomenergie zu führen.
— Sie können das so interpretieren. Ich kann Ihnen genauso umgekehrt interpretieren: Sie halten an einem sehr fragwürdigen Rechtsstandpunkt fest, um eine Sache zu retten, die nicht zu retten ist.
Ich weiß nicht, ob wir auf einer solchen Ebene miteinander verfahren sollten. Es bringt nichts. Ich finde, wir sollten uns über die Probleme unterhalten, um die es hier geht, und diese sind ernst genug.
Es geht bei Morsleben nicht darum, durch die kalte Küche eine Ausstiegsstrategie durchzusetzen, sondern es geht um sehr ernsthafte Probleme, die bei uns natürlich vor dem Hintergrund einer Gesamtbewertung der Atomenergie stehen. Da ist Ihnen ja nicht neu, daß wir für einen Ausstieg sind.
Die zweite Bemerkung, die ich machen möchte! Tun Sie nicht so, als ob Sie die Schrödersche Position unterstützen würden. Das ist eines der größten Märchen, das überall verbreitet wird. Sie sollten auf diesem Feld, das eine derart wichtige Zukunftsfrage ist, wirklich etwas seriöser und ehrlicher sein.
— Vorhin wurde von Herrn Kollegen Baum gesagt: Die Position von Herrn Schröder.
— Ich lenke überhaupt von meiner Gespaltenheit ab.
Das ist auch wirklich insofern kein Problem, weil ich in dieser Frage überhaupt nicht gespalten bin. Im Gegensatz zu Ihnen habe ich mich nämlich immer für den Ausstieg eingesetzt, nämlich schon seit über 20 Jahren. Ich habe überhaupt kein Problem, mich in dieser Frage irgendwo zu verändern, sondern ich war immer auf einer Position, wo ich eher Kompromisse zu denen gemacht habe, die die Konzeption, die ich vertrete, nicht geteilt haben. Ich habe also eher mit anderen Kompromisse gemacht. Ich habe aber bei denen, die eine Technologie verteidigen, die nicht zu verteidigen ist, bisher diese Kompromisse nicht verzeichnet. Insofern sollte man da etwas vorsichtiger sein.
Die Position bei Schröder war schon eine ausstiegsorientierte. Ich habe nicht gesehen, daß von irgendeinem auf der Seite von CDU/CSU und F.D.P. eine ausstiegsorientierte Position vertreten wurde. Der Streit mit Schröder war ein anderer. Ich habe den Weg als Trickitracki angesehen; es handelt sich hier also um einen, der zuviel von hintenherum gekommen ist, anstatt klar zu sagen: Ich will nicht. Das werfe ich ihm vor. Das ist nicht meine Position. Aber daraus zu tun, als ob von dieser Seite des Hauses die Position von Schröder unterstützt worden wäre, ist auch ein Märchen. Wir sollten also nicht solche Märchen verbreiten. Die bringen nämlich nichts.
— Die war bei Ihnen übrigens auch frappant. Ich will nur einmal darauf hinweisen: Der Kollege Töpfer vertritt beispielsweise überall in der Öffentlichkeit das Konzept einer Energiesteuer, einer CO2-Steuer.
— Ja, weil Sie davon reden. Entschuldigung, Sie haben mich vorhin auf den Punkt angesprochen. Dann reagiere ich darauf. Das paßt Ihnen wohl nicht. Nur in den Debatten war von Töpfer selbst nie davon die Rede. Dies ist auch ein komisches Spiel, in der Öffentlichkeit so und bei den Verhandlungen das Gegenteil zu sagen. Ich wäre sehr vorsichtig mit solchen Vorwürfen. Das fällt immer sehr schnell auf einen selbst zurück.
Eine dritte Bemerkung ist: In den Debatten wurde von seiten der SPD-Bundestagsfraktion — ich stehe dazu — von einem nationalen Entsorgungskonzept gesprochen. Ich finde nicht, daß daran gerüttelt werden darf. Es gab in den Gesprächen sehr starke Tendenzen, von dem nationalen Entsorgungskonzept wegzukommen, übrigens nicht von der Oppositionsseite. Darauf möchte ich hinweisen.
Ich möchte in dem Zusammenhang auch sagen: Die Frage mit Konrad ist im Entscheiden eine Frage der Menge. Wenn wir wissen, welche Mengen Atommüll anfallen, können wir in einer ganz anderen Weise über Endlager reden. Solange das nicht klar ist, wird es sehr schwer sein, zu einer Einigung zu kommen. Das entscheidende Problem ist sozusagen die Frage, mit welcher Menge von Atommüll wir insgesamt zu rechnen haben, mit welcher Menge wir umzugehen haben. Solange das nicht klar ist, werden wir keine Tür aufmachen, von der wir nicht wissen, wohin der Gang führt. Da wollen wir schon Klarheit haben.
Ich sage hier also noch einmal in der Öffentlichkeit, wir sind für ein nationales Entsorgungskonzept. Wir stehen auch dazu. Aber das steht bei uns in einem Zusammenhang. Wir wollen Klarheit über die Menge des Atommülls, der anfällt, haben, und dann kann man über alles mögliche reden. Keine Frage.
17034 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Michael Müller
— Wissen Sie, es hat einmal eine interessante Debatte gegeben, die auch von Ihrer Fraktion unterstützt worden ist. Das ist Ihnen heute vielleicht nicht mehr in Erinnerung. Es wurde beispielsweise in der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" sehr deutlich gesagt, die Frage der Atomenergie sei nicht die entscheidende Zukunftsfrage der Energieversorgung. Heute ist das natürlich anders. Heute läuft das alles unter der hysterischen Standortdebatte. Aber ich finde, es ist viel interessanter, darüber zu diskutieren, wie man den Strukturwandel in der Bundesrepublik einleitet, und zwar in die Zukunftsfelder, die wir wirklich tatsächlich brauchen, und nicht in die antiquierte Atomenergie.
Lassen Sie mich noch einmal zu dem entscheidenden Punkt Morsleben zurückkommen. Wir führen hier nicht eine Diskussion über Pro und Kontra der Atomenergie im weiteren Sinne. Wir führen hier eine Debatte erstens darüber, ob Morsleben auf einer richtigen Grundlage, auf einer seriösen rechtlichen Grundlage ist — das bestreiten wir —, und zweitens, darüber, ob die Sicherheitsbedenken ernstgenommen werden. Ich will nur einen einzigen Satz zitieren, damit klar wird, daß wir nicht nur eine Oppositionsposition vertreten. In dem Gutachten der Reaktorsicherheitskommission, auf die sich auch Herr Töpfer bezieht, steht:
Eingehende Untersuchungen zu den geowissenschaftlichen Fragen, ... ,konnten ... aus Zeitgründen noch nicht durchgeführt werden.
Das ist ein Schlag in das Gesicht Ihrer Politik. Es tut mir leid. Wer so leichtfertig mit bestimmten Sicherheitsexpertisen umgeht, braucht sich nicht zu wundern, wenn er nicht ernstgenommen wird.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist jetzt unser Kollege Steffen Kampeter.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gerade die Ausführungen meines Vorredners haben gezeigt, wie widersprüchlich und ohne Konzept die energiepolitische Position der Sozialdemokratie in Deutschland ist.
Da stellt sich der umweltpolitische Sprecher hier hin und führt an, daß der niedersächsische Ministerpräsident für den Ausstieg sei.
In den Energiekonsensgesprächen hat uns Herr Schröder allerdings einen Einstieg in eine neue Reaktorlinie versprochen. Dann wird beklagt, daß in der Entsorgung und Endlagerung zuwenig getan wird. Genau dieser gleiche Herr Schröder, der uns den Einstieg in eine neue Reaktorlinie in den Energiekonsensgesprächen angeboten hat, blockiert die ordnungsgemäße Inbetriebnahme von Konrad. Dies ist eine widersprüchliche Obstruktionspolitik, wie sie deutlicher hier und heute nicht werden konnte.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist die einzige Fraktion, die bisher ein geschlossenes energiepolitisches Gesamtkonzept vorgelegt hat. Im Rahmen dieses energiepolitischen Gesamtkonzepts setzen wir uns nachdrücklich für die verantwortliche Nutzung der Kernenergie ein. Wir halten sie für effektiv und umweltschonend.
Ein zweiter wichtiger, deutlicher Punkt in dieser Debatte ist: Die Entsorgung in der Bundesrepublik ist sicher. Morsleben ist für schwach- und mittelradioaktive Abfälle geeignet. Einen Sicherheitsrabatt gibt es weder für Morsleben noch für irgendeine andere kerntechnische Anlage in der Bundesrepublik.
Wenn Herr Kollege Müller in seiner Rede hier anführt, die Rechtsgrundlage für Morsleben sei fraglich, dann ist dies eine absolute Außenseiterposition. Sie ist nicht nur begründet durch den Einigungsvertrag, sondern sie ist auch höchstrichterlich bestätigt worden. Das heißt, es gibt überhaupt keine Annahme für die rechtliche Fragwürdigkeit von Morsleben.
Für uns ist nicht die vorrangige Frage, ob Morsleben rechtmäßig ist. Entscheidend ist die Sicherheit,
aber es zeigt schon, wie fragwürdig Ihre sicherheitspolitische Argumentation ist, wenn Sie sich auf ein ebenso fragwürdiges rechtspolitisches Argument stützen.
Ein Drittes, was hier anzumerken ist: Die Bundesregierung ist selbstverständlich über alle Elemente ihrer Kernenergiepolitik bis hin zur Endlagerung dialogbereit, u. a. auch mit der Umweltschutzorganisation Greenpeace. Es ist schon erstaunlich, daß Greenpeace nach den zahlreichen Fragen zu Morsleben, die man von dort gestellt hatte und die von einer Bundesbehörde schriftlich beantwortet worden sind, als nächsten Schritt die Blockade dieses Endlagers vorgenommen hat.
Das Gesprächsangebot von Bundesminister Töpfer war verbunden mit der Aufforderung, diese Blockade von Morsleben einzustellen. Erst dann ist der Gesprächsbeginn erfolgt. Das Gespräch hat aber keinerlei substantielle Ergebnisse hervorgebracht, die sowohl die sicherheitstechnische als auch die rechtliche Eignung des Standorts Morsleben in Frage stellen.
Es geht hier also nicht so sehr um sicherheitstechnische oder rechtliche Bedenken, sondern vielmehr darum, daß Ideologie über Rechtsstaatlichkeit und energiepolitische Vernunft gestellt wird.
Die Umweltorganisation Greenpeace setzt sich über Fach-, Verwaltungs- und Polizeibehörden, sowie über Gerichte hinweg. Dies kann für uns kein Maßstab unseres Handelns sein.
Eine vierte Sache ist in dieser Debatte hier und heute klargeworden: Die Opposition informiert die Öffentlichkeit unzutreffend. Die mir persönlich außerordentlich sympathische Kollegin Klemmer hat dies
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17035
Steffen Kampeter
leider auch in einer Presseerklärung vor wenigen Tagen gemacht.
Da wird von fahrlässigem Verhalten oder ignorantem Verhalten, von erheblichen Sicherheitsmängeln und anderen Dingen gesprochen. Frau Kollegin Klemmer, ich habe auf Grund Ihrer Presseerklärung Ihrer Rede sehr, sehr aufmerksam gelauscht. Ich stelle fest, daß Sie für Ihre Behauptungen hier heute vor dem Deutschen Bundestag überhaupt gar keine Belege geliefert haben. Sie haben keinerlei überzeugende Zweifel sowohl an der sicherheitstechnischen wie an der rechtlichen Eignung von Morsleben hier vorgetragen. Sie haben lediglich Ihre bekannten Behauptungen wiederholt, die dazu dienen, die Öffentlichkeit irrezuführen. Angst und Ideologie sowie Irreführung sind allerdings ein schlechter Ratgeber in der Auseinandersetzung über ein zukunftsweisendes Energiekonzept.
Also ziehe ich das Fazit: Die Opposition ist ohne ein geschlossenes energiepolitisches Konzept. Sie hat hier wenig Neues vorgetragen, was es rechtfertigen würde, diese Stunde als besonders aktuell zu charakterisieren. Die Bundesregierung hat unter Beweis gestellt, daß sie in allen Fragen der kerntechnischen Anlagen, insbesondere aber in Morsleben, verantwortungsbewußt handelt.
Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, der letzte Redner in der Aktuellen Stunde ist unser Kollege Dr. Gerhard Friedrich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will mich bemühen, möglichst wenig zu wiederholen. Ich habe mich in der letzten Legislaturperiode mehr mit Kernenergie beschäftigt. Deshalb habe ich heute früh nachgelesen, was denn jetzt die „große Gefahr" in Morsleben ist.
Frau Kollegin Klemmer, ich habe an Hand meiner Unterlagen festgestellt: Es gibt fünf Tropfstellen, davon ist eine ernst zu nehmen. Der Wasserzufluß beträgt 1,71 pro Stunde. Frau Klemmer, das landet in einem Bergwerk, nicht in einem unserer Wohnzimmer. Das heißt, es handelt sich um Minimengen in einem riesigen Hohlraum. Das entspricht etwa der Gefährdung, wie wenn hier im Bundestag eine Putzfrau etwas Wasser verschüttet, worauf Sie dann sagen: Wir müssen alle Räume des Bundestages räumen, weil Hochwasser droht.
Es tut mir leid, ich muß mich wirklich fragen, ob ich Sie ernst nehmen soll.
Dann kommt hier der Kollege Müller ans Mikrofon und sagt: Ich bin doch konstruktiv. — Es geht uns um Morsleben. Herr Kollege Müller, ich will Ihnen in der Sache etwas sagen: Da Sie die Probleme wirklich kennen, müssen Sie doch zugeben, daß, wenn in der Kernenergie etwas gefährlich ist, das erst einmal das laufende Kernkraftwerk ist. Wenn dann überhaupt
noch etwas ein bißchen gefährlich ist, dann müssen wir uns über die Zwischenlager abgebrannter Brennstäbe und über Wiederaufarbeitung unterhalten. Danach müssen wir uns über das unterhalten, was noch gefährlicher ist, nämlich über die Produktion von Kernbrennstäben. Ganz am Ende steht die Gefährlichkeit der Ablagerung schwach radioaktiver Abfälle.
Wenn Sie hier im Bundestag nach fachlichen Kriterien Schwerpunkte setzen würden, dann nähme ich Sie ernst, Herr Weiß. Sie wählen Ihre Themen aber nicht nach fachlichen Gesichtspunkten: Wenn ich die Aktuellen Stunden und Ihre Anträge berücksichtige, zeigt sich, daß Sie nicht da Anträge stellen, wo das größte Gefährdungspotential ist, sondern immer nur da, wo etwas in Betrieb gehen soll. Das ist doch ein fachlich nicht ernst zu nehmendes Anliegen. Da offenbaren Sie, Herr Kollege Müller, daß Sie eigentlich Obstruktion betreiben wollen, weil Sie sich nicht dort engagieren, wo etwas leicht Gefährliches läuft, sondern dort, wo etwas in Betrieb gehen soll. Das ist der typische Versuch zu verhindern — ich sage: Obstruktion.
Ich habe gesagt: die geringste Gefährlichkeit bei schwach radioaktiven Abfällen. Im Untersuchungsausschuß „Transnuklear" habe ich gemeinsam mit dem Kollegen Harries gelernt, daß es sich z. B. um Handschuhe handelt, die bei der Reinigung von Kernkraftwerken anfallen. Da soll das größte Gefahrenpotential vorhanden sein? Es ist nicht das Gefährlichste; es gibt noch ein paar Dinge, die ernster zu nehmen sind.
Aber man muß den Leuten beispielhaft sagen, um was es sich handelt. Die „großen Mengen" sind z. B. Putzmaterial oder irgendwelche Flüssigkeiten, die irgendwo im Bereich des Reaktorkerns geflossen sind und die da leicht kontaminiert sind. Das ist das „große Gefahrenpotential", über das Sie heute reden. Es sind ein paar Dinge dabei, die nicht ganz so harmlos sind.
Herr Kollege Feige, da muß ich jetzt auf Sie zu sprechen kommen. Der Kollege Feige hat uns ein sehr großzügiges Angebot gemacht. Aber die Fragestellung war nicht befriedigend, lieber Kollege Feige. Sie haben nämlich gesagt: Steigen wir erst einmal aus der Kernenergie aus, dann werden wir konstruktiv an der Lösung der Endlagerprobleme mitwirken. Das Aussteigen aus der Kernkraft, Herr Kollege Feige, löst noch nicht das gesamte Problem. In diesen Lagern landet auch das, was wir in der Nuklearmedizin anwenden. Da landet alles mögliche aus den Krankenhäusern. Herr Kollege Feige, wollen wir auch aus der Nuklearmedizin aussteigen?
— Ich weiß schon: Ihr wollt eigentlich aus allem aussteigen, das ist mir klar. Herr Kollege Feige, wollen Sie aber auch aus der Nuklearmedizin aussteigen? Wenn nicht, dann brauchen wir wenigstens ein kleines Endlager. Dann sagen Sie den Leuten hier wenigstens ehrlich: Wir wollen ein kleineres .Endlager Morsleben. Aber Sie tun so, als wenn wir nichts mehr bräuchten, wenn wir aus der Kernenergie ausstiegen.
17036 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Dr. Gerhard Friedrich
Herr Kollege Feige, entweder wissen Sie über die Dinge nicht Bescheid, oder Sie täuschen die Menschen hier.
Jetzt sehe ich gerade, daß ich langsam aufhören muß. Ich muß Ihnen sagen, ich kann mich schon darüber empören, daß der SPD-Parteivorsitzende Scharping Reden hält und sagt, im nächsten Jahr gibt es nur ein Thema, Arbeitsplätze, aber Sie vernichten in diesem Land einen Arbeitsplatz nach dem anderen — in der Nuklearindustrie, die keine Subventionen braucht — und stellen dann die unsinnigen Anträge,
neue subventionierte Arbeitsplätze zu schaffen. Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir fahren in der Tagesordnung fort. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundeskleingartengesetzes
— Drucksache 12/6154 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Seeschiffahrt
— Drucksache 12/6153 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung der Tarife im Güterverkehr
— Drucksache 12/6284 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Wirtschaft
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marianne Klappert, Dr. Liesel Hartenstein, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Einschränkung der Tiertransporte in der EG — Drucksache 12/5785 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Carl Ewen, Robert Antretter, Holger Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der Deutschen Binnenschiffahrt
— Drucksache 12/6221 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr Ausschuß für Wirtschaft
EG-Ausschuß
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? —Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann sind alle Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 18c, 18d und 18f bis 18i sowie die Zusatzpunkte 13a und 13b auf:
18. c) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Fleischhygienegesetzes und des Geflügelfleischhygienegesetzes
— Drucksache 12/6205 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit
— Drucksache 12/6305 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Hans-Hinrich Knaape
d) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Erwin Marschewski, Wolfgang Zeitlmann, Hartmut Büttner und der Fraktion der CDU/CSU, des Abgeordneten Gerd Wartenberg (Berlin) und der Fraktion der SPD sowie des Abgeordneten Dr. Burkhard Hirsch und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des StasiUnterlagen-Gesetzes (StUÄndG)
— Drucksache 12/5775 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 12/6100 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Hartmut Büttner
Rolf Schwanitz
Dr. Jürgen Schmieder
f) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch den Präsidenten des Bundesrechnungshofes als Vorsitzender des Bundesschuldenausschusses
Bericht des Bundesschuldenausschusses nach § 35 Abs. 2 der Reichsschuldenordnung vom 13. Februar 1924 für das Jahr 1992
— Drucksachen 12/5299, 12/6163 —
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17037
Vizepräsident Helmuth Becker
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Christian Neuling
Dr. Wolfgang Weng Helmut Wieczorek (Duisburg)
g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für einen Beschluß des Rates zur Ermächtigung einiger Mitgliedstaaten, gemäß dem Verfahren in Artikel 8 Abs. 4 der Richtlinie 92/81/EWG des Rates auf Mineralöle, die zu bestimmten Zwecken verwendet werden, ermäßigte Verbrauchsteuersätze oder Verbrauchsteuerbefreiungen einzuführen oder beizubehalten
— Drucksachen 12/5190 Nr. 2. 1, 12/6165 —
Berichterstattung: Abgeordneter Gunnar Uldall
h) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Regelung der gegenseitigen Amtshilfe der Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten und der Zusammenarbeit dieser Behörden mit der Kommission, um die ordnungsgemäße Anwendung der Zoll- und Agrarregelungen zu gewährleisten, und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 1468/81
— Drucksachen 12/4555 Nr. 2.4, 12/6173 —
Berichterstattung: Abgeordneter Claus Jäger
i) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 130 zu Petitionen
— Drucksache 12/6230 —
ZP13 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Rechtsakt vom 25. März 1993 zur Änderung des Protokolls über die Satzung der Europäischen Investitionsbank
— Drucksache 12/5941 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache 12/6300 — Berichterstattung:
Abgeordneter Martin Grüner
b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Handels- und Lohnstatistikgesetzes
— Drucksache 12/5886 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 12/6309 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Meinrad Belle Gerd Wartenberg Dr. Burkhard Hirsch
Es handelt sich um Beschlußvorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Wir stimmen zum Tagesordnungspunkt 18c ab. Der Ausschuß für Gesundheit empfiehlt auf Drucksache 12/6305, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Dann ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei einigen Stimmenthaltungen von der Gruppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Mit dem gleichen Stimmergebnis ist der Gesetzentwurf in dritter Lesung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung zum Tagesordnungspunkt 18d. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Bei Gegenstimmen der Gruppen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PDS/Linke Liste ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmergebnis angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung zum Tagesordnungspunkt 18f. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung?
— Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Bei Stimmenthaltungen aus den beiden Gruppen ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung zum Tagesordnungspunkt 18g. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung?
— Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Bei Stimmenthaltung der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung zum Tagesordnungspunkt 18h. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung?
— Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Stimmenthaltungen aus der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
17038 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Vizepräsident Helmuth Becker
Wir kommen zur Abstimmung zum Tagesordnungspunkt 18i. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Bei einigen Stimmenthaltungen aus den beiden Gruppen ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Zusatzpunkt 13 a. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sollen die zweite Beratung und Schlußabstimmung des Gesetzentwurfs zur Europäischen Investitionsbank erst morgen nach Tagesordnungspunkt 16 aufgerufen werden. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung zu Zusatzpunkt 13b. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Bei Stimmenthaltungen aus den Gruppen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PDS/Linke Liste ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit demselben Stimmenverhältnis wie in zweiter Lesung angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur weiteren Verlängerung der Kündigungsmöglichkeiten in der öffentlichen Verwaltung nach dem Einigungsvertrag
— Drucksache 12/6120 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 12/6308 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Wolfgang Zeitlmann Rolf Schwanitz
Dr. Burkhard Hirsch
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Ich weise darauf hin, daß die Gruppe PDS/Linke Liste zur Schlußabstimmung namentliche Abstimmung wünscht. Nach unserer Geschäftsordnung kann eine namentliche Abstimmung aber nur von einer Fraktion oder anwesenden 5 v. H. der Mitglieder des Hauses verlangt werden. Ob der Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste die erforderliche Unterstützung hat, wird vor der Schlußabstimmung festgestellt.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster hat unser Kollege Hartmut Koschyk das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Koalition zur Änderung des Gesetzes zur weiteren Verlängerung der Kündigungsmöglichkeiten in der öffentlichen Verwaltung nach dem Einigungsvertrag sollen die jungen Bundesländer auch über den 31. Dezember dieses Jahres hinaus in die Lage versetzt werden, den immensen vorhandenen Überhang in der öffentlichen Verwaltung der neuen Länder abzubauen.
Die Kernfrage der Diskussion, die zu diesem Gesetzentwurf der Koalition geführt hat, lautet, ob der Übergangsprozeß der dringend notwendigen Umstrukturierungen im öffentlichen Dienst in den jungen Bundesländern tatsächlich abgeschlossen ist. Angesichts noch geringer Effektivität vieler, zum Teil noch im Aufbau befindlicher Gliederungen der öffentlichen Verwaltungen und angesichts des Mangels an Vertrauen in der Öffentlichkeit gegenüber den selten nicht überdimensionierten Einrichtungen ist diese Frage, wie wir meinen, eindeutig zu verneinen. Bei der Herausbildung neuer Gebietskörperschaften stehen wir sogar erst am Anfang der Neustrukturierung in den jungen Bundesländern. Es kann deshalb heute nicht die Rede davon sein, daß dieser Übergangs- und Umstrukturierungsprozeß bereits beendet ist.
Das Grundanliegen des Einigungsvertrages, der Aufbau einer funktionierenden, neues Vertrauen begründenden öffentlichen Verwaltung in den neuen Ländern mit einem kleinen, aber qualifizierten Personalstamm, ist deshalb bis heute nicht erfüllt.
Weil immer gesagt wird, daß das, was die Koalitionsregierung vorschlägt, überhaupt nicht Wunsch und Bedürfnis in den neuen Ländern ist, habe ich mir die Mühe gemacht, mit den unionsgeführten Landesregierungen der jungen Bundesländer Kontakt aufzunehmen, und mich um Stellungnahmen zur Frage der Notwendigkeit einer weiteren Fristverlängerung der Sonderkündigungsmöglichkeiten bemüht. Dies wurde von unseren Kollegen dort einhellig begrüßt. Der Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, Rudi Geil, verwies darauf, daß es größtenteils noch nicht gelungen ist, Personalüberhänge auf ein verwaltungsökonomisch und finanziell zumutbares Maß zu reduzieren.
Der sächsische Innenminister, Heinz Eggert, hält ebenso wie die thüringische Landesregierung diese Fristverlängerung, die wir jetzt vorschlagen, für dringend geboten.
Unser Gesetzentwurf sieht eine Fristverlängerung für Bedarfskündigungen vom 31. Dezember dieses Jahres bis zum 31. März 1994 vor. Parallel dazu werden die Landesregierungen der fünf jungen Bundesländer ermächtigt, durch Rechtsverordnungen zu bestimmen, daß von den Sonderkündigungsregelungen bis längstens zum 31. Dezember 1994 Gebrauch gemacht werden kann. Wir halten diese Regelung für sinnvoll und richtig, weil hierdurch die jungen Lander, in deren ureigenstem Interesse die Weiterführung der Kündigungsregelungen liegt, in die Pflicht genommen und in die Lage versetzt werden, ihrerseits per Rechtsverordnung aktiv zu werden.
Mit der im Gesetzentwurf vorgegebenen Fristverlängerung bis zum 31. März 1994 bleibt den Landes-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17039
Hartmut Koschyk
regierungen hierfür auch ausreichend Zeit. Zugleich wird erreicht — darauf legen wir großen Wert —, daß die politische Verantwortung, wie es auch von der Sache her geboten ist, auf die Länder verlagert wird. Die betroffenen Länder können dann per Rechtsverordnung eigenverantwortlich die Personalkörper im öffentlichen Dienst so reduzieren, daß sie auch auf Dauer finanzierbar bleiben.
Es ist vor allem ein Wunsch der Kommunen in den neuen Bundesländern, auch weiterhin nach den Sonderkündigungsmöglichkeiten Personal abzubauen. Ich habe bereits bei der ersten Lesung darauf verwiesen, daß das auch als klares Votum bei einer Tagung von Kommunalpolitikern im Berliner Reichstag, initiiert von der SPD, zum Ausdruck gekommen ist.
Insgesamt liegt der Personalüberhang bei etwa 440 000 Beschäftigten mit jährlichen Mehrkosten von 20 Milliarden DM. Wir wissen alle, daß diese Summe durch die Einkommensangleichung an das Westniveau noch erheblich steigen wird. Damit drohen die Personalausgaben zum Treib- und Sprengsatz der ohnehin schon schwachen öffentlichen Haushalte in den neuen Bundesländern zu werden. Wir müssen auch in Rechnung stellen, daß jede sechste oder siebte Mark der Transferleistungen an die neuen Länder für Mehraufwendungen für das Personal im öffentlichen Dienst verbraucht wird und damit für den Aufbau von dringend notwendiger Infrastruktur fehlt.
Durch den Gesetzentwurf der Koalition werden die jungen Bundesländer in die Lage versetzt, das wirklich eklatante Mißverhältnis zwischen Überbesetzung vor allem im Sozial- und Kultusbereich und einer zu verzeichnenden Unterbesetzung im Bereich der klassischen Verwaltung, also bei der Bauaufsicht und in der Ordnungsverwaltung, zu beseitigen. Da dies durch interne Versetzungen nicht möglich ist, werden weitere Kündigungen unvermeidlich sein. Nur durch ein Abspecken der öffentlichen Verwaltung wird es den Kreisen und Gemeinden möglich sein, Einsparreserven auszuschöpfen und damit strukturelle Verbesserungen in der Verwaltung zu verwirklichen und die Investitionsquote zu steigern.
Alle Seiten sind sich darüber einig, daß vor allem diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die erst nach dem Mai 1990 eingestellt wurden, Chancengleichheit erfahren müssen mit jenen, die Vordienstzeiten in der DDR-Verwaltung vorweisen können. Diese oftmals jungen, für den Aufbau einer demokratischen und rechtsstaatlichen Verwaltung engagierten und politisch unbelasteten Mitarbeiter müssen dem öffentlichen Dienst in den neuen Ländern auch in Zukunft erhalten bleiben.
Wir meinen, daß die von der SPD in ihrem Änderungsantrag erhobene Forderung nach Chancengleichheit für die nach 1990 in den öffentlichen Dienst der neuen Länder gekommenen Seiteneinsteiger in dem Gesetzentwurf der Koalition erfüllt wird, da er die Möglichkeit offen läßt, daß stets nach erfolgter Einzelfallprüfung entschieden werden kann.
Sollten aber die neuen Bundesländer der Auffassung sein, daß bei den Bedarfskündigungen auch dieser Aspekt einer Sozialauswahl für die Beurteilung herangezogen werden muß, dann sollten wir uns einer
Bundesratsinitiative der neuen Länder in dieser Sache nicht verschließen. Mit der in unserem Gesetzentwurf vorgegebenen Fristverlängerung bis zum 31. März 1994 wird auch genügend Zeit bleiben, Überlegungen in dieser Richtung umzusetzen.
Abschließend ist festzuhalten, daß der Personalabbau im öffentlichen Dienst in den neuen Ländern auch weiterhin dringend erforderlich sein wird. Wir appellieren daher vor allem an die dortigen Landesregierungen, umgehend dafür Sorge zu tragen und per Rechtsverordnung zu bestimmen, daß vom Kündigungsrecht auch nach dem Einigungsvertrag bis zum 31. Dezember 1994 Gebrauch gemacht werden kann.
Die Kommunen und Gebietskörperschaften in den jungen Bundesländern benötigen diese Zeit, um den weiteren Personalabbau im öffentlichen Dienst voranzubringen und damit die Voraussetzungen für Haushaltskonsolidierung und für eine Verbesserung der Investitionsquote zum Aufbau notwendiger Infrastruktur zu schaffen. Deshalb bitten wir auch die Sozialdemokraten, sich unserem Entwurf anzuschließen, da Ihrem Anliegen im Änderungsantrag durch den Koalitionsentwurf, wie wir meinen, voll Rechnung getragen wird.
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt unser Kollege Rolf Schwanitz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Problem ist bekannt. Auch im dritten Jahr der deutschen Einheit müssen wir in Ostdeutschland eine personelle Situation verzeichnen, die nur als Personalüberstrukturierung bezeichnet werden kann. Dafür gibt es — das haben wir an verschiedenen Stellen immer betont — sehr wohl auch objektive Gründe. Ich nenne einen, den wir bei den vielzitierten offenen Vermögensfragen nur als Randproblem diskutiert haben, nämlich die noch nicht abgeschlossenen Zuordnungen von entsprechenden Einrichtungen im Bereich der Kommunen. Auch das ist ein Element, auf Grund dessen immer wieder Personal in die Kommunen transportiert wird.
Wir haben — das ist richtig angesprochen worden — das Problem der Gebietsreform, die nach wie vor in den neuen Bundesländern vor uns steht. Wir haben aber natürlich auch Abbaumöglichkeiten in vielen Kommunen. Ich weiß, das ist nicht generell zu sagen, aber diese sind in nicht wenigen Kommunen nicht in vollem Umfang ausgenutzt, so daß tatsächlich ein Überhang da ist.
Wir glauben dennoch, daß das, was uns die CDU, die F.D.P. und die CSU — sie will ich natürlich auch nicht vergessen — heute vorschlagen, nämlich Bedarfskündigungen zeitlich zu verlängern, ein falsches Instrument ist.
Ich will dafür vier Gründe anführen.
17040 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Rolf Schwanitz
Erstens. Es ist unbestreitbar, daß die erneute Verlängerung der Bedarfskündigungen nach dem Einigungsvertrag ein massiver Einschnitt in Arbeitnehmerrechte ist. Man kann einfach nicht die Augen davor verschließen, daß man mit einem solchen harten Instrument nicht x-beliebig oft, also nicht erneut — die Debatte hatten wir 1992 schon — ins Rennen gehen und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern damit wichtige Instrumente, wichtige Rechte, insbesondere im Bereich des Kündigungsschutzes vorenthalten kann. Das ist im dritten und vierten Jahr der deutschen Einheit aus unserer Sicht nicht zumutbar.
Zweitens. Wir kommen zu den Einschätzungen, daß das Instrumentarium, das wir in Ostdeutschland, wenn das Sonderkündigungsrecht ausläuft, zur Verfügung haben, sehr wohl geeignet ist, den notwendigen Personalabbau in den ostdeutschen Verwaltungen zu betreiben.
Ich mache das an drei Punkten fest. Der erste Punkt ist der vor allen Dingen auch in der ersten Debatte und in vielen Diskussionen immer wieder unterschwellig angeführte Tatbestand, daß angeblich nach 15 Dienstjahren eine faktische Unkündbarkeit von Personen im öffentlichen Dienst Ostdeutschlands eintreten würde. Ein Blick in den BAT Ost zeigt relativ schnell, daß § 55, der das im BAT für die alten Bundesländer bewirkt, im BAT Ost nicht ausgefüllt worden ist, so daß zunächst einmal festzuhalten ist: unabhängig von der Vordienst- und Dienstzeit steht das gesamte Personal auch beim Auslaufen des Instrumentes aus dem Einigungsvertrag für die Umstrukturierung im Sinne einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses zur Verfügung. Die Situation ist also anders. Hier liegen viele Ängste, daß das vom Instrument her nicht geht. Diese Ängste sind unbegründet.
Zum zweiten muß man sagen, daß sich auch die Abfindungsregelungen nicht ändern. Auch die Abfindungsregelungen sind nicht anders als die, die wir hier nach dem Bedarfskündigungsrecht aus dem Einigungsvertrag heraus haben, so daß sich auch die finanzielle Situation, die damit im Zusammenhang steht — die finanzielle Belastung ist immer wieder genannt worden — bei dieser Rechtsänderung nicht verändert.
Zum dritten muß ich gestehen, daß sich die Frage der Kündigungsfristen, die natürlich auch eine Frage der finanziellen Belastung bei der Umstrukturierung ist, nicht entscheidend verändert, wenn die Sonderkündigungsmöglichkeit ausläuft. Ich gehe von der maximalen Variante aus: Wir haben jetzt bei dem Sonderkündigungsrecht die maximale Kündigungsfrist aus dem Arbeitsgesetzbuch der ehemaligen DDR von drei Monaten, wenn man die längste Dienstzeit betrachtet. Das verändert sich auf sechs Monate. Ich muß gestehen: Das ist für mich keine so entscheidende Verlängerung, die diesen Personalabbau gefährden würde.
Ich sage noch einmal: Dieses harte Instrument, dieses harte Einschneiden in Arbeitnehmerrechte ist nicht gerechtfertigt. Das Instrument, das beim Auslaufen des Sonderkündigungsrechtes nach dem Einigungsvertrag zur Verfügung steht, ist sehr wohl geeignet, die Umstrukturierungen zu betreiben.
Herr Kollege Schwanitz, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Bitte, Herr Kollege.
Herr Kollege Schwanitz, würden Sie mir zustimmen, daß dieses Gesetz nur die Möglichkeit eröffnet, so weiterzuverfahren wie bisher?
Zweitens haben Sie, glaube ich, nicht richtig auf das Argument gehört — darum würde ich bitten —, was der Kollege Koschyk vorgetragen hat, nämlich daß bei Normalkündigungsverfahren gerade die Leute, die wir alle im gemeinsamen Interesse seit Mai 1990 in den öffentlichen Dienst gebracht haben, eben doch gegenüber denen benachteiligt wurden, die schon 20 Jahre in den Rathäusern sitzen.
Kollege Haschke, das zweite ist in der Tat ein Problem. Welche Antwort wir dazu haben, werde ich gleich im Laufe meiner Rede noch erläutern. Deswegen bitte ich darum, daß ich eine Antwort darauf im Anschluß geben darf.
Was Sie als erstes gesagt haben, ist nicht ganz richtig. Richtig ist: Es wird eine Rechtsverordnungsermächtigung ermöglicht, die Länder entscheiden. Aber wenn man einmal Spitz auf Knopf guckt, stellt man natürlich fest, daß zumindest über ein Vierteljahr das Instrument erst einmal verlängert wird. Nach der Beschlußfassung im Bundestag ist die Verlängerung des Rechtes natürlich bis zum 31. März 1994 da. Insofern ist das nicht so einfach. Es ist ein Einschnitt in Arbeitnehmerrechte.
Meine Damen und Herren, die Union hat gestern im Innenausschuß ihre ursprüngliche Fassung noch einmal in zwei Punkten verändert: Zum einen wird vorgeschlagen, die Rechtsverordnungsermächtigung, die ursprünglich nur bis zum 31. Dezember diesen Jahres gelten sollte, bis zum 31. März nächsten Jahres zu verlängern. Das hängt aus meiner Sicht, muß ich gestehen, damit zusammen, daß dieses Thema Hals über Kopf in dieses Parlament getragen worden ist. Es ist natürlich verständlich, daß man zu dem Schluß kommt, daß in den verbleibenden Wochen und hinsichtlich der wenigen Möglichkeiten, die die Kabinette noch haben, ein Umsetzen in der ursprünglichen Struktur überhaupt nicht möglich ist.
Ich kann also nur sagen: Ein solcher Weg ist sicherlich auch eine Folge dessen, daß Hals über Kopf und unter großer Zeitnot eine solche harte Entscheidung hier ins Parlament getragen worden ist.
Auch die zweite Änderung ist aus meiner Sicht interessant. Die Verlängerung des Rechtes der Bedarfskündigung per Rechtsverordnungsermächti-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17041
Rolf Schwanitz
gung soll nun nicht mehr um zwei Jahre möglich sein, sondern nur noch um ein Jahr.
Darin liegt aus meiner Sicht eine ganze Menge Zündstoff — Herr Koschyk, ich beziehe mich auf das, was Sie gesagt haben —, was Sie auch in den neuen Bundesländern sehr wohl spüren.
Aus dem Land Mecklenburg-Vorpommern — das wollen Sie mir bitte zugestehen — gibt es ganz unterschiedliche Botschaften. Nicht nur der Innenminister äußert sich zu der Frage: Soll das Recht verlängert werden? Beispielsweise äußert sich auch der Ministerpräsident dazu. Ich habe noch nie eine solche Instrumentendebatte in so großer Zerstrittenheit in Ostdeutschland erlebt, wie das hier der Fall ist.
Ich kann nur sagen: Ich akzeptiere es, daß Sie sich bei dem scharfen Wind, der Ihnen aus Ihren Reihen offensichtlich entgegenweht, dazu durchgerungen haben, dieses Instrument auf nur ein Jahr zu begrenzen. Allerdings werden Sie in Ihrer Argumentation natürlich widersprüchlich und unglaubwürdig; denn kein Mensch kann ernsthaft annehmen, daß die Gebietsreformen in Ostdeutschland in einem Jahr abgeschlossen sind. Insofern bewegen Sie sich hier im Kreis.
Die Sozialdemokraten sehen in der Tat das Problem, daß die Leute, die im Zuge der Demokratisierung der öffentlichen Verwaltungen in Ostdeutschland eingestellt worden sind und die dort Leistungsträger sind, beim Auslaufen der Bedarfskündigungsmöglichkeit als erste in die Arbeitslosigkeit fallen und aus den Verwaltungen gedrängt werden. Diese Leute brauchen wir. Das ist ein wichtiger politischer Punkt. Wir haben Ihnen deshalb einen Änderungsantrag vorgelegt. In diesem Änderungsantrag wird eine Vermutung formuliert; es wird auf den Mechanismus des Kündigungsschutzgesetzes zurückgegriffen. Dort haben wir bereits die Institution, daß man sehr wohl per Einzelfallentscheidung feststellen kann: Das Verbleiben dieser Person im Arbeitsverhältnis ist für den Betrieb notwendig.
Wir wollen, daß für Bedienstete, die ab dem 6. Mai 1990, dem Datum der ersten freien Wahlen im kommunalen Bereich Ostdeutschlands, eingestellt worden sind, das betriebliche Bedürfnis der Weiterbeschäftigung vermutet wird. Wir wollen also eine Beweislastumkehr im Rahmen dessen, was nach dem Kündigungsschutzgesetz dann ablaufen wird, und damit diese Personengruppe aus der Sozialauswahl nach dem Kündigungsschutzgesetz herausnehmen.
Es ist eine Vermutung, die gesetzlich festgeschrieben werden soll, die natürlich widerlegbar ist. Denn jeder Mensch weiß, daß es Ausnahmen gibt. Der Arbeitgeber kann über eine Begründung dafür sorgen, daß eine Person diesen Vorteil nicht genießen kann, aber auch die Arbeitnehmer, denen nach unserem Modell das Kündigungsschutzrecht vollständig eingeräumt wird, können sich mit den gegebenen
Instrumentarien wehren und entsprechend ihre Rechte geltend machen.
Wir wollen nicht, daß in der jetzigen Situation und auch nach Auslaufen der entsprechenden Instrumentarien die Interessen der Kommunen hinsichtlich dieser 1990 eingestellten Personen auf der Strecke bleiben.
Meine Damen und Herren von der Koalition, eines muß ich Ihnen schon noch vorwerfen. Sie wissen sehr wohl, daß die Rechtsprechung in Ostdeutschland nicht stehengeblieben ist. Sie wissen, daß in Mecklenburg-Vorpommern seit mehreren Wochen überhaupt kein Verfahren mehr nach dem Einigungsvertrag im Sinne dieser Sonderkündigung durchgeführt wird. Sie wissen, daß in Erfurt — ich gehe einmal davon aus, daß Sie das wissen — neun von zehn Fällen, die dort nach der Bedarfskündigungsmöglichkeit angestrengt werden, in der ersten Instanz scheitern. Und Sie wissen, daß vom Landesarbeitsgericht Sachsen ein Urteil vorliegt, das die Bedarfskündigungsmöglichkeit insgesamt ad absurdum führt, als unrechtmäßig klassifiziert.
Wenn Sie dies wissen, aber trotzdem hier für eine Verlängerung plädieren und damit in Kauf nehmen, daß Ihr Instrument rechtlich ins Leere läuft, dann können Sie auch nicht mehr sagen, Sie setzten sich für den Schutz der Leute ein, die 1990 unter demokratischen Strukturen in die Verwaltungen gekommen sind. Das geht nur mit einem Modell, wie wir es hier vorlegen. Und ich bitte Sie darum, unserem Antrag zuzustimmen.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Haschke? — Bitte.
Herr Kollege Schwanitz, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, daß viele dieser Fälle vor den Arbeitsgerichten nicht Bestand haben trotz eindeutiger gesetzlicher Regelungen. Was glauben Sie, wie viele Fälle vor dem Arbeitsgericht Bestand haben werden, die auf Grund einer geäußerten Vermutung vor den Kadi kommen?
Herr Haschke, die Vermutung ist ein legitimes Rechtsinstitut, das es in vielen rechtlichen Regelungen gibt. Das ist nichts Neues. Ich frage Sie einmal zurück: Was vermuten Sie denn, wie viele Fälle vor dem Arbeitsgericht landen, wenn Ihr Gesetz durchkommt?
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Dr. Burkhard Hirsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt eine ganze Reihe von ehernen Verwaltungsgesetzen, die Sie kennen: Parkinson, Murphy, Peter's Law. Ich habe den Eindruck, hier taucht ein weiteres dieser ehernen Verwaltungsgesetze auf, nämlich: Je unangenehmer eine Ent-
17042 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Dr. Burkhard Hirsch
scheidung ist, um so schneller wird sie einem anderen zugeschoben.
Nach allem, was wir hier gehört haben, haben wir eine Entscheidung vor uns, die man nur falsch treffen kann. Entweder die Frist wird verlängert, dann wird einem vorgehalten: Ihr verlängert die Unsicherheit der Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, ihr greift in Arbeitsrechte ein. Oder die Frist wird nicht verlängert, dann wird gesagt: Ihr seid schuld daran, daß in der verbleibenden Zeit noch schnell soundso vielen Leuten gekündigt wird, um die Frist auszunutzen.
Was macht man, wenn man nur eine falsche Entscheidung treffen kann? Man hält sich an die alte Anwaltsweisheit: Im Zweifel entscheide man sich für das Richtige. Und das Richtige ist, daß jeder seine eigene Verantwortung wahrnimmt. Das heißt, man muß die Entscheidung dahin tun, wo sie getroffen werden muß.
Nun wissen wir, daß die ostdeutschen Länder die Frage, die wir hier behandeln, unterschiedlich bewerten. Die einen wollen eine Verlängerung, die anderen wollen keine Verlängerung, und die dritten äußern sich nicht. Und darum ist die einzige Lösung, die man in einer solchen Frage treffen kann, zu sagen: Wir verlängern die Frist nicht selbst, sondern wir lassen den Ländern — die in ihrem eigenen Bereich entscheiden müssen, ob sie damit zurechtkommen oder nicht — die Möglichkeit, bis zum Ende des kommenden Jahres durch eine Verordnung eine Regelung zu treffen.
Die ersten drei Monate, die wir im Gesetz haben, sind ja — das haben Sie mit Recht bemerkt — ein rein technischer Vorgang, um den ostdeutschen Landesregierungen die technische Möglichkeit zu geben, die Diskussion bei sich abzuschließen und zu einer eigenen Entscheidung zu kommen. Das ist der Sinn dieser Regelung.
Ich habe mich, Herr Kollege Schwanitz, mit Ihrem Vorschlag der Umkehr der Beweislast oder der Vermutungsregelung nicht anfreunden können. Man greift in eine Fülle individueller Verhältnisse ein, die man gar nicht bewerten kann. Man verändert prozessuale Aussichten für den einen oder gegen den anderen. Jede Stichtagsregelung hat ja eine Ungerechtigkeit in sich. Warum soll sich bei demjenigen, der einen Tag früher eingestellt worden ist als der andere, die Beweislast umdrehen, bei dem anderen nicht? Darin kann ich keine rationale Lösung erkennen.
Unsere Antwort auf das Problem liegt eben in diesem Gesetzentwurf. Wir sagen, wir verlängern nicht selbst, sondern wir tun die Entscheidung dahin, wo sie allein beurteilt und getroffen werden kann.
Ich möchte allerdings für unsere Fraktion erklären, daß wir einer weiteren Verlängerung der Frist über das Ende des nächsten Jahres hinaus nicht mehr zustimmen werden und daß es nun wirklich das letzte Mal ist, daß wir uns hier mit dieser Angelegenheit gesetzgeberisch befassen.
Mit dieser Maßgabe werden wir dem Entwurf zustimmen.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist jetzt der Kollege Dr. Uwe-. Jens Heuer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Deutsche Beamtenbund hat diesen Gesetzentwurf zutreffend als politischen Willkürakt bezeichnet, und dieser Beamtenbund gilt ja doch wohl als staatstragend.
Es geht hier nicht einfach um einen Umbau der Verwaltung, es geht auch nicht einfach um den Abbau der in der DDR angeblich aufgeblähten Verwaltung; im eigentlichen Verwaltungsbereich arbeiten heute in Ostdeutschland mehr Menschen als in der DDR. Das wurde schon von Herrn Koschyk gesagt. Es geht im größten Umfang um den Abbau sozialer Dienste, die sich die Kommunen der armen DDR zum Nutzen ihrer Bürgerinnen und Bürger geleistet haben, z. B. zur Gewährleistung des Rechts auf einen Kindergartenplatz, den man sich heute offenbar nicht mehr leisten kann oder will.
Möglicherweise ist der Strukturwandel der Verwaltungen in Ostdeutschland noch nicht ganz abgeschlossen. Möglicherweise müssen auch Kindergartenplätze und damit Arbeitsplätze von Erzieherinnen abgebaut werden. Aber dann sollten doch bitte bei diesem Um- und Abbau der Verwaltung wenigstens die allgemeinen Regeln des Kündigungsschutzes und der Mitbestimmung gelten, die sonst auch im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik Deutschland gelten.
Herr Hirsch, Sie haben hier gesagt, daß man die Entscheidung den Ländern überlasse. Aber der Bundestag entscheidet darüber, daß in Ostdeutschland anderes Recht gilt als in Westdeutschland. Das ist doch ganz offensichtlich. Er erlaubt es den Ländern, aber er hat doch diese Entscheidung gefällt.
— Ja, Sie unterscheiden doch rechtlich, Sie machen doch diese Unterschiede, nicht ich!
Der Osten Deutschlands ist ein Reservat, in dem die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland nur eingeschränkt gilt, eine Art rechtsverdünnter Raum. Das war zunächst eine Entscheidung des Einigungsvertrages; dann haben wir das im Juni 1992 in diesem Hause verlängert. Verfassungsrechtliche Bedenken wurden beiseite geschoben.
Herr Koschyk spricht in diesem Zusammenhang von Abspecken, wenn Leute in die Arbeitslosigkeit oder in den Ruhestand geschickt werden. Ich halte das für eine unmenschliche Formulierung.
Jetzt wird zum zweitenmal verlängert. Alle, denen Arbeitnehmerinteressen auch in Westdeutschland etwas bedeuten, sollten sich sehr genau überlegen, wie sie sich zu diesem Gesetz verhalten.
Herr Dr. Heuer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hirsch?
Aber ja.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17043
Bitte, Kollege Hirsch.
Herr Kollege Heuer, Sie sprechen von einem „rechtsverdünnten Raum". Sie können doch nun wirklich an der Tatsache nicht vorbei, daß wir hier den einzig und allein verfassungsrechtlich legitimierten Vertretern in jedem einzelnen der östlichen Bundesländer die freie Entscheidung geben, wie sie mit der Kündigungsregelung umgehen wollen. Demokratischer kann man es doch nun wirklich nicht machen.
Herr Hirsch, ich habe nur gesagt, daß die Abweichung von der Grundsatzregelung für Ostdeutschland hier vorgenommen wird, und das halte ich für eine Verletzung des Gleichheitsgebotes. Wenn es hier nicht entschieden würde, hätten die ostdeutschen Länder eben nicht die Entscheidung. Insofern meine ich schon, daß die Entscheidung hier gefällt wird. Es gibt auch Beispiele aus anderen Bereichen, z. B. der Kultur, wo zunächst im Osten Einrichtungen beseitigt wurden und beseitigt werden konnten, weil sich im Westen keine solidarische Hand rührte, und wo jetzt — siehe Schillertheater in Berlin — im Westen weitergemacht wird.
Der Deutsche Beamtenbund hat vor einem unerträglichen Vertrauensverlust bei den Betroffenen und vor der Gefahr gewarnt, daß sich hier Vorbehalte gegenüber dem Rechtsstaat aufbauen. Ich kann das nur unterstreichen. Wir werden genau beobachten, wie sich die Landesregierungen, namentlich die SPD-geführte in Brandenburg — und dann vielleicht auch schon in Sachsen-Anhalt —, im Wahljahr verhalten werden.
Herr Koschyk hat gesagt, wir stehen erst am Anfang. Ich befürchte, es wird so weitergehen. Ostdeutsche sollen weiter Bundesdeutsche auf Probe sein in unablässiger Prüfung, ob sie geeignet sind und ob ihre Leistungen in der Anpassungsfortbildung — das ist im Osten ein gebräuchlicher Begriff wie Buschgeld — auch genügend sind.
Wir leimen das Gesetz entschieden ab.
Meine Damen und Herren, letzter Redner in dieser Debatte ist unser Kollege Dr. Wolfgang Ullmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kündigungsregelung des Einigungsvertrages war eine situationsbedingte Ausnahmebestimmung.
Wer nun miterlebt hat, Herr Hirsch, wie sich im Rechtsausschuß Ihre schöne Formel „aber bestimmt zum letztenmal" immer wiederholt und wie sich durch die Wiederholung von Ausnahmeregelungen Rechtsverschlechterungen einschleichen, der wird hier Sorgen haben und wird wie ich in dieser Sache meinen, die gesetzgeberische Hauptaufgabe muß — da hätte
ich eigentlich auf Ihre Zustimmung gerechnet — doch sein, daß endlich ein einheitliches deutsches Kündigungsrecht durchgesetzt wird.
Der Koalitionsentwurf leistet das nun leider nicht, sondern schiebt dieses Ziel abermals hinaus; maßvoll — das will ich gerne sagen —, aber er tut es eben. Das ist ja nun auch der Grund dafür, daß der Deutsche Beamtenbund ihn abgelehnt hat, übrigens mit Verfassungsbedenken. Wer das hört, der wird j a auch Sorgen kriegen, daß hier möglicherweise wieder eine Flut von Prozessen entstehen könnte. Ebenso tut es der Deutsche Gewerkschaftsbund.
Ich glaube, man sollte hier doch nicht nur auf die Innenminister — oder einige Innenminister — hören, sondern auch auf die Betroffenen, und sich dem Vorschlag des Deutschen Beamtenbundes, der ja in dem SPD-Antrag aufgegriffen wird, anschließen, eine Schutzklausel zugunsten derer, die nach dem 6. Mai 1990 in den öffentlichen Verwaltungsdienst eingetreten sind, aufzunehmen. Es stimmt, Herr Hirsch, was Sie über Stichtage gesagt haben; aber es gibt sinnvolle, und es gibt weniger sinnvolle. Der 6. Mai 1990 ist gewählt worden; da war die Kommunalwahl. Das halte ich immerhin für sinnvoll und bedenkenswert.
Wer also etwas meines Erachtens Nützliches tun will, der sollte diesen Vorschlag der Kolleginnen und Kollegen der SPD und des Deutschen Beamtenbundes unterstützen. Das würde, glaube ich, vielleicht nicht alle Probleme lösen, aber einer Lösung etwas näher bringen können.
Danke.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Gesetzentwurf zur weiteren Verlängerung der Kündigungsmöglichkeiten in der öffentlichen Verwaltung. Das sind die Drucksachen 12/6120 und 12/6308.
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/6310 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der SPD? — Die Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung und Schlußabstimmung.
Wie wir bereits zu Beginn der Debatte mitgeteilt haben, wünscht die Gruppe PDS/Linke Liste namentliche Abstimmung. Nach unserer Geschäftsordnung kann eine namentliche Abstimmung nur von einer
17044 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Vizepräsident Helmuth Becker
Fraktion oder von anwesenden fünf vom Hundert der Mitglieder, das sind 34 Abgeordnete, verlangt werden. Ich stelle daher die Frage: Wer unterstützt den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf namentliche Abstimmung? — Das sind zwölf Mitglieder des Hauses. Damit wird die Schlußabstimmung nicht namentlich durchgeführt.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD und der beiden Gruppen in dritter Lesung angenommen.
Meine Damen und Herren, interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. sowie der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/6314 zur Winterhilfe für Bosnien zu erweitern. Dieser Antrag soll zusammen mit dem Tagesordnungspunkt 8 in verbundener Beratung behandelt werden. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
— Ich bitte um Ruhe und diejenigen, die sich auf dem Mittelgang befinden, die Plätze einzunehmen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 8 und den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Gerd Poppe, Vera Wollenberger, Werner Schulz (Berlin) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zur aktuellen Situation im Krieg in Bosnien-Herzegowina
— Drucksachen 12/5729, 12/6206 — Berichterstattung:
Abgeordnete Christian Schmidt Karsten D. Voigt (Frankfurt)
Ulrich Irmer
Gerd Poppe
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und F.D.P. sowie der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Winterhilfe für Bosnien — Drucksache 12/6314 —
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist dafür eine gemeinsame Aussprache von einer Stunde vorgesehen. Sind Sie mit dieser Beratungszeit einverstanden? — Dies ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem dem Kollegen Christian Schmidt das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wieder einmal befaßt sich der Deutsche Bundestag mit der Situation in Bosnien-Herzegowina, und noch immer nicht ist das Wichtigste geschafft: der Frieden und die Möglichkeit für die Millionen von Menschen in Bosnien, von der täglichen Angst ums Überleben und den Bedrohungen durch Hunger, Kälte und Granaten befreit zu sein. Die Hoffnungen, die wir alle uns im Sommer dieses Jahres im Hinblick auf eine Lösung am Genfer Verhandlungstisch gemacht haben, sind leider unerfüllt geblieben.
Unter dem Druck des Winters wird humanitäre Hilfe noch wichtiger. Alle humanitäre Hilfe aber stellt keine Lösung dar. Sie stellt genauso wenig eine Lösung dar wie die Vorstellung — welcher Kriegspartei auch immer —, militärisch sei dieser Konflikt zu gewinnen. Nicht nur, daß Aggressoren nicht belohnt werden dürfen, auch die vielfältigen Verflechtungen der Volksgruppen in geographischer Hinsicht machen eine Verhandlungslösung unabdingbar. Darüber besteht in Europa wohl auch Konsens.
Dennoch beschleicht mich Unbehagen, wenn ich hiervon rede, hat doch all diese schöne Erkenntnis bisher nicht zu einer Beendigung der Kämpfe geführt. Das Embargo gegen Serbien zeigt zwar seine wirtschaftlichen Wirkungen, militärisch sind die Serben, d. h. die Republik Serbien und die bosnischen Serben, jedoch nach wie vor gut gerüstet. So lange, bis die letzte Kugel aus den militärischen Vorräten der Tito-Armee verschossen und das letzte Pulver verbraucht ist, können wir, können vor allem die Menschen dort nicht warten.
Deswegen ist die deutsch-französische Initiative zur Fortsetzung der Genfer Verhandlungen und zum Erreichen eines erfolgreichen Abschlusses dieser Verhandlungen richtig.
Ich sage dies, obwohl es mir im Inneren widerstrebt, Serbien Zugeständnisse beim Embargo zu machen, solange der Konflikt nicht vollständig beendet ist. Jedenfalls muß und darf nicht eine Festschreibung von Gebietsverzichten mit dem Bajonett erzwungen werden. Im Vordergrund muß aber die Rettung von Menschenleben stehen. Ich glaube, daß dies mit der gemeinsamen Initiative der Europäischen Union zum jetzigen Zeitpunkt am ehesten zu erreichen ist.
Letztendlich liegt es jedoch an den Serben und auch an den anderen Konfliktparteien, eine Bereitschaft zum Einlenken zu zeigen. Ich müßte lügen, wenn ich sagen würde, ich hätte keinen Zweifel daran, daß die Serben zu solch einem substantiellen Einlenken bereit sind.
Die Belgrader Zeitung „Politika" hat am 8. November eine sogenannte Präsentation eröffnet, die in Zusammenarbeit mit — wie es dort heißt — „einigen besonderen wichtigen staatlichen und akademischen Institutionen" entstanden ist. Dieser sogenannten Präsentation folgt eine Landkarte, die den großserbischen Vorstellungen über „mit dem Bajonett gezogene Grenzen" entsprechen soll. Die Karte stellt Bosnien-Herzegowina in einem Ausmaß als serbisches Gebiet dar, das die bisher diskutierten Ambitionen Serbiens wieder weit übersteigt. Kroatien reduziert sich auf dieser Karte unter anderem um bedeutende Teile Dalmatiens und weist ihm neben einigen kleinen dalmatinischen Küstenstreifen um Split und Dubrovnik lediglich ein Staatsgebiet etwa von der Größe Sloweniens rings um Zagreb zu. Von diesen
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17045
Christian Schmidt
Grenzziehungsträumen muß sich Herr Milosevic wohl vorher verabschieden.
Auch die zwischenzeitlich eingetretene Situation, daß nahezu jeder gegen jeden kämpft nach dem Motto: Rette sich wer kann, ändert nichts an der Verantwortlichkeit Serbiens dafür, daß es mangels politischer Fähigkeiten mit dem primitivsten und menschenverachtendsten aller Mittel seine Interessen auf Kosten anderer durchzusetzen erstrebt hatte und immer noch erstrebt.
Immer noch werden die Hoffnungen auf eine koordinierte gemeinsame Aktion der Europäer gerichtet; ich hatte dies bereits betont. Die Beschlußfassungen in der KSZE in Rom von dieser Woche sind hilfreich, aber nicht entscheidend. Entscheidend wird sein, daß die im Rahmen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union nun als gemeinsame Aktion definierte Bosnienpolitik genügend Nachhaltigkeit erhält, um die Genfer Verhandlungen zu einem Erfolg zu führen.
Moral allein hilft nicht weiter, weil die zu Mahnenden für sich durch ihre Taten jede moralische Kategorie abgestreift haben — und ist der Ruf erst ruiniert, so kämpft es sich offensichtlich gänzlich ungeniert.
Die Europäische Union muß auch die Initiative der Administration gewisser Gebiete durch die Europäer offensiv aufnehmen und verhandeln. Hierzu gehört Mostar, ebenso eine Administration von Sarajevo durch die Vereinten Nationen. Es ist aber eine Conditio sine qua non, daß diese Administrationen dann auch eine Durchsetzungsfähigkeit haben und nicht nur eine Fassade bilden, hinter der in Wahrheit andere agieren.
Deswegen fordern wir die Europäische Union auf, sich bei den Genfer Verhandlungen ganz entschieden nicht nur für die Sicherung der humanitären Hilfe, sondern darüber hinaus für eine Beendigung der Kriegshandlungen in den nächsten Tagen einzusetzen und wenigstens als Mindestvoraussetzung eine Aussetzung der Konflikthandlungen, einen Waffenstillstand über den Winter hinaus zu erreichen.
Erfreulicherweise hören wir heute aus Genf, daß sich die Atmosphäre zwischen Moslems und Serben verbessert haben soll und daß man mit Zuversicht in die Verhandlungen am 15. Dezember gehen wird. Atmosphäre allein bewegt noch nichts — die Bereitschaft zur Konfliktlösung bleibt entscheidend. Es ist zu hoffen, daß trotz der vorhin zitierten serbischen Position und auch mancher Äußerungen aus dem bosnischen und kroatischen Bereich die Initiativen der EU zu einem Erfolg führen.
In diesem Zusammenhang darf sich die Europäische Union aber keine offenen Flanken leisten. Sie muß insbesondere deutlich machen, daß eine Ausdehnung serbischer Expansionspolitik oder Diskriminierungspolitik gegenüber Minderheiten im Kosovo und auch im benachbarten Mazedonien keine Chance haben darf.
Auch muß die griechische Regierung deutlich davor gewarnt werden zu glauben, sie könne im europäischen Verbund ihr eigenes Süppchen kochen. Die griechischen Politiker, insbesondere die Regierung,
sollten ihrer Bevölkerung deutlich machen, daß vom benachbarten kleinen Mazedonien eine Gefahr für die territoriale Integrität Griechenlands nicht ausgeht.
Sollte jemals solch eine Gefahr auch nur ansatzweise und theoretisch erwartet werden können, stünde die Europäische Union, aber auch die NATO in klarer Linie.
Aber, meine lieben griechischen Kolleginnen und Kollegen: Zündeln Sie nicht. Rufen Sie keine Gefahr herbei, die nicht besteht, und beschwören Sie keine Gefahr herauf, wo manche in Ihrem Land sie gerne hätten. Besinnen Sie sich der Verantwortung, die Sie im ersten Halbjahr 1994 für die gesamte Europäische Union zu übernehmen haben. Die Präsidentschaft der Europäischen Union zu übernehmen heißt, berechenbar zu sein. Wir werden in diesem Hause auf diese Frage bei der Diskussion über die WEU-Assoziierung Griechenlands sicherlich noch zurückkommen.
Zurück zur aktuellen Problematik der humanitären Versorgung. Ich bin definitiv dafür, daß Hilfskonvois auch militärisch gesichert und verteidigt werden. Wenn wir nicht einmal dies schaffen, machen wir uns mitschuldig. Dieses Anliegen ist uns allen so wichtig, daß alle Fraktionen und die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sich gemeinsam den ursprünglichen Antrag des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN vorgenommen haben, um ihn auszuweiten, der aktuellen Situation anzupassen und in einer gemeinsamen Initiative die breite Unterstützung des Deutschen Bundestags als Vertretung aller Bürger deutlich zu machen.
Wir wollen dies durch einen weiteren gemeinsamen Antrag zur Winterhilfe in Bosnien unterstreichen. Bei dieser Gelegenheit müssen und wollen wir allen Bürgern, die sich — in welcher Form auch immer — zur Unterstützung der notleidenden Menschen bereit erklären, Dank abstatten. Ich weiß aus eigener Kenntnis, und viele in diesem Hause wissen es sicherlich ebenso, wieviel Engagement hinter solchen Initiativen steht: Geld wird gesammelt, Päckchen werden gepackt, Carepakete werden gepackt, Lkws werden zur Verfügung gestellt, Kinder, Senioren und Betriebe basteln für ihre Weihnachtsfeiern und sammeln für die Menschen in Bosnien. Aber auch den Soldaten der Bundeswehr, die Nacht für Nacht und soweit möglich Tag für Tag Hilfsgüter nach Bosnien fliegen, sei für ihren Einsatz, der nun wahrlich nicht ohne Gefahren ist, gedankt.
Wir unterstützen und begrüßen diese Initiativen. Sie unterstreichen auch, daß jeder für sich schon eine kleine Möglichkeit hat, mit seinen meist bescheidenen, aber doch hilfreichen Mitteln das Überleben der Menschen zu sichern.
Die Ausdehnung der Finanzmittel für die humanitäre Hilfe durch KSZE, Europäische Union und Bundesregierung ist das eine. Die durch und durch humanitäre und christliche Gesinnung, die aus der großen Hilfsbereitschaft unserer Mitbürger erkennbar wird,
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Christian Schmidt
eines der wenigen Zeichen der Hoffnung und Ermutigung für die Zukunft, ist das andere.
Ich möchte diesen heutigen Tag nutzen, von dieser Stelle aus an alle Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik Deutschland zu appellieren: Bitte vergessen Sie die Menschen in Bosnien nicht. Wenden Sie sich nicht von den Menschen ab, auch wenn die Politik mit ihren Lösungsansätzen mehr oder weniger versagt hat. Helfen Sie mit, eine bessere europäische Zukunft, die wir alle für uns in Anspruch nehmen, auch nach Bosnien dringen zu lassen. Ich sagte: Humanitäre Hilfe ist nicht alles, aber sie ist ein Wesentliches in diesem schlimmen Winter, der in Bosnien bevorsteht. Für dieses Engagement haben wir uns alle schon jetzt bei Ihnen recht herzlich zu bedanken.
Als nächster spricht der Kollege Dr. Eberhard Brecht.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die letzten Worte des Kollegen Schmidt führen mich zu einer noch mehr philosophischen Betrachtung über die Frage des Versagens der Politik. Trotz der Politikverdrossenheit hat die deutsche Öffentlichkeit den Glauben an die Omnipotenz der Politik, die sie weiß Gott nicht hat. Konsequenterweise wird die Impotenz der Politik, die Herr Kollege Schmidt eben beschrieben hat, gerade im Umgang mit dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien kritisiert und jedes Mitgefühl von Politikern, jede Trauer, jede Wut über die Greuel in Bosnien-Herzegowina als Zynismus gegeißelt.
Zuweilen versteigt sich ein Kritiker zu der Behauptung, daß Deutschland oder die EG, die KSZE oder die UNO die Schuld am Morden, am Quälen, am Hungern, am Frieren in Bosnien-Herzegowina trügen, als stünde nicht hinter dem Desaster an der Adria jene irrationale Ideologie,
für die eigene Ethnie einen homogenen Siedlungsraum gewaltsam durchsetzen zu müssen.
Sicherlich muß man den europäischen Regierungen Fehler und vor allem Unterlassungen vorhalten. Noch unerträglicher sind jene, die ihre moralische Überlegenheit über die politisch Verantwortlichen durch die eigensüchtige Benutzung von Opfern zu dokumentieren suchen.
Die Europäische Union hat in den letzten Tagen einen ihrer früheren Fehler korrigiert. Das gegenseitige Mißtrauen gegenüber einer vermeintlich interessenbestimmten Politik des Nachbarn wurde abgelöst durch eine gemeinsame Verhandlungsstrategie in Genf. Das Auswärtige Amt hat hieran einen erheblichen Anteil, was zweifelsohne die Würdigung dieses Hauses und aller Fraktionen verdient.
Einheitliche Friedensbemühungen der EU sind in der Tat dringend erforderlich. Europas Krebsgeschwür auf dem Balkan könnte weitere Opfer fordern, wenn sich erst in anderen Regionen Metastasen des im ehemaligen Jugoslawien etablierten Werteverfalls gebildet haben: militärische Interessendurchsetzung statt Konfliktlösung auf dem Verhandlungsweg, Herstellung ethnisch homogener Gebiete durch Vertreibung statt Gewährung von Minderheitenrechten, hemmungsloser Nationalismus statt nachbarschaftlicher Beziehungen. Ein sich um Vereinigung bemühendes Europa ist zum Scheitern verurteilt, wenn es die Charta von Paris praktisch aufgibt.
Angesichts der grauenhaften Ereignisse des Balkankrieges müssen wir uns eingestehen: Die Europäische Union droht zum moralischen und politischen Verlierer des Konflikts zu werden, weil sie durch Uneinigkeit und Unentschlossenheit viel zu lange zugelassen hat, daß in Europa die elementarsten Menschenrechte unter den Militärstiefeln zertreten werden.
Es ist jedoch nicht möglich, moralische Rigorosität zur einzigen Richtschnur politischen Handelns zu erheben. Wir stehen nämlich auch in der Gefahr, daß die nur als Absichtserklärungen fixierten Normen an der Macht des brutal Faktischen zerschellen und inflationär verkommen. In unserem gemeinsamen Antrag verlangen wir gleichberechtigte Verhandlungen aller Konfliktparteien und die Nichtanerkennung von gewaltsamen Gebietseroberungen. Doch stellen der Vance-Owen-Plan oder die „Invincible"-Abmachungen nicht gerade jene Belohnung von gewaltsamen Grenzverletzungen dar, die wir hier und andernorts verbal zurückweisen? Wenn die bosnischen Muslime heute bereit sind, einer Weiterverhandlung auf der Grundlage der „Invincible"-Gespräche zuzustimmen, sind sie sicherlich realitätsnäher als manche unserer Anträge.
Eher pragmatisch sieht auch der deutsch-französische Vorschlag aus: ein Stück — genauer gesagt: 3,7 % — Land für die muslimischen Bosnier gegen eine Embargolockerung. Nur, wer garantiert die Unumkehrbarkeit dieses Eigentumswechsels? Schon jetzt, während der Verhandlungen, verstärken die Serben ihre militärischen Aktionen, insbesondere durch den Beschuß von Teocak, Zvornik und Tuzla, um weitere Gebietsansprüche gewaltsam durchzusetzen.
Das Zustandekommen und insbesondere der Verlauf der Verhandlungen in Genf geben jenen recht, die militärische Lösungsversuche als untaugliches Mittel ablehnten und statt dessen auf das Embargo in seiner Dauerwirkung setzten. Sicherlich kann angesichts der enormen Bevorratung der serbischen Armee mit Treibstoff und Munition keine Schwächung der militärischen Schlagkraft der serbischen Milizen erwartet werden. Im Gegenteil: Die Umsetzung der Sicherheitsrats-Resolution 757 führte zunächst einmal zu einer relativen und auch absoluten Schwächung der sich verteidigenden Moslems. Nun aber wurde die serbische Seite angesichts der wirtschaftlich katastrophalen Lage Restjugoslawiens zu einer bis dahin nicht gekannten Beweglichkeit bei den Verhandlungen gezwungen. Die Europäische Union ist deshalb gut beraten, dieses einzige Druck-
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Dr. Eberhard Brecht
mittel, das uns überhaupt zur Verfügung steht, nicht leichtfertig aus der Hand zu geben, sondern nur schrittweise gegen substantielle Verhandlungserfolge abzubauen.
Hauptkonfliktpunkte für die geplante Wiederbelebung der Londoner Konferenz aber bleiben die serbischen Gebietsabtretungen, der Zugang zum Meer für die moslemische Teilrepublik bei Neum, das Schicksal der Stadt Sarajevo, die vom Kollegen Schmidt schon benannte Einrichtung des UNO-Protektorats in Sarajevo und des Protektorats der EU in Mostar, eine Einigung über die Krajina und — last not least — die Zukunft des Kosovo. Ich kann nur davor warnen, ein abschließendes Friedensabkommen ohne eine Regelung für den Kosovo vorzusehen.
Wenn dem Wunsche von Milosevic folgend die Europäische Union den Kosovo nur als inneres Problem Serbiens betrachtet, also diesen Konfliktherd bei weiteren Verhandlungen herausläßt, kann eine Ausdehnung des Krieges im ehemaligen Jugoslawien nicht ausgeschlossen werden. Ich erinnnere hier an einschlägige Beistandspakte.
Meine Damen und Herren, insbesondere verwundert mich der bislang gepflegte Umgang der Europäischen Union mit der kroatischen Seite. Da kann Präsident Tudjman reguläre kroatische Truppen zum Kampf nach Bosnien-Herzegowina führen, sich mit den Serben gegen die Moslems verbünden, Bobans kroatische Milizen unterstützen, barbarische Menschenrechtsverletzungen wie die von Stupni Do dulden und schließlich humanitäre UNPROFOR- Hilfstransporte und die Transporte von Schwerverwundeten an der Weiterfahrt hindern, ohne daß dagegen ernsthaft vorgegangen wird.
Dabei hätte die Bundesregierung durch die mögliche Streichung der ca. 400 Millionen DM Wirtschaftshilfe ein Mittel in der Hand, um die Durchfahrt von Hilfstransporten durch kroatisch kontrolliertes Gebiet zu erzwingen. Natürlich können wir die bosnischen Flüchtlinge in Kroatien nicht zu Geiseln machen, indem die von Deutschland bezahlten 84 Millionen DM humanitärer Hilfe reduziert oder gestrichen werden. Aber die erstgenannte Summe betrifft nicht humanitäre Hilfsleistungen.
Ich kann auch kaum nachvollziehen, warum Präsident Tudjman im Tausch für weitere Verhandlungskompromisse zusätzliche Wirtschaftshilfen durch die EU offeriert werden.
Meine Damen und Herren, um die Chance für ein Überleben der Menschen in Bosnien-Herzegowina in diesem Winter zu erhöhen, müssen wir Europäer weitaus mehr Anstrengungen als bisher unternehmen. In diesem Zusammenhang ist es zu begrüßen, daß die Bundesregierung nun eine zweite TransallMaschine für den Abwurf von Hilfsgütern über den abgeschnittenen bosnischen Enklaven zur Verfügung stellt. Ich möchte mich hier ausdrücklich dem Dank an
die Soldaten anschließen, den Kollege Schmidt eben schon ausgesprochen hat.
Wirksamer ist natürlich der Transport von Nahrungsmitteln auf dem Landwege. Die Niederländer und die Dänen haben sich hierbei mutig gezeigt, indem ihren Blauhelmsoldaten für die Hilfstransporte die Möglichkeit der „mission defense" eingeräumt wurde. Wenn zusätzlich die Militärs der Kriegsparteien — wie zugesagt — geschützte Korridore für humanitäre Hilfskonvois garantieren würden, könnten bislang unberücksichtigte Städte und Dörfer mit Lebensmitteln, Brennmaterial und Medikamenten versorgt werden. Auf deutscher Seite sollten die für den UNHCR und das Internationale Rote Kreuz erforderlichen 10 Millionen DM für weitere humanitäre Hilfe beschafft werden.
In dem vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN initiierten Antrag fordern wir gemeinsam die Bundesregierung auf, den für die Absicherung des Projektes „Deutscher Konvoi" notwendigen Betrag im Haushalt 1994 festzuschreiben. Auf diese Weise könnten die von vielen Bundesbürgern gespendeten Hilfsgüter die Opfer des Krieges auch erreichen.
Insgesamt ist die Hilfsbereitschaft von Privatpersonen und NGOs in Deutschland beachtlich. Um so mehr muß es befremden, wenn private Hilfspakete für die jugoslawische Bevölkerung neuerdings durch einen neuen hohen Paketpreis der Post behindert werden. Herr Minister Bötsch sollte seinen Post-Reformeifer nicht so weit treiben, daß er darüber solch nebensächlich erscheinende Probleme vergißt.
Besonders wichtig wäre die von meinem Kollegen Duve immer wieder geforderte Öffnung des Flughafens von Tuzla. Die Bundesregierung wird aufgefordert, auf der Wiederinbetriebnahme des Flughafens von Tuzla gegenüber der serbischen Verhandlungsseite, insbesondere gegenüber Herrn Karadzic, zu bestehen. Immerhin könnte man über diesen Flughafen den dort lebenden 800 000 Menschen eine bessere Überlebenschance eröffnen.
Trotz aller positiv zu bewertenden humanitären Anstrengungen Europas bleibt doch ein schwerer Schandfleck zu beklagen: Wie gehen wir auf unserem Kontinent mit den Kriegsflüchtlingen in Europa um? Tragen einige unserer westeuropäischen Nachbarn durch ihre rigide Kontingentierung bei der Flüchtlingsaufnahme nicht dazu bei, daß sich bei den bosnischen Moslems nun endgültig ein Gefühl der Zurückweisung und des Verrats breitmacht?
Als ein exemplarisches Beispiel menschlicher Verbitterung möchte ich ein paar Sätze aus einem Aufsatz des moslemischen Schriftstellers Dzevad Karahasan zitieren, der über seine Heimatstadt Sarajevo schreibt — ich zitiere —:
Seit eineinhalb Jahren also liegt nun vor unser aller Augen eine Stadt im Sterben, die in das größte Konzentrationslager aller Zeiten verwandelt wurde. Eine Stadt, die nicht nur ihren Einwohnern, sondern auch Menschen, die nur vor-
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Dr. Eberhard Brecht
übergehend dort lebten, ans Herz gewachsen ist. Eine Stadt, deren Identität vor allem durch innere Offenheit geprägt ist, die sie ihrem multikulturellen Charakter verdankt, und die dank dieser inneren Offenheit imstande war, jeden aufzunehmen und jedem im buchstäblichen Sinn des Wortes HEIMAT zu sein .. .
Während ich das langsame Sterben meiner Stadt mit eigenen Augen ansehen mußte, tröstete ich mich mit dem oft gelesenen Satz, daß eine Stadt, welche die Menschen lieben, unsterblich sei. Ich tröstete mich am Beispiel antiker Städte, die auch dann noch weiterlebten, als ihre Bewohner den Ort bereits verlassen hatten, an dem die Stadt einst physisch existiert hatte . . .
Wichtig ist es also, das Herz Sarajevos zu retten, wichtig ist es, seine Multikulturalität in die Fremde mitzunehmen und auch seine innere Offenheit . . .
Meine Hoffnung währte jedoch nicht lange, da es sich zeigte, daß niemand Unglückliche um sich duldet .. .
Dieselben Staaten, die von den Bürgern BosnienHerzegowinas ein Bekenntnis zum Zusammenleben in einem multinationalen und multikulturellen Staat gefordert hatten, die deren Staat nach einem Referendum, bei dem sich 65 % der Bevölkerung in diesem Sinne ausgesprochen hatten, anerkannten, blockieren fast jede Initiative, mit der man diesen unglücklichen Menschen helfen möchte; dieselben Staaten, die jeden Versuch einer Hilfe für Bosnien-Herzegowina unterbinden, verbieten Menschen mit bosnischem Paß das Betreten ihres Territoriums.
Dieses sind die Worte eines moslemischen Schriftstellers.
Leider beteiligt sich offenbar auch die Vertretung Bosniens in Deutschland an einer flüchtlingsfeindlichen Politik. Sie verlangt im Regelfall für einen neuen Paß 400 DM, eine Summe, die ein Flüchtling kaum aufzubringen vermag. Die Bundesregierung sollte auf die bosnischen Behörden einwirken, damit diese Praxis nicht fortgesetzt werden kann.
Meine Damen und Herren, in Genf wird wieder verhandelt. Diese Tatsache allein ist keinesfalls ein Fortschritt an sich, so wie das Lord Owen und Stoltenberg meinen. Wie oft mußte die Welt erfahren, daß langwierige Verhandlungsrunden zur Strategie der serbischen Seite gehörten: möglichst große Landgewinne erreichen und gleichzeitig den Zorn der Völkergemeinschaft begrenzen, indem man ja prinzipiell Verständigungsbereitschaft signalisiert! Bei dieser Verhandlungsrunde, die am heutigen Tag in Genf unterbrochen wurde, ist aber dennoch Hoffnung angebracht. Die Verständigung über eine völlige Bewegungsfreiheit von UNPROFOR, UNHCR und dem Internationalen Roten Kreuz und die prinzipielle Akzeptanz der Verhandlungsgrundlage der Europäischen Union stellen einen erheblichen Fortschritt dar. Doch werden die Gespräche in Genf und London
wirklich zu einem Frieden führen? Plausible Wahrscheinlichkeitsüberlegungen sprechen eher dagegen. Doch wer jedesmal das Licht am Ende des Tunnels als zu schwach befindet, der wird nie ins Freie gelangen.
Ich bedanke mich.
Jetzt spricht der Kollege Burkhard Zurheide.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die F.D.P.-Bundestagsfraktion begrüßt die deutsch-französische Initiative, die zur Wiederaufnahme der Gespräche zur Verbesserung der humanitären Situation in Bosnien-Herzegowina geführt hat. Niemand allerdings kann eine Garantie dafür übernehmen, daß am Ende der wieder aufgenommenen Gespräche tatsächlich der langersehnte Frieden steht. Aus humanitären und politischen Gründen wäre es aber unverzeihlich gewesen, wenn diese Chance nicht ergriffen worden wäre.
Der Initiative haben sich alle zwölf Mitgliedsländer der Europäischen Union angeschlossen. Vielleicht stellt diese Initiative die letzte Chance für die Bürgerkriegsparteien dar, den Krieg, den militärisch keine der Parteien gewinnen kann, zu beenden.
Das, was die Zivilbevölkerung in den betroffenen Gebieten erlitten hat und täglich von neuem erleidet, ist unerträglich. Der bevorstehende Winter würde zu weiteren unsagbar schweren Leiden führen, wenn dieser Krieg nicht endlich aufhört. Natürlich ist es beschämend, daß ein solch grausamer und schmutziger Krieg mitten in Europa, im Herzen Europas stattfindet. Ja, es ist beschämend, daß er überhaupt stattfinden kann. Aber es hilft nichts. Es gibt diesen Krieg, und er konnte bis zum heutigen Tage nicht beendet werden.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion dankt Bundesaußenminister Kinkel ausdrücklich dafür, daß er trotz ungewissen Ausgangs diesen humanitären Aktionsplan initiiert hat und dadurch zumindest Bewegung in die seit zwei Monaten völlig festgefahrene Situation gebracht hat.
Dies ist im übrigen auch ein Verdienst der deutschen Diplomatie, die still, aber sehr effizient einen entscheidenden Beitrag zur Wiederaufnahme der Gespräche geleistet hat. Die Europäische Union hat damit den Bürgerkriegsparteien eine weitere Tür, die schließlich zum Frieden führen kann, geöffnet.
Die Europäische Union kann die Bürgerkriegsparteien nicht zwingen, diese Tür jetzt auch zu durchschreiten. Sie hat aber den Beteiligten deutlich gemacht, daß dies die letzte Tür sein könnte. Die Beendigung der Kriegsleiden und schließlich des Krieges selber ist ein quälender, mühsamer und natürlich viel zu langsam verlaufender Prozeß. Er entwickelt sich nur Schritt für Schritt, und mit Rück-
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Burkhard Zurheide
schlägen muß ständig gerechnet werden. All die hämischen und besserwisserischen Äußerungen in den letzten Tagen, die angesichts dieser neuen Initiative gefallen sind, mögen in einem gewissen Sinne populär sein. Jeder, der meint, man solle die Menschen im früheren Jugoslawien doch besser sich selber überlassen, weil man ohnehin nichts bewirken könne, aber auch all diejenigen, die in völlig undifferenzierter Schwarzweißmalerei einer finalen Militäraktion das Wort reden, obwohl sie wissen oder wissen müßten, daß es eine solche Lösung in Wirklichkeit nicht gibt, mögen hoffentlich mit sich selber im reinen sein;
der entsetzlich leidenden Bevölkerung in den Bürgerkriegsgebieten wird dadurch aber in keiner Weise geholfen.
Die deutsche Außenpolitik — wertorientiert und ihre Verantwortung erkennend — tut mit dieser Initiative genau das, was richtig und gegenwärtig möglich ist, damit dieses Elend mitten im Herzen Europas bald ein Ende findet. Die Erkenntnis, daß sich der Konflikt von außen nicht militärisch lösen läßt, fällt angesichts der Zustände im früheren Jugoslawien schwer. Vorrang muß jetzt eine schnelle Verbesserung der humanitären Situation haben. Dann muß eine politische Lösung angestrebt werden.
Ein jeder, der sich dieser Erkenntnis nicht verweigert und sich gleichzeitig der Mühe unterzieht, statt starker Worte Schritt für Schritt und mit Festigkeit vorzugehen, und damit starke Taten unternimmt, setzt sich der Gefahr aus, fahrlässig oder auch vorsätzlich mißverstanden zu werden. Er kann und muß dies aber ertragen; denn er weiß, daß dies angesichts nicht vorhandener Alternativen der einzige verantwortbare Weg ist, die Leiden für die Bevölkerung zu beenden und schließlich den Frieden doch herbeizuführen.
Im früheren Jugoslawien sind entsetzliche Dinge geschehen. Es hat die widerwärtigsten Kriegsverbrechen gegeben. Keine Seite kann freigesprochen werden. Dies bedeutet nicht, daß in Vergessenheit gerät oder geraten darf, wer der Aggressor in diesem Krieg war, von dem alles ausgegangen ist.
Sollte der von der Europäischen Union vorgelegte Aktionsplan von den Bürgerkriegsparteien angenommen werden, so sollten wir uns darüber im klaren sein, daß Deutschland bei der Implementierung mitwirken muß.
Es wird unsere politische und moralische Verpflichtung sein, all die Leistungen zu erbringen, zu denen wir rechtlich und tatsächlich imstande sind. Eine schrittweise Suspendierung der Sanktionen gegenüber Serbien kann und wird natürlich erst dann erfolgen, wenn die Serben ihre militärischen Kräfte vollständig aus dem dann moslemischen Gebiet abgezogen haben. Es ist schon verwunderlich, daß dieser Punkt in den letzten Tagen Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzungen war.
In Wirklichkeit wird doch nichts anderes als der Sanktionsbeschluß des Sicherheitsrates in die Praxis
umgesetzt. Die beschlossenen Sanktionen stellen doch ein Druckmittel zur Erzwingung bestimmter Verhaltensweisen dar. In der Logik eines Druckmittels liegt es, daß seine zunächst schrittweise, dann endgültige Rücknahme erfolgt, wenn das Verhalten, das erzwungen werden soll, an den Tag gelegt wird. Wäre dies nicht so, so verlören Sanktionen ihren Charakter als Druckmittel und würden untauglich.
Mit der Suspendierung von Sanktionen, für die zunächst noch die Voraussetzungen geschaffen werden müßten, ginge überhaupt nichts verloren: Der Sanktionsbeschluß selbst bliebe nämlich bestehen.
Meine Damen und Herren, die F.D.P.-Bundestagsfraktion begleitet die Bemühungen des deutschen Außenministers mit voller Unterstützung. Man mag es drehen und wenden, wie man will: Die KinkelJuppé-Initiative stellt die einzige verantwortbare Möglichkeit dar, sofort wirksam humanitär zu helfen und den Krieg durch Verhandlungen schließlich vielleicht doch noch zu beenden. Euphorie wäre völlig fehl am Platze. Selbst vor Optimismus sollten wir uns angesichts der Umstände hüten. Wir können nur inständig hoffen und unseren Beitrag dazu leisten, daß diese Initiative Erfolg haben wird.
Vielen Dank.
Nun erhält Gerd Poppe das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich stimme Außenminister Kinkel zu, wenn er sagt, daß in den gerade wieder angelaufenen Genfer Verhandlungen „die humanitäre Problematik absolut im Vordergrund stehen müsse".
Zustimmen kann ich auch der Aussage, daß das Leben der Millionen von Hunger und Kälte bedrohten Menschen durch humanitäre Hilfe allein nicht mehr zu retten ist, sondern daß in Verhandlungen nach einer politischen Lösung gesucht werden muß.
Die westeuropäische Gemeinschaft muß sich allerdings fragen lassen, wieso sie wochenlang in Resignation und Erstarrung verharrte, ehe es zur deutschfranzösischen Initiative kam. Schließlich ist seit langem bekannt, welch schreckliche Folgen der Winter für die belagerten und von jeder Versorgung abgeschnittenen Bosnier haben würde.
So begrüßenswert der Versuch der Minister Kinkel und Juppé auch sein mag, so ist doch nicht zu übersehen, daß er mit den Hypotheken einer insgesamt fehlerhaften EG-Politik belastet ist. So ist neben dem üblichen Quentchen Hoffnung, das wir bewahren wollen, trotz des nun erreichten Konsenses der Zwölf wohl eher Skepsis angebracht.
Nach der Erfahrung mit der bisherigen Verhandlungsführung kann das Angebot der schrittweisen Rücknahme von Sanktionen gegen Serbien leicht als De-facto-Anerkennung gewaltsam veränderter Grenzen, als Belohnung der Aggressoren mißverstanden werden. Erwartungsgemäß verbuchen Karadzic und Milosevic das Angebot der Europäischen Union als
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Gerd Poppe
Erfolg für sich. Während die ohnehin schwache demokratische Opposition in Serbien weiter vergeblich auf Unterstützung westlicher Regierungen wartet, nimmt der serbische Präsident die Wahlkampfhilfe der Europäischen Union gelassen entgegen, um sogleich die sofortige und totale Aufhebung der Sanktionen zu verlangen. Nicht genug damit: Seine Genfer Verhandlungspartner müssen auch noch die Zumutung ertragen, daß Milosevic vom „Völkermord an den Serben" spricht.
Wenn sich die Europäische Union dann auch noch unaufgefordert die britische Position zu eigen macht, jede militärische Drohung für den Fall des Nichteinlenkens der serbischen Seite weit von sich zu weisen, ist das politische Scheitern einmal mehr zu befürchten.
Das bisherige Ergebnis besteht darin, daß Milosevic die Verhandlungen als sehr konstruktiv bezeichnet und abreist. Währenddessen gehen die Kämpfe und Vertreibungen weiter. Zusagen der serbischen und der kroatischen Seite, die Hilfskonvois endlich passieren zu lassen, werden nach Belieben gebrochen. Nur ein Drittel der Versorgungslieferungen kommt bei den Betroffenen an.
Die hungernde und frierende bosnische Bevölkerung bleibt Geisel der hofierten Kriegsverbrecher. Jene können inzwischen auch unbehelligt wieder Kampfhubschrauber, nach einigen Informationen sogar Kampfflugzeuge einsetzen, als gäbe es kein Flugverbot und keine Flugüberwachung.
Der Bruch ausnahmslos aller bisherigen Vereinbarungen und Waffenstillstände hat gezeigt, daß sie das Papier nicht wert waren, auf dem Lord Owen sie unterzeichnet hat. Solange sie nur auf dem Papier stehen, wird sich auch in Zukunft nichts daran ändern.
Falls es nun in Genf doch noch gelingt, einen von allen Seiten unterzeichneten Vertrag auszuhandeln, hat dieser nur Erfolgsaussichten, wenn seine Implementierung auch durchgesetzt wird.
: So ist es!)
Zu Recht verlangt der bosnische Präsident Internationale Garantien für den Bestand des verbleibenden Teilstaats einschließlich der Versorgungswege. Es ist aber trotz früher abgegebener Erklärungen mehr als zweifelhaft, ob Westeuropa und die USA zur Übernahme dieser Garantien einschließlich der damit verbundenen Konsequenzen bereit sind.
So zurückhaltend die Aussichten auf eine baldige Beendigung des Krieges auch bewertet werden müssen, die zweifellos unverzichtbaren Verhandlungen dürfen nicht zu einer vorzeitigen Aufgabe der Sanktionen führen, wobei nicht nur die Sanktionen gegen Serbien angesprochen werden sollen, sondern — ich schließe mich da Herrn Brecht an — zum wiederholten Mal auch die Erhöhung des Druckes gegenüber Kroatien zu fordern ist.
Es geht auch nicht nur um die Rückgabe von wenigen Prozent eroberten Gebiets und nicht nur um die gesicherte Implementierung der Vereinbarungen.
Es geht auch um die Beendigung der sogenannten ethnischen Säuberungen, um den allerletzten Versuch, wenigstens die Reste des multi-ethnischen Bosnien-Herzegowina zu bewahren, denn die gibt es noch, und das ist noch kein rein muslimischer Staat; und es geht darum, elementare Menschenrechte durchzusetzen, nicht nur in Bosnien-Herzegowina, auch im Sandschak, in der Vojvodina und vor allem im Kosovo.
Die aktuellen Meldungen besagen, daß Sarajevo geteilt werden soll. Ich meine, daß gerade wir Deutschen allen Grund haben, uns gegen eine solche sogenannte Lösung auszusprechen.
Ich sage das auch vor allem als Abgeordneter aus dem Ostteil Berlins: Es darf keine Mauer durch Sarajevo geben.
Ein letzter Punkt, bezogen auf die beiden Anträge. Ich meine, daß wir unabhängig von der möglicherweise unterschiedlichen Bewertung der Chancen der Genfer Verhandlungen uns darin einig sein können, daß die Hilfe für die notleidende bosnische Bevölkerung verstärkt werden muß.
Die Bundesregierung hat durch ihren Beauftragten für humanitäre Hilfe einen wichtigen Schritt getan, um zusätzliche Transportkapazitäten bereitzustellen. Wir begrüßen diese Entscheidung, vor allem deshalb, weil sie eine zusätzliche Möglichkeit eröffnet, die von vielen privaten Initiativen und NGOs bereitgestellten Hilfsgüter direkt zu den hungernden Menschen zu bringen.
Die Spendenbereitschaft der Menschen in Deutschland ist nach wie vor hoch, und sie ist neu motiviert durch die Schreckensbilder vom bosnischen Winter. Soll die Hilfsbereitschaft nicht ins Leere laufen, ist weitere moralische, logistische und finanzielle Unterstützung nötig.
Ich begrüße deshalb nicht nur Ihre Zustimmung zu den beiden von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN initiierten Anträgen, sondern ich bitte Sie auch um Ihre tätige Mitwirkung, wenn es darum geht, diese Anträge zum Leben zu erwecken.
Vielen Dank.
Nun spricht Frau Dr. Ursula Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Angesichts der schrecklichen Not, des Elends und der Leiden der Menschen in Bosnien gibt es gegenwärtig keine dringlichere Aufgabe, als ihnen schnell und wirksam humanitäre Hilfe zu leisten. Für Tausende, ja Zehntausende ist das eine Frage des Lebens, des Überlebens. Wir appellieren deshalb eindringlich an alle
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Dr. Ursula Fischer
Konfliktparteien, die am Montag in Genf getroffene Vereinbarung über die freie Fahrt der Hilfskonvois strikt einzuhalten.
Washingtoner Pläne, mit Bomben und Raketen Hilfskorridore ins Land zu schlagen und damit doch noch eine militärische Intervention durchzuführen, sind inakzeptabel. Statt Leid zu lindern, würde ihre Verwirklichung den Konflikt ausweiten und das Blutvergießen besonders unter der Zivilbevölkerung vergrößern.
Die Bundesregierung beabsichtigt, ihre humanitäre Hilfe fortzusetzen. Das ist zu begrüßen, doch Humanität ist nicht teilbar. Wer in Bosnien und Kroatien bemüht ist, die bestehende Not zu lindern, sollte Handlungen unterlassen, die dazu angetan sind, in anderen Regionen die Leiden der Menschen zu vergrößern. Die Sanktionen gegen Restjugoslawien haben in keiner Weise zu einer beschleunigten Herstellung des Friedens, dagegen für seine Bürgerinnen und Bürger, darunter für 700 000 Kriegsflüchtlinge, ebenfalls zu katastrophalen, unmenschlichen Folgen geführt. Die schnellstmögliche Aufhebung dieser Hungersanktionen und der im vorliegenden Antrag zu Recht angesprochenen Behinderungen der medizinischen Versorgung der Bevölkerung — sie stellen nur einen, wenn auch besonders abscheulichen Bestandteil dar — ist auch ein Gebot des Humanismus. Sie von territorialen Zugeständnissen abhängig zu machen zeugt von allem möglichen, aber nicht von christlicher Nächstenliebe.
Wenn Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, die Forderung nach Nächstenliebe ungern von einer Ärztin hören, die Abgeordnete der PDS ist, dann lesen Sie aufmerksam den Hilfsappell, den das Oberhaupt der serbischen Kirche auch an Sie gerichtet hat:
Wir wenden uns im Namen Jesu Christi an Sie und an alle Leute guten Willens um Hilfe, daß die ungerechten Sanktionen aufgehoben werden, die hauptsächlich die Unschuldigen und Schwächsten treffen.
Meine Damen und Herren, seit zwei Jahren wird in diesem Haus das Versagen der internationalen Gemeinschaft, der Vereinten Nationen, der KSZE, der EG und der EU, vor den schrecklichen Ereignissen in Jugoslawien beklagt. Nicht wenige der Klagenden bedauern indes, daß es nicht gelungen ist, sich auf eine militärische Intervention zu einigen. An Forderungen in dieser Richtung haben es Vertreter der Regierungskoalition und auch einige andere nicht mangeln lassen. Das eigentliche Versagen der EU besteht jedoch darin, daß ihre Politik der vorschnellen Anerkennung und der Einäugigkeit die Flammen des Krieges nicht gelöscht, sondern immer wieder angefacht hat.
Leider hat auch die deutsche Bundesregierung daran einen besonderen Anteil. Angesichts ihrer bisherigen Rolle im Jugoslawienkonflikt hätte die Bundesregierung allen Grund, mit besonderem Nachdruck für eine Beendigung des Blutvergießens und der Leiden der Menschen sowie für die Herbeiführung einer stabilen Friedensregelung zu wirken. Sie
hat dazu alle Möglichkeiten. Sie verfügt nicht nur über Druckmittel auf Serbien, sondern auch über den stärksten Einfluß auf die bosnische und die kroatische Konfliktseite. Sie kann und muß ihn nutzen, um zum friedensschaffenden Kompromiß beizutragen.
Gleichermaßen ist die Bundesregierung in der Lage und verpflichtet, dazu beizutragen, daß eine Ausdehnung des Konflikts auf weitere Teile des Balkans verhindert und daß für alle neuen Staaten in Jugoslawien ein friedliches Umfeld geschaffen wird. Dazu gehört vor allem, daß die anerkannten internationalen Grenzen des früheren Jugoslawien unantastbar bleiben. Wer an diesen Grenzen, darunter an den jugoslawisch-albanischen, rührt, rüttelt an den Grundfesten des Friedens. Dagegen würde eine Garantieerklärung der KSZE-Staaten für diese Grenzen die Sicherheit in diesem Raum festigen, die Befürchtung vor sezessionistischen Kräften in Kosovo mindern und die dringend notwendige Wiederherstellung suspendierter Autonomierechte in diesem Gebiet fördern.
Die Bundesregierung ist aufgefordert, auf dem Balkan konstruktiv und tatsächlich friedensstiftend zu wirken. Verweigert sie sich, beharrt sie auf dem bisherigen Kurs, bleibt sie mitschuldig am Drama in Jugoslawien.
Der vorliegende Antrag bleibt trotz nicht zu übersehender positiver Ansätze unter den Erfordernissen einer Politik, die den unteilbaren Prinzipien der Humanität und einer schnellstmöglichen Friedensregelung verpflichtet ist. Die PDS/Linke Liste sieht sich deshalb veranlaßt, sich in bezug auf die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses der Stimme zu enthalten.
Selbstverständlich stimmen wir dem interfraktionellen Antrag zur Winterhilfe für Bosnien zu. Es hätte für dieses Haus gesprochen, wenn die PDS/Linke Liste bei diesem Antrag ebenfalls einbezogen worden wäre. Denn, meine Damen und Herren, wenn Sie Minderheiten hier schon, in diesem Haus, ausgrenzen, dann frage ich mich: Wie wollen Sie von anderen andere Verhaltensweisen fordern?
Nun erteile ich dem Kollegen Dr. Christian Schwarz-Schilling das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben in den letzten Tagen wieder Bilder von dem Winter, der bereits eingebrochen ist, gesehen, aber nicht nur das, sondern wir haben auch gesehen, wie jeden Tag und jede Nacht ein bestimmtes Viertel oder bestimmte Gebäude in Sarajevo beschossen werden, insbesondere zivile Gebäude, Gebäude für
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Dr. Christian Schwarz-Schilling
Jungen und Mädchen, Schulen, das Hospital. Gerade vor zwei Tagen sind wieder zwei Krankenschwestern tödlich getroffen worden. Wir sehen, mit welcher Systematik gehandelt wird.
Wenn man die Frage stellt, wieso das jetzt geschieht, muß man einfach klar sehen, daß auf die Ankündigung, es werde, wenn ein massiver Angriff auf Sarajevo erfolgt, eine entsprechende Reaktion kommen, die Serben eine neue Antwort gefunden haben: dann also nicht massiv, sondern jeden Tag gezielt. Und wir stehen wieder da und tun so, als wäre dasselbe Ziel, nur mit längerer Zeit, mit Zermürbung dann durch Winter, Hunger und Kälte, nicht auch erreichbar. Das ist die Lage.
Ich freue mich natürlich um so mehr, daß sich die Mitglieder des Deutschen Bundestages — die beiden Anträge haben das in ihrer Behandlung ja gezeigt — hier sehr einig sind. Es ist eines der erfreulichen Zeichen, daß hier im Grunde genommen ein großer Konsens zwischen allen Parteien herrscht.
Allerdings ist an die Bundesregierung eine Frage zu richten: Dieser Bundestag hat am 21. April 1993 beschlossen, daß die Sicherung des physischen und politischen Überlebens der nationalen Gemeinschaft der Moslems in ihrem Heimatstaat Bosnien-Herzegowina absolute Priorität haben muß. Hat dieser Punkt seit April 1993 in der deutschen Außenpolitik absolute Priorität gehabt? Was haben wir denn in den Monaten getan?
Wir haben eine Verhandlungsführung von Lord Owen und anschließend, nach dem Rücktritt von Cyrus Vance, von Stoltenberg erlebt, die mit dem, was wir in den verschiedenen Konferenzen — siehe z. B. London — beschlossen haben, die mit diesen Prinzipien überhaupt nichts mehr zu tun hat.
Es ist die Frage, ob nicht überhaupt die militärischen Verschärfungen sich dadurch eingestellt haben, daß man dem Prinzip der Bevölkerungsgruppe — in bezug auf Religion oder nach Zugehörigkeit zu entsprechenden Volksstämmen — für neue Grenzziehungen den Vorzug gegeben hat. Das ist ja geradezu eine Anregung, dafür zu sorgen, daß man in bestimmten Bereichen die Mehrheit bekommt oder andere, wenn man sie nicht liquidieren kann, vertreibt.
Man weiß ja auch, daß viele — auch falsche — Grenzziehungen dieser Art zu entsprechenden Dingen geführt haben, indem den einen Gebiete zugeschlagen wurden, wo sie in der Minderheit waren, wo sie aber dann dafür sorgen wollten, daß sie in die Mehrheit kommen.
Meine Damen und Herren, daß es für uns nach dem Zweiten Weltkrieg und der Nazizeit in Europa überhaupt ein Prinzip sein kann, nach Bevölkerungszugehörigkeit, nach ethnischen Gruppen, die ausgewiesen werden, wenn sie nicht erschlagen werden wollen, Länder aufzuteilen und dieses Prinzip durch reale Tätigkeit in der Verhandlung — nicht durch Konferenzen — anzuerkennen, zeigt den großen Zwiespalt, in den wir uns begeben haben. Seit den vierziger
Jahren hat es so etwas jedenfalls in Europa nicht gegeben.
: Das ist allerdings
wahr!)
Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob auf einer solchen Grundlage Friedensverhandlungen überhaupt eine Aussicht auf Erfolg haben. Ich persönlich habe darauf eine ganz klare Antwort: Es wird keine große Aussicht geben. Dieser Friede wird, wenn er käme, ein so ungerechter Friede, daß wir schon an Hand historischer Daten sehen können, wohin er führt. Es gab auch das Diktat von Versailles, das zu bestimmten Konsequenzen geführt hat. Es hat Beispiele gegeben, daß Imperien sich arrondiert und dann Frieden geschlossen haben. Das ist nicht von Dauer.
Wir sehen, was in Palästina geschehen ist. Und just zu dieser Zeit, wo man mit soviel Blut und Leid, mit soviel Terror gegenüber den Menschen diese falschen Grenzziehungen wieder auflöst, beginnen wir in Europa, ähnliches zu tun. Die Konsequenzen werden die gleichen sein.
Wir können uns auch nicht freisprechen und sagen: Ja, was sollen wir denn tun? Wir hätten ja militärisch gar nicht eingreifen können! — Ich möchte über die Problematik hier in Deutschland nicht weiter reden. Ich habe dazu eine ganz andere Auffassung.
Aber eines möchte ich sagen. Wir haben das Waffenembargo mit befördert. Schon damals, als es beraten wurde, habe ich den Sinn sofort hinterfragt und gemeint, das könne doch nur die entsprechende Benachteiligung des Überfallenen bringen. Denn der Aggressor hat alle Waffenarsenale der fünfstärksten Armee Europas, nämlich der jugoslawischen Armee, in seiner Hand.
Was soll das dann? Wenn man schon selber nicht eingreifen will, dann dem Überfallenen die Möglichkeit, sich selbst zu verteidigen, zu nehmen, das ist der massivste Eingriff zugunsten der Serben, den die Weltorganisation mit den europäischen Unionsländern begangen hat.
Von diesem Punkt wird uns niemand freisprechen, auch die Geschichte nicht. Es wird geschichtliche Dimensionen annehmen, bei denen man fragen wird: Du hast doch in dieser Zeit Verantwortung getragen, was hast du eigentlich getan? Jeder wird gefragt werden. Deshalb sage ich: Wir können uns damit nicht länger herausreden.
Wir haben mit diesem Akt, weil wir nicht gleichzeitig seitens der Vereinten Nationen die Sicherheit mit angemahnt und durchgesetzt haben, die Integrität des Landes und der Bevölkerung mißachtet. Denn wenn wir dem Land die Verteidigungsmöglichkeit nehmen, dann müssen wir auch für seine Sicherheit garantieren. Wenn das gemäß Art. 51 nicht gewährleistet ist, darf eine solche Beschränkung für ein Mitglied der Vereinten Nationen überhaupt nicht durchgeführt werden. Darüber sind sich die Völkerrechtler heute
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Dr. Christian Schwarz-Schilling
völlig klar. Aber auch das wird lieber beiseite getan.
Ich komme gerade von einer Konferenz internationaler Parlamentarier aus Amerika, aus Asien und aus Europa, die eine Petersberger Entschließung gefaßt haben. Ich will Ihnen sagen: Es ist jetzt schon nicht mehr ein europäisches Problem. Denn jetzt spüren die Menschen, daß Grundlagen und Prinzipien des Völkerrechts so in Frage gestellt werden, daß für jedes kleinere Land auf dieser Welt künftig Gefahren lauern, die nur von Willkür — ob z. B. die Vereinigten Staaten sagen: Das ist unser Interesse, ja oder nein —abhängen. Es hängt von der Willkür ab, ob die Sicherheit eines Landes garantiert wird.
So ist das heute. Das sind die Tatsachen. Deswegen ging es im Golfkrieg mit militärischer Einwirkung, während in Bosnien erklärt wird: Das ist nicht unser Interesse. Deswegen sind auch die Israelis, die weiß Gott nicht die allerbesten Beziehungen zu den Moslems haben, in dieser Frage völlig anderer Meinung, weil sie die große universelle Gefahr sehen, daß wir in den Dschungel hineinkommen, wenn wir gewisse Prinzipien dieser Welt aufgeben. In diesem Dschungel geht nichts mehr. Das Beispiel dieses Dschungels ist heute Bosnien.
Auch die Kroaten haben inzwischen natürlich gesehen, daß sie sich mit aller Macht durchsetzen müssen, da ihnen keiner hilft. Ihr Handeln ist die Folge dieser Einsicht. Hier frage ich die Bundesregierung danach, was sie jetzt getan hat, um diesem Land, dem gegenüber wir früher viel Positives geleistet haben, klarzumachen, daß wir mit aller Härte verlangen, daß es sich den entsprechenden internationalen Verpflichtungen unterstellt. Sonst wäre es erforderlich, auch dort ein Embargo in Gang zu setzen.
Herr Kollege Schwarz-Schilling, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Irmer gestatten?
Ja, gern.
Herr Kollege Schwarz-Schilling, ich möchte Sie gerne fragen, wie Sie sich denn die technische Durchführung eines militärischen Eingreifens in Bosnien vorstellen und wie Sie verantworten wollen, Soldaten in eine Gegend zu schicken, in der in der Vergangenheit intervenierende Truppen die größten Schwierigkeiten hatten. Möchten Sie verantworten, daß zu den vielen bosnischen Toten auch noch die Soldaten aufzuaddieren sind — es gibt ja schon UN-Tote —, die bei dieser Aktion ums Leben kommen würden?
Ich möchte Sie daran erinnern, daß uns die Bosnier nie darum gebeten haben, Truppen zu schicken. Ad 1: Die Bosnier haben uns darum gebeten, von ihrem Recht Gebrauch machen zu dürfen, sich selber zu verteidigen.
Ad 2, wollen wir ihnen bei der massiven Konzentration von Artilleriestellungen um die eingeschlossenen Städte — die Gesamtlandschaft heute mit Kroaten und Serben zusammen schließt etwa über zwei Millionen
Menschen in diesem Winter ein — helfen. Wir sehen schließlich nur die Bilder von Sarajevo. Wie jedoch die Bilder von den Orten aussähen, auf die wir nicht schauen können, ist wahrscheinlich jenseits unserer Vorstellungskraft.
Deswegen sage ich: Darum haben sie uns nie gebeten. Es ist unsere vorschützte Handlungsweise, immer zu sagen: Das kostet uns zehntausend, fünfzigtausend oder einhunderttausend. Zunächst einmal haben wir dem Recht Genüge zu tun, daß derjenige, der sich verteidigen will, auf seinem eigenen Boden diese Möglichkeit erhält. Wir hätten dabei natürlich helfen können.
Wie viele Truppen haben wir denn nach Afghanistan geschickt? — Auch da wurde durch Waffenlieferungen gegenüber der stärksten Militärmacht, der Sowjetunion, weil sie auf fremdem Gebiet zu kämpfen hatte und weil die Bevölkerung nicht auf ihrer Seite stand, eine entsprechende Wendung der Dinge herbeigeführt.
Sie können nicht sagen, daß wir hier Truppen hätten hinschicken müssen. Aber ich sage: Heute hätten wir wahrscheinlich höchstens noch die Möglichkeit, bei der humanitären Hilfe die Korridore freizuhalten, damit die entsprechenden Möglichkeiten gegeben sind. Das ist mit Sicherheit der Fall.
Herr Kollege Schwarz-Schilling, das ist eine wichtige Debatte. Der Kollege Irmer und der Kollege Brecht haben jeweils den Wunsch nach einer Zwischenfrage. Möchten Sie die noch zulassen?
Die Frage ist, ob ich das jetzt auf die Zeit angerechnet bekomme.
Nein, die Redezeit ist schon seit längerem abgestoppt.
Gut.
Also, Herr Kollege Irmer, eine Zusatzfrage; dann der Kollege Brecht.
Herr Kollege Schwarz-Schilling, ich darf Sie bitten, das noch einmal zu erläutern; ich habe das nämlich nicht verstanden.
Warum haben Sie dann vorher gesagt, es sei in Bosnien militärisch bisher nicht interveniert worden, weil es nicht dem amerikanischen Interesse entsprochen hätte? Damit haben Sie doch indirekt zum Ausdruck gebracht, daß Sie für eine militärische Intervention eintreten.
Unter diesem Aspekt haben Sie meine erste Frage nur dahin gehend beantwortet, die Bosnier hätten nicht darum gebeten und es wäre lediglich um die Aufhebung des Waffenembargos gegangen. Das ist für mich unverständlich.
Herr Kollege Irmer, ich darf Sie an die Geschichte erinnern: Vertreter der Vereinigten Staaten von Amerika sind im Mai dieses Jahres durch die europäischen Hauptstädte gefahren und haben gesagt: Wenn ihr der
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Dr. Christian Schwarz-Schilling
Meinung seid, daß wir in dieser Situation etwas tun müssen, dann sagen wir zu, daß das Embargo sofort aufgehoben wird und daß wir durch Luftangriffe der moslemischen Seite dort helfen, wo sie angegriffen wird und um Hilfe nachsucht.
Und wir haben — lange Monate, beginnend mit der neuen Administration — von allen Entwicklungen dieser Art abgeraten, weil wir gemeint haben, über den Vance-Owen-Plan eine bessere Lösung zu finden.
Die Vereinigten Staaten haben auf die Frage, warum sie nicht alleine eine entsprechende Leadership übernommen haben, wie sie das früher gemacht haben, geantwortet, daß sie in diesem Punkt kein eigenes Interesse verfolgen, d. h., daß ihr nationales Interesse davon nicht berührt ist, sondern vital die Interessen Europas berührt sind. Sie werden in dieser Frage gegenüber Europa nicht selber die Führung übernehmen. Das ist die Wahrheit! So ist es in diesem Jahr gelaufen. Insofern besteht hier überhaupt kein Widerspruch, sondern es ist ein absolut konkludentes Handeln.
Nun noch die Zwischenfrage des Kollegen Dr. Brecht.
Bitte schön.
Herr Kollege Schwarz-Schilling, ich glaube, jeder hier im Raum teilt die Klage, daß die Sicherheitsratsresolution 757 selektiv gewirkt hat. Sie haben in Ihrer Erläuterung dazu ausgeführt, daß dieses ein nationales Interesse der Amerikaner reflektiert.
Welche Art der Zusammensetzung des Sicherheitsrates fordern Sie eigentlich, um nationale Interessen auszuschließen und den Prinzipien des Völkerrechtes tatsächlich Genüge zu tun? Ist das nicht ein sehr utopischer Ansatz, den Sie hier vertreten?
Ich glaube, wir brauchen uns nur auf die Fakten zu besinnen, in welchen Regionen die Vereinigten Staaten von Amerika Aktionen und Handlungen durchgeführt haben und in welchen nicht. Sie hätten natürlich auch in allen anderen Regionen sagen können: Da gibt es keine Möglichkeit.
Ich erinnere nur daran, wie die Vereinigten Staaten bei der entsprechenden Machtübernahme in Grenada von Europa kritisiert wurden. Sie haben gehandelt, weil sie gesehen haben: Hier wird ein an sich demokratisches Land in ein totalitäres verwandelt. Und sie haben dann gesagt: Wir handeln früher.
Aus diesem Grunde kann ich nur sagen: Wir können uns nicht von dem Vorwurf freimachen, daß diejenigen, die selber einen Staat nach verfassungsmäßigen Grundsätzen aufstellen wollten, die Mitglied der Vereinten Nationen sind — wie der Staat Bosnien-Herzegowina, der ein entsprechendes Selbstbestimmungsrecht praktiziert hat, das wir ihm auch angediehen hatten —, dann von der internationalen Völkergemeinschaft, nachdem alle Voraussetzungen erfüllt worden waren, sozusagen im Sturm stehengelassen wurden. Wer wird denn in Zukunft noch erwarten, daß Vertrauen in irgendwelche Garantien entsteht? Manche haben hier gesprochen und gesagt, da müßten Garantien gegeben werden. Wer kann denn dort noch an irgendeine Garantie glauben? Aus dem Grunde sind auch die Verhandlungen praktisch nicht zu einem positiven Ergebnis zu führen, weil keiner mehr daran glauben kann.
Meine Damen und Herren, ich möchte Sie nur erinnern, daß wir noch auf der Konferenz in London am 27. August 1992 — ich komme zum Ende — festgelegt hatten: die Nichtanerkennung aller durch Gewaltanwendung oder das Schaffen vollendeter Tatsachen erzielten Vorteile oder der sich daraus ergebenden Rechtsfolgen; die Verwirklichung der verfassungsmäßigen Garantien der Menschenrechte und Grundfreiheiten von Personen, die ethnischen und nationalen Gemeinschaften und Minderheiten angehören; die uneingeschränkte Verurteilung gewaltsamer Vertreibungen. — Ich brauche es hier nicht weiter vorzulesen. Das war das, was Europa auf Konferenzen erklärte.
Jetzt kann ich nur sagen: Ich verstehe die deutschfranzösische Initiative durchaus. Ich bin ja nicht realitätsfern. Die Frage ist allerdings, ob man sie — mit 3 oder 4 % von 50 % erobertem Gebiet — als wirkliche Konzession ansehen kann, die nicht nur denjenigen, der sich mit Gewalt alles angeeignet hat, befriedigt, oder ob man nicht auch die anderen Fragen hätte etwas deutlicher stellen müssen — z. B. die Aufhebung jetzt eben nicht mit einer solchen Klarheit anzukündigen, sondern zu sagen, daß das natürlich erst nach der Implementierung geschieht.
Ich habe von den Vereinigten Staaten gehört, daß sie über diese Initiative insofern erschrocken waren, als die stufenweise Aufhebung ursprünglich gar nicht mitenthalten war, sondern man zunächst einmal überhaupt von der Aufhebung gesprochen hatte. Ich habe gehört, daß die Initiative von uns gekommen sei. Dann höre ich wieder, daß es eine französische Initiative war. Es wäre ganz gut, wenn wir diese Fragen aufklären könnten — gerade dann, wenn die Regierung hierzu spricht.
Lassen Sie mich schließen mit den Worten eines Philosophen. André Glucksmann hat kürzlich in einem Artikel in einer deutschen Zeitung folgendes geschrieben:
Die Krise der EG fällt nicht vom Himmel, sie kommt aus Sarajevo. Europa läßt zu, daß unter seinen Augen und in Reichweite das Unsägliche geschieht. Die Gedemütigten und Geschändeten sterben vor unserer Haustür. Europa stirbt nicht in Sarajevo, es krankt an den Eliten, die politische Verantwortung tragen.
Ich danke Ihnen.
Nun spricht Herr Staatsminister Schäfer.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe bewußt gewartet, bis der Herr Kollege Schwarz-Schilling hier gesprochen hat. Es würde sich fast lohnen, jetzt hier ausschließlich auf Ihre Rede und auf Ihre Pressekonferenz einzugehen, die Sie mit Ihrem Kollegen Schwarz veranstaltet haben, der leider bei dieser Debatte fehlt, weil er wahrscheinlich inzwischen wichtigere Dinge zu tun hat.
— Das ist anzunehmen, aber ich erspare es mir, Herr Kollege Schwarz-Schilling, auf Ausfälle einzugehen, wie sie heute gegen die Bundesregierung auch in Ihrer Pressekonferenz gemacht worden sind. Ich komme aber nachher auf ein, zwei Bemerkungen noch zurück.
Ich darf Ihnen ganz klar sagen: Auch in dieser Stunde — dessen sind wir uns hier alle in diesem Hause bewußt — dauert der Krieg in Bosnien-Herzegowina an, hat die serbische Aggression — Sie haben das zu Recht ausgeführt —, die unermeßliches Leid über die Menschen gebracht hat, nicht nachgelassen, wird von serbischer Seite der Eindruck erweckt, daß in Bosnien für die eigene Sache alles erreicht sei. Davon kann keine Rede sein.
Es ist zu Recht gesagt worden: Sarajevo wird weiterhin beschossen. Tuzla soll von Zentralbosnien getrennt werden. Aber, Herr Kollege Schwarz-Schilling, in den letzten Monaten — das hätten Sie vielleicht in Genf einmal in Erfahrung bringen sollen — ist klargeworden, daß sich die Hauptauseinandersetzungen — das wissen Sie — verlagert haben, nämlich zwischen Moslems und Kroaten stattgefunden haben. Nur, das muß man sich einmal sagen lassen in Genf.
Sie müssen von den Kroaten zur Kenntnis nehmen, daß die Moslems beachtliche Erfolge mit Waffen erzielt haben, durch Vertreibung von Kroaten aus Gebieten, die diese für sich beanspruchten. Es kann also die Behauptung nicht stimmen, die Moslems hätten überhaupt keine Waffen. Sie haben sie; aber sie haben keine schweren Waffen. Das ist der Unterschied. Kollege Irmer hat völlig zu Recht gesagt, das Problem, schwere Waffen dorthin zu transportieren, über kroatische Häfen, oder sie gar aus der Luft abwerfen zu wollen, z. B. Artillerie, muß erst noch gelöst werden. So einfach ist das nicht.
Ich muß auch ganz klar sagen — Kollege Rühe hat mir das gerade noch zugerufen; ich darf das hier unterstreichen —: Wir haben die Vereinigten Staaten in der Forderung nach Aufhebung des Waffenembargos unterstützt, wir, die deutsche Regierung. Wir haben dafür keine Zustimmung gefunden, in der WEU nicht und nicht in der Europäischen Gemeinschaft. Und dafür gibt es Gründe.
Ich bitte Sie sehr herzlich, die Kollegen, die sich hier als Parlamentarier in Bonn treffen und die Bundesregierung kritisieren, mal zu fragen, was die Regierungen der anderen Staaten der Europäischen Gemeinschaft veranlaßt hat, den — von Deutschland unterstützten — Wunsch der Vereinigten Staaten abzulehnen.
Leidtragende, meine Damen und Herren, sind die Menschen, die jetzt den tödlichen Gefahren eines zweiten Kriegswinters ausgesetzt sind. Diese Menschen wollen überleben. Ihr Interesse steht im Vordergrund der Überlegungen und Handlungen der Bundesregierung. Sie verfolgt zwei Ziele: einerseits natürlich die Beendigung des Krieges und andererseits die Hilfe für die bedrängten Menschen.
Mit diesen Zielen vor Augen ist die Initiative von Bundesaußenminister Kinkel zusammen mit Herrn Juppé zustande gekommen, ein Aktionsplan der Europäischen Union. Und wenn jetzt von einigen Rednern hier schon wieder gefragt wird, warum dies nicht früher zustande gekommen ist, dann kann ich hier nur sagen: Machen Sie sich doch bitte keine Illusionen! Eine solche Initiative muß vorbereitet werden. Sie müssen erst Ihre Partner dafür gewinnen und müssen vor allen Dingen die Verantwortlichen für das Unheil, nämlich die Kriegsparteien und ihre verantwortlichen Führer, dazu bewegen, wieder an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Das ist doch der Punkt, nicht, daß wir gezögert und die Herrschaften nur darauf gewartet hätten, bis sie freundlicherweise wieder nach Genf kommen können.
Sie hatten ja die letzte Konferenz in Genf, die zu Hoffnung Anlaß gab, verlassen, unterbrochen und immer wieder neue Forderungen gestellt. So sieht die Sache doch aus! Meine Damen und Herren, ich warne davor, diese neue Initiative jetzt schon wieder zu zerreden oder gar eine Art Fatalismus aufkommen zu lassen, wie das in einigen Reden angeklungen ist, vor allem bei Ihnen, Herr Schwarz-Schilling.
Ich kann nur sagen: Es muß doch ein friedliches Umfeld für die Versorgung der Menschen geschaffen werden, die in dieser Situation — und zwar keineswegs nur die Moslems — bedroht sind. Das moslemische Mostar ist von anderen zerstört worden, nicht von den Serben, kroatische Siedlungen sind von Moslems zerstört worden. Ich bitte, das wirklich zu sehen. Es wird Krieg zwischen allen Parteien geführt. Hier kann es doch nur darum gehen, — und das ist uns gelungen — die Europäische Union zu einem gemeinsamen Handeln zu bringen.
Herr Kollege Schmidt, ich bin Ihnen dankbar — Herrn Kollegen Brecht ebenfalls —, daß Sie klargemacht haben, daß Sie diese Initiative, über die wir auch im Auswärtigen Ausschuß sehr intensiv gesprochen haben, unterstützen. Wir haben inzwischen auch die USA und Rußland gewonnen, bei der Umsetzung dieses Friedensplanes mitzuwirken. Das war ja gar nicht so einfach.
Wir wissen aber auch, daß ein wirksames internationales Engagement zur Durchsetzung der hoffentlich erzielten Vereinbarungen nur mit einer substantiellen militärischen Beteiligung der Vereinigten Staaten möglich ist. Wir betrachten es als außerordentlich wichtig, daß die Vereinigten Staaten im Falle einer politischen Lösung bei der Zusage bleiben. Der Kongreß ist da keineswegs so einhellig Ihrer Auffassung, Herr Schwarz-Schilling, Friedenstruppen in Bosnien zur Verfügung zu stellen und dafür auch die Zustimmung zu geben.
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Staatsminister Helmut Schäfer
Die Europäische Union ihrerseits beabsichtigt, sich an der Verwaltung von Mostar zu beteiligen. Auch Deutschland ist dazu bereit.
Was sind die bisherigen Ergebnisse des Treffens von Genf gestern und vorgestern?
Erstens. Die Parteiführer und Militärführer aller Seiten — mit Ausnahme des bosnisch-serbischen Generals Mladic, der nicht erschienen war — haben, wie von der Europäischen Union gefordert, ein Abkommen über die völlige Bewegungsfreiheit der humanitären Hilfe geschlossen. Darin ist auch bestätigt, daß UNPROFOR humanitäre Hilfe notfalls mit Gewalt sicherstellen wird, d. h. dafür sorgen muß, daß die angesichts der Winterverhältnisse immer dringender werdende humanitäre Hilfe notfalls auch unter Einsatz militärischer Mittel die notleidende Bevölkerung erreicht. Das ist unterzeichnet worden.
Zweitens. Alle Parteien sind bereit, sofort die Verhandlungen mit dem Ziel wiederaufzunehmen, rasch eine London-II-Konferenz in Genf einzuberufen, die die Verhandlungsergebnisse indossieren und das Mandat zur Lösung der übrigen Probleme erteilen soll. Am Ende des ganzen Prozesses — es ist ja eine langfristige Planung — muß eine jugoslawienpolitische Schlußkonferenz stehen, die alle Probleme — auch Kosovo, auch Vojvodina und Sandschak — zu lösen versucht.
Drittens. Die Wiederaufnahme der Verhandlungen erfolgt auf der Basis des Aktionsprogramms der Europäischen Union und des im September auf der „Invincible" erreichten Verhandlungsergebnisses.
Viertens. Die Außenminister der Europäischen Union sind entschlossen, den Verhandlungsfortgang genau zu beobachten und sich möglichst rasch, noch im Dezember, in Genf wiederzutreffen und die bis dahin erzielten Ergebnisse zu bewerten. Eines wissen wir jetzt schon. Es sind zwar die Hauptakteure inzwischen weggefahren; aber es geht in der nächsten Woche in wichtigen bilateralen Gesprächen weiter.
Ganz entscheidend ist: Der seit zwei Monaten andauernde Stillstand ist beendet, die Konfliktparteien sind zu Verhandlungen wieder zurückgeholt worden. Der tote Punkt ist überwunden. Wir haben das Menschenmögliche getan, um die drohende humanitäre Katastrophe zu verhindern. Der Kollege Rühe, die Bundesregierung hat dafür gesorgt, daß — es ist ja vorhin schon gesagt worden; ich schließe mich dem Dank an die Bundeswehr ausdrücklich an — ab heute zwei Transall-Maschinen täglich, nächtlich nach Bosnien fliegen — neben den schon seit langem andauernden Versorgungsflügen nach Sarajevo. Also, wir haben humanitäre Hilfe geleistet; das kann man uns nun wirklich nicht absprechen.
Die bosnischen Moslems und Kroaten haben den Vorschlag der Europäischen Union zu ihrer Verhandlungsposition gemacht. Unser Ziel ist es, die jetzigen Forderungen der Moslems nach einem Drittel des bosnischen Territoriums durchzusetzen; das sind 3 % mehr als das, was vorher auf der „Invincible", dem berühmten Schiff, erreicht worden war. Der Schwarze Peter liegt im serbischen Lager, das sich noch dagegen sperrt. Allerdings lese ich heute, es gibt schon wieder neue moslemische Forderungen. Da muß man auch
einmal deutlich sagen: Man kann nicht an einem Tag etwas fordern und am zweiten Tag mit neuen Forderungen kommen. Das erschwert natürlich jedwede Verhandlung. Wir beraten zur Stunde in Brüssel — Herr Minister Kinkel ist deshalb nicht hier — mit unseren Partnern, wie den Serben noch einmal die absolute Notwendigkeit eines Einlenkens verdeutlicht werden kann. Wir hoffen, daß es den Unterhändlern gelingt, ein Ergebnis in dieser Verhandlungsrunde zu erzielen.
Ich finde es in diesem Zusammenhang, Herr Schwarz-Schilling, nicht gut, wenn heute gesagt worden ist, die Unterhändler in Genf müßten durch unabhängige, den Menschenrechten verpflichtete Vermittler ersetzt werden.
Die Unterhändler in Genf sind der ehemalige britische Außenminister Owen und Herr Stoltenberg, der frühere norwegische Außenminister; davor war es der frühere amerikanische Außenminister Vance. Sie wollen doch nicht im Ernst sagen, daß diese — bei aller Kritik; ich kenne die Kritik und teile sie auch zum Teil — ersetzt werden müßten durch Personen, die sich den Menschenrechten verpflichtet fühlen. Ich kann nur jedem raten, einmal in Genf — Sie müssen es gar nicht mit Owen und auch nicht mit Stoltenberg tun — mit anderen Unterhändlern wie Athisaari zu sprechen, um zu erfahren, was diesen Unterhändlern in Genf von den drei Kriegsparteien seit Monaten ununterbrochen zugemutet wird. Da kann man verstehen, daß die Geduld dieser Unterhändler fast am Ende ist und daß sie dankbar wären, wenn sie durch andere ersetzt würden, die aber genausowenig in der Lage wären — auch wenn sie den Menschenrechten, wie Sie meinen, stärker verpflichtet sein sollten —, weiterreichende Ergebnisse zu erzielen. So einfach ist es eben nicht, mit diesen Personen zu verhandeln.
Darin liegt doch eigentlich das Problem. Es liegt nicht am Versagen der Europäischen Gemeinschaft, sondern an der mangelnden Bereitschaft dieser Herren, zunächst einmal an ihre eigene Bevölkerung zu denken und dann erst an territoriale Fragen.
Was die von den Serben besetzten kroatischen Gebiete angeht, so bedeutet der Modus vivendi: Waffenstillstand, Öffnung der Verkehrswege, Wiederherstellung der Energieversorgung. Er bedeutet nicht den Verzicht auf eine dauerhafte Lösung, die zwei Prinzipien gerecht werden muß: erstens dem vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nochmals bestätigten Grundsatz der territorialen Integrität Kroatiens, zweitens dem im Carrington-Plan vom Herbst 1991 niedergelegten Ziel einer weitgehenden Autonomie der mehrheitlich serbisch besiedelten Gebiete, wobei allerdings der Bevölkerungsstand vor Ausbruch des Krieges zugrunde gelegt werden muß.
Ganz schwierig ist zur Zeit noch die Diskussion zwischen Kroaten und Moslems über den Zugang zur Adria. Hier hat die kroatische Seite noch nicht eingelenkt.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17057
Staatsminister Helmut Schäfer
Wir sind natürlich — und das schon lange — dabei, den kritisierten Herrn Tudjman zur Raison und zu Zugeständnissen zu bringen. Es ist nicht wahr, daß wir die Kroaten — das war vielleicht am Anfang so — zu positiv gesehen haben; denn wir mußten erkennen, welche Absichten zum Teil auch dort verfolgt wurden. Es war ja Herr Tudjman, der schon im Auswärtigen Ausschuß des Deutschen Bundestages erklärt hat, ein Staat Bosnien-Herzegowina unter moslemischer Führung komme nicht in Frage; es gehe um die Aufteilung dieses Staates in kroatisches und in serbisches Gebiet. Man muß sich aber, glaube ich, ein bißchen differenzierter über die Hintergründe dieses ganzen Konfliktes klarwerden und auch darüber, was die einzelnen Handelnden eigentlich wirklich wollen. Man darf nicht immer nur Schwarzweißmalerei betreiben, wie das hier schon seit langem der Fall ist.
Meine Damen und Herren, es ist ganz klar, daß die Sanktionen, die die Europäische Gemeinschaft verhängt hat und welche die WEU auf der Donau kontrolliert, Wirkung gezeigt haben. Wir sehen nur keine Bilder aus Belgrad. Sie müssen zur Kenntnis nehmen, daß die serbische Wirtschaft praktisch zusammengebrochen ist und daß die Situation der Serben verheerend ist, daß ihnen aber trotzdem eingeredet wird, nur ihre jetzige Führung könne sie vor dem von der Welt und von Deutschland gewünschten Untergang schützen. Das ist doch die Propaganda, die leider Gottes auch in Serbien wirkungsvoll angewandt worden ist.
Lassen Sie mich sagen: Wir müssen leider Versprechungen der Serben mit Skepsis betrachten. Deshalb bleiben wir vorsichtig. In unserem Plan geht es nicht darum, die Sanktionen gegen Serbien aufzuheben, sondern sie für ganz konkrete Zugeständnisse, die wir von den Serben fordern, zu suspendieren, und zwar schrittweise. Suspendierung heißt, daß wir, wenn etwas nicht eingehalten wird, die Sanktionen sofort wieder eintreten lassen. Darum geht es. Es geht nicht um die Aufhebung von Sanktionen, obwohl Griechenland schon lange solche Forderungen an uns herangetragen hat.
Wir erwarten von allen Parteien, daß sie sich von den Interessen der Menschen leiten lassen. Wir haben es aber stets abgelehnt, auf die bosnischen Moslems, die Hauptopfer der serbischen Aggression sind — Herr Schwarz-Schilling, da sind wir uns völlig einig —, zur Annahme einer Regelung Druck auszuüben, die ihre Belange nicht ausreichend berücksichtigt. Wir werden auch die Gewährung humanitärer Hilfe nicht als Druckmittel einsetzen.
Es muß aber alles unternommen werden, meine Damen und Herren, um auf alle drei Seiten einzuwirken und zu vermeiden, daß unsere humanitäre Hilfe die rücksichtslose Fortsetzung des Krieges erleichtert. Es kann ja wohl nicht sein, daß man sagt: Na ja, die werden ja weiterhin helfen.
Lassen Sie mich zum Schluß kommen: Für Deutschland bedeutet der Aktionsplan der Zwölf keine moralische Konzession. Unser Urteil über die Verantwortlichkeiten, die Kriegsverbrechen und das, was auch durch Deportationen geschehen ist, bleibt bestehen. Unser Verhalten gegenüber Serbien wird auch in Zukunft davon bestimmt sein müssen, ob die serbische Politik zu einem grundlegenden Wandel bereit ist.
Deshalb kann ich nur sagen: Alles, was jetzt zu erreichen versucht wird, bedeutet schrittweise Fortschritte für die Menschen. Dann kann man auch schrittweise Sanktionen lockern, was übrigens letztlich auch den serbischen Menschen und den Nachbarländern zugute kommt, von denen wir die ganze Zeit schon verlangen, daß sie die Sanktionen nach Möglichkeit streng durchführen. Kein Mensch aber hilft ihnen dabei, für die Schäden ihrer Wirtschaft aufzukommen. Nehmen Sie z. B. Bulgarien oder Mazedonien. Es ist wenig geschehen, um das, was dort durch die strikte Einhaltung der Sanktionen an volkswirtschaftlichem Schaden entstanden ist, unsererseits auszugleichen. Auch das sollten wir uns gelegentlich einmal vor Augen führen.
In die Gesamtregelung des Konflikts wollen wir natürlich ausdrücklich die Zukunft und das Schicksal der Menschen im Kosovo, in der Vojvodina und im Sandschak mit einbeziehen, die auf eine befriedigende Lösung warten. Das kann nicht ausgeklammert werden. Es geht nicht nur, aber zunächst und vor allem um Bosnien.
Zum Schluß: Die Bundesregierung handelt in der Überzeugung, daß es in der derzeitigen katastrophalen Lage entscheidend darauf ankommt, das Überleben der Menschen vor allem in Bosnien zu sichern, statt auf Prinzipien zu bestehen — Herr Kollege Schwarz-Schilling, da besteht der ganz große Gegensatz zwischen uns —, deren Durchsetzung eben nur durch eine militärische Intervention von außen möglich wäre, wozu die Staatengemeinschaft aus sehr naheliegenden Gründen nicht bereit war.
Es ist sehr einfach, zu sagen: Wir haben versagt. Wir hätten früher etwas tun müssen. Wir sind schuld an den Geschehnissen. Ich frage nur zurück: Wem in Europa wollen Sie zumuten, daß er seine Soldaten in diesen inzwischen fast nicht mehr überschaubaren Konflikt hineinjagt — mit allen Konsequenzen? Wenn es die Deutschen sind, die diese Moral vertreten, dann müssen wir zunächst einmal bei uns damit anfangen, mit unseren eigenen Verfassungsproblemen langsam zu Rande zu kommen.
Vielen Dank.
Herr Kollege Schwarz-Schilling, handelt es sich um eine Kurzintervention, oder was soll dieses Blinken?
Ich wollte an sich noch eine Frage stellen, aber möchte jetzt doch eine Kurzintervention machen.
Ich wollte nur aufklären, daß der Kollege Stefan Schwarz auf meine Bitte hin die Konferenz auf dem Petersberg fortgesetzt hat und zu Ende leitet und aus diesem Grunde nicht hier sein kann. Er wäre gerne hier gewesen. Dies nur, damit man hier keinen falschen Eindruck gewinnt.
Zum zweiten, wenn ich diese Anmerkung machen darf: Sie haben Lord Owen hier sehr verteidigt. Auf der anderen Seite haben Sie gesagt, humanitäre Hilfe
17058 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Dr. Christian Schwarz-Schilling
dürfe niemals als Druckmittel benutzt werden. Wenn die Medien recht haben und Äußerungen wahrhaftig vermittelt wurden, hat Lord Owen in den vergangenen zehn Tagen gesagt, daß sich die Kriegsparteien im klaren sein müssen, daß, wenn sie jetzt nicht unterschreiben, auch die Aussetzung der humanitären Hilfe möglich sein wird.
Weitere Wortmeldungen liegen mir jetzt nicht mehr vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/6206, den Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/5729 in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung bei wenigen Stimmenthaltungen einstimmig angenommen.
Wir stimmen jetzt über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. sowie der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Winterhilfe für Bosnien auf Drucksache 12/6314 ab. Wer stimmt für diesen Antrag? — Wer stimmt dagegen? — Gibt es Stimmenthaltungen? — Dann ist dieser Antrag einstimmig angenommen.
Gestatten Sie mir vor dem Tagesordnungspunkt 9 noch eine kurze Anmerkung: Herr Staatsminister, ich weiß zwar, daß die Bundesregierung jederzeit reden darf; in der Verfassung steht aber nicht, daß sie unbegrenzt lange sprechen soll. Sie haben Ihre Redezeit ungefähr um das Doppelte überzogen. Dies nur als Anmerkung.
— Nein. Sie hatten auf unserer Liste weniger als 10 Minuten eingetragen.
—Es ist so; ich sage es Ihnen nur. Auf jeden Fall haben Sie satt überzogen.
Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Voraussetzungen und das Verfahren von Sicherheitsüberprüfungen des Bundes
— Drucksache 12/4891 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 12/6307 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Gerd Wartenberg Meinrad Belle
Dr. Burkhard Hirsch
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Besteht darüber Einverständnis? — Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Eduard Lintner das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Sicherheitsüberprüfung von Personen aus Gründen des vorbeugenden personellen Geheimschutzes ist bislang untergesetzlich in den Sicherheitsrichtlinien des Bundes geregelt. Ziel des personellen Geheimschutzes ist es, staatliche Verschlußsachen zu schützen. Der Schutz von Informationen, deren Kenntnisnahme durch Unbefugte den Bestand, lebenswichtige Interessen oder eben die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährden könnte, ist für den demokratischen Rechtsstaat unverzichtbar, will er nicht seinen Bestand und die Existenz seiner Bürger gefährden.
Die Einstufung von Informationen als Verschlußsachen ist nicht von einer aktuellen Bedrohung des Staates und seiner Bevölkerung abhängig. Den Bestand und die Sicherheit des Staates und seiner Bevölkerung zu sichern ist eine dauerhafte Aufgabe, die von der Annahme auszugehen hat, daß sich latente Gefahren täglich in konkrete Gefährdungen des Staates und seiner Bevölkerung verwandeln können.
Der Deutsche Bundestag hat im Dezember 1990 auf Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. die Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf zur Regelung der Sicherheitsüberprüfung auf Grund des Zuganges zu Verschlußsachen vorzulegen. Anlaß war die Verabschiedung des Gesetzes zur Fortentwicklung der Datenverarbeitung und des Datenschutzes — hier wären Stichworte wie Bundesdatenschutzgesetz, Bundesverfassungsschutzgesetz, MAD-Gesetz und BND-Gesetz zu nennen —, und unter diesem Aspekt ist dann der vorliegende Gesetzentwurf erarbeitet worden.
Im wesentlichen regelt dieser Gesetzentwurf, wann eine Sicherheitsüberprüfung aus Gründen des Verschlußsachenzugangs erforderlich ist. Die Sicherheitsüberprüfungen werden abgestuft durchgeführt, je nachdem, ob der zu überprüfende Zugang zu VS-vertraulich-, Geheim- oder Streng-geheim-Dokumenten erhalten soll.
Die Sicherheitsüberprüfung ist abhängig von der vorherigen Zustimmung der Betroffenen. Niemand soll gegen seinen Willen sicherheitsüberprüft werden. Bei den beiden höchsten Überprüfungsarten wird der Ehegatte beziehungsweise Lebenspartner in die Sicherheitsüberprüfung einbezogen. Dies geschieht allerdings nur dann, meine Damen und Herren, wenn er zugestimmt hat. Der Grund für die Einbeziehung beruht auf der Erkenntnis, daß sich Sicherheitsrisiken, die in der Person des Ehegatten oder des Lebenspartners liegen, auf Grund der engen persönlichen Beziehungen auf den Betroffenen auswirken können.
Der Gesetzentwurf legt weiterhin fest, was ein Sicherheitsrisiko ist. Vor Ablehnung oder dem Entzug einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit ist rechtliches Gehör gewährleistet. Durch die Sicherheitsüberprüfung und die bei ihr anfallenden Erkenntnisse soll der Überprüfte keine Nachteile in
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17059
Parl. Staatssekretär Eduard Lintner
seiner sonstigen beruflichen Position erleiden. Daher ist die Weitergabe der Daten für Zwecke außerhalb der Sicherheitsüberprüfung nur unter besonders engen Voraussetzungen möglich.
Der Überprüfte hat im übrigen Anspruch auf Auskunft über seine im Zusammenhang mit der Sicherheitsüberprüfung gespeicherten Daten. Unter bestimmten Voraussetzungen kann ihm sogar Einsicht in die Sicherheitsakte gewährt werden. Seine Rechtsposition, meine Damen und Herren, wird insgesamt durch den vorliegenden Gesetzentwurf in einem mit den Sicherheitsbelangen des Staates vertretbaren Maß erheblich gestärkt.
Bei den Vorarbeiten zum Gesetzentwurf wurden die Ressorts, die Nachrichtendienste des Bundes und der Bundesbeauftragte für Datenschutz intensiv beteiligt. Letzterer hat den Entwurf in seinem 14. Tätigkeitsbericht als eine gute Grundlage für die parlamentarischen Beratungen bewertet. Im Laufe der parlamentarischen Beratungen hat er dann weitere Empfehlungen gegeben, die zum größten Teil auch berücksichtigt worden sind.
Es mußte bei den Gesetzesberatungen dem Umstand Rechnung getragen werden, daß sich die Bundesrepublik Deutschland als Mitglied der NATO völkerrechtlich verbindlich verpflichtet hat, bestimmte Mindestanforderungen bei Sicherheitsüberprüfungen einzuhalten. Auch dem trägt der Gesetzentwurf Rechnung.
Die Innenminister und Senatoren der Bundesländer, die über den Entwurf des Gesetzes und den Stand der parlamentarischen Beratungen laufend unterrichtet wurden, haben teilweise schon frühzeitig angekündigt, daß sie für den Länderbereich nach Verabschiedung des Bundesgesetzes entsprechende Sicherheitsüberprüfungsgesetze vorlegen werden. Die Sicherheitsüberprüfungsgesetze sollten einen möglichst einheitlichen Standard haben, um ein Mißtrauen der Länder untereinander und von seiten unserer ausländischen Partnerstaaten vor allem in der NATO erst gar nicht aufkommen zu lassen.
Zusammenfassend, meine Damen und Herren, kann gesagt werden, daß in dem vorliegenden Entwurf die staatlichen Sicherheitsinteressen einerseits und die schutzwürdigen Belange der Überprüften andererseits nach dem Urteil aller Beteiligten in einem ausgewogenen Verhältnis berücksichtigt worden sind.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Gerd Wartenberg.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich, bevor ich auf dieses konkrete Gesetzesvorhaben eingehe, einige Bemerkungen an die Koalition und die Bundesregierung machen, die wohl immer angemessen sind, wenn es um Gesetze geht, die den Datenschutz betreffen.
Die Problematik dieser gesetzlichen Grundlage für die Sicherheitsüberprüfung war ja, daß u. a. die
Anforderungen aus dem Volkszählungsurteil von 1983 umgesetzt werden mußten. In knapp zwei Wochen haben wir das zehnjährige Jubiläum dieses Urteils. Wir stellen fest, daß diese Bundesregierung, die etwa seit der gleichen Zeit im Amt ist, es nicht geschafft hat, einen Großteil der Gesetze, die vom Verfassungsgericht als änderungsbedürftig angesehen worden sind, zu ändern.
Dies kann nicht mehr akzeptiert werden. Sie wissen genau, daß der Übergangsbonus, der auch vom Verfassungsgericht eingeräumt wird, maximal zwei Legislaturperioden dauert, nun aber längst abgelaufen ist.
Die unionsgeführte Bundesregierung hat in den letzten zehn Jahren diesen verfassungsrechtlichen Auftrag nur sehr zögernd erfüllt. Die Liste der Versäumnisse ist lang. Beispielhaft sei darauf hingewiesen, daß das Bundeskriminalamt, der Bundesgrenzschutz und die im Bereich der Strafverfolgung zuständigen Zollbehörden nach wie vor einer verfassungsrechtlich einwandfreien und tragfähigen Rechtsgrundlage für ihre Arbeit entbehren.
Auch im privaten Bereich mangelt es in bedeutenden Rechtsbereichen an verläßlichen und wirksamen Datenschutzbestimmungen. Erinnert sei — ebenfalls beispielhaft — an die vordringlich erforderliche Regelung des Arbeitnehmerdatenschutzes. Übrigens hat diese Bundesregierung in jeder Legislaturperiode versprochen, endlich etwas zu machen. Aber seit zehn Jahren — herzlichen Glückwunsch — kommt nichts.
Meine Damen und Herren, auch im Bereich des Kreditwesens und der Versicherungswirtschaft kann von wirksamen Datenschutzvorschriften nicht die Rede sein. Desgleichen fehlen Vorschriften für das private Sicherungsgewerbe — ein zunehmendes Problem in unserer Gesellschaft — und das Auskunfteiwesen, für Bereiche also, in denen die schutzwürdigen Belange der Bürger schwerwiegenden Beeinträchtigungen oder Gefährdungen unterliegen können. Aktuelle Beispiele gibt es in Hülle und Fülle.
Erschwerend kommt hinzu, daß sich die Bundesregierung nicht nur schwertut, die erforderlichen Konsequenzen aus dem Volkszählungsurteil von 1983 zu ziehen, sondern nunmehr dazu übergegangen zu sein scheint, über die angestrebte europäische Harmonisierung des Datenschutzrechtes den in der Bundesrepublik trotz aller Mängel anerkanntermaßen hohen Datenschutzstandard abzusenken. Wie unlängst der Presse zu entnehmen war, sollen sich der Bundesminister des Innern wie auch sein bayerischer Kollege in Brüssel mit dieser Tendenz betätigt haben.
Diesen Bestrebungen wird der deutsche Gesetzgeber, müssen wir nachdrücklich entgegentreten, um auch in Zukunft das hohe Niveau des Datenschutzes,
17060 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Gerd Wartenberg
das wir in Deutschland erreicht haben, im Rahmen der Europäischen Union zu gewährleisten.
Weil in der Koalition nach wie vor Unbehagen bezüglich bestimmter Bereiche und Errungenschaften des Datenschutzes besteht, versucht sie, das auf dem kalten Wege über die EG wieder zu nivellieren. Das werden wir nicht mitmachen. Ich hoffe, daß dazu auch morgen in der Debatte zu Europa etwas gesagt wird. Es geht nicht, daß der Innenminister auf der Verhandlungsebene in Brüssel stillheimlich seine Duftmarken hinterläßt, aber in diesem Parlament nicht darüber diskutiert wird.
Dem Bundestag liegt heute nun endlich der Entwurf eines Gesetzes über die Voraussetzungen und das Verfahren von Sicherheitsüberprüfungen des Bundes zur Beschlußfassung vor. Dies ist grundsätzlich zu begrüßen, wenn auch kein Grund zur Genugtuung besteht. Dieses Gesetz wird die bisher geltenden, lediglich in Verwaltungsvorschriften befindlichen Regelungen für die Sicherheitsüberprüfungen des Bundes in die verfassungsrechtlich erforderliche gesetzliche Form überführen. Insgesamt also stellt das Gesetz einen Schritt in die richtige Richtung dar, um die zum Teil einander widerstreitenden Erfordernisse des Datenschutzes und der Sicherheit in Einklang zu bringen.
Es bleibt anzumerken, daß sich die Koalitionsfraktionen nur sehr zögernd und nur in einem sehr geringen Umfang dazu haben durchringen können, sachgerechten Änderungsvorschlägen des Bundesbeauftragten für den Datenschutz, die die SPD-Bundestagsfraktion in den Ausschußberatungen zur Abstimmung gestellt hat, zuzustimmen. Gewiß, wir anerkennen, daß in den Koalitionsgesprächen von einigen Kollegen der Koalition durchaus Verbesserungen durchgesetzt worden sind.
Das begrüßen wir an diesem Gesetz. Wir haben auch mit Freude zur Kenntnis genommen, daß der oder die „Verlobte" nunmehr in diesem Gesetz sein oder ihr Leben ausgehaucht haben. Erhalten geblieben sind uns die „Ehegatten" und „Partner". Aber auch in diesem Punkt haben wir eine Regelung erreicht, die nach wie vor problematisch ist, wenn ich bedenke, daß die gemeinsame Erklärung von Ehepartnern, die im Gesetz vorgesehen ist, nicht herausgenommen worden ist, sondern nur versprochen wurde, in einer Testphase von einem Jahr eine getrennte Ermittlung vorzunehmen.
Ich meine, daß die gemeinsame Ermittlung und die darauf folgende Bestätigung durch Ehepartner in einem solchen Fall unmöglich ist, da wir ja in aktuellen Beispielen erfahren haben, daß Ehepartner häufig nicht wissen, ob ihr Partner tatsächlich sicherheitsrelevante problematische Dinge gemacht hat.
Nicht nur im Bereich der Stasiaktenaufarbeitung haben wir schreckliche Beispiele erlebt. Es gibt auch aktuelle Beispiele im Westen, wo Ehepartner völlig überrascht von dem sind, was dort geschieht. Wie soll man erwarten, daß, wenn solche Fälle vorliegen, eine gemeinsame Erklärung abgegeben wird? Das geht einfach nicht. Das wird die Menschen meines Erachtens eher zur Lüge zwingen, als daß sie die Wahrheit sagen.
Meine Damen und Herren, die gefundenen Regelungen für das Auskunftsrecht bzw. das Recht auf Akteneinsicht der Betroffenen sind unbefriedigend und bleiben hinter den Regelungen zurück, die noch im Jahr 1990 gemeinsam von den Koalitionsfraktionen und der SPD im Rahmen der Novellierung des Gesetzes über das Bundesamt für Verfassungsschutz getroffen worden sind. Auch die Vorschriften über die Verankerung des Zweckbindungsprinzips sind unzureichend. Die möglichen Durchbrechungen, d. h. die Verwendung der im Verfahren der Sicherheitsüberprüfung angefallenen Daten für andere Zwecke, sind immer noch zu weitgehend.
Zum Schluß eine Anmerkung in „eigener" Sache. Der Bundestag sollte prüfen, ob es weiter hingenommen werden kann, daß der Bereich des Bundestages nicht diesem Gesetz unterliegt, da er der Geheimschutzordnung des Deutschen Bundestages unterliegt. Diese regelt jedoch nur technische Aspekte der Sicherheit von geheimhaltungsbedürftigen Unterlagen. Es ist durchaus problematisch, hier über Regelungen über die Sicherheitsüberprüfung der „Normalbürger" abzustimmen, für den eigenen Bereich aber ähnliche Prozeduren nicht vorzusehen, wenn vergleichbare Sachverhalte im öffentlichen oder privaten Bereich tätige Bedienstete betreffen. Es sollte gründlich durchdacht und geprüft werden, ob nicht eine Ergänzung der einschlägigen Vorschriften im Abgeordnetengesetz angebracht ist.
In diesem Zusammenhang möchte ich erneut an die Datenschutzproblematik im Parlamentsbereich erinnern. Die Koalitionsfraktionen, die bei der Verabschiedung der Novellierung des Bundesdatenschutzgesetzes im Herbst 1990 mit Vehemenz der Aufnahme einer speziellen Regelung für diesen Bereich widersprochen hatten, haben seinerzeit aber eine bereichsspezifische Regelung im Rahmen der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages angekündigt.
Nach umfangreichen Vorarbeiten zwischen den Fraktionen sind die erarbeiteten sachgerechten Regelungen, die auch die Billigung des Bundesbeauftragten für den Datenschutz gefunden haben, in den Koalitionsfraktionen offenbar spurlos „verschwunden".
Die SPD-Bundestagsfraktion hatte der vorgesehenen Ergänzung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zugestimmt.
Unter diesen Voraussetzungen kann man die Frage stellen, ob es sich bewahrheitet, was einmal ein verstorbener Politiker in einem anderen Zusammen-
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Gerd Wartenberg
hang gesagt hat: daß die für Menschen gemachten
Gesetze auf Abgeordnete keine Anwendung finden.
Ich glaube, wir sollten selbstkritisch über diese Dinge nachdenken. Das schmort alles. Es muß in diesem Zusammenhang gelöst werden. Die Koalitionsfraktionen sind hier im Wort.
Vielen Dank.
Nun spricht der Kollege Dr. Burkhard Hirsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe bei meinen fünf Minuten Redezeit leider nicht die Gelegenheit, jetzt im einzelnen auf die Angriffe des Kollegen Wartenberg auf die Datenschutzgesetzgebung insgesamt einzugehen.
Nur, Herr Kollege Wartenberg: Sie wissen eigentlich genau, daß in den zehn Jahren nach dem Volkszählungsurteil nicht etwa nichts gemacht worden ist, sondern daß wir eine Fülle von datenschutzrechtlichen Regelungen getroffen haben, für manche viel zu viele; nicht nach meiner Meinung, aber manche sehen das so.
Sie wissen, daß wir ein Datenschutzgesetz haben, das auf europäischer Ebene vorbildlich ist.
Ich wäre angesichts der zunehmenden Verflechtungen zwischen den europäischen Ländern sehr froh, wenn es in den anderen europäischen Ländern — wir können ja keine „Dateninsel" bilden — auch nur annähernd gleichwertige Regelungen gäbe oder wenn wir sähen, daß sie entstehen, damit wir uns nicht abkapseln. Nehmen Sie die Verfassungsschutzgesetzgebung. Wir sind das einzige Land in Europa, das auch diesen Bereich gesetzgeberisch geregelt hat. Ich glaube also, daß man da der Bundesregierung und dem Parlament wenig vorhalten kann.
Wenn Sie sich in Ihren Schlußworten auf die Datenschutzregeln im Deutschen Bundestag beziehen, dann wird Ihnen Herr Kollege Wiefelspütz sagen können, daß wir seit Wochen in einem Austausch darüber sind, wie die endgültigen Regelungen aussehen können. Ich habe vor vierzehn Tagen oder drei Wochen Herrn Kollegen Wiefelspütz einen abschließenden Textvorschlag gemacht. Wenn ich heute durch ihn erfahren würde, daß er mit den Formulierungen einig ist, könnten wir zu Beginn des nächsten Jahres die von Ihnen angemahnte Gesetzgebung im Einverständnis aller Fraktionen erledigen. Es tut mir also leid, wenn Sie nicht informiert sind. Aber da ist nichts liegengeblieben.
— Nein, Herr Kollege Wiefelspütz; aber wenn Sie mir
sagen würden, daß Sie mit dem Textvorschlag einverstanden sind, der in der Tat die Zustimmung aller
anderen Beteiligten hat, dann könnten wir mit der Gesetzgebung meinetwegen heute abend beginnen.
Nun aber zu dem Gesetz selber; sonst kann ich gar nichts mehr sagen. Ich halte schon die Überschrift dieses Gesetzes für falsch. Denn es geht ja nicht um die Überprüfung von Sicherheit, sondern um die Überprüfung von Menschen, die Zugang zu klassifizierten Dossiers haben. Und das sind eine ganze Menge. Es gibt Sammlungen über schätzungsweise 600 000 Menschen. Über jeden, der Zugang zu klassifiziertem Material hat — Beamte in allen Ministerien, Beschäftigte in der Wirtschaft, im öffentlichen Dienst—, ist eine Sicherheitsakte entstanden. Und das ist keine Kleinigkeit, weil der Zugang zu den Akten beschränkt ist und hier in der Tat Daten gesammelt werden, die sich auch aus Umfeldbefragungen bei entsprechenden Zugängen ergeben können, Akten, die den einzelnen auf Lebenszeit begleiten.
Ich muß leider sagen, daß der Regierungsentwurf, den wir bekommen hatten, nicht gut war. Darin war eine Fülle alten Denkens, als ob sich die Welt nicht verändert hätte.
Ich bin dem Kollegen Belle sehr dankbar, daß wir uns in relativ kurzer Zeit auf vernünftige und etwas modernere, schlankere Regelungen haben verständigen können, indem wir gerade bei den einfachen Vertraulichkeitssachverhalten — NfD und „VS-Vertraulich" — die Prüfungen wesentlich abgeschlankt haben und indem wir insbesondere die Rechte dritter Personen, die mit einer klassifizierten Person in einem gemeinsamen Haushalt leben — Ehepartner, Lebensgefährte, erwachsene Kinder —, erweitert haben, daß, wenn sie in Prüfungen einbezogen werden, dies nicht ohne ihren Willen, ohne ihre Kenntnis geschieht und daß sie sich selber in einem Verfahren darüber einigen können. Ich glaube, daß Herr Kollege Belle das nachher im einzelnen darstellen kann; meine Redezeit ist nahezu abgelaufen.
Ich will zum Schluß nur noch einen Gedanken äußern. Der Umfang dieser Prüfungen hängt im Grunde genommen davon ab, wieviel Material klassifiziert wird, also als vertraulich oder in irgendeiner Weise „Geheim" gestempelt wird.
Ich habe manchmal den Eindruck — und das ist hier oft genug gesagt worden —: Was hier im Plenum des Deutschen Bundestages in aller Öffentlichkeit gesagt wird, ist und bleibt häufig mehr geheim als das, was in qualifizierten Dokumenten steht. Das liegt daran, daß dann, wenn ein „Geheim"-Stempel auf eine Sache kommt, jeder ein großes Interesse entwickelt, das erst einmal zu lesen, weil er meint, daß dort ungeheure Dinge stehen.
Darum kann man ein solches Gesetz nicht abschließend bewerten, und man kann nicht dafür sorgen, daß wir uns von übertriebener Geheimniskrämerei befreien, wenn nicht die Verwaltung selber begreift, daß sie in der Klassifizierung von Dokumenten zurückhaltender sein muß, als sie es bisher ist.
Es ist nicht so, daß wir von Feinden umgeben sind, die nichts anderes im Sinn haben, als unsere Akten in allen Details durchzuschnüffeln. So ist es nicht. Ich glaube, daß etwas mehr Gelassenheit auch in diesem
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Dr. Burkhard Hirsch
Bereich der Verwaltung wünschenswert und möglich ist.
Nun spricht die Kollegin Frau Ulla Jelpke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein bisher ohne Gesetz geregelter Bereich der umfassenden Datenerhebung und Datenweitergabe soll gesetzlich geregelt werden. Wenn man so will, ist das eine gute Botschaft. Die schlechte ist: Den Sicherheitsüberprüfungen — übrigens ein Fossil vor allem des Kalten Krieges und der Kommunistenhatz — wird neues Leben eingehaucht. Geregelt werden nämlich im wesentlichen die Verfahren der Bearbeitung und der Weitergabe von Daten, nicht aber das Verbot von umfassenden Erhebungen.
Kann wenigstens, wie es der Gesetzentwurf verspricht, von einer schrumpfenden Zahl von Sicherheitsüberprüfungen ausgegangen werden? Der kurze Abschnitt 3 der Gesetzesbegründung und die reale Entwicklung legen das genaue Gegenteil nahe. Klar wird dann nämlich, daß gegen die heutigen Bedrohungsanalysen der alte Feind: die sozialistischen Staaten und ihre sogenannten fünften Kolonnen in der Bundesrepublik, einen ziemlich einfach eingrenzbaren Feind abgab.
Da Ihnen schlicht und einfach das alte Feindbild abhanden gekommen ist, sehen Sie die Sicherheit überall bedroht. In einer solchen Situation schrumpft der Sicherheitsbereich nicht, wie das Gesetz es verspricht; er dehnt sich meines Erachtens ins Unermeßliche und Allgegenwärtige aus. Sicherheitsempfindlich sind inzwischen nämlich auch High-Tech und Kommunikationsindustrien, Versorgungseinrichtungen und internationale Wirtschaftszweige.
Meine Damen und Herren, allein die etwa 7 000 Bediensteten des BND können eine Gesamtzahl von 100 Überprüfungen im privaten Bereich nach sich ziehen; Verfassungsschutz und Militärischer Abschirmdienst noch mal so viele. Das sind Unternehmen, denen man eine Sicherheitsüberprüfung zur Not noch zugestehen mag.
Ganz anders aber ist es mit den 2 Millionen Beschäftigten in bundesdeutschen Betrieben, die bereits seit 1988 sicherheitsüberprüft und politisch selektiert wurden, wie es der Experte Rolf Gössner schreibt. Laut Datenschutzbericht von 1988 waren es Ende der 80er Jahre allein in Bayern über 1 000 Betriebe unterschiedlicher Branchen. In Hamburg waren es neben Rüstungsbetrieben und Werften insbesondere die Verkehrs- und Versorgungsbetriebe, deren Beschäftigte zum potentiellen Sicherheitsrisiko erklärt wurden.
Damals wurde das heimlich gemacht. Mit anderen Worten: Die Betroffenen haben nicht erfahren, daß sie überprüft wurden. Heute, nach dem neuen Gesetz, müssen sie ihre Einwilligung geben, wenn sie einen Job haben wollen.
Weil „sich latente Gefahren täglich in konkrete Gefährdungen des Staates und seiner Bevölkerung
verwandeln können" — so heißt es in der Begründung des Gesetzentwurfs —, lehnen wir diese Sicherheitsphilosophie ab.
Danke.
Als nächster spricht der Kollege Dr. Wolfgang Ullmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Von Geist, Logik und Inhalt dieses Gesetzes kann ich mich nur entschieden distanzieren. Sie wissen, daß ich das sehr ungerne tue. Aber in diesem Falle muß es sein. Der Grund steht in der Begründung des Gesetzestextes. Dort steht ein Satz:
Im Vordergrund stehen dabei Bestand und Sicherheit des Staates, weil sie als Garanten für die Individualrechte erhalten bleiben müssen.
Es ist dieser Satz, dem das Gesetz entspricht, der mich aber zu dieser entschiedenen Distanzierung veranlaßt. Hier wird die Priorität der Staatssicherheit ausgesprochen und gegen das Demokratieprinzip der Priorität von Menschen- und Bürgerrechten argumentiert.
Zwingend, so denke ich, sind dann auch die Folgen und die Ergebnisse dieser Prinzipienumkehr. Geheime Verschlußsachen und Geheimhaltungsinteressen der Rüstungsindustrie werden zum Maßstab, an dem persönliche Eigenschaften wie Zuverlässigkeit, Verfassungstreue, Nichtbestechlichkeit und Nichterpreßbarkeit gemessen werden.
Meine Damen und Herren, kommt Ihnen da nicht auch ein Gedanke wie mir? Nach welchen Kriterien wollen wir denn dann die Zuverlässigkeit von Rechtsanwälten, Ärzten und Pfarrern überprüfen, in deren Berufsausübung es nicht um geheime Verschlußsachen und Waffen, sondern um die schwerstwiegenden persönlichen Geheimnisse von Menschen geht?
Es weiß doch hier alle Welt, daß allein die Berufspraxis selber über die Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit entscheidet und entscheiden kann. Bei Geheimnissen viel geringerer moralischer Dignität soll es nun Überprüfungen geben, in die engste Vertraute einbezogen werden.
Meine Damen und Herren, ich möchte gerne wissen, wie diese Überprüfungen in irgendeiner überzeugenden Weise von der Aufforderung zum Denunzieren und zur Kollaboration getrennt werden sollen, und zwar auch, wenn man einen solchen Gesetzentwurf macht und damit eine Legalität herstellt. Ich kann das nicht sehen. Als ob jemand — auch wenn er zustimmen darf —, der genau die karrieregefährdenden Konsequenzen seiner Entscheidung kennt, noch im geringsten frei wäre, ja oder nein in dieser heiklen Sache zu sagen! Das müssen Sie mir erst noch klarmachen.
Es stünde — so ist mein Gesamturteil — wirklich traurig um die Demokratie, wenn der Gesetzentwurf
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Dr. Wolfgang Ullmann
recht hätte, daß es keine Alternativen gibt. Aber es gibt sie natürlich. Man braucht nur den Abschnitt I der Begründung zu lesen. Man könnte die vorhandene Gesetzeslage datenschutzrechtlich modernisieren, und man könnte durchaus die die individuelle Diskriminierung vermeidende Regelüberprüfung machen.
Ich kann leider nur sagen: Daß man mit einem solchen Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag in eine vorbildliche Demokratie gehen kann und hier eine Mehrheit bekommt, ist für mich eine befremdliche Tatsache.
— Das könnte ich.
Als nächster hat das Wort der Kollege Meinrad Belle.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Haben wir beim Sicherheitsüberprüfungsgesetz wirklich alles richtig gemacht? Das fragte ich mich, als gestern im Innenausschuß die Koalitionsfraktionen dem Gesetz zugestimmt und sich die Kolleginnen und Kollegen von der SPD der Stimme enthalten haben. Heute brauche ich mich das nicht mehr zu fragen. Nach der Rede des Kollegen Wartenberg ist es natürlich klar, daß wir das ganz offensichtlich richtig gemacht haben, Herr Hirsch.
Denn eigentlich könnte man bei dieser Sachlage vermuten, daß die öffentlichen Sicherheitsinteressen möglicherweise nicht ausreichend gewahrt sind. Ich habe daher, um ganz sicherzugehen, die wichtigsten Bestimmungen nochmals überprüft. Meine Befürchtungen waren grundlos.
Lieber Kollege Wartenberg, jetzt haben wir bei dieser Gesetzgebung im Ausschuß so hervorragend zusammengearbeitet; ich habe gedacht, das kommt heute bei Ihnen zum Ausdruck. Ich habe natürlich Verständnis dafür: Es ist außerordentlich schwierig, Regierungskoalition zu loben, wenn sie etwas Gutes gemacht hat. Das ist natürlich ein bißchen problematisch.
Zu den eigentlichen Beanstandungen hat der Kollege Dr. Hirsch schon etwas gesagt. Er ist länger dabei als ich; er kann das noch besser beurteilen.
Also, meine Damen und Herren: Die öffentlichen Sicherheitsinteressen sind voll gewahrt.
Auf die Einwendungen des Kollegen Dr. Ullmann, meine Damen und Herren, kann ich leider nicht eingehen; dazu reicht mir die Redezeit nämlich nicht. Ich bin aber gern bereit, in einem persönlichen Gespräch die Hintergründe dieses Gesetzes mit Ihnen, Herr Dr. Ullmann, zu besprechen; denn ich muß leider sagen: Sie haben Sinn und Zweck dieses Gesetzes offenbar gar nicht erkannt.
Allerdings will ich feststellen, meine Damen und Herren, daß wir uns wirklich alle bei der Beratung dieses Gesetzentwurfs an die Grundmaxime des amerikanischen Staatsmannes, Philosophen und Erfinders Benjamin Franklin gehalten haben. Dieser sagte:
Wer Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, verdient weder Freiheit noch Sicherheit.
Ich möchte feststellen, daß wir die Interessen der zu überprüfenden Personen und auch die Datenschutzinteressen in fast vorbildlicher Weise berücksichtigt haben.
Trotz der Kritik des Kollegen Wartenberg möchte ich die gute Zusammenarbeit der Berichterstatterkollegen, aber auch — und das muß besonders erwähnt werden — das deutlich erkennbare Bemühen des Bundesinnenministeriums, auf unsere Vorstellungen einzugehen, lobend erwähnen. Auch das muß einmal gesagt werden.
Meine Damen und Herren, das Gesetz regelt die Voraussetzungen und das Verfahren der Überprüfung von Personen, die im öffentlichen Dienst oder im privaten Bereich mit geheimzuhaltenden Angelegenheiten beschäftigt sind. Einzelheiten, die das Sicherheitsrisiko begründen, und die Folgen für die Beschäftigten bei einem eventuellen Sicherheitsrisiko sind gesetzlich geregelt. Damit wird die 1990 aus Datenschutzgründen vom Bundestag aufgestellte Forderung erfüllt, die bisher in verschiedensten Richtlinien enthaltenen Sicherheitsbestimmungen gesetzlich zu regeln.
Die Sicherheitsüberprüfung ist aus Gründen des Geheimschutzes notwendig. Dem Geheimschutz unterliegen Informationen, deren Kenntnis den Bestand oder lebenswichtige Interessen, die Sicherheit oder die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines der Länder gefährden. Von diesen zu schützenden Informationen sollen Nichtberechtigte keine Kenntnis erhalten.
Die aus den früheren Regelungen übernommenen Sicherheitsstufen lauten nach wie vor: „Verschlußsache", „VS — Nur für den Dienstgebrauch", „VS- Vertraulich", „Geheim", „Streng geheim". Gesetzlich festgelegt wurde nun, daß eine Sicherheitsüberprüfung erst ab der Sicherheitsstufe 2, also bei „VS-Vertraulich", beginnt und bei der Einstufung „Geheim" bzw. „Streng geheim" erweitert fortzuführen ist.
Lassen Sie es mich bildhaft ausdrücken: Bei der Beratung dieses Gesetzentwurfes wandelten wir auf einem schmalen Grat, denn es waren immer die Freiheitsrechte des einzelnen gegenüber den Sicherheitsinteressen des Bundes und der Länder abzuwägen. Ich stelle für meine Kollegen fest, daß uns diese Gratwanderung gut gelungen ist; und ich bitte Sie, diesem Sicherheitsüberprüfungsgesetz zuzustimmen.
Als zuständiger Berichterstatter will ich abschließend allerdings noch auf ein redaktionelles Versehen hinweisen. Bei der Zusammenstellung des uns heute
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Meinrad Belle
vorliegenden Gesetzestextes wurde versehentlich — im Hinblick auf die Kürze der Zeit und die große Eile verständlich — die Anregung in Ziffer 21 des Bundesrates, der die Bundesregierung zustimmte und die wir am 24. November 1993 im Innenausschuß einvernehmlich beschlossen hatten, nicht übernommen.
Ich weise daher darauf hin, daß der vorliegende Gesetzestext in § 21 Abs. 1 wie folgt zu ändern ist:
Erstens. In Satz 1 Nr. 2 sind die Worte „wenn die Strafverfolgung ansonsten erheblich erschwert würde" zu streichen.
Zweitens. Nach Satz 1 ist folgender Satz einzufügen:
Die Strafverfolgungsbehörden dürfen die ihnen nach Satz 1 Nr. 2 übermittelten Daten für Zwecke eines Strafverfahrens nur verwenden, wenn die Strafverfolgung auf andere Weise erheblich weniger erfolgversprechend oder wesentlich erschwert wäre.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, auch wenn sie auf der linken Seite nur eingeschränkt vorhanden war.
Das Wort zu einer Erklärung zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsordnung erhält der Kollege Konrad Weiß.
Vielen Dank. — Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe Bedenken gegen die Verfahrensweise dieses Gesetzes, und ich habe mich dennoch entschlossen, diesem Gesetz zuzustimmen.
Ich stehe unter dem Eindruck der Kommunalwahlen in Brandenburg, wo radikale Kräfte in den öffentlichen Dienst drängen. In Frankfurt an der Oder kandidiert für das Amt des Oberbürgermeisters ein Rechtsradikaler, in Potsdam gibt es einen PDS-Oberbürgermeisterkandidaten, der heute als Stasiangehöriger entlarvt worden ist, drei Tage vor den Wahlen.
Ich halte es einfach angesichts dieser Situation in Deutschland für unverantwortlich, einer solchen Sicherheitsüberprüfung — auch, wenn ich das weiß Gott nicht mit frohem Herzen tue — nicht zuzustimmen.
Wir kommen jetzt, nachdem keine weiteren Wortmeldungen mehr vorliegen, zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Sicherheitsüberprüfungsgesetzes auf den Drucksachen 12/4891 und 12/6307.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung unter Berücksichtigung der Änderungen, die der Kollege Meinrad Belle hier vorgetragen hat, zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenstimmen? — Darf ich noch einmal bitte fragen, falls es hier Unsicherheiten gibt: Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei wenigen Gegenstimmen und
vielen Enthaltungen im Verhältnis zur Anwesenheit im Parlament angenommen.
Damit kommen wir zur
dritten Beratung und Schlußabstimmung.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.
Ich rufe damit den Tagesordnungspunkt 10 und den Zusatzpunkt 3 auf:
10. Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Antje-Marie Steen, Carl Ewen, Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Reisemöglichkeiten für behinderte Menschen
— Drucksachen 12/3649, 12/5086 —
ZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rolf Olderog, Wilfried Bohlsen, Wolfgang Börnsen , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Michaela Blunk (Lübeck), Dr. Eva Pohl, Dr. Olaf Feldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Urlaubs- und Freizeitmöglichkeiten für behinderte Menschen
— Drucksache 12/6290 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie und Senioren
Ausschuß für Gesundheit
Zur Großen Anfrage liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dazu anderweitige Vorstellungen? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Frau Kollegin Antje-Marie Steen auf.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Morgen ist der erste UNO-Tag der behinderten Menschen. Ich finde, es ist dieses Hohen Hauses würdig, daß wir heute auch eine Debatte über Reisen und Urlaub für Menschen mit Behinderungen führen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt eine Lebensweisheit, die lautet: Wenn einer eine Reise tut, dann kann er viel erzählen. So können viele Menschen mit Mobilitätseinschränkungen oder Behinderungen ihre Erlebnisschilderungen beginnen. Was für den nichtbehinderten Reisenden als ein Teil Urlaubsabenteuer oder als ungewöhnliches Ereignis empfunden wird, stellt sich für Mobilitätseingeschränkte als bittere tägliche Realität oder gar Diskriminierung dar. So kann man nicht spontan und ohne große Vorbereitung eine Reise antreten. Wenn man zur Weiterbewegung einen Rollstuhl oder eine Hilfe benötigt, ist kein
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17065
Antje-Marie Steen
kurzfristig beschlossener Urlaub möglich, da Urlaubsquartiere und Freizeitangebote erst auf ihre barrierefreie Möglichkeit nachgefragt werden müssen.
Im Zeitalter perfektionierter Tele- und Kommunikationstechniken mühen sich Hör-, Seh- und Sprachbehinderte um Informationen, die wir als Hörende, Sehende oder Sprachfähige ihnen gedankenlos vorenthalten. Oder wie soll man es denn anders bezeichnen als „gedankenlos", wenn Lautsprecherdurchsagen z. B. in den Zügen undeutlich und zu schnell erfolgen, keine Lichtanzeige den nächsten Zughalt anzeigt, wichtige Nachrichten- und Politiksendungen ohne Gebärdendolmetscher über unsere Fernseher gehen?
Kleinwüchsige Menschen und Rollstuhlnutzer können weder Fahrpläne lesen noch Telefone benutzen, wenn sie starr in einer Höhe für normalwüchsige Menschen angebracht sind. Ebenso ergeht es blinden Mitmenschen, wenn sie Informationen nicht ertasten oder akustisch aufnehmen können. Körperbehinderte müssen zur Erlangung einer Fahrerlaubnis immer noch einen psychologischen Test ablegen, Rollstuhlnutzer vor Antritt einer Flugreise ein ärztliches Attest über ihre Flugtauglichkeit beibringen.
Trotz aller Bemühungen der Bundes- und Reichsbahn, für Rollstuhlbenutzer über mobile Einstieghilfen eine Beförderung auf den wichtigsten Bahnhöfen zu ermöglichen, bleibt es nur ein unzureichendes Angebot. Nach wie vor muß vor Antritt einer Reise umständlich für jeden Ein-, Um- und Ausstieg eine Anmeldung erfolgen, die nur durch zusätzliches Personal oder hohen technischen Aufwand bewältigt werden kann.
Für mich ist die Weigerung der Bundesbahn, fahrzeuggebundene Einstieghilfen, wie sie in vielen europäischen Ländern längst zur Selbstverständlichkeit
geworden sind, in deutsche Bahnen einzubauen, nicht
nachvollziehbar. Das Kostenargument scheint ein vorgeschobenes; vielmehr ist es wohl eher die betriebswirtschaftliche Betrachtungsweise, die allerdings unter volkswirtschaftlichen Aspekten ganz anders zu
bewerten ist. Es hat bis zum heutigen Tag keine
tatsächliche Kostenermittlung stattgefunden. Inzwischen gibt es bereits konstruktionsfähige Entwicklungen auf diesem Gebiet, und ich fordere die Bundesregierung auf, endlich in eine Entscheidungsphase einzutreten, um wenigstens bei der Neukonstruktion von
Eisenbahnwaggons diese Einstieghilfen vorzusehen.
Eine weitgehend selbständige Lebensführung und Handlungsfähigkeit erspart Sonderkosten, wie z. B. für Extratransporte, zusätzliche Hilfspersonen, nur einseitig zu nutzende Einbauten und Geräte. So dient ein Niederflurbus nicht nur Rollstuhlnutzern, sondern auch Eltern mit Kinderwagen, Menschen mit Mobilitätseinschränkung und Gehschwierigkeiten, Reisenden mit schwerem Gepäck, älteren Reisenden, kurz: Barrierefrei und multifunktional dienen technische Hilfen allen Reisenden, egal, ob es sich dabei um Bundesbahn, den ÖPNV, das Schiff oder das Flugzeug handelt.
Ein behindertengerechter ICE nützt leider keinem mobilitätseingeschränkten Reisenden, wenn er nicht hineinkommt oder wenn die Infrastruktur des Bahnumfeldes einen Zugang gar nicht erst ermöglicht. Spätere Umrüstung und Umbau sind in jedem Fall teurer als sofortige Herstellung.
Wir sind nach wie vor meilenweit davon entfernt, dem berechtigten Anspruch nach selbstbestimmter Lebensführung und der uneingeschränkten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und Reisen durch gesetzliche Maßnahmen und bauliche Vorgaben Rechnung zu tragen.
Bis heute ist es bei der bloßen Beschlußempfehlung — ich betone hier: „bloßen" — des Deutschen Bundestages, nachzulesen auf Drucksache 11/8213 vom 29. Oktober 1990, geblieben.
Obwohl es ein einstimmiges Votum gab, Reisehemmnisse und Erschwernisse für Behinderte durch umfassnde Maßnahmen in den Bereichen Beförderung, Bauten und Informationen zu erleichtern, sind nur marginale Verbesserungen eingetreten.
In ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage in diesem Jahr weist die Bundesregierung darauf hin, daß sie vielen Entwicklungen zur Gestaltung eines barrierefreien Lebensraumes positiv gegenübersteht; aber leider entwickelt sie keine Initiative, ihre Umsetzung aktiv zu fördern. So verzichtet sie bis heute darauf, bei der Investititionsförderung kleinerer und mittlerer Beherbergungsbetriebe besondere Konditionen für einen barrierefreien Ausbau zu gewähren.
Die Möglichkeit eines Verbandsklagerechts seitens der Behindertenverbände wird auch nicht eingeräumt. Das ist deshalb wichtig für die Betroffenen, um z. B. die Einhaltung der DIN-Normen auch notfalls im Klageweg zu erreichen, da leider alle DIN-Vorschriften nicht verbindlich sind und nicht verpflichtend angewandt werden müssen.
Ich darf hier das Hohe Haus an sein eigenes Bauvorhaben erinnern. Der neue Plenarsaal erweist sich als ein Musterbeispiel für die nicht ausreichende Berücksichtigung der Forderung der Behindertenvertretung nach einer barrierefreien Bauweise.
Erst im laufenden Bauvorhaben sind Nachbesserungen erfolgt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, einmal selbst nachzuprüfen, was mit dieser Rampe ist, was am Eingang am Rheinufer los ist und was sich in bezug auf die Toilettenanlage darstellt.
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Antje-Marie Steen
Das ist nicht behindertengerecht, sondern wirklich ausgrenzend. Noch immer müssen Rollstuhlbenutzer den Lastenaufzug im neuen Hochhaus besteigen, wollen sie Abgeordnete in ihren Büros aufsuchen — übrigens nur über den Lieferanteneingang erreichbar!
Sicherlich ist es richtig, darauf zu verweisen, daß nur durch ausreichende Information der Bevölkerung die Integrationsbemühungen erfolgreich verlaufen können. Aber wie ist es dann zu verstehen, daß die Koalitionsparteien sich verweigern und einer Aufnahme des Verfassungsgebots zur Gleichstellung Behinderter — „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" — in das Grundgesetz nicht folgen? Wie, bitte sehr, soll gesellschaftliche Akzeptanz erreicht werden, wenn sich die Regierungsparteien gegen die integrationsstiftende Wirkung von Verfassungsgrundsätzen wehren und in Kauf nehmen, daß dem Gleichstellungsanspruch und dem Schutzbedürfnis behinderter Bürger und Bürgerinnen angesichts zunehmender Ausschreitungen und Belästigungen gegen sie keine Beachtung geschenkt wird?
Noch immer klaffen zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit große Lücken. Das vielzitierte und in seiner Auswirkung verhängnisvolle sogenannte Flensburger Urteil ist ein deutliches Zeichen dafür.
Die Begründung des Urteils — „Der unausweichliche Anblick der Behinderten auf engem Raum bei jeder Mahlzeit verursachte Ekel und erinnerte ständig in einem ungewöhnlich eindringlichen Maße an die Möglichkeit menschlichen Leidens" — drückt eine Mißachtung der Menschenwürde dieser behinderten Menschen aus.
Ich kenne sehr viele Behinderte, die mit ihrem Schicksal sehr emanzipiert umgehen, aber an den äußeren Umständen verzweifeln, die sie immer wieder zum Objekt machen, die ihnen ihre Hilflosigkeit und Abhängigkeit ständig vor Augen führen. Das ist der Leidensdruck, der durch eine hinhaltende und unsensible, der Situation der behinderten Menschen nicht gerecht werdende Politik erzeugt wird, an der Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, sich leider beteiligen.
Wie weit wir in der Bundesrepublik noch von einer annähernd zumutbaren und barrierefreien Freizeit- und Urlaubsgestaltung entfernt sind, konnten wir als Arbeitsgruppe bei unserer gemeinsamen Reise nach Schleswig-Holstein mit mobilitätseingeschränkten Mitreisenden hautnah erleben, wobei die Ereignisse und Erlebnisse in Schleswig-Holstein auf die gesamte Bundesrepublik übertragbar sind und durchaus keine Sondersituation darstellen.
Trotz umfangreicher, sorgfältiger Vorbereitung gelang es z. B. nicht, den EC in Puttgarden mit einem Rollstuhl über eine Einstieghilfe zu verlassen, da diese schlicht nicht angeliefert wurde. Der Zugang zu Ausflugs- oder Fährschiffen, zu Badeanlagen oder Restaurants war kein einziges Mal behindertengerecht oder gar barrierefrei. Diskriminierende Situationen wie die Benutzung von Lastenaufzügen in Restaurants, vorbei an Müllcontainern, unzureichende WC-Anlagen und Wanderwege — all das verursachte physischen und psychischen Streß für alle in der Gruppe.
Und immer wieder die Situation, auch von uns erlebt, die wir nicht behindert sind — die Frage: Warum reisen Sie auch mit so viel Behinderten? Wir waren sechs Behinderte in einer Gruppe von zehn Reisenden.
Reisen und Urlaub machen, liebe Kollegen und Kolleginnen, darf nicht mehr ein Privileg der sogenannten Gesunden sein. In der Bundesrepublik leben 6 Millionen Menschen mit Behinderungen und Mobilitätseinschränkung. Über 96 % von Ihnen erleiden diese Behinderung im Laufe ihres Lebens durch Krankheit, Unfall oder Alterungsprozeß. Und dazu können wir alle hier auch sehr schnell zählen. Für sie, aber auch für ihre Familien bedeutet Urlaub zu machen immer noch eine Hindernisrallye — von der Suche nach der behindertengerechten Unterkunft bis hin zur Freizeitgestaltung. Strände, Sehenswürdigkeiten, Wanderwege, Museen, historische Gebäude und vieles mehr sind Menschen mit Mobilitätsschwierigkeiten, aber auch ihren Angehörigen überwiegend verschlossen. Und sehr schnell verstecken sich Veranstalter und politisch Verantwortliche hinter gesetzlichen Vorschriften, z. B. feuerpolizeilicher oder versicherungsrechtlicher Art, um somit den Mangel an barrierefreien öffentlichen Einrichtungen zu begründen.
Unser Ziel ist es, behinderte Menschen in ihrer Existenz und ihrer Besonderheit ohne Ausnahme zu akzeptieren. Das bedeutet, daß Menschen mit Behinderungen ihr Leben so selbstbestimmt führen können, daß es dem ihrer nichtbehinderten Mitbürgerinnen und Mitbürger entspricht.
Die Gestaltung unseres Lebensumfeldes muß sich an die Lebenssituation der Menschen mit Behinderungen und Mobilitätsschwierigkeiten anpassen, wollen wir Ausgrenzung und Diskriminierung vermeiden. Richten wir keine künstlichen Hürden auf, wo sie vermeidbar sind, im Straßenraum, bei der Gestaltung historischer Plätze und Bauten.
Ich zitiere den Herrn Bundespräsidenten aus einer Ansprache aus dem Jahre 1993: „Behindertengerecht ist menschengerecht." Beseitigen wir endlich die Barrieren in unseren Köpfen und üben wir Solidarität und einen selbstverständlichen Umgang der Menschen miteinander, ohne Ansehen der körperlichen, geistigen, seelischen und materiellen Unterschiede.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17067
Antje-Marie Steen
Das gehört zu den wichtigsten Elementen einer Demokratie.
In diesem Sinne bitte ich Sie um die Zustimmung zu dem Entschließungsantrag der SPD-Fraktion, der Ihnen vorliegt und dessen Inhalt auf den bitteren Erfahrungen vieler Betroffener im Erleben ihrer täglichen Ausgrenzung aus der Gesellschaft der Nichtbehinderten beruht.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Bevor ich das Wort an Herrn Olderog gebe, möchte ich sagen: Ich habe Sie gehört.
Im Wasserwerk waren überhaupt keine Vorkehrungen für Behinderte getroffen und in der Anfangsplanung für den Plenarsaal waren ebenfalls keine vorgesehen. Wir haben das alles mühsam hinterher nachgeplant. Das ist nicht optimal geworden. Für Berlin machen wir es jetzt vielleicht erstmalig so, wie wir aus dem Lernprozeß hervorgehen.
Ich möchte noch hinzufügen, daß hier sehr viel Mühe darauf verwandt wurde, das im Nachhinein einzuplanen. Einige Widerwärtigkeiten sind leider geblieben.
Als nächster spricht unser Kollege Olderog.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich fand es eindrucksvoll, mit welchem Engagement sich die Frau Kollegin Steen — wir kommen beide aus Ostholstein — diesem Thema gewidmet hat. Ich finde es überhaupt erfreulich, daß sich über alle Parteigrenzen hinweg die Fremdenverkehrspolitiker dieses Themas „Mehr Möglichkeiten für Urlaub und Freizeit für Behinderte" angenommen haben.
Mein Eindruck ist, daß es das zentrale Problem für die Integration von Behinderten und Nichtbehinderten ist, daß die Vorurteile, die Berührungsängste und Unsicherheiten abgebaut werden. Was Richtlinien, Empfehlungen für einheitliche Normen, Förderprogramme, Wissenschaften und dergleichen mehr angeht, finde ich, ist schon sehr viel geschehen.
Aber an der Einstellung der Menschen zum Positiven hat sich fast nichts verändert, allen Appellen zum Trotz. Ich möchte auf zwei Beispiele hinweisen, die das deutlich machen. Das ist einmal das Beispiel der Gerichtsurteile, Frau Steen hat das schon angesprochen. Es ist wirklich schwer zu begreifen, daß es Gerichtsurteile in Deutschland gibt, die besagen, daß die Anwesenheit von Behinderten im Hotel ein Reisemangel ist und dazu berechtigt, den Preis zu mindern.
Das ist angesichts all der vielen moralischen Appelle und der Aufforderung zur Integration einfach nicht zu begreifen.
Ich möchte ein zweites Beispiel nennen. Ein großer Reiseveranstalter, der auch behindertengerechte Angebote in seinem Programm hat, weist nicht mit einem einzigen Wort in seinem Katalog darauf hin. Dazu befragt, hat der Leiter der Kundenabteilung gesagt: „Das würde bedeuten, daß solche Hotels von den Normalen nicht mehr gebucht würden."
Meine Damen und Herren, diese deprimierende Aussage kennzeichnet mehr als manches andere die traurige Wirklichkeit zum Thema Integration behinderter Menschen in Deutschland im Jahre 1993.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ullmann?
Ja, gern.
Herr Kollege Olderog, Sie haben das in sehr eindrucksvoller Weise dargestellt, wie es auch um die Rechtsprechung bestellt ist. Können Sie mir dann bitte erklären, warum Ihre Fraktion den Antrag nicht unterstützt hat, das Diskriminierungsverbot in die Verfassung aufzunehmen? Dann wären solche Urteile nicht mehr möglich.
Das ist ein doch sehr anderes Feld. Wir haben uns damals von der Fraktion sehr massiv und sehr eindeutig gegen diese Rechtsprechung gewandt. Ich selbst habe dazu eine Erklärung abgegeben. Das Antidiskriminierungsrecht, wie es in den USA besteht, paßt nicht zum deutschen Rechtssystem. Wahrscheinlich haben wir es deswegen — so genau weiß ich das gar nicht — abgelehnt.
Meine Damen und Herren, wie können wir Ängste und Vorurteile abbauen? Toleranz und gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber behinderten Urlaubern, überhaupt gegenüber allen Behinderten können nicht einfach von oben verordnet werden. Viele der Vorbehalte entstehen aus Unkenntnis, aus mangelnder Erfahrung im Umgang mit dieser Bevölkerungsgruppe. Deshalb ist es so wichtig, daß wir überall dort, wo sich Chancen für ein Miteinander von Behinderten und Nichtbehinderten finden, diese konsequent unterstützen und fördern. Dabei sind auch öffentliche Appelle der Verantwortlichen und an die im gesellschaftlichen Leben Verantwortlichen immer wieder besonders wichtig. Deshalb begrüße ich im Bereich des Fremdenverkehrs besonders auch die Leitlinien des Deutschen Fremdenverkehrsverbandes von Juli 1993, der, wie ich finde, sehr eindringlich und eindrucksvoll zu diesem Thema Stellung bezogen hat und an all die vielen Verantwortlichen im Fremdenverkehr appelliert hat.
17068 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Dr. Rolf Olderog
Ich empfinde die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage als eine erfreuliche Aussage.
— Ja, das ist zu fassen. Für mich ist das jedenfalls zu fassen. Man kann natürlich extreme Forderungen und Vorstellungen haben. Aber man muß doch einmal sehen, welch eine Fülle von Aktivitäten in den unterschiedlichsten Bereichen inzwischen gestartet worden ist.
— Ich habe das so empfunden. Ich finde, man muß auch ein bißchen nüchtern sein. Man kann sich immer mehr vorstellen, man kann perfektionistische Maßstäbe anlegen. Ich glaube, daß sich die Bundesregierung auf vielen Gebieten bemüht — sie ist noch nicht am Ziel —, ihrer Verantwortung gerecht zu werden.
Wir müssen doch sehen, meine Damen und Herren, was insbesondere auf dem Gebiet des Transportwesens, des Verkehrswesens in den letzten Jahren alles gemacht worden ist.
Man kann natürlich sagen: Finanzen interessieren überhaupt nicht. Aber wer sich diese Dinge ein bißchen finanzpolitisch verantwortungsbewußt ansieht, kommt um ein positives Urteil der vielen Initiativen und Aktionen gar nicht herum.
Herr Kollege Olderog, der Abgeordnete Seifert möchte eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie das?
Ja, bitte schön. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Seifert.
Herr Kollege Olderog, können Sie es wirklich als Bemühen der Bundesregierung erkennen, etwas für die Menschen mit Behinderungen zu tun, wenn sie neue Bahnsteige bauen läßt und in ihrer Antwort sogar schreibt, daß dort eine Stufe bleiben wird? Sie sagt, das sei doch kein Problem. Aber jemand im Elektrorollstuhl kommt über eine Stufe von 5 cm nicht hinweg, auch nicht mit Hilfe fremder Leute. Wo sehen Sie da das Bemühen der Regierung, Diskriminierung abzubauen?
Herr Seifert, ich weiß nicht, ob es solche Neubaumaßnahmen gibt.
Auf der anderen Seite habe ich der Antwort der Bundesregierung entnommen, daß z. B. 370 Bahnhöfe mit Hubliften und Rampen ausgestattet werden. Es
gibt natürlich noch bessere Systeme, die aber leider auch viel, viel teurer sind.
— Es mag ja sein. Ich finde, daß das, was z. B. im Bereich der S-Bahnhöfe, anderer Bahnhöfe, ICE-, EC-, IC- und anderer Züge sowie der Flughäfen inzwischen erreicht worden ist, durchaus nicht Kritik, sondern Anerkennung verdient.
Bis 1994 werden die bedeutendsten 370 Bahnhöfe mit Hubliften und Rampen ausgestattet sein. Meine Damen und Herren, ich möchte jedenfalls der Bundesregierung für ihre Aktivitäten danken. Diese wären aber nicht möglich und denkbar ohne das Engagement der Behindertenverbände. Auch den Verantwortlichen dort möchte ich einen sehr herzlichen Dank heute sagen.
Wenn ich mich frage, wo die größten Defizite sind
— es gibt Defizite; da sind wir uns alle einig —, dann finde ich, daß insbesondere dort, wo die größten Anforderungen bestehen, nämlich im Bereich der Städte und Gemeinden, und vor allem im Bereich der privaten Wirtschaft noch am meisten zu tun ist; da wir hier über Tourismus sprechen: insbesondere auch im Bereich der privaten Tourismuswirtschaft.
Oft spielt fehlendes Geld dabei eine Rolle, oft aber — und das ist ja vorhin schon bei der Architektur hier angesprochen worden — wohl auch Gedankenlosigkeit derjenigen, die mit der Planung, mit der Architektur beauftragt sind.
Um so mehr möchte ich besonders denjenigen danken, die nun einmal als Privatverantwortliche Vorbildliches geleistet haben. Vorbildlich ist z. B. der größte deutsche Reiseveranstalter TUI, der einen speziellen Urlaubskatalog für Behinderte herausgegeben hat. Das sollte einmal sehr lobend hervorgehoben werden.
Vorbildlich ist weiter z. B. der von der Bundesregierung geförderte Reiseführer „Handicapped Reisen in Deutschland".
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Wenn mir die Zeit nicht angerechnet wird. Ich bin gleich am Ende, Frau Präsidentin.
Nein.
Vorbildlich ist auch das kürzlich von mir in Bonn besuchte Kreuzfahrtschiff „Concordia" mit rollstuhlgängigen Kabinen
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17069
Dr. Rolf Olderog
und Aufzügen des Vereins Deutsches Behindertenschiff.
Meine Damen und Herren, viele gehen Behinderten aus dem Weg, weil in der Tat deren Anblick einen jeden an Leid, Mangel und Verzicht gemahnt. Aber die Abwendung von Behinderten hat doch viel mit Selbsttäuschung zu tun. Vergessen wir nicht: Rasch und unvorhersehbar können wir alle selbst in die Rolle eines Behinderten geraten.
Vielen Dank.
Als nächste spricht die Abgeordnete Eva Pohl.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! „Behindertengerecht ist menschengerecht" — diese eindeutigen Worte hat Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 1. Juli dieses Jahres auf einer Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft „Hilfe für Behinderte" gewählt. Diese Worte sollten uns auch bei der heutigen Diskussion über Reisemöglichkeiten für Behinderte leiten.
Die Große Anfrage der SPD zu dieser Problematik sehe ich als begrüßenswerten Anlaß, auf Erreichtes bei der Verbesserung von Reisemöglichkeiten für Behinderte zu verweisen. Gleichzeitig möchte ich aber doch auch auf noch vorhandene Defizite aufmerksam machen.
Wenn wir heute über Reisemöglichkeiten von Behinderten sprechen, so sollte uns klar sein, daß diese Begriffe vor nicht allzulanger Zeit unvereinbare Gegensatzpaare waren.
Gerade in der Personenbeförderung konnten aber in den letzten Jahren zahlreiche Verbesserungsmaßnahmen erwirkt werden. Ein positives Beispiel gibt der öffentliche Personennahverkehr.
Niederflurbusse sind in unseren Städten keine Seltenheit mehr. Bei den Linienbusoptionen lag der Anteil an den behindertengerechten niederflurigen Fahrzeugen im Jahre 1992 sogar bei rund 66 %.
Im Schienenfernverkehr wurden Zeichen gesetzt. Alle ICE-Züge, 118 EC/IC-Züge und alle InterregioZüge verfügen über Rollstuhlstellplätze und behindertengerechte Toiletten.
Auch bei dem zur Zeit noch größten Hindernis auf dem Weg zu einer barrierefreien Reise, den bahnsteiggebundenen Einstiegshilfen, gibt es erfreuliche Zahlen. Sie hatten schon darauf hingewiesen. Bis Anfang 1994 werden die wichtigsten 370 Bahnhöfe in Deutschland mit Hubliften und Rampen ausgestattet sein. Selbst bei den Autobahnmotels sind inzwischen 50 %, d. h. 26 von insgesamt 52 Beherbergungsbetrieben, behindertengerecht ausgebaut.
Frau Pohl, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Steen.
Bitte.
Frau Kollegin, ist Ihnen die Kritik bekannt, die gerade an den mobilen Einstieghilfen, die Sie beschrieben haben, auf den Bahnhöfen durch die Behindertenverbände gemacht wird? Ich kann es nur bestätigen; denn es ist ein Hindernisrennen — nicht nur für diejenigen, die aus dem Zug oder in den Zug wollen, sondern auch für das Zugpersonal, das die Einstieghilfen transportieren muß.
Bitte haben Sie einmal die Situation auf dem Frankfurter Bahnhof vor Augen, wenn Sie auf Bahnsteig 12 ankommen und auf Bahnsteig 1 abfahren wollen, gleichzeitig kommt jemand auf Bahnsteig 3 an und will auf Bahnsteig 8 abfahren. Dann muß sich derjenige, der mit dem Hublift herumdöst, muß ich dann schon sagen, entscheiden, wen er aussteigen und wen er einsteigen läßt. Wir würden das alles vermeiden, wenn wir eine fahrzeuggebundene Einstieghilfe hätten. Insofern ist das keine besonders gute Lösung.
Außerdem ist es eine diskriminierende Situation, über allen Reisenden zu schweben und dann wie ein Gepäckstück in den Wagen hineingehoben zu werden.
Teilen Sie da meine Meinung?
Liebe Frau Kollegin, ich hatte gesagt, daß es noch sehr viel Verbesserungswürdiges gibt. Ich habe aber hier einmal aufgezeigt, daß schon vieles getan wurde.
Selbstverständlich werden und müssen wir alle gemeinsam daran interessiert sein, noch weitere und bessere Möglichkeiten zu schaffen. Ich habe nicht gesagt, wir haben den Endzustand, und der ist gut, sondern wir müssen hier ständig etwas tun.
— Ja, ich habe das gehört, auch die Kritik vom Kollegen Seifert. Ich meine, er muß das am besten beurteilen können. Ich konnte mir kaum vorstellen, daß fünf Zentimeter so hinderlich sein sollen. Aber das ist natürlich möglich, wir fahren ja nicht mit dem Rollstuhl. Es sollten auch die Betroffenen in alle diese Dinge mit einbezogen werden, und das wird ja auch getan.
Im übrigen möchte ich an dieser Stelle einmal darauf verweisen, daß auch wir nicht mobilitätsein-
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Dr. Eva Pohl
geschränkten Menschen von diesen Erleichterungen profitieren. Ich denke da z. B. an die Aufzüge in Bahnhöfen oder die Niederflurbusse.
Trotz dieser ermutigenden Entwicklung bleibt dennoch viel zu tun. Wie wir in unserem von der F.D.P. und der CDU/CSU formulierten Entschließungsantrag ausgeführt haben, möchten wir insbesondere auf eine behindertengerechte, barrierefreie Bauweise bei künftigen Projekten der Verkehrs- und Baulastträger hinwirken. Hier gibt es noch einen erheblichen Nachholbedarf.
Ein wichtiges Element ist in diesem Zusammenhang die Standardisierung von Funktionselementen zur leichteren Handhabung, wie z. B. der Bedienungsanlagen und Bedienungstafeln in Aufzügen.
Ein weiterer Punkt, der mir persönlich sehr am Herzen liegt, ist die zu verbessernde Informations- und Öffentlichkeitsarbeit.
Jeder von uns erinnert sich sicherlich noch an das skandalöse Gerichtsurteil — obwohl es zwei Kollegen hier schon gesagt haben, möchte auch ich das noch einmal betonen — aus dem Jahre 1992, in dem Urlaubern wegen Anwesenheit Schwerbehinderter im Hotel eine Preisreduzierung zugebilligt worden war.
Das gemeinsame Urlaubserleben von Behinderten und ihren Angehörigen mit Nichtbehinderten muß als das zu erreichende Ziel gesehen werden. Was nützen letztlich behindertengerechte Transportmittel und Bahnhöfe sowie barrierefreie Hotels, wenn es uns nicht gelingt, behinderte Bürger in unsere Gesellschaft umfassend zu integrieren?
Im übrigen sollten wir uns vergegenwärtigen, welch großem Personenkreis wir mit oben genannten Verbesserungsmöglichkeiten im Reiseverkehr helfen können: In Deutschland leben zur Zeit etwa 6,5 Millionen Schwerbehinderte, davon 975 000 in den neuen Bundesländern.
Meine Damen und Herren, wir sind auf dem Weg zu einer durchgehenden behindertengerechten Transportkette in Verbindung mit barrierefreien Bauten schon ein gutes Stück vorangekommen. Mit unserem Entschließungsantrag wollen wir — das möchte ich hier als verantwortliches Mitglied der F.D.P.-Fraktion für die Belange der Behinderten ganz besonders betonen — am Tag nach dem Welt-Aids-Tag und am Vorabend des UNO-Welttages für Behinderte ein richtungsweisendes Zeichen setzen.
Ich danke Ihnen.
Jetzt sind Sie dran, Herr Seifert. Ich hoffe, daß Sie als Redner nicht all die Zwischenrufe haben, die Sie heute abend hier schon verteilt haben.
— Nein? Wollen Sie viele haben?
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn ich die Antwort der Bundesregierung lese, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß es zur Berufskrankheit von Regierenden gehört, alles, was in ihrer Regierungszeit geschieht, für gut zu halten. Aber bei anderen Berufskrankheiten muß man seinen Beruf aufgeben. Hier ist das offensichtlich nicht der Fall. Es tut mir leid, vielleicht läßt sich demnächst noch etwas machen.
Wenn hier auf unheimlich vielen Seiten fast nichts gesagt wird, ist das schon eine ziemlich unangenehme Situation für Menschen, die das betrifft. Wir reden hier 30 Minuten lang über Probleme, die — es wurde hier mehrfach gesagt —10 % der Bevölkerung direkt und, wenn ich die Angehörigen dazuzähle, noch viel mehr betreffen. Wenn es dann in der Antwort der Regierung
— ich habe vorhin in meiner Zwischenfrage schon darauf hingewiesen — als Erfolg dargestellt wird, daß da noch eine Stufe von 5 bis 10 cm bleibt, dann weiß ich nicht, ob die Regierung überhaupt eine Vorstellung davon hat, worum es hier geht.
Wenn Sie sagen, Sie haben sich das Schiff angesehen, das ist so schön, dann weiß ich, daß Sie nicht die geringste Vorstellung davon haben, worum es uns, den Betroffenen, geht. Es geht uns nämlich darum, keine Sonderschiffe zu haben und keine Sonderabteile.
— Sie haben ja nicht einmal als Ziel in dieser Antwort formuliert, daß Sie dahin kommen wollen, daß es eines Tages keine Sonderschiffe mehr geben muß, daß es eines Tages keine Sonderabteile mehr in der Eisenbahn geben muß usw. Das ist das, was ich Ihnen vorwerfe; nicht, daß Sie sagen, daß es das Schiff gibt, und nicht, daß Sie sagen, daß es diese Sonderabteile gibt.
Ein Freund, der in der emanzipatorischen Behindertenbewegung seit Jahren tätig ist, sagt in diesem Zusammenhang immer, er wundere sich, daß es keine Sonderfriedhöfe für uns gibt. Es gibt Sondertoiletten, es gibt Sonderbahnhöfe — —
— Ich will es Ihnen ja nur sagen, so wird gedacht. Das ist ja nicht einmal meine Argumentation. — Es gibt Sonderabteile in der Eisenbahn. Ich möchte mich mit meinen Mitreisenden vielleicht mal unterhalten. Das geht aber nicht, weil ich in dem Sonderabteil sitze.
— Das sind die Dinge, die wir erreichen möchten. Ich wäre ja schon zufrieden, wenn das die Regierung wenigstens als Ziel formulieren würde. Niemand ist so vermessen, zu sagen, das muß alles morgen fertig sein. Aber Sie haben es nicht einmal vor, dorthin zu kommen. Sie haben nur vor, neue Sonderregelungen zu treffen.
— Ich habe ja die Antwort gelesen.
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Herr Seifert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Olderog?
Ja, sehr gern.
Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich dieses Schiff, als es in Bonn vor Anker lag, besucht habe, mich dort etwa zwei Stunden mit den Reisenden, mit den Urlaubern unterhalten habe und daß ich von all den Behinderten, die auf diesem Schiff waren, uneingeschränktes Lob erhalten habe?
Selbstverständlich bin ich bereit, das zur Kenntnis zu nehmen. Selbstverständlich weiß ich das. Ich weiß natürlich auch, daß Menschen mit Behinderungen, die zwei Jahre lang nicht aus ihrem Haus herauskommen, dankbar sind für jede Reise oder für jede Möglichkeit, die man ihnen verschafft; nur hat das nichts mit Menschenwürde zu tun.
— Ja, das streite ich doch gar nicht ab. Ich sage nur, daß Sie regierungsamtlich nicht einmal das Ziel verfolgen. Es kann doch nicht erstrebenswert sein, jemandem einmal im Jahr ein solches Erlebnis zu verschaffen, von dem er dann ein Jahr lang leben muß
— ich meine jetzt mental. Das ist das Problem. Das muß selbstverständlich sein.
Sie reden von Integration. Ich habe mir da die Zwischenfrage verkniffen, weil es nicht um Integration gehen darf, wo die freundlichen Nichtbehinderten die bedauernswerten Behinderten einbeziehen, sondern es geht um Gleichstellung. Wir möchten genauso wie Sie und jeder andere und jede andere etwas machen können, wann, wo und wie wir es wollen. Das verstehen wir, die Menschen mit Behinderung, unter Freiheit, und ich nehme an, Sie auch.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
— Ich danke Ihnen auch für den Applaus.
Auch das ist ein Teil der Integration!
Jetzt hat der Kollege Konrad Weiß das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe 1981 anläßlich des Jahres der Behinderten in der DDR einen der ersten Filme über Behinderte gedreht und bin dabei zum erstenmal mit den Problemen, die Behinderte in der DDR hatten, konfrontiert worden.
Manchmal habe ich inzwischen den Eindruck, daß dieser emanzipatorische Prozeß, der bei uns mit dem Jahr der Behinderten angefangen hat und in der alten Bundesrepublik durch Behinderteninitiativen schon etwas länger im Gange war, mit der deutschen Wiedervereinigung eigentlich einen Rückschlag erlitten hat.
Statt dessen sind wir nun im wiedervereinigten Deutschland der Tatsache ausgesetzt, daß Behinderte gewaltsam angegriffen werden, daß Menschen im Rollstuhl von Jugendlichen drangsaliert werden.
Wie schlimm muß die seelische Verkrüppelung dieser Wohlstandskinder sein? Ich denke, das muß uns Angst machen.
Ihre Gewalt wird durch ein gesellschaftliches Klima gefördert, in dem eine pseudowissenschaftliche Debatte über Euthanasie und Sterbehilfe geführt und in dem das Lebensrecht von Schwerstbehinderten in Frage gestellt wird. Diese Enttabuisierung des Rechtes auf Leben stellt für Behinderte eine unmittelbare Bedrohung dar.
Das Amtsgericht in Flensburg — auch das muß ich erwähnen — hat im September 1992 entschieden, daß die Anwesenheit von behinderten Urlaubsgästen in einem Hotelspeisesaal ausreicht, um anderen Urlaubern den Reisespaß zu verderben, und daß diese somit ein Anrecht auf Preisminderung haben.
Dieses entsetzliche Urteil ist — ich gebrauche das Wort nicht leichtfertig; ich habe darüber nachgedacht — Faschismus. Der Richter, der es ausgesprochen hat, hat nicht nur auf unerträgliche Weise gegen das Grundgesetz verstoßen, er hat sich gegen unsere europäische Zivilisation und unsere christliche Wertegemeinschaft gestellt.
Daß dies, offensichtlich ohne Konsequenzen, möglich war, macht deutlich, wie berechtigt die Forderung nach einem Antidiskriminierungsgesetz ist.
In der Schweiz gibt es das bereits. Auch in den USA ist seit 1990 ein solches Gesetz in Kraft. Zentrale Bereiche des amerikanischen Gesetzes sind die Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten, Verkehr und Kommunikation, öffentliche Dienstleistungen, Bauwesen und Wohnen. Viele Behindertenverbände und -initiativen fordern ein solches Gesetz auch für Deutschland.
Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD hat leider mehr zwischen den Zeilen einige Bereiche angeführt, in denen es Nachholbedarf gibt.
Die Mobilität Behinderter ist zweifellos eine wesentliche Voraussetzung für ihre Integration und gleichberechtigte Teilnahme am Leben der Gesellschaft. Angesichts der technischen Entwicklung dürfte das in
17072 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Konrad Weiß
unserem hochtechnologischen Land doch weiß Gott kein unüberwindbares Hindernis sein.
Problematisch erscheint mir, daß Menschen mit Behinderungen in vielen Fällen noch um die ausreichende Finanzierung ihrer Pflege und Hilfe zu Hause kämpfen müssen. Das Recht, im vertrauten Wohn- und Lebensumfeld verbleiben zu können, muß nicht selten durch langwierige gerichtliche Auseinandersetzungen erwirkt werden.
Wir sollten uns, meine Damen und Herren, vornehmen, gemeinsam solche Rahmenbedingungen zu schaffen, die behinderten Menschen das Leben erleichtern. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unterstützt deshalb den vorliegenden Entschließungsantrag der SPD.
Bitte schön.
Herr Kollege Weiß, ich wollte Sie mit Blick auf das Flensburger Urteil fragen, ob dieses wohl anders ausgefallen wäre, wenn in unserer Verfassung ein Begriff wie z. B. Mitmenschlichkeit verankert wäre.
Lieber Herr Kollege, ich denke, die Verankerung von Rechten und Gesetzen ist das eine. Was uns aber Sorge machen muß und womit wir uns zu beschäftigen haben — das müßte das erste Anliegen der Politiker, auch der intellektuellen Elite in Deutschland sein —, das ist die Auseinandersetzung damit, das ist die Erziehung.
Eine Verankerung solcher Rechte, natürlich auch eines Antidiskriminierungsgesetzes allein, kann nichts bewirken, wenn nicht ein gesamtgesellschaftliches Klima entsteht, in dem es selbstverständlich ist, daß Menschen mit Behinderungen, daß Ausländerinnen und Ausländer, daß Minderheiten gleichberechtigt sind.
Als letzte spricht zu diesem Tagesordnungspunkt die Kollegin Karin Jeltsch.
Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer blättert nicht gerne in bunten Reiseprospekten, in denen uns fröhliche, braungebrannte Menschen entgegenlächeln. Für uns sind Urlaub und Reisen ein unverzichtbarer Bestandteil unseres Lebens geworden. Nur selten ist uns bewußt, daß die schönste Zeit des Jahres für viele behinderte Menschen zu einer sehr schwierigen Zeit wird. Probleme bei der Planung und Durchführung einer Reise, aber auch Ängste vor möglichen Vorurteilen am Urlaubsort führen dazu, daß viele behinderte Menschen resignieren und zu Hause bleiben.
In Deutschland leben rund 460 000 Rollstuhlfahrer, über 650 000 Schwerstsehbehinderte und Blinde sowie 400 000 geistig behinderte Menschen. Sechs Millionen Bundesbürger sind in ihrer Mobilität eingeschränkt. Auf Grund der demographischen Entwicklung ist die Tendenz steigend. Diese Mitbürger müssen die Möglichkeit haben, diskriminierungsfrei zu reisen; denn Urlaub darf kein Privileg von Nichtbehinderten sein.
Oft ist uns gar nicht bewußt, daß wir mit dem Begriff „behindertengerecht" meist nur „rollstuhlgerecht" meinen und die gesamte Bandbreite sonstiger Behinderungen nicht vor Augen haben.
Zur Gruppe der behinderten Menschen gehören jedoch auch sinnesbehinderte Menschen, die auf Grund fehlender technischer Informationssysteme häufig Orientierungsschwierigkeiten haben. Dazu gehören auch körperbehinderte und geistig behinderte Menschen. Sie leiden nicht nur unter den körperlichen Hindernissen, sondern auch unter den Unsicherheiten und Berührungsängsten von seiten der Nichtbehinderten.
Da die Bedürfnisse so vielfältig sind, ist es kompliziert, Lösungen zu finden, die möglichst vielen behinderten Menschen gerecht werden. Denken Sie beispielsweise nur an eine Absenkung der Bordsteinkanten, die dem Rollstuhlfahrer das Vorwärtskommen erleichtert, dem Blinden aber zum Verhängnis werden kann, wenn er nicht merkt, daß er auf die Straße läuft.
Insgesamt ist die Situation bei den Fortbewegungs- und Reisemöglichkeiten für behinderte und mobilitätseingeschränkte Personen gegenwärtig nur bedingt zufriedenstellend.
Die Bundesregierung will die Integration behinderter Menschen in allen Lebensbereichen unterstützen. Ihre unmittelbaren Einflußmöglichkeiten sind jedoch auf Grund der grundgesetzlichen und sonstigen gesetzlichen Regelungen begrenzt. Dennoch ergeben die Aktivitäten der Bundesregierung zusammen mit den Initiativen der für diesen Bereich hauptsächlich zuständigen Bundesländer, Gemeinden, Verkehrs- und Baulastträger ein insgesamt beachtliches Leistungsbild, das selbstverständlich weiter verbessert werden muß.
So wurde beispielsweise durch die Novellierung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes 1992 eine Behindertenklausel als Bewilligungsvoraussetzung in das Gesetz eingefügt.
Frau Jeltsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Seifert?
Danke, nein, ich möchte weiterreden. — Hierdurch werden behindertengerechte Neuerungen, wie z. B. die Niederflurtechnik bei Bussen und Bahnen, wirksam begünstigt.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17073
Karin Jeltsch
Zuschüsse zum Neubau oder Ausbau von S-BahnStationen werden nur bewilligt, wenn behindertengerechte Zu- und Abgänge vorgesehen sind
und wenn Blindenleitstreifen installiert werden.
— Dann lesen Sie doch bitte die Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage nach.
Die Bewilligung aller sonstigen Vorhaben des ÖPNV ist Ländersache. Es liegt also auch an den einzelnen Bundesländern, die Belange behinderter Menschen durchzusetzen.
Für Fernreisen im Schienenverkehr ist es das Ziel der Bahn, mittelfristig alle Züge behindertengerecht auszustatten.
Langfristig sollen alle Bahnhöfe so gestaltet werden, daß ein hindernisfreier Zu- und Abgang sowie ein ungehinderter Bahnsteigwechsel möglich sind.
Nach mehr oder weniger großen Schwierigkeiten am Reiseziel angekommen, stoßen Behinderte in fremder Umgebung auf bauliche Barrieren in Hotels, Restaurants, Freizeit- und Kultureinrichtungen.
Um die Reisemöglichkeiten für Behinderte über das bisher erreichte Maß hinaus zu erleichtern, fordern wir bei künftigen Verkehrs- und Bauprojekten eine behindertengerechte und barrierefreie Bauweise. Derartige Erleichterungen kommen neben allen Behinderten auch mobilitätseingeschränkten Personen zugute. Sie bringen ein Mehr an Komfort auch für ältere Menschen, werdende Mütter oder Personen mit Kinderwagen.
Die behindertenrelevanten DIN-Normen wurden in den letzten Jahren vollständig neu erarbeitet. Diese Planungsnormen werden im öffentlichen Bereich und beim Wohnungsbau bei allen Neubauten des Bundes angewendet. Doch auch hier gilt: Detaillierte Regelungen und verbindliche Vorschriften fallen in die alleinige Zuständigkeit der Länder.
Zu achten ist bei zukünftigen Bauten auf eine kontrastreiche, ertastbare Gestaltung als Erleichterung für Sehbehinderte. Eine gewisse Standardisierung von Bedienungselementen würde erhebliche Erleichterungen für Sehbehinderte mit sich bringen.
Die Ausweisung behindertengerechter Einrichtungen sowie eine stärker behindertenorientierte Informationsarbeit seitens der Reiseveranstalter könnten wesentlich dazu beitragen, daß auch Behinderte am normalen Reisegeschehen besser teilnehmen können. Personen, die im Fremdenverkehr tätig sind, sollten gezielt geschult werden, um die Bedürfnisse Behinderter besser kennenzulernen und das Wissen in die Fremdenverkehrspraxis umzusetzen.
Doch nicht nur die technischen Barrieren machen behinderten Menschen im Urlaub zu schaffen. Häufig haben sie mit großen Akzeptanzproblemen zu rechnen. Ich erinnere nur an das hier bereits einige Male zitierte Flensburger Urteil. Der Reisetraum des Massentourismus ist leider geprägt von einem großen Wunschbild von Erholung und sorglosem Spaß. Darin hat bedauerlicherweise die Konfrontation mit Behinderten keinen Platz. Viele negative Erfahrungen von den Betroffenen zeigen, daß unserer Gesellschaft ein selbstverständlicher und unbefangener Umgang mit behinderten Menschen mehr als schwer fällt. Behinderte und Nichtbehinderte haben viel mehr gemeinsame Urlaubsbedürfnisse und Freizeitinteressen, als uns allen oft bewußt ist. Sie sollten diese gemeinsam entfalten können.
Es liegt also an jedem einzelnen von uns, durch ein Mehr an Toleranz Vorurteile und Berührungsängste gegenüber Behinderten in unserer Gesellschaft abzubauen.
Das will die Bundesregierung. In diesem Sinne darf ich Sie bitten, dem Antrag meiner Fraktion zuzustimmen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/6290 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/6288 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung an den Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus, den Ausschuß für Gesundheit, den Ausschuß für Verkehr und an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden?
Nein. Frau Präsidentin, ich bin nicht ganz sicher, daß die Federführung beim Arbeits- und Sozialausschuß richtig ist; denn erarbeitet worden ist der Antrag in der Arbeitsgruppe Fremdenverkehr. Auch früher hat sich der Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus damit befaßt. Deswegen, glaube ich, ist es schon sachgerecht, die Federführung beim Ausschuß für Fremdenverkehr zu lassen und die Mitberatung dem Arbeits- und Sozialausschuß zu übertragen.
Dann lasse ich kurz darüber abstimmen. Wer stimmt für die Überweisung zur federführenden Beratung an den Ausschuß für
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Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Fremdenverkehr und Tourismus? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Die Überweisung ist einstimmig beschlossen. Der Antrag geht dann zur Mitberatung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung. Die Überweisungen sind so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 und Zusatzpunkt 4 auf:
11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd Wartenberg , Gerd Andres, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Ausländergesetz 1990
— Drucksache 12/5994 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Frauen und Jugend
ZP4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste Änderung des § 19 des Ausländergesetzes
— Drucksache 12/6291 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Debatte eine halbe Stunde vorgesehen. Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Als erster spricht der Parlamentarische Staatssekretär Lintner.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich einige kurze Bemerkungen zu den vorliegenden Anträgen machen.
Zunächst einmal ist festzustellen, daß der Antrag der Fraktion der SPD ins Leere geht. Die Bundesregierung hat nämlich den angeforderten Erfahrungsbericht, Herr Kollege Lambinus, rechtzeitig durch das fachlich zuständige Bundesministerium des Innern dem Deutschen Bundestag durch Vorlage an den zuständigen Fachausschuß erstattet.
Der Antrag geht in seiner Begründung zutreffend davon aus, daß der Erfahrungsbericht bis Mitte des Jahres vorzulegen war. Dem ist die Bundesregierung auch nachgekommen. Das Bundesministerium des Innern hat den Erfahrungsbericht mit Schreiben vom 25. Juni 1993, also zur Jahresmitte und somit rechtzeitig, dem Vorsitzenden des Innenausschusses übermittelt.
Angefordert war ein Erfahrungsbericht, d. h. eine Zusammenstellung der Erkenntnisse, die bei der Anwendung der neuen ausländerrechtlichen Vorschriften in der Praxis gewonnen wurden. Dementsprechend hat das Bundesministerium des Innern die für die Ausführung der ausländerrechtlichen Bestimmungen im Bundesgebiet nach Art. 83 des Grundgesetzes zuständigen Länder rechtzeitig um die Übermittlung entsprechender Berichte gebeten. Das dem
Erfahrungsbericht zugrunde liegende Konzept, insbesondere das Prüfungsraster, ist dabei mit den Ländern abgestimmt worden.
Da im Ausland für Paß- und Visaangelegenheiten die vom Auswärtigen Amt ermächtigen Auslandsvertretungen zuständig sind, wurde auch das Auswärtige Amt um einen Erfahrungsbericht über die neuen ausländerrechtlichen Vorschriften gebeten. Über die Länder waren ferner die kommunalen Spitzenverbände beteiligt, die dem Bundesministerium des Innern einen Erfahrungsbericht aus kommunaler Sicht entsprechend dem zwischen Bund und Ländern abgestimmten Prüfungsraster übermittelt haben.
Das Bundesministerium des Innern hat die Berichte der mit der Ausführung der ausländerrechtlichen Bestimmungen betrauten Stellen vollständig und lükkenlos zu einem einheitlichen Gesamtbericht zusammengefügt. Wie vom Innenausschuß des Deutschen Bundestages erbeten, wurde ihm der Bericht übermittelt.
Der Innenausschuß hat den Erfahrungsbericht in seiner Sitzung vom 1. Juli 1993 erstmalig behandelt. Dabei wurde von seiten der Oppositionsmitglieder im Innenausschuß keinerlei Rüge ausgesprochen. Die Bundesregierung kann daher feststellen, daß sie nichts versäumt hat. Deshalb ist die Aufforderung, Versäumtes nachzuholen, ohne jede Grundlage.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch eine Bemerkung zum nachgeschobenen Änderungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste machen, der den § 19 des Ausländergesetzes betrifft. Dazu ist zu bemerken, daß auch hier die Zielsetzung des Antrages fehlgeht.
In der Begründung des Antrags wird ohnehin der unzutreffende Eindruck hervorgerufen, als würde die jetzige Fassung des § 19 des Ausländergesetzes gerade ausländische Ehefrauen diskriminieren. So verhält es sich aber nicht. Vielmehr kann nach der heute geltenden Fassung des § 19 des Ausländergesetzes jeder ausländische Ehegatte, unabhängig von seinem Geschlecht, ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erst nach vier bzw. in Härtefällen nach drei Jahren Ehebestandszeit erhalten. Eine weitere Absenkung dieser Fristen bzw. ein Verzicht auf feststehende Fristen überhaupt würde die Gefahr der Eingehung von sogenannten Scheinehen deutlich begünstigen und solche auch vermehren. Diese Scheinehen stellen sich ja letztlich als einen Mißbrauch des von Art. 6 GG beabsichtigten Ehegattenzuzugs dar.
Es kann nicht Sache des Ausländergesetzes sein, die problematischen Folgen einer gescheiterten Ehe sowie die dadurch erschwerten Rückkehrbedingungen durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen auszugleichen.
Die Gewährung eines Aufenthaltsrechts davon abhängig zu machen, ob dem nachgezogenen Ehegatten die Fortführung der ehelichen Lebensgemeinschaft zugemutet werden kann, würde den Ausländerbehörden jetzt eine Prüfung zumuten, von der das deutsche Scheidungsrecht nach Umstellung auf das
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Parl. Staatssekretär Eduard Lintner
Zerrüttungsprinzip selbst die Gerichte seinerzeit absichtlich entlastet hat.
Gerade in den Fällen, in denen die gesetzlich festgeschriebenen Ehebestandszeiten nicht erreicht werden konnten, hat sich der ausländische Ehegatte im übrigen auch erst verhältnismäßig kurz im Bundesgebiet aufgehalten, so daß eine Rückkehrmöglichkeit durchaus zumutbar erscheint.
Danke.
Als nächste spricht Frau Comelie Sonntag-Wolgast.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Staatssekretär Lintner, unser Antrag geht nicht etwa ins Leere, sondern trifft ins Schwarze. Erlauben Sie, daß ich Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfe.
Versetzen Sie sich einmal in die Bundestagsdebatte über das Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts zurück; das war am 26. April 1990. Wir hatten, wie Sie wohl noch wissen, eine hitzige öffentliche Diskussion hinter uns. Ausländerinnen und Ausländer hatten auf den Straßen gegen das neue Gesetz demonstriert. SPD und Grüne, Kirchen, Juristen, Wohlfahrtsverbände und Menschenrechtsgruppen hatten erhebliche Bedenken geltend gemacht. Damals wurden Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition, ja nicht müde, von überflüssiger Stimmungsmache gegen das geplante Ausländerrecht zu reden und seine Vorzüge anzupreisen.
So behauptete der Kollege Johannes Gerster kühn, das Gesetz versuche, den scheinbaren Widerspruch zwischen kultureller Geborgenheit und menschlicher Offenheit zu überwinden. Und er fuhr dann fort — ich zitiere das —:
Wir sind selbstkritisch genug, zu erkennen, daß dies vielleicht nur in Etappen gelingt, weshalb wir auch in einer eigenen Entschließung durch den Bundestag die Bundesregierung auffordern, in zwei Jahren einmal die Erfahrungen mit diesem Gesetz wiederzugeben.
Und unser Kollege Burkhard Hirsch stellte sogar eine Liberalisierung und eine Weiterentwicklung in Aussicht, indem er ebenfalls die Vorlage dieses Erfahrungsberichts nach zwei Jahren verlangte. Er ergänzte — noch einmal ein Zitat —:
Wir hoffen, daß wir dann einen weiteren Schritt in eine moderne und offene Gesellschaft vollziehen können.
Soweit die damalige Debatte.
Gesagt, liebe Kolleginnen und Kollegen, doch nichts getan. Wir nehmen Sie deswegen beim Wort. Dreieinhalb Jahre nach diesen vollmundigen Ankündigungen stellen wir fest: Sie haben Ihr Versprechen eben nicht eingelöst. Zwar existiert ein Erfahrungsbericht aus dem Hause des Innenministers — das haben Sie eben natürlich erwähnt; das wissen wir —, aber den wirklichen, den umfassenden Bericht der Bundesregierung haben wir bis zum heutigen Tag nicht zu Gesicht bekommen.
Vielleicht haben Sie insgeheim gehofft, den Mantel des Vergessens über die weitere Bearbeitung des Ausländergesetzes breiten zu können. Aber das, meine Damen und Herren, können wir Ihnen bei einer so komplizierten und wichtigen Materie nicht durchgehen lassen.
Wir verlangen von Ihnen, daß Sie Ihrer Pflicht endlich entsprechen, nicht nur damit die Formalität eingehalten wird, sondern auch im Interesse der Glaubwürdigkeit und der Verläßlichkeit der Politik.
Ich gebe gern zu: Es ist ruhiger geworden um das Ausländergesetz. Andere schwere Probleme haben es aus der Berichterstattung der Medien und aus der breiten öffentlichen Diskussion verdrängt. Die Asylrechtsreform war monatelang dann das beherrschende Thema und natürlich der Terror gegen Ausländerinnen und Ausländer.
Es ist schlimm genug, wenn wir jetzt vielleicht sagen müssen: Die Menschen anderer Hautfarbe, Nation oder Religion haben augenblicklich andere Sorgen, als über ein unzureichendes, wenig weltoffenes, eher auf Abwehr angelegtes denn auf Integration ausgerichtetes Gesetz zu klagen. Die Angst vor Haß und Anschlägen wiegt schwerer. Aber, meine Damen und Herren, das darf doch für die Bundesregierung keine Entschuldigung für ein solches Versäumnis sein. Mit der Nichtbeachtung des Termins dokumentieren Sie Dickfälligkeit oder zumindest blankes Desinteresse an der notwendigen Fortentwicklung des Ausländerrechts.
Allein der Brandanschlag und der Jahrestag von Mölln hätten Ihnen Anlaß genug sein sollen, Handlungsbereitschaft und konkrete Signale in der Ausländerpolitik zu zeigen. Es ist kein Wunder, daß viele Menschen gemeinsam mit Ignaz Bubis beklagen, der Schock von Solingen und Mölln habe nur wenige Wochen angehalten und außer Lichterketten und Mahnwachen kaum licht- und spürbare Maßnahmen für mehr Anerkennung, für bessere Lebensumstände der Einwanderer in unserem Land bewirkt.
Deswegen fordert die SPD von der Bundesregierung einen sorgfältigen, ausführlichen, unter den Ressorts abgestimmten Bericht.
Selbstverständlich müssen dafür die Erfahrungen und Vorschläge der Ausländerbeauftragten eingeholt und berücksichtigt werden. Auch das ist wohl bei diesem erwähnten Bericht des Innenministeriums überhaupt nicht geschehen.
Aus den Erkenntnissen der Studie könnten wir dann ableiten, wenn wir sie denn hätten, welche weiteren parlamentarischen Schritte nötig sind. Daß wir Veränderungen vornehmen müssen, steht für mich jetzt schon außer Frage. Einen Vorgeschmack nämlich gibt diese Berichterstattung, die Sie erwähnten, vom Frühsommer dieses Jahres für die Ausschußberatungen. Dieses Papier fußt wesentlich auf den Berichten aus den Ländern, vom Städtetag und von den Ausländerbeauftragten. Es hat übrigens unsere Gründe für die
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Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
Ablehnung des Ausländergesetzes damals in entscheidenden Punkten durchaus bestätigt.
Zu dieser Kritik gehören sowohl inhaltliche Fragen als auch die Handhabe. Sie haben im Bericht des Innenministeriums unumwunden eingeräumt, daß es sich um ein sehr kompliziertes Gesetz mit vielen als verwirrend empfundenen Verweisungstechniken handle. Dieser Mangel aber, meine Damen und Herren, war seinerzeit schon absehbar, ist von uns kritisiert worden, nicht nur von uns aus der Opposition.
Dazu zitiere ich nochmals aus der Debatte vom 26. April 1990, und zwar diesmal eine Politikerin, die gerade augenblicklich in hohem Ansehen steht, nämlich die Abgeordnete Hildegard Hamm-Brücher. Sie sagte damals zu Innenminister Schäuble: Herr Minister, weshalb eigentlich werden die Gesetze so vorgelegt, daß man sie, wenn man nicht Fachmann ist, von vornherein nicht versteht? — Zusatz von mir: Es wiegt um so schwerer, wenn der Umgang für Menschen durch ein Gesetz erschwert wird, die die deutsche Sprache gar nicht oder nur unvollkommen beherrschen und mit den kunstvollen Windungen unseres deutschen Verwaltungsapparats nicht so vertraut sind.
Zudem stellt der Bericht des Innenministeriums fest, daß die Phase der Einführung des neuen Rechts noch nicht abgeschlossen sei. Wissen Sie, eine solche Anmerkung kann man sich sicherlich in den ersten Monaten leisten, nicht aber fast drei Jahre nach Inkrafttreten dieses Gesetzes. Daß immer noch allgemeine Verwaltungsvorschriften ausstehen, halten wir für schlichtweg skandalös.
Ich nenne Ihnen einige Punkte, die dringend der Verbesserung oder Veränderung bedürfen. Der Ehegattennachzug muß großzügiger geregelt werden, ebenso der Daueraufenthalt aus humanitären Gründen und das Recht auf Wiederkehr für junge Ausländer.
Dringlich erscheint mir — Sie sprachen es eben an —, daß wir die Vorbedingungen für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht der Ehegatten lockern, großzügiger fassen. In der Tat bereiten die starren Fristen für die Dauer der Ehe als Voraussetzung für ein eigenes Aufenthaltsrecht gerade den Frauen bedrükkende Probleme. Angst vor Abschiebung zwingt sie dann dazu, zerbrochene Beziehungen aufrechtzuerhalten und auch Gewalttätigkeiten ihrer Männer zu erdulden. Ich finde, das darf nicht so bleiben, Herr Kollege Lintner.
Ich sage das auch im Hinblick auf den Antrag, den die PDS/Linke Liste heute hier eingebracht hat. Die Reihe der Beispiele für notwendige Veränderungen ließe sich verlängern. Aber, meine Damen und Herren, für all das brauchen wir den überfälligen Erfahrungsbericht der Bundesregierung, und zwar bald.
Deswegen machen Sie also Ihre Schularbeiten, liefern Sie dem Parlament das Material, auf das es einen Anspruch hat. Daß wir den Bericht überhaupt einfordern müssen, ist der politische Beweis für Ihre ausländerpolitische Untätigkeit.
Danke schön.
Ich erteile das Wort jetzt der Kollegin Cornelia Schmalz-Jacobsen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Ende Juni dieses Jahres liegt uns der Bericht des Innenministers über das sogenannte neue Ausländergesetz vor. Es ist wahr: Es ist vom Innenminister vorgelegt, und es wurde nicht mit anderen abgestimmt. Im Innenausschuß haben wir diesen Bericht noch nicht diskutiert. Wir haben ihn einmal ganz, ganz kurz behandelt. Wir müssen ihn endlich diskutieren. Ich hoffe, daß wir nächsten Mittwoch Gelegenheit dazu haben werden.
Dieser Bericht gibt die Einwände, die ja von den unterschiedlichsten Stellen gemacht worden sind, sehr korrekt wieder. Nur zieht er meiner Meinung nach die falschen Schlußfolgerungen, nämlich daß keine Änderungen notwendig seien.
Der Bundestag — das ist hier eben schon ausgeführt worden — hat bei der Verabschiedung 1990 ja aus gutem Grund einen Bericht verlangt, und zwar einfach weil die Materie ungeheuer kompliziert ist. Da gibt es überhaupt gar kein Vertun.
Aber ich möchte doch an eines erinnern: Das Ausländergesetz war überfällig; denn der Zustand, der davor war, war mitnichten gut. Es grenzte ja an ein Wunder, daß man überhaupt etwas auf die Beine gestellt hat. Mehr Rechtssicherheit war das Ziel. In Teilen ist das auch durchaus erreicht worden, in anderen Teilen eben nicht.
Das Interesse der deutschen Bevölkerung an diesem Gesetz ist naturgemäß gering. Auch die Kenntnis davon ist gering. Und Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die in diesem Themenbereich nicht ihren Schwerpunkt haben, schließe ich da ein. Auch das ist natürlich.
Aber, meine Damen und Herren, für die ausländische Bevölkerung ist dieses Gesetz fast allgegenwärtig, und zwar unabhängig davon, wie lange die Ausländer hier schon leben. Es wird sie immer tangieren.
Die F.D.P.-Fraktion hat eine Anhörung von Experten aus sehr unterschiedlichen Bereichen dazu gemacht. Aber erstaunlicherweise waren die Kritik und die Vorschläge zu diesem Gesetz und zu diesem Bericht sehr ähnlich.
Ich halte es für untunlich, heute die Regierung zu rügen. Ich fordere allerdings die Bundesregierung auf, die Einwände, die vorgetragen worden sind, ernst zu nehmen und zu berücksichtigen. Das war doch auch der Sinn der Forderung nach einem Erfahrungsbericht.
Aus meiner Sicht gibt es drei Komplexe, die unter die Lupe genommen werden müssen:
Erstens. Ein Teil der Probleme läßt sich einfach dadurch lösen, daß das Gesetz sachgerecht ange-
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Cornelia Schmalz-Jacobsen
wandt wird, ohne daß Änderungen im Gesetz selbst notwendig sind. Dafür wären allerdings die Verwaltungsvorschriften dringend notwendig;
denn sie sind ja Leitlinien für die örtlichen Verwaltungen. Wir haben das auch immer wieder angemahnt.
Zweitens. Es gibt Probleme, die durch einfache Änderung beseitigt werden können. Konkrete Vorschläge dafür habe ich gemacht.
Dann gibt es aber einen dritten Komplex. Da gibt es grundsätzliche Fragen, wo meiner Meinung und meiner Erfahrung und auch der Erfahrung vieler anderer nach konzeptionelle Änderungen vonnöten wären. Zum Beispiel: Liebe Kolleginnen und Kollegen, kann es wirklich richtig sein, daß der Aufenthaltsstatus eines ausländischen Rentners oder einer ausländischen Rentnerin, die 25 oder 30 Jahre hier bei uns gearbeitet haben, einfach mir nichts, dir nichts erlischt, wenn er oder sie länger als sechs Monate in der früheren Heimat ist? Ich denke, hier sollten wir über ein Daueraufenthaltsrecht reden.
Bei dem eigenständigen Aufenthaltsrecht der Ehegatten gehe ich nicht so weit, das von Anfang an einzuräumen, aber es zeigt sich einfach, daß die Härtefallregelung zu lang ist; diese drei Jahre sind zu lang. Hier wäre Änderung nötig.
Wir sollten über den Bericht und über das Gesetz ohne Scheuklappen diskutieren, und zwar gründlich und sachgerecht. Wir von der F.D.P. sind dazu bereit.
Als nächste hat Ulla Jelpke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir unterstützen den Antrag der SPD, die die Bundesregierung rügt. Ob die in der Antragsbegründung aufgestellte Behauptung, die Regierung habe das Interesse an der Fortentwicklung des Ausländerrechts verloren, den Kern der Sache trifft, bezweifle ich. Vorherrschend ist doch eher die allgemeine Zufriedenheit mit den Eckpfeilern des Gesetzes, wie das auch der Staatssekretär Lintner gerade zum Ausdruck gebracht hat. Rechtsunsicherheit auf seiten der Betroffenen und eine gewisse Willkür in Verwaltungs- und Justizangelegenheiten sind ja Zweck der Übung.
Ich möchte hier nur auf den jahrelang gezielt aufrechterhaltenen unsicheren Status der ehemaligen Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter der DDR hinweisen. Erst vor wenigen Tagen hat die Konferenz der Innenminister lediglich eine viermonatige Verlängerung des Bleiberechts beschlossen — mit Zustimmung der SPD-Minister, wenn ich richtig informiert bin. Jetzt verweisen die Innenminister auf die zunehmende Kriminalität vor allem unter den Vietnamesen und schieben die Schuld auf die Republik Vietnam, die sich weigere, die Leute zurückzunehmen. Mit einem einzigen Federstrich hätten den Betroffenen
von der Bundesregierung nach der Vereinigung Existenzsicherheit und Perspektiven gegeben werden können.
Bewähren in Ihrem Sinne wird sich das Ausländergesetz auch, wenn es um die Ausweisung der im Zusammenhang mit dem sogenannten PKK-Verbot festgenommenen Kurdinnen und Kurden geht. Der Mechanismus der Doppelbestrafung, Anklage plus Ausweisung, wirkt auch hier. Grundlage ist das Verbot politischer Betätigung gegen die Interessen der Bundesrepublik Deutschland. Gute Beziehungen zur Türkei stehen allemal über Kritik am Ausrottungsfeldzug gegen das kurdische Volk.
Meine Damen und Herren, viele von Ihnen kennen bestimmt die zahlreichen Briefe und Erklärungen an die Abgeordneten von Frauen-, Flüchtlings- und Immigrantinnengruppen zum Problem des § 19 des Ausländergesetzes; ich bin im übrigen gern bereit, die Briefe und Erklärungen dem Staatssekretär Lintner zur Verfügung zu stellen. Das Gesetz regelt die Familienzusammenführung bzw. die Situation ausländischer Ehefrauen deutscher und ausländischer Männer. Dazu haben wir heute einen Antrag eingebracht.
Ein umfassender Regierungsbericht ist nämlich nicht notwendig, um hier die Notwendigkeit von Änderungen anzuerkennen, damit Würde und Gleichberechtigung für die Betroffenen hergestellt werden können. „Ehefrauen auf Probe" und „Ehefrauenentsorgungs " -Paragraph lauten die bitteren Worte der Betroffenen für dieses Problem. Verweigert wird ein eheunabhängiger Aufenthaltsstatus für Frauen — denn sie sind hauptsächlich betroffen —; sie müssen Fristen von vier bzw. drei Jahren durchleben; richtiger wäre es wahrscheinlich zu sagen: durchleiden.
Das Ausländergesetz, speziell dieser Paragraph, ist so und nicht anders gemacht, weil Zuwanderung verhindert und begrenzt werden soll. Das Ehegattennachzugsrecht — so die Argumentation — darf nicht zu einem zweckunabhängigen Einwanderungsrecht werden; so hat es hier heute auch der Staatssekretär Lintner bezeichnet.
Es ist makaber, aber Tatsache: Zeichen für Integration im herrschenden Sinne ist, wenn betroffene Frauen unwürdige, teilweise gewalttätige Verhältnisse aushalten müssen, um die vier Jahre Ehebestand auf deutschem Boden nachzuweisen.
Ich unterstütze den Antrag der SPD und bitte um Zustimmung zu unserem Antrag.
Als nächster hat der Kollege Konrad Weiß das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unterstützt den Antrag der SPD, von der Bundesregierung die umgehende Vorlage eines Erfahrungsberichtes zum neuen Aus-
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Konrad Weiß
ländergesetz zu verlangen, und akzeptiert nicht den Rechtfertigungsversuch der Bundesregierung, der dem Innenausschuß vorliegende Bericht würde dem Auftrag des Deutschen Bundestages vom 26. April 1990 genügen.
Die Nachlässigkeit oder Unwilligkeit der Bundesregierung, ihre Pflicht zu erfüllen, halten wir angesichts der sensiblen Problematik und der zahlreichen in der Praxis zutage getretenen Mängel für unverantwortlich. Die praktischen Erfahrungen mit dem Ausländergesetz belegen, daß die Kritik, die bereits bei der Verabschiedung des Gesetzes geäußert wurde, durchaus berechtigt war.
Kernpunkt dieser Kritik war und ist, daß es ein Gesetz der Abwehr ist, nicht aber den Erfordernissen einer realistischen, zivilen und humanen Einwanderungs- und Einbürgerungspolitik genügt.
Eine Fülle von Ermessensvorschriften bewirkt Unsicherheit bei den hier lebenden Ausländerinnen und Ausländern. Bis heute gibt es keine Verwaltungsvorschriften, die die Anwendung des Gesetzes erleichtern können, sondern lediglich Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums.
Die wenigen Rechtsansprüche, die das Gesetz einräumt, sind unzureichend. Selbst ein so nachsichtiger Berater dieses Gesetzes wie Bundesrichter Kemper spricht von einem verwirrenden System, bei dessen Anwendung selbst Juristen der besonderen Hilfe bedürften.
Mir kommt angesichts dieses Ausländergesetzes Georg Büchner und sein „Hessischer Landbote" in den Sinn, wo Büchner 1834 schrieb:
Diese Gerechtigkeit ist nur ein Mittel, euch in Ordnung zu halten, damit man euch bequemer schinde. Sie spricht nach Gesetzen, die ihr nicht versteht, nach Grundsätzen, von denen ihr nichts wißt, Urteile, von denen ihr nichts begreift.
Das scheint wie für dieses Ausländergesetz bestimmt zu sein.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erwartet von der Bundesregierung einen klaren und kritischen Bericht, der die Schwachstellen des Ausländergesetzes deutlich aufzeigt und in dem Lösungen zumindest angedacht sind. Insbesondere legen wir Wert auf eine Analyse, ob und inwieweit die zunehmende Ausländerfeindlichkeit und die Gewalttaten gegen Ausländerinnen und Ausländer direkt oder indirekt durch das politische Konzept des Ausländergesetzes von 1991 begünstigt worden sind.
Wir erwarten, daß der Bericht auf die veränderte Rechtslage nach Ratifizierung des Abkommens über die Rechte der Kinder eingeht und Rechenschaft gibt, ob und inwieweit die damit übernommenen Pflichten zum Schutze der Kinder und der Familien in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht worden sind.
Wir erwarten eine Analyse über die vielfältigen Probleme, die sich für Frauen und Familien durch dieses Gesetz ergeben haben, insbesondere durch die Visa-Bestimmungen.
Wir erwarten eine klare Stellungnahme der Bundesregierung, welche Schritte sie als geeignet ansieht, um Ausländerinnen und Ausländern mehr Rechtssicherheit zu geben und ihnen die Einwanderung, die Einbürgerung und Integration in Deutschland zu erleichtern.
Vielen Dank.
Ich rufe jetzt als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt unsere Kollegin Erika Steinbach-Hermann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Staatssekretär Lintner hat ja gerade eben im Grunde genommen sehr deutlich gemacht, warum der Antrag der SPD, nicht so, wie Sie sagten, Frau Dr. Sonntag, ins Schwarze trifft — ich habe Ihnen ja zugehört —, sondern tatsächlich ins Leere geht.
Dem wäre formal nichts hinzuzufügen, denn Ihr Antrag ist ja eigentlich ein nur formaler, kein inhaltlicher Antrag, der sich mit den Inhalten des Ausländerrechtes beschäftigen würde.
Wer die Diskussion im Innenausschuß in den letzten Monaten und den letzten Jahren aufmerksam verfolgt hat, dem kann gar nicht entgangen sein, daß wir uns immer und immer wieder mit der Thematik beschäftigt haben und daß natürlich der Innenminister in diesem Jahr einen Bericht vorgelegt hat. Und der Innenausschuß ist ein Teil dieses Parlaments.
Frau Dr. Sonntag-Wolgast, Sie beklagten sicherlich zu Recht, daß es eine sehr kompliziert gefaßte Gesetzesmaterie ist, aber eines muß man sagen: Ein komplexes Gesetz, was so in die Tiefe geht, ist mit Sicherheit niemals eine leichte Frühstückslektüre. Es ist nicht leicht, dieses Gesetz zu lesen, auch nicht leicht ist, es dann umzusetzen, aber bei solchen komplexen Sachverhalten wird das immer wieder der Fall sein müssen.
Lesen Sie andere Gesetze; das einzige wirklich gut verständliche Gesetz ist unser Grundgesetz, und da haben wir bei der Asylrechtsregelung schon etwas dazu beigetragen, daß es etwas schwieriger wurde.
Das neue Ausländergesetz, so wie es 1990 beschlossen wurde, war ein Kompromiß auch mit unseren Koalitionsfreunden von der F.D.P.; das will ich ganz offen sagen.
Kompromisse bedeuten ganz zwangsläufig, daß jede der beteiligten Parteien ihre Ziele und Vorstellungen nicht ganz verwirklichen konnte. Meine Fraktion ist sich dieses Sachverhalts auch bewußt und lebt damit, da unser Ziel, ein funktionstüchtiges Ausländerrecht zu schaffen,
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Erika Steinbach-Hermann
das den Zuzug vermindert und die Integration der hier lebenden Ausländer erleichtert, mit diesem Kompromiß erreicht wurde; und dieses Gesetz hat sich inzwischen ja auch in der Praxis bewährt.
Wenn man die Ergebnisse verfolgt, muß man sagen, daß es sich in weiten Teilen bewährt hat, obwohl ich es nicht verhehlen will — ich will es an diesem Ort noch einmal deutlich sagen —, daß wir uns seitens der CDU durchaus auch restriktivere Maßnahmen im Ausländergesetz hätten vorstellen können.
Sie erscheinen uns auch heute noch wünschenswerter als etwaige Lockerungen, wenn man sich die Gesamtsituation in Deutschland anschaut. Wir wollen ja ganz offen miteinander reden.
Ich meine, Offenheit ist die Voraussetzung für ein fruchtbares Austauschen von Gedanken.
Ganz anders sieht es offensichtlich bei Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, aus. Sie wollen weitergehende Erleichterungen — Sie haben das ja heute deutlich gesagt — für Ausländer im Gesetz erreichen und versuchen nun, über die formale Hintertür den Bericht anzumahnen und nochmals den Boden für eine Diskussion vorzubereiten.
— Gut, das können Sie tun. Aber das erkennen wir natürlich. Wir leben in der Adventszeit. Da werden ständig Türchen aufgemacht, aber diese Tür bleibt zu.
Es besteht nach unserer Auffassung kein Anlaß, das Ausländergesetz zu verändern. Es ist gut, und es hat sich im Grundsatz auch bewährt. Es sollte so bleiben, bis auf einen einzigen Punkt. Ihn will ich anfügen. Sie haben ihn auch schon gelesen. Wir sind genau wie der Innenminister der Auffassung, daß wir die Ausweisungsbestimmungen für Dealer verschärfen müssen und daß es nicht sein kann, daß Menschen, die sich mit Drogenhandel in diesem Lande beschäftigen, sich möglicherweise hinter Schutzrechten verschanzen. Da, meinen wir, muß etwas getan werden.
Ich will eines noch einmal zusammenfassen.
Frau SteinbachHermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ullmann?
Nein, im Moment nicht, Herr Kollege Ullmann.
Eines der Ziele war, den Zuzug weiterer Ausländer zu vermindern. Ein weiteres war, die Einbürgerung bereits hier lebender Ausländer zu erleichtern. Dieses Ziel scheint uns durchaus erreicht.
Was den letzten Punkt betrifft, so sind ja hier im Zuge der Asylrechtsreform noch einmal Erleichterungen geschaffen worden. So könnte ein Großteil der hier lebenden Ausländer, vor allem auch die türkischen Staatsbürger, bereits heute ohne Schwierigkeiten die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben, wenn sie denn wollten. Wenn dies zu einem Problem in ihrem Heimatland führt, so ist das allerhöchstens ein Grund, auf die türkische Regierung einzuwirken, diese Schwierigkeiten abzubauen. Genau das tut ja die Bundesregierung zur Zeit. Ein Grund, unsere eigenen Ausländergesetze zu verändern, ist es nach unserer Auffassung nicht.
Was das erste Ziel des Ausländergesetzes angeht, also die Verminderung des Zuzuges,
so sind alle mir bekannten Forderungen von Ihrer Seite darauf angelegt, genau diesen Punkt zu unterlaufen oder das Umgekehrte zu erreichen. Wenn Sie die Härtefallregelung bei der Visapflicht herausnehmen wollen — das ist ja von Ihrer Seite schon geäußert worden —, wenn Sie die Heraufsetzung des Wiederkehrhöchstalters, die Aufgabe von Wohnraumerfordernissen, ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für Ehegatten von Anfang an usw. usw. fordern, führt das doch zwangsläufig zu einer verstärkten Zuwanderung in dieses Land und zu alldem, was damit verbunden ist, zu diesen wohlbekannten Problemen. Genau das wollen wir nicht. Ich frage Sie: Können Sie denn das im Interesse des Landfriedens wollen? Fragen Sie sich doch einmal selbst.
Ich war eigentlich davon ausgegangen, daß auch Sie als Mitglieder der SPD inzwischen die Realitäten in diesem Land gesehen und sich damit auseinandergesetzt haben, nämlich daß es uns völlig unmöglich ist, unbegrenzt neue Zuzügler in Deutschland aufzunehmen und so die Probleme der Welt innerhalb unserer Staatsgrenzen zu lösen. Wir können das nicht; wir vermögen das ganz einfach nicht. Wenn diese Erkenntnis bei Ihnen nicht vorhanden gewesen wäre, hätten Sie ja wohl nicht dem Asylkompromiß, zu dem wir Sie Jahre haben drängen müssen, mit zugestimmt.
— Ich freue mich ja, daß Sie zugestimmt haben und daß Sie diesen Lernprozeß hinter sich gebracht haben. Deshalb bitte ich Sie: Erleichtern Sie nicht weiter über das Ausländergesetz den Zuzug hierher in dieses Land, denn Sie tun diesem Land und vor allen Dingen dem Landfrieden keinen Gefallen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lambinus?
Aber gern.
— Es sind die Antragsteller, Herr Dr. Ullmann; deshalb.
Frau Kollegin, wären Sie damit einverstanden, daß die Regelungen, die heute
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Uwe Lambinus
für die Einbürgerung von Spitzensportlern in der Praxis angewendet werden, für alle Ausländer gelten?
Herr Kollege, Sie nehmen Ausnahmetatbestände heraus, die unter Umständen auch für Deutsche in anderen Ländern auch Gültigkeit haben. So etwas können Sie in der Breite unmöglich anwenden. Ich sage Ihnen: Wenn Sie so etwas anwendeten, dann brechen hier im Lande alle Dämme, und Sie befördern Rechtsextremismus. Das ist doch das Endergebnis davon.
Ein uneingeschränkter Zuzug hat mit Ausländerfreundlichkeit auch nicht das mindeste zu tun, sondern es ist schlicht und einfach eine völlige Verkennung der Lage, in der wir uns hier im Lande befinden. Wer Frieden in Deutschland bewahren will, darf mit Zuzugsgenehmigungen nicht großzügig umgehen, sondern muß das sorgfältig und sehr restriktiv tun.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 12/5994 und 12/6291 zu überweisen, und zwar zur federführenden Beratung an den Innenausschuß und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß, an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und an den Ausschuß für Frauen und Jugend. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Lambinus, Siegfried Vergin, Siegrun Klemmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Unrechtsurteile wegen ,,Fahnenflucht/Desertion", „Wehrkraftzersetzung" oder „Wehrdienstverweigerung" während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft
— Drucksache 12/6220 —
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Dazu gibt es keinen Widerspruch. Darm können wir so verfahren.
Als erster spricht Kollege Uwe Lambinus.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wieder einmal beschäftigen wir uns heute mit einem Teilaspekt der Aufarbeitung des unseligsten Zeitabschnittes unserer deutschen Geschichte, mit der aus jetziger Sicht richtigen Bewertung der Menschen, die Opfer der NS-Militärjustiz wurden.
Es gibt heute unter uns keine unterschiedliche Bewertung der Tatsache, daß der Zweite Weltkrieg
ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg war und deshalb als verbrecherisch einzustufen ist.
Dies stellt uns auch vor die Aufgabe, die Handlungen der Männer und Frauen, die sich der Mitwirkung an diesem Krieg entzogen, sich ihm verweigerten oder dagegen opponierten, neu zu bewerten.
Dabei kann und darf es nicht darum gehen, die vielen Millionen deutschen Soldaten, die nicht den Weg in die Desertion oder Verweigerung gegangen sind, in ein irgendwie geartetes Zwielicht zu stellen. Für sie gilt unabänderlich der Grundsatz des guten Glaubens. Wir dürfen ihnen nicht nachträglich abverlangen, was damals nur wenige gewagt haben. Wir anerkennen ihre damalige Absicht, durch Pflichterfüllung das Beste aus einer schwierigen Lage zu machen.
Nicht wenige dieser Soldaten erfuhren und erlitten im Zweiten Weltkrieg den schlimmen Zwiespalt zwischen wachsender Gegnerschaft zu einem Regime, dessen verbrecherischer Charakter sich mehr und mehr offenbarte, und der besonderen Pflicht zur beschworenen Verteidigung des eigenen Landes.
Die meisten von uns waren aus Altersgründen derartigen Gewissenskonflikten nie ausgesetzt und mußten sich in solcher Situation nie bewähren. Dies kommt in der Begründung unseres Antrages auch unmißverständlich zum Ausdruck. Gerade dies zwingt uns aber dazu, jenen, die den Weg der Verweigerung gegangen sind, späte Gerechtigkeit angedeihen zu lassen.
Über 20 000 Todesurteile wegen Desertion, Wehrkraftzersetzung und Wehrdienstverweigerung wurden vollstreckt. Zehntausende gingen in Zuchthäuser, Strafbataillone und Konzentrationslager, nur weil sie sich dem wahnsinnigen, menschenverachtenden Treiben des NS-Terrors entzogen. Die NS-Militärjustiz betrieb keine unabhängige, an rechtsstaatlichen Grundsätzen orientierte Rechtsprechung; sie war verkommen zu einem Instrument der Durchsetzung der verbrecherischen NS-Kriegsziele.
Dazu hat das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 11. September 1991 festgestellt — ich zitiere —:
Die nationalsozialistische Herrschaftsordnung war ... ein politisches Terrorsystem der unbeschränkten Willkür und Gewalt, da es durch keinerlei rechtliche Garantien eingeschränkt wurde...
Das Gericht führt weiter aus:
Die Wehrmacht und ihre Gerichte sollten dazu beitragen, den völkerrechtswidrigen Krieg zu führen. Die Anwendung der Höchststrafe, auch der Todesstrafe, wurde nicht mehr individuell durch Gerichte, sondern durch Führererlaß generell als angemessen festgelegt.
Es heißt weiter:
Nach dem Befehl Hitlers über die Bildung des
Truppensonderdienstes in der Wehrmacht .. .
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17081
Uwe Lambinus
waren auch die Richter schließlich noch den jeweiligen Truppen- und Fachvorgesetzten unterstellt ... im Bereich der Wehrmacht hat es somit keine unabhängige Justiz gegeben.
Weiter sagt das Bundessozialgericht:
Denn die Todesstrafe wurde um der Kriegsführung willen so zwangsläufig verhängt wie in den Urteilen des Volksgerichtshofes. Diese sind nach dem Beschluß des Deutschen Bundestages vom 25. Januar 1985 als Unrecht zu brandmarken . Das muß auch für jene Militärgerichtsurteile gelten, die ein Sonderopfer durch Verlust des Lebens auferlegten.
Soweit das Bundessozialgericht.
Hierzu, liebe Kolleginnen und Kollegen, dürfen wir nicht länger schweigen. Wir müssen diesen Menschen, die Opfer einer entarteten Justiz wurden, die Ehre zurückgeben.
Das — nicht mehr und nicht weniger — will unser Antrag erreichen. Wir wollen mit unserem Antrag dafür sorgen, daß diese Opfer nicht vergessen werden. Wir wollen mit Ihnen gemeinsam dafür sorgen, daß unsere berechtigte Hochachtung vor den Frauen und Männern des politischen, kirchlichen und militärischen Widerstandes nicht unglaubwürdig wird, weil wir anderen Opfern, die auf ihre Art, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, gleiches taten, nicht ebenfalls Gerechtigkeit zuteil werden lassen.
Dies ist nicht nur ein Ziel der Unterzeichner des Antrages und meiner Fraktion, dies ist, wie ich weiß, ein parteiübergreifendes Bedürfnis. Ich darf hier nur daran erinnern, daß sich auch der Verein „Wider das Vergessen — Für Demokratie", dem viele hervorragende Vertreter aller demokratischen Kräfte in unserem Lande angehören — ich will hier nur drei namentlich nennen, nämlich den Vorsitzenden Dr. Hans-Jochen Vogel, die stellvertretende Vorsitzende Dr. Hanna-Renate Launen und Pastor Friedrich Schorlemmer —, für diese Initiative ausgesprochen hat.
Ich darf Sie alle einladen, mit uns zusammen das zu tun, was überfällig ist. Lassen Sie uns in den Ausschußberatungen zueinander finden, damit ein weiteres unrühmliches Kapitel deutscher Vergangenheit aufgearbeitet werden kann.
Gestatten Sie mir zum Schluß, noch einmal das Bundessozialgericht zu zitieren. Es führt in seinem schon genannten Urteil wörtlich aus:
Hält man die massenhaft und zur Abschreckung verhängten Todesurteile im Zweifel für rechtmäßig, entspricht das der für die Kriegszeit typischen Geisteshaltung.
Dem Verdacht oder gar dem Vorwurf, daß diese
Geisteshaltung noch heute im Deutschen Bundestag
in maßgeblichem Umfang vertreten ist, sollten wir uns nicht aussetzen.
Recht herzlichen Dank.
Als nächster spricht der Kollege Klaus-Heiner Lehne.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Ich glaube, das Thema, mit dem wir uns hier befassen, ist ein außerordentlich schwieriges Thema. Ein außerordentlich schwieriges Thema nicht nur deshalb, weil es, wie schon angesprochen wurde, einen der schlimmsten Teile der deutschen Geschichte berührt, sondern auch deshalb, weil es — und die Erfahrungen haben wir nicht nur im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus, sondern in jüngerer Zeit auch durch die Aufarbeitung des SED- Regimes machen müssen — unglaublich schwierig ist, tatsächlich dafür Sorge zu tragen, daß denen, denen Unrecht geschehen ist, in einem angemessenen Umfang nun Recht und möglicherweise auch Entschädigungen zugebilligt werden.
Die Frage, um die es hier natürlich auch geht und die wir sicherlich in den Ausschüssen werden beraten müssen, ist die, ob man es in der Art machen kann, wie es in dem Antrag gefordert wird, nämlich durch eine pauschale Entscheidung, oder ob der Vorgang nicht differenzierter betrachtet werden muß und ob wir an einer Einzelfallprüfung nicht vorbeikommen.
Ich will ganz klar sagen: Es ist völlig unbestritten, daß es hier in einem ganz, ganz großen Umfang um Unrecht geht. Das nationalsozialistische Regime war ein mörderischer Gewaltstaat, bei dem auch die Militärjustiz Teil des Unrechtsmaßnahmenstaates gewesen ist. Der Zweite Weltkrieg war auch zweifellos völkerrechtswidrig. Die Frage ist eben trotzdem, ob es sachgerecht ist, hier eine pauschale Entscheidung zu treffen, wie im Antrag vorgeschlagen, oder an die Dinge differenziert heranzugehen.
Ich glaube, man kann durchaus auch der Ansicht sein, daß es unangemessen sein kann, Desertion während des Zweiten Weltkrieges generell als Akt politisch motivierten Widerstands zu legitimieren.
Dies ist weder historisch noch ethisch zu rechtfertigen. Desertion ist in allen Staaten der Welt ein Straftatbestand gewesen, und zwar auch zweifellos in demokratischen und freiheitlich orientierten Staaten. So hat es auch bei den Alliierten Verurteilungen wegen Desertion und vergleichbarer Straftaten gegeben.
Der Unterschied zur Nazi-Militärjustiz lag natürlich in der weit größeren Zahl und der Unverhältnismäßigkeit der Urteile. Dies ändert aber nichts daran, daß die meisten Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg kämpfen mußten und litten, ehrlich und aufrichtig davon überzeugt waren, ihrem Land zu dienen. Es ist eben von großer Tragik, daß in diesem Teil deutscher Geschichte die Vaterlandsliebe der meisten Men-
17082 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Klaus-Heiner Lehne
schen zu verbrecherischen Zwecken mißbraucht wurde.
Eine pauschale Rechtfertigung von Desertion könnte die Gefahr in sich bergen, im nachhinein die ins Unrecht zu setzen, die davon überzeugt waren, für ihr Vaterland zu kämpfen.
— Ich gehe davon aus, daß ich limen zugehört habe.
Aus der pauschalen Rechtfertigung der Desertion entstünde zudem möglicherweise der falsche Eindruck, daß Desertion generell achtbar und legitim sei.
Dies könnte auch die Moral der Streitkräfte im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat untergraben. Deshalb, finde ich, ist die undifferenzierte pauschale Lösung, wie sie im Antrag vorgesehen ist, vermutlich nicht der richtige Weg. Richtig ist vielmehr die differenzierte Beurteilung des Einzelfalls durch die zuständigen Organe des Rechtsstaates, wie dies unsere Rechtsordnung im Prinzip auch schon vorsieht.
Bereits 1952 ist durch § 18 des Zuständigkeitsergänzungsgesetzes die Möglichkeit der Wiederaufnahme wehrmachtsgerichtlicher Strafverfahren durch die bundesdeutsche Strafjustiz bundeseinheitlich eingeführt worden. Auch die Frage der Entschädigung für begangenes Unrecht ist in der Folge ein Problem der Einzelfallprüfung nach den Bestimmungen des Bundesentschädigungsgesetzes und des allgemeinen Kriegsfolgengesetzes bzw. neuerdings auch des Entschädigungsrentengesetzes und des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes.
Im übrigen hat sich der Bundestag mit dieser Problematik heute nicht zum ersten Mal befaßt, son-dem in der letzten, der i 1. Legislaturperiode hierzu bereits eine Entschließung gefaßt, beruhend auf einem mit dem der SPD fast Bleichlautenden Antrag der Fraktion der GRÜNEN. In dieser Entschließung, der man eigentlich so schrecklich viel nicht mehr hinzufügen muß, heißt es:
Der Deutsche Bundestag stellt fest, daß die unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft verfolgten Kriegsdienstverweigerer, Deserteure und Wehrkraftzersetzer im Rahmen der geltenden entschädigungsrechtlichen Regelungen, insbesondere nach den Härterichtlinien, entsprechend dem allgemeinen Kriegsfolgengesetz Wiedergutmachungsleistungen erhalten. Er hält daher eine über die bestehenden Vorschriften hinausgehende besondere Wiedergutmachungsregelung für diesen Personenkreis nicht für erforderlich. Er bittet gleichzeitig die Bundesregierung, sicherzustellen, daß bei der Anwendung der einschlägigen Wiedergutmachungsvorschriften auf diesen Personenkreis eine dem jeweiligen Einzelfall gerecht werdende Entscheidung getroffen werden kann.
Herr Lehne, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lambinus?
Bitte, ja.
Herr Kollege, ist Ihnen die Tatsache bewußt, daß keine einzige Witwe eines zum Tode Verurteilten — mit vollstrecktem Urteil — bis zum heutigen Tage Kriegerwitwenrente oder eine Versorgungsrente nach dem Bundesversorgungsgesetz erhalten kann, weil alle Urteile die unehrenhafte Entlassung aus der Wehrmacht beinhalteten und aus diesem Grunde der Delinquent nicht als Soldat gestorben ist? Ist Ihnen das bekannt?
Das ist mir so nicht bekannt. Mir ist etwas anderes bekannt: daß es durchaus Fälle gibt — wobei ich die Zahl im Augenblick nicht kenne —, in denen Entschädigungsleistungen gewährt werden. Wir werden das sicherlich in den Detailberatungen im Ausschuß klären können, wenn wir die entsprechende Tatsachenforschung angestellt haben — die hinreichende Information ist ja der Sinn von Ausschußberatungen —, um dann sachgerecht darüber entscheiden zu können.
Im übrigen hat die Bundesregierung auch in dem Sinne, wie der Bundestag das 1990 beschlossen hat, auf eine Anfrage der GRÜNEN im Jahr davor Stellung genommen.
Ich darf vielleicht noch auf eines hinweisen: Den gleichen Weg mit der Einzelfallprüfung sind wir auch bei der Aufarbeitung des SED-Unrechts gegangen. Auch hier haben wir nicht durch Gesetz eine pauschale Aufhebung von Unrechtsentscheidungen oder Unrechtsvorgängen beschlossen, sondern wir haben die Entscheidung im Einzelfall gewählt. Das Problem ist doch ganz klar: Es liegt einfach in der Natur von Unrechtsstaaten, daß sie keine Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht treffen. Aufgabe der Aufarbeitung im Rechtsstaat hinterher ist es, dafür Sorge zu tragen, daß Unrecht von Recht getrennt wird.
Dies ist schwierig und nur im Wege einer Einzelfallprüfung möglich. Darum geht es hier im Prinzip.
Ich teile durchaus Ihre Ansicht, daß wir uns Gedanken über die Frage machen müssen, ob wir nicht die Rechte der Betroffenen, die wirklich ein furchtbares Schicksal erlitten haben, und die Rechte ihrer Angehörigen ausbauen und verbessern können. Das ist in meinen Augen überhaupt keine Frage, aber das ändert nichts an dem Prinzip der Einzelfallprüfung, das wir beibehalten müssen.
Der Deutsche Bundestag hat in der 11. Periode — auch das war Gegenstand der Beschlüsse, auf die ich vorhin Bezug genommen habe — ebenfalls eindeutig erklärt, daß er sich in der 12. Periode mit dieser Frage noch einmal befassen will. So verstehe ich auch diesen Antrag. Deswegen kommt er auch in den Ausschuß. Wir werden uns sicherlich Gedanken darüber machen müssen, wie wir die vorhandenen rechtlichen Möglichkeiten verbessern können.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17083
Herr Kollege Lehne, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Elmer?
Wenn ich diesen Satz zu Ende gesprochen habe, gerne.
Aber im Grundsatz bin ich nach wie vor der Ansicht, daß es keinen Zweck hat, mit pauschalen Beschlüssen solche Probleme aus der Welt zu schaffen zu versuchen. Ich glaube, man schafft damit nur neue. Dem einzelnen ist auch viel mehr geholfen, wenn er in einem geordneten rechtsstaatlichen Verfahren rehabilitiert wird und wenn wir uns vielleicht Gedanken darüber machen, auf welche Art und Weise diese Verfahrensmöglichkeiten für den Betreffenden verbessert werden können.
Bitte.
Herr Kollege Lehne, auch bei mir waren Betroffene. Sehen Sie bei der Einzelfallprüfung nicht auch das Problem, daß bei den letzten wenigen, die noch leben — der Verein hat, glaube ich, 29 Mitglieder — auf Grund der schwierigen Aktenlage sozusagen die biologische Lösung gegriffen hat und daß das doch etwas makaber wird? Sind Sie nicht der Meinung, daß wir deshalb diese Lösung doch nicht so favorisieren sollten?
Ich glaube, das ist nur eine Frage des Verfahrens. Wenn wir uns über mögliche Verfahrenserleichterungen Gedanken machen, dann kann auch, glaube ich, diesen 29 noch rechtzeitig genug geholfen werden. Aber ich sage das hier ganz offen — und ich hoffe, das ist aus meiner Rede auch deutlich geworden —: Es geht nicht nur um die 29, sondern es geht um viel, viel mehr Menschen, die durch diesen Krieg auch Unrecht erlitten haben. Dazu rechne ich z. B. auch die, die als Soldaten im Kampf gefallen sind, um es ganz deutlich zu sagen.
Ich meine, hier muß man auch darauf achten, daß man nicht nur an diesen kleinen Kreis der Betroffenen denkt — die sicherlich in dieser Situation ganz besonders schlimm betroffen sind —, sondern daß man auch an alle anderen denkt, die ebenfalls unter diesem Krieg gelitten haben, und versucht, insgesamt einen gerechten Ausgleich zu finden. Ich glaube, das ist durch diesen Antrag — wir werden das im Ausschuß noch eingehend beraten —, so wie er jetzt formuliert ist, nicht ausreichend gewährleistet.
Ich möchte zum Schluß kommen und noch einmal deutlich darauf hinweisen, daß ich es für den richtigen Weg halte, hier zu einfachen Lösungen zu kommen, sondern wir müssen bessere Lösungen finden. Für bessere Lösungen haben wir die Ausschußberatungen. Wir werden diesen Antrag zum Anlaß nehmen, um auch im Sinne des Auftrages, den uns der 11. Deutsche Bundestag hinterlassen hat, vielleicht noch in dieser Legislaturperiode — darum werden wir uns bemühen — tätig zu werden.
Vielen herzlichen Dank.
Als nächster spricht der Kollege Wolfgang Lüder.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich will damit beginnen, daß ich sowohl nach der Rede des Kollegen Lehne als auch nach der des Kollegen Lambinus einfach einmal festhalte: Wir befassen uns hier nicht mit denen, die ihren guten Glauben, für eine — wie sie meinten — gute Sache, für ein gutes Vaterland, dem sie sich verpflichtet fühlten, ihr Leben einzusetzen, zu kämpfen, mit gesundheitlichen Schäden und teilweise auch mit dem Tode bezahlten. Darum geht es nicht. Das wäre eine falsche Frontstellung.
Worum es hier geht ist, das Thema zu behandeln und aufzuarbeiten, mit dem sich das Urteil des Bundessozialgerichts vom 11. September 1991 befaßt hat, nämlich:
Was machen wir mit denen und wie stehen wir zu denen, die Widerstand geleistet haben, indem sie sich aktiv ihrer Wehrpflicht — auf welche Art und Weise auch immer — entzogen haben, und auch mit denen, die gar nicht Widerstand ganz schlicht nur Rückgrat gezeigt haben? Das ist ja auch schon mal verdammt viel in Diktaturen, wie wir in unserer deutschen Geschichte mehrfach lernen durften.
Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 11. September 1991 hat Maßstäbe gesetzt, wie Verurteilungen im NS-Staat gewertet werden müssen, die gegen sogenannte Wehrkraftzersetzer, Deserteure oder gegen Wehrdienstverweigerer ergangen sind. Maßgeblich für die Bewertung muß danach die Feststellung sein, daß nicht die aktive Teilnahme am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Nazideutschlands die von der Rechtsordnung anerkannte Norm darstellt, sondern Maßstab ist gerade die Verweigerung der Teilnahme.
Die Nachhilfe, die das Bundessozialgericht mit diesem Urteil gegeben hat, hat aber bisher nicht viel bewirkt.
Das wird insbesondere daran deutlich, wie sich das Bundesfinanzministerium in Angelegenheiten der Wiedergutmachung — sei es auch nur der Wiedergutmachung durch Zahlung von kleinen finanziellen Anerkennungen aus Härtefonds — in dieser Angelegenheit verhalten hat.
Zwar wurden die Verwaltungsvorschriften zum AKG — im Ministeriumsdeutsch VVAKG — geändert, veröffentlicht aber wurde diese Neufassung nicht. Kein Betroffener wurde davon informiert,
welche Konsequenzen das Bundesfinanzministerium aus diesem Urteil gezogen hat.
17084 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Wolfgang Lüder
Das Finanzministerium hat diese Neufassung versteckt, als schäme es sich der neu gezogenen Bremse. Das Verstecken der neuen Vorschriften ist falsch, weil sie einigen Opfern die Möglichkeit geben würden, wenigstens minimale Entschädigungen zu erhalten. Die Opfer sollten doch wenigstens wissen, was ihnen zusteht.
Verschämt zu sein wäre hingegen richtig, weil vom Finanzministerium die Konsequenz des Widerstandes gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Nazideutschlands nicht gezogen worden ist. So hält man es auch in den neuen Verwaltungsvorschriften noch für denkbar und möglich, daß eine Strafverurteilung wegen Abhörens feindlicher oder neutraler Rundfunknachrichten — ich zitiere aus den Verwaltungsvorschriften — Rechtens gewesen sein könnte,
wenn nur das Strafmaß niedrig war. So stellt man für die Feststellung von Unrechtsurteilen nicht darauf ab, was das Gericht geurteilt hat, sondern ob es eine spätere Gnadenentscheidung gegeben hat. Wenn jemand zum Tode verurteilt und später zu KZ „begnadigt" worden ist — ich scheue mich, diesen Ausdruck in diesem Zusammenhang in den Mund zu nehmen —, dann ist dies kein Unrecht mehr, das zum Entschädigungstatbestand führt.
So hält das Bundesfinanzministerium eine Verurteilung wegen Zersetzung der Wehrkraft nach der Kriegssonderstrafrechtsverordnung — einem typischen nationalsozialistischen Unrechtstatbestand — für immer noch denkbar rechtsstaatlich, wenn nur das Strafmaß gering war. Alles nachzulesen in diesen Verwaltungsvorschriften unserer Regierung. Und da schäme ich mich, diese Regierung mit tragen zu dürfen und mit tragen zu wollen, wenn wir solche Wege gehen.
Und weil es diese Verwaltungsvorschriften gibt, müssen wir dem Gedanken nähertreten, der hier von der SPD genannt worden ist, müssen wir zu klaren und auch generalisierenden Regelungen kommen. Wir müssen Maßstäbe zurechtrücken hinsichtlich dessen, was Unrecht war und was Recht ist.
Wir müssen Maßstäbe setzen.
Ich weiß, daß wir darauf achten müssen
— ich darf diesen Satz noch sagen, Herr Geis; dann können Sie gerne Ihre Frage stellen —, wir nicht alles an Strafverurteilung in der NS-Zeit zu Unrecht zu erklären.
Denn alles das, was in der Zeit vor 1933 Tatbestand war und was Tatbestand gewesen wäre nach 1949, ist, wenn es in der NS-Zeit geschah, ein strafwürdiges Vergehen. Ich möchte hier nicht alles über einen Kamm scheren.
Deswegen sage ich auch: Wir werden sehr sorgfältig prüfen müssen, wie wir es formulieren, welche Grenzen wir ziehen, wo wir Maßstäbe setzen. Aber daß die Maßstäbe, die uns heute vorgelegt werden anläßlich der VVAKG, nicht gelten können, das ist für mich evident.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Geis.
Herr Lüder, Sie haben am Schluß Ihrer Ausführungen noch einmal einiges klargestellt, aber dennoch meine Frage: Glauben Sie, daß bei einer pauschalierten Aufhebung eben diese Klarstellung, nämlich die Differenzierung zwischen Recht und Unrecht überhaupt möglich ist? Das ist ein Widerspruch in sich.
Lieber Herr Kollege Geis, ich glaube, daß wir Wege finden können, hier eine generelle Klarstellung zu finden. Mir würde der Verzicht auf eine generelle Klarstellung leichter fallen, wenn ich wüßte, daß die Maßstäbe der Demokratie, des Widerstandes gegen Diktatur ihren Eingang in jede Verwaltungsvorschrift gefunden hätten.
Als nächster der Abgeordnete Uwe-Jens Heuer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Personenkreis, auf den der hier vorliegende Antrag der SPD zielt, ist im Osten überwiegend schon in den 40er Jahren rehabilitiert und später in der DDR als „Opfer des Faschismus" entschädigt worden, weil erkennbar war, daß sich hier Männer der Teilnahme an einem verbrecherischen Angriffskrieg entzogen hatten. Das fand zwar im Rahmen eines, wie uns jetzt gesagt wird, „verordneten Antifaschismus" statt, aber es war für die ehemaligen Verfolgten des Nationalsozialismus zweifellos sehr wirksam.
Insofern ist es schon verwunderlich, warum dieser Antrag erst jetzt kommt und warum es erst des in der Begründung zitierten Urteils des Bundessozialgerichts bedurfte, um den Anstoß für diesen Schritt zu geben.
Selbst wenn der Bundestag diesem Antrag jetzt zustimmt — was ich hoffe —, kommt er für die meisten Betroffenen zu spät. Aber das paßt doch in die Tradition des Umgangs mit den Verfolgern und den Verfolgten des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik. Mitte der 50er Jahre hatten die Beamten des Nazistaates mittels des 131er-Gesetzes ihre alten Positionen wieder erklommen einschließlich der entsprechenden Versorgungsansprüche. Die Verfolgten waren lediglich hinsichtlich einer Entschädigung antragsberechtigt. Wenn sie beweisen konnten, daß sie keinem anderen System der Gewaltherrschaft, z. B. der Sowjetunion, gedient hatten, und wenn sie nachweisen konnten, daß sie die freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht bekämpft hatten, etwa durch Unterstützung der KPD, und wenn sie bedürftig
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17085
Dr. Uwe-Jens Heuer
waren, dann konnten sie mit einer kleinen Rente rechnen.
Wie auch immer, der Antrag kommt spät. Aber besser spät als nie. Er kommt zu einem Zeitpunkt, da sich Kräfte hier anschicken, deutsche Soldaten zu Kampfeinsätzen in die Welt zu schicken. Der Abgeordnete Heiner Lehne befürchtet, daß unser Beschluß zum Nachdenken über die Berechtigung von Kriegen führen könnte. Genau das erhoffe ich mir eigentlich von dieser Diskussion: daß wir darüber nachdenken, was denn zum Krieg berechtigt und wie sich der einzelne verhalten darf und kann.
Meine Damen und Herren, ich unterstütze den vorliegenden Antrag der SPD, weil er möglicherweise doch noch den Opfern des Nationalsozialismus und ihren Angehörigen bei der Durchsetzung ihrer Entschädigungsansprüche hilft, weil er vielleicht dem Nachdenken über Traditionen der Bundeswehr einen Impuls gibt und weil er jungen Männern zeigt, daß es durchaus nicht unehrenhaft sein muß, „nicht hinzugehen", wenn Krieg ist.
Eigentlich paßt in diesem Zusammenhang auch einiges nicht zusammen. Man kann doch nicht Deserteure und Wehrkraftzersetzer rehabilitieren und gleichzeitig den Hitlerfreund Generaloberst Dietl, unter dessen Verantwortung in Feldstraflagern der Wehrmacht ebensolche Menschen zu Tode geschunden wurden, nach wie vor als Namenspatron der Bundeswehrkaserne Füssen haben.
Aber der Versuch, Unvereinbares zu vereinen im Umgang mit den Verfolgern und den Verfolgten im Nazistaat hat ja doch wohl eine gewisse Tradition in der Bundesrepublik und erschwert uns auch die heutige Diskussion. Fast gleichzeitig mit der Rede von Bundespräsident Heuss am 19. Juli 1954 in der Freien Universität Berlin, in der die Teilnehmer des 20. Juli zu Märtyrern der Nation erklärt wurden, wurde der Vorsitzende des Standgerichts, das die Teilnehmer des 20. Juli Dietrich Bonhoeffer, Hans von Dohnanyi, Wilhelm Canaris und andere gerichtsförmig zum Tode befördert hatte, von allen strafrechtlichen Vorwürfen in diesem Zusammenhang freigesprochen.
Ich hoffe, daß der vorliegende Antrag dazu beiträgt, solche Widersprüche in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland deutlich zu machen und für die Zukunft auszuschließen.
Danke.
Als letzter zu diesem Tagesordnungspunkt Kollege Wolfgang Ullmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag der SPD ist eine angemessene Reaktion auf das denkwürdige und in meinen Augen epochemachende Urteil des Bundessozialgerichtes, das schon mehrfach zitiert worden ist.
Herr Lehne, ich habe zwei Einwände gegen das, was Sie vorgetragen haben. Einmal wissen Sie ja selbst, die Frau, um die es dabei ging, mußte ja bis zum Bundessozialgericht gehen, um ihr Recht zu kriegen, das Sie meines Erachtens auch als Recht bezeichnet
haben. Bei Ihrer Einzelfallprüfung wäre dieser Weg dann doch immer wieder die Regel. Das kann doch wirklich nicht sein.
Etwas anderes aber ist noch viel wichtiger: Es geht jetzt nicht darum, ob wir eine generelle, eine pauschale Prüfung oder eine Einzelfallprüfung bevorzugen oder sagen: Es muß schlicht besser werden, wie Sie es getan haben. Es geht vielmehr darum, daß der Gesetzgeber in diesem Lande, in der Bundesrepublik Deutschland, endlich einmal klar sagt, was seine Rechtsauffassung ist. Ist es die, die das Bundessozialgericht verworfen hat, daß die Rechtsprechung in einem verbrecherischen Krieg, die Kriegsjustiz, die dort ausgeübt worden ist, normale Justiz hat sein können? — Das ist offenkundig nicht der Fall. Darauf muß unser Parlament als Gesetzgebungsorgan reagieren. Ich denke, wir kommen da an einer generellen Aussage nicht vorbei. Das ist bei der Gesetzgebung mm einmal so.
Die Größenordnung, um die es dabei geht, ist beträchtlich. Die Zahl der Fälle wird unterschiedlich angegeben; es sind aber fünf- und sechsstellige Zahlen. Das ist der Grund, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, warum ich es bedaure, daß wir noch keinen fraktionsübergreifenden Antrag haben.
Wir werden uns rebus sic stantibus mit einem eigenen Antrag an der Debatte beteiligen. Es geht uns auch um Präzisierungen im Bereich der Entschädigung und der Versorgung. Auf jeden Fall aber sind wir der Meinung, daß der SPD-Antrag eine gute Grundlage der Arbeit ist.
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir zum Schluß noch eine ganz persönliche Anmerkung: Vom Kollegen Lambinus und von anderen ist mit Recht auf den durchschnittlichen deutschen Soldaten hingewiesen worden. Ich muß in diesem Zusammenhang einigen Aussagen über das gute Gewissen widersprechen. Ich kann keine pauschalen Aussagen machen,
wie es um das gute Gewissen der deutschen Soldaten bestellt gewesen sein mag.
Mein Vater ist in diesem Krieg gefallen. Er ist — ich will das hier sagen — mit ganz schlechtem Gewissen in diesem Krieg gewesen.
Am Bahnhof Friedrichstraße in Berlin, am Buchladen an der Bahnunterführung, gab es ein Schild zum Gedenken an zwei deutschen Soldaten, die dort Ende April 1945 von SS-Leuten gehängt worden sind. Kaum war das SED-Regime zusammengebrochen, wurde dieses Schild abgerissen. Dann wurde es wieder befestigt. Ich weiß nicht, ob es zur Zeit ab- oder anmontiert ist.
17086 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Dr. Wolfgang Ullmann
Die Frage, vor der wir stehen, ist doch folgende: Wollen wir zu diesen Schildabreißern gehören,
zu denen, die das vertuschen,
oder sind wir der Meinung, daß, wenn wir schon Zentrale Gedenkstätten für Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft einrichten, dann das deutsche Parlament klarstellen sollte, daß diese Gewaltherrschaft die Gewaltherrschaft des deutschen Reiches über fremde Völker, aber auch über Deutsche war, auch über deutsche Soldaten?
Herr Ullmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Geis?
Ich bin zwar am Ende meiner Redezeit, aber gerne.
Herr Ullmann, stimmen Sie mit mir überein, daß durch eine Pauschalierung, wie Sie sie wollen, Recht und Unrecht über einen Kamm geschoren werden und daß dies im Grunde genommen unterm Strich Unrecht wäre, daß deshalb ein differenzierendes Einzelfallverfahren viel besser ist als ein pauschales Urteil?
Herr Geis, die Antwort könnte mir ganz leicht fallen, aber ich will sagen: Sie haben jetzt doch auch recht pauschal gefragt. Uns, niemandem von uns — da nehme ich keinen aus —, geht es darum, Recht und Unrecht in irgendeiner Form gleichzustellen. Es geht doch um die Frage — darauf muß dieses Parlament endlich eine Antwort geben —: Auf welcher Seite war das Recht in diesem verbrecherischen Krieg? Das muß gesagt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/6220 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung soll jedoch beim Rechtsausschuß liegen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Veranstaltung „Ausländerinnen und Ausländer im Parlament"
— Drucksache 12/5778 —
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Gruppe PDS/Linke Liste zehn Minuten erhalten soll. — Dagegen gibt es keinen Widerspruch.
Das Wort erhält die Abgeordnete Ulla Jelpke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine Gruppe hat den Antrag eingebracht, um den Ausländerinnen und Ausländern, die in diesem Land leben, die Chance zu geben, sich auch einmal in diesem Hause Gehör zu verschaffen. Ich bin mir bewußt, daß es sich dabei natürlich nur um eine Geste handelt, wenn Ausländerinnen und Ausländern für einen Tag das Parlament als Tribüne zur Verfügung gestellt wird, um dort ihre Probleme und ihre Lebenssituation darstellen zu können.
Die Überlassung des Parlamentsgebäudes für die Ausländerinnen und Ausländer wäre ein Zeichen nach außen, daß sich dieses Parlament mit den in diesem Land lebenden Immigrantinnen und Immigranten, Flüchtlingen und Asylsuchenden verbunden fühlt, daß sie als Teil der Gesellschaft respektiert und akzeptiert werden. Es wäre auch ein Symbol dafür, daß man diese Menschen mit Rassismus, Antisemitismus und der Terrorwelle von rechts nicht alleine lassen will.
Der Terror und die Gewalt von Neofaschisten gegen Immigrantinnen und Immigranten, gegen Flüchtlinge und Asylsuchende hält weiterhin auf hohem Niveau an. Nach Angaben der Bundesregierung sind seit der Wiedervereinigung 30 Menschen durch Rechtsextremisten getötet worden, allein 17 im Jahre 1992. 1992 wurden von den Sicherheitsbehörden 2 584 Gewalttaten mit erwiesener oder zu vermutender rechtsextremistischer Motivation erfaßt. In diesem Jahr wurden in der BRD bis zum 4. November insgesamt 1 584 Gewalttaten mit rechtsextremistischem Hintergrund registriert.
Auch wenn diese Zahlen schon erschreckend genug sind, geben sie doch noch nicht die Wirklichkeit wieder. Antifaschistische Recherchen haben ergeben, daß beispielsweise die Zahl der Morde von rechts mehr als doppelt so hoch ist wie die von der Bundesregierung angegebene. Wie weit die Verhältnisse in diesem Land schon wieder fortgeschritten sind, mag man daran erkennen, daß ein Mann wie der Dominikanerpater Heinrich Basilius Streithofen, der lange Zeit öffentlich als Berater von Bundeskanzler Kohl gehandelt wurde, durch antisemitische Ausfälle berüchtigt wurde.
Gegen ihn wird wegen Volksverhetzung ermittelt, weil er Juden und Polen als die „größten Ausbeuter des Steuerzahlers" titulierte. Man erkennt dies auch daran, daß ein Hobbyhistoriker und Geschichtsrevisionist wie Alfred Schickel, der die Zahl der von Nazis ermordeten Juden in neofaschistischen Zeitungen nach unten lügt, mit dem Bundesverdienstkreuz bedacht wird. Honoriert wurde damit sein Engagement gegen „Unkenntnis, Vorurteil und Desinformation".
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17087
Ulla Jelpke
Es ist daher wohl kein Zufall: Auch der militante Antisemitismus hat in den letzten Monaten sprunghaft zugenommen. Nach Auskunft von Ignatz Bubis wurden 1992 in der Bundesrepublik Deutschland 80 jüdische Friedhöfe geschändet. Bubis wies darauf hin, daß damit im Jahre 1992 so viele Friedhöfe geschändet wurden wie in den Jahren 1926 bis 1931 zusammen. Allein diese Auskunft von Ignatz Bubis über antisemitische Gewalt müßte ausreichen, um alle denkbaren und auch ungewöhnlichen Maßnahmen gegen den Neofaschismus in diesem Land zu ergreifen. Unserem Antrag zuzustimmen wäre dabei ein bescheidener Beitrag.
Nach den grauenvollen Morden der Neofaschisten von Solingen forderte die Ausländerbeauftragte des Bundes, Frau Schmalz-Jacobsen, die „weitestgehende rechtliche Gleichstellung von deutscher und nichtdeutscher Bevölkerung" herzustellen, um der „alltäglichen Diskriminierung" den Boden zu entziehen. Ich weiß, daß diese Republik von derartigen Zuständen weit entfernt ist.
Erleichterung bei der Einbürgerung oder der Erhalt der doppelten Staatsbürgerschaft werden in diesem Land noch immer als Gefahr angesehen. Gegen wen eigentlich, frage ich mich. Das kommunale und das allgemeine Wahlrecht werden gleichfalls als Bedrohung für diesen Staat angesehen und deswegen entschieden abgelehnt.
Meine Damen und Herren von der CDU und CSU, für Sie ist der Wertewandel zur Zeit eine der größten Aufgaben. Sie wissen, daß uns in dieser Frage Welten trennen. Aber Ihre Forderung nach nationaler Identität, nach Fleiß und Heimatliebe und Ihre Debatten um die Schutz- und Schicksalsgemeinschaft können Sie doch nicht so weit beschränkt haben, daß Sie zu einer einfachen, aber klaren Geste der Solidarität mit sechs Millionen Bürgern und Bürgerinnen nicht mehr fähig sind.
Ich möchte Ihnen noch einen zusätzlichen Aspekt zu bedenken geben. In der Ausgabe der „Welt" vom 30. November 1993 führt der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Eckart Werthebach, über den ursächlichen Zusammenhang zwischen rechtsextremer Gewalt und der Behandlung des Themas Asyl aus — ich zitiere —:
Hier wurde ein Acker bestellt, auf dem der Rechtsextremismus seine fremdenfeindliche Ernte noch auf geraume Zeit einfahren wird.
— Es stört mich übrigens unwahrscheinlich, daß so laut hinter mir geredet wird. Das geht schon die ganze Zeit so.
Sie haben recht, Frau Jelpke.
Noch schärfer faßt das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom 30. Oktober 1992 zu „Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus", Drucksache 12/3789, diesen Gedanken. In dieser Entschließung zeigt sich das Europäische Parlament mit Recht „besorgt darüber, daß demokratische Parteien dem Druck von seiten der Rechtsextremisten und Rassisten nachgeben und ihn für geplante Verschärfungen im Asylrecht instrumentalisieren".
Mehrere Ausschüsse des Deutschen Bundestages, auch der Innenausschuß, haben diese Entschließung übrigens zustimmend zur Kenntnis genommen, und Rednerinnen und Redner aus allen Fraktionen und Gruppen haben diesen Gedanken in diesem Hause schon entwickelt.
Genau in diesem Sinne hat auch der Deutsche Bundestag eine Bringschuld. Ich möchte daran erinnern, daß Mitglieder des Bundestages in besonderer Weise gegen Flüchtlinge gehetzt und den ideologischen Boden für Gewalt mit bereitet haben. So z. B. der CSU-Abgeordnete Riedl, der den Münchner Süden zur „asylantenfreien Zone" machen wollte und sich damit der Sprache der militanten Neonazis bediente. So z. B. auch der hier anwesende CSU-Abgeordnete Norbert Geis, der hier im Parlament in der Asyldebatte kurz vor den Brandanschlägen in Solingen neofaschistische Gewalt rechtfertigte, indem er sagte — ich zitiere —:
— Hören Sie erst einmal das Zitat, dann können Sie sich aufregen. —
Kein Volk wird eine Überfremdung ohne Konflikte hinnehmen, es kann es gar nicht hinnehmen ... weil jedes Volk seine eigene Art zu leben und das Recht darauf hat. Das ist ein Naturrecht jedes Volkes.
— Ein Widerstandsrecht gegen die „Überfremdung" bei dem, was in diesem Land los ist, hier zu legitimieren, finde ich schon ziemlich weitgehend, besonders was die Sprache des Rechtsextremismus betrifft.
Unvergessen ist auch die Rede vom „Beileidstourismus", dem die Regierung, speziell der Kanzler, nicht verfallen solle, ausgesprochen vom Regierungssprecher nach den Morden von Mölln. Hier soll noch einmal daran erinnert werden.
Meine Damen und Herren, ein letzter Gesichtspunkt für die Begründung des Antrags meiner Gruppe: Aus dem Bundesministerium des Innern sowie von der Regierungsbank und hier namentlich vom Bundeskanzler selber hört man immer wieder, wenn es um rechtsextremistische und fremdenfeindliche Gewalt in diesem Land geht, als Entgegnung quasi, daß dieses Land ein ausländerfreundliches Land sei.
Ich fordere Sie daher auf, unserem Antrag zuzustimmen und dafür Sorge zu tragen, daß die Veranstaltung „Ausländerinnen und Ausländer im Parlament" ein breites Interesse in den Medien erfahren wird.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, nächste Rednerin ist unsere Frau Kollegin Erika Steinbach-Hermann.
17088 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bevor ich mich dem Anliegen des Antrages widme, noch eines: Die Vorrednerin hat sich — sicherlich bewußt —einer Formulierung bedient, über die sie nachdenken sollte. Sie redete hier immer von „Neofaschismus". Faschismus gab es in Italien; in Deutschland gab es Nationalsozialismus. Diese beiden Formen haben sich gravierend voneinander unterschieden: Die Faschisten haben ihre Juden nicht umgebracht, der deutsche Nationalsozialismus hingegen hat seinen jüdischen Bürgern den Garaus gemacht. Da besteht ein gravierender Unterschied. Ich meine, wenn Sie die heutigen Erscheinungen mit „Neofaschismus" verniedlichen, dann tim Sie der Sache nichts Gutes. Es sind Neonazis, die hier anzuprangern sind. Das vorab, um das Geschichtsbewußtsein etwas zu schärfen.
Die Gruppe PDS/Linke Liste beantragt, eine Veranstaltung „Ausländerinnen und Ausländer im Parlament" entsprechend der schon existierenden Veranstaltungsreihe „Jugend und Parlament" durchzuführen. Heute geht es im Grunde genommen nur um die Überweisung an den Innenausschuß. Ich möchte dem Votum des Ausschusses insofern auch nicht vorgreifen. Doch lassen Sie mich einige grundsätzliche Gedanken aussprechen.
Die Absicht, dafür Sorge zu tragen, daß die bei uns lebenden Ausländer ihre Bedürfnisse und Interessen in einem ausreichenden Maße artikulieren können, ist begrüßenswert ja nach meiner Auffassung sogar selbstverständlich. Wer könnte auch irgend etwas dagegen haben? Zu fragen ist doch, ob die Vielzahl der bereits existierenden Maßnahmen in diesem Bereich nicht viel geeigneter sind, diese Selbstverständlichkeit in die Tat und in der Tat umzusetzen, viel besser als eine großangelegte Show-Veranstaltung.
Wer sich einmal anschaut, welche Möglichkeiten die bei uns lebenden Ausländer haben, ihre Interessen vorzutragen, wird sehr schnell feststellen, daß dies sehr viel mehr sind als in den allermeisten Ländern dieser Erde. Wir haben eine Ausländerbeauftragte beim Bund, wir haben in den meisten Bundesländern und in vielen Kommunen Ausländerbeauftragte. Die Ausländerbeauftragte des Bundes vertritt sehr engagiert und mit sehr viel Nachdruck die Interessen der Ausländer hier im Lande.
Und man muß hinzufügen: Sie wirbt auch noch mit sehr viel Charme für dieses Anliegen.
Es gibt Ausländerbeiräte, und schließlich hat jeder hier lebende Ausländer zusätzlich das Recht, sich mit seinen Anliegen an den Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages zu wenden und so seine Probleme wirksam in unser parlamentarisches Gesichtsfeld zu rücken.
Wer nun sagt, trotz allem könne eine derartige Veranstaltung nichts schaden, sie würde ein Zeichen setzen, daß die Interessen der Ausländer ernstgenommen werden, möge sich selber einmal die Frage vorlegen: Gibt es in unserer Gesellschaft nicht eine Vielzahl von Gruppierungen, die unsere verstärkte Aufmerksamkeit erfordern? Müßten wir dann nicht
folgerichtig Parlamentsveranstaltungen nicht nur für Ausländer, sondern z. B. auch — dies betrifft die Frage, die vorhin diskutiert wurde — für Behinderte, für Arbeitslose, für Familien, für Alleinerziehende, für Soldaten oder Polizisten oder Zivildienstleistende in diesem Hause zulassen? Dies wäre doch eine der Folgerungen.
Alle diese Gruppierungen hätten dann doch das gleiche Recht, das Anliegen, das hier artikuliert worden ist, durchzusetzen. Wir könnten uns also ohne weiteres das ganze Jahr nur mit derartigen Parlamentswochen beschäftigen, die sicherlich auch interessant wären. Allerdings — darüber muß man sich auch im klaren sein —: Eine Gruppe müßten wir dann außen vor lassen, „Parlamentarier im Parlament" fiele dann wegen Zeitmangels aus. Dafür wäre gar kein Platz mehr; denn das Jahr hat nur 52 Wochen.
— Den Zwischenruf habe ich schon gehört.
Schließlich irrt sich meines Erachtens die Antragstellerin PDS hinsichtlich der eigentlichen Absicht von „Jugend und Parlament". Es geht dabei doch weniger darum, der Jugend ein Forum zu verschaffen, um ihre speziellen Jugendprobleme zu erörtern. Vielmehr geht es darum, durchaus aktuelle Fragen der Tagespolitik — wenn auch aus der Sicht der Jugendlichen — in parlamentarischer Form zu erörtern. Wichtig ist bei dieser Veranstaltungsreihe, daß sich die jungen Menschen einen Einblick verschaffen können, wie unsere repräsentative Demokratie eigentlich funktioniert. Diese Veranstaltung ist ein Lernschritt in unsere parlamentarische Demokratie hinein. Sie ist keine Klagemauer von Gruppeninteressen. So ist diese Veranstaltungsreihe nicht zu verstehen.
Alle Kolleginnen und Kollegen sind natürlich frei, auch junge Ausländerinnen und Ausländer zu der Jugendveranstaltung ins Parlament einzuladen. Das ist nicht ausgeschlossen; das ist ja durchaus möglich.
Eine spezielle Parlamentsveranstaltung, in der explizit von Ausländern über Ausländerfragen im Deutschen Bundestag diskutiert wird, halte ich nach meinem derzeitigen Kenntnisstand — wir werden im Innenausschuß ja noch darüber diskutieren — für wenig sinnvoll.
Das Wort hat jetzt unsere Kollegin Frau Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt ja Ideen, die auf den ersten Blick ganz einleuchtend und überzeugend wirken, aber beim genaueren Hinschauen eher ein ungutes Gefühl verursachen.
So jedenfalls habe ich reagiert, als ich den Antrag der
PDS/Linke Liste mit der ganz gut klingenden Überschrift „Veranstaltung ,Ausländerinnen und Auslän-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17089
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
der' im Parlament" las. Es klingt ja zunächst einmal reizvoll und erscheint auch richtig, ein Forum der Betroffenen zu schaffen, auf dem sie alle ihre Wünsche, Beschwerden, Forderungen und Klagen einmal in diesem Hause vorbringen können. Es wäre wahrscheinlich auch ein medienwirksames Ereignis.
Damit, liebe Kollegen und Kolleginnen, hat es sich dann aber auch. Wir würden den Ausländerinnen und Ausländern ein Ventil schaffen, eine Plattform, ohne daß sich daraus konkrete und wirksame Schritte zur besseren Integration, zur verbesserten Stellung und zu mehr Partnerschaftlichkeit zwischen deutschen und nichtdeutschen Bürgern ergeben. Es tut mir leid, das sagen zu müssen. Es mag sein, daß eine gute Absicht dahinterstand; aber mir gefallen solche Alibi-Veranstaltungen einfach nicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für Termine „just for show" ist mir das Ziel, unseren ausländischen Mitbürgern endlich eine gleichberechtigte Mitwirkung am gesellschaftlichen und am politischen Leben zu ermöglichen, einfach zu ernst und zu wichtig.
Sie nehmen sich die Veranstaltung „Jugend und Parlament" zum Vorbild. Ich will Ihnen erklären, warum ich nichts davon halte, dieses Modell auf etwas anderes zu übertragen. „Jugend und Parlament" ist ja gedacht als Einübung sehr junger Leute in einen wesentlichen Bestandteil unserer repräsentativen Demokratie. Wir wissen, wie es geht: Sie treffen sich erst einmal mit Abgeordneten, sie besuchen Bonner Institutionen, sie bilden Arbeitskreise, sie spezialisieren sich auf ein wichtiges aktuelles Thema, je nach Neigung und Interesse, und das alles mündet dann am Schluß in eine Debatte im Plenum mit ordnungsgemäß verteilten Rollen von Regierungsfraktionen und Opposition.
Es ist also so etwas wie der spielerische Einstieg in die Arbeits- und Argumentationsweisen von Abgeordneten, und bei so manchen Jugendlichen schwingt sicher auch die Lust mit, es einmal anders, besser, lebendiger, verständlicher und unbürokratischer zu machen, als wir es als professionelle Mandatsträger so an uns haben.
Aber, liebe Kollegen und Kolleginnen, die ausländischen Bürgerinnen und Bürger wollen keinen Tummelplatz, sondern sie wollen mehr Rechte und mehr Chancen in unserem Land. Sie brauchen keine solche Spielwiese, sondern sie brauchen wirkliche Fürsprache, Unterstützung und eine eigenständige Vertretung ihrer Interessen und Forderungen. Deshalb verursacht mir dieser Antrag ganz schlicht und einfach Mißbehagen.
Ich erlebe es ja häufig, daß sich Ausländer aus eigener Initiative heraus zu Wort melden, etwa in Diskussionen und Tagungen, daß sie eingeladen werden oder sich auch selbst einladen, daß sie sich aus dem Publikum heraus im Rahmen derartiger Veranstaltungen auch äußern. Man bekommt immer wieder Anfragen und Besuche von Menschen, die politisch aktiv werden wollen oder es schon sind, die sich etwa auch in den Parteien besser entfalten oder, soweit sie eingebürgert sind, bei Wahlen auch kandidieren wollen.
Es geht immer um sehr handfeste Anliegen. Es geht um persönliche Schwierigkeiten mit Behörden, Klagen über die Mängel des Ausländergesetzes, von denen wir vorhin sprachen, Forderungen nach Doppelstaatsangehörigkeit und nach dem kommunalen Wahlrecht sowie — das bedrückt mich sehr — um Fragen nach den Gefahren durch rechtsextreme Gewalttäter und das allgemeine Klima von Feindseligkeit gegenüber Fremden.
Was ich aber selten oder sogar nie höre, ist der flehentliche Wunsch danach, einmal im Leben hier am Rednerpult des Deutschen Bundestages zu stehen, ohne ein Abgeordnetenmandat zu haben. Das wundert mich auch gar nicht. Denn eine Plattform der schönen oder weniger schönen Sprüche ist nicht gefragt, weil wirkungslos.
Gefragt sind Taten des Parlaments und dieser Gesellschaft.
Ich möchte auch nicht, daß sich die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen etwa mit dem Hinweis, wir hätten die hochinteressante Veranstaltung „Ausländerinnen und Ausländer im Parlament" gehabt, ihrer Verantwortung für ausländerpolitische Reformen entziehen können. Ich möchte auch nicht den Migranten in diesem Land vorgaukeln, die Abgeordneten des Bundestages träten alle samt und sonders voll für ihre Belange ein, solange sich zumindest diese Bundesregierung und die Unionsfraktionen weiterhin halsstarrig zeigen, weitere Einbürgerungserleichterungen zu gewähren und die Mehrstaatlichkeit grundsätzlich zuzulassen.
Ich möchte es den Ausländerinnen und Ausländern nicht zumuten, hier die einmalige Gnade eines Auftritts zu genießen, solange sich diese Koalition nicht einmal bequemt, in der Verfassungskommission das kommunale Wahlrecht für Bürger zu gewähren, die aus einem Nicht-EG-Staat stammen.
Wir Abgeordneten können aus persönlichem Antrieb heraus natürlich mehr zur Integration tun, parlamentarische Initiativen für eine andere Ausländerpolitik ergreifen. Wir können mit vielen Aktivitäten, die entweder schon erprobt werden oder noch ergänzt werden können, zum gegenseitigen Verständnis der Menschen beitragen. Ich fände es auch gut, wenn Sie gezielt dafür sorgten, daß bei den Besuchergruppen, die wir zweimal im Jahr haben, mehr ausländische Bürgerinnen und Bürger mit dabei sind, oder wenn Sie in Ihrer Partei mehr Mitwirkungsmöglichkeiten der nichtdeutschen Mitglieder anforderten, und vieles andere. Ausländische Jugendliche im Rahmen der Aktion „Jugend und Parlament" sind ein weiterer Punkt. Sie sehen, die Liste der Möglichkeiten ist lang.
Ich bitte Sie, vertrauen Sie diesen Antrag für eine Vorzeigedebatte von Ausländerinnen und Ausländern im Plenum des Bundestages dem Archiv an!
17090 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
Dieser Antrag hilft leider den Menschen, um die es geht, nicht weiter.
Nun hat unsere Frau Kollegin Cornelia Schmalz-Jacobsen das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Heute eint mich mit meiner Vorrednerin nicht nur der Vorname, sondern ganz offenbar auch die Einstellung und die Einschätzung zu diesem Antrag.
Frau Kollegin Jelpke, ich habe selten einen so ärgerlichen und so peinlichen Antrag hier gesehen. Hier ist das Wort vom Schaufensterantrag gefallen, vom Show-Effekt. Ich möchte die Vokabel Schmierentheater hinzufügen.
— Eigentlich müßten Sie es besser wissen. Das finde ich das Ärgerliche.
— Ja, weil ich es bin. Wenn man die ausländische Wohnbevölkerung ernst nimmt, meine Damen und Herren, dann hat man nicht diese patronisierende Haltung, die ich für die, die Sie hier beglücken wollen, als so kränkend empfinde.
Der Vergleich mit der Veranstaltung „Jugend und Parlament" hinkt wirklich auf beiden Beinen, wie wir hier gemerkt haben. Ob übrigens diese Veranstaltung entscheidend dazu beiträgt, daß wir besser auf die Jugend hören, will ich hier einmal dahingestellt sein lassen. Der grundlegende Unterschied ist doch, daß es sich im Fall der jungen Leute um künftige Wahlbürgerinnen und Wahlbürger handelt, also um Menschen mit demokratischen Rechten. Bei der Gruppe, über die Sie hier sprechen, handelt es sich um Menschen ohne demokratische Rechte. Ich muß Ihnen sagen, als Zootiere, die hier Kunststücke vorführen sollen, sind sie mir wirklich zu schade. Es wird überhaupt nicht ernst, es folgt ja nichts daraus. Meine Damen und Herren, ich möchte aber, daß es ernst wird. Ich stehe wirklich nicht im Geruch, für wenig Rechte für diesen Personenkreis einzutreten, sondern für mehr Rechte, aber doch nicht für Pseudorechte. Wo sind wir denn?
Ich würde mich im übrigen auch weigern, dafür die Versuchskaninchen auszusuchen. Das gehört nicht zu meinen Aufgaben. Hier würde ich Ihnen diametral widersprechen.
Wer wissen will, was die ausländische Wohnbevölkerung bewegt und bedrückt, kann sich ohne Schwierigkeiten informieren — übrigens ist auch hier im Hause einiges Nachdenkenswerte dazu gesagt worden —, aber doch nicht auf diese Art und Weise.
Da mich Herr Gysi persönlich angeschrieben hat und für diesen Antrag geworben hat, kann ich es Ihnen nicht ersparen: Die armen Vietnamesinnen durften in dem System, in dem Herr Gysi zu Hause war, aufgewachsen ist und studiert hat, nicht einmal Kinder bekommen, geschweige denn irgendwo den Mund auftun, irgendwo mitreden. Diese Art der Heuchelei mache ich nicht mit.
Sie wären gut beraten, Frau Jelpke und die Kolleginnen und Kollegen von der PDS, wenn Sie in sich gehen würden, wenn Sie das noch einmal überdenken würden und wenn Sie den Antrag zurückziehen würden. Ich fände es traurig, wenn wir viel Zeit damit verschwenden würden, ihn im Ausschuß zu diskutieren.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Der Ältestenrat schlägt — auch angesichts dieser Beiträge — trotzdem Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 12/5778 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Ich hoffe, Sie sind damit einverstanden. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte zunächst der Frau Kollegin Jelpke einen Ordnungsruf erteilen, weil sie hier den Zwischenruf „Demagogin" gemacht hat. Dies gehört nicht in unsere parlamentarischen Gepflogenheiten.
Meine Damen und Herren, bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, möchte ich Ihnen noch eine AP-Meldung von soeben zur Kenntnis bringen: Bundespräsident Richard von Weizsäcker ist am Donnerstagabend in Hamburg von einem Mann niedergeschlagen worden. Wie die Polizei in der Hansestadt mitteilte, erlitt Weizsäcker eine Platzwunde an der Lippe und eine Nasenprellung. Ein etwa 50jähriger Mann schlug den Bundespräsidenten kurz vor 20 Uhr vor dem Thalia-Theater mit einem gezielten Faustschlag ins Gesicht. Wie ein Sprecher erklärte, sei der Mann sofort von den Leibwächtern des Bundespräsidenten festgenommen und in polizeilichen Gewahrsam genommen worden. Weder über das Motiv noch über die Person des Mannes war zunächst etwas bekannt. Weizsäcker wurde den Angaben zufolge im Theater medizinisch versorgt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, wir können übereinstimmend — nicht als Lippenbekenntnis — Bestürzung und Empörung über solche Vorgänge der Gewalt hier bei uns feststellen.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, wir werden bei all dem, was wir hier in Zukunft diskutieren, diesem Thema „Gewalt" eine ganz besondere Aufmerksamkeit widmen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17091
Vizepräsident Helmuth Becker
Ich komme nun zum letzten Punkt des heutigen Tages und rufe Punkt 14 der Tagesordnung auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Werner Schulz , Konrad Weiß (Berlin) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Multilaterale Handelsregulierungen nach der Uruguay-Runde
— Drucksachen 12/4576, 12/5255 —
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10 Minuten erhalten soll. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst unser Kollege Konrad Weiß.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dankt der Bundesregierung für die ausführliche Beantwortung unserer Großen Anfrage zu den multilateralen Handelsregulierungen nach der Uruguay-Runde und die darin gegebenen Erläuterungen zur projektierten Multilateralen Handelsorganisation MTO.
Sollten jedoch die GATT-Verhandlungen Mitte Dezember nicht abgeschlossen werden können, ist ihr endgültiges Scheitern zu befürchten. Dies hätte fatale Folgen für die Entwicklung der Weltwirtschaft. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD hat in einer Studie die zu erwartenden Auswirkungen eines erfolgreichen Abschlusses der Uruguay-Runde untersucht. Sie prognostiziert, daß die Netto-Wohlfahrt für die gesamte Welt im Jahre 2002 um rund 270 Milliarden Dollar zunehmen wird, wenn das gegenwärtige Außenschutzniveau verändert werden kann.
Bei aller Vorsicht gegenüber solchen Zahlen besteht doch kein Zweifel daran, daß sowohl die Entwicklungsländer als auch die Industriestaaten von einem erfolgreichen Abschluß der Uruguay-Runde beträchtlich profitieren würden.
Die industrialisierten Länder wären Hauptnutznießer der vereinbarten Liberalisierung des Welthandels. Die Studie bestätigt, daß rund 80 % des erwarteten Wohlfahrtsanstiegs den OECD-Ländern zugute kommen würden, wobei die Staaten der Europäischen Union, Japan und die USA die größten Nettoeffekte zu erwarten hätten.
Um so unverständlicher ist es, daß die Uruguay-Runde an dem Interessenkonflikt zwischen der Europäischen Union und den USA zu scheitern droht. Obwohl große Teile des Vertragspakets ausgehandelt sind, konnten die Verhandlungen noch nicht abgeschlossen werden. Der Konflikt zwischen Europäischer Union, den USA und Japan liegt bei den erlaubten Subventionen bzw. dem Schutz einheimischer Waren.
So sind vor allem die Regierungen der Industriestaaten gefordert, die GATT-Verhandlungen zu einem erfolgreichen Abschluß zu bringen. Die Abschottungstendenz mancher Industriestaaten auf Grund von Sonderinteressen einzelner Branchen liegt
letztlich weder im Interesse der Weltwirtschaft noch im Interesse der betreffenden Staaten. Langfristig gesehen muß dies zu einer Isolation führen, die sich kein Staat leisten kann, auch und gerade angesichts der zunehmenden Arbeitslosigkeit und der weltweiten wirtschaftlichen Krise.
Die Pflege nationaler Interessen anstatt des offenen und konsequenten marktwirtschaftlichen Wettbewerbs ist fatal. Es ist zu fürchten, daß das Entstehen bzw. die Verfestigung regionaler Handelszonen, wie es sich in jüngster Zeit abzeichnet, zu Lasten der Länder des Südens geht. Die Entwicklungsländer und Reformstaaten Osteuropas benötigen für ihre wirtschaftliche Entwicklung den direkten und gleichberechtigten Zugang zu den Märkten der Industriestaaten.
Seit Beginn der achten GATT-Konferenz im September 1986 in Punta del Este ist offensichtlich, daß die Entwicklungsländer keinen Einfluß mehr auf die weltwirtschaftlichen Prozesse und den Versuch ihrer Regelung haben. Die GATT-Runde ist ein Instrument der Industriestaaten. Während diese den Entwicklungsländern einerseits unentwegt die Liberalisierung des Handels empfehlen und notfalls mit Hilfe des IWF auch durchsetzen, schotten sie andererseits ihre eigenen Märkte durch Subventionen und vielfältige Handelshemmnisse ab. Sie verordnen dem Süden eine Freihandelspolitik, verstärken gleichzeitig aber den Schutz der einheimischen Landwirtschaft. Der allergrößte Teil der staatlich garantierten Zuschüsse an die Landwirtschaft, auf weltweit 200 Milliarden Dollar veranschlagt, fließt in die Industrieländer. Ein Bauer in der Europäischen Union bezieht heute rund 50 % seines Einkommens aus Subventionen, ein USA- Farmer über 30 % und ein Bauer in Japan über 70 %.
Das Gefälle zwischen den Bauern in den reichen und denen in den armen Ländern wird besonders groß, wenn die Industrieländer ihre Produktionsüberschüsse zu Dumpingpreisen auf den Weltmarkt werfen. Die Nahrungsmittelsubventionen der entwickelten Länder untergraben in der Dritten Welt nicht nur die Verdienstmöglichkeiten mit legalen Agrarprodukten, sondern zerstören auch die Umwelt. Mit dem niedrigen Einkommen sind die Bauern nicht in der Lage, zu investieren und ihre Produktionsmethoden in ökologischer und ökonomischer Hinsicht zu verbessern. Fallen die Erlöse unter die Produktionskosten, ist nicht einmal das schon dürftige Niveau zu halten. Es ist ein Teufelskreis: Weil das Geld fehlt, um den Boden richtig zu pflegen, sinkt die Produktivität.
Die Konsequenzen sind bekannt. Eine Alternative für diese Bauern ist dann oftmals der Anbau von Koka oder Mohn. Während die Banken den Campesinos Kredite vorenthalten, finanzieren die Drogenhändler den Anbau von Koka und dessen Weiterverarbeitung ohne Probleme.
Bei einem Treffen der Minister Lateinamerikas in Montevideo erneuerten sie ihre Kritik am BlairHouse-Abkommen. Diese im November 1992 mühsam zustande gekommene Absprache zwischen der Europäischen Union und den USA sehen die Lateinamerikaner als unzureichend an. Dabei will Frank-
17092 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993
Konrad Weiß
reich sogar diese Minimallösung nicht mehr akzeptieren.
Die Bundesregierung ist dringend aufgefordert, im Rahmen der Europäischen Union auf Frankreich Einfluß zu nehmen. Das unvernünftige Festhalten an hohen Exportsubventionen wird sich auf Dauer schädlich auf die einheimische Landwirtschaft — auch in Deutschland — auswirken: Innovationen werden gehemmt; für die Umstellung zu einem ökologischen Landbau beispielsweise gibt es so keinen vernünftigen Anreiz.
Für die Entwicklungsländer gibt es keine Alternative zum GATT. Die Liberalisierung des Welthandels wird trotz allem vorwiegend asiatischen und lateinamerikanischen Ländern nutzen. Afrika wird ohne zeitlich begrenzte Ausnahmeregeln wirtschaftlich vermutlich verlieren. Die Öffnung der Märkte des Nordens ist für den Süden eine Überlebensfrage. Der eigentlich im GATT angestrebte Abbau von Subventionen für Landwirtschaftsexporte aus den Industrieländern ist dringend geboten.
Nicht zufällig sind in den letzten Jahren viele Entwicklungsländer dem internationalen Abkommen beigetreten, zumal sie nach der einseitigen Liberalisierung und Strukturanpassung nun Gegenleistungen erwarten. Doch diese Hoffnung hat allzuoft getrogen. Die Verhandlungsposition der Entwicklungsländer ist zu schwach. Angesichts des massiven Drucks und des möglichen Scheiterns von GATT mußten sie sich kooperativ zeigen, auch wenn es zu ihrem Nachteil war.
Die internationalen Regeln des GATT müssen einen Schutz gegen einseitige Maßnahmen von Industrieländern wie Antidumping-Abgaben oder die Ausübung von Druck zur sogenannten freiwilligen Exportbeschränkung bieten. Zum Schutz des geistigen Eigentums müssen vergleichbare Bedingungen geschaffen werden. Der Technologievorsprung der Industrieländer darf jedoch nicht dazu mißbraucht werden, Entwicklungsländer in neue Abhängigkeiten zu bringen.
Der vorgesehene Abbau von Zöllen und Importbeschränkungen, speziell auch für verarbeitete Produkte, ist positiv zu bewerten, auch wenn dadurch Entwicklungsländer den relativen Vorteil bisheriger Präferenzsysteme verlieren werden. Schwächere Handelspartner sollten die Möglichkeit behalten, ihre Produktion wenigstens für einen begrenzten Zeitraum zu schützen.
Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unterstützt den Vorschlag der Europäischen Union und die Bemühungen der Bundesregierung, das GATT in eine supranationale Handelsorganisation, Multilateral Trade Organization, MTO, zu überführen. Die Einhaltung der vereinbarten Regeln muß verbindlich kontrolliert werden können.
Die bisherigen Panels können dies nicht leisten; bis jetzt gilt in Konfliktfällen das Recht des Stärkeren. Die Einführung einer MTO mit entsprechender Kompetenz kann eine Chance sein. Allerdings sollte sich die konkrete Ausgestaltung der MTO an den grundlegenden Zielsetzungen der Vereinten Nationen, insbesondere in bezug auf die Menschenrechte, orientieren.
Das derzeitige Mandat der Uruguay-Runde geht über den handelspolitischen Aspekt nicht hinaus. Es muß aber mit dem Abschluß der Uruguay-Runde verbindlich vereinbart werden, daß in kommenden Verhandlungen im Rahmen des GATT oder der MTO ökologische, soziale und wettbewerbspolitische Aspekte reguliert werden sollen.
In der Vergangenheit hat sich mehrfach gezeigt, daß in Streitfällen zugunsten des Freihandels entschieden wurde und so gleichzeitig der Verstoß gegen nationale Umweltrichtlinien legitimiert bzw. gefordert wurde.
Das GATT bzw. die geplante MTO sollte als eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen etabliert werden. Es muß gewährleistet sein, daß die Befolgung der GATT- bzw. MTO-Regeln nicht gleichzeitig einen Verstoß gegen andere UN-Abkommen impliziert. Damit dies gewährleistet werden kann, müssen schon jetzt die Weichen gestellt werden.
Es sollte nach unseren Vorstellungen eine übergreifende Schiedsstelle geben, die die Entscheidungskompetenz hat, wenn es zu Konflikten zwischen dem Freihandel und den grundlegenden Zielsetzungen der Vereinten Nationen kommt. Verträge und Konventionen, die von einer Mindestzahl von Mitgliedstaaten der Multilateralen Handelsorganisation ratifiziert worden sind, müssen von der MTO anerkannt werden. Handelsbeschränkungen, die sich aus ihnen ergeben, dürfen von der MTO nicht unterlaufen werden.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordert die Bundesregierung auf, sich für einen erfolgreichen Abschluß der GATT-Runde einzusetzen und ihre Verhandlungen so zu führen, daß das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung auch bei Bildung einer MTO erreicht werden kann.
Ich danke Ihnen für Ihre Geduld. Ich habe mich bemüht, eine Minute schneller zu sein. Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, nunmehr hat unser Kollege Klaus Beckmann das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Liebe Kollegen! Durch Zufall ergibt es sich, daß die Debatte über die Große Anfrage zu multilateralen Handelsregulierungen in Form einer MTO zu einem Zeitpunkt stattfindet, der angesichts des GATT-Prozesses nicht aktueller hätte sein können.
Erst gestern war dieses Thema bei den deutschfranzösischen Konsultationen hier in Bonn Gegenstand der Erörterung zwischen der Bundesregierung und der französischen Regierung. Gestern und heute haben Vizepräsident Sir Leon Brittan und der amerikanische Handelsrepräsentant Mickey Kantor ihre Beratungen mit dem Ziel fortgesetzt, bis zum 15. Dezember ein definitives Ergebnis zu erreichen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17093
Klaus Beckmann
Meine Fraktion, die F.D.P.-Fraktion, unterstützt wie bisher mit Nachdruck das Ziel der Bundesregierung und der Kommission, die Uruguay-Runde des GATT bis Mitte Dezember erfolgreich abzuschließen.
Ich denke, es erscheint kaum noch notwendig, auf die überragende Bedeutung eines positiven Ergebnisses für unsere Volkswirtschaft hinzuweisen, wenngleich ich nicht sicher bin, ob in der Bevölkerung das Bewußtsein schon weit genug verbreitet ist, daß es sich hier um Millionen von Arbeitsplätzen und damit um existentielle Fragen für unsere Mitbürger handelt.
Meine Fraktion begrüßt, daß die Bundesregierung in den letzten Monaten nichts unversucht gelassen hat, insbesondere der Regierung der uns befreundeten französischen Republik wie auch dem US-Handelsrepräsentanten zu vermitteln, daß ein erfolgreicher Abschluß der Uruguay-Runde nicht zuletzt auch für das Ingangkommen des weltwirtschaftlichen Belebungsprozesses von grundlegender Bedeutung sein würde.
Die augenblicklichen Verhandlungen über die Zukunft der Weltwirtschaft sind in den vergangenen 14 Tagen ganz besonders deswegen belebt worden, weil es der US-amerikanischen Regierung gelungen ist, das NAFTA-Abkommen durch den Kongreß zu bringen und damit mehr Handlungsspielraum zu gewinnen.
Diejenigen in Europa, die sich einem Abschluß der Uruguay-Runde bisher verweigerten, müssen sehen, welche Bedeutung das NAFTA auch hinsichtlich der Verhandlungen zwischen den USA und der Kommission der Europäischen Union hat und daß hierdurch ein enormer Druck entstanden ist. Insofern ist es auch die Pflicht der Kommission, sich im Rahmen der vorhandenen Spielräume zu bewegen. Es ist sicherlich nicht zuviel vermutet, wenn ich sage, daß unterstellt werden kann, daß diese Spielräume in den gestrigen Konsultationen zwischen der Bundesregierung und der französischen Regierung eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben.
Meine Damen und Herren, die amerikanische Seite hat uns im übrigen mit der APEC-Konferenz in Seattle vor wenigen Tagen vor Augen geführt, daß sie in zunehmendem Maße gewillt ist, ihre Alternativen im pazifischen Raum auch gegenüber der Europäischen Union auszuspielen, und dies ist durchaus legitim.
Alle diese Faktoren sind in den nächsten Tagen — es bleiben ja eigentlich nur noch ganz wenige Tage
für die Abschlußverhandlungen übrig; denn aus technischen Gründen müssen diese bis zum 13. Dezember abgeschlossen sein — von den Verhandlungsführern der Europäischen Union und der US-amerikanischen Seite zu berücksichtigen.
Ich persönlich bin überzeugt davon, daß die Verhandlungsführer sich in der nächsten Runde am kommenden Montag des Umstandes bewußt sind, daß es unverantwortlich wäre, das bisher Erreichte aufs Spiel zu setzen. Deswegen begrüßt es meine Fraktion mit großer Genugtuung,
daß Vizepräsident Sir Leon Brittan für die Europäische Union und Mickey Kantor für die US-Regierung nach ihrer zweitägigen Verhandlungsrunde heute mittag der Öffentlichkeit mitgeteilt haben, daß sie bei ihren Beratungen substantielle und signifikante Fortschritte hinsichtlich der Agrarfrage und des Marktzugangs gemacht haben
und mit dieser Perspektive am kommenden Montag die Verhandlungen fortsetzen werden.
Dies läßt uns alle hoffen, daß der Europäische Rat in acht Tagen eine Einigung zwischen der Europäischen Union und den USA sowie mit den anderen UruguayRunde-Teilnehmern feststellen kann. Dies wäre ein großer Erfolg auch für die Politik der Bundesregierung, hinter die sich in dieser Frage sicherlich die große Mehrheit des Deutschen Bundestages stellen kann. Für meine Fraktion, die F.D.P.-Fraktion, kann ich dies jedenfalls erklären. Nach einem erfolgreichen Abschluß der Uruguay-Runde können wir dann über die Ausgestaltung einer „Multilateral Trade Organization" weiter diskutieren.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, vielleicht auf Grund der bisherigen Ausführungen bitten unsere Kollegen Dr. Norbert Wieczorek, Dr. Andreas Schockenhoff, der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Reinhard Göhner und unser Kollege Dr. Fritz Schumann, ihre Reden zu Protokoll geben zu können.*) Ich hoffe auf Ihr Einverständnis. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Meine Damen und Herren, damit kann ich die Aussprache schließen. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 3. Dezember 1993, 9.30 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.