Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Ich habe dem Hause zunächst einmal eine ungewöhnlich wichtige Mitteilung bekanntzugeben, die mir die Verwaltung korrekterweise aufgeschrieben hat — ich will dies pflichtgemäß tun —: Auf Empfehlung des Bauministeriums, des Gutachters Professor Plenge und der Firma Siemens ist die Hauptanlage wieder in Betrieb genommen. Sie merken dies inzwischen.
Dem Fehler, der zum vorübergehenden Ausfall der Anlage am 25. November 1993 geführt hatte, wurde nachgegangen. Es gibt eine Wahrscheinlichkeit, daß die Bildschirmsteuerung durch einen Kurzschluß ausgefallen ist, aber keine letzte Sicherheit über die wirkliche Ursache.
Ein entsprechendes Gutachten steht noch aus.
Wir sind also letztlich gegen künftige Störungen nicht gefeit. Es wird versucht, das Fehlermanagement rascher zu bewältigen.
Die Entscheidung wurde in Übereinstimmung von Bauverwaltung, Gutachter und Herstellerfirma getroffen. Für die Sicherheit der Anlage zum gegenwärtigen Zeitpunkt verbürgt sich die Firma Siemens, die zwei Ingenieure abgestellt hat. Den beiden wünschen wir viel Erfolg.
— Das, Herr Abgeordneter Conradi, von dieser Stelle aus zu bewerten steht mir nicht zu.
Meine Damen und Herren, ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:
Fragestunde
— Drucksache 12/6254 —
Zunächst einmal rufe ich die Dringlichen Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen — Drucksache 12/6271 — auf. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald zur Verfügung.
Ich rufe die Dringliche Frage 1 der Abgeordneten Frau Dr. Margrit Wetzel auf:
Wird die Bundesregierung in den unmittelbar bevorstehenden Fusionsverhandlungen von DSR und Senator-Linie das Land Mecklenburg-Vorpommern darauf hinweisen, daß die geforderten Mittel in Höhe von ca. 85 Mio. DM für die Sicherung von 2 600 Arbeitsplätzen bei der Deutschen Seereederei Rostock GmbH im Rahmen der geplanten Fusion eine Doppelfinanzierung und damit den unsachgemäßen Einsatz von Steuermitteln darstellen im Hinblick auf die Garantie der DSR-Gesellschafter Rahe und Schües für 2 225 Arbeitsplätze (davon 1 400 auf See) bei der DSR bis 1995, und wie bewertet die Bundesregierung diese Arbeitsplatzgarantie im Hinblick darauf, daß dadurch an der Entlassung der Arbeitnehmer allein auf Grund der geringen Pönale Gewinne entstünden, insbesondere im Zusammenhang mit der Ankündigung der DSR, ab 1994 auf Betrieb unter fremder Flagge umzustellen?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Frau Kollegin Dr. Wetzel, Ihre Frage zielt zum einen auf die Verbindung zwischen Privatisierung und bevorstehender Fusion der DSR mit der Senator-Linie, zum anderen auf die Einbindung des Landes Mecklenburg-Vorpommern in die Unternehmensentscheidungen.
Lassen Sie mich vorab eines feststellen: Die Bundesregierung muß dem Land Mecklenburg-Vorpommern sicherlich keine Hinweise im Zusammenhang mit den Kooperationsverhandlungen der DSR geben; denn das Land hat die damalige Privatisierungsentscheidung ganz eng begleitet. Auch in das Vertragsmanagement, d. h. in die Kontrolle der vertragsgemäßen Umsetzung, ist das Land eingebunden. So stellt es ein Mitglied in der eigens hierfür eingesetzten Arbeitsgruppe der Treuhandanstalt.
Nun zu der angestrebten Fusion. Es trifft zu, daß die Erwerber der DSR und der Hauptgesellschafter der Senator-Linie, Bremer Vulkan, derzeit über eine erweiterte Zusammenarbeit im Bereich der Linienschiffahrt verhandeln. Dies begrüßt die Bundesregierung ganz ausdrücklich. Ziel beider Unternehmen ist es, ihre Wettbewerbsposition in der Weltlinienschiffahrt durch eine engere Kooperation nachhaltig zu verbessern.
Die Verhandlungen zwischen Rahe/Schües und Bremer Vulkan sind nach meinen Informationen
16878 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993
Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald
inzwischen weitgehend abgeschlossen. Vorgesehen ist die Schaffung einer gemeinsamen Gesellschaft für den Bereich Linienschiffahrt, an der DSR und Senator-Linie jeweils mit 50 % beteiligt sind. Rahe/Schües machen die Zeichnung eines Kooperationsvertrages allerdings davon abhängig, daß die Senator-Linie die von ihr eingecharterten bzw. betriebenen Schiffe ebenfalls zu weltmarktüblichen Konditionen in die gemeinsame Gesellschaft einbringt. Hierüber gibt es noch Gespräche.
Über die Presse ist ein Betrag in Höhe von 85 Millionen DM genannt worden, der zum Ausgleich langfristiger, unrentabler Charterverträge von der Senator-Linie zu erbringen sei. Inwieweit dies den Verhandlungsstand wiedergibt, vermag ich nicht zu beurteilen. Das Aushandeln von Konditionen für eine Zusammenarbeit ist ausschließlich Sache der beteiligten Unternehmen.
Die vertragliche Verpflichtung der Erwerber Rahe/Schües zum Erhalt von 2 225 Arbeitsplätzen bis Ende 1995, darunter 1 400 Arbeitsplätze auf Schiffen, besteht in jedem Fall unabhängig vom Ausgang der Kooperationsgespräche mit der Senator-Linie. Sollte eine Kooperation im Linienbereich zustande kommen, würden laut Kaufvertrag Arbeitsplätze, die vom Partner Senator-Linie eingebracht würden, nicht auf die Arbeitsplatzgarantie der DSR angerechnet. Mittel, die der Senator-Linie von dritter Stelle zur Verfügung gestellt würden, können daher grundsätzlich nicht in Zusammenhang mit der Arbeitsplatzverpflichtung bei DSR gebracht werden.
Die von Ihnen erwähnte Ankündigung von Ausflaggungen für 1994 betrifft schließlich eine Maßnahme, die noch vor der Privatisierung der DSR im März 1993 zwischen der damaligen Geschäftsführung und der ÖTV ausgehandelt und vom Aufsichtsrat des Unternehmens und der Treuhandanstalt gebilligt worden war. Der Tarifstufenplan wurde gestreckt; im Gegenzug dazu konnte, kostenneutral für das Unternehmen, die Ausflaggung von 28 Schiffen vom 1. Juli 1993 auf den 1. April 1994 verschoben werden.
Unabhängig von der Privatisierung wäre es also plangemäß nach dem Unternehmenskonzept der DSR zur Realisierung der Ausflaggung von 28 Schiffen im Jahre 1994 gekommen. Davon berührt sind jedoch nicht die von Rahe/Schües vertraglich zugesicherten und pönalisierten 2 225 Arbeitsplätze.
Ich nehme an, daß Sie dazu Zusatzfragen haben. — Bitte sehr, Frau Dr. Wetzel.
Stimmt die Bundesregierung meiner Meinung zu, daß die öffentliche Hand, wenn sie Verluste der in den Medien genannten Größenordnungen übernimmt, die durch Managemententscheidungen zugunsten von Kapitalanlegern entstanden sind, eine nachträgliche Subventionierung vornehmen würde, die weder begründbar noch rechtlich haltbar wäre?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Im Zusammenhang mit Ihrer eingangs gestellten Frage stellt sich dieses Problem für die Bundesregierung nicht. Unternehmensverluste müssen da bleiben, wo sie erwirtschaftet worden sind, und werden nicht bezuschußt.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete, bitte sehr.
Wie werden sich die bestehenden, schon genannten und auch die zukünftig aus diesen Charterverträgen noch zu errechnenden Verluste, die durch die Charterverträge der Senator-Linie entstanden sind, auf die Arbeitsplatzsicherung, insbesondere auf die Bordarbeitsplätze der DSR auswirken, wenn man bedenkt, daß zu hohe Betriebskosten, die hier ja vorprogrammiert sind, in der Schiffahrt inzwischen grundsätzlich damit beantwortet werden, daß man Personalkosten senkt, sprich: weitere Ausflaggungen und damit weitere Entlassungen vornimmt?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich durfte ja eingangs schon antworten, daß die 2 225 vereinbarten Arbeitsplätze bei der DSR nicht mit der geplanten neuen Gesellschaft zwischen DSR und Senator-Linie in einem Zusammenhang stehen. Insofern bleibt es bei der vertraglichen Vereinbarung. Von diesen 2 225 Arbeitsplätzen befinden sich, wenn ich mich an eine umfangreiche Diskussion am 23. Juni 1993 in diesem Hause richtig erinnere, 1 600 auf See; davon sind 1 400 Arbeitsplätze pönalisiert, und dabei bleibt es.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Peter Conradi.
Würde die Bundesregierung einem anderen Unternehmen, das Verluste macht und gleichzeitig ankündigt, es werde Arbeitsplätze ins Ausland verlegen — nichts anderes ist die Ausflaggung —, die Abdeckung von Verlusten aus Steuermitteln zubilligen?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Nein. Ich habe aber schon erklärt, daß das Problem der Ausflaggung ein Tatbestand ist, der vor der Privatisierung gelegen hat, so daß sich diese Frage nicht stellt.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Carl Ewen.
Herr Staatssekretär, der Vorgang führt zu erheblicher Beunruhigung an der Küste, wie Sie sich vorstellen können. Teilen Sie die Einschätzung, daß durch die Übernahme von Verlusten — unabhängig davon, wer die Kosten übernimmt — eine nachträgliche Subventionierung entsteht, die zu Wettbewerbsverzerrungen im maritimen Verbund insgesamt führt?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Wenn es denn zu solchen Subventionen kommen würde -- aber das ist an sich eine mehr spekulative Diskussion, an der ich mich nur ungern beteilige —, dann würde ich die Bemerkung möglicher und nicht auszuschließender Wettbewerbsverzerrungen unterstreichen. Ich darf aber klar erklären, daß jedenfalls der Bund daran nicht beteiligt ist. Ich habe im übrigen
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Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald
Erkenntnisse darüber — wenn auch mehr aus der Presse —, daß sich auch das Land Mecklenburg-Vorpommern daran nicht beteiligen wird.
Keine weiteren Zusatzfragen? — Dann rufe ich die Dringliche Frage 2 der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel auf:
Handelt es sich bei den vom Land Mecklenburg-Vorpommern zu übernehmenden 85 Mio. DM tatsächlich um den Ausgleich von Verlusten aus garantierten überhöhten Frachtraten zu garantierten überhöhten Dollarkursen aus langfristigen Charterverträgen, und wie will die Bundesregierung die Wettbewerbsfähigkeit und Standortsicherung der Küstenregionen in Ost- und Westdeutschland stützen, wenn Wirtschaftsunternehmen zur Sicherung gefährdeter Arbeitsplätze beginnen, über verdeckte Quersubventionierung den Länderfinanzausgleich zu unterlaufen?
Herr Staatssekretär, bitte schön.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Frau Dr. Wetzel, mir ist nicht bekannt, daß sich das Land Mecklenburg-Vorpommern in irgendeiner Art und Weise verpflichtet hätte, einen Ausgleichsbetrag in Höhe von 85 Millionen DM zum Ausgleich unrentabler Charterverträge bereitzustellen. Sie werden verstehen — ich durfte es ja schon andeuten —, daß ich mich an den Spekulationen darum nicht gerne beteiligen möchte.
Eine Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Dr. Wetzel!
Trotzdem eine Zusatzfrage dazu. Auch wenn das Land Mecklenburg-Vorpommern in diesem Fall nicht direkt betroffen ist, wirken sich die Fusion und diese Charterverträge natürlich auch auf die ganze Küste aus. Deshalb habe ich die Frage, wie sich die Praxis, Verluste dieser Größenordnungen bei Charterverträgen einzukalkulieren, auf die Wettbewerbsfähigkeit der anderen deutschen Reeder auswirkt.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich bedaure sehr, Frau Kollegin, aber wir bewegen uns wieder auf den Weg der Hypothesen zu. Ich darf nur sagen: Wenn es zu diesem angestrebten — vielleicht wird heute der Vertrag noch unterschrieben —Gemeinschaftsunternehmen kommt, gehen davon natürlich, betriebswirtschaftlich gesehen, sehr gewichtige Synergieeffekte aus, die es vielleicht ermöglichen, solche aufgestauten Verluste der Vorjahre oder eingegangene Verpflichtungen, die zu Verlusten führen, auszugleichen.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte schön, Frau Abgeordnete.
Herr Staatssekretär, Sie weichen der Beantwortung meiner Frage aus. Die Konditionen der Charterverträge sind ja nun einmal bekanntgeworden; sie sind breit durch die Medien gegangen, und sie werden an der Küste diskutiert. Sie werden Auswirkungen auf die Reeder haben. Da die Senator-Linie, die diese Verträge abschließt, zu 70 % vom Bremer-Vulkan-Verbund, also einem Werftenverbund, kontrolliert wird, welche Auswirkungen wird es insbesondere auf die mittelständischen Werften an der Küste haben, wenn eine solche Praxis von
Charterverträgen bekannt wird, öffentlich gehandelt wird und vielleicht weiterhin praktiziert wird?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Sie überfordern mich. Ich bin kein Prophet. Ich kann nur noch einmal sagen: Es ist die alleinige unternehmerische Entscheidung von DSR auf der einen Seite und Bremer Vulkan als Mehrheitsgesellschafter der Senator-Linie auf der anderen Seite, darüber zu entscheiden und darüber zu befinden. Das ist der Bestimmbarkeit der öffentlichen Hand, insbesondere des Bundes, entzogen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Peter Conradi.
Ich will Sie nicht überfordern, Herr Staatssekretär. Wäre die Bundesregierung, gegebenenfalls durch das Bundesverkehrsministerium, bereit, zu überprüfen, ob es eine Möglichkeit gibt, aus den Charterverträgen für die Senator-Linie herauszukommen, da doch offensichtlich diese Charterverträge ein schwerwiegendes Hindernis auf dem Weg zur Sanierung sind?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: In diese unternehmerische Betätigung — darauf läuft das ja hinaus — wird und kann sich die Bundesregierung nicht einmischen. Aber vom Grundsatz her, Herr Kollege Conradi — das habe ich schon am 23. Juni 1993 im Zusammenhang mit der Genehmigung der Privatisierung durch die Bundesregierung gesagt —, kann ich nur sagen, daß wir die Fusionsverhandlungen im Kern begrüßen und daß wir sie deshalb nicht als Maßgabe, wie es im Ausschuß für die Treuhandanstalt einmal gehandelt worden war, sondern als eine Empfehlung im Zusammenhang mit unserer Zustimmung zu dem Vertragswerk mit der Treuhandanstalt ausgesprochen haben; eben wegen der zu erwartenden positiven Synergieeffekte in dieser weltweit außerordentlich schwierigen Situation der Schifffahrt.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Carl Ewen.
Herr Staatssekretär, können Sie ausschließen, daß die Fusion und die Vorkommnisse im Umfeld dieser Fusion zum einen Auswirkungen auf die Wettbewerbshilfen für die deutsche Seeschiffahrt und zum anderen Auswirkungen auf die Hilfen für die Werften haben? Denn hier besteht ja ein enger Zusammenhang durch die Trägerschaft.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich glaube schon, daß man das ausschließen kann. Sie haben die beiden Förderinstrumentarien für die deutsche Schiffahrt richtig umschrieben. Sie werden davon nicht betroffen, es sei denn, die ihnen zugrunde liegenden Fördertatbestände würden erfüllt.
Damit sind die beiden Dringlichkeitsfragen beantwortet. Herr Staatssekretär, wir bedanken uns bei Ihnen, auch wenn es Ihnen weniger Freude gemacht hat — wie Sie gesagt haben —, sich über diese Dinge zu äußern.
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Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz auf. Hier steht uns die Bundesministerin selbst, Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, zur Verfügung.
Ich rufe Frage 1 des Abgeordneten Dr. Jork auf:
Besteht angesichts der weiterhin kritischen Situation auf dem Wohnungsmarkt in den neuen Bundesländern seitens der Bundesregierung die Absicht, den Kündigungsschutz erneut zu verlängern, und welche Kriterien für eine mögliche Verlängerung werden gesehen?
Frau Ministerin, Sie haben das Wort.
Herr Abgeordneter, Sie haben nach Absichten der Bundesregierung gefragt, angesichts der Situation des Wohnungsmarkts in den neuen Bundesländern den Kündigungsschutz zu verlängern, und danach, welche Kriterien für eine mögliche Verlängerung vorgesehen sind.
Meine Antwort: Der besondere Kündigungsschutz für Wohnraummieter in den neuen Bundesländern ist erst im Dezember 1992 für drei Jahre, bis Ende 1995, verlängert worden. Die Bundesregierung hält es deshalb zum heutigen Zeitpunkt für verfrüht, ein knappes Jahr nach der Verlängerung, aber noch mehr als zwei Jahre vor dem Auslaufen der Regelung eine Absichtserklärung darüber abzugeben, ob dieser Kündigungsschutz möglicherweise noch einmal verlängert werden soll.
Dabei ist auch zu bedenken, daß sich an die bis Ende 1995 laufende Wartefrist noch die gesetzliche Kündigungsfrist anschließt. Diese beträgt mindestens sechs Monate, in den meisten Fällen aber wegen der langen Mietdauer zwölf Monate. Die maßgebenden Kriterien für die Verlängerung der Wartefrist müßten also nicht bereits für das Jahr 1996, sondern dann für 1997 und die darauf folgenden Jahre ermittelt und festgelegt werden. Der heutige Zeitpunkt ist noch verfrüht, um darauf ganz konkrete Antworten geben zu können.
Herr Abgeordneter, Sie haben den Wunsch, eine Zusatzfrage beantwortet zu bekommen? — Bitte.
Frau Ministerin, ist vorgesehen — wenn denn die Zeit fortgeschritten ist —, durch Ihr Ministerium zu überprüfen, ob eine Verlängerung erforderlich ist, oder erwarten Sie, daß das von parlamentarischer Seite erfolgt?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin: Wir werden die Entwicklung genau im Auge behalten. Das war genau die Situation, der wir uns gegenübersahen, als wir 1992 Überlegungen angestellt haben, den Kündigungsschutz zu verlängern. Wir werden abwarten müssen, wie sich insgesamt die Wohnraumsituation entwickelt, vor allen Dingen, wie die Sozialklausel, die jetzt gilt, zur Anwendung kommt. Wir werden unter Berücksichtigung dieser Entwicklung rechtzeitig prüfen, ob eine Verlängerung erforderlich erscheint.
— Die Bundesregierung wird das tun. Das wird dann derjenige machen, der die Verantwortung für die Lösung dieses schwierigen Problems zu tragen hat.
Ohne Nachfolgerin würde die Ministerin nicht bleiben.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Frau Ministerin, halten Sie es angesichts einer möglichen Interessenkollision zwischen Hauseigentümern und Mietern für denkbar, daß bei einer möglichen Verlängerung Einschränkungen des Kündigungsschutzes festgelegt werden?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin: Mit der Festschreibung der Sozialklausel und vor allen Dingen mit der Formulierung, daß ein Härtefall auch dann vorliegt, wenn angemessener Ersatzwohnraum zu zumutbaren Bedingungen nicht beschafft werden kann, ist, so glaube ich, genau die rechtliche Grundlage geschaffen worden, um beiderseitigen Interessen ausreichend Rechnung zu tragen. Auf dieser Grundlage müssen dann notwendige Überlegungen angestellt werden, wenn sich die Frage der Verlängerung stellt.
Nicht um dem Wunsch des Abgeordneten Conradi zu folgen, sondern weil keine weiteren Fragen an die Ministerin vorliegen, kann ich Sie jetzt ohne Kündigungsschutz für heute von hier entlassen. Frau Ministerin, ich darf mich bei Ihnen bedanken.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen auf. Die Fragen 3 und 4 der Abgeordneten Dr. Leonhard-Schmid werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft auf. Die Frage 5 des Abgeordneten Albert Deß und die Frage 6 des Abgeordneten Jürgen Augustinowitz werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe nunmehr den Geschäftsbereich der Bundesministerin für Familie und Senioren auf. Zur Beantwortung steht Frau Parlamentarische Staatssekretärin Verhülsdonk zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 7 der Abgeordneten Frau Uta Würfel auf:
Wie wird Pluralität der Träger bei Beratungsstellen gewährleistet, wenn durch ein flächendeckendes Angebot von Gesundheitsämtern als Beratungsstellen andere Träger, z. B. nichtkonfessionelle Beratungsstellen, nicht zugelassen werden?
Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort.
Liebe Frau Kollegin Würfel, angesichts Ihres bekannten Sachverstands in dieser Thematik
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993 16881
Parl. Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonk
— jawohl — gehe ich davon aus, daß Sie wissen, daß die Zulassung und die Förderung von Beratungsstellen Angelegenheit der Länder ist. Ihnen ist sicher auch bekannt, daß die Länder diese Aufgabe durch eigene Landesgesetze und in Einzelfällen auch durch Rechtsverordnungen rechtlich geregelt haben. Dabei haben die Länder zu beachten, daß das Schwangeren- und Familienhilfegesetz, das in diesen Tagen in Kraft getreten ist, eine Pluralität der Träger bei den Beratungsstellen vorschreibt. Dies zur Rechtslage.
Die Frage, ob nun in einem regionalen Bereich, in einem Bundesland, die Pluralität jeweils gewährleistet ist, kann man nur ganz konkret vor Ort beurteilen, ist also nur durch das, was vorhanden ist, zu beantworten, nicht hypothetisch.
Eine Zusatzfrage, Frau Abgeordnete, bitte schön.
Angesichts des Ihnen zu unterstellenden Sachverstandes, den ich nie bezweifelt habe: Kann ich davon ausgehen, daß Sie wissen, daß das Bundesverfassungsgericht dem Bundesgesetzgeber ausdrücklich aufgegeben hat, sicherzustellen, daß die Pluralität der Träger in den Ländern gewährleistet zu sein hat? Deswegen habe ich ja gefragt, wie sichergestellt werden kann — jetzt auch durch uns —, daß eine Frau, wenn beispielsweise in den neuen Bundesländern ausschließlich Gesundheitsämter die Beratung durchführen, nicht auf diese verwiesen werden muß, sondern — wie das Bundesverfassungsgericht es will — einen Träger ihrer eigenen Weltanschauung finden kann.
Ich habe eben dargestellt, wie der Zusammenhang der Dinge ist. In einem Bundesgesetz, das der Bundestag mit Mehrheit verabschiedet hat, im Schwangeren-und Familienhilfegesetz, ist das Gebot der Pluralität der Trägerschaft festgeschrieben. Die Länder haben dies ihrerseits zu erfüllen. Wir haben in bezug auf die Länder keine unmittelbaren Aufsichtspflichten und -rechte, sondern das ist eine eigene Aufgabe, die die Länder zu erfüllen haben. Wenn es also irgendwo Beanstandungen gibt, muß man sie auf der Landesebene geltend machen, aber nicht auf der Bundesebene.
Eine zweite Zusatzfrage.
Bundesrecht bricht Länderrecht. Wir haben das jetzt den Ländern aufgetragen. Wenn also der Deutsche Bundestag, der Gesetzgeber, feststellt, daß es die Pluralität der Träger auf Länderebene nicht gibt, welche Möglichkeiten der Einflußnahme hat die Bundesregierung, hat der Bundesgesetzgeber, d. h. der Bundestag, und wie wird dann dieser Einfluß genommen?
— Da haben wir eben andere Auffassungen.
Außerdem ist der Bundestag kein Arbeitsvermittlungsbüro.
Herr Abgeordneter Klejdzinski, Sie haben das Wort.
Herr Präsident, mein Kollege Conradi hat natürlich recht in der Annahme, daß ich möglicherweise kritisiere oder hinterfrage, ob es richtig ist, daß gegenwärtig Millionen für den Berlin-Umzug ausgegeben werden. Ich möchte das mit der Frage verbinden: Welche Konsequenzen hat das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau aus der verordneten Haushaltssperre gezogen, die ja konsequenterweise auch diesen Bereich treffen müßte? Ich nehme mit Erstaunen zur Kenntnis, daß Sie weiterplanen, als wenn diese Haushaltssperre nicht bestehen würde.
Joachim Günther, Parl. Staatssekretär: Im gegenwärtigen Zeitpunkt geht es um das Verfahren und um die Vorbereitung der Auslobung für das Bundeskanzleramt. Für diesen Wettbewerb steht die bekannte Summe von 3,2 Millionen DM zur Verfügung. Sie ist in den Haushalt integriert.
— So ist es.
Weitere Fragen liegen für den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau nicht vor. Herr Staatssekretär, ich bedanke mich bei Ihnen.
Der Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie braucht nicht aufgerufen zu werden, weil der Abgeordnete Christian Müller die schriftliche Beantwortung der Fragen 10 und 11 gewünscht hat.
Das gleiche trifft zu für den Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft. Hier hat der Abgeordnete Rolf Schwanitz gebeten, die Frage 12 schriftlich zu beantworten.
Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen nunmehr zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Hier steht uns der Staatssekretär Härdtl zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 13 des Abgeordneten Dr. Peter Ramsauer auf:
Wie erklärt die Bundesregierung den, verglichen mit den Vorjahren, unverhältnismäßig hohen Anstieg des Anteils der in den Entwicklungsländern gekauften Nahrungsmittel für die Nationale Nahrungsmittelhilfe?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Vielen Dank, Herr Präsident.
Herr Abgeordneter, Sie haben in zwei Fragen nach dem Anstieg des Anteils der in Entwicklungsländern gekauften Nahrungsmittel für die Nationale Nahrungsmittelhilfe und nach der Vereinbarkeit dieses Anstiegs mit den in der deutschen Landwirtschaft erzielten Überschüssen gefragt. Ich beantworte mit Ihrem Einverständnis beide Fragen zusammen.
Einverstanden; dann rufe ich auch Frage 14 des Abgeordneten Dr. Peter Raumsauer auf:
Wie läßt sich dieser Anstieg mit den in der deutschen Landwirtschaft erzielten Überschüssen vereinbaren?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Wighard Härdtl, Staatssekretär: Der Anstieg entspricht dem Willen des Deutschen Bundestages. Nach den Erläuterungen zu den Haushaltstiteln des Einzelplans 23 im Haushalt 1993 sollen Nahrungsmittel vorrangig aus in Entwicklungsländern verfügbaren Überschußangeboten aufgekauft werden. Der Anstieg lokaler Aufkäufe gegenüber früheren Jahren liegt bei Getreide unter 100 000 Tonnen pro Jahr. Gemessen an den in Deutschland erzeugten Getreideüberschüssen, die von den Interventionsstellen aus dem Markt genommen werden, 1993 ca. 6 Millionen Tonnen, stellt dies eine gesamtwirtschaftlich äußerst geringe Menge dar, etwa 1,5 % der Überschüsse. Die Nahrungsmittelhilfe ist daher nicht geeignet, zur Lösung der Überschußproblematik beizutragen.
Herr Dr. Ramsauer, Sie haben jetzt vier Zusatzfragen. Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir nicht in der Bewertung zu, daß der Anstieg von durchschnittlich einem Drittel in den Jahren 1991 und 1992 durch Zukäufe in Entwicklungsländern auf nunmehr 81 % im ersten Halbjahr 1993 ein besonders krasser Anstieg ist, der wohl über das Maß hinausgeht, das der Gesetzgeber vielleicht gemeint haben könnte?
Wighard Härdtl, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, die Zielvorgabe ist durch den Haushaltsausschuß sehr
Deutscher Bundestag -- 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993 16885
Staatssekretär Wighard Härdtl
eindeutig vorgenommen worden. Das Problem liegt darin, daß wir versuchenmüssen, auch die Produktion in den Entwicklungsländern zu fördern. Entwicklungspolitisch ist es sicherlich sinnvoll, daß man durch die Abnahme von Produkten zur Stärkung der Entwicklungsländer beiträgt. Im übrigen ist es häufig sehr viel kostengünstiger, in der Nähe der Entwicklungsländer, also der Bedürftigen, Nahrungsmittel aufzukaufen.
Die Frage des Anstiegs hängt natürlich auch mit der regionalen Situation zusammen. Der Anstieg ist im Getreidebereich geringer als die von Ihnen genannte Zahl. Er lag im letzten Jahr bei etwa 50 % angekauften Getreides aus den Entwicklungsländern, und 50 % kamen aus dem EG-Bereich.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Dr. Ramsauer.
Herr Staatssekretär, wenn Sie schon so sehr auf entwicklungspolitische Erwägungen abheben, wie beurteilen Sie dann die Tatsache, daß eine Weichweizenausschreibung von 20 000 Tonnen für Georgien ausgerechnet an die Türkei vergeben worden ist, an ein Land, daß allenfalls als Schwellenland eingestuft werden kann?
Wighard Härdtl, Staatssekretär: Die Türkei ist nach wie vor ein anerkanntes Entwicklungsland. Sie gehört nicht zu den Niedrigeinkommensländern, aber ein Entwicklungsland ist sie zweifellos.
Meine dritte Zusatzfrage, Herr Staatssekretär: Wenn auch in Entwicklungsländern die Ernten heuer besser ausgefallen sein mögen, kann dies denn ein Grund dafür sein, die Zukäufe bei der Nahrungsmittelhilfe aus diesen Ländern derartig drastisch zu erhöhen, wo die Überschüsse in Deutschland gleichzeitig ein immer noch völlig inakzeptables Niveau haben und von den Nahrungsmittellieferungen nicht nur die Agrarwirtschaft selbst in Form von Getreidelieferungen betroffen ist, sondern natürlich auch die Verarbeitungswirtschaft, die, wie Sie wissen, in einer ganz gewaltigen strukturellen Krise steckt?
Wighard Härdtl, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, die Probleme sind natürlich bekannt. Nur, von der Größenordnung her muß man sagen, daß die Entscheidung, in den Entwicklungsländern selber auch zum Absatz beizutragen, nicht dadurch ersetzt werden kann, daß wir aus dem EG-Bereich ankaufen. Die Größenordnungen sind — ich sagte es schon — so, daß damit das Grundproblem der Überschußproduktion in der EG in vielen Bereichen nicht gelöst werden kann.
Wir müssen in der Gesamtsicht der Politik auch darauf achten, daß wir bei einer Förderung der Entwicklungsländer, die auf eigenen Füßen stehen sollen, dafür Sorge tragen, daß die Produkte, die dort hergestellt werden, auch im landwirtschaftlichen Bereich, abgesetzt werden können. Das gilt nicht nur für den Bananenbereich, sondern auch für den Getreidebereich.
Noch eine Zusatzfrage.
Ich möchte die vierte und letzte Zusatzfrage stellen. Herr Staatssekretär, glauben Sie nicht, daß andere EG-Länder bei der Nahrungsmittelhilfe die eigenen Belange der jeweils eigenen Agrar- und Verarbeitungswirtschaft wesentlich besser berücksichtigen und daß die Beantwortung meiner Fragen viel besser beim Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten als in Ihrem Ressort angesiedelt gewesen wäre?
Wighard Härdtl, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, wir sind natürlich innerhalb der Bundesregierung um eine abgestimmte Politik bemüht, so auch in dieser Frage mit dem Landwirtschaftsminister. Es ist ja nicht so, daß Überschußproduktionen aus dem EG-Bereich nicht aufgekauft würden, sondern hier gibt es bestimmte Zielsetzungen, die in Übereinstimmung gebracht werden sollen, und dies geschieht.
Wir wissen, daß auch andere Länder dazu übergegangen sind, Überschußprodukte aus den Entwicklungsländern aufzukaufen und einzusetzen. Es ist also kein Einzelfall; nicht nur die Bundesregierung tut dies.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Horst Kubatschka.
Meine Frage ist im zweiten Teil nicht beantwortet!
Herr Dr. Ramsauer, ich kann den Staatssekretär nicht zwingen, sich vollständig zu äußern. Das müssen Sie durch eine erneute Frage oder im direkten Kontakt klären.
Nun Herr Kubatschka.
Herr Kollege Ramsauer, da haben Sie einmal ein Oppositionsgefühl gehabt. Uns werden oft Fragen nicht beantwortet.
Aber jetzt meine Frage: Haben die Aufkäufe zu Engpässen bei der Versorgung in den Entwicklungsländern geführt?
Wighard Härdtl, Staatssekretär: Nein, selbstverständlich nicht, denn die Aufkäufe erfolgten ja aus der Überschußproduktion. Sie haben in den betroffenen Entwicklungsländern zu einer Stärkung der Devisensituation beigetragen und waren indirekt auch ein Beitrag zur entwicklungspolitischen Zusammenarbeit.
Weitere Fragen liegen nicht vor.
Ich hätte noch eine zweite Zusatzfrage.
Nein, das war ja nicht Ihre Frage.
Entschuldigung, daß ich Sie zu belehren wage. Es sind zwei Fragen gewesen,
16886 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993
Horst Kubatschka
und zu jeder hätte ich eine Zusatzfrage stellen können.
Eins zu null für Sie!
Das wollte ich nicht!
Sind dabei sinnlose Versorgungswege ausgeschlossen worden? Ist ausgeschlossen worden, daß mit einem Schiff ein Gut hinaufbefördert und mit dem nächsten Schiff dasselbe Gut wieder in Richtung eines anderen Entwicklungslandes befördert wurde? Wurde darauf geachtet, sinnlose Versorgungswege auszuschließen?
Wighard Härdtl, Staatssekretär: Wir bemühen uns im Zusammenhang mit den Transporten und auch bei den Institutionen, die wir einsetzen, grundsätzlich die Kosten so niedrig wie möglich zu halten. Dies ist auch ein Grund für den Ankauf aus Nachbarländern in einer Region, die es zu versorgen gilt. Das senkt die Transportkosten erheblich. Es senkt die Kosten auch deshalb, weil die Weltmarktpreise niedriger liegen als die EG-Interventionspreise.
Herr Staatssekretär, ich bedanke mich bei Ihnen. Weitere Fragen liegen für Ihren Geschäftsbereich nicht vor.
Der Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten braucht nicht aufgerufen zu werden, weil die Fragen 20, 21, 22 und 23 der Abgeordneten Ulrike Mehl und des Abgeordneten Paul Hoffacker auf deren Wunsch schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Der Parlamentarische Staatssekretär Horst Günther steht uns zur Verfügung. Er beantwortet zunächst die Frage 24 des Abgeordneten Kubatschka:
Wie beurteilt die Bundesregierung den starken Anstieg von Hauterkrankungen bei Berufstätigen und daraus folgend von Anträgen auf Berufsunfähigkeit aufgrund der vielen neuen Gefahrstoffe am Arbeitsplatz, und wo sieht sie hierbei Handlungsbedarf?
Herr Kollege Kubatschka, ich hoffe, daß ich Ihnen dieses Oppositionsgefühl jetzt nehmen kann, indem ich Ihre Frage beantworte. Die Antwort lautet wie folgt:
Beruflich verursachte Erkrankungen der Haut fallen unter die Berufskrankheit Nr. 5101, Anlage 1 Berufskrankheitenverordnung. Nach Auskunft der von dieser Berufskrankheit besonders betroffenen Berufsgenossenschaften entfällt der Großteil der Erkrankungsfälle auf das Friseurgewerbe und auf die Metallberufe. Der Umstand, daß in den letzten Jahren ein kontinuierlicher Anstieg von Anzeigen dieser Berufskrankheit zu beklagen ist, erklärt sich im wesentlichen dadurch, daß die Berufsgenossenschaften für Hautkrankheiten ein besonderes Hautarztverfahren eingeführt haben, wodurch Erkrankungsfälle bereits im Frühstadium durch die Hautärzte gemeldet werden müssen, die Ärzteschaft durch verbesserte
Information ein zunehmend offensives Meldeverfahren bei Berufskrankheiten entwickelt und auch betroffene Versicherte zunehmend mehr Entschädigungsansprüche an ihre Berufsgenossenschaft stellen.
Hinweisen möchte ich aber auch darauf, daß nicht jeder angezeigte Verdachtsfall eine anzuerkennende Berufskrankheit im Sinne der Berufskrankheitenverordnung ist. Für die Tätigkeiten, bei denen üblicherweise mit Gefahrstoffen umgegangen wird, die schädigend auf die Haut einwirken, bestehen sowohl nach der Gefahrstoffverordnung wie auch nach den einschlägigen Unfallverhütungsvorschriften Bestimmungen, die Haut bei solchen Tätigkeiten entsprechend zu schützen.
Die zuständigen Berufsgenossenschaften haben für solche Tätigkeiten auch besondere Merkblätter herausgegeben, in denen die Notwendigkeit des Tragens persönlicher Schutzausrüstung in Form von Handschuhen betont oder die Verwendung von Hautschutzmitteln empfohlen wird. Diese Vorschriften gelten für alle, auch für die neuen Gefahrstoffe.
Um dem besorgniserregenden Anstieg von beruflich verursachten Hautkrankheiten, der nicht wegzudiskutieren ist, zu begegnen, haben der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung und die zuständigen Berufsgenossenschaften zahlreiche Aktivitäten entwickelt. So hat z. B. die Berufsgenossenschaft Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege in den letzten zwei Jahren wiederholt Fachtagungen für Ärzte und Angehörige verschiedener Branchen ausgerichtet. Weiterhin hat sie z. B. allen Friseurbetrieben ausreichend Informationsmaterial, Merkblätter und sogenannte Hautschutzpläne zur Verfügung gestellt. Ein erster Erfolg dieser Aktion ist, daß 1992 über 4 % weniger Verdachtsmeldungen auf eine beruflich verursachte Hauterkrankung in dieser Branche erstattet werden mußten.
Weiterhin haben der Ausschuß für Gefahrstoffe des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung sowie der Ausschuß Arbeitsmedizin des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften interdisziplinäre Arbeitskreise mit Experten aus Wissenschaft und Praxis eingerichtet, die neue Grundlagen für geeignete Präventionsstrategien einschließlich arbeitsmedizinischer Vorsorgeuntersuchungen erarbeiten. Diese Arbeiten stehen kurz vor dem Abschluß und werden in Pilotprojekten bereits in der Praxis erprobt.
Im Frühjahr 1992 hat das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung Wissenschaftler der berufsdermatologischen Fachgesellschaft gebeten, das inzwischen veraltete Merkblatt zur Berufskrankheit zu überarbeiten. Der Entwurf der Neufassung wird bereits im ärztlichen Sachverständigenbeirat des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung beraten und soll nach der Verabschiedung amtlich bekanntgemacht werden. Ergänzend dazu erarbeitet der Hauptverband der Berufsgenossenschaften auf Anregung des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung mit den Experten der gleichen Fachgesellschaft eine Empfehlung zur Begutachtung dieser Berufskrankheit. Der Schwerpunkt aller Bemühungen ist jedoch, die Primär- und Sekundärprävention
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993 16887
Parl. Staatssekretär Horst Günther
weiter zu verbessern sowie die Möglichkeiten zur Früherkennung und Frührehabilitation bei dennoch eingetretenen beruflich verursachten Hauterkrankungen zu optimieren.
Die Bundesregierung wird der Entwicklung dieser Berufskrankheit weiterhin sehr große Aufmerksamkeit schenken. Nähere Angaben über die Anzahl der Berufsunfähigkeitsrentner in der gesetzlichen Rentenversicherung, die durch Hauterkrankungen auf Grund von Gefahrstoffen am Arbeitsplatz berufsunfähig geworden sind, liegen der Bundesregierung mangels entsprechender statistischer Daten leider nicht vor.
Herr Abgeordneter Kubatschka, unter Berücksichtigung der Eingangsbemerkung des Herrn Staatssekretärs frage ich Sie jetzt: Haben Sie noch eine Zusatzfrage?
Also, über die Länge kann ich mich nicht beklagen. Das war sehr ausführlich, so ausführlich, daß es noch für einige kurze Antworten der Regierung für die nächsten Kollegen ausreichen würde. Trotzdem habe ich noch zwei Zusatzfragen: Worauf ist die Entwicklung der Hauterkrankungen in den letzten fünf Jahren zurückzuführen? Sind etwa sprunghafte Entwicklungen, die Sie angedeutet haben, auf diese technischen und medizinischen Maßnahmen zurückzuführen?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Im wesentlichen ja, so wie ich das auch ausgeführt habe, Herr Kollege Kubatschka. Die Möglichkeit der Früherkennung, der besseren Aufklärung durch technische Möglichkeiten und durch arbeitsmedizinische Fortschritte, ist eben so weit gediehen, daß jetzt mehr Fälle gemeldet werden können. Darauf ist die hohe Zahl im wesentlichen zurückzuführen.
Nächste Zusatzfrage, bitte schön.
Jetzt haben Sie ein genaues Erkennungssystem. Sie können die Gefahrstoffe unter Umständen lokalisieren. Welche Maßnahmen ergreifen Sie dann, wenn Sie einen Gefahrstoff festgestellt haben, der besonders zu Hauterkrankungen führt, um ihn praktisch aus dem Verkehr zu ziehen?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Dafür gibt es inzwischen Fachgremien, die mit Fachleuten besetzt sind und ständig darüber beraten, welche Gefahrstoffe unter Umständen aus dem Verkehr gezogen werden müssen, insbesondere dann, wenn, um die Spitze zu nennen, Krebsverdacht besteht.
Herr Staatssekretär, ich rufe jetzt die Frage 27 des Abgeordneten Martin Göttsching auf, weil der Abgeordnete Gilges sich noch nicht im Raum befindet und ich nicht genau weiß, ob er kommt.
Inwieweit kann die Bundesregierung nachvollziehen, daß die Vergabe von Ausbildungsplätzen an Berufsbildungszentren bzw. -gesellschaften, die sich in den neuen Ländern gegründet haben, von den Arbeitsämtern benachteiligt wird, und zwar zugunsten der Ausbildungszentren bzw. -gesellschaften aus den alten Bundesländern, die nur Nebenstellen im Osten haben?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Vielen Dank, Herr Präsident.
Herr Kollege Göttsching, die Bundesregierung hat keine Anhaltspunkte, daß bei der Einrichtung von Ausbildungsmaßnahmen in überbetrieblichen Einrichtungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz und im Rahmen der Bund-Länder-ESF-Gemeinschaftsinitiative zur Förderung außerbetrieblicher Ausbildungsplätze neu gegründete Trager aus den neuen Bundesländern von den Arbeitsämtern benachteiligt werden.
Nach Mitteilung des Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit ist für die Förderung maßgebend, daß der Träger die in den rechtlichen Vorschriften und dazugehörigen Durchführungsanweisungen niedergelegten hohen Qualitätsanforderungen erfüllt. Dies wird von den Arbeitsämtern vor Ort in eigener Zuständigkeit geprüft und entschieden. Ob es sich bei dem Träger um eine Nebenstelle eines Trägers aus den alten Ländern handelt, ist in diesem Zusammenhang nicht entscheidungserheblich.
Im übrigen scheint es mir im Hinblick auf einige große Träger der Jugendberufshilfe, z. B. den Internationalen Bund für Sozialarbeit, oder konfessionelle Träger, wie das Kolpingwerk oder das Diakonische Werk, nicht unproblematisch zu sein, sie als Träger der alten Bundesländer mit Nebenstellen in den neuen Ländern zu verstehen. Sie sehen sich nach meiner Einschätzung als gesamtdeutsche Träger mit bundesweiten Aufgaben und beschäftigten für ihre Ausbildungsmaßnahmen in den neuen Ländern inzwischen fast ausschließlich Mitarbeiter aus den neuen Bundesländern, für deren Weiterbeschäftigung sie Sorge tragen.
Herr Präsident, darf ich die zweite Frage, weil sie im Zusammenhang steht, gleich mit beantworten?
Ich sehe, daß der Kollege Göttsching einverstanden ist. Dann rufe ich auch die Frage 28 auf:
Kann die Bundesregierung dabei ausschließen, daß in diesem Zusammenhang die Vermittlung von gewinnträchtigen Ausbildungsplätzen eine Rolle spielt?
Bitte sehr.
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Vielen Dank. — Das Förderungsrecht zu § 40c des Arbeitsförderungsgesetzes schließt prinzipiell aus, daß beim Träger der Ausbildungsmaßnahme Gewinne aus der Ausbildung entstehen. Gewinne aus Ausbildungsleistungen im Rahmen der Berufsausbildung in überbetrieblichen Einrichtungen gelten als auf die Förderung anzurechnende Leistungen Dritter, soweit sie nicht in bestimmten Fällen der Aufstockung von Förderleistungen dienen, z. B. damit den Jugendlichen in angemessenem Umfang eine höhere Ausbildungsvergütung gewährt werden kann.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Göttsching?
— Keine Zusatzfrage.
16888 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, darf ich eine Anregung geben: Da ich weiß, daß der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, dem der Kollege Gilges angehört, noch tagt, wäre ich bereit, ihm die Fragen 25 und 26 schriftlich zu beantworten.
Das finde ich sehr kollegial und würde das begrüßen. Ich bitte, den Kollegen Gilges entsprechend zu unterrichten. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe nunmehr den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung auf. Hier steht der Parlamentarische Staatssekretär Bernd Wilz zur Verfügung.
Der Abgeordnete Norbert Gansel hat gebeten, daß die Frage 29 schriftlich beantwortet wird. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Frau Abgeordnete Klemmer, dann kann ich Ihre Frage 30 aufrufen:
Wie viele der 1993 zur Musterung herangezogenen Berliner des Geburtsjahrgangs 1969 haben ihre jeweils ersten, zweiten und ggf. dritten Musterungstermine nicht wahrgenommen, und wie oft wurden bisher polizeiliche Vorführungen der von der Musterung ferngebliebenen Wehrpflichtigen angeordnet?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Herr Präsident! Ich beantworte die Frage der Kollegin Klemmer wie folgt: Durch die Kreiswehrersatzämter in Berlin wurden 1993 zur
Musterung von Angehörigen des Geburtsjahrganges 1969 bisher ca. 11 400 Erstladungen versandt. Dies betraf grundsätzlich nur Bürger aus dem ehemaligen West-Berlin, da Wehrpflichtige des Jahrgangs 1969 aus dem ehemaligen Ostteil der Stadt regelmäßig bereits zu DDR-Zeiten gemustert worden waren.
Darüber hinaus erfolgten insgesamt ca. 5 200 Zweit-sowie ca. 1 700 Dritt- und Viertladungen. Wie viele dieser erneuten Ladungen wegen unentschuldigten Fernbleibens erfolgen mußten, ist nicht mehr verifizierbar, da entsprechende statistische Nachweise nicht geführt werden.
Es muß aber davon ausgegangen werden, daß diese Ladungen zu einem erheblichen Teil notwendig waren, weil Wehrpflichtige dem Musterungstermin entschuldigt ferngeblieben waren bzw. um Terminverlegung gebeten hatten.
In 367 Fällen wurde die polizeiliche Vorführung angeordnet. Diese wurde in 50 Fällen vollzogen. In weiteren 27 Fällen erschienen die Wehrpflichtigen nach der Anordnung der polizeilichen Vorführung freiwillig zur Musterung. In den übrigen 290 Fällen steht der Musterungs- und Vorführungstermin noch bevor.
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Klemmer.
Herr Staatssekretär, können Sie Auskünfte darüber geben -- wenn jetzt nicht hier, dann bitte doch schriftlich —, welche Kosten durch diese Vorführungen bei den Berliner Kreiswehrersatzämtern entstanden sind? Wenn man davon ausgeht, daß in Berlin die größte Zahl der Betroffenen des Jahrgangs 1969 alle Termine verweigert, denke ich, daß diese Kosten ganz beträchtlich sein werden.
Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich kann gegenwärtig natürlich nichts über die Kosten sagen; denn wir müßten dazu die Zahlen der Polizei haben. Wenn Sie darauf Wert legen, bin ich selbstverständlich bereit, diese Zahlen zu hinterfragen und sie Ihnen dann schriftlich im Bericht vorzulegen.
Weitere Zusatzfrage zu Frage 30.
Herr Staatssekretär, können Sie die Aussage des Leiters des Kreiswehrersatzamtes I aus Juli 1991 bestätigen, der gesagt hat, alle .Jahrgänge 1969 und älter könnten sicher sein, nicht mehr eingezogen zu werden?
Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär: Diese Aussage kann ich so nicht bestätigen. Ich würde gerne den Leiter persönlich danach befragen, damit nicht eine Differenz in der Aussage möglich ist.
Ich rufe die Frage 31 der Abgeordneten Frau Siegrun Klemmer auf:
Trifft es zu, daß in Berlin auch Männer des Geburtsjahrgangs 1969 zur Musterung geladen werden, die in der DDR auf Grund ihrer kriegsdienstverweigernden Haltung nicht gemustert wurden, und trifft es auch zu, daß sogenannte Wehrflüchtigen trotz bevorstehenden oder laufenden Examens die Einberufung zum Wehrdienst bzw. Zivildienst droht?
Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär: Ich beantworte diese Frage wie folgt — es sind ja zwei Teile —: Der genannte Personenkreis ist in der damaligen DDR grundsätzlich gemustert worden. In Einzelfällen, in denen die Musterung unterblieben war, haben die Wehrersatzbehörden heute keine Kenntnis darüber, ob es sich bei den Ungemusterten um mögliche Kriegsdienstverweigerer handelt. Sie werden wie alle Wehrpflichtigen auch zur Musterung geladen und haben dort die Möglichkeit, einen Antrag oder erneuten Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer zu stellen. Ein solcher Fall ist den Berliner Kreiswehrersatzämtern bisher jedoch nicht bekannt geworden.
Jetzt komme ich zum zweiten Teil Ihrer Frage: Wehrpflichtige, die einen gesetzlichen Zurückstellungsgrund im Schutze des unerlaubten Verlassens des Geltungsbereichs des Wehrpflichtgesetzes als sogenannte Wehrflüchtige geschaffen haben, können diesen Zurückstellungsgrund wegen Verstoßes gegen den auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben nicht wirksam geltend machen. Diese Wehrpflichtigen können daher auch während ihres Examens zum Wehr- oder Zivildienst einberufen werden. In der Regel setzen die Wehrersatzbehörden aber auf Antrag einen Einberufungsbescheid befristet außer Vollzug, wenn sich der Wehrpflichtige zum Dienstantrittstermin im oder unmittelbar vor dem Examen befindet.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993 16889
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie etwas dazu sagen, wie lange es vom ersten Bescheid bis zum endgültigen Bescheid — entweder zur Ableistung des Wehrdienstes oder zur Ableistung des Zivildienstes — dauert? Meine Frage zielt darauf ab: Können Sie bestätigen, daß die jungen Männer zu lange im unklaren gelassen werden?
Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär: Grundsätzlich ist es so, daß wir bemüht sind, nach Abschluß der Musterung zum nächstmöglichen Termin einzuberufen. Wir sind auch sehr bemüht, diese Fristen zu verkürzen. Ich kann aber natürlich im Einzelfall nicht ausschließen, zumal dann, wenn es sich um Leute handelt, die sich möglicherweise außerhalb von Deutschland befunden haben, daß es zu gewissen Schwierigkeiten gekommen ist, was die Zeitfrage angeht.
Keine Zusatzfrage. Dann kann ich die Fragestunde beschließen.
Ich möchte jetzt dem Haus eine amtliche Mitteilung verlesen. Die Fraktion der F.D.P. teilt mit, daß der Abgeordnete Hans H. Gattermann auf seinen Sitz als stellvertretendes Mitglied im Vermittlungsausschuß verzichtet. Als Nachfolger wird der Abgeordnete Hermann Rind vorgeschlagen. Ist das Haus damit einverstanden? — Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist das so beschlossen und der Kollege Hermann Rind als stellvertretendes Mitglied im Vermittlungsausschuß bestimmt.
Aus dem Kuratorium der „Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR" im Bundesarchiv scheiden die Kollegen Udo Haschke und Hartmut Koschyk als stellvertretende Mitglieder aus. Die Fraktion der CDU/CSU benennt als neue stellvertretende Mitglieder Prof. Dr. Alexander Fischer aus Bonn und Prof. Dr. Manfred Wilke aus Berlin, die dem Deutschen Bundestag nicht angehören, deren Berufung nach den Richtlinien aber möglich ist.
Ich gehe davon aus, daß Sie mit diesen Benennungen einverstanden sind. — Das ist offensichtlich der Fall. Dann darf ich das als beschlossen feststellen.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf: Asiendebatte
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl Lamers, Peter Harry Carstensen , Rainer Haungs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Manfred Richter (Bremerhaven), Wolfgang Lüder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Stärkung der Zusammenarbeit mit Asien — Drucksache 12/5959 —Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Asien-Konzept der Bundesregierung — Drucksache 12/6151 —
Überwei sung svorschla g:
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Zur Unterrichtung durch die Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste vor.
Es liegt weiter der interfraktionelle Vorschlag vor, die Debattenzeit auf zweieinhalb Stunden zu begrenzen. — Das Haus ist damit offensichtlich einverstanden. Dann kann ich das als beschlossen feststellen und dem Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel, das Wort erteilen.
Herr Minister, Sie haben das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mich erneut für Ihr Verständnis zu bedanken, daß ich in dieser Debatte als erster reden kann.
Was derzeit in Asien geschieht, verändert die Welt. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung, d. h. über 3 Milliarden Menschen, lebt in Asien. Bis zum Jahre 2025 werden weitere 2 Milliarden hinzukommen. Vor 30 Jahren wurden dort 4 % des Bruttosozialprodukts der Welt erzeugt; heute sind es bereits 25 %.
Die wirtschaftliche Dynamik ist atemberaubend. China und die ASEAN-Staaten haben Wachstumsraten, die in den alten Industrieländern längst Vergangenheit sind -- leider, füge ich hinzu. Industrialisierung und Bevölkerungswachstum führen aber gleichzeitig zu dramatischen Umweltbelastungen mit globalen Auswirkungen. Die Gegensätze zwischen Arm und Reich sind in Asien so stark ausgeprägt wie nirgendwo sonst auf der Welt. Zugleich entstehen neue kaufkräftige Mittelschichten, die in der Politik mitwirken wollen. Mindestens 400 Millionen Asiaten werden im Jahre 2000 Lebensstandard und Kaufkraft auf westlichem Niveau haben.
Daß dennoch rund 70 % unserer Exporte in den Europäischen Wirtschaftsraum gehen, darf nicht so bleiben. Diese Tatsache ist auch politisch nicht stimmig. Wenn wir eine große Wirtschafts- und Kulturnation von globalem Rang bleiben wollen, müssen wir ganz zweifellos europäisch, aber eben nicht nur europäisch denken. Wir müssen dort eine enge und politische Verbindung schaffen, wohin sich das globale Geschehen verlagert, nämlich in den asiatischpazifischen Raum.
Amerika hat längst vor uns die Zeichen der Zeit erkannt. Sein Handel mit Asien übertrifft seinen Warenaustausch mit Europa inzwischen um 50 %. Wie wichtig der Pazifik für die USA geworden ist, unterstreicht das Treffen der Staatschefs der 15 APEC-Mitgliedsländer in Seattle. Dieses Gipfeltreffen hat auch gezeigt, daß nur der erfolgreiche Abschluß der Uruguay-Runde den verhängnisvollen Trend zur Regionalisierung der Weltwirtschaft, unter der wir
16890 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Europäer am meisten leiden würden, aufhalten kann.
Wir haben heute morgen und gestern beim deutschfranzösischen Gipfel versucht, wichtige Grundlagen für diesen Abschluß zu legen. Hoffentlich gelingt es uns.
Asien, zu dem ich jetzt zurückkehren will, fordert uns in dreierlei Hinsicht.
Erstens. Die wirtschaftlich-technologische Herausforderung spüren wir am unmittelbarsten. Sie greift schon heute in unseren Alltag ein. Dennoch frage ich mich, ob wir sie in all ihren Konsequenzen für uns erkannt haben. Wäre die deutsche Wirtschaft auf den Wachstumsmärkten Südostasiens und Chinas so präsent wie die japanische Wirtschaft bei uns in Europa, hätten wir ein paar Beschäftigungsprobleme weniger. Fachleute sprechen von mindestens 400 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen, die dadurch möglich würden.
Die Bundesregierung wird die Wirtschaft bei ihren Anstrengungen um den asiatischen Markt mit aller Kraft unterstützen. Wir sitzen bei der Vertretung deutscher Interessen hier absolut in einem Boot.
Zweitens. Politisch entstehen in Asien neue Akteure, die in der multipolaren Welt mitreden wollen und auch mitreden können. Japan, China, Indien, Indonesien und die ASEAN-Staaten sind heute Partner in der Weltpolitik. Ohne sie läuft wenig, mit ihnen läuft viel. Mit ihnen zusammen tragen Europäer und Amerikaner die Hauptverantwortung für globale Stabilität, Entwicklung und Umweltschutz.
Drittens. Auch kulturell darf uns nicht gleichgültig sein, welche Visionen und Werte Asien weiter entwickelt, denn sie werden das Gesicht der Welt von morgen mit prägen; Stichwort: Menschenrechte. Wir können nicht davon ausgehen, daß unsere Modelle unbesehen von den asiatischen Staaten, wie überhaupt von der Dritten Welt, übernommen werden. Wir können nicht meinen, sie mit Druck allein auf die Führungen durchsetzen zu können. Nein, die Auseinandersetzung mit asiatischer Geschichte und Kultur müssen wir offen führen, anders führen. Wir finden für diese Form des Dialogs zunehmend Resonanz, wie eine soeben beendete Reise des Beauftragten für Menschenrechte des Auswärtigen Amtes nach Vietnam, Indonesien und Malaysia gezeigt hat. Zeitmaß und Zeittakt in Asien sind nun einmal anders als bei uns.
Die Bundesregierung begreift die Entwicklung in Asien als eine große Herausforderung an unser gesamtes System. Asien hat in der Vergangenheit viel von der westlichen Zivilisation gelernt. Heute können und müssen wir von Asien etwas lernen, z. B. daß Fortschritt im Kopf anfängt und daß Bildung, Wissenschaft, Forschung und Erziehung in einem Land ganz vorne stehen müssen, wenn es eine wirtschaftliche Zukunft haben will.
Nur ein Beispiel: 1991/92 studierten in Deutschland über 30 000 Studenten aus asiatischen Ländern, vor allem aus China und Korea. Diesen stehen bei uns nur 840 — ich wiederhole es: 840 — deutsche Stipendiaten in Asien gegenüber. Dabei ist das Angebot da — ich will Ihnen besser nicht sagen, wie viele Angebote es gibt, damit Sie nicht erschrecken —, aber es fehlt an Nachfrage. Da kann ich nur sagen: Das kann nicht richtig sein. Asien muß bei uns einen erheblich höheren Stellenwert erhalten, innen und außen. Darum geht es in dem vom Bundeskanzler und mir initiierten Asienkonzept der Bundesregierung. In Asien ist das sehr gut verstanden worden. Ich begrüße es sehr, daß die Koalitionsfraktionen diese verstärkte Ausrichtung nach Asien mit ihrem Beschlußantrag voll unterstützen.
Ich habe für Anfang des nächsten Jahres eine Botschafterkonferenz aus der Region nach Bonn eingeladen, damit wir darüber sprechen können, welche konkreten zusätzlichen Schritte zu unternehmen sind, um unsere Präsenz in Asien weiter zu verstärken.
Es wird auch zu weiteren hochrangigen Begegnungen mit den Regierungen aus Asien kommen, mit dem japanischen und dem indischen Ministerpräsidenten und — ich hoffe, möglichst bald — auch mit der neuen pakistanischen Ministerpräsidentin.
Während unserer Präsidentschaft in der Europäischen Union werden wir uns um die europäische Zusammenarbeit mit Asien ganz besonders kümmern. Da ist noch einiges aufzuarbeiten. Im September des nächsten Jahres werden wir Gastgeber der großen Außenministerkonferenz zwischen der Europäischen Union und ASEAN während unserer Präsidentschaft sein. Ich habe angeregt — und das ist von den ASEAN-Ländern, von den Außenministern wie von den Wirtschaftsministern, aufgenommen worden —, daß wir parallel zu dieser Konferenz EG-ASEAN — die letzte war in Manila — eine große Konferenz mit führenden Vertretern der deutschen Wirtschaft veranstalten, um die Außenministerkonferenz sozusagen dazu zu benutzen, auch engste Kontakte zur Wirtschaft herzustellen. Ich glaube, daß das ein ganz wichtiger Ansatz ist.
Mit der Gründung des Asien-Pazifik-Ausschusses hat die deutsche Wirtschaft im übrigen ihren Willen gezeigt, die Chancen in Asien beherzt anzupacken. Ich habe mich selber mächtig darum gekümmert und bin stolz darauf, daß das zusammen mit der Wirtschaft jetzt gelungen ist. Wir werden für Asien eben nur dann ein wichtiger Partner werden, wenn wir uns dort wirtschaftlich und politisch engagieren. Stabilität und friedliche Entwicklung in Asien liegen auch in unserem ureigensten Interesse.
Dabei kommt — das brauche ich hier nicht besonders zu betonen — Japan besondere Bedeutung zu. Unsere Interessen an Abrüstung, nuklearer Nichtverbreitung, an weltweiter Kooperation in globalen Fragen stimmen weitgehend mit denen Japans überein. Wir begrüßen seine Mitwirkung an der KSZE.
Wir wollen den politischen Dialog natürlich auch mit allen anderen wichtigen Staaten Asiens weiter ausbauen. Wir müssen mehr um unsere Position dort
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Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
werben: Gemeinsamkeiten in Wirtschaftsfragen, bei der Friedenssicherung und in Umweltfragen. So haben wir mit Singapur und Indonesien, jetzt auch mit China eine enge Zusammenarbeit in Umweltfragen vereinbart. Wir verstärken die Zusammenarbeit mit den Staaten Asiens natürlich auch im Rahmen der Vereinten Nationen, zumal dieser Erdteil in den Vereinten Nationen ein nicht unerhebliches Gewicht hat.
Die Volksrepublik China hat in Asien verständlicherweise eine herausragende Bedeutung. Ich habe im vergangenen Jahr die Initiative ergriffen, die Beziehungen zu China wieder in normalere Bahnen zu bringen. Dafür bin ich damals, teilweise übrigens auch hier im Haus, ziemlich gescholten worden. Die erfolgreiche Chinareise des Bundeskanzlers aber zeigt — das sage ich mit einer gewissen Genugtuung; Sie werden das verstehen —, daß der Ansatz richtig war.
Wenn ich „erfolgreich" sage, meine ich nicht nur die Milliardenaufträge, die wir für unsere Wirtschaft brauchen
— ja, „aber auch" —, sondern durchaus auch das Eintreten für die Menschenrechte. Dies hat sowohl bei meiner Reise wie auch bei der Reise des Bundeskanzlers verständlicher- und berechtigterweise eine große Rolle gespielt. Mit öffentlichen Erklärungen allein allerdings — da wiederhole ich das, was ich damals nach meiner Reise gesagt habe — ist den betroffenen Menschen nicht geholfen. Um Menschen aber geht es in all diesen Fällen. Ich füge hinzu — dies ist inzwischen Gott sei Dank nachweisbar —: Wir konnten in einer nicht unerheblichen Zahl von Einzelfällen helfen, sowohl ich nach meiner Reise wie auch der Bundeskanzler nach seiner Reise. Darauf kommt es an. Dies sind vorzeigbare, meßbare Ergebnisse.
Ich füge hinzu, daß unsere Chinapolitik nicht gegen Taiwan gerichtet ist. Im Gegenteil, wir sind an substantiellen wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zu Taiwan sehr interessiert und bemühen uns nachdrücklich darum. Allerdings haben wir uns von Anfang an zur Ein-China-Theorie, zur Ein-ChinaPolitik bekannt. Ich glaube, daß diese Entscheidung richtig war und wir an ihr festhalten sollten.
Ich weise in diesem Zusammenhang nochmals darauf hin, daß uns die Volksrepublik China in der Frage unserer Wiedervereinigung und in der Berlinproblematik von Anfang an ohne Wenn und Aber und uneingeschränkt unterstützt hat.
Asien ist nicht frei von Widersprüchen und Konflikten. Mit großer Sorge sehen wir vor allem den Konflikt in Kashmir und die Auswirkungen, die er auf die Beziehungen zwischen Indien und Pakistan hat. Die Bundesregierung begrüßt, daß die Regierungen beider Länder jetzt die Wiederaufnahme des Dialogs vereinbart haben. Indien und Pakistan brauchen ihre ganze Kraft für die Entwicklung ihrer Wirtschaft und Gesellschaft. Wenn es dort im positiven Sinne vorwärtsginge, wäre dies für die Stabilität in der gesamten Region ein ganz wichtiger Schritt.
Sorge bereitet nach wie vor die Lage in Afghanistan, wo die Konflikte zwischen den einzelnen Gruppierungen leider immer wieder aufflammen und das Land nicht zur Ruhe kommen lassen.
Dennoch, meine Damen und Herren: Wer wollte bestreiten, daß Asien heute, verglichen mit früheren Jahrzehnten, wesentlich freier von schweren Konflikten ist? Dabei hat ASEAN auch über den Kreis seiner Mitglieder hinaus eine ganz wichtige Rolle gespielt. ASEAN hat auch in Zukunft in seiner Region und darüber hinaus eine bedeutende Ordnungsfunktion. Für die Lösung des Kambodscha-Problems war dies wesentlich. Die Bundesregierung hofft und wünscht, daß sich dieses geschundene Land nach dem erfolgreichen Engagement der Vereinten Nationen, zu dem wir Deutschen wesentlich beigetragen haben — worauf wir stolz sein können —, weiter stabilisiert.
Meine Damen und Herren, der Ausbau unserer Beziehungen zu Asien ist eine langfristige Aufgabe, die von allen Beteiligten viel Geduld, enormen Lernwillen und vor allem Aufmerksamkeit verlangt. Wir müssen Asien sehr ernst nehmen.
Ich begrüße, daß heute diese Debatte im Deutschen Bundestag stattfindet. Dadurch dokumentieren und artikulieren wir auch nach draußen speziell für diese Region, für diesen Kontinent, wie ernst wir ihn nehmen und wie wichtig uns die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zu diesem Kontinent sind.
Vielen Dank.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Volker Neumann das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Es ist zu spät, das Leck zu stopfen, wenn das Boot schon fährt" — so lautet eine chinesische Redensart. Ich meine, dieses Sprichwort paßt sehr gut zum Thema der heutigen Debatte. Denn: Das asiatische Boot hat seinen Kurs schon vor Jahren aufgenommen; es fährt mit voller Fahrt voraus, von Erfolg zu Erfolg, aber wir sind nicht an Bord, ja nicht einmal in der Nähe. Die fast unglaubliche Steigerung des Anteils Asiens am Weltbruttosozialprodukt spricht eine deutliche Sprache.
Natürlich ist es lobenswert, daß überhaupt versucht wird, mit Asienkonzepten und Anträgen zur Stärkung der Zusammenarbeit mit Asien das Loch zu stopfen. Aber die jetzige hektische Betriebsamkeit kann keineswegs die Tatsache kaschieren, daß die Bundesregierung einen sehr wichtigen und schon seit langer Zeit vorhersehbaren Trend verpaßt hat.
16892 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993
Volker Neumann
Seit Jahren wird aus Kreisen der Wissenschaft und der Wirtschaft gemahnt, dem asiatischen Kontinent mehr Aufmerksamkeit zu schenken, und schon lange wurde von den Politikwissenschaftlern darauf hingewiesen, daß zu den bisherigen Zentren der Welt, Europa und Amerika, ein drittes hinzugezählt werden muß, nämlich Ostasien.
Vielleicht wird Wolfram Engels recht bekommen, der in der „Wirtschaftswoche" die atemberaubende Entwicklung kommentiert, die sich in der Schaffung neuer Zonen der Zusammenarbeit über Ostasien hinaus, wie die APEC andeutet, zeigt. Er schreibt: „Europa liegt dann am Rande der Welt, ein Wurmfortsatz Asiens."
Andere Regierungen haben den Handlungsbedarf viel früher erkannt als die unsrige und haben gehandelt. So werden z. B. in Australien an Schulen schon lange asiatische Sprachen gelehrt; die amerikanische Asienforschung ist unserer Meilen voraus. Deutsche Sinologen können selbst im europäischen Ausland noch viel dazulernen.
Es ist nicht genug getan worden, um den wenigen Asien-Instituten in der Bundesrepublik das Gewicht zu geben, das sie nach dem unbestritten richtig eingeschätzten politischen und wirtschaftlichen Gewicht Asiens und der Staaten des Pazifiks haben müßten. Eine Diskussion mit den hervorragenden strategischen Instituten Südostasiens ist weitgehend unterblieben. Es ist auch kein zukunftsweisendes Signal, daß gerade in dieser Zeit die Botschaft im asiatischen Ölstaat Brunei geschlossen wird. Und da preist die Regierung in ihrem Asienkonzept die engen traditionellen Beziehungen zu den Vertretern der geistigen Führungsschicht; sie kündigt an, der kulturelle Austausch werde sein Gewicht behalten. Welcher Austausch, welches Gewicht? — muß man sich doch fragen.
Was auf diesem Gebiet für die Beziehungen zu Asien getan wurde, war im Vergleich zu den Programmen anderer Länder minimal. Werfen Sie doch einmal einen Blick in die entsprechenden Studiengänge an den deutschen Hochschulen und sehen Sie sich die Ausstattung mit Büchern und Lehrkräften an! Sollte da ein kultureller Austausch stattgefunden haben, dann nicht wegen, sondern trotz der Politik.
Natürlich stellen die Umwälzungen in Mittel-, Ost-und Südosteuropa höchste Ansprüche an die deutsche Außenpolitik bereits auf unserem Kontinent — wer könnte das angesichts des Dramas in Jugoslawien bestreiten? Dennoch hat eine langfristig orientierte Außenpolitik auch solche Entwicklungen in ihre Überlegungen aufzunehmen, die sich erst andeuten und scheinbar noch weit entfernt liegen. Nur: Darum geht es in Asien schon lange nicht mehr.
Wir begrüßen aber, daß trotz aller Versäumnisse der Ansatz einer Absicht formuliert ist, in der Ostasienpolitik einen lang erkannten Mangel zu beheben. Wir müssen uns immer wieder vor Augen führen, daß sich die gesamte Welt im Umbruch befindet. Auch die Bundesregierung nimmt zur Kenntnis, daß die Welt nicht mehr wie bisher von Amerika und Europa allein regiert wird. Erfolgreich wird unsere Politik gegenüber und mit dem asiatisch-pazifischen Raum nur dann sein, wenn alle gesellschaftlichen Kräfte, insbesondere auch die Wirtschaft, erkennen, daß die asiatischen Staaten die Geschicke dieser Welt in Zukunft immer stärker mitbestimmen werden.
Unsere Asienpolitik kann sich auch nicht mehr ausschließlich nur auf Japan und China konzentrieren. Das ehemalige Ziehkind der EG, die ASEAN, hat sich in jüngster Zeit — fast unbemerkt von auf Europa fixierten Politikern — sehr gut entwickelt; es steht auf eigenen Füßen, vielleicht fester als die Europäische Union selbst.
Der nächste Schritt ist die APEC. Mit den sechs ASEAN-Staaten Thailand, Malaysia, Singapur, Brunei, Indonesien und den Philippinen haben sich in diesem Monat in Seattle auf Einladung von Präsident Clinton die USA, Kanada, Japan, China, Hongkong, Korea, Taiwan, Australien und Neuseeland getroffen. Ihr Ziel ist, eine riesige Freihandelszone zu schaffen, gegen die die Europäische Union buchstäblich verblaßt. Bisher ist es nur eine Konferenz gewesen, aber der Weg ist vorgezeichnet.
Mit solchen Entwicklungen hätte die Bundesregierung längst rechnen müssen, und jede weitere Bundesregierung muß damit rechnen. Leider war jedoch bisher nicht genug Flexibilität vorhanden, um sich an den globalen Trends der Schaffung neuer Organisationsformen politischer und wirtschaftlicher Zusammenarbeit zu orientieren. Unsere Außenpolitik erscheint insofern erstarrt.
Leider ist auch innerhalb der Europäischen Union ein belebender Einfluß in Richtung auf die neuen Herausforderungen in Asien nicht spürbar. Dadurch sind wir bereits ins Hintertreffen geraten. Erst jetzt beginnt man langsam aufzuwachen und entfaltet Aktivitäten. Allerdings erscheinen so manche Aktivitäten in bezug auf Asien eher kurzatmig und hektisch.
Aufträge aus China für die deutsche Wirtschaft zu holen und zu subventionieren ist — bei aller Anerkennung wegen der Sicherung von Arbeitsplätzen in Deutschland — allein noch keine neue und damit bessere Asienpolitik, die langfristig und berechenbar ist. Aber dennoch: Das mit heißer Nadel gestrickte Konzept kann ein Anfang sein, dem wir in vielen Punkten zustimmen können.
Es kommt spät, hoffentlich nicht zu spät.
Wir sollten in unsere Überlegungen einbeziehen, daß in Zukunft nicht mehr die europäische Kultur die dominante sein wird und daß wir nicht überall von unseren Wertvorstellungen ausgehen können.
Europäisches Denken wird sich mit asiatischen Partnern auseinandersetzen müssen. Wir sind gezwungen, uns mit ihrer Kultur und ihren Umgangsformen vertraut zu machen. Gerade das letzte dürfen wir nicht unterschätzen, da sie ein Instrument des erfolgreichen politischen Dialogs darstellen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993 16893
Volker Neumann
Wir müssen mehr über Asien lernen. Daß es hier viel nachzuholen gibt, erkennt man schon bei der Lektüre des Koalitionsantrags „Stärkung der Zusammenarbeit mit Asien" auf der Drucksache 12/5959. Hier wird von „Asien" gesprochen, von „asiatischen Unternehmen", von „Asienpolitik". Aber dann wird lediglich auf den großchinesischen Raum eingegangen. Außer China, Taiwan, Hongkong und Singapur wird kein anderes Land Asiens erwähnt. Ist Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, denn nicht bewußt, daß Asien in der Türkei beginnt und sich im Norden bis Korea und im Süden bis Papua-Neuguinea erstreckt, daß zu Ostasien auch Kambodscha, Vietnam und Indonesien gehören und daß auch Malaysia und Südkorea in die Aufzählung der dynamischen Wirtschaftsstaaten gehören — vom bevölkerungsreichen Südasien ganz zu schweigen?
Ihr Antrag ist eigentlich ein China-Antrag, der kurz vor der Reise des Kanzlers eingebracht wurde. Mir ist noch nicht ganz klar, was er bezwecken sollte. Ich kann nur sagen: zu spät, zuwenig und auch zu einseitig.
Asien ist ein Kontinent großer ethnischer und kultureller Vielfalt, der es nicht verdient, allein auf China reduziert zu werden. Alle asiatischen Lander verdienen es nicht nur, sondern erwarten auch, daß man sie nicht als einheitliche Masse sieht, sondern jedes einzelne mit dem entsprechenden Respekt behandelt.
An der beschränkten Sichtweise des Koalitionsantrags ist deutlich zu erkennen, wie notwendig auch für uns Parlamentarier die Beschäftigung mit außereuropäischen Kulturen ist, um von dem eurozentrischen Weltbild wegzukommen.
Gerade in dieser rasch zusammenwachsenden Welt wird der von der Bundesregierung angekündigte — und von uns begrüßte — Wertedialog vielleicht zu einer Besserung verhelfen und möglicherweise gefährliche Mißverständnisse aufklären. Es könnte sonst schon vorausgesagt werden, daß uns noch viele und wahrscheinlich schwerwiegende Konfliktsituationen ins Haus stehen. Das gilt um so mehr, wenn die Staaten Ostasiens erst ihre immer stärker werdende wirtschaftliche Macht ausüben, um ihre Interessen durchzusetzen.
Die politischen Konsequenzen der Machtverschiebung hin zu einem anderen Kulturkreis werden nach meiner Meinung noch unterschätzt. Der Dialog über Weltanschauungen und Wertvorstellungen ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Kooperation mit den asiatischen Staaten. Er sollte möglichst intensiv geführt werden. Nur dann können die außenpolitischen Ziele, so wie wir Sozialdemokraten sie verstehen, erreicht werden: Friedenssicherung durch gewaltfreie Regelung von Konflikten, Freiheit von Unterdrückung und Ausbeutung sowie Wohlstand auf der Grundlage sozialer Gerechtigkeit und Solidarität.
Asien, insbesondere auch Ost- und Südostasien, steckt noch voller Konfliktherde — nur einige wenige Beispiele: die nach der völkerrechtswidrigen Besetzung Ost-Timors ungelöste Frage einer friedlichen Beilegung der Auseinandersetzung zwischen Indonesien und den Ost-Timoresen; die endgültige Befriedung und der Wiederaufbau Kambodschas nach der auch mit deutscher Beteiligung bis jetzt erfolgreichen UN-Mission; die friedliche und faire Regelung des Streites zwischen China und Taiwan; der friedliche Wandel im kommunistischen Vietnam zu einem gleichberechtigten Partner im ASEAN-Verbund, von dem keine Bedrohung für die Nachbarn mehr ausgeht; das Tibet-Problem; die von der Militärdiktatur in Birma ausgehenden Gefahren für die Demokratisierung und die Menschenrechte in der Region.
Ein wichtiger Teil des politischen Dialogs sollten auf jeden Fall die Menschenrechte sein. Sie müssen bei aller Konsultation auf der Tagesordnung bleiben. Ihre volle Verwirklichung ist nicht die Voraussetzung für den Dialog, sondern ein Teil des Dialoges selbst.
Dabei muß in vielen Ländern des asiatischen Kontinents davon ausgegangen werden, daß nicht überall der gleiche Wissensstand darüber, welches genau die Menschenrechte sind, vorhanden ist. Wir sollten einen Beitrag dazu leisten, daß sich das ändert. Menschenrechtsorganisationen und menschenrechtsorientierte Bildungsmaßnahmen sollten gefördert werden; und ich weiß: sie werden auch gefördert.
Der interkulturelle Menschenrechtsdialog ist eine Gratwanderung. Einerseits sollte es selbstverständlich sein, vor allem in den ehemaligen Kolonien, deren Selbstbewußtsein auf Grund der wirtschaftlichen Erfolge ständig steigt, jeden Anschein von Bevormundung zu vermeiden. Ich füge hinzu: Wir haben auch keinen Anlaß dazu. Andererseits dürfen wir uns aber auch nicht darauf einlassen, wenn Kulturunterschiede von einigen Regierungen als Ausrede für Menschenrechtsverletzungen gebraucht werden. Dies ist eines der wenigen Gebiete, auf denen die Wertediskussion kein Zurückweichen zuläßt: Die Menschenrechte gelten universell und sind unveräußerlich.
In diesem kurzen Beitrag, liebe Kolleginnen und Kollegen, konnte ich natürlich nicht alle Fragen des Asien-Konzepts ansprechen. Das soll in den Ausschüssen geschehen. Aber es versteht sich von selbst: Wer von der Bundesregierung einen intensiven Dialog mit den asiatisch-pazifischen Staaten verlangt, muß ihn auch mit den Kollegen dieses Hauses führen. Wir bieten ihn an. Wir sollten versuchen, dem Asien-Konzept der Bundesregierung unsere Vorstellungen hinzuzufügen, sorgfältig und mit dem langfristigen Ziel einer fairen Partnerschaft mit allen Staaten Asiens und des Pazifiks, den beiderseitigen Nutzen vor Augen.
Wir Sozialdemokraten wollen unseren Beitrag dazu leisten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
16894 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Willy Wimmer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Asien-Konzept der Bundesregierung setzt Schwerpunkte, die aus der Sicht unserer Fraktion ausdrücklich begrüßt werden. Das macht auch unser gemeinsamer Antrag deutlich.
Erstens. Das Konzept ist ein ebenso notwendiger wie in der Summe der Überlegungen erfolgreicher Beitrag zu dem Bemühen, in allen wichtigen außenpolitischen Fragen einen nationalen Konsens für das geeinte Deutschland herbeizuführen. So verstehen wir auch Ihren Beitrag, Herr Kollege Neumann. Nur dieser nationale Konsens, den unsere Partner und Konkurrenten fast ausnahmslos aufweisen, sichert uns das Maß an Handlungsfähigkeit, ohne das wir weder kurz- noch langfristig auskommen werden.
Das Konzept steht auch als Zusammenfassung für die innenpolitische Diskussion, die im Schwerpunkt um die künftige Entwicklung des Weltwirtschaftsgipfels ebenso kreiste wie um die Frage der Entwicklung der Menschenrechte oder Fragen der Sicherheitsstrukturen auf dem indischen Subkontinent oder in Ostasien.
Zweitens. Das Konzept setzt deutliche Schwerpunkte nationalen Handelns und macht klar, welche Möglichkeiten und Verpflichtungen wir haben. Da wir im Sinne des Wohlergehens der Menschen in Deutschland dafür zu sorgen haben, daß durch den Export unserer Güter und die Einfuhr der benötigten Rohstoffe und von Halb- und Fertigfabrikaten Lohn und Brot im Lande selbst gesichert werden, nehmen wir die Herausforderung an, die uns zwischen Tokio und Canberra, Islamabad und Djakarta erwächst und schon erwachsen ist.
Drittens. Das Konzept macht aber auch deutlich, daß nicht ein Schwerpunkt alleine gesetzt wird. Wir wollen auf allen Feldern, von der Wirtschaft über die Kultur, von den Struktur- und Sicherheitsprinzipien des demokratischen Staates und bis zu der Hochtechnologie, die Herausforderung annehmen.
Wenn dabei hochrangige chinesische Gesprächspartner vernehmen ließen, an was sie denken und was in zahlreichen chinesischen Sonderzonen schon umgesetzt wird, sollte uns das nicht den Atem verschlagen. Der ungeheure wirtschaftliche Boom in China werfe, so heißt es, für das heutige staatliche und gesellschaftliche System über kurz oder lang schwerwiegende Fragen auf. Das werde auch dadurch beantwortet, daß im Anklang an unser deutsches staatliches und gesellschaftliches System sowohl das duale Ausbildungssystem als auch Strukturen nach Elementen aus dem deutschen öffentlichen Dienst eingeführt würden. Damit werde die für eine moderne Gesellschaft unerläßliche Trennung von Partei und Staat eingeleitet. Wer, so heißt es, die ungeheuren Probleme des chinesischen Staates in einer Zeit, in der sozialistische Staatsordnung mit urgebremstem Kapitalismus kollidiere, kenne, der wisse, was es bedeute, beginnend in Sonderwirtschaftszonen ein Sozialversicherungssystem und eine Rentenordnung, auch nach deutschem Vorbild einführen zu wollen.
Das muß man nun nicht nach dem Motto verstehen, wonach am deutschen Wesen die Welt genesen soll. Aber offenbar haben wir in Deutschland etwas im Angebot, was strukturell geeignet ist, den in aller Welt so notwendigen inneren Frieden und vor allem die soziale Befriedung mit herstellen zu helfen. Die Dimension eruptiver Gewalt bei nicht gelösten Fragen macht die Zahl der Opfer von 20 Millionen Menschen bei den Taiping-Unruhen in China im vergangenen Jahrhundert klar.
Viertens. Das Konzept macht aber auch deutlich, daß wir uns allein verheben, wenn wir es mit einer Großregion zu tun bekommen, die — wie eben schon mehrfach erwähnt — einen Großteil der Erdbevölkerung ebenso aufweist wie bedeutende Rohstoffvorkommen und einen immer mehr ansteigenden Anteil am Weltbruttosozialprodukt. Bei der Wahrnehmung eigener deutscher Interessen dürfte es sich hier um eine Aufgabe handeln, die gemeinsame europäische Überlegungen auch im Rahmen der außen- und sicherheitspolitischen Möglichkeiten der Europäischen Union sinnvoll erscheinen läßt.
Es mag ein Zufall gewesen sein, daß kurz nach der Rückkehr des Bundeskanzlers aus China und Rußland der britische Prämierminister Major zu Konsultationen in Bonn weilte. Wir sind mit den Briten und anderen im Europateam, und nicht nur wegen Hongkong, sondern auch wegen der Möglichkeiten der britischen Wirtschaft. In einem boomenden chinesischen Markt dürfte ein guter Meinungsaustausch zwischen Freunden mehr als Sinn machen.
Fünftens. Diese gemeinsame europäische Arbeit — und darauf hat der Außenminister hingewiesen —, sich der Herausforderung zu stellen, den Ball aufzunehmen und in die Belange der europäischen Großregionen einzubringen, hat in bezug auf Asien Tradition. Es war ein deutscher und europäischer Vorstoß, der der Zusammenarbeit der ASEAN-Staaten Rükkenwind verschaffte. Die Zusammenarbeit gerade zwischen diesen Staaten hat eine besondere Qualität dadurch erhalten, daß seit 1991 offen auch sicherheitspolitische Fragen behandelt werden. In der Alternative zu amerikanischen Überlegungen, die gerade in dieser Region das Prinzip bilateraler Übereinkommen in den Vordergrund zu rücken scheinen, wurde in ASEAN erstmals in Asien und auch mit europäischem Rückenwind ein multilateraler Ansatz gewählt, und zwar einer, der heute Erfolg hat.
— Das sind Initiativen aus unseren Reihen.
Aber nicht nur ASEAN mausert sich, ökonomisch, sicherheitspolitisch, regionalpolitisch. Bei allen ethnischen und religiös bestimmten Schwierigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten können wir feststellen, daß zwischen Bangladesh, Indien, Pakistan und Iran über SAARC versucht wird, jene Form wirtschaftlicher Zusammenarbeit zu entwickeln, wie sie am Anfang der westeuropäischen Wohlstandsentwicklung auch stand. Und es ist zu begrüßen, daß vor wenigen Tagen
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993 16895
Willy Wimmer
Indien und Pakistan ein erstes Treffen ihrer Außenminister — nach langer Zeit — ankündigten, wobei auch über die mit Kaschmir verbundenen schwerwiegenden Fragen gesprochen werden soll.
Kaschmir — Herr Kollege Neumann, da sind wir uns einig — und andere Beispielfälle wie Tiananmen oder Tibet werfen schwerwiegende Fragen nicht nur für uns auf. Machen wir unsere Haltung und unser Einstehen für Menschenrechte etwa von der Größenordnung der Staaten, in denen gegen die Regeln des menschlichen und zwischenstaatlichen Zusammenlebens verstoßen wird, abhängig?
Sind wir uns darüber im klaren, daß unser Eintreten für elementare Menschenrechte kein Eingriff in behauptete innere Angelegenheiten ist? Dieses Eintreten in unserem Verständnis ist vielmehr eine Voraussetzung dafür, wegen der innenpolitischen Auswirkung bei uns, überhaupt kooperationsfähig zu sein, und zwar in der ganzen Breite von Beziehungen. Denn der Bürger ist bei uns der Souverän, und er hat ein gutes Gespür dafür, mit wem man sich politisch einläßt.
Auch die KSZE entfaltet Signalwirkung. Wie anders ist die Initiative des Kasachischen Staatspräsidenten Nazebajew zu werten, eine KSZA auf die Beine zu bringen. Kasachstan, Mitgliedstaat der KSZE und uns damit eng verbunden, legt schon die Finger in die Wunde.
Können Sicherheit und Stabilität in Asien weiterentwickelt werden, in einem Raum, der nicht wie bei uns von den Spätfolgen Jaltas oder Trianons bestimmt ist, sondern von dem, was im vergangenen Jahrhundert als der Raum bezeichnet wurde, in dem nach dem Buchtitel das „große Spiel" gespielt wurde oder die ungleichen Verträge geschlossen wurden?
Vielleicht zeichnet sich auch da manche Fragestellung ab, wenn wir über die Ausdehnung von Organisationen wie NATO und anderen sprechen und danach fragen, wer dazugehören sollte, fragen aber auch danach, wie die heutige Sicherheitsstruktur in Ostasien aussehen soll, mit einem Nordkorea, das für alles gut zu sein scheint, mit einem China, das sich zwar zahlenmäßig militärisch zurückhält, aber ganz schön flott militärisch modernisiert und nicht nur modernste russische Jäger gegen Büchsenfleisch eintauscht, sondern bis ins unmittelbare europäische Vorfeld rüstungsexportmäßig manche Frage aufwirft und mit Nukleartests in Lop Nor auch kasachische Bürger deutscher Herkunft aktuell gefährdet, mit einem China, das in seinen westlichen Provinzen mit den Fragen konfrontiert ist, die weit über das hinausreichen, was in Zentralasien über die grüne Fahne des Propheten auch bewirkt werden kann, mit einem Japan, uns engstens und freundschaftlich verbunden, das seine Sicherheit und die seiner Seewege gerade und in erster Linie dem Bündnis mit den USA zu verdanken hat, und den USA, die unter Präsident Clinton an eine Justierung ihrer Kräfte denken, um eine gefährliche Überdehnung ihrer Gesellschaft zu vermeiden.
Die Sicherheit auf dem Globus, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist unteilbar, und dies wird uns zunehmend bewußt. Auch auf dem Weg über Asien kommen wir den nordamerikanischen Interessen näher und damit den Konsequenzen, die wir uns auf Dauer, und nicht nur historisch bedingt, zu überlegen haben.
So ist es nach dem APEC-Gipfel in Seattle doch nur natürlich, nach dem Einfluß der Europäischen Union auf die transpazifische Zusammenarbeit zu fragen. Sind die USA und Kanada nicht genauso wie wir daran interessiert, den gesicherten Zugang zur Gegenküste zu haben, und können Sie es sich überhaupt leisten, ernsthaft Abschied von Europa, auch auf dem Weg über Asien, zu nehmen?
Meine sehr geehrten Damen und Herren, und das ist Punkt Nummer sechs, das Asien-Konzept der Bundesregierung steht für einen klaren und unmißverständlichen Grundsatz. Unser Interesse besteht darin, überall auf der Welt im Sinne des beiderseitigen Vorteils präsent zu sein und zu bleiben, und diese Präsenz gleichberechtigt ausbauen zu können. Das gilt auch für Gebiete, die, wie Hongkong, völkerrechtlichen Veränderungen unterworfen sind.
Kulturell gibt es für diese Präsenz glänzende Beispiele. So können weite Teile der chinesischen Geschichte für die westliche Welt ohne das verdienstvolle Wirken der Kaiser-Wilhelm-Institute nicht erklärt werden, und vielleicht sieht Berlin hier auch wieder einen Schwerpunkt für die Zukunft. Leider hat man allerdings zu oft den Eindruck, daß wir über Literatur und Musik, das Rechtswesen und die Geschichte Japan, Korea, Indonesien und Indien näher sind als sie uns. Das muß sich ändern, und hier setzt die Regierung aus gutem Grund an.
Aber das gilt auch für unsere Beziehungen zu Taiwan. Wir sollen und müssen Schritt halten mit der Dynamik zumindest der menschlichen, kulturellen, ökonomischen, technologischen und sonstigen Beziehungen zwischen Taipeh und Peking, Shanghai, Kanton und anderen Metropolen Chinas.
Wenn in wenigen Wochen in Peking ein Taiwan-Plaza eröffnet wird, kann die Qualität unserer Beziehungen zu Taipeh nicht denen zwischen Peking und Taipeh hinterherhinken.
Wir müssen in Peking und Taipeh bestens vertreten sein.
Die Bundesregierung bleibt gut beraten, den Status der Vertretungen in Peking und Taipeh bei aller Qualitätsverbesserung an bewährten Prinzipien auszurichten.
Herr Abgeordneter Wimmer, sind Sie bereit, eine Frage zu beantworten?
Aber sicher.
Herr Kollege Wimmer, ist Ihnen bekannt — Sie sprachen von den
16896 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993
Klaus Bühler
Beziehungen sowohl zu Taipeh als auch zu Peking —, daß unsere deutsche Vertretung, das deutsche Wirtschaftsbüro, in Taipeh im Augenblick mit drei deutschen Mitarbeitern besetzt ist, die nicht aus Ministerien der Bundesrepublik kommen? Dagegen ist die französische Vertretung in Taipeh mit 18 Mitarbeitern besetzt, die alle aus französischen Ministerien dorthin abgeordnet worden sind, und die Vertretung gleichzeitig strukturiert und aufgebaut ist wie eine Botschaft. Glauben Sie, daß wir da einen gewissen Nachholbedarf haben? Glauben Sie, daß eine bessere Vertretung auch für unsere wirtschaftlichen Interessen von Vorteil wäre?
Herr Kollege Bühler, es ist selbstverständlich, daß mir das bekannt ist. Ich gehe davon aus, daß die Bundesregierung auch nach dem Antrag unserer Fraktion bereit und in der Lage ist, die europäischen Erfahrungen im Zusammenhang mit den Vertretungen in Taipeh in ihre Überlegungen einzubeziehen. Es wäre in jedem Fall zu wünschen und zu hoffen.
Auch der Abgeordnete Lowack möchte gern eine Zwischenfrage stellen, wenn Sie damit einverstanden sind.
Ja.
Bitte schön, Herr Abgeordneter Lowack.
Kollege Wimmer, sind Sie bereit, zusammen mit anderen aus dem Parlament zusammenzuarbeiten, damit diese unglaubliche Diffamierung, die die Vertreter Taiwans hier in Deutschland erleiden müssen — daß sie fast als Menschen zweiter Klasse behandelt werden, mit denen man vom Auswärtigen Amt her überhaupt nicht schriftlich korrespondiert, sondern nur mit sogenannten Memos, daß man sie nicht nur nicht wie Diplomaten, sondern tatsächlich wie Menschen zweiter Klasse behandelt, die das nicht verdient haben —, beendet wird?
Herr Kollege Lowack, Sie werden verstehen, daß es in der Beurteilung von Tatbeständen Unterschiede in der Qualifizierung gibt. Deswegen schließe ich mich Ihren Wertungen natürlich nicht an. Aber in der Sache ist es so, daß die Beziehungen in bestimmter Weise dadurch charakterisiert sind, daß sie einen anderen Status haben als den, den wir normalerweise unter diplomatischen Gesichtspunkten sehen. Dann gibt es gewisse Dinge, die jede Regierung berücksichtigen muß und nach ihren Interessen unter Umständen weiterentwikkein kann. Ich bin in diesem Zusammenhang guter Hoffnung, daß die Bundesregierung hier alle Möglichkeiten nutzt.
Wir wissen beide aus gemeinsamen Erfahrungen, daß sich hier wesentliche Verbesserungen ergeben haben und daß hier ein guter Weg eingeschlagen wird, bei aller Unterschiedlichkeit in der Qualität von Beziehungen und der Art, wie sie sich ausdrücken, dennoch sicherzustellen, daß unseren Interessen Rechnung getragen wird.
Da wir, wie auch Sie gehört haben, nicht nur den Hochgeschwindigkeitszug in Taipeh auf Taiwan verkaufen wollen, sondern noch andere Dinge, gehe ich davon aus, daß wir alle Möglichkeiten nutzen, unsere Interessen auch da zu Gehör zu bringen.
Nun hat noch der Abgeordnete Niggemeier den Wunsch, eine Zwischenfrage zu stellen. Ich möchte aber darauf aufmerksam machen, daß ich weitere Fragen dann nicht mehr zulassen werde. — Bitte schön, Herr Abgeordneter.
Kollege Wimmer, Sie haben gerade die Möglichkeit des Verkaufs des ICE an Taiwan erwähnt. Ist Ihnen bekannt, daß die französische Gesellschaft, die den TGV herstellt, seit einiger Zeit in den chinesischen Zeitungen halbseitige Anzeigen veröffentlicht, die z. B. folgenden Wortlaut haben:
Jetzt: Taipeh-Paris im Nonstopflug in 14 Stunden und 30 Minuten. Demnächst: Taipeh-Kaohsiung nonstop mit TGV in einer Stunde und 30 Minuten.
Meinen Sie nicht auch, daß hier schon ein großes Stück französischer Vorarbeit geleistet wurde, um den ICE wie in Südkorea wieder einmal aus dem Rennen zu werfen?
Herr Abgeordneter Niggemeier, ich nehme an, Sie erwarten eine Antwort. Dann wollen wir die Formen wahren. — Danke schön.
Herr Kollege Niggemeier, offensichtlich anders als Sie spreche ich nicht Chinesisch, noch kann ich es lesen. Daher gehe ich davon aus, daß Sie mir ähnliche Texte auch in Zukunft zustellen werden.
Zwischen dem, was man in der Presse veröffentlicht, und dem, was schließlich unter dem Strich herauskommt, ist oft ein großer Unterschied; genau in diese Richtung wollen wir tätig werden.
Meine Damen und Herren, ich darf den siebten Schwerpunkt dieses Konzeptes ansprechen. Das Asien-Konzept der Bundesregierung weist noch in eine andere Richtung. Die Welt wartet nicht darauf, daß wir die Folgen der Wiedervereinigung in den Griff bekommen haben, bevor sie klare Herausforderungen an uns stellt. Mit ihrem Konzept hat die Bundesregierung hier ein deutliches Signal gesetzt: Das wiedervereinigte Deutschland macht sich fit für die Welt.
Wir teilen unsere Erfahrungen in Sachen staatlicher Einheit auch mit dem befreundeten koreanischen Staat, aber wir wissen ebenfalls, daß unsere Erkenntnisse über die Welt, wenn wir es gut verstehen, notwendigerweise größer sein müssen als unsere Möglichkeiten, alle damit verbundenen Fragen zu lösen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993 16897
Willy Wimmer
Vielleicht haben hier gerade die Beispiele Kambodscha und Somalia deutlich gemacht, worauf manches auf Dauer hinauslaufen wird. Für manche Fragen, die sich heute in Deutschland stellen, war Kambodscha das Lehrstück, weil hier eine kluge und vor allem australische Politik vorher den Rahmen abgesteckt hatte. Was Somalia in diesem Zusammenhang für die deutsche Politik letztlich bedeutet, wird noch aufzuarbeiten sein.
Man kann es vielleicht auch anders sagen: selbstbewußt, aber bescheiden. Wer fit sein will für die Welt, muß ein gutes Bild abgeben und sein wiedervereinigtes Haus in Ordnung bringen. Unter keinem anderen Vorzeichen steht die Politik der Bundesregierung. So kann man nur wünschen, daß diesem Konzept für die deutsche Asienpolitik in sich abgerundete Konzepte für jene Teile der Welt folgen, bei denen wir Nachholbedarf haben.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Klaus Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Nach den außen-, sicherheits- und kulturpolitischen Betrachtungen, die wir gehört haben, erlaube ich mir nun einmal, einige wirtschaftspolitische Aspekte des Problems aufzuzeigen.
Der asiatisch-pazifische Raum ist, wie wir wissen, ein Wachstumspool der Weltwirtschaft. Neben Japan sind Korea, Taiwan, China und Hongkong Zentren dieser dynamischen Wachstumsregion; aber auch Länder wie Vietnam und Indonesien zeigen ein außergewöhnliches Potential. Ich finde es richtig, daß Herr Kollege Neumann eben darauf hingewiesen hat. Im Asien-Pazifik-Raum liegen aber nicht nur expandierende Absatzmärkte. Zunehmend sehen sich die etablierten Industriestaaten mit potenten Wettbewerbern konfrontiert, die auch im Hochtechnologiebereich auf den Weltmarkt drängen. Ich darf hier z. B. an den Maschinenbau erinnern, dem das große Schwierigkeiten bereitet.
Das Potential liegt in den niedrigen Lohnkosten, den geringen staatlichen Abgaben, den weniger zahlreichen staatlichen Auflagen und Regulierungen sowie auch in der größeren Technikoffenheit der Bevölkerung. Aber das ist es nicht allein. Spürbar wird auch die zunehmend gute Qualifikation der Arbeitskräfte, deren Motivation und eine hervorragende Organisation der Arbeit. Mit der „lean production" der Japaner z. B. sind die westlichen Unternehmen, insbesondere in der Automobilindustrie und ihren Zulieferern, unter hohen Druck gesetzt worden.
Deutschland hat diese Herausforderung bisher nur teilweise angenommen. Unsere Exporte sind mit 70 % weitgehend auf Europa konzentriert, und sie werden zunehmend zu inländischen Warenströmen. Nicht zuletzt hängt ja unsere aktuelle wirtschaftliche Krise damit zusammen, daß sich unsere traditionellen Handelspartner selbst in einer Krise befinden. Dagegen sind wir auf den weiter entfernten Märkten zu schwach engagiert. Die Orientierung auf Europa und die USA muß aufgebrochen werden. Nutzen wir also jetzt die Chancen auf dem expandierenden Weltmarkt, wie sie in Südostasien, aber auch z. B. in Lateinamerika, das ein bißchen in den Hintergrund gedrängt wird, vorhanden sind!
Die Exportnation Deutschland, meine Damen und Herren, muß auf Zukunftsmärkten präsent sein,
wenn sie den Anspruch, eine der leistungsfähigsten Volkswirtschaften der Welt zu sein, auf Dauer aufrechterhalten will. Ich warne vor allen Dingen davor, Asien nur als Absatzmarkt zu betrachten.
Hier liegt auch die Chance, durch Kooperation und Zusammenarbeit die wechselseitigen Vorteile der Standorte zu nutzen. Die USA haben das erkannt. Sie konnten mit einer APEC-Konferenz sogar Europa drohen. Täuschen wir uns nicht: Dies war eine Aktion, um der Europäischen Union, und zwar nach Verabschiedung des NAFTA, vorzuführen, was passiert, wenn ein GATT-Abschluß nicht zustande kommt. Hier dürfen wir den USA nicht die Initiative überlassen.
Ich will nebenbei, vielleicht nicht ganz nebensächlich, bemerken, daß das Interesse der asiatischen Staaten, neben den USA und Japan auch mit Deutschland im Geschäft zu bleiben, aus vielerlei Gründen erklärbar ist. Lassen Sie uns diese Intentionen aufnehmen!
Um einen Bilateralismus in Handelsbeziehungen zu verhindern, sind zwei Dinge wichtig: der erfolgreiche Abschluß der GATT-Runde und die weltweite Teilnahme Europas am Welthandel. Deutschland darf nicht nur Japan und den USA die Gelegenheit überlassen, aus der internationalen Arbeitsteilung mit Asien Vorteile zu ziehen. Die expandierenden Volkswirtschaften im asiatisch-pazifischen Raum stellen Deutschland vor eine doppelte Herausforderung.
Zum einen gilt es die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland zu verbessern. Hierzu hat die Bundesregierung einen Bericht vorgelegt. Die zweite Herausforderung für Deutschland liegt in einem verstärkten Engagement in Asien selbst.
Die deutsche Wirtschaft hat gerade jetzt große Chancen, ihr Engagement dort zu verstärken. Ich denke, daß die Reise des Außenministers und die Reise des Wirtschaftsministers eine hervorragende Vorarbeit für die kürzlich erfolgte Reise des Bundeskanzlers nach China gewesen sind.
Die Veränderungen in der Welt haben Japan nicht unberührt gelassen. Mit dem neuen Ministerpräsidenten der neuen Regierung gibt es eine Chance auf politische Reformen. Liberalisierung und Deregulierung können jetzt auch dort in Angriff genommen werden. So muß die deutsche Wirtschaft intensiver als je zuvor ihre Möglichkeiten prüfen, wie sie die Wirtschaftsbeziehungen zu Japan intensivieren kann.
16898 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993
Klaus Beckmann
Es zeigt sich auch, daß sich die Zusammenarbeit zwischen Taiwan und China zunehmend pragmatisch gestaltet. Wir sollten nicht dogmatischer als diese Staaten selbst sein.
Deutschland sollte bereit sein, seine Kontakte zu Taiwan unterhalb der Schwelle völkerrechtlicher Beziehungen zu pflegen und weiter auszubauen. Die Geschäftsbeziehungen zu Taiwan müssen weiter entwickelt werden. Eine Fixierung des deutschen Engagements auf China allerdings vergibt die Gelegenheit, gleichgewichtige Beziehungen zur gesamten Region zu pflegen.
Gestatten Sie mir abschließend noch eine Berner-kung. Rückgrat der deutschen Wirtschaft ist bekanntlich der Mittelstand. Seine Dynamik, seine kurzen Entscheidungswege und seine Risikobereitschaft sollten verstärkt genutzt werden, um die Beziehungen zum asiatischen Raum aufzubauen. Bedenklich stimmt es deshalb, wenn auf der Kanzlerreise nach China so gut wie kein Mittelständler vertreten war.
— Herr Kollege Rüttgers, die Auswahl der Teilnehmer lag ausschließlich beim Bundeskanzleramt.
Der Aufbau von Handelsbeziehungen nur über die Großindustrie führt zwar dazu, daß sich die Ergebnisse leicht in Milliardenbeträgen widerspiegeln.
Hoffentlich werden die verkündeten Erfolge auch alle realisiert. Dauerhaft — und wahrscheinlich auch billiger für den Steuerzahler — wäre es, den Mittelstand beim Aufbau der Handelsbeziehungen einzubeziehen.
Bei allem Verständnis: Herr Abgeordneter, Sie überschreiten deutlich Ihre Redezeit.
Wir, Herr Präsident, sind gerne bereit, die Bundesregierung bei ihren Intentionen zu unterstützen. Wir werden das insbesondere hinsichtlich ihrer Asienpolitik tun.
Herzlichen Dank.
Ich erteile der Abgeordneten Dr. Ursula Fischer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der asiatische Raum, in dem über die Hälfte der Weltbevölkerung wohnt, der über enorme natürliche Ressourcen verfügt und der eine weit in die Vergangenheit reichende kulturhistorische Tradition besitzt, wird von der christlichliberalen Elite dieses Landes in erster Linie als zukunftsträchtiger prosperierender Wirtschaftsraum und als Absatzmarkt betrachtet, den es gilt, wie der Bundeskanzler am 26. Oktober feststellte, „noch weiter für unser Land zu erschließen".
Meine Damen und Herren, wir sind selbstverständlich dafür, daß die Kontinente und die dort vorhandenen Märkte erschlossen werden. Wir sind dafür, daß im Ergebnis dieser Erschließung wahrhaft partnerschaftliche Beziehungen von gegenseitigem Nutzen entwickelt werden. Wir sind auch dafür, daß das euroasiatische Beziehungsgeflecht sich zu stabilen Eckpfeilern von Frieden, Fortschritt und Stabilität im Interesse von Bewohnern der asiatisch-pazifischen Region und Europäern gestaltet.
Aber, meine Damen und Herren, wir sind überzeugt, daß das konzeptionelle Herangehen der Bundesregierung an die marktwirtschaftliche Erschließung der einzelnen Weltregionen für Deutschland falsch ist. Ist es nicht höchste Zeit, sich über ein Standortkonzept unserer Welt zu verständigen? Es muß ökonomisch, sozial, ökologisch und sicherheitspolitisch verträglich sein. Es darf sich nicht in Umverteilungskämpfen zwischen dem Kapital der mächtigsten Wirtschaftszentren erschöpfen.
Ein solches Konzept müßte global angelegt sein und eine vernünftige Erschließung unseres Planeten im Interesse aller Erdenbürgerinnen und Erdenbürger erfolgen. Ein neues, völlig anderes, d. h. globales Herangehen ist erforderlich. Das aber setzt voraus, daß wir alle bereit sind, Entscheidungen über parlamentarische Legislaturperioden hinaus für die Zukunft unserer Kinder und Kindeskinder zu treffen. Nicht kurzzeitige Konkurrenzvorteile für Deutschland sollten unser Denken und Handeln bestimmen, sondern unsere globale Verantwortung für unseren Planeten, den wir dabei sind, übrigens auch ohne Kriege zu vernichten. Gelingt uns dieses heute fast utopisch anmutende Herangehen, dann lassen sich auch Probleme der Zusammenarbeit zwischen Regionen und Kontinenten wesentlich besser lösen.
Meine Damen und Herren, der Antrag der Koalitionsparteien vom 22. Oktober und das Konzept des BMZ vom Juli dieses Jahres enthalten bereits wichtige Orientierungen. Dem Asienkonzept der Bundesregierung kann man meines Erachtens zunächst eine gewisse strategische Dimension nicht absprechen. Die Bundesregierung muß sich in ihrer tatsächlichen Politik heute und in Zukunft schon an diesem Konzept messen lassen. Doch bereits jetzt tut sich eine große Kluft auf zwischen der Unterrichtung durch die Bundesregierung und ihrem pragmatischen Vorgehen, das ausschließlich darin besteht, den Wirtschaftsstandort Deutschland, die Zukunftssicherung für Deutschland im harten Konkurrenzkampf gegen die USA, Japan und die übrigen Länder der asiatischpazifischen Region durchzusetzen.
Damit geht es ihr um nichts anderes als die Verbesserung der Verwertungsbedingungen für das deutsche Kapital. Das primäre Anliegen des Kapitals — das zeigen die Auseinandersetzungen in Deutschland selbst, die vorliegenden Konzepte und die kürzlichen Reisen in die asiatisch-pazifische Region — sind nicht die soziale Sicherheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hierzulande, nicht die Bekämpfung von Armut in Deutschland und in Asien und nicht die Lösung globaler Probleme.
Die Asiatisch-Pazifische Wirtschaftsgemeinschaft mit über 30 % Anteil am Welthandel und mehr
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993 16899
Dr. Ursula Fischer
als 50 % Anteil am Weltsozialprodukt macht diese Region außerordentlich attraktiv für das Kapital. Der asiatische Kontinent hat sich zur ökonomisch dynamischsten Weltregion entwickelt. Während 1960 dort nur 4 % des Weltsozialproduktes erzeugt wurden, sind es heute schon 25 %. Alle Prognosen deuten darauf hin, daß die Wachstumsraten auch in Zukunft überdurchschnittlich sein werden. Die Gewinnchancen für das Kapital sind trächtig. Sie will man um jeden Preis nutzen.
Meine Damen und Herren, wie die bisherigen Erfahrungen zeigen, muß befürchtet werden, daß zahlreiche konzeptionelle, über den Wirtschaftsstandort Deutschland hinausgehende Absichtserklärungen dieser Regierung auf der Konkurrenzstrecke bleiben — so der Ausbau partnerschaftlicher Beziehungen, die sich, wie im Antrag der Regierungsparteien festgestellt wird, am gegenseitigen Nutzen orientieren sollen; so die Absichtserklärung der Bundesregierung: „Eine ,Festung Europa', die den Deutschen und den EG-Markt von der zunehmenden Konkurrenz der AP-Länder abschottet, darf es nicht geben"; so die Bekämpfung von Armut und das übergreifende Ziel der Entwicklungszusammenarbeit, das auf die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Menschen in der asiatisch-pazifischen Region gerichtet sein soll; so nicht zuletzt die sicherheitspolitischen Absichten.
Die PDS/Linke Liste befürwortet die allseitige Entwicklung der bilateralen und multilateralen Zusammenarbeit mit Ländern der asiatisch-pazifischen Region. Sie teilt ausdrücklich die Auffassung all jener, die die Lösung globaler Aufgaben der Friedenssicherung, einer menschenwürdigen Entwicklung, der Erhaltung und Regenerierung unserer Umwelt nur mit Regierungen und gesellschaftlichen Kräften der asiatisch-pazifischen Region erreichen wollen, nicht aber ohne und schon gar nicht gegen sie.
Das Bestreben der Bundesregierung, die Lösung globaler Fragen mit dem herkömmlichen Politikansatz bewältigen zu wollen, wird scheitern müssen. Solange freie marktwirtschaftliche Mechanismen zur Anwendung gebracht werden, sind wahrhaft partnerschaftliche Beziehungen von gegenseitigem Nutzen zwischen wirtschaftlich ungleichen Partnern nicht möglich. Der ökonomisch stärkere und effizientere wird auch der dominierende, die Beziehungen bestimmende Partner sein. Sein Nutzen wird kraft dieser Mechanismen größer sein. Gleichberechtigung und Solidarität wären aber vonnöten, um partnerschaftliche Beziehungen aufbauen zu können.
Meine Damen und Herren, den großchinesischen Wirtschaftsraum, China, Taiwan und Hongkong, zählt die Bundesregierung zu unserem wichtigsten Partner. Auch die heutige Debatte zeigt, daß die diesbezügliche Politik der Bundesregierung angesichts der Ereignisse 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens nicht unumstritten ist. Wir sind für den umfassenden Ausbau der deutsch-chinesischen Beziehungen. Das heißt aber keineswegs, daß wir damit das gewaltsame Vorgehen der dortigen Behörden gegen Oppositionelle sanktionieren. Sowohl die Ereignisse von damals als auch die Menschenrechtsverletzungen heute in China und wo immer sie vorkommen, werden von der PDS/Linke Liste verurteilt. Das ist für uns jedoch kein Grund, die Beziehungen zwischen Deutschland und China einzufrieren; denn:
Erstens: China ist sich der Brisanz der Menschenrechtsproblematik bewußt und stellt sich neuerdings dem Dialog um Menschenrechte.
Zweitens: China hat seit seiner Gründung grundlegende Menschenrechte wie nur wenige Länder in Asien verwirklicht, so das Recht auf Leben, auf Bildung und auf Gesundheitsschutz. Das ist aber die Grundvoraussetzung, um individuelle Menschenrechte überhaupt einfordern und verwirklichen zu können.
Drittens: Wer über ein Fünftel der Menschheit bestrafen und isolieren will, läuft Gefahr, das Gegenteil von dem zu erreichen, was er vorgibt, erreichen zu wollen.
Viertens: Wer sich einem Dialog und einer Zusammenarbeit mit China verweigert, der schürt Spannungen, die Frieden und Sicherheit weltweit gefährden.
Wer aber dieser Logik folgt, muß sich dann allerdings vorwerfen lassen, daß er im Falle der faktischen Blockadepolitik gegenüber Kuba eine doppelzüngige Politik betreibt. Das lehnen wir ab. Das, was für China zutrifft, darf Kuba gegenüber, nur weil es keine Großmacht ist, nicht verweigert werden.
Meine Damen und Herren, nahezu anderthalb Milliarden Menschen leben allein in Süd- und Südostasien. Dort sind auch die meisten armen Menschen der Erde konzentriert. Die Bundesregierung setzt auf eine noch stärkere regionale Kooperation zwischen EG und ASEAN und auf die Aufnahme von Beziehungen zwischen EG und APEC. Die Regierungsparteien begrüßen ihrerseits die Zusammenarbeit in Südasien im Rahmen der SAARC. Die PDS/Linke Liste ist der Meinung, daß die EG durch eine Zusammenarbeit mit dieser Wirtschaftsvereinigung in Südasien zur Bekämpfung der Armut in dieser Region beitragen sollte.
Anläßlich der heutigen Debatte möchten wir darauf aufmerksam machen, daß Rußland zwar eine europäische Macht ist, daß es sich aber ebenso auf große Gebiete Asiens ausdehnt und auf diesem Kontinent über enorme Potenzen und Einfluß verfügt. Dem werden die vorliegenden Konzeptionen allerdings nicht gerecht.
Die PDS/Linke Liste ist auch der Auffassung, daß die konzeptionellen Vorstellungen über die künftige Gestaltung der Beziehungen zu Indochina und speziell zu Vietnam völlig unterbelichtet bleiben. Auffällig ist generell, daß Länder Asiens, in denen die Armut besonders gravierend ausgeprägt ist, mehr oder weniger ausgeblendet sind, so z. B. Laos, Kambodscha, Vietnam, Afghanistan, Nepal, Bangladesh, Burma, Mongolei und andere. Sie spielen lediglich im Rahmen der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit eine Rolle. Armutsbekämpfung ist aber eine globale Aufgabe und muß eine Querschnittsaufgabe der Gesamtpolitik der Bundesregierung werden.
Wir fordern die Bundesregierung auf, eine Asienpolitik zu betreiben, die zur Entwicklung und zur
16900 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993
Dr. Ursula Fischer
Befriedigung der Grundbedürfnisse der Menschen in den sogenannten Entwicklungsländern dieser Region beiträgt. Diese Länder dürfen nicht länger nur als Absatzmärkte für deutsche Produkte und als Billiglohnländer behandelt werden. Die wissenschaftlichtechnische Zusammenarbeit mit ihnen muß dort wissenschaftlich-technischen Fortschritt befördern helfen.
Die Asienpolitik der Bundesregierung sollte im Sinne der sicherheitspolitischen Orientierung dazu beitragen, Konfrontation abbauen zu helfen und gleichberechtigte Kooperation anzubieten. Das trifft auch auf die koreanische Halbinsel zu. Dabei wäre zweifellos hilfreich, wenn die NATO-Staaten ihrerseits substantielle Abrüstungsschritte gingen und ihre Rüstungsausgaben drastisch reduzierten. In diesem Zusammenhang lehnt die PDS/Linke Liste jegliche — ich zitiere aus der Unterrichtung der Bundesregierung — „militärische Ausbildungshilfe und Unterstützung" ab.
Mit unserem Entschließungsantrag möchten wir auf die Versäumnisse der Bundesregierung in Konzeption und Politik gegenüber Asien und dem Pazifik aufmerksam machen. Wir bitten um eine sachliche Diskussion in den Ausschüssen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Hans Klein das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Debatte findet genau zum richtigen Zeitpunkt statt. Auf dem amerikanischen Kontinent wurde NAFTA ins Leben gerufen. Der Zusammenschluß zwischen Kanada, USA und Mexiko beginnt Wirklichkeit zu werden. Im Pazifischen Becken haben wir es mit dem bedeutendsten Wachstumsraum dieser Welt zu tun. Und die europäische Rezession läßt zumindest an den Stellen, die konjunkturell bedingt sind, nach. Mit den strukturell bedingten Erscheinungen werden wir uns noch eine Weile auseinanderzusetzen haben. Die stehen genau im Zusammenhang mit dem, worüber wir heute sprechen.
Nun ist es in diesem Hohen Hause leider nicht mehr sehr üblich, daß ein so wichtiges übergreifendes Thema von Kollegen aller möglichen Bereiche gemeinsam behandelt wird. Es sind immer nur die Spezialisten da, die quasi unter sich reden.
Wobei ich volles Verständnis habe, daß der Außenminister einen anderen Termin wahrnehmen muß. Er hat hier alle Spezialisten seines Hauses versammelt, angeführt von Staatsminister Schäfer.
Aber wir sollten über das, was sich in Asien vollzieht — Frau Kollegin Fischer, ich will jetzt nicht die
Namen sämtlicher asiatischer Staaten noch einmal aufzählen; sagen wir: Asien —, wirklich einmal ernsthaft miteinander reden. Es gab heute eine ganze Reihe von entsprechenden Ansätzen in den Debatten.
Ich hatte fast den Eindruck, daß der Kollege Neumann und die Kollegin Fischer eher Mühe hatten, ein bißchen ideologisch unterfüttert Abweichungen von dem festzustellen, was im Grunde in diesem sehr umfassenden Papier der Bundesregierung festgelegt worden ist.
Wir sind uns auch darüber im klaren, daß wir Asien nicht allein sehen dürfen. Wenn wir über die Konsequenzen für unsere interne Situation sprechen, müssen wir selbstverständlich auch Lateinamerika im Blick haben und, wenn wir über Asien reden, nicht nur den chinesischen Wirtschaftsraum, wiewohl jetzt eine sehr erfolgreiche Reise des Bundeskanzlers dahin geführt hat. Er hat eine Weile davor eine Reise in andere wichtige asiatische Länder gemacht. Vor zwei Jahren hat er auch das deutsche und europäische Interesse an dem lateinamerikanischen Raum, der ebenfalls in eine Wachstumsphase gekommen ist, deutlich gemacht.
Darf ich jetzt einmal mit ein paar Sätzen bei China verweilen: Wenn wir auf diesen Raum schauen, müssen wir uns darüber klar sein, daß sich da längst ein quasi großchinesischer Wirtschaftsraum bildet, zum Teil schon gebildet hat. Deshalb ist die natürlich auch bei uns in der Fraktion stattfindende Auseinandersetzung Festland-China-Taiwan eigentlich etwas arg Überholtes.
Die autochtonen Taiwanesen, die ursprünglich eingewanderte Chinesen waren, haben in den letzten Monaten auch nach gewissen Wahlerfolgen von einer Unabhängigkeit Taiwans gesprochen. Jetzt hat sich eine hochinteressante unausgesprochene Allianz entwickelt. Die alte Kuo-min-tang und die Kommunisten auf dem Festland halten beide an der Ein-ChinaPolitik fest.
Die Annäherung ist so gewaltig — das ist heute schon gesagt worden —, vor allem auf dem wirtschaftlichen Sektor, daß wir, ergriffen wir für die falsche Seite Partei und stellten wir uns mit gewissen Maßnahmen — ich denke dabei vor allem an Rüstungslieferungen — gegen die Vereinigungsbestrebungen von beiden Seiten, die irgendwann, vielleicht in nicht so ferner Zukunft, kommen werden, zwischen sämtlichen Stühlen säßen.
— Die Franzosen haben es im Moment geschafft, sich etwas zwischen die Stühle zu setzen, was ich nicht begrüße, im Gegenteil, wiewohl das jetzt kurzfristig den einen oder anderen Vorteil für deutsche Konkurrenzunternehmen haben mag. Aber im Grunde genommen muß uns daran gelegen sein, daß alle unsere europäischen Partner in dieser Zusammenarbeit mit Asien gut im Geschäft bleiben.
Aber ich sprach von dem gemeinsamen chinesischen Wirtschaftsraum, zu dem selbstverständlich
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993 16901
Hans Klein
außer Taiwan vor allem Hongkong und Singapur gehören — das alles sind ja chinesische Staaten — und natürlich die Küstenprovinzen mit den Sonderwirtschaftszonen Pudong, Shenzhen, Zhuhai, Shanton, Xiamen. Sie entwickeln eine Kraft, von der wir bei unseren gegenwärtigen Wirtschaftszahlen nur träumen können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Thema Menschenrechte ist jetzt in jedem der Beiträge angesprochen worden. Der Kollege Neumann hat hin und her argumentiert. Er sprach von der notwendigen Anerkenntnis anderer Wertbegriffe, aber zugleich von den unveränderbaren westlichen Vorstellungen von Menschenrechten. Ich bin der Auffassung: Was international verbrieft ist, was auch die Unterschrift der entsprechenden Staaten trägt, ist von allen Län-dem zu beachten.
Wer das als Einmischung in innere Angelegenheiten zurückweist, verkennt die völkerrechtliche Substanz dieser Abmachungen.
Ich glaube, es war der Kollege Beckmann, der vorhin beklagt hat, daß viele in China gar nicht wissen, was die Menschenrechte seien, und daß man ihnen das erst beibringen müsse. Meine verehrten Damen und Herren, etwas wissen oder nicht wissen ist die eine Frage, aber etwas als wichtig empfinden ist eine andere. Wir sehen 1,2 Milliarden Menschen vor uns in China, deren erste Bedürfnisse Nahrung, Kleidung und Unterkunft heißen, die es für ein Menschenrecht halten, das zu bekommen. Und wir sehen eine Regierung, zu der wir stehen können, wie wir wollen, die sich bemüht, diese Bedürfnisse zu erfüllen. Ich wiederhole: Was international verbrieft ist, kann jederzeit und von jedem eingefordert werden. Aber wir müssen auch sehen, daß es Verantwortungen gibt, die vielleicht völlig anders gelagert sind, oder Dirnensionen, die wir uns überhaupt nicht vorstellen können.
Wir sprechen von Armutsbekämpfung. Frau Kollegin Fischer, Sie haben noch einmal das alte Vokabular bemüht — ich habe das aus Ihrer Begründung entnommen —, von „Verwertungsbedingungen für das Großkapital" und,
was noch schöner ist, von „planetaren Rahmenbedingungen" gesprochen.
— Das haben Sie nicht gesagt, aber es steht in der Begründung zu Ihrem Antrag. Nach meiner bescheidenen Bildung kommt das Wort „planetar" von „planos" und das heißt „irrend, umherschweifend".
Meine verehrten Damen und Herren, wir haben auch von der kulturellen Dimension gesprochen, aber im Grunde genommen wird dieses Wort immer nur so in den Mund genommen: Wir müssen auch kulturelle Beziehungen pflegen. Im Auswärtigen Amt ist die Rede davon, daß die Kulturpolitik — ich weiß jetzt nicht, welche Nummer sie im Augenblick hat — die dritte oder vierte Säule der Außenpolitik sei. Aber wenn es um die Inhalte geht, müssen wir uns darüber im klaren sein, daß wir es mit großen alten Kulturnationen in Asien zu tun haben. Beispielsweise in Japan beteiligen sich Hunderttausende von Menschen alljährlich an einem Gedichtwettbewerb, der nach alten Formen, die aus dem 16. und 17. Jahrhundert stammen, ausgetragen wird, wobei der Kaiser dann den Preis verleiht.
Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das in Deutschland wäre, wenn wir uns nach klassischen Gesichtspunkten an einem Gedichtwettbewerb beteiligen sollten.
Daß sich China seiner fast 4 000jährigen Geschichte bewußt ist und daß man dies auch an allen Ecken und Enden sieht, spürt und hört, ist eine Tatsache, über die wir nicht hinwegkommen, indem wir uns daran erinnern, daß wir einmal das Volk der Dichter und Denker waren. Wir müssen uns auch um unsere eigene kulturelle Statur kümmern.
Unsere Beziehungen mit Asien haben im Gegensatz zu vielen anderen Staaten mit dem Geist begonnen. Bei uns ist nicht der Handel der Flagge gefolgt bzw. die Flagge dem Handel, sondern bei uns sind sowohl Handel als auch Flagge dem Geist gefolgt.
Daran können wir anknüpfen. Friedrich Max Müller, nach dem die Goethe-Institute in Indien benannt werden, war der erste — glücklicherweise hat er in England gelehrt, und das Ganze hat sich in Englisch vollzogen —, der Sanskrit übertragen hat. Adam Schall von Bell, der Kölner Jesuitenmissionar, der in Peking gewirkt hat, der dort bis heute einen Namen hat, wurde vor 500 Jahren geboren. Die Chinesen wissen dies; in Deutschland wüßte es außer ein paar Mitgliedern der Adam-Schall-von-Bell-Gesellschaft niemand.
Wir werden jedenfalls so ernsthaft wie möglich über diese Fragen miteinander zu diskutieren haben, weil sie alle mit dem Standort Deutschland zusammenhängen. Im nächsten Jahr wird nicht derjenige prämiert werden, der den anderen besser beschimpfen kann, sondern derjenige, der die besseren Wege aufweist für Deutschland, aber auch für einen deutschen Beitrag zu einer europäischen Entwicklung in Zusammenarbeit mit dem Rest der Welt. Ich finde, da haben sowohl der Antrag der Koalitionsfraktionen als auch das Konzept der Bundesregierung bereits gute Vorlagen geschaffen.
Ich bedanke mich.
16902 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dieter Schanz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte als Entwicklungspolitiker aus dem Asien-Konzept der Bundesregierung zwei Absätze zitieren und darauf meine Rede aufbauen:
Globale Aufgaben der Friedenssicherung, einer menschenwürdigen Entwicklung, der Erhaltung und Regenerierung unserer Umwelt, werden nur mit den asiatisch-pazifischen Regierungen und gesellschaftlichen Gruppen, nicht ohne sie und schon gar nicht gegen sie erledigt werden können.
Bei aller positiver Entwicklungsdynamik bleibt die Armut in Asien groß, in Indien, weiten Teilen Chinas, in Bangladesh und anderen Ländern. In Asien leben die meisten Armen der Welt.
Meine Damen und Herren, ich freue mich, daß ich als Entwicklungspolitiker in dieser Debatte reden darf. Meine Freude ist getrübt hinsichtlich der geringen Präsenz hier. In den Reden mancher meiner Vorredner ist deutlich geworden, wie wichtig unser Verhältnis zu Asien ist; dem entspricht aber nicht die Anwesenheit hier in diesem Hohen Hause.
Ich hoffe allerdings, daß es Schule macht, daß zu einem solchen Thema Wirtschaftspolitik, Außenpolitik, Entwicklungspolitik und künftig vielleicht auch Umweltpolitik zu Wort kommen. Ich kann mir vorstellen, daß allein eine Verzahnung dieser Politikfelder nach vorn führen kann. Dies entspricht dem Ziel und dem Grundgedanken der Rio-Konferenz unter der Überschrift „Umwelt und Entwicklung".
Entwicklung ist mehr als Entwicklungspolitik. Zum Konzept selbst kann ich ganz freimütig erklären: Es ist richtig. Wenn ich etwas zu kritisieren habe, dann ist es der Umstand, daß es zu spät kommt. Es ist dennoch im Grundtenor über alle Fraktionsgrenzen hinweg eine ordentliche Arbeitsgrundlage. In den Ausschüssen werden wir nacharbeiten, konkretisieren und auch alternieren müssen. Es ist nach meiner Überzeugung und Vorstellung em Signal zur Überwindung des politischen und des ökonomischen Eurozentrismus. Ich habe es, wenn ich in den Ländern Südostasiens — für meine Fraktion oder für den Ausschuß — war, immer fast als peinlich empfunden, wenn man gefragt wurde: Wo bleibt ihr denn eigentlich, wo bleibt die deutsche Wirtschaft in dieser Region, wo bleibt die deutsche Politik, habt ihr nicht begriffen, was sich bei uns vollzieht? Es geht, meine Damen und Herren, auch um unsere Interessen. Außenpolitik, Wirtschaftspolitik und Umweltpolitik sind Interessenpolitik, beispielsweise im Bereich der Ökologie. Wenn meine Fraktion sagt, unser Wirtschafts- und Lebensmodell ist nicht übertragbar auf die Massen der Dritten Welt, dann ist das konsequent und richtig; aber es wird nur richtig, wenn wir den Staaten die Möglichkeit geben, so zu wirtschaften und zu leben, wie wir es nicht tun. Deshalb ist es vom Grundansatz richtig, in Kanton die
U-Bahn zu bauen. Das gleiche gilt für Schanghai, und das könnte auch für Vietnam von Bedeutung sein.
Kritisieren oder fragen möchte ich, ob es notwendig ist, das aus dem Entwicklungshilfeetat zu finanzieren. Es müßten andere Verzahnungsmöglichkeiten, andere Finanzierungsmöglichkeiten gegeb en werden. Es ist auch wichtig aus ökonomischer Sicht. Ich habe nichts dagegen, wenn unter der Überschrift dieser ökologischen Vernunft für uns, für unsere Wirtschaft Vorteile und für die Arbeitsmarktsituation Entlastung entstehen.
Es ist auch aus einem ganz anderen Grunde wichtig, wenn ich daran denke, wie Armut auch Fluchtursache bedeuten kann. Es macht ökonomisch und ökologisch keinen Sinn, die Massen zu uns kommen zu lassen, die in ihren Heimatländern nicht mehr überleben können. Wir können unsere Umwelt nicht weiter zementieren und können auch nicht weiter Arbeitsplätze teilen. Wer also von der Nichtübertragbarkeit unseres Lebensmodells spricht, muß konsequenterweise auch diese Politikmöglichkeiten eröffnen.
Kommen wir z. B. zu Vietnam. Ich halte es für unbedingt wichtig, Herr Entwicklungsminister und Herr Wirtschaftsminister, daß wir sehr schnell die Handelsbarrieren durchbrechen, damit die deutsche Wirtschaft und nicht nur der Entwicklungsminister in Vietnam tätig werden kann. Ich halte es für sehr wichtig, daß wir die Entschuldungsproblematik lösen und Wege finden, um schnell auch der mittelständischen Wirtschaft in Vietnam und anderswo die Marktchancen und Investitionschancen zu eröffnen. Das dient dem Volk, und das dient der deutschen Wirtschaft.
Ich halte es für sehr wichtig, daß wir sehr schnell in Kambodscha tätig werden; denn dort ist die Not am größten. Es ergeben sich auch Chancen nicht nur in China, nicht nur in Vietnam, nicht nur in Kambodscha, sondern auch in Indien und Bangladesch, mit deutscher Umwelttechnologie präsent zu sein, um den Menschen dort zu helfen, unserer Natur zu nützen und nicht nur bei dem Geschwätz zu bleiben, daß das Klima bedroht ist, und nichts zu tun.
Was die Menschenrechtsfrage betrifft, möchte ich daran erinnern, daß ich Vorrang den sozialen Menschenrechten einräume. Der Kollege Klein hat das mit anderen Worten zum Ausdruck gebracht. Priorität hat für mich: für den Menschen ein Dach über dem Kopf, Arbeit, Essen und Ausbildung.
Da bin ich bei der nächsten Frage, Herr Spranger. Es kann nicht wahr sein, daß ein Volk wie das von Vietnam dafür bestraft wird, daß es eine hohe Alphabetisierungsrate hat, und daß Entschuldungsfragen daran scheitern müssen. Ich denke, daß wir in den Ausschüssen darüber reden können, und ich bitte Sie, darüber nachzudenken, um diese Barriere auszuräumen.
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Frage des Abgeordneten Irmer zu beantworten?
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993 16903
Sehr gern, Herr Kollege Irmer.
Bitte
schön.
Herr Kollege, ich habe Sie hoffentlich nicht so verstanden, daß Sie hier einen Gegensatz zwischen den sozialen und den traditionellen Menschenrechten konstruieren wollen. Ich bin nämlich der Meinung, daß es diesen Gegensatz nicht gibt. Ich hielte es für falsch, wenn man nicht zu der Erkenntnis käme: Wer hungert und friert, soll nicht auch noch gefoltert werden.
Herr Kollege Irmer, ich bin Ihnen für diese Frage dankbar, weil sie mir Gelegenheit gibt, meine Position zu konkretisieren.
Ich bin weit davon entfernt, die bürgerlichen Menschenrechte geringer zu achten als die sozialen. Ich gehe aber davon aus, daß wir einig sind, daß erst derjenige von den bürgerlichen Menschenrechten profitiert, der menschenwürdig leben kann, und daß beides zusammengehört. Ich habe den Wortbeitrag des Kollegen Klein aufgegriffen, urn noch einmal zu unterstreichen, daß ich als Entwicklungspolitiker nicht im Sinne der Wertigkeit, aber im Sinne des Vollzuges, des Prozesses die sozialen Menschenrechte voranstelle. Die bürgerlichen Menschenrechte und das, was international vereinbart worden ist, sind für mich völlig unstrittig. Wir haben als Politiker, auch als Abgeordnete die Pflicht, diese Standards auf hohem Niveau einzufordern, wenn wir in diesen Ländern sind. Ich nehme an, daß wir da einer Meinung sind.
Lassen Sie mich, weil wir Fragestellungen bezüglich Burma haben, folgendes erklären — vielleicht könnte man auch darüber einmal interfraktionell diskutieren —: Ich halte es für sehr bedenklich, vielleicht sogar für fraglich, wenn wir aus Burma — bei all dem, was wir verurteilen, was der SLORC dort anrichtet — im Sinne einer Abstrafaktion herausgehen.
Ich halte etwas davon, drinzubleiben und uns einzumischen, vor Ort mit den dort verantwortlichen Politikern — seien sie noch so brutal — zu reden, sie ständig zu ermahnen und zu fordern. Wir sollten aber nicht noch die Menschen enttäuschen, die dort über uns die einzige Verbindung zu einer menschlichen Umwelt haben. Das, meine ich, müßte man versuchen, interfraktionell aufzuarbeiten, um vom Schreibtischurteil wegzukommen.
Ich halte es für unbedingt notwendig, rufe dazu auf und bitte darum, daß wir dieses in den Ausschüssen so weit wie möglich einvernehmlich ausdiskutieren können.
Nehmen wir das Beispiel Indien. Meine Damen und Herren, hier ist viel von China die Rede gewesen. Ich bin gar nicht traurig darüber, daß sich unsere Beziehungen zu China verbessern. Ich freue mich, daß, was die Menschenrechte und die Demokratisierung betrifft, zumindest auf der unteren Ebene dieses Landes sehr viel vorangekommen ist. Wir sollten dabei aber den Subkontinent Indien nicht aus dem Auge verlieren. Ich habe den Eindruck, daß wir, was nicht nur die Medien, sondern auch das politische Handeln dieser Regierung anbetrifft, dabei sind, nach China zu rennen, aber den Subkontinent Indien, eine der größten Demokratien der Welt mit all ihren Schwächen und Fehlern, zu vernachlässigen.
Ich würde darum bitten und fordere Sie auf, mit uns zusammen die Fragestellung nicht verengt auf z. B. China oder Taiwan zu diskutieren. Es würde uns in eine falsche Richtung bringen und eine Falle bedeuten; denn Indien verdient es nicht, so benachteiligt zu werden.
Lassen Sie mich zurückkommen zu Vietnam und zu dem, was wir alle unter dem Begriff „Pluralismus" diskutieren und versuchen, nach außen darzustellen.
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Krause zu beantworten?
Ich bin dazu bereit, Herr Präsident.
Als Kenner der Materie, Herr Kollege, sind Sie sicher bereit und in der Lage, mir folgende Frage zu beantworten: Indien und auch China sehen sich selbst nicht nur als potentiellen Markt für deutsche Produkte, sondern auch als Handelspartner. Welche Produkte aus China und aus Indien wären Sie nach vorhandenen Konzeptionen bereit, als Bezahlung für deutsche Lieferungen auch auf den deutschen Markt zu lassen?
Herr Kollege, ich muß Sie enttäuschen: Ich bin kein solcher Wirtschaftspolitiker, daß ich mich auf diesem Felde so gut auskenne. Ich bin aber prinzipiell der Meinung, daß wir unsere Märkte — der Kollege Beckmann hat auf die GATT-Verhandlungen und auf gewisse Notwendigkeiten hingewiesen — für diese Volkswirtschaften öffnen müssen. Wir dürfen sie nicht abschotten.
Ich gebe Ihnen einmal ein Beispiel: Der afrikanische Staat Burkina Faso darf nach Deutschland oder in die EG Personal-Computer einführen. Wir wissen aber alle, daß er keine produziert. Dieser Staat produziert aber mittels der Nomadenwirtschaft Felle und Häute für die Lederindustrie. Diese darf er nicht nach Deutschland und in die EG exportieren. Dies halte ich für eine unerträgliche Politik; sie ist deshalb unerträglich, weil die Entwicklungsländer, die ärmsten der Armen, hierdurch nicht nur benachteiligt, sondern
16904 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993
Dieter Schanz
geradezu zerstört werden. — Ich hoffe, daß die Antwort klar ist.
Ein Konzept der Entwicklungszusammenarbeit mit Asien muß allerdings auch nach meiner Auffassung andere Kriterien als nur das Ziel der Markteroberung haben. Zur Grundlage der Zusammenarbeit, beispielsweise auch für mittelfristige Investitionen in Umwelt, Demokratie und Gesundheit, muß es Raum geben. Dies gilt nicht nur für Kambodscha nach Einsetzen des Friedensprozesses, Herr Minister. Ich hoffe, daß da, wie von Ihnen zugesagt — das füge ich fairerweise hinzu —, auch schnell mit gesundheitlichen Maßnahmen geholfen werden kann, nachdem unsere Medizin-Soldaten, die Hervorragendes geleistet haben — das habe ich selbst vor Ort gesehen —, dort abgezogen sind; daß wir dort eine Anschlußhilfe organisieren, daß man diesem jungen Staat — Pol Pot hat ja mehr als 1,2 Millionen Angehörige der Eliten abgeschlachtet — mit Beratungen hilft, die man ihm im Bereich von Umweltschutz, Aufbau von demokratischen Strukturen oder Verwaltungsstrukturen zur Verfügung stellt, um die Defizite nach 20 Jahren Bürgerkrieg und Krieg schnell überwinden zu hel-f en.
Ich kann darum nur nachsuchen. Ich halte dies für unbedingt wichtig; denn wenn dies nicht geschieht, befürchte ich, daß die Roten Khmer — wie in den letzten Tagen bekanntgeworden ist — sehr schnell wieder ihre Chance nutzen werden, die aufkeimende Demokratie und die Entwicklung zusammenzuschlagen.
Im übrigen in diesem Zusammenhang — Herr Staatsminister Schäfer ist weg —: Ich würde mich freuen, wenn unter der Überschrift „Asienkonzept" auch ein gezieltes Vorgehen gegen Thailand organisiert wird, das sich, wie Sie wissen, über die Militärs an dem beteiligt, was es den Roten Khmers ermöglicht, Waffen zu kaufen, nämlich Edelsteinhandel und Edelholzhandel mit den Roten Khmer in der Region Tay Ninh. Ich will das nur erwähnt haben. Auch hier sollten wir sehr viel glaubwürdiger werden, wenn wir uns an solchen Prozessen beteiligen wollen.
In dem vom BMZ vorgelegten Konzept zur EZ mit den Ländern Asiens, das im Konzeptpapier der Bundesregierung erneut als politische Grundlage erwähnt wird, gelingt dies meiner Auffassung nach nicht; da kann aber noch nachgearbeitet werden, um bei der Benennung der EZ-Schwerpunkte über die Formalisierung von unstreitigen Zielen hinauszukommen, beispielsweise Armutsbekämpfung, Frauenförderung, Bevölkerungspolitik, Umweltpolitik sowie Förderung privatwirtschaftlicher Investitionen und Initiativen.
Ich würde Sie bitten, Herr Minister Spranger, daß seitens der Bundesregierung nachgearbeitet wird, daß das Parlament oder der Ausschuß die Möglichkeit erhält, dieses in dem Sinne zu vertiefen und zu erweitern. Wir sind dazu bereit. Ich habe eingangs gesagt: Ich halte dieses Konzept für eine gute Arbeitsgrundlage. Wir sind dazu bereit, daran mitzuarbeiten, und ich hoffe, daß Sie kritische Anmerkungen oder Erweiterungen nicht als störend empfinden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile nunmehr dem Bundesminister für Wirtschaft, Günter Rexrodt, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es liegt nahe, daß ich in dieser Debatte primär unter wirtschaftspolitischen Aspekten einen Beitrag leisten werde. Lassen Sie mich damit beginnen, daß ich zunächst sage, daß für die deutsche Wirtschaft der europäische Markt ein Binnenmarkt geworden ist, daß wir riesige Wachstumsimpulse empfangen haben, daß sie anhalten werden, allerdings nicht in dem Maße, wie wir das in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten erleben konnten.
Vor diesem Hintergrund ist es nur natürlich und notwendig, daß Deutschland als eine der größten Exportnationen der Erde auf den Märkten stärker Fuß faßt — ich sage es salopp —, wo die Musik spielt.
Und dies ist nun mal in Asien. Das machen die Wachstumsraten der Bruttosozialprodukte und die Welthandelsanteile deutlich.
Wir haben diese Märkte im Zuge unserer Positionierung in Europa ein wenig vernachlässigt, mehr vernachlässigt als Japan, was durch die geographische Nähe naheliegt, aber auch mehr vernachlässigt als Amerika. Dabei, meine Damen und Herren, haben wir in Asien allergrößte Chancen. Wir sind mit unseren Produkten und unseren Serviceleistungen in Asien hochgeschätzt. Ich werte das nicht, ich beschreibe das nur. Das liegt sicherlich daran, daß wir gute Qualität und gute Konditionen bieten, daß unsere Liefertreue geschätzt wird, und es liegt auch daran, daß in dieser Region keinerlei geschichtliche Belastungen im Verhältnis zu Deutschland gesehen werden. Es liegt weiter daran, daß man eine zu große Abhängigkeit von Japan befürchtet und sich auch nach Europa und da primär nach Deutschland orientieren will. Es liegt auch daran, daß man nicht zu große Nähe zur Supermacht Amerika sucht. Ich will das nicht bewerten, aber das sind unsere Chancen.
Unsere Schwierigkeiten und Probleme liegen darin — das stammt nicht aus irgendwelchen Berichten von Instituten, sondern das ist die Erfahrung vieler Reisen —: Wir sind zu teuer. Da sind wir wieder bei den hausgemachten Problemen. Darüber will ich jetzt nicht sprechen. Wir müssen manches im Inneren in Ordnung bringen, um Schritt halten zu können, um mitmischen zu können.
Wir haben Aufgaben, die wir anpacken und gestalten müssen, um die Chancen, die wir schon haben, noch verbessern zu können. Da ist die öffentliche Seite. Ich kann es bedauerlicherweise hier in der Kürze der Zeit nur in Stichworten sagen. Wir müssen die politischen Rahmenbedingungen verbessern. Das tun wir auch, indem wir deutlich machen, daß wir in dieser Region politisch und wirtschaftlich präsent sein wollen, daß wir langfristig in dieser Region eine Rolle spielen wollen. Daran arbeiten wir, und unser Asienkonzept ist Ausdruck dessen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993 16905
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
Wir können von öffentlicher Seite aber noch mehr machen, beispielsweise indem wir zusätzliche Generalkonsulate einrichten, indem wir unsere Botschaften personell an wirtschaftlichen Belangen orientieren, was ja auch geschieht. Wir können für eine bestimmte Zeit sogenannte Delegierte der deutschen Wirtschaft mitfinanzieren. Wir können bei der Gründung von Außenhandelskammern mitwirken; auch das wird verstärkt. Wir können — Herr Schanz, Sie haben das angesprochen — auch bei der Finanzierung etwas tun. Ich denke dabei nicht an die „soft loans", wie sie oft gefordert werden aus der Politik, aber auch aus der Wirtschaft, also Exportsubventionierung. Nein, das nicht. Wir können das durch Gestaltung und Anwendung unseres Hermes-Kreditsicherungsinstruments tun. Wir werden Hermes reformieren in dem Sinne, daß die Länder, in denen das Risiko überschaubarer ist als anderswo, weniger Hermes-Gebühren bezahlen müssen. Dazu werden China und andere Länder dieser Region gehören.
Für mich, meine Damen und Herren, als Wirtschaftsminister ist es sehr wichtig, daß ich den wirtschaftspolitischen Dialog mit den Entscheidungsträgern dieser Region führe und führen kann. Das kann man dort und hier machen. Das hat stattgefunden — ich habe es schon erwähnt — in zahlreichen Gesprächen.
Ich werde in wenigen Monaten in Bangkok die große Asienkonferenz der deutschen Wirtschaft eröffnen. Ich werde in diesem Zusammenhang, Herr Schanz, auch Indien und andere Länder der Region besuchen und dort mit Wirtschaftsvertretern, mit solchen, die von hier mitkommen, und mit jenen, die dort ansässig sind, sprechen.
Herr Minister, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kübler zu beantworten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gern.
Bitte schön.
Herr Bundesminister, Sie beschäftigen sich auch mit Fragen der Wirtschaftspolitik, und Ihnen ist bekannt, daß die Kommunistische Partei Chinas eine sogenannte sozialistische Marktwirtschaft propagiert. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie erläutern könnten, wie Ihr Haus und Sie diese sozialistische Marktwirtschaft verstehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es fällt mir schwer, das zu definieren. Ich kann Ihnen meine Eindrücke vermitteln, Herr Abgeordneter. Aber ich darf mir erlauben, so einzusteigen, daß ich Ihnen sage, daß selbst chinesische Regierungsrepräsentanten, wenn Sie diese Frage an sie richteten, Schwierigkeiten hätten, Ihnen das zu erklären.
Das ist schlicht so zu verstehen, daß die Partei die Macht behalten will, daß eine pluralistische Gesellschaft noch nicht eingeführt wird, aber auf dem Gebiet der Wirtschaft marktwirtschaftliche Elemente immer mehr Platz greifen. Eigentumsrechte werden eingerichtet, der Erwerb von Grund und Boden wird zugelassen, das wirtschaftliche Geschehen wird vom Wettbewerb bestimmt. Ich füge etwas hinzu, was ich an dieser Stelle schon einmal gesagt habe: Mein Eindruck ist, daß sich die Vertreter der Regierung sehr wohl bewußt sind, daß die ökonomischen Freiheiten, die sie einräumen, zwangsläufig dazu führen, daß auch auf politischem Gebiet mehr Freiheitsrechte eingeräumt werden, sich eine Pluralisierung der Gesellschaft durchsetzt. Das ist auch der Grund dafür, daß wir die Politik, die wir eingeleitet haben, fortsetzen werden. Denn wir sind davon überzeugt: Diese Politik führt dazu, daß sich auch in bezug auf die Menschenrechte und auf die Umgestaltung dieses großen Landes Vorstellungen durchsetzen, die für uns üblich sind.
Eine weitere Frage des Abgeordneten Kübler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, bitte.
Herr Bundesminister, darf ich Ihrer Antwort entnehmen, daß die deutsche Öffentlichkeit und die Bundesregierung in einem diktatorischen, kommunistisch geführten Land auf eine sozialistische Marktwirtschaft bauen? Ich sage das bewußt so prononciert.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aus meiner Antwort war eigentlich das Gegenteil abzulesen. Jedenfalls habe ich mich bemüht, das Gegenteil zum Ausdruck zu bringen. Das, was sich heute im ökonomischen Bereich vollzieht, wird mit Zwangsläufigkeit dazu führen, daß auch im gesellschaftspolitischen Bereich Veränderungen eintreten — Veränderungen, die Sie und ich wollen. Das habe ich zum Ausdruck bringen wollen. Deshalb machen wir das.
Auch der Abgeordnete Beckmann hat gebeten, eine Frage beantwortet zu bekommen. — Bitte schön, Herr Abgeordneter.
Vielen Dank, Herr Präsident. — Herr Bundesminister, sind Sie bereit, auf der von Ihnen eben angekündigten Reise nach Indien und in andere asiatische Staaten auch eine angemessene Anzahl von Vertretern des wirtschaftlichen Mittelstandes mitzunehmen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das kann ich, Herr Abgeordneter Beckmann, schlicht mit Ja beantworten.
16906 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
Lassen Sie mich, Herr Präsident, meine Damen und Herren, meine Rede fortsetzen. Ich will auf die chinesische Politik und die Entwicklungen, die wir dort im Sinne eines deutsch-chinesischen Handelsaustausches in Gang gebracht haben, nicht näher eingehen. Wir haben das hier schon verschiedentlich getan, und es ist auch öffentlich diskutiert worden. Der Markt, der sich dort öffnet, ist immens, ist ungeheuer groß. Er ist von einer Dynamik, die kaum abschätzbar ist.
Ich sage in dem Zusammenhang noch einmal: Die chinesische Seite will den Handel mit uns ausweiten. Wir haben für die Chinesen eine herausragende Bedeutung, aber wir müssen im Wettbewerb mithalten. Immer wieder ist der Preis das entscheidende Element. Im Gespräch mit Chinesen aus Taiwan und mit Festlandchinesen ist im übrigen auch deutlich geworden: Wirtschaftlich enge Beziehungen zu der einen oder anderen Seite — ich betone: wirtschaftlich enge Beziehungen — stehen sich nicht im Wege, werden von beiden Seiten nicht nur toleriert, sondern als selbstverständlich hingenommen.
Herr Minister, der Abgeordnete Schanz möchte Ihnen noch eine Frage stellen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gerne.
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Minister, haben Sie gerade die Fortschritte im prozessualen Sinne bezüglich Menschenrechten und Demokratisierung in China bestätigt. Sind Sie bereit — ich habe vorhin danach gefragt —, eine solche Einschätzung auch für Vietnam zu akzeptieren? Und sind Sie unter Berücksichtigung der Tatsache, daß wir uns, bezogen auf Knebelungen des Pariser Clubs, allzulange im Schlagschatten Amerikas befunden haben, willens, jetzt die Hermes-Barrieren für die deutsche Wirtschaft in Vietnam zu durchbrechen — denn dort leben nahezu 70 Millionen Menschen, von denen etwa 90 000 deutsch reden —, damit wir auch dort vor Ort sein können, und zwar nicht nur in bezug auf Entwicklungspolitik, sondern auch in bezug auf die Wirtschaft?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich teile erstens Ihre Auffassung, daß Vietnam ein äußerst dynamisches Land ist, daß sich dort ähnliche Prozesse vollziehen wie in China. Zweitens: Wir werden aufgeschlossen prüfen — ich kann das ohne Rückkoppelung nicht zusagen; es gibt da auch Elemente, die das schwierig machen —, wir werden aufgeschlossen — ich betone das, Herr Abgeordneter Schanz — prüfen, ob wir das recht bald machen können.
Lassen Sie mich abschließend sagen — und da komme ich auf das Stichwort zurück, das mir Herr Kollege Beckmann hier gegeben hat —: Die großen deutschen Unternehmen können — obwohl sie das in den letzten zehn, fünfzehn Jahren zumindest teilweise vernachlässigt hatten — ihre Interessen in dieser Region sehr wohl selbst wahrnehmen. Aber die mittleren und kleinen Unternehmen, die dort auch eine Chance brauchen und die dort auch wohlgelitten und gern gesehen sind, können das nicht so gut. Deshalb ist es unsere Aufgabe, auch von politischer Seite dafür das Terrain zu bereiten. Wir wollen das tun, nicht nur, indem wir Mittelständler in die Delegation aufnehmen. Ich möchte dafür Sorge tragen, daß in dieser Region mehr Messen unter Beteiligung von Mittelständlern stattfinden können. Wir fördern die Messen für Betriebe aus den neuen Bundesländern mit erheblichen Mitteln, wie Sie wissen. Wir wollen das noch einmal verlängern. Wir wollen das bestehende Netz der Kammerorganisationen nutzen, um für Mittelständler mehr zu tun.
Was China angeht, so wollen wir uns in besonderer Weise bemühen, die sogenannten Sonderwirtschaftszonen auszuweiten. Das sind Zonen, in denen ausländische Unternehmen, meist aus einem Land kommend — in diesem Fall aus Deutschland —, ansässig sind und wo sie — wie man heute sagt — Synergieeffekte wahrnehmen können. Das sind die Bereiche, wo Mittelständler eine besondere Chance haben. Das wollen wir ausdehnen und ausweiten.
Meine Damen und Herren, ich bin mir sehr wohl bewußt — das ist der letzte Satz, Herr Präsident —, daß ein Asienkonzept und Asienpolitik nicht nur Wirtschaftspolitik sind. Es ist sehr viel mehr. Das ist heute auch gesagt worden. Ich bin aber froh, daß heute über unsere Asienpolitik in diesem Haus mit soviel Übereinstimmung gesprochen worden ist und daß auch prinzipielle Übereinstimmung darüber besteht, was auf wirtschaftspolitischem Gebiet zu tun ist. Wir werden von der Bundesregierung alles tun, um das, was wir im Asienkonzept entworfen haben, auch umzusetzen.
Schönen Dank.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Dr. Leonhard-Schmid das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verspätet, aber dennoch mit der richtigen Fragestellung, legt die Bundesregierung mit vielen blumigen Worten eine Konzeption für ihre Asienpolitik vor. Weniger Superlative, aber dafür mehr Substanz wären der Sache angemessener gewesen.
Es klingt phantastisch: Der großchinesische Wirtschaftsraum nimmt in atemberaubendem Tempo seinen Aufschwung, Indien öffnet sich stärker der Weltwirtschaft, Vietnam und andere werden folgen, riesige Märkte für Konsumgüter entstehen, in Asien läuft schon heute einer der zugkräftigsten Motoren der Weltwirtschaft.
Meine Damen und Herren, es gibt aber eine Wahrheit zwischen den Zeilen. Das Stockholmer Institut für Friedensforschung bilanziert im Jahr 1992 weltweit 30 Kriege, davon 10 in Asien. Die Bilanzen sind erschreckend: Afghanistan etwa eine Million Tote seit Kriegsbeginn, Bangladesch mindestens 2 000 Tote, im Inneren Indiens und zwischen Indien und Pakistan mindestens 30 000, in Indonesien 16 000, in Kambodscha mindestens 25 000, auf den Philippinen etwa 25 000, in Sri Lanka 24 000 Tote und nicht zählbare Kriegstote in Laos und Birma.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993 16907
Dr. Elke Leonhard-Schmid
Das Fazit: In dieser Region liegen Wirtschaftsboom und Bürgerkrieg dicht beieinander. Von den 34 Ländern der Länderliste H, also der Liste der sensitiven Länder mit eigenen Massenvernichtungsprogrammen oder Umschlagplätzen des Waffenhandels, liegen zehn im Bereich der Asienkonzeption der Bundesregierung.
Die Bundesregierung legt eine Konzeption vor, wo gute Geschäfte zu machen sind. Diesem Teil stimme ich ausdrücklich zu. Es bleibt allerdings die berechtigte Frage: Wo ist die Konzeption, wie diese Regionen zu befrieden sind?
Meine Damen und Herren, es liegt mir fern, einen Vergleich mit dem Nahen Osten zu wagen, der auch einmal Hoffnungsträger für das wirtschaftliche Heureka war. Die Beispiele Iran und Irak, erst dieses, dann jenes, lehren, daß wirtschaftliche Optionen mit außenpolitischen Möglichkeiten und dem außenwirtschaftlichen Gebot der Ausfuhrkontrolle zwingend in Einklang zu bringen sind. Aus der Vergangenheit lernen heißt, die Beziehungen zu dem aufwärtsstrebenden Asien von vornherein zivil zu gestalten und bewußt auf militärische Komponenten zu verzichten. Konkret: keine Kriegswaffenexporte an Taiwan und Indonesien, keine Beihilfe zum Bau von Atombomben in Pakistan und Indien, keine Hilfestellung beim Bau von Produktionsanlagen für Maschinengewehre in Singapur und Südkorea, keine Ausrüstungs- und Ausbildungshilfe für die Militärs in Vietnam und Kambodscha. Die Erfahrungen mit dein Nahen Osten haben gelehrt, daß es ein trügerischer Gewinn ist, vom Aufrüstungsboom zu profitieren.
Ich unterstelle, die Bundesregierung hat dieses auch mitbedacht. Zumindest scheint ein Hauch jener Erfahrung in die Konzeption der Asienpolitik mit eingeflossen zu sein, wenn von der strikten Anwendung der deutschen Rüstungsexportkontrollmechanismen die Rede ist. Die Bundesregierung führt aus, der unkontrollierte Waffenhandel soll eingedämmt werden. D'accord! Aber ich frage: Ist es nicht auch der kontrollierte Waffenhandel, der uns Sorgen bereitet?
Meine Damen und Herren, es ist nicht ohne Ironie, daß zeitgleich mit dem Asienkonzept der Bericht der Bundesregierung zur Anpassung der europäischen Exportkontrollregelung in unseren Postfächern landete. Hierzu muß die Bundesregierung einräumen, daß es aller Voraussicht nach keine einheitliche Rüstungsexportkontrolle in Europa geben wird, zumindest nicht auf unserem hohen Kontrollniveau. Die anderen blieben vielleicht zu stur.
Wenn man nun im Asienkonzept lesen kann, daß ein Ziel der Bundesregierung die Sicherung eines funktionsfähigen Wettbewerbs ist, also die Schaffung von gleichen Bedingungen im Wettbewerb, dann heißt das — und ich interpretiere hier die Äußerungen einiger Unionspolitiker — nicht mehr und nicht weniger, als daß endlich Schluß sein muß mit den unnötigen Behinderungen des Außenhandels.
Somit scheint die Frage berechtigt: Kommt das Nein aus Brüssel für Sie vielleicht nicht wie gerufen?
Ich möchte an dieser Stelle warnen: Es wäre ein fataler Fehler, einen europäischen Notstand vorzutäuschen, um die in Zeiten der Rezession lästig gewordenen restriktiven Rüstungsexportkontrollmechanismen über Bord zu werfen. Insbesondere muß unsere Asienpolitik nach Rabda und Irak den Beweis für unser Land liefern, daß wir es ernst meinen mit der Absage an den Rüstungsexport in sensitive Länder, auch in Zeiten wirtschaftlicher Engpässe und lockender Geschäfte mit Waffen für Taiwan, Indonesien und Korea.
Meine Damen und Herren, wir haben klare Gegenkonzepte. Ziel eines neuen Systems der Exportkontrolle mit Blick auf den boomenden Markt in Asien soll sein, daß eine Beteiligung der deutschen Industrie an Militärprogrammen in Asien ausgeschlossen wird. Dazu müssen wir die Ausfuhrkontrolle reformieren.
Die Anwendung der Waren im Empfängerland muß Bestandteil der Kontrolle sein. Die Kontrolle der Waren bei der Ausfuhr allein — das wissen wir alle — hat in der Vergangenheit nicht funktioniert. Da ich diese Konzeption bereits in der Debatte zur Großen Anfrage der SPD-Fraktion zur Rüstungsexportkontrollpolitik eingehend erörtert habe, spare ich es mir aus Zeitgründen, sie an dieser Stelle weiter zu erläutern.
Die positiven Reaktionen aus der Wirtschaft geben jedoch Hoffnung, daß es Unterstützung auch aus diesem Bereich für eine Alternative zur einfachen Strategie der Aufweichung der Rüstungsexportkontrolle gibt.
Meine Damen und Herren, Japan als die Führungsmacht im asiatischen Raum ist ein deutliches Beispiel für eine Spitzenstellung im internationalen Wettbewerb durch den bewußten Verzicht auf militärische Geschäftserfolge. Investitionen der Industrie oder der Anleger dürfen im Rüstungsbereich keine Aussicht auf Gewinne versprechen, auch nicht über verstärkte Rüstungsexporte. Dieses auch in der Vergangenheit wirksame Prinzip hat in Japan und wohl auch bei uns dazu geführt, daß die für Investitionen zur Verfügung stehenden Kapitalmittel immer stärker von dem zivilen Markt angezogen wurden. Das führte zu einer stabilen Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit für den zivilen Weltmarkt und damit zu einem stetigen Handelsüberschuß.
Meine Damen und Herren, seriöse Untersuchungen belegen: Im internationalen Vergleich verhält sich die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft auf dem Weltmarkt umgekehrt proportional zu ihren Rüstungsaufwendungen. Daraus folgt: Ein Verzicht auf Rüstungsexporte ist vor allem ein Gebot wirtschaftspolitischer Vernunft. Kurzfristige Gewinne im Waffengeschäft implizieren die Gefahr, daß Finanzströme von den Bereichen weggelockt werden, die unsere Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt sichern.
Lassen Sie mich abschließend bemerken: Die Märkte in Asien zeigen die größten Wachstumsprognosen. Wir sollten als eine der größten Handelsnationen der Welt unsere globalpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten nutzen. Ziel, meine Damen und Her-
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Dr. Elke Leonhard-Schmid
ren, ist die Schaffung einer gleichmäßigen, spannungsfreien und kontinuierlichen Entwicklung des gesamten asiatischen Raumes.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Carl-Dieter Spranger, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mehrere Redner haben heute mit eindrucksvollen Worten die politischen und wirtschaftlichen Fortschritte der Nationen Asiens und ihre Bedeutung dargestellt. Diese Erfolge sind sicherlich im wesentlichen das Ergebnis eigener Anstrengungen dieser Nationen. Unbestritten ist sicherlich auch der Entwicklungsbeitrag der internationalen Gebergemeinschaft einschließlich auch der deutschen Leistungen. Das war eine notwendige und wichtige Hilfe auf diesem Weg.
Herr Kollege Schanz, zu Ihrer zurückhaltenden Kritik an der entwicklungspolitischen Konzeption möchte ich noch anmerken, daß wir das Konzept des BMZ in Richtung Entwicklungszusammenarbeit mit Asien schon im Juli dieses Jahres vorgestellt haben. Es ist auch im AWZ umfassend diskutiert worden. Es hat auch das Asienkonzept der Bundesregierung in beträchtlichem Maße mitgestaltet. Mir liegen aber bis heute keine konkreten, sinnvollen Änderungsvorschläge oder Ergänzungen vor. Ich biete Ihnen an: Wenn sie noch kommen sollten, sind wir gern zur Diskussion dieser Vorschläge bereit. Aber das, was Sie in bezug auf Vietnam und Kambodscha erwähnt haben, ist — wie Sie sicherlich bereits wissen — im Rahmen der Möglichkeiten und unter Berücksichtigung der Situation in den jeweiligen Ländern schon längst im Gange. Denn Entwicklungshelfer bei der Lage, die auch Sie geschildert haben, so ohne weiteres und unbesehen nach Kambodscha zu schicken, möchte ich unseren Experten nicht ohne weiteres zumuten.
Wirtschaftswachstum und Entwicklungszusammenarbeit haben in Asien nicht nur zum Aufbau florierender, innovativer Unternehmen und zur Entwicklung moderner Hochtechnologie geführt, sondern haben auch die Armut verringert und damit die soziale Lage der Menschen verbessert. Nach Angaben der Weltbank sank in Ostasien die Zahl der Armen seit 1985 um mehr als 100 Millionen Menschen. Die größten Fortschritte können wir hierbei in China und Indonesien beobachten, und dies, obwohl sich in dieser Region die Gesamtzahl der Bevölkerung um mehr als eineinhalb Prozent erhöht hat.
Das Asien des Jahres 1993 stellt sich als ein Kontinent dar, der in seiner Vielfalt, in seinen Möglichkeiten und in seiner Widersprüchlichkeit von keiner anderen Entwicklungsregion der Erde übertroffen wird. Neben dynamischen Wachstumsregionen wie dem großchinesischen Wirtschaftsraum stehen andere asiatische Länder, deren Entwicklungsdynamik wegen eines Mangels an staatlicher Gestaltungsfähigkeit, sozialer Defizite der Wirtschaftspolitik und bedeutender gesellschaftlicher Widerstände weit geringer ausgeprägt ist.
Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Machtblocks sind uns Partner aus einer dritten Ländergruppe erwachsen, nämlich die sogenannten rander im Transformationsprozeß. Zu ihnen zählen nicht nur die neuen zentralasiatischen Republiken, sondern auch Staaten wie die Mongolei und die Länder Indochinas. Ihr gemeinsames Merkmal sind ein noch nicht abgeschlossener wirtschafts- und sozialpolitischer Orientierungsprozeß und schwere ökonomische, ökologische und strukturelle Verwerfungen als Folge jahrzehntelanger kommunistischer Diktaturen. Diese Staaten wollen wir auf dem Weg zu Demokratie und sozialer Marktwirtschaft unterstützen.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich: Deutschlands neue Partnerschaft in Asien ist maßgeblich auch eine Entwicklungspartnerschaft. Die neue Zusammenarbeit mit Asien, die wir suchen, erfordert es, von der klassischen Außenpolitik über den Kulturaustausch bis hin zu Fragen der Außenwirtschaft und der Entwicklungspolitik verschiedene Politikbereiche zu einem gemeinsamen Ansatz zu verbinden. Insofern stimme ich Ihren Anregungen, Herr Schanz, zu. Aber diese Anregungen sind ja bereits im Asienkonzept der Bundesregierung verwirklicht.
Auch in der Entwicklungszusammenarbeit mit Asien steht die Bekämpfung der Armut im Vordergrund, und zwar nicht nur aus humanitären Erwägungen, sondern weil Armutsbekämpfung der Schlüssel zu stabiler und anhaltender Entwicklung ist. Eine solche nachhaltige Entwicklung in Asien ist für Deutschland von besonderem politischen und wirtschaftlichen Interesse. Unsere entwicklungspolitische Konzeption zur Überwindung der Armut zielt darauf ab, vor allem die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unserer Partnerländer zu verbessern und die grundlegenden strukturellen Ursachen für wirtschaftliche Ineffizienz zu überwinden. Die Entwicklungserfolge der asiatischen Schwellenländer belegen auf eindrucksvolle Weise, daß dieser Ansatz richtig ist.
Für die Zusammenarbeit zwischen der Entwicklungspolitik und der deutschen Außenwirtschaft ergeben sich dabei eine Fülle von gemeinsamen Aufgaben und Möglichkeiten: Unsere Partner in Asien fragen bei uns heute vor allem modernes technologisches und organisatorisches Wissen nach, das den Weg für eine enge Zusammenarbeit mit Industrie und Handel ebnet und damit das Potential in sich trägt, der deutschen Außenwirtschaft direkt zugute zu kommen. Ganz wesentlich ist, daß dies im Rahmen der vereinbarten entwicklungspolitischen Schwerpunkte mit den einzelnen Partnerländern geschieht. Besonders deutlich wird dies auf den Gebieten der Technologieentwicklung und Integration in den Weltmarkt, der Zusammenarbeit in Fragen des Umweltschutzes, der Infrastruktur, der Förderung von Klein- und Mittelindustrie, nicht zuletzt bei der beruflichen Ausbildung, wo künftig auch von der deutschen Wirtschaft ein größerer Beitrag und eine engere Zusammenarbeit mit den von der Bundesre-
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Bundesminister Carl-Dieter Spranger
gierung finanzierten umfassenden Programmen erwartet werden muß.
Die Bundesregierung hat in Gesprächen mit asiatischen Ländern in den letzten Jahren verstärkt auf die Bedeutung entwicklungsfördernder politischer, rechtlicher und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen hingewiesen. Ein wichtiges Thema war dabei die Einforderung der allgemeinen Menschenrechte. Dabei wollen wir den Eindruck einer einseitigen Orientierung am westlichen Wertesystem vermeiden, uns offen zeigen für die Argumente der Partnerländer und in diesem Zusammenhang auch ihre Fortschritte bei sozialen Rechten, wie Erziehung, Gesundheit, Ernährung und Wohnung, würdigen. Aber der Rangordnung, die Sie, Herr Kollege Schanz, aufgestellt haben, vermag ich nicht zuzustimmen.
Wir wissen aus historischer Erfahrung, daß einer wirtschaftlichen Liberalisierung bald eine politische Öffnung folgt. Die Marktwirtschaft ist Wegbereiter der Demokratie. In diesem Bewußtsein setzt die Bundesregierung auf wirtschaftliche und politische Reformprozesse. Damit nützen wir den Menschen und dem friedlichen Zusammenleben der Nationen.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Lüder.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein Vergleich des Antrags der Parlamentarier der Koalition zur Stärkung der Zusammenarbeit mit der als Asienkonzept der Bundesregierung titulierten Unterrichtung durch die Regierung zeigt einen wesentlichen Unterschied, auf den eingegangen werden soll.
Die Abgeordneten beziehen Taiwan in unsere asienpolitischen Überlegungen als Partner Deutschlands ein, und das, nachdem vorher ein Gruppenantrag in diesem Hause eingebracht wurde, der vielleicht ein bißchen Schwung in die Debatte gebracht hat.
Die Bundesregierung ist auf halbem Weg zwischen der realitätsfernen Ignorierung Taiwans in der Vergangenheit und dem Bekenntnis zur positiven Partnerschaft für die Zukunft stehengeblieben. Diese Debatte und unser Antrag sollen dazu beitragen, die Asienpolitik der Regierung zu komplettieren. Die Regierungskonzeption — lassen Sie mich das deutlich sagen — hinkt der Zeit in einigen Punkten hinterher. Der Parlamentarierantrag weist den Weg in die Zukunft.
Nicht im Gegeneinander unterschiedlicher Positionen, nicht in europäischer Rechtfertigung und Rechthaberei finden wir Zugang zu Wirtschaft und Politik Asiens, sondern im pragmatischen Umgang miteinander. Das will ich deutlich sagen. Ich unterstreiche das, was hier von den Ministern gesagt worden ist.
Wir müssen auch sehen, was an wirtschaftlicher Kooperation zwischen Taiwan und Hongkong einerseits und dem Festlandchina andererseits praktiziert wird. Wir sollten jedoch nicht vergessen, welche
Bedeutung Taiwan hat. Wir sollten es auch seinem Stellenwert entsprechend umschreiben. Das vermisse ich in der Regierungsunterrichtung.
Wir können und dürfen Asienpolitik aus der Zeit des kalten Krieges nicht einfach bürokratisch fortschreiben. Wir müssen Politik angesichts der politischen und wirtschaftlichen Realitäten zum Vorteil unseres Landes und unserer Wirtschaft, vor allem der Arbeitsplätze, und damit für unsere Bürger betreiben. Wir haben hier einen Konsens festgestellt.
Herr Kollege Lüder, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niggemeier.
Ja, Herr Kollege.
Herr Kollege Lüder, Sie haben gerade und richtigerweise gefordert, daß die Asienpolitik Festlandchina und Taiwan gemeinsam und gleichermaßen einbeziehen muß, wenn man hier über Asienpolitik spricht. Ist Ihnen noch in Erinnerung, daß der Außenminister und F.D.P.-Vorsitzende vorhin in seinem Redebeitrag gesagt hat, daß er an der Ein-China-Politik festhält? Für mich stellt sich dabei an Sie die Frage, ob Sie diese These zumindest für interpretationswürdig halten, wenn Sie bedenken, daß der taiwanesische Wirtschaftsminister in Abstimmung mit seiner Regierung am Rande der APEC-Konferenz in Seattle u. a. erklärt hat: Taiwan und das Festland sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt zwei getrennte souveräne Staaten. Keiner ist dem anderen untergeordnet. Keine Seite soll weiter an der Behauptung festhalten, sie repräsentiere international ganz China. Jede Regierung soll den Teil Chinas vertreten, den sie kontrolliert.
Glauben Sie, daß mit dem Asienkonzept der Bundesregierung diese Vorstellungen der taiwanesischen Regierung auch nur annähernd erfüllt werden?
Herr Kollege Niggemeier, ich darf Ihnen eine doppelte Antwort geben.
Erstens. Der Bundesaußenminister hat kürzlich den Vorstand des parlamentarischen Freundeskreises Bonn/Taipeh empfangen. Wir haben dort Interpretationen der Politik der Leitung des Auswärtigen Amtes bekommen, die dem entsprechen, was hier der Koalitionsantrag darlegt, daß wir die offizielle Anerkennung Taiwans als Staat heute nicht vollziehen. Ich hoffe, daß man ein „noch" wird einfügen können.
Unterhalb dessen muß aber alles möglich sein, was zur Normalisierung beiträgt. Man sollte nicht solche — falls es parlamentarisch zulässig ist, das zu sagen — Spintisierereien machen, wie dem Botschafter King, der hier einen anderen Titel hat, einem Diplomatenstatus ähnliches Verhalten zu untersagen, wenn er hier auf einen Golfplatz kommen will. Daß ein taiwanesischer Vertreter in Deutschland noch nicht einmal Golf spielen kann, ist für mich ein Wahnwitz der Geschichte.
Lassen Sie mich ein zweites sagen. Präsident Clinton hat den taiwanesischen Minister anläßlich der APEC-Konferenz von gleich zu gleich empfangen.
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Wolfgang Lüder
Ich bin zuversichtlich, daß die nächste Bundespräsidentin oder der nächste Bundespräsident den taiwanesischen Präsidenten, der schließlich ein Übersetzer von Goethe ins Chinesische ist, hier von deutsch zu deutsch, von gleich zu gleich empfangen kann und wird.
Herr Kollege Lüder, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bühler?
Vorsitzenden gestatte ich das immer.
Ist Ihnen die Praxis bekannt, die die Bundesregierung bisher bei Besuchen taiwanesischer Minister an den Tag gelegt hat? Sind Sie nicht auch der Meinung, daß durch die Behandlung dieser Gäste mitunter nicht nur bezüglich politischen, sondern auch wirtschaftspolitischen Kapitals Porzellan zerschlagen wurde? Sind Sie nicht auch der Meinung, daß wir in dieser Frage einen ganz erheblichen Nachholbedarf haben, und zwar im Vergleich mit anderen Ländern Europas, die hier viel, viel pragmatischer und erfolgreicher vorgehen?
Herr Kollege Bühler, so kann ich Ihnen nicht zustimmen. Ich begrüße, daß sowohl Wirtschaftsminister Möllemann als auch der jetzige Wirtschaftsminister Dr. Rexrodt den taiwanesischen Wirtschaftsminister von gleich zu gleich empfangen und im offenen Gespräch die fachlichen und politischen Fragen richtig behandelt haben. Das liegt auf der Linie, die uns auch Bundesaußenminister Kinkel genannt hat, daß nämlich unterhalb einer gewissen Schwelle diese Kontakte selbstverständlich sein müssen und sein können.
Wenn ich aber höre und lese, daß ein Verkehrsminister, der möglicherweise etwas damit zu tun hat, daß wir ein Verkehrssystem verkaufen wollen — das geht ja fast an die Anzeige heran, die Sie vorhin hochgehalten haben, wenn ich es richtig gesehen habe —, keine Zeit hat, den taiwanesischen Verkehrsminister in Bonn zu empfangen,
und ihn bittet, nach Stuttgart zu kommen, und wenn es auf Beamtenebene offenbleibt, ob der deutsche Minister vielleicht Etatgelder hat, um die Spesen dafür zu finanzieren, oder ob der taiwanesische Gast dies selbst bezahlen muß, dann zeigt das, was ich vorsichtig andeuten wollte, als ich sagte, unsere Vertreter sollten nicht mehr wie in den Zeiten des kalten Krieges denken, sondern wir sollten zukunftszugewandt und miteinander höflich von Mensch zu Mensch, von Würde zu Würde, von Staat zu Staat umgehen. Staatsvolk, Staatsgewalt, Staatsregierung — da sind wir aus pragmatischen Gründen noch unterhalb der völkerrechtlichen Schwelle. Einverstanden! Hier ist Nachholbedarf gegeben.
Meine Damen und Herren, was zwischen Taiwan und Festlandchina im wirtschaftlichen Bereich praktiziert wird, muß man sich einmal vor Augen halten. 9 000 Joint-ventures sind zwischen taiwanesischen Unternehmen und Festlandsunternehmen abgeschlossen. Und — ich habe die aktuelle Zahl nicht — vor einem Monat waren es 38, die zwischen Deutschland und Festlandchina vereinbart waren. Daran sieht man, was noch für Musik drin ist und was noch nötig ist.
Neben dem wirtschaftlichen Teil komme ich zu dem politischen; denn wir Demokraten — das gilt auch für die beamteten Vertreter der Demokratie — müssen doch Partei nehmen für Menschenwürde, für Demokratie, für Rechtsstaatlichkeit und für die umfassende Durchsetzung der Menschenrechte. Bei Taiwan brauchen wir — um aus dem Regierungsprogramm zu zitieren — kein Fingerspitzengefühl, wenn wir Menschenrechte durchsetzen wollen. Lesen Sie den Bericht von Amnesty International, in dem steht, wo Menschenrechte praktiziert werden, und nehmen Sie dies als Vorbild!
Kritisieren wir den Staat, der Verbote ausspricht, wenn seine Bürger fremde Sender hören wollen. Ich habe in Westberlin stets dagegen gekämpft, daß die Ostdeutschen westdeutsche Sender nicht hören durften. Das gleiche sage ich, wenn Rotchina seinen Menschen untersagt, taiwanesische Sender zu hören. Auch dies gehört für mich mit zur Frage der Menschenrechte.
Dies müssen auch unsere Beamten respektieren. Wir müssen Partei nehmen für die, die die gleichen Grundwerte verteidigen, die für die gleichen Grundwerte eintreten wie wir.
Die Republik China auf Taiwan hat sich über Asien hinaus in den letzten Jahren nahezu zu einem Musterstaat entwickelt, der beweist, daß wirtschaftliche Freiheit politische Freiheit erfordert, der beweist, daß Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit einander bedingen, daß es auf dem Weg zur Demokratie keinen Halt auf halber Strecke geben kann.
Diese Partnerschaft in den demokratischen Grundwerten bestimmt wohl auch die Arbeit unseres parlamentarischen Freundeskreises Bonn/Taipeh, einer der größten unserer Parlamentariergruppen, in der Kolleginnen und Kollegen aus allen Parteien und Fraktionen zusammenarbeiten.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch eines ergänzen. Wer die Entwicklung in Mittel- und Osteuropa, den Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen zwischen Elbe und Pazifik, in den letzten wenigen Jahren miterlebt hat, der kann doch nicht ernsthaft glauben, daß sich die asiatischen kommunistischen Diktaturen noch auf lange Sicht der Attraktivität der Demokratiebewegung entziehen können. Das gilt auch und gerade für Rotchina.
Wenn ich in den Papieren der Regierung lese, daß man überlegt, was man im nächsten Jahrtausend mit
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der Volksrepublik China macht, so bin ich dafür, daß man mit Festlandchina kooperiert. Aber wir sollten doch wohl den Mut und das Selbstbewußtsein der Demokraten haben, davon auszugehen, daß im nächsten Jahrtausend jedenfalls dieses kommunistische Zwangsregime der Demokratiebewegung nachgegeben haben wird. Von diesem Optimismus müssen wir doch wohl leben.
Meine Damen und Herren, einen Teil der Regierungsunterrichtung will ich ausdrücklich voll unterstreichen. Die Regierung nimmt eine Neudefinition des Sicherheitsbegriffs vor. Sie spricht in I. 6 von einem erweiterten Sicherheitsbegriff. — Frau Dr. Leonhard-Schmid, das wird Sie nicht ganz befriedigen. Aber hier ist eine Position entwickelt, die, glaube ich, für unsere Demokratie wichtig ist. — Die Regierung sagt:
Unsere Sicherheit wird von der Lage auf dem asiatischen Kontinent mitbestimmt. Wir haben an einer rechtsstaatlichen, demokratischen und auf soziale Marktwirtschaft gerichteten inneren Verfassung der Staaten der Region, an regionaler Stabilität und an der Sicherung des Friedens im asiatisch-pazifischen Raum ein eigenes Interesse.
Das unterstreiche ich voll und ganz. Eigentlich müßte man dann über Marine-Schiffsbau-Aufträge hier kein Wort verlieren, zumal es aus der Sicht der Marktwirtschaft und der Arbeitsplätze ein nicht uninteressantes Projekt wäre.
Aber dieses Thema darf die Wirtschaftsbeziehung zu Taiwan nicht beeinträchtigen. Der deutsche Handel mit Taiwan hat heute den gleichen Umfang wie der mit Rotchina. Die kleine Zahl der 21 Millionen Einwohner darf die Sicht auf die große Wirtschaftskraft Taiwans nicht verdecken. Die Vergleichbarkeit der Zahl sollte auch zur Vergleichbarkeit der Beziehungen beitragen.
Bundesminister Rexrodt hat vorhin von den Auftragschancen in Festlandchina gesprochen. Ich ergänze: 300 Milliarden US-Dollar umfaßt der Sechs-bis Zehnjahresplan Taiwans. Selbst wenn er inzwischen ein bißchen abgeschmolzen wird oder wurde, sind dies doch Steigerungsraten, Wachstumsraten und Chancen, die die deutsche Wirtschaft wachrütteln müssen und die die deutsche Politik veranlassen müssen, diese Chancenwahrnehmung mit mehr und besseren Verankerungen unserer Institutionen in Taiwan zu begleiten. Dazu ist hier schon gesprochen worden.
Im übrigen, lieber Herr Spranger: Bei Taiwan j edenfalls wird deutsche Entwicklungshilfe nicht zur Kasse gebeten. Der Kunde Taiwan zahlt selbst. Taiwan ist schließlich kein Entwicklungsland. Das jährliche Durchschnittseinkommen auf Taiwan entspricht schon heute dem in Ostdeutschland. Man muß sich diese Zahlen nur einfach einmal verdeutlichen.
Wirtschaftswachstum und insbesondere Wachstum der Investitionen auf der Insel geschehen in Dimensionen, die uns reizen müssen.
Über die Zusammenarbeit in der APEC sollten wir noch mehr nachdenken als hier schon geschehen ist.
Hier ist ein gleichberechtigter Wirtschaftsraum, in dem Festlandchina, Taiwan und die anderen Staaten zusammenwirken, weil es um gemeinsame wirtschaftliche Aktivitäten geht. Hier ist das Vorbild. Hier hat der Präsident der Vereinigten Staaten mit dem taiwanesischen Minister und den Verantwortlichen aus Festlandchina Gespräche geführt. Das geht. Man muß es nur machen; man muß es nur wollen.
Meine Damen und Herren, Asienpolitik ohne Taiwan — lassen Sie mich meine Rede ein bißchen salopp beenden — ist wie Pekingente ohne Haut:
unvollständig, regelwidrig, zu mager und nicht schmackhaft, — kurz: es fehlt die Kultur. Akzeptieren wir Taiwan als Partner in Asien!
Das Wort hat der Kollege Günter Klein.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unsere politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu den Staaten Asiens müssen intensiver werden. Insoweit stimme ich sowohl dem Bericht der Bundesregierung als auch dem Herrn Bundesaußenminister ausdrücklich zu.
In verschiedenen Regionen Asiens ereignen sich Entwicklungen von einer beispiellosen Dynamik, auf die die deutsche Außen- und Wirtschaftspolitik verstärkt reagieren muß.
Der am raschesten sich entwickelnde Teil der Weltwirtschaft befindet sich in Asien. Deutschland muß die Chancen, die sich in Asien bieten, ergreifen und voll nutzen. Diesem Zweck dient der vorliegende Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. Diesem Zweck diente auch der Gruppenantrag von 150 Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, den Kollege Lüder schon erwähnt hat.
Die politische wie wirtschaftliche Entwicklung in dem Dreieck Taiwan, Hongkong und Südchina wirkt zunehmend in andere Länder der Region hinein und bezeichnet die Konturen eines immer enger verflochtenen gesamtchinesischen Wirtschaftsraums der Zukunft, dessen Potentiale kaum überschätzt werden können. Daher konzentriert sich unsere Initiative bewußt auf diesen geographischen Raum. Meine Damen und Herren, das ist eine differenzierte Betrachtung, die bei sachgerechter Analyse Schwerpunkte zu setzen hat.
Der Deutsche Bundestag hatte bereits im Juni und Dezember 1992 seine früher von ihm beschlossene Einschränkung der Zusammenarbeit mit der Volksrepublik China aufgehoben und die Bundesregierung aufgefordert, künftig verstärkt auf eine Intensivierung des Handelsaustausches mit China und die weitere Liberalisierung der chinesischen Wirtschaft hinzuwirken. Dabei folgte der Bundestag seiner Überzeugung, daß die Förderung der wirtschaftlichen Reformen und der weiteren Öffnung Chinas unter den derzeitigen Umständen der erfolgversprechendste Ansatz ist, um
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Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit in China zu fördern.
Diese tatkräftige Unterstützung der Reformbestrebungen — das darf hier einmal erwähnt werden — lag auch im wohlverstandenen deutschen Interesse. Ich nenne nur ein Beispiel: So gelang es im zweiten Halbjahr 1992 deutschen Werften, insgesamt acht Container-Schiffe von den chinesischen Staatsreedereien Cosco und Sinomarine zu einem Gesamtpreis von rund 1,1 Milliarden DM in Auftrag zu nehmen, deren Auslieferung in Kürze beginnt. Dadurch wurden deutsche Arbeitsplätze gesichert. Allerdings kostete dies den deutschen Steuerzahler Subventionen in überdurchschnittlicher Höhe
— bis ungefähr 18 % des Auftragswertes.
In diesem Zusammenhang mache ich eine Bernerkung: Das darf nicht die Regel werden. Ich bin auch der Auffassung, daß eine Beteiligung an der U-Bahn in Kanton bei einem Auftragswert von 700 Millionen DM in Höhe von 350 Millionen DM Entwicklungshilfe eine extreme Ausnahme zu bleiben hat. Das kann nicht die Regel werden. Mit einer 50%igen Subvention können wir Containerschiffe rund um die Erde verkaufen. Das ist aber kein marktwirtschaftliches Verhalten. Das ist kein wohlverstandenes Wahrnehmen nationalen Interesses.
Ebenfalls im zweiten Halbjahr 1992 bemühte sich die Bundesregierung durch ihren damaligen Wirtschaftsminister Möllemann um Verbesserung ihrer Beziehungen zu Taiwan. Er machte dem taiwanesischen Wirtschaftsminister einen Gegenbesuch in Taipeh und führte dort Gespräche über einen gemeinsamen Wirtschaftsausschuß, der den Zugang zu den zivilen Großprojekten des taiwanesischen nationalen Sechsjahresplans in Höhe von mehrstelligen Milliardenbeträgen ermöglichen und fördern sollte. Bereits damals hatten deutsche Unternehmen Projekte dieses Sechsjahresplans im Auftragswert von rund 2,6 Milliarden DM ohne Finanzierungskosten fest unter Vertrag.
Gleichzeitig verhandelten in Taipeh mit Billigung von Herrn Möllemann Vertreter deutscher Werften mit dem taiwanesischen Marinekommando über die Übernahme von Marineschiffbauaufträgen im Wert von 12 Milliarden DM. Dabei ist hervorzuheben, daß Geschäftsabschlüsse mit taiwanesischen Partnern — ich stimme hier Herrn Kollegen Lüder voll und ganz zu — sowohl im zivilen als auch im militärischen Bereich keine Subventionen erfordern. Es wird cash gezahlt nach Baufortschritt.
Diese Bemühungen des Herrn Möllemann und auch des Bundestages um Verbesserung der Beziehungen zum Festland wurden unterbrochen durch die Ablehnung der Übernahme von Aufträgen zum Bau von U-Booten durch den Bundessicherheitsrat im Januar 1993. Die Verweigerung dieser Zustimmung hatte im Februar 1993 den Gruppenantrag „Handelsbeziehungen mit Taiwan" zur Folge, der von 150 Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen unterstützt wurde und der darüber hinaus auch bei einigen Kolleginnen und Kollegen der Opposition Zustimmung fand.
— Bei einigen.
Dieser Gruppenantrag forderte die Aufhebung von Handelshemmnissen, die Verbesserung der Arbeitsmöglichkeiten von Handelsvertretungen; er bejahte ein begründetes Interesse Taiwans an der Entwicklung seiner Demokratie ohne äußere Bedrohung und die Anerkennung eines entsprechenden Sicherheitsinteresses.
Unter Berücksichtigung dieses Gruppenantrages — das möchte ich unterstreichen — haben dann die Koalitionsfraktionen den vorliegenden Antrag erarbeitet. Sie treten dabei ein für den Ausbau der Kontakte zu Taiwan, das nach Bruttosozialprodukt und Devisenreserven — mit 90 Milliarden US-Dollar die zweithöchsten der Welt — ein beachtlicher Wirtschaftsfaktor ist, der in der Außenpolitik Deutschlands in gebotener Weise berücksichtigt werden muß. Durch Intensivierung der Zusammenarbeit mit Taiwan können sich für die deutsche Wirtschaft auf asiatischen Drittmärkten erhebliche Potentiale erschließen.
Taiwan ist nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen ein interessanter Partner für die Bundesrepublik. Die Verbesserung der Beziehungen wird auch durch den weiteren Ausbau des Kulturaustausches erreicht. Ich denke hier z. B. an die Fujen-Universität in Taipeh, die von der Steyler-Stiftung unterstützt wird. Auch hier könnte ich mir andere Förderungsmodelle vorstellen und wünschen.
Taiwan ist ein asiatisches Modell für die Wechselwirkung von wirtschaftlichem Wohlstand und Demokratisierung unter Beachtung der Menschenrechte — für uns ein ganz wichtiger Punkt. Dadurch ergeben sich wesentliche Anstöße für die Entwicklung der Volksrepublik China. Wir wollen nicht ausgrenzen, sondern wir wollen das Modell Taiwan benutzen für die Entwicklung Chinas; dabei denken wir zunächst in erster Linie an Südchina.
Die wirtschaftliche Durchdringung der Wachstumszonen Chinas durch Taiwan ist bereits weit fortgeschritten. Der jährliche Handelsaustausch soll 10 Milliarden US-Dollar und die Direktinvestitionen in Südchina sollen ca. 20 Milliarden US-Dollar betragen. Die Zahl taiwanesischer Joint-ventures, bereits vom Kollegen Lüder mit 9 000 angegeben, spricht für sich.
In unserer Entschließung haben wir Instrumente der Förderung der Zusammenarbeit mit Taiwan genannt. Ich erwähne zwei: die Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsausschusses, der auch Projekte einer Zusammenarbeit auf dem Festland definiert und den Zugang zu den Großprojekten des taiwanesischen Sechsjahresplans ermöglicht und fördert, und der weitere Ausbau des Deutschen Wirtschaftsbüros in Taipeh mit dem Ziel der Gründung einer Deutschen Außenhandelskammer. Wir haben im Augenblick privat zwei Herren in Taipeh, entsandt vom Deut-
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Günter Klein
sehen Industrie- und Handelstag. Es ist höchste Zeit, eine Außenhandelskammer zu gründen, wie wir sie z. B. in Djakarta oder in Singapur haben.
In diesem Zusammenhang, meine Damen und Herren, möchte ich eines hervorheben: Zusätzlich zu diesen beiden Instrumenten hat Staatssekretär Kastrup im Auswärtigen Amt Herrn Kollegen Lamers und mir folgende Zusage erteilt, die ich jetzt zitieren möchte. Die Bundesregierung hat zugesagt — und damit antworte ich auch auf die besorgten Fragen der Kollegen Bühler und Niggemeier — —
Herr Kollege Klein, das hätten Sie früher tun sollen. Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Das tut mir leid; ich kann es zusammenfassen, wenn Sie gestatten, Herr Präsident.
Die Bundesregierung hat zugesagt, daß wir in Taipeh einen Vertreter bekommen, der nach Rang und zugeordnetem Personal den Vertretern der Bündnispartner vergleichbar und geeignet ist, ein Gesprächspartner der dortigen Regierung zu sein. Es wird ein beurlaubter Diplomat sein. Die Bundesregierung hat ebenfalls zugesagt, daß den vier Taipeh-Büros in Deutschland größtmögliche Erleichterungen zuteil werden. Darüber wird mit dem neuen Defacto-Geschäftsträger, Herrn King, gesprochen werden.
Herr Präsident, ich darf mich bedanken. Ich bedanke mich bei Ihnen, meine Damen und Herren, für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Ernst Schwanhold.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Daß wir in vielen Punkten Gemeinsamkeit festgestellt haben, spricht nicht gegen die Streitkultur hier im Hause, sondern eigentlich für die Verantwortung und das Verantwortungsbewußtsein der Parteien. Es gibt allerdings das eine oder andere, was man wohl, auch in Auseinandersetzung, noch vorantreiben muß, damit aus einem ersten Ansatz ein Konzept wird.
Natürlich ist das entstehende asiatische Zeitalter keine Entdeckung des Bundeskanzlers; denn seit mehr als zehn Jahren wird diese Entwicklung in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit diskutiert. Diese Diskussion ist in Deutschland kaum wahrgenommen, geschweige denn in wirtschaftliches und politisches Handeln umgesetzt worden.
Auch das jetzt vorgelegte Asienkonzept stellt nach meiner Meinung noch keine schlüssige Antwort auf die Herausforderungen dar. Es ist allenfalls ein erster Ansatz, der zwar spät kommt, aber zu begrüßen ist.
Weder die deutsche Wirtschaft noch das Bundeswirtschaftsministerium haben sich auf diese völlig neue Lage in der Weltwirtschaft eingestellt und entsprechend reagiert. Ich will die Zahlen, die heute bereits genannt wurden, nicht wiederholen. Ich will dennoch nicht auf zwei oder drei Zahlen verzichten. 1991 entfielen nur 7,2 % der deutschen Exporte auf die asiatischen Länder, 1992 waren es mit 7,7 % nur geringfügig mehr. Noch schlechter sieht das Bild bei den deutschen Direktinvestitionen in diesen Ländern aus. Von den insgesamt rund 8,2 Milliarden DM deutscher Kapitalanlagen im Ausland im ersten Halbjahr 1993 entfielen nur 261 Millionen DM, also lediglich 3,1 %, auf die asiatischen Länder.
In der Volksrepublik China — darauf will ich mich im wesentlichen beschränken — sieht das Bild zwar etwas günstiger aus als in den asiatischen Ländern insgesamt; dennoch ist festzustellen, daß bei einem Volumen der gesamten Direktinvestitionen von rund 47 Milliarden US-Dollar im Jahre 1991 in China nur rund 12 % auf Deutschland entfielen — und dies auch nur deshalb, weil hier das zweite Joint-venture von Volkswagen positiv zum Tragen kam.
Es wäre etwas voreilig, daraus zu schließen, die deutsche Wirtschaft habe die Entwicklung in Asien, speziell in China, verschlafen. Es ist vielmehr Zeit, jetzt eine Konzeption zu entwickeln, die für die Zukunft tragfähig ist.
Allerdings haben auch spezifische Schwächen der deutschen Industrie diese daran gehindert, diese Märkte stärker zu erschließen. Die deutsche Industrie hat prinzipiell in Asien, speziell in China große Chancen, vor allem auf den Gebieten Kommunikation, Verkehrs- und Umwelttechnik, Bergbau- und Energietechnik sowie im Maschinenbau.
— Das habe ich genannt.
Der Ausbau der Infrastruktur und der Energieversorgung sowie die umweltgerechte Wirtschaftsentwicklung sind vordringliche Aufgaben für die asiatischen Länder. Insofern muß man daraus Paketlösungen ableiten. Man darf nicht nur wie Handelsbevollmächtigte oder Handelsvertreter durch die Länder reisen, sondern es müssen bei uns Pakete geschnürt werden, die möglicherweise auch den Betrieb solcher Anlagen einbeziehen.
Die Investitionen in diesem Bereich vollziehen sich daher nicht mehr auf den gewohnten Wegen, d. h. über den Export vollständiger Produkte und Anlagen aus Deutschland bei Finanzierung durch die Banken. Vielmehr ist es erforderlich, diese Paketlösungen einschließlich der Vorfinanzierung der Investitionen anzubieten. Darauf ist die deutsche Industrie nicht eingerichtet. Was in den USA langjährig geübte Praxis ist, stößt in Deutschland auf vielfältige Hemmnisse und Widerstände nicht nur bei der Administration, sondern auch bei den Unternehmen. Das Zusammenraufen der Unternehmen ist häufig der schwerste Teil, der zu bewältigen ist.
Wenn Deutschland in den nächsten zwei bis drei Jahren nicht in der Lage ist, solche Paketlösungen wie z. B. beim U-Bahn-Bau anzubieten, werden die heute noch gegebenen Chancen an die Konkurrenz verlorengehen. Der ICE in Korea ist ein deutlich warnendes Beispiel.
16914 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993
Ernst Schwanhold
Ganz neue Kooperationsformen zur Erschließung dieser Märkte sind aber nicht nur in der Wirtschaft erforderlich. Es ist sattsam bekannt, daß Geschäfte in Asien nur in engem Zusammenwirken von Wirtschaft und öffentlicher Hand zu machen sind. Der Bundeskanzler hat dies erkannt, und dafür verdient er auch Anerkennung. Ich hoffe, daß der Bundeswirtschaftsminister — heute habe ich Anzeichen dafür gesehen und auch Aussagen dazu gehört — diesem Weg folgen wird. Bisher war es — jedenfalls für uns — nicht erkennbar, Herr Rexrodt.
Ein organisiertes Vorgehen ist also das Gebot der Zukunft. Vor allem unsere Mittelständler brauchen öffentliche Hilfe, um sich in dem fremden Umfeld zurechtzufinden; fremd für sie in wirtschaftlicher, rechtlicher, kultureller und nicht zuletzt auch in sprachlicher Hinsicht. Wer in Asien nicht permanent vor Ort vertreten ist, Informationen sammelt, Kontakte hält und Projekte vorbereitet, wird wenig Chancen haben, sich auf diesen Märkten zu etablieren.
Dies können Mittelständler weder personell noch finanziell leisten. Wer hier Zweifel hat, sollte sich die Erfahrungen von VW ansehen, mittelständische Zulieferer mit nach China zu ziehen. Es ist übrigens auch für solche Teile Ostdeutschlands, die nur noch mittelständische Wirtschaftsstruktur haben, unerläßlich, daß es dabei administrative Hilfen von seiten der deutschen Politik gibt.
Der deutsche Maschinenbau konnte in den vergangenen Jahrzehnten seine Produkte praktisch verteilen. Diese Zeit ist heute leider — oder möglicherweise auch Gott sei Dank, weil so etwas auch schläfrig macht — vorbei. Heute stehen die Unternehmen im harten internationalen Wettbewerb. Es ist bedauerlich, daß die Verantwortung und die Last, diesen zentralen mittelständischen Bereich in Deutschland in diesen neuen Märkten zu unterstützen, praktisch auf die Länder abgewälzt worden ist. Herr Wirtschaftsminister Rexrodt, ich bitte Sie sehr herzlich, darüber nachzudenken, ob es nicht auch konzertierte Aktionen zwischen den Ländern und der Bundesregierung geben kann, um bei der Vielfalt der Regionen und der Länder, wovon wir heute so viel gehört haben, die Verantwortung sinnvoll aufzuteilen.
Es reicht auch nicht aus, hier die Tätigkeit der Außenhandelskammern zu erweitern. Da befinde ich mich im Gegensatz zu Herrn Klein; denn ich glaube, daß das Projekt der Außenhandelskammern der Nachfrageorientierung auf diesen Märkten nicht entgegenkommt.
Herr Kollege, Verzeihung, in dieser Debatte ist es notwendig, daß Sie differenzieren zwischen zwei Kleins.
Selbstverständlich, Herr Präsident. Ich meine Klein . Ich habe vorher von den Handlungsreisenden gesprochen, und ich würde mir nie erlauben, Sie mit einem Handlungsreisenden zu vergleichen, während sich dieser Eindruck bei dem Schiffsbauexperten Klein aus Bremen bei mir gelegentlich verfestigt.
Die deutsche öffentliche Hand muß selbst vor Ort präsent sein, Anlaufstelle für die Industrie, speziell für die Mittelständler, sein und konkret vor Ort Beratungshilfe geben. Möglicherweise würden sich Häuser des Mittelstandes, die auch von der öffentlichen Hand in deutlichem Maße unterstützt werden, anbieten, damit man sich dort bewegen kann und Kontakt und Technologiezentren hat.
Von diesen Problemen steht nahezu nichts im Asienkonzept der Bundesregierung. Insofern bedarf es noch der Ausformulierung. Wir würden dies sicherlich auch unterstützen.
Ich will auf einen Satz hinweisen, Herr Rexrodt, der mir sehr zu denken gibt. Ich zitiere: „Wir müssen sehr viel mehr über Asien/Pazifik wissen und uns dort mehr umtun. " Wenn es richtig ist, daß diese Diskussion seit zehn Jahren läuft, dann kann ich mir zumindest den leisen Vorwurf nicht ersparen, daß zehn Jahre — ein Stückchen Zeit — leider Gottes verschlafen worden sind. Es könnte sein, daß uns die Folgen dieser Schläfrigkeit nicht nur von seiten der öffentlichen Hand, sondern auch von seiten der Unternehmen noch einmal bitter einholen werden und daß wir dies noch einmal sehr bereuen werden.
Wenn aber schon in der Analyse schwerwiegende Mängel festzustellen sind, dann gilt das noch sehr viel mehr für die konkreten wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die in diesem Papier vorgeschlagen werden. Es zeugt doch von einer völligen Fehleinschätzung der Wettbewerbsbedingungen in den asiatischen Märkten, wenn diese Regierung allgemeine Maßnahmen zur Verbesserung der Standortqualität Deutschlands zur Lösung für die Erschließung asiatischer Märkte vorschlägt; diese haben nun wahrlich nur sehr peripher damit zu tun. Damit wird doch der Wirtschaft vorgegaukelt, daß auch in Zukunft der Export vom Standort Deutschland aus der zentrale Inhalt der Geschäftsbeziehungen zu Asien sein wird.
Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt als dieses. Die Unternehmen müssen sich auf diesen Märkten mit Kooperationen und mit eigenen Betriebsstätten etablieren. Dies wird die zentrale Aufgabe der Zukunft sein. Dazu benötigen sie konkrete Hilfestellung und nicht allgemeines Standortgerede wie im Asienkonzept, das sich an dieser Stelle leider Gottes durchsetzt.
Deutschland befindet sich auf den asiatischen Märkten in einem beinharten Systemwettbewerb, in einem Wettbewerb marktwirtschaftlicher Systeme und nicht allein in einem Wettbewerb von Unternehmen. Einzelbeispiele für diesen Systemwettbewerb dürften wohl allgemein bekannt sein, vom ICE in Korea bis hin zum Stahlwerk in Baoshan.
Paketlösungen für industrielle Großprojekte und Direktinvestionen vor allem von Mittelständlern erfordern neuartige Finanzierungskonzepte. Darauf sind Sie eingegangen; Hermes ist ein Stichwort dazu. Ich habe aber den Eindruck, daß die deutschen Banken, geschweige denn die Bundesregierung mit ihren Spezialkreditinstituten darauf zur Zeit noch zu wenig vorbereitet sind.
In Ihrem Asienkonzept findet sich zu diesem für die Zukunft entscheidenden Problembereich überhaupt
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Ernst Schwanhold
keine Aussage. Auch der Hinweis auf die DEG reicht bei weitem nicht aus. Bei 1 Milliarde DM Stammkapital sind deren Möglichkeiten, in Asien tätig zu werden, außerordentlich begrenzt. Bei fast 6 Millionen Arbeitslosen in diesem Land muß sich doch jeder die Frage stellen, ob Maßnahmen zur Erschließung dieser neuen Wachstumsmärkte nicht wesentlich sinnvoller sind, als Geld für Arbeitslosigkeit auszugeben. Dieses bedarf dann dringend der Umschichtung.
Das Asienkonzept dieser Regierung gibt, vor allem in seinem wirtschaftlichen Teil, auf diese ganz neuartigen Fragen und Probleme noch keine befriedigende Antwort. Es ist praktisch auf jeder Seite zu erkennen, daß es sich hier um ein eiliges Zusammenschreiben von Ressortideen und langjährigen Praktiken handelt, die nur der Überschrift nach ein Konzept darstellen.
Gefragt ist konzeptionelle Zusammenarbeit über die Ressorts hinweg. Wir benötigen eine differenzierte branchen- und auch länderspezifische Koordination; Länder hier und Länder dort. Dazu gehören Industrie, Administration und Banken an einen Tisch. Wir sollten dieses Vorhaben stützen — wir sind dazu bereit — und es nicht im Parteienstreit zerreden.
Herr Kollege Friedhelm Ost, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin dem Kollegen Schwanhold für sein Schlußwort dankbar: daß wir das Asienkonzept der Bundesregierung zum Anlaß nehmen sollten, es aber aus der Erfahrung, der Praxis, den Gesprächen, die wir alle, die wir in Asien waren, geführt haben, auch ergänzen. Wir haben dort in der Tat eine große Aufgabe, die wir in den letzten Jahren, ja vielleicht im letzten Jahrzehnt ein wenig vernachlässigt haben. Wir haben aber auch Chancen.
Richtig ist natürlich — das ist auch gesagt worden —, daß die asiatischen Länder, die asiatische Wirtschaft nicht erst seit gestern, sondern seit Jahrzehnten in Richtung Europa unterwegs ist mit großer Aktivität und großen Bemühungen. Wir sehen auch bei uns, daß sich allein im letzten Jahrzehnt der Anteil der Importe aus Asien am gesamten Import Deutschlands von 8 % auf 14 % erhöht hat, während der Anteil an den Gesamtausfuhren in Richtung Asien gerade von etwa 6 % auf 8 % gestiegen ist.
Herr Kollege Schwanhold hat zu Recht gesagt: Bei Direktinvestitionen, beim Direktengagement vor Ort haben wir eine viel schlechtere Relation aufzuweisen. Sie wäre ganz katastrophal — auch dies muß man einmal sagen —, wenn nicht die großen Chemieunternehmen, aber auch mittlere, vor allem im pharmazeutischen Bereich, schon seit langem in Richtung Asien unterwegs wären.
Nach dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung erleben wir in der Tat Neuformationen nicht nur mit dramatischen Verschiebungen der politischen Gewichte, sondern auch mit neuen Kristallisationskernen in der Weltwirtschaft. Über die Triade wird seit langem diskutiert, sie ist aber im Prinzip längst Realität. Damit müssen wir uns abfinden; darauf müssen wir uns einstellen. Es ist richtig: Während Europa jetzt mit sehr hartnäckigen Strukturproblemen, gegen Krisen der Strukturen kämpft, haben wir im asiatischen Raum einen enormen Boom mit Wachstumsraten von 5 %, 6 %, 10 % oder sogar 18 % und mehr in einzelnen Ländern zu verzeichnen. Aber wenn man nicht da ist, wenn man nicht daran beteiligt ist, profiliert man davon natürlich nur relativ schwach.
Es ist richtig gesagt worden: Geographisch, demographisch und ökonomisch ist Asien sozusagen der größte Markt der Welt, und er wächst weiter. Nur, dies muß die Politik noch stärker ins Visier nehmen. Da ist einiges geleistet worden. Noch nie zuvor war etwa ein Bundeskanzler so oft in dieser Region wie der jetzige Bundeskanzler; auch Wirtschaftsminister und andere reisen sehr viel öfter als in früheren Zeiten in diese Region. Dies sollte weiter intensiviert werden. Wir haben selbst gemerkt — ich selber werde mich dafür einsetzen —, daß wir diese Kontakte auch auf der parlamentarischen Ebene intensivieren müssen. Das ist der Wunsch der Kollegen in Japan, in Korea, aber auch anderswo gewesen.
Die Wirtschaft selber hat diesen Markt zum Teil verschlafen. Der Wirtschaftsausschuß mit einigen Kolleginnen und Kollegen hat in den asiatischen Hauptstädten von den Repräsentanten deutscher Firmen vor Ort ja wörtlich gehört — ich lese das einmal vor, wenn es mir gestattet wird —: „Es ist kaum zu glauben, mit welcher Ignoranz und Arroganz viele Vorstände in deutschen Firmen sich gegenüber Asien verhalten."
Es sollte auch einmal sehr deutlich werden, daß auch in den hohen Vorstandsetagen deutscher Firmen ein bißchen mehr Bewegung in Richtung Asien dringend erforderlich ist. Da nützt das Lamento — man hört das immer wieder — über den fehlenden politischen Flankenschutz wenig. Das ist zwar leiser geworden, aber jeder Wirtschaftsminister vor Ihnen, lieber Herr Rexrodt, hat dies auch gehört. Im Prinzip war immer die Politik schuld, wenn große Geschäfte nicht zustande kamen.
Es wäre sicherlich gut gewesen, wenn etwa in Korea bei dem harten Wettbewerb um das Schnellverkehrssystem der erste Verkäufer, der erste Mann der deutschen Anbieterfirma auch beim Präsidenten aufgetaucht wäre. Es macht immer einen guten Eindruck, wenn man sich selbst vorstellt.
Ein Umdenken ist notwendig. Die Zukunftsmusik der Weltwirtschaft wird in den 90er Jahren und wohl auch danach eben nicht mehr allein in Europa und in Amerika gespielt, sondern vor allem in der asiatischpazifischen Region. Viele Prognostiker gehen davon aus, daß der jetzige Anteil am Weltsozialprodukt, der auf diesen Raum fällt und bei etwa 25 % liegt, allein bis zum Jahr 2000 auf 33 % oder gar 35 % steigen wird.
Ich selber bin auch sehr optimistisch, daß sich die Dynamik, natürlich von Land zu Land sehr unterschiedlich, fortsetzen wird. Aber wir sehen auch, wie in Asien über die Grenzen hinweg sehr geschickt intensiv miteinander kooperiert wird, wie eine echte Arbeitsteilung auch im asiatischen Raum selbst stattfindet, die auch deutsche Firmen, die dort hingehen, mit Kooperationen, mit strategischen Allianzen nach-
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Friedhelm Ost
vollziehen müssen. Man kann nicht nur einen Stützpunkt wählen, sondern man muß von dort aus sehr intensiv mit anderen Ländern kooperieren.
Wir spüren die Konkurrenz aus Asien hier auf dem Markt natürlich sehr deutlich. Das betrifft eben nicht nur Textilien, Schuhe, Uhren, Kameras und Unterhaltungselektronik, sondern eben vor allem auch HighTech-Produkte; denken wir etwa einmal an Automobile. In vielen Bereichen bei uns sind die Japaner, jetzt auch zunehmend die Südkoreaner — im nächsten Jahr kommt eine neue Firma hinzu —, sehr stark auf unseren Markt vorgestoßen, nämlich mit außerordentlich attraktiven Angeboten. Wir haben ja keine schlechte Automobilindustrie, aber wir sehen daran sehr deutlich — dies müssen wir respektieren und daraus die Konsequenzen für unsere Automobilindustrie, für die Zulieferer ziehen —: Produktqualität, Kosten, Marktverhalten und Kundenzufriedenheit — dies sind hohe Prinzipien, die die Asiaten wirklich beherrschen, teilweise besser als die Europäer.
— Ja, darauf komme ich noch.
Es war der Präsident von General Motors in Europa, der kürzlich wörtlich gesagt hat: „Die Japaner haben im Durchschnitt 50 % weniger Pannen als die besten Europäer." Hier müssen wir alle besser werden; wer nicht aufwacht, ist weg vom Markt.
Lieber Herr Kollege Weng — ich gehe gerne darauf ein —, wenn Sie wirklich einmal exakt sehen, wie es mit Zöllen und Kontingenten steht, dann ist es in den asiatischen Staaten für uns inzwischen recht günstig. Sie sind trickreich. Das gebe ich zu und nenne Ihnen auch noch ein schönes Beispiel dafür: In Südkorea etwa finden Sie kaum ein deutsches Auto auf den Straßen, bestenfalls dann, wenn der Botschafter oder der Wirtschaftsattaché unterwegs ist.
— Nein. — Wenn Sie danach fragen, werden Sie feststellen: Die Zölle sind es nicht, die Kontingente sind es nicht, aber jeder, der sich ein gutes europäisches Auto kauft, kann fest damit rechnen, daß eine Woche später die Steuerprüfung kommt. Deshalb kaufen sich weniger Leute ein europäisches Auto.
Ich denke, es ist richtig, daß wir in vielen Bereichen Kooperationsmöglichkeiten haben. Herr Kollege Schwanhold, ich will das unterstreichen. Sie haben die Bereiche genannt, von der Informations- bis zur Kommunikationstechnologie, von der Gentechnologie bis zur Biotechnologie, im Verkehrsbereich, vor allem auch im Energiebereich.
Diese Region braucht eine gute Energieversorgung. Das hören Sie überall. Diese Region setzt eben nicht nur sehr stark auf die Kohle — was übrigens für uns, wenn die Chinesen so stark auf die Kohle setzen, wie sie es vorhaben, ein großes Weltklimaproblem wird —, sie setzen auch sehr stark auf die Kernenergie.
Deshalb warne ich alle Neugierigen, die nach China schauen, die nach Asien schauen, die sich in Japan unterhalten und hier intensiv darüber diskutieren, ob und wann wir aussteigen wollen. Die Japaner wollen ihre Kernkraftwerkskapazitäten im nächsten Jahrzehnt verdoppeln, wollen in die Schnelle-BrüterTechnologie einsteigen.
Wir haben Chancen auf diesem Gebiet, und zwar in Milliardenhöhe, aber nur dann, wenn wir drinbleiben und nicht aussteigen; denn ich kann mir nicht vorstellen, daß man in Tokio, Osaka oder wo auch immer da einsteigt, wo wir aussteigen. Deshalb sollten wir auch in diesem Bereich einmal überlegen, ob wir es uns erlauben können, bei modernen Technologien auszusteigen, wenn wir wirklich die Kooperation, wenn wir wirklich strategische Allianzen, wenn wir wirklich die Zusammenarbeit mit dem asiatischen Wirtschaftsraum ernst meinen.
Ich bin schon der Meinung, daß wir natürlich auf Kooperation setzen sollten. Hier lassen Sie mich auch sagen: Bei allem Verständnis für weitsichtige außenpolitische Erwägungen und Prinzipien, auch gegenüber China, sollten wir nicht chinesischer sein als die Chinesen selbst, wenn es um Taiwan geht.
Die Volksrepublik China — das kann man ja sehr genau lesen — normalisiert ihre Beziehungen, bis hin in sensible Bereiche, bis hin in den Energiebereich, bis hin in den kerntechnologischen Bereich.
Natürlich — das ist zu Recht gesagt worden — wird es unseren Bürgern auf Dauer ökonomisch wohl kaum zu vermitteln sein, wenn mancher Großauftrag aus China mit einigen hundert Millionen D-Mark subventioniert werden muß, während durch Milliardenaufträge aus Taiwan vor allem an der deutschen Küste — ein SPD-Ministerpräsident hat sich auch eingeschaltet; nicht ganz zur Freude seiner anderen Freunde —
zigtausend Arbeitsplätze gesichert werden könnten.
Kooperation bedeutet nicht eine Einbahnstraße. Das gilt auch für Rotchina. Wenn es um den Textilhandel geht und auch andere für unsere Arbeitsplätze und Fabriken sensible Produkte, bitte ich auch, daß sich diese Länder an den GATT-Regeln und den Regeln des Welttextilabkommens sehr genau orientieren; sonst wird es eben keine sehr freundliche Kooperation, die es werden kann, sonst wird es natürlich schon ein Kampf um Märkte mit Tricks, mit unsauberen Wettbewerbspraktiken und nicht mit fairen Handelspraktiken.
Die begonnene Asienoffensive sollte auf allen Ebenen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft forciert werden. Deutschland muß in dieser großen Region, so meine ich, präsenter werden.
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Friedhelm Ost
Dazu ist der personelle Ausbau der Botschaften und Handelskammern sowie der Kulturinstitute ein richtiger und wichtiger Schritt, auch für das wirtschaftliche Vorankommen.
Ich kann mir viele weitere Schritte vorstellen, die auch teilweise hier genannt worden sind. Ich selber würde dafür plädieren — wir sollten das ernsthaft diskutieren —, ob nicht in großen asiatischen Zentren Deutsche Häuser errichtet werden und dort vor allem eine Etage eingerichtet wird für mittlere und kleinere Unternehmen, die dort Service brauchen, die dort Beratung brauchen.
In der Tat — der Wirtschaftsminister hat das zu Recht gesagt — sollten wir überlegen, ob wir zu anderen, besseren Finanzierungsinstrumenten kommen. Was mir auch am Herzen liegt, ist, daß wir einmal mittlere und kleinere Unternehmen, auch wenn sie in Kooperation oder als Systemlieferanten auftreten, sehr viel stärker fördern, wenn sie im Fernen Osten auf Messen präsent sein sollen und wollen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke, so gesehen, kann diese Asienoffensive ein wichtiger Beitrag werden zur Zukunftssicherung des Standorts Deutschland, zur Findung neuer Märkte, aber auch im Wettbewerb mit diesen asiatischen Ländern dazu führen, daß unsere Unternehmen wieder an Konkurrenzfähigkeit gewinnen.
Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Ortwin Lowack.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte den 150 Abgeordnetenkollegen sehr herzlich danken, die mit ihrer Initiative diese Debatte überhaupt erst erzwungen haben, auch wenn einige von ihnen im Laufe der Zeit immer kleiner wurden, sobald sie die Hand des Kanzlers auf ihrer Schulter gespürt haben. Ausgangspunkt für die sogenannte Asienoffensive der Bundesregierung war ja gerade die Kritik dieser Abgeordneten an der lächerlichen Entscheidung des Bundessicherheitsrates vom Januar und an dem Versuch der Bundesregierung, sich zu Lasten Taiwans und seiner Sicherheitsbedürfnisse bei der totalitären Führungsclique in Peking einzukaufen — und das mit der geistigen Begrenztheit einer sogenannten Ein-ChinaPolitik, die in Wirklichkeit ein Ein-China-Dogma ist, von dem wir wissen, daß es von vornherein falsch war und längst hätte abgeändert werden müssen.
Den Gipfel erreicht diese dogmatische Haltung nun mit dem militärischen Salut für den deutschen Bundeskanzler am Platz des Himmlischen Friedens, dem Ort des fürchterlichen Massakers im Juni 1989 — armselige deutsche Politik. Einer souveränen französischen Haltung, Lieferung der Mirage 2000 und von Fregatten, aber auch Gespräch der Führungsspitze mit dem Dalai-Lama trotz Protestes aus Peking, steht eine deutsche Haltung gegenüber, die eine sehr seltsame Mischung aus Kadavergehorsam — ich spreche das Wort ganz bewußt so aus — und schülerhaftem Auftreten ist, nach dem Motto: Wir waren brav, was Taiwan betroffen hat, jetzt müßt ihr uns dafür auch belohnen.
Taiwan, das demokratische, erfolgreiche, uns wohlgesonnene China, das mit etwa 20 Millionen Menschen in einem freiheitlichen System ein Bruttosozialprodukt in gleicher Höhe erwirtschaftet wie 580 Millionen Chinesen in Rotchina,
wird bewußt vor den Kopf gestoßen. Das Auswärtige Amt blödet sich auch noch an, wenn beispielsweise die Stadt Bonn eine Ausstellung aus dem Palastmuseum in Taipeh zeigen will, erst in Peking nachzufragen, ob das dort auch genehm ist. Viele andere abstruse Sachen werden in den nächsten Wochen in diesem Parlament zu erörtern sein.
Dabei hat Taiwan einen entscheidenden Anteil an der positiven wirtschaftlichen Entwicklung Festland-chinas. Es bezahlt seine Aufträge — das ist bereits gesagt worden — prompt und bar, es hängt nicht am Steuerzahler- und Hermes-Tropf, der bei Rotchina heute schon bei mehr als 10 Milliarden DM liegt, und nicht an Entwicklungshilfe.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, auch die große Renaissance im chinesischen Denken, vor allen Dingen im Konfuzianismus, geht nach den fürchterlichen Verwüstungen, die die Kulturrevolution in Rotchina hinterlassen hatte, von Taiwan aus. Die junge chinesische Intelligenz blickt nach Taiwan und hortet Taiwan-Dollar als Talisman. Die deutsche Bundesregierung blickt dagegen starr wie ein Kaninchen auf die alte kommunistische Funktionärsclique in Peking. Während Taiwan die deutsche Werftindustrie allein im Bereich des U-Boot- und Fregattenbaus auf Jahre hätte sanieren können und weitere Aufträge in einer Größenordnung bis zu etwa 100 Milliarden DM zu erwarten waren, war die Ausbeute des Kohl-Besuchs geradezu lächerlich gering.
Die Bundesregierung ist dabei, einen der größten Fehler in der Nachkriegsgeschichte zu begehen, indem sie auf die falschen Pferde setzt. Dabei kann es doch, meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Normalisierung der Beziehungen zu China nur mit einer Normalisierung der Beziehungen zu Taiwan geben. Wenn der Bundeskanzler zu feige für eine derartige Entscheidung ist, müßte es doch im Interesse der deutschen Politik liegen, eine Absprache unter den westlichen Industrieländern herbeizuführen, damit die Politik Pekings, nämlich andere gegeneinander auszuspielen, endlich ein Ende hat. Ich fordere die Bundesregierung auf, auf diese gemeinsame Haltung der westlichen Industrieländer hinzuarbeiten, damit wir hier gemeinsam Klarheit bekommen.
Die sogenannte Asienoffensive der Bundesregierung ist keine Langzeitstrategie, sondern ein reines Spektakel. Sie ist nur unter dem Druck dieser 150 Abgeordneten zustande gekommen, die die Zukunft der Entwicklung vor sich gesehen und nicht auf die Vergangenheit geblickt haben. Wir gewinnen durch
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Ortwin Lowack
eine solche Initiative, wie sie gerade vom Kanzler gestartet wurde, keine Freunde. Wir verlieren die letzten wirklichen Freunde in Asien. Wir gewinnen kein Ansehen, wir verlieren es. Und schlimmer noch: Wir haben, was Menschenrechte, deutsche Souveränität und politische Prinzipien betrifft, das Gesicht verloren. Gesichtslos in Asien aufzutreten ist tödlich.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, glaubt die Bundesregierung allen Ernstes an die Ewigkeit des totalitären Systems in Peking?
Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Und was wird passieren, wenn Deng in wahrscheinlich kurzer Zeit nicht mehr die Fäden in der Hand hält?
So lassen Sie mich abschließen: Laotse hat einmal gesagt, der Tod sei wie eine Lampe, die am Morgen verlösche, wenn die Sonne aufgeht. Ich habe den Eindruck, die Sonne wird für die Politik in Deutschland erst dann wieder aufgehen, wenn diese Bundesregierung endlich neuen Ideen, neuen Perspektiven und der Wahrnehmung unserer ureigenen Interessen Platz macht.
Herr Kollege Lowack, Begriffe wie „Kadavergehorsam" zur Kennzeichnung der Haltung der Bundesregierung oder „sich anblöden" zur Kategorisierung des Auswärtigen Amtes sind unparlamentarisch. Ich erteile Ihnen keinen Ordnungsruf, aber ich weise Sie darauf hin, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie bei Ihren künftigen Beiträgen Ihre Sprache an den parlamentarischen Usancen ausrichten würden.
Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/5959 und 12/6151 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Der Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/6279 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden wie die Unterrichtung durch die Bundesregierung. Sind Sie damit einverstanden, meine Damen und Herren? — Dies ist offensichtlich der Fall. Darm sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zur Bedeutung der Braunkohle im Rahmen ihres Energiekonzepts vor dem Hintergrund von unmittelbar bevorstehenden Schließungen von Tagebaurevieren in den neuen Bundesländern und der anstehenden Eröffnung neuer Tagebaureviere in Nordrhein-Westfalen
Diese Aktuelle Stunde ist von der Gruppe PDS/ Linke Liste beantragt worden.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich denke, es ist höchste Zeit, daß sich der Bundestag einmal mit der Braunkohle beschäftigt.
Der Anschlußtagebau Garzweiler II scheint perfekt. Zwischen 45 und 50 Millionen Tonnen Braunkohle sollen dort nach dem Jahr 2000 jährlich gefördert werden. In diesem Gebiet leben heute noch ca. 11 800 Menschen in 17 Orten. Sie werden dem Tagebau weichen müssen, weil die Bundesregierung gegenüber Rheinbraun erklärt, daß die energiepolitische Bedeutung der Braunkohle als sicherer und heimischer Energierohstoff unbestritten sei. Gilt das nur für die Braunkohle in Nordrhein-Westfalen?
Eine der dramatischsten Entwicklungen im Osten vollzieht sich zweifelsohne in den Braunkohleregionen. Die Fördermenge im Bereich von LAUBAG und ESPAG z. B. ging von 195,1 Millionen t im Jahre 1989 auf 93,1 Millionen t Ende 1992 zurück.
Damit verbunden war ein Arbeitskräfteabbau allein im Bereich der LAUBAG von mehr als 73 000 auf etwa 26 000 per 30. September 1993. Ca. 9 000 Beschäftigte sind befristet in einer Sanierungsgesellschaft untergekommen.
Mit der Kohle stirbt eine ganze Region. Denn ein Arbeitsplatz im Energiebereich bringt etwa drei in anderen. Außer dem mehr als fragwürdigen Projekt eines Lausitz-Ringes aber hat die Bundesregierung nichts anzubieten. Genau hier liegt das Problem.
Klar ist, daß die Monostrukturen in der Lausitz aufgebrochen werden müssen, weil die Braunkohleproduktion nicht mehr an Beschäftigungszahlen wie vor 1989 herankommen wird. Hier ist eine von Land und Bund gemeinsam getragene Strukturpolitik zu verwirklichen, die zur Schaffung neuer und zukunftsträchtiger Arbeitsplätze führt. Davon aber ist bislang weit und breit nichts zu sehen. Und was der Steinkohle recht ist, sollte der Braunkohle, denke ich, nur billig sein. Land und Bund jedenfalls werden ihrer Verantwortung in keiner Weise gerecht.
Klar ist weiter, daß die gewaltigen Umweltschäden, die der Bergbau hinterlassen hat, beseitigt werden müssen. Hier wäre beispielsweise ein riesiges Feld für die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Nur müßten dafür auch ausreichende finanzielle Mittel bereitgestellt werden. Nebenbei bemerkt ergäben sich Umweltschäden aber auch dann, wenn es zu einem weiteren Rückgang des Braunkohleabbaus kommen würde. Drastische Folgen für den Wasserhaushalt z. B. der Spree sind inzwischen unbestritten. Oder zu gut deutsch: Berlin läge irgendwann auf dem Trockenen.
Um einem Zwischenruf zuvorzukommen: Die Position der PDS/Linke Liste zur Braunkohle steht keineswegs im Widerspruch zu unseren Forderungen nach drastischer Energieeinsparung und der Gewinnung alternativer Energiequellen. Realismus aber ist angebracht. Und das heißt: Die Braunkohle muß mittelfristig ihren Platz im energiepolitischen Gesamtkonzept der Bundesregierung haben — wohlge-
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Dr. Dagmar Enkelmann
merkt in Ost und West. Die Folgen für Mensch und Umwelt müssen allerdings gründlicher abgewogen werden. Während z. B. die Vorfelder für neue Tagebaue in der Lausitz weitgehend geräumt sind, muß das im Rheingebiet erst erfolgen. Muß das wirklich sein? Zu prüfen wäre allerdings auch, ob Homo weg muß.
— Sie dürfen wohl heute nicht sprechen, Herr Klinkert? — Die technisch-ökonomischen Grundlagen für eine effiziente und ökologische Energiewirtschaft bei sinnvoller Nutzung einheimischer Rohbraunkohle liegen auf der Hand:
Erstens. Moderne Großtagebaue können konkurrenzfähige Kohlepreise gewährleisten. Die Diskussionen um die Kosten der Braunkohle bei der Entscheidung des Potsdamer Stadtparlaments z. B. waren insofern nicht stimmig, als Fragen wie die weitere Effektivierung des Abbaus, die sozialen Kosten des Rückgangs der Kohlegewinnung oder die bereits jetzt angekündigten drastischen Preisanhebungen für 01, Gas und Importkohle ab etwa 1995 ausgeklammert wurden.
Zweitens. Die bei der Braunkohleverarbeitung praktizierten Kraft-Wärme-Kopplungsprozesse gestatten eine Erhöhung des energetischen Wirkungsgrades gegenüber modernen Kondensationskraftwerken von ca. 40 auf 70 %. Damit können fossile Brennstoffe in entscheidendem Maße eingespart und Emissionen entsprechend reduziert werden. Übrigens: Der so hoch gepriesene Umweltvorteil von Erdgas existiert angesichts hoher Verluste bei Förderung und Transport nur auf dem Papier. Erdgas besteht bekanntlich überwiegend aus Methan, das, urverbrannt freigesetzt, ein Vielfaches der Klimawirksamkeit im Vergleich zu CO2 hat.
Drittens. Für die Abnahme von Wärme bei der Kraft-Wärme-Kopplung bieten sich u. a. Heizwasser zur Versorgung von Ballungsgebieten oder Trocknungsprozesse der Rohbraunkohle für verschiedene Produkte an.
Viertens. Projektstudien zum Einsatz von Braunkohle in Kombikraftwerken unter Nutzung der Wirbelschichttechnologie liegen bereits vor. Hier könnte der energetische Wirkungsgrad weiter erhöht werden.
Fünftens. Grubenwasser eignet sich bestens für die Herstellung von Trink- und Brauchwasser und kann kostengünstig an angrenzende Kommunen geliefert werden.
Die Redezeit ist um, Frau Kollegin.
Ja, ich bin beim letzten Satz.
Das wohl unbestritten größte Potential für die Entwicklung einer effizienten und ökologisch verträglichen Energiewirtschaft aber sind das Wissen und die Erfahrung tausender Facharbeiter, Ingenieure und Wissenschaftler. Dieses Potential liegt zur Zeit brach. Die Betroffenen fühlen sich überflüssig und unnütz.
Frau Kollegin, bitte!
Ein klares Wort über die Zukunft der Lausitz könnte den Menschen im Revier wieder Hoffnung geben.
Das war der letzte Satz.
Ich bedanke mich.
Also, wenn jeder eine halbe oder dreiviertel Minute überzieht, ist es in der Aktuellen Stunde mit den Fünf-Minuten-Beiträgen nicht zu leisten.
— Wenn ich hier auf die Redezeit achte, Herr Kollege Seifert — nehmen Sie das bitte zur Kenntnis —, dann geschieht das im Interesse aller Kollegen. Wenn etwas wichtig zu sagen ist, dann sollen Sie es gefälligst am Anfang sagen und nicht nach Ablauf der Redezeit. Ihren Einwurf können Sie sich also sparen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Seesing.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Deutschland haben wir einen weitgehend funktionierenden Energieträgermix. Braunkohle, Steinkohle, Mineralöl, Erdgas, Kernenergie und erneuerbare Energien haben darin ihren Platz gefunden. Sie alle sichern gemeinsam unsere Energieversorgung. Dieses System muß erhalten bleiben, um eine weitere Schwächung des Standortes Deutschland zu vermeiden. Das bedeutet aber nicht, daß man das System nicht behutsam ändern kann, ja, muß. Dafür brauchen wir neue Ideen, aber auch Zeit und Geld.
Durch das Ereignis der deutschen Einheit ist die Braunkohle zum wichtigsten nationalen Energieträger geworden. Sie wird auch in Zukunft in der Stromversorgung, besonders im Grundlastbereich, eine herausragende Rolle spielen.
Ich möchte mich im weiteren nur mit den Revieren Rheinland, Lausitz und Mitteldeutschland beschäftigen. In den Revieren Helmstedt, Hessen und Bayern wurden Mitte dieses Jahres noch 1 596 Arbeitnehmer gegenüber 1 779 Mitte 1992 beschäftigt. Im ersten Halbjahr 1993 förderten sie 2 160 000 t Braunkohle und erreichten damit einen Anteil von 1,9 % der deutschen Braunkohlenförderung.
Die Förderkapazität im rheinischen Revier beträgt zwar 120 Millionen t, die Förderung selbst wird in diesem Jahr aber nicht wesentlich über 100 Millionen t liegen. Über den weiteren Abbau — etwa nach dem Jahr 2005 — ist ein Streit über die ökologischen Grundbedingungen entbrannt. Es obliegt der Landesregierung Nordrhein-Westfalen und den dort zuständigen Behörden, die Vorbedingungen für einen weiteren Abbau zu klären. Nur, eines ist dabei sicher: In neue Kraftwerkstechniken für die Verbrennung von Braunkohle wird nicht eher investiert werden, als die Entscheidung über die langfristige Nutzung der rheinischen Braunkohlenvorräte gefallen ist. Erst
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Heinrich Seesing
Langfristigkeit ermöglicht Wirtschaftlichkeit. Wir sprechen im Zusammenhang mit der Kernenergie von Kapitalvernichtung durch vorzeitiges Abschalten von Kernkraftwerken. Die gleiche Gefahr sehe ich für Braunkohlenkraftwerke, wenn unsere Politik nicht eindeutig ist.
Mit großer Kraftanstrengung versuchen wir in den jungen Bundesländern, die Braunkohlenförderung im mitteldeutschen Revier und in der Lausitz langfristig wirtschaftlich zu gestalten. CDU und CSU haben sich dafür ausgesprochen, die jährliche Braunkohlenförderung in diesen beiden Gebieten auf etwa 100 Millionen Tonnen festzulegen, weil dadurch die Wirtschaftlichkeit der Anlagen gesichert werden kann.
Wenn wir rund 15 000 Arbeitsplätze in den beiden Revieren von LAUBAG und MIBRAG erhalten wollen — und das langfristig —, dann können wir uns nicht viele Spielereien um den Einsatz von Erdgas, Erdöl und Importsteinkohle in der Stromerzeugung — und hierbei im Grundlastbereich — im Osten Deutschlands erlauben.
Ein weitgehender Verzicht auf den Einsatz von Braunkohle hätte einen noch größeren Arbeitsplatzabbau zur Folge.
Die Sanierung der verwüsteten Landschaften, die Regulierung des gestörten Wasserhaushaltes — ich erinnere auch an das, Frau Dr. Enkelmann, was ich vor einigen Wochen hier im Plenum über die Probleme der Lausitz berichtete — und der Abriß stillgelegter Fabriken wären kaum sinnvoll zu realisieren. Deswegen bestehen wir auf dem Abbau von Braunkohle in gesichertem Umfang über einen Zeitraum von mindestens 40 Jahren. Denn die neuen Braunkohlenkraftwerke sind nur dann zu verantworten, wenn sie auch langfristig Braunkohle zur Verbrennung erhalten. Deswegen ist es auch nicht zulässig, nachträglich neue Bedingungen für den Betrieb von Kraftwerken einzuführen. Wir brauchen Klarheit, Langfristigkeit und Sicherheit far die Menschen in den Braunkohlengebieten. Das wollen wir ihnen sichern.
Ich danke Ihnen.
Herr Kollege Volker Jung, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesrepublik Deutschland ist wie andere Lander in der Europäischen Gemeinschaft zu über 60 % von Energieimporten abhängig. Diese Abhängigkeit darf nach unserer Auffassung nicht weiter steigen. Deshalb muß der einzige langfristig verfügbare heimische Energieträger, die Kohle, seinen Anteil von 30 % an unserer Energieversorgung behalten. Das gilt für die Steinkohle ebenso wie für die ostdeutsche und die westdeutsche Braunkohle. Deshalb hat sich die SPD immer für einen Sockel an Versorgungssicherheit mit heimischer Kohle ausgesprochen; und deshalb treten wir ebenso bei der Steinkohle für die Einhaltung der
Kohlerunde von 1991 ein wie für den Erhalt und die ökologische Umstrukturierung der ostdeutschen Braunkohle.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat im Juni den Antrag „Sicherung der Zukunft der ostdeutschen Braunkohle" ins Parlament eingebracht. Wir fordern aus energie-, wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Gründen sowie zur Sicherung der Rekultivierung und zur Sanierung der Altlasten eine langfristige Fördermenge an ostdeutscher Braunkohle von mindestens 100 Millionen Tonnen pro Jahr. Da stimmen wir offensichtlich mit der CDU/CSU-Fraktion überein.
Meine Damen und Herren, die Anpassungsmaßnahmen und die ökologische Sanierung der Braunkohlentagebaue in Ostdeutschland sind in vollem Gange, sie sind aber noch nicht abgeschlossen. Wir müssen die Braunkohle auf eine wirtschaftlich gesunde Basis stellen, dann wird sie wettbewerbsfähig sein, und dann wird ihr Einsatzpotential hauptsächlich in der Verstromung liegen. Mit nachgerüsteten bzw. mit moderner Umwelttechnologie ausgerüsteten Kraftwerken wird die Braunkohle der wichtigste Energieträger für die Stromerzeugung in den neuen Bundesländern bleiben.
Gleichzeitig müssen wir die Sanierung und die Rekultivierung der alten Tagebaue vorantreiben. Die von der Bundesregierung bereitgestellten Hilfen laufen allerdings nur bis 1997.
Deshalb hat die SPD eine Aufstockung und eine Festlegung auf 20 Jahre verlangt. Bei der Sanierung und Rekultivierung können wir bis zu 10 000 neue Dauerarbeitsplätze schaffen
und so das Arbeitsplatzproblem zwar nicht beseitigen, aber doch spürbar mildern.
Meine Damen und Herren, es wird immer wieder der Versuch gemacht, die westdeutsche gegen die ostdeutsche Braunkohle auszuspielen. Mir schien, Frau Enkelmann, daß Ihr Beitrag nicht ganz frei war von diesem Versuch.
Das ist völlig unhaltbar.
Im September 1991 hat die nordrhein-westfälische Landesregierung mit ihrer Leitentscheidung zum Tagebau Garzweiler II die geplante Abbaumenge von 120 auf 90 Millionen Tonnen Jahresförderung gekürzt. Nach der Energieprognose der Prognos AG vom März 1992 wird dagegen der Strombedarf allein für Nordrhein-Westfalen nur zu decken sein, wenn mindestens 85 Millionen Tonnen Braunkohle gefördert werden. Ohne den Aufschluß dieses Tagebaus läge die Kapazität allerdings nur bei 70 Millionen Tonnen pro Jahr. Der Aufschluß von Garzweiler II ist deshalb völlig unabhängig von der Energieverbrauchsentwicklung in Ostdeutschland erforderlich und ausschließlich zur Versorgung für die Rheinschiene bestimmt.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993 16921
Volker Jung
Schon aus ökonomischen Gründen kann niemand einem Transport von Braunkohle mit der Bahn quer durch die Bundesrepublik Deutschland das Wort reden; das wäre aber auch ökologisch unsinnig. Sinn macht deshalb nur die Erzeugung und der Transport von Grundlaststrom z. B. aus ostdeutschen Braunkohlekraftwerken in die Grenzregionen Niedersachsens, Hessens und Bayerns. Für eine solche Politik treten wir ein, nicht zuletzt um Kernenergiestrom zu reduzieren.
Dieser Stromtarif wird aber vom Braunkohletagebau Garzweiler II überhaupt nicht tangiert, meine Damen und Herren.
Wir haben in unserem Antrag aufgezeigt, wie dieser wichtige Energieträger langfristig und ökologisch vertretbar erhalten und gefördert werden kann. Nur wenn die Privatisierung der ostdeutschen Tagebaue bald abgeschlossen wird und die ökologische Sanierung mit einem umfangreichen öffentlichen Finanzierungskonzept abgesichert ist, entstehen auch langfristige Beschäftigungsperspektiven für die Bergleute in den ostdeutschen Tagebauen.
Schönen Dank.
Das Wort hat der Kollege Klaus Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir alle wissen: Für eine gesicherte Energieversorgung Deutschlands waren und sind die Braunkohlereviere unverzichtbar. Sie garantieren einen kostengünstigen Abbau, eine hohe Wettbewerbsfähigkeit und sind somit eine wichtige Voraussetzung für eine preisgünstige und sichere Stromversorgung.
Auch im westdeutschen Braunkohletagebau hat sich in den vergangenen Jahren ein Rationalisierungs- und Strukturwandel vollzogen. Die Zahl der Tagebaue hat sich von 17 im Jahre 1960 auf 4 im Jahr 1991 verringert. Im gleichen Zeitraum ist die Braunkohleförderung aus diesen Tagebauen um 30 % gestiegen. Der Personalbestand ist von 24 000 Beschäftigten auf heute 15 000 Mitarbeiter zurückgeführt worden.
Gleichzeitig konnte erfolgreich gezeigt werden, daß Ökonomie und Ökologie keine unverträglichen Pole sein müssen. Die Energieunternehmen haben Pionierarbeit geleistet. Sie haben bewiesen, daß mit dem erfolgten Konzentrationsprozeß der Eingriff in den Lebensraum und die Umwelt auf ein vernünftiges Maß reduziert werden konnte.
Meine Damen und Herren, eine mögliche endgültige Genehmigung von Garzweiler II — sie liegt ja noch nicht vor — bleibt allerdings der Landesregierung Nordrhein-Westfalens vorbehalten.
Einen Zusammenhang zwischen dem Aufschluß des
neuen Tagebaus Garzweiler II und der Braunkohleförderung in den neuen Bundesländern herzustellen ist aus meiner Sicht politisch bedenklich. Ich denke, damit heizt man nur unnötig die Stimmung auf
und versucht, ost- und westdeutsche Interessen gegeneinander aufzubocken. Ich unterstütze deswegen das, was der Kollege Jung hierzu bemerkt hat.
Folgende Hinweise mögen zur Versachlichung des Themas beitragen: Erstens. Die Absatzproblematik der ostdeutschen Braunkohle muß heute gelöst werden. Garzweiler II spielt hier keine Rolle. Dort wird, wie wir wissen, frühestens im Jahr 2005 Kohle gefördert.
Zweitens. Wegen der hohen Leitungsverluste ist es unökonomisch, Braunkohle über Hunderte von Kilometern zu transportieren.
Drittens. Ein solcher Transport ist höchst bedenklich, da er die Leitungsverluste nicht aufzufangen vermag.
Viertens. Der Importkohle würde Tür und Tor geöffnet. Dem Einsatz heimischer Energieträger wäre nicht geholfen.
Meine Damen und Herren, die ostdeutsche Braunkohle ist in einer äußerst schwierigen Lage. Sie muß sich den Strukturproblemen stellen, die in Westdeutschland in der vergangenen Zeit erfolgreich bewältigt werden konnten. Eine soziale Flankierung des Umstrukturierungsprozesses der ostdeutschen Energiewirtschaft erfolgt schon heute. Bis 1997 werden jährlich 1,5 Milliarden DM bereitgestellt, um für mehr als 15 000 ehemalige Braunkohlebergarbeiter neue Tätigkeitsfelder zu erschließen. Inwieweit diese Maßnahmen über 1997 hinaus fortgesetzt werden müssen, wird in den Beratungen zum Energieartikelgesetz zu erörtern sein.
Sicher ist, daß der Konzentrationsprozeß auf wenige leistungsfähige Großtagebaue der richtige Weg ist. Langfristig ist die Weiterführung von 5 bis 7 Tagebauen und von 4 bis 5 Brikettfabriken vorgesehen. Konsequente Rationalisierung und der Einsatz einer modernen Umwelttechnik sind darüber hinaus Voraussetzung dafür, daß die ostdeutsche Braunkohle bei der Verstromung ihren Beitrag zur Energiesicherung in Deutschland leisten kann. Die kürzliche Grundsteinlegung für die beiden 800 MW-Blöcke bei Schwarze Pumpe legen hierfür Zeugnis ab.
Die staatliche Planwirtschaft mit ihrer international unzureichenden Wettbewerbsfähigkeit, mit ihrem Autarkiebestreben und der unverantwortlichen, umweltverachtenden Ausnutzung der eigenen Ressourcen hat vieles kaputtgemacht. Sie hat nicht nur schwere ökonomische und ökologische Schäden verursacht, sondern auch das umweltpolitische Bewußtsein der Bürger geschärft.
Unser Wertesystem, das von einem sparsamen Umgang mit Ressourcen geprägt ist und zusätzlich durch die Klimadiskussion neue Fragen für die Ausrichtung der Energiepolitik aufwirft, hat auch unsere ostdeutschen Bundesbürger sensibilisiert.
16922 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993
Klaus Beckmann
Die Entscheidung Potsdams, nicht die heimische Braunkohle einzusetzen, ist vor diesem Hintergrund nachvollziehbar, aber verständlich ist sie nicht.
Denn wer, wenn nicht die produktionsnahen Kommunen, kommt für den Einsatz der ostdeutschen Braunkohle in Frage? Ich denke, daß im ostdeutschen Stromkompromiß nach zähem Ringen mit den Kommunen eine faire Lösung gefunden worden ist. Jetzt kommt es darauf an, daß auch die Städte und Gemeinden sich ihrer gesamtwirtschaftlichen Verantwortung stellen und das Ihre tun, um den ostdeutschen Braunkohlerevieren eine dauerhafte Existenzgrundlage zu geben.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Klaus-Dieter Feige.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei aller Brisanz des Themas kann ich heute doch nicht übersehen, daß die PDS gerade vier Tage vor den Brandenburger Kommunalwahlen über das Thema Braunkohle diskutieren möchte.
Ich finde es völlig unzulässig, die Ängste der Bevölkerung um die Arbeitsplätze auszunutzen und sich wie die PDS damit als Wahrerin ostdeutscher Interessen um der Stimmen willen zu profilieren. Es erstaunt mich deshalb auch nicht, daß sie sich dabei sogar an vielen Positionen mit den zentralistischen Energiekonzernen des Westens und dem Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg in völliger Übereinstimmung befindet; geht es doch bei der derzeitigen Diskussion um die Braunkohle urn nichts anderes als um die Fortsetzung der Politik der ehemaligen Energie-Kombinate der DDR. Denn wir erinnern uns noch zu gut, wie sich RWE, Bayernwerk und PreussenElektra mit Hilfe der Bundesregierung in die Nachfolge der Energie-Kombinate gestohlen haben.
Es wäre sicherlich auch für uns sehr bequem, sich der opportunistischen Position anzuschließen, daß für die Braunkohlenarbeitsplätze auch in Jahrzehnten keine Gefahr besteht. Auch wir könnten uns vorgeblich bedingungslos für die Interessen der Bevölkerung und damit den Erhalt der ostdeutschen Braunkohle einsetzen. Doch das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird dieser Versuchung nicht erliegen. Denn was die brandenburgischen Parteien zu bieten haben, sind in Sachen Energiepolitik und Energiewirtschaft nichts anderes als phantasielose, rückwärtsgewandte und zukunftsuntaugliche Konzepte.
Es ist meine feste Überzeugung: Für die Lausitz gibt es eine Zukunft, jedoch nicht für die dortige Braunkohle. Eine im Juli dieses Jahres fertiggestellte Studie der Universität Aalborg beweist: Durch eine Dezentralisierungsstrategie auf dem Energiesektor inklusive eines breitangelegten Energiesparprogramms — davon ist bei Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition, heute überhaupt nicht die Rede gewesen — schaffen wir dreimal soviel Arbeitsplätze wie bei den geplanten Neubauten im Kraftwerkskomplex Schwarze Pumpe und dem anhängigen Braunkohletagebau. Aller Voraussicht nach wird dort in nächster Zukunft trotz Fördermaßnahmen von den heute noch existierenden 30 000 Arbeitsplätzen bestenfalls die Hälfte übrigbleiben.
Mit einer Strategie der Verminderung der Energienachfrage an Stelle der Ausweitung des Energieangebots schaffen wir hingegen mindestens 55 000 Arbeitsplätze in dieser Region, und zwar dauerhaft. Solange jedoch darüber nicht nach einer konsistenten Regionalplanung und in konkreten Beschlüssen vor Ort entschieden wird, sondern in den Konzernetagen der VEAG, werden diese Arbeitsplätze natürlich nicht entstehen.
Wir fordern deshalb, den Braunkohleabbau bundesweit wegen der damit zwangsläufig verbundenen Klima- und Umweltschäden sowie seiner minimalen Arbeitsintensität nur noch für einen übersichtlichen Zeitraum von maximal 20 Jahren fortzuführen. Dieser Übergangszeitraum muß dazu genutzt werden, den regionalwirtschaftlichen Umbau voranzutreiben. — Wie die Asiendebatte vorhin gezeigt hat, könnte uns auch das Land Japan als Beispiel dienen. Die werden uns nämlich schneller voraneilen, als manch ein Kollege hier heute noch träumen kann.
— Herr Klinkert, Sie sind dann ja nicht mehr im Bundestag! —
Es geht um nicht weniger, als die Fehler, die in den alten Bundesländern über Jahre hin gemacht wurden, in den neuen nicht zu wiederholen, sondern in eine dezentrale Energiestruktur zu investieren, die zukunftsbeständig ist.
Wir verstehen durchaus, warum sich die Bewohner der ostdeutschen Kohleregionen fragen, warum ausgerechnet bei ihnen mit diesem Umbau begonnen werden soll. Doch ohne Mut zu neuen, zukunftsfähigen Lösungen, wie sie sich z. B. in Dänemark bereits bewährt haben, werden wir die strukturelle Krise in den neuen Bundesländern nicht überwinden.
— Die Dänen haben wenigstens schon angefangen, Herr Kollege, die wollen wenigstens auf diesem Weg vorangehen. — Auf Dauer wird dieser Umstieg das Land Brandenburg und den Freistaat Sachsen reicher und lebenswerter machen, als sie je waren.
An festgelegten Mengengerüsten für Stein- und Braunkohle wagt jedoch außer dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN niemand zu rütteln. Nichts anderes ist aber notwendig, wollen wir uns auch nur annähernd die Chance erhalten, das CO2-Minderungsziel der Enquete-Kommission und auch der Bundesregierung von 25 % und mehr einzuhalten. Dies gilt jedoch für den Osten wie den Westen unseres Landes gleichermaßen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993 16923
Dr. Klaus-Dieter Feige
Notwendig wären deshalb nicht nur schlüssige Konzepte für regionale Entwicklung, sondern auch eine kohärente Energiepolitik für das vereinte Deutschland sowie eine konsequente Klimaschutzpolitik. Da die Bundesregierung jedoch nicht in der Lage oder willens ist, solche Programme vorzulegen, werden wir bis zu einem Regierungswechsel leider weiter solche Phantomdebatten wie heute führen. Ich bin sicher, daß die Wähler in den neuen Bundesländern dieses merkwürdige Ausspielen von reichen gegen arme Bundesländer sehr schnell durchschaut haben.
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Heinrich Leonhard Kolb.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Haltung der Bundesregierung zur Rolle der Braunkohle ist seit langem bekannt. Ich verweise hier auf das energiepolitische Gesamtkonzept vom Dezember 1991, Bundestagsdrucksache 12/1799. Die dort getroffenen Aussagen haben auch heute noch Bestand.
Für die westdeutsche Braunkohle gilt: Sie wird kostengünstig abgebaut, sie ist besonders wettbewerbsfähig, sie ist ein wichtiger Faktor für eine preisgünstige und sichere Stromversorgung, Kollege Beckmann hat hierauf bereits hingewiesen. Die Förderhöhe liegt knapp über 100 Millionen t pro Jahr und ist in der Unternehmensplanung langfristig auf diesem Level konzipiert.
Für die ostdeutsche Braunkohle gilt weiterhin: Sie kann bei Konzentration auf wenige leistungsfähige Großtagebaue und die abbautechnisch günstigsten Kohlevorkommen, bei konsequenter Rationalisierung und Einsatz moderner Umwelttechnik bis weit über die Jahrtausendwende hinaus in der Verstromung einen wichtigen, auch wettbewerbsfähigen Beitrag leisten, und zwar ohne Subventionen. Dies haben Untersuchungen im Auftrag der Treuhandanstalt nachdrücklich bestätigt.
Die Privatisierung der überlebensfähigen Bereiche der ostdeutschen Braunkohle ist auf gutem Wege. Der Vertragsabschluß mit einem anglo-amerikanischen Konsortium zur Übernahme des mitteldeutschen Braunkohleunternehmens MIBRAG steht kurz bevor. Zur Lausitz wird mit einem deutschen Konsortium verhandelt.
Es ist richtig, daß langfristig die Weiterführung von fünf bis sieben Tagebauen von einst 39 und von vier bis fünf Brikettfabriken von einst 50 vorgesehen ist. Gegenwärtig vollzieht sich der Anpassungsprozeß in der ostdeutschen Braunkohle in schnellen Schritten. Während 1989 noch 300 Millionen t gefördert wurden, wird in diesem Jahr, in 1993, eine Förderung von ca. 115 Millionen t erwartet. Von einst mehr als 130 000 Arbeitnehmern sind derzeit weniger als 40 000 im aktiven Bergbau im Einsatz. Die rückläufige Entwicklung wird sich in den nächsten Jahren noch fortsetzen, wenn auch mit verlangsamtem Tempo. Die Bundesregierung verkennt nicht das hohe Maß an sozialen und regionalen Problemen, die damit verbunden sind.
Zur sozial- und regionalpolitischen Abfederung haben die Treuhandanstalt, der Bund und die ostdeutschen Länder eine Finanzierungsvereinbarung abgeschlossen. Danach werden bis 1997 jährlich 1,5 Milliarden DM bereitgestellt und für mehr als 15 000 ehemalige Braunkohlekumpel neue Tätigkeitsfelder erschlossen. Das Kabinett hat am 23. November 1993 festgelegt, auf dieser Grundlage die Altlastensanierung fortzusetzen. Die Gespräche mit den Ländern am heutigen Tage haben zu Einvernehmen geführt, die Finanzierungsregelung über 1997 hinaus zu verlängern.
Zum Zeitpunkt der Beschlußfassung zum Energiekonzept gab es gute Gründe, von einem Braunkohleabsatz in Ostdeutschland auszugehen, der im Jahr 2000 „voraussichtlich unter 120 Millionen t pro Jahr" liegen wird. Die damals angenommene Bedarfsentwicklung, vor allem im Strombereich, hat sich so nicht bestätigt. Der Strombedarf ging vor allen Dingen infolge der rezessiven Entwicklung der Wirtschaft in den neuen Bundesländern weit stärker zurück als erwartet. Heute werden die Wachstumsraten des Strombedarfs für die späteren Jahre nicht mehr so hoch angenommen wie in den ersten beiden Jahren nach der Vereinigung.
Dennoch — ich betone: dennoch — wird die Braunkohle in den neuen Bundesländern einen wichtigen Stellenwert behalten. Sie ist wie die westdeutsche Braunkohle ein heimischer Energieträger, der mit hoher Zuverlässigkeit und zu wettbewerbsfähigen Preisen — ich halte das für besonders wichtig — bereitgestellt werden kann.
Hochrechnungen der Unternehmen zum Braunkohlebedarf zeigen, daß einschließlich des weiter rückläufigen Wärmemarktes der Absatz langfristig eher bei 80 Millionen t per annum zu erwarten ist. Nach Auffassung der Bundesregierung ist der Einsatz von Braunkohle und damit auch die Höhe der Braunkohleförderung aber eine unternehmerische Entscheidung. Sie kann nicht von der Bundesregierung festgelegt werden. Auch die Schaffung eines neuen Subventionstatbestandes stellt keine Lösung dar.
Die Forderung, den westdeutschen Tagebau Garzweiler II zugunsten des Erhaltes ostdeutscher Tagebaue nicht weiter zu verfolgen, hält die Bundesregierung nicht für sachgerecht.
Erstens. Die Absatzprobleme in der Lausitz und in Mitteldeutschland sind heute oder in den kommenden drei bis fünf Jahren akut. In Garzweiler II wird die Förderung erst im Jahr 2005 aufgenommen.
Zweitens — das hat der Kollege Beckmann schon gesagt —: Stromtransport über weite Entfernungen, von einem Ende Deutschlands zum anderen, ist teuer. Die Industrie klagt bereits heute über zu hohe Strompreise im Vergleich mit ihrer europäischen Konkurrenz. Unter diesem Gesichtspunkt, aber auch unter umweltpolitischen Gesichtspunkten ist zu fragen, ob Stromlieferungen aus der Lausitz ins Rheinland
16924 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993
Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolb
wegen der damit verbundenen hohen Leitungsverluste und — ich sage das noch einmal — auch wegen der dadurch verursachten Verteuerung des Stroms ökonomisch vertretbar wären. In einer Planwirtschaft würde so etwas dekretiert — mit den bekannten Folgen. Ich sage: Für uns allerdings kann das keine Lösung sein.
Drittens. Man muß klar sehen: Für eine preisgünstige Stromerzeugung in NRW würde von einer Aufgabe von Garzweiler II, über die im übrigen nur das Unternehmen selbst entscheiden könnte, vermutlich nicht die ostdeutsche Braunkohle, sondern Importsteinkohle profitieren.
Wie auch immer: Wir müssen trotzdem alle Möglichkeiten zur Sicherung einer hohen Braunkohleförderung in Ostdeutschland ausschöpfen. Dazu gehört auch, daß Bundesminister Rexrodt in der Debatte des Bundestages vom 29. Oktober 1993 die westdeutschen EVUs aufgefordert hat, die Abnahme von in Ostdeutschland erzeugtem Strom in ihrem Verantwortungsbereich zu prüfen. Das gilt natürlich nach allem vorher Gesagten immer da, wo die Entfernungen vertretbar sind.
Im Zusammenhang mit der Stadtwerkebildung in Ostdeutschland ist leider die Tendenz zu verzeichnen, daß der wachsende Einsatz von Erdgas in der Strom-und Wärmeversorgung von Städten und Gemeinden die Entwicklung und Perspektiven der ostdeutschen Braunkohle belastet und zu einem weiteren Rückgang der Braunkohleförderung führen könnte.
Das Bundesministerium für Wirtschaft ist dabei, in intensiven Gesprächen mit allen Beteiligten über diesen Sachverhalt aufzuklären. Der Bundesminister hat sich an seine Amtskollegen in den neuen Bundesländern und an den Präsidenten des Verbandes der kommunalen Unternehmen gewandt. Er hat appelliert, daß alle Beteiligten die Vereinbarungen zur Beendigung des Verfassungsstreits über die Stadtwerkegründungen in Ostdeutschland jetzt konsequent verwirklichen. Dazu gehört, daß auch Kommunen mit Stadtwerken im Schnitt 70 % des Stromes aus dem überregionalen Netz beziehen. Damit soll der ostdeutschen Braunkohle eine langfristige Absatzperspektive gegeben werden.
Herr Präsident, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung wird weiter mit Nachdruck darauf drängen, daß die Landesregierungen und die Kommunen in diesem Zusammenhang ihre Verantwortung übernehmen.
Besten Dank.
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt unser Kollege Holger Bartsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich frage mich schon, Kollegin Enkelmann, wo eigentlich die Zielstellung Ihrer Aktuellen Stunde mit dieser etwas seltsamen Fragestellung liegt.
— Das will ich Ihnen gleich erklären. Ich werde Ihnen auch erklären, was ich hier meine.
Ich spreche hier in diesem Hause — der Wahrheit muß schon die Ehre bleiben — heute zum viertenmal zum Thema ostdeutsche Braunkohle und zur Lausitz. Das muß richtiggestellt werden. Das heißt nicht, daß ich mit der Politik der Bundesregierung bei diesem Thema immer einverstanden bin. Aber was Sie hier organisieren, ist meiner Meinung nach nicht besonders witzig. — Dies als Vorbemerkung.
Wer ostdeutsche Braunkohle sagt und sich für die Lausitz einsetzt, der sollte das Wort „Homo" mit sehr viel Vorsicht in den Mund nehmen. Auch das möchte ich noch bemerken.
Meine Damen und Herren, die Haltung der Bundesregierung — Herr Kolb hat das wieder dargestellt — läßt sich im wesentlichen wie folgt charakterisieren: Wir sind dafür, daß die Braunkohle im gesamtdeutschen Energiemix eine wichtige Rolle spielt. Nun ja, dafür sind viele, und wir könnten vielleicht ohne Schwierigkeiten die Große Koalition der Dafürseienden bilden. Entscheidend ist natürlich, was man dafür tut.
Dazu führt die Bundesregierung in einer Antwort auf eine schriftliche Frage, die ich kürzlich stellte, u. a. aus — ich zitiere —:
Die Absatzperspektiven der ostdeutschen Braunkohle geben wegen der sich daraus abzeichnenden regionalen und Arbeitsmarktprobleme auch der Bundesregierung Anlaß zur Sorge.
Weiter heißt es:
Wesentlichen Einfluß auf den langfristigen Braunkohleabsatz haben die Kommunen, die jetzt die Gründung eigener Stadtwerke betreiben. An sie, aber auch an die drei ostdeutschen Länder mit Braunkohlevorkommen und an die regionalen und überregionalen Energieversorgungsunternehmen ist zu appellieren, dafür Sorge zu tragen, daß die Braunkohle bei der Verstromung eine langfristige Perspektive hat.
So weit, so gut. Es stellt sich aber die Frage: Was tut man, was tut die Bundesregierung, und was tun auch die Länder, um dies zu unterstützen, um diese Perspektive wirklich langfristig zu sichern?
Daß die ostdeutsche Braunkohle energiepolitisch, ökologisch — Herr Kollege Feige, hören Sie zu! — wegen der notwendigen Einheit von lebendigem Bergbau, Rekultivierung und wasserwirtschaftlicher Sanierung sowie regional- und strukturpolitisch unverzichtbar ist, steht nach meiner Ansicht fest. Mein Kollege Jung hat das bereits dargestellt.
Sie ist auch für diese Region der industrielle Kern par
excellence. Das muß man so sagen. Ohne die Braun-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993 16925
Holger Bartsch
kohle wird die Lausitz strukturpolitisch nicht bestehen können.
Daß man ihr aber gewissermaßen als Starthilfe in einigen Bereichen auch einmal unter die Arme greifen muß, ist natürlich nicht so unumstritten. Dies ist aber nach meiner Meinung der Fall, weil sonst aggressive Gasanbieter oder die durch die Dollarkursentwicklung zusätzlich begünstigte Importsteinkohle Marktanteile der Braunkohle besetzt. Ich rede hier keiner Subventionierung der Braunkohleverfeuerung das Wort — damit das klar ist; denn die Braunkohle ist prinzipiell wirtschaftlich, sie hat also keine Subventionen nötig. Richtig ist aber auch, daß Investitionskosten bei Braunkohleeinsatz zur Zeit gegenüber dem Erdgas im Nachteil sind. Bei Betriebskosten ist das im übrigen nicht der Fall, und deswegen sollte man da schon etwas tun.
Also: Wer etwas für die Braunkohle tun will, der muß nach meiner Auffassung — erstens — moderne Technologien zeitweilig fördern, um Wettbewerbsnachteile aufzufangen. Meine Fraktion hat bei der Haushaltsberatung für den entsprechenden Titel im BMFT-Haushalt eine deutliche Aufstockung gefordert; sie ist leider in dieser Höhe nicht zustande gekommen.
Er muß — zweitens — dafür Sorge tragen, daß schnellstens die Anschlußfinanzierung der Altlastensanierung verbindlich geregelt wird. Ich höre gerne, daß dies nun kommt, kann aber auch sagen, daß wir letztens — Kollege Petzold war selbst dabei — von der Treuhand sehr nachdrücklich darauf hingewiesen wurden, welch große Bedeutung die schnelle und sichere Regelung hat, weil nämlich jetzt schon die Mittel für langfristige Projekte eingestellt werden müssen.
— Ja, da werden wir uns daran erinnern.
Er muß — drittens — sichern, daß die Braunkohle nicht durch die Einführung einer europäischen oder einer nationalen CO2-Steuer oder CO2-Energiesteuer einen erheblichen Wettbewerbsnachteil erfährt.
Er muß — viertens — als ostdeutsches Braunkohleland die Einhaltung der 70 % Braunkohleanteil bei der Umsetzung des Stadtwerkekompromisses aktiv befördern.
Und er muß — fünftens — für die vom unumgänglichen Abbau an Arbeitsplätzen betroffenen Regionen ein Strukturhilfeprogramm auflegen, das u. a. Maßnahmen der Infrastrukturverbesserung, der Fortbildung und Umschulung und der aktiven Wirtschaftsförderung beinhalten sollte, um die Voraussetzungen für eine schrittweise Umstrukturierung der Region zu schaffen. — Kollege Kolb, das ist eben nicht nur die Altlastensanierung. Darunter verstehe ich nicht die gesamte soziale Abfederung dieses Abbauprozesses.
Ein Wort zur Potsdamer Entscheidung, meine Damen und Herren, insbesondere in Richtung der PDS und der Regierungskoalition. Dieses Thema eignet sich nach meiner Sicht nicht für irgendwelche Wahlkampfspiele. Ich bin natürlich der Meinung, daß diese Potsdamer Entscheidung falsch war, und ich persönlich habe sie sehr bedauert. Man wird aber durch Reden und Fordern keine Tonne Braunkohle mehr fördern. Dies auch der PDS ins Stammbuch; denn mit populistischen Sprüchen bewegt man hier nichts.
Den Kollegen der CDU kann ich nur empfehlen, sich mit unserem Vorschlag zur Sicherung einer entsprechenden Förderung, die ich hier nochmals sehr verkürzt dargestellt habe, zu befassen. Ich denke, es gibt Handlungsbedarf.
Die Landesregierungen der drei ostdeutschen Braunkohleländer fordere ich dringend auf, sich zusammenzufinden, um dies zu fordern und zu befördern. Wir haben in Brandenburg auf unserem Parteitag am 6. November eine entsprechende Initiative beschlossen, und ich werde von meiner Landesregierung die Umsetzung dieser Initiative mit Nachdruck einfordern.
Potsdam war eine kommunalpolitische Entscheidung, meine Damen und Herren, die man zu respektieren hat, so wie man auch die Entscheidung der sächsischen Landeshauptstadt Dresden für Erdgas respektieren muß, auch wenn sie einem nicht gefällt. Es kommt nach meiner Ansicht jetzt darauf an, entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen, damit anderen Kommunen in vergleichbarer Situation die Entscheidung für Braunkohle leichter gemacht wird. Dazu müssen die Länder, aber auch die Bundesregierung ihren Beitrag leisten. Nicht Reden ist angesagt, sondern Handeln.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist jetzt unser Kollege Erich G. Fritz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Leidenschaft, mit der diese Debatte geführt wird, zeigt schon, daß im Prinzip mit ihrem Thema niemand etwas Neues verbinden kann. Denn es ist oft genug hier darüber gesprochen worden, es liegt alles auf dem Tisch. Alles, was jetzt nötig ist, können Sie nicht noch durch eine solche Debatte beeinflussen. Deshalb meine ich, die Fragen müssen woanders geklärt werden, nämlich dort, wo die Investitionsentscheidungen getroffen werden, wo die Kommunen ihre Entscheidungen treffen müssen, wo also langfristige Investitionsentscheidungen dazu beitragen werden, daß der Braunkohleabsatz verstetigt wird.
Herr Feige, es kann für die Braunkohle keine Garantiemenge geben, wie Sie es hier im Zusammenhang mit dem Mengengerüst dargestellt haben. Das gibt es nicht. Die Menge der abgebauten Braunkohle richtet sich nach der Nachfrage. Diese wiederum hängt davon ab, ob wir die Rahmenbedingungen dafür schaffen, daß die erforderliche moderne Technik zur Verfeuerung von Braunkohle eingesetzt werden kann. Dies alles muß vor dem Hintergrund geschehen, daß es wirtschaftlich interessant ist.
Herr Feige, einen solchen Rahmen kann man nicht innerhalb von zehn Jahren schaffen. Wenn Sie hier fordern, den Ausstieg innerhalb von 20 Jahren zu
16926 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993
Erich G. Fritz
vollziehen, dann werden Sie niemanden finden, der in ein Braunkohlekraftwerk modernster Technik investiert. Darm geht die Braunkohle natürlich schlagartig den Bach herunter und kann ihren Anteil an einer preiswerten Energieversorgung und an einem guten Energiemix nicht mehr halten.
Der wichtigste Beitrag zur Minderung der CO2-Emissionen beim Einsatz der Braunkohle ist die Verwendung neuer Techniken. Der Wirkungsgrad ist nämlich noch deutlich zu steigern. Wenn wir jetzt eine Diskussion anfangen, wie Sie sie gerade begonnen haben, dann werden diese Investitionen nicht getätigt, dann werden wir die erforderliche Minderung der CO2-Emissionen nicht erreichen.
In Nordrhein-Westfalen beträgt der Anteil der Braunkohle an der Stromerzeugung 40 %. Das ist sehr viel. Nordrhein-Westfalen betreibt ja eine Energiepolitik nach dem Motto: Wir wollen die eigenen Kernkraftwerke abschalten, den Strom aus Kernkraftwerken beziehen wir aus Niedersachsen. Zumindest von Teilen der SPD in Nordrhein-Westfalen wird die Braunkohle in Frage gestellt. Für die neuen Technologien, beispielsweise in Hamm-Uentrop, gab es keine Mehrheit mehr.
Es stellt sich die Frage: Wohin soll das führen? Bei den Energiekonsensgesprächen ist das nicht deutlich geworden.
— Widerlegen Sie es doch; es ist so!
Wenn man alles zusammenfaßt, was in diesem Zusammenhang von der nordrhein-westfälischen Landesregierung vorgetragen wurde, stellt man fest: Das waren eigentlich alles Plädoyers für einen höheren Anteil der Importsteinkohle. Dies aber kann wohl nicht das Ziel einer Energiepolitik für Nordrhein-Westfalen sein. Die Verantwortung für die Energiepolitik liegt richtigerweise auf der gesamtstaatlichen Ebene, nicht auf der regionalen. Deshalb müssen sich regionale Entscheidungen immer in ein gesamtstaatliches Konzept einbinden lassen.
Deshalb ist die Frage, ob in Zukunft noch Braunkohle in den westlichen oder östlichen Ländern gefördert werden soll, eine Scheinfrage; wir brauchen beide Fördergebiete, wenn wir einen sinnvollen Energiemix erreichen wollen. Zu diesem Energiemix wird auch in Zukunft der preiswerte und energiewirtschaftlich sinnvolle Einsatz der Braunkohle gehören.
Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß es keinen Sinn macht, den Strom zu transportieren. Durch den Transport würden wir nämlich den durch den Einsatz neuer Techniken bedingten erhöhten Wirkungsgrad der Braunkohle wieder zunichte machen. Deshalb muß die Förderung verwertungsnah erfolgen. Alles andere wäre auch kein Beitrag zum Klimaschutz.
Garzweiler II ist zur Zeit nichts anderes als eine Option für das Jahr 2005. Dennoch ist es wichtig, daß diese Entscheidung getroffen wird. Niemand kann genau sagen, wie sie im Endeffekt aussehen wird. Herr Jung, Sie haben auf die Prognos-Studie hingewiesen. Ich hatte in Erinnerung, daß dort von 110 bis 120 Millionen t die Rede ist. Aber wir wollen uns hier nicht über 10 Millionen t mehr oder weniger streiten. Jedenfalls wäre die prognostizierte Menge für die Verstromung nicht mehr erreichbar, wenn es einen solchen Aufschluß nicht gäbe.
Ich vermisse, daß die nordrhein-westfälische Landesregierung Szenarien vorlegt, unter welchen Bedingungen die jeweiligen Entscheidungen getroffen werden können. Das wäre auch für die Menschen vor Ort sehr wichtig, die bisher mit ihren ökologischen Einwendungen wahrscheinlich nicht ernst genug genommen worden sind. Für die Bürger von Viersen oder Heinsberg wird es wesentlich sein, ob es gelingt, in Zukunft bei solchen Entscheidungen transparente Verfahren zu wählen, die Einwender ernst zu nehmen und Verfahren zu finden, die einen Dialog ermöglichen. Wir werden die Akzeptanz für die weitere Förderung von Braunkohle in der Region nur dann herstellen, wenn neben den ökonomischen Aspekten auch ökologische und soziale Aspekte berücksichtigt werden. Dazu braucht man andere Abläufe als in der Vergangenheit.
Ich hoffe, daß die nordrhein-westfälische Landesregierung die Kraft dazu hat. Wir dürfen nach dem Vorlauf gespannt sein, ob die SPD-Landesregierung in dieser Frage entscheidungsfähig ist, und zwar kooperativ und in Kürze.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist jetzt unser Kollege Gunter Weißgerber.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die PDS beantragte diese Aktuelle Stunde wenige Tage vor den Brandenburger Kommunalwahlen.
Das Fahren eines Ost-West-Themas scheint sich hierfür vorzüglich anzubieten. Nützen wird es sicherlich nichts; lediglich die Gräben in Deutschland dürften größer werden.
Das Thema selbst erinnert an die energiewirtschaftlichen Fehler der DDR. Jeder Ostdeutsche wird sich gut an die durch die Lande gefahrenen Tonnen an Braunkohle erinnern. Soll jetzt die Braunkohle in das Rheinland gefahren werden, um dort Kraftwerke zu versorgen? Volkswirtschaftlich durchdacht scheint mir dies nicht zu sein.
Abgesehen davon erscheint es mir schon notwendig, die Haltung der Bundesregierung zu hinterfragen, zumal sie des öfteren schwer nachvollziehbar ist.
Vor dem Hintergrund westöstlicher Verteilungskämpfe fehlt leider immer wieder das notwendige Maß an Information. Um konkreter zu werden: Die
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993 16927
Gunter Weißgerber
) Bevölkerung erfährt so gut wie nichts von dem ohne Subventionen auskommenden Braunkohlenbergbau. Der Braunkohlenbergbau trägt sich selbst. Warum klärt die Regierung die Steuerzahler nicht genügend über diesen Sachverhalt auf? Dem Braunkohlenbergbau würde mit mehr Verständnis begegnet werden, die Arbeitsplätze wären infolgedessen sicherer.
Hier drängt sich mir übrigens eine Parallele auf. Vom sogenannten Solidaritätszuschlag erfuhr der westliche Teil der Bevölkerung auch nur einen Teil der Zusammenhänge. Daß die Ostdeutschen ihren Teil mit dazu beitrugen, versäumte die Bundesregierung den Bürgern zu erklären. Auch hier waren Vorurteile die Folge.
Weiterhin würde es speziell der Braunkohle Ostdeutschlands helfen, wenn in der Bundesrepublik die Einsicht wächst, daß gerade dieser Industriezweig sein Soll an Schadstoffminderung fürs erste übererfüllt hat. Auch hier ist die Bundesregierung in der Informationspflicht den Menschen gegenüber. Ich fordere daher von der Bundesregierung: Sagen Sie den Leuten, daß die Braunkohle sich selbst rechnet und daß der Aderlaß der ostdeutschen Braunkohle in seinen größten Ausmaßen beendet ist. Lassen Sie ab von der geplanten CO2-Steuer und unterstützen Sie unsere Vorstellungen einer allgemeinen Energiesteuer!
Danke.
Meine Damen und Herren, jetzt hat das Wort unser Kollege Jürgen ) Timm.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unsere Energieversorgung ist in der Tat nur durch einen Energiemix zu sichern. In diesem Zusammenhang sind die Entscheidungen für eine Fördermenge von rund 100 Millionen Jahrestonnen für die Regionen in den neuen Bundesländern richtig und wichtig.
Im Interesse der Regionen ist es aber auch erforderlich, daß wir eine Verbesserung des Ausnutzungsgrades, des Wirkungsgrades bei der Nutzung dieser hochwichtigen Ressource erreichen. Das trägt sowohl ökologischen als auch ökonomischen Gesichtspunkten Rechnung, wenn wir an Energieeinsparung und an Landschaftsgestaltung nach dem Abbau in den Regionen denken. Wir sind nämlich nicht nur für unsere Generation verantwortlich, sondern schließlich sind wir auch verpflichtet, unseren nachfolgenden Generationen natürliche Ressourcen zu überlassen. Ich denke, daß das Investitionen sind, die in die Zukunft zeigen, und daß es Investitionen sind, die geeignet sind, neue, andere Arbeitsplätze in den betroffenen Bereichen zu schaffen.
Um also den Regionen eine Zukunftschance zu erhalten, die Ressourcen schonend einzusetzen, der Ökologie und der Landschaft nichts Abträgliches anzutun, scheidet die Braunkohle als Ersatz für Kernenergie nun vollständig aus. An dieses Kapitel, meine Damen und Herren, müssen wir anders herangehen, nicht mit unbilanzierbaren Transporteinrichtungen.
Die F.D.P.-Fraktion steht zu den Erfordernissen der Braunkohlenutzung in den Regionen Brandenburgs, Sachsens, Sachsen-Anhalts und im Rheinland schon aus Gründen der Notwendigkeit der Erhaltung des Energiemixes.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Ulrich Klinkert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es mutet schon etwas seltsam an, wenn ausgerechnet die PDS hier heute eine Aktuelle Stunde zur Braunkohlenpolitik beantragt und dann auch noch sagt: Wir müssen endlich einmal über Braunkohle reden. Herr Kollege Bartsch hat darauf hingewiesen, daß wir im Deutschen Bundestag schon mindestens viermal über das Thema Braunkohle gesprochen haben. Der Kollege Feige hat zu Recht darauf hingewiesen — und das ist das einzig Richtige in Ihrer Rede gewesen, Herr Kollege Feige —, daß in vier Tagen Wahlen in Brandenburg sind. Mir ist klar, daß die PDS offensichtlich auf diese Art und Weise Stimmen fangen will.
— Aber Frau Enkelmann, Sie sollten wenigstens konsequent sein. Wenn Sie sich schon für die Braunkohle einsetzen, können Sie nicht im gleichen Atemzug wegbaggern und Horno in Frage stellen. Sie müssen sich irgendwann einmal zu etwas bekennen und eine klare Linie vorgeben.
Schon aus Ihrem Titel der Aktuellen Stunde geht hervor, daß es Ihnen hier nicht um Sachpolitik geht, sondern um Polemik; denn es geht nicht darum, in Ostdeutschland Braunkohlenreviere zu schließen und in Westdeutschland neue zu eröffnen. Es geht vielmehr darum, irgendwann um 2005 in Westdeutschland einen Tagebau, nämlich Garzweiler I, durch einen anderen Tagebau, nämlich Garzweiler II, zu ersetzen, und dies bei gleichbleibender Förderung.
Es wird Ihnen nicht gelingen, ostdeutsche und westdeutsche Reviere gegeneinander auszuspielen. Dies ist ökonomisch und ökologisch unsinnig und würde einen Keil in die deutsche Einheit treiben. Dies werden Sie mit uns nicht machen können.
Im übrigen glaube ich, daß Sie sich rein fachlich nicht ordentlich auf das, was Sie heute gesagt haben, vorbereitet haben. Es war nämlich viel fachlicher Unsinn dabei. Ich war nur etwas gehandicapt und konnte nicht alles mitschreiben; einige Zwischenrufe habe ich ja gemacht. Sie sollten sich vielleicht auch einmal mit den Braunkohleunternehmen, von mir aus mit der IGBE in Verbindung setzen.
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Ulrich Klinkert
Die würden Ihnen einiges an Aufklärung geben. Sie können bei den Subventionen nicht die Steinkohle mit der Braunkohle vergleichen. Die Braunkohle legt ausdrücklich Wert darauf, als subventionsfreier einheimischer Energieträger anerkannt zu werden.
Im übrigen war es die PDS — sie nannte sich damals noch SED —, die die damalige DDR in eine einseitige absolute Abhängigkeit von einem einzigen Energieträger geführt hat.
Dies führte dazu, daß mehr als 300 Millionen t Rohbraunkohle in der ehemaligen DDR gefördert wurden. Daß diese Förderhöhe nicht beibehalten werden konnte, lag eindeutig auf der Hand. Oder wollen Sie heute noch von der Lausitz bis nach meinetwegen Rostock Rohbraunkohle fahren, um sie dann dort in irgendwelchen ineffektiven Heizwerken zu verbrennen? Übrigens besteht Rohbraunkohle aus fast 60 % Wasser. Dies bedeutet dann, Wasser von der Lausitz nach Rostock zu transportieren. Auch das sollten Sie einmal in Ihre großen strategischen, ökologischen Überlegungen, die Sie hier vorgetragen haben, einbeziehen.
Wenn Sie die Haltung der Bundesregierung zur Braunkohlenförderung wissen wollen, können Sie auch in unser Fraktionspapier blicken. Dort werden Sie sehen, daß wir uns dafür ausgesprochen haben, in den neuen Bundesländern rund 100 Millionen t Rohbraunkohle dauerhaft zu fördern. Dies soll in erster Linie durch die Nachrüstung von acht 500-MWBlöcken und den Neubau von sechs 800-MW-Blöcken passieren. Dies wird dann immer noch zu einer deutlichen Reduzierung — auf 100 Millionen t — führen, leider auch zu einem drastischen Personalabbau in der Braunkohlenindustrie.
Allerdings konnte ein Großteil der abzubauenden Stellen in andere Bereiche verlagert werden. Viele Arbeitnehmer sind in Umschulungen gegangen. Einige konnten Regelungen des Vorruhestandes und des Altersübergangsgeldes nutzen. 15 000 ehemalige Bergarbeiter sind in Sanierungsgesellschaften aufgefangen worden. Wir haben hierzu heute bereits einiges gehört. Es ist eine Regelung in Arbeit — sie wird in den nächsten Tagen sicherlich festgeklopft werden —, daß die Finanzierung weit über 1994 hinaus gesichert wird. Wir werden den Stock von 15 000 sogar auf 17 000 Arbeitsplätze im kommenden Jahr erhöhen können.
Meine Damen und Herren, trotzdem macht mir die Zukunft der Braunkohle noch einige Sorgen und Kopfschmerzen. Es ist mit dem Bau des Kraftwerks Schwarze Pumpe bereits begonnen worden. In den fünf Jahren des Baus dieses Kraftwerkes werden rund 2500 Arbeitnehmer einen sicheren Arbeitsplatz haben. Danach wird dieses Kraftwerk jährlich mehrere Millionen t Rohbraunkohle verstromen, so daß auch Tausende von Arbeitsplätzen in der Braunkohlenförderung gesichert sind.
Was allerdings noch nicht gesichert ist, ist der Zeitpunkt und das Ob des Neubaus der anderen geplanten Kraftwerksblöcke. Dies wird nicht zuletzt davon abhängen, ob die Kommunen auf den ihnen zustehenden Anteil von 30 % Eigenstromerzeugung aus einem Energieträger, der nicht-einheimische Wertschöpfung darstellt — in dem Fall Gas —, bestehen wollen.
Aus diesem Grund fordere ich alle ostdeutschen Kommunen von dieser Stelle aus auf, ihre Entscheidung aus Solidarität für die Bergleute im mitteldeutschen Braunkohlerevier und in der Lausitz zu überdenken und sich für die Sicherung von Arbeitsplätzen einzusetzen. Herr Bartsch, daß das Land Brandenburg dies in Potsdam nicht geschafft hat, ist nur ein Hinweis darauf, daß es schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist, sowohl für die Landes- als auch für die Bundesregierung, in Entscheidungen der Kommune dreinzureden.
Ein gleicher Aufruf gilt den westdeutschen Bundesländern, die sich vielleicht noch nicht wie bisher Bayern dazu entschlossen haben, Strom aus den neuen Bundesländern zu beziehen. Dies ist die effektivste Art und Weise von Solidarität, weil die Solidarität des Bezugs von Waren und Dienstleistungen aus den neuen Bundesländern keinen Pfennig zusätzlich kostet.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, jetzt hat unser Kollege Reinhard Weis das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was soll ich am Ende dieser Aktuellen Stunde zu dem nach allen Richtungen ausdiskutierten Thema noch sagen?
Die nahezu vollständige Orientierung in der Energiewirtschaft der DDR auf die Braunkohle hat dazu geführt, daß in allen Bereichen, angefangen beim Hausbrand, über Großkraftwerke bis hin zur Petrochemie, Braunkohle in wirtschaftlich höchst unsinniger energieverschwendender und umweltschädigender Weise verbraucht wurde, gebraucht wurde.
Dies hatte aber auch zur Folge, daß die Braunkohle einen allgemein schlechten Ruf bekam.
Doch zur Verteufelung der Braunkohle besteht bei einem sinnvollen Einsatz keinerlei Grund. Bei einer Gegenrechnung der wirtschaftlichen Faktoren steht die Braunkohle keineswegs schlechter da als die deutsche Steinkohle, sie ist sogar ohne laufende Subventionen auf dem Energiemarkt wettbewerbsfähig — einige Vorredner haben darauf hingewiesen —, wenn endlich die Umstrukturierung in der ostdeutschen Braunkohle abgeschlossen sein wird. Deshalb ist ein vernünftiger Einsatz der Braunkohle ohne weiteres zu fordern, d. h. Einsatz in erster Linie zur Verstromung und in modern ausgerüsteten Kraftwer-
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Reinhard Weis
ken vor Ort, auch bei Nutzung der Kraft-WärmeKopplung.
Aber mit Braunkohle kann man noch mehr machen. Wie jüngste Forschungsergebnisse zeigen, z. B. auch hier an der Uni in Bonn, besteht die Möglichkeit, Braunkohle mit Hilfe von Bakterien in 01 umzuwandeln. Auf diese Weise ließen sich die Nutzungsmöglichkeiten der Braunkohle mittelfristig erweitern und auch die energetische Ausbeute verbessern.
Forschungsinvestitionen wären hier nicht nur zukunftsweisend, sondern auch arbeitsmarktpolitisch sinnvoll. Gerade in der schwierigen Arbeitsmarktsituation kann die Bedeutung der Braunkohle nicht unterschlagen werden. Aus diesem Grund ist der Erhalt besonders des mitteldeutschen Braunkohlereviers mit seinen ca. 15 000 Arbeitsplätzen unverzichtbar. Das sage ich natürlich vor allem als sachsenanhaltinischer Abgeordneter.
Eine Aufspaltung der MIBRAG bei der Privatisierung ist daher ebenso abzulehnen wie die vorzeitige Privatisierung von Sanierungsgesellschaften, bevor diese sich unter dem Schutz des § 249h stabilisiert haben. Die vernünftigste Lösung für die Sanierungsgesellschaften wäre danach ein öffentlich-rechtlicher Sanierungsverband nach dem Modell des Großen Erft-Verbandes, ebenfalls auf regionaler Basis.
Wir hoffen deshalb, daß die Bundesregierung die Rahmen setzt, die langfristig die Sicherung der Braunkohleförderung auch in den ostdeutschen Revieren in einem tragfähigen und ökologisch zukunftsweisenden Energiekonzept ermöglichen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Der nächste Redner ist jetzt unser Kollege Ulrich Petzold.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Enkelmann, Sie haben einiges ganz richtig gesagt,
aber Ihr Antrag unterstellt unterschwellig eine Konkurrenz zwischen Garzweiler II und der ostdeutschen Braunkohle.
Ich muß Ihnen ganz klar sagen — als Mitglied der IG Bergbau kann ich für meine Kollegen sprechen —: Diese Konkurrenzsituation besteht nicht. Deshalb auch ganz scharfen Widerspruch gegen diese unterschwellige Unterstellung!
Mit der Wiedervereinigung hat die Steinkohle ihre Stellung als wichtigster heimischer Energieträger an die Braunkohle verloren. Auch nach Abschluß des gravierenden laufenden Anpassungsprozesses in den mitteldeutschen und Lausitzer Revieren wird die Braunkohle an die Energiewirtschaft erhebliche Mengen zu international wettbewerbsfähigen Preisen liefern.
Diese Aussage des Bundeswirtschaftsministers vom 13. August 1991 findet sich in ähnlicher Form im Energiekonzept der Bundesregierung. Sie bedingte natürlich, daß sich die Bundesregierung der Altlasten der DDR-Braunkohleindustrie annahm und Milliarden für die Beseitigung dieser unwirtschaftlichen Monostrukturen und Umweltschäden aufbrachte.
So waren schon bald neue wirtschaftliche Strukturen erkennbar, und die Gaswirtschaft, größter Konkurrent der Braunkohleindustrie, schätzte Ende 1992 ein:
Die Braunkohle wird nach heutigen Beurteilungsmaßstäben als einziger nennenswerter subventionsfreier einheimischer Energieträger auch mittel- und langfristig ihre Berechtigung bei der Erzeugung der Elektroenergie-Grundlast behalten.
Deutliche positive Anzeichen in der Bewertung der Braunkohle durch die Industrie hatte bereits Ende 1991 das McKinsey-Gutachten zur Restrukturierung der Braunkohleindustrie in den neuen Bundesländern bewirkt. Durch die Treuhandanstalt in Auftrag gegeben, erweckte es Interesse und führte dazu, daß erstmals Angebote für das bis dahin als nicht privatisierbar eingeschätzte mitteldeutsche Braunkohlerevier eingingen.
Dieses Gutachten machte allerdings auch Umfang und Ursachen des Rückgangs der Braunkohlenachfrage deutlich. Bereits damals führte es aus, daß ein Absinken der Braunkohlenachfrage unter die damals von der Bundesregierung angenommene Mindestmarke von 100 Millionen t eintreten werde. Die Verdrängung der Braunkohle in Haushalten, Heizwerken, Gaswerken und weiteren Bereichen sowie durch den geringeren Strombedarf wurde realistisch eingeschätzt und führte zu haltbaren Weiterbetriebs-und Verkaufskonzepten.
Mit dem Verkauf des Bergwerkszukunftsbereiches der MIBRAG am 8. Dezember 1993, also Mittwoch nächster Woche, an das Konsortium von NRG Energy und Power Gen wird ein wesentlicher Schritt zur Erhaltung der mitteldeutschen Braunkohleindustrie getan. Die Landesregierungen der Länder Sachsen-Anhalt und Sachsen sicherten durch die Zusage von Investitionszuschüssen für die Kraftwerke BunaZschkopau und Lippendorf frühzeitig den Braunkohleabsatz in dieser Region, was zur wesentlichen Beschleunigung des Verkaufs und damit zur Überrundung des Lausitzer Braunkohlereviers bei den Verkaufsverhandlungen führte.
Weitere Voraussetzung für den Verkauf war die gestern abend erfolgte Abspaltung des auslaufenden und des Sanierungsbereichs der MIBRAG. Unter Aufsicht des BMF werden in diesen als B und C bezeichneten Bereichen Abschlußbetriebspläne erarbeitet
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Ulrich Petzold
und Altlastensanierungen durchgeführt. So wird die Weiterführung der Sanierungsarbeiten nach § 249h AFG vorerst bis 1997 gesichert.
Mit dem Artikelgesetz zur Steinkohleverstromung wird durch die Bundesregierung bekräftigt, daß sie auf der Basis der bisherigen Zusammenarbeit mit den Ländern, die den Bund immerhin 1,5 Milliarden DM pro Jahr kostete, die Sanierung der Braunkohlealtlasten auch nach 1997 fortsetzen wird.
Meine Damen und Herren, ich sehe in der Entscheidung des BMFT, für ein Forschungsprogramm der Kraftwerkstechnik Ost 5 Millionen DM auszugeben, einen — wenn auch bescheidenen — Anfang, der der Braunkohle auch im Osten Deutschlands eine Zukunft gibt.
Ich danke Ihnen recht herzlich.
Meine Damen und Herren, der letzte Redner in der Aktuellen Stunde ist unser Kollege Dr. Bernd Protzner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir können immer wieder über die Braunkohle auch und insbesondere in den neuen Bundesländern reden. Sie aber, Frau Enkelmann von der PDS, sollten schweigen.
Schließlich hat Ihre Partei die Betriebe zu Sandschleudern statt Kraftwerken heruntergewirtschaftet.
Besser als Reden ist aber allemal Handeln, und solidarisches Handeln ist gerade von denjenigen alten Bundesländern gefragt, die keine eigenen Braunkohlereviere nennenswerter Größe mehr haben.
In diesem Sinne hat ein bayerisches Unternehmen, das Bayernwerk, gehandelt und wickelt ein festes Programm zur Sicherung von Arbeitspätzen in den neuen Bundesländern ab. Als erstes wurde quer durch meinen Wahlkreis eine 380 KV-Leitung gebaut — 1 Milliarde DM Aufwand —, um Strom aus Mitteldeutschland nach Süden leiten zu können.
Zum zweiten wurden in Lippendorf 400 MW — die Hälfte des 800 MW-Blocks — als Investition für die Verstromung von Braunkohle freigegeben.
Zum dritten wurde in Lippendorf II beim VEAGProjekt ebenfalls eine Beteiligung eingegangen.
Zum vierten gibt es ein Beteiligungsangebot bei der LAUBAG für den Braunkohleabbau.
Zum fünften gibt es ein Beteiligungsangebot für die VEAG, um den Weiterverkauf des Stroms zu gewährleisten.
Zum sechsten gibt es die Übernahme der Thüringer Regionalversorgung, um gerade den Absatz des
Braunkohlestroms aus Mitteldeutschland an die Endverbraucher zu gewährleisten.
Das Fazit ist, daß mit einer solchen solidarischen Strategie 100 Millionen t Braunkohle als Absatzziel realistisch sind, daß damit Tausende von Arbeitsplätzen zukunftssicher ausgerichtet sind.
— Auch in Bayern, weil auch wir von diesem Strombezug profitieren.
Wir sind auf dieses bayerische Engagement stolz. Wir sind auch stolz, daß wir beim ersten Block von Badenwerk und EVS unterstützt werden. Ich wünschte mir, daß die Länder Niedersachsen und Hessen etwas mehr Solidarität entwickelten,
und ich wünschte mir auch, daß für die Blöcke die Genehmigungsverfahren vorankommen und möglichst rasch abgeschlossen werden, damit der Bau von Block I und Block II beginnen kann.
Viertens wünschte ich mir, daß auf Grund der Angebote die Treuhand möglichst rasch abschließt, damit die künftigen Unternehmen das notwendige Eigenkapital für die Investitionen in zukunftssichere Arbeitsplätze bekommen.
Ich bedanke mich.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 a und 3 b auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Uwe Jens, Gerd Andres, Hermann Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Feststellung der tatsächlichen Lage der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft
— Drucksache 12/6065 —
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Werner Schulz , Dr. Klaus-Dieter Feige und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Investitionshilfe der westdeutschen gewerblichen Wirtschaft zur Sanierung der Unternehmen in den neuen Bundesländern (Investitionshilfegesetz)
— Drucksache 12/6239 —
Überweisung svorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft Haushaltsausschuß
Als erster Redner hat unser Kollege Dr. Uwe Jens das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieser Termin ist sicherlich nicht ideal. Ich finde, wenn wir über ein so wichtiges Thema wie „Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft"
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Dr. Uwe Jens
sprechen, hätte das schon ein bißchen mehr Aufmerksamkeit verdient.
— Nein, nein. Wir werden auch noch einmal über dieses Thema diskutieren, notfalls auch noch zweimal. Ich habe ja die Regierung ein bißchen in Verdacht, daß sie diesen Termin absichtlich gewählt hat, damit nur nichts in die Öffentlichkeit dringt.
Aber das wird nicht so laufen, meine Damen und Herren; das wird nicht so gemacht. Wir werden uns wiederholt zu diesem Thema zu Wort melden, und wir werden Sie treiben.
Heute debattieren wir ganz zweifellos über ein Kapitel von überragender Regierungskunst. Diese Bundesregierung hat sich ja die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft als entscheidendes Wahlkampfthema ausgesucht. Bereits im Mai dieses Jahres sickerten erste Überlegungen durch. Man sollte meinen, die Regierung habe sich lange ausführlichmit dem Problem beschäftigt. Aber das ist offenbar ein Irrtum. Auf die 43 von den Sozialdemokraten eingereichten Fragen kann die Bundesregierung leider keine Antwort geben; einmal mehr ein Beweis: Sie redet in der Öffentlichkeit laut über Dinge, von denen sie offenbar so gut wie gar nichts versteht.
Wir haben mit unseren Fragen lediglich versucht, Basiszahlen und ökonomische Grunddaten zu erhalten. Dabei waren wir davon ausgegangen, daß diese Zahlen eigentlich griffbereit in den Schubladen der Beamten liegen. Aber leider weit gefehlt. Statt einer prompten Antwort, wie es die Geschäftsordnung dieses Hauses vorsieht, bekommen wir folgenden Hinweis — ich zitiere —:
Es sind zum Teil größere statistische und methodische Probleme zu erwarten, die zum Teil nur in Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen, mit dem Statistischen Bundesamt sowie mit Forschungsinstituten gelöst werden können. Im Hinblick darauf kann mit Eingang der Antwort im März 1994 gerechnet werden.
— Im März 1994! Wahrscheinlich wird es sogar noch etwas länger dauern, vermute ich stark. Wir können uns leider des Eindrucks nicht erwehren, daß die Bundesregierung ein wenig kneift. Es läßt sich auch so gut in der Öffentlichkeit über Dinge reden, für die es eigentlich keine genauen Daten und Fakten gibt.
Die Bundesregierung sieht nach dem Standortbericht die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft in erster Linie durch zu hohe Löhne, Lohnnebenkosten, zu hohe Steuern, Sozialabgaben und Umweltkosten als gefährdet an. Internationale Vergleiche über die erforderlichen Daten fehlen jedoch in dem Bericht zur Zukunftssicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Sehr, sehr bedauerlich, wie wir meinen!
Die Bundesregierung vernachlässigt ferner, daß die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit auch von einer Reihe weiterer Faktoren, unter anderem z. B. der Qualifikation der Arbeitskräfte, der Infrastruktur und der Leistungsfähigkeit des Staates, der Innovationsfähigkeit und der Innovationswilligkeit von Wirtschaft und Gesellschaft,
der Umweltbelastung und der Umweltvorsorge abhängen. Sie bestreiten das nicht; aber in dem Standortbericht steht nichts über diese Dinge. Das sollten Sie auch kritisieren, Herr Kollege Haungs.
Erst eine integrierte Betrachtung all dieser Faktoren — und natürlich auch möglichst quantifiziert — stellt eine verläßliche Grundlage für die Beurteilung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft dar.
Uns ging es bei der Anfrage auch vor allem um einen internationalen Vergleich, der zweifellos von besonderer Bedeutung wäre. Nur so können Stärken und Schwächen der deutschen Volkswirtschaft realistisch und ohne ideologische Vorbehalte eingeschätzt werden. Leider müssen wir nun auch darauf warten. Geschürt wird durch die regierungsamtliche Verzögerung allerdings der Verdacht, daß die Bundesregierung einen internationalen Vergleich scheuen muß.
Von der Geschäftsordnung her, meine Damen und Herren, hat die Bundesregierung durchaus die Möglichkeit, jetzt zu sagen: Diese Debatte war es, wir beantworten die Frage überhaupt nicht mehr, und es gibt auch keine zweite Debatte. Aber das ist nur auf Grund der Geschäftsordnung möglich. Wir werden, das verspreche ich Ihnen, Herr Kolb, wenn Sie die Fragen nicht anständig beantworten, Ihnen demnächst nicht 43 Fragen sondern 86 Fragen servieren. Dann werden wir erneut auf eine ausführliche Debatte über diese Probleme drängen.
Das offizielle Gejammer über zu hohe Löhne und Lohnstückkosten entpuppt sich dadurch möglicherweise als, wie ich meine, gemeingefährliche Stimmungsmache. Ich will nicht übersehen, daß es in einzelnen Unternehmen hier und dort Probleme auf diesem Felde gibt. Gar keine Frage! Aber es ist falsch, wenn die Bundesregierung und bestimmte Kreise immer nur einseitig von Kostenkrise sprechen.
Im internationalen Vergleich ist es zur Erhöhung der Lohnstückkosten in den vergangenen beiden Jahren gekommen, insbesondere wegen der Aufwertung der D-Mark. Das ist ein Faktum. Hinzu kommen die unausgelasteten Kapazitäten in unserer Volkswirtschaft, wodurch natürlich bei konstanten Löhnen automatisch die Lohnstückkosten steigen müssen.
Es ist auch falsch, wenn immer wieder von der Regierung behauptet wird, es habe einen außerordentlichen Lohnpush in den letzten Jahren gegeben. Wo ist er denn? Sehen Sie doch einmal in die Statistik!
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Dr. Uwe Jens
Richtig ist, daß am Anfang einer Konjunkturentwicklung, 1984, als die Probleme der zweiten Ölpreisexplosion überwunden waren, die Reallöhne in der Entwicklung deutlich zurückgeblieben sind und sie am Ende eines derartigen Zyklus 1991/92 selbstverständlich ein bißchen stärker steigen. Das ist eine ganz normale Entwicklung. Die kann man nicht dramatisieren, und die Bundesregierung sollte wirklich nicht falsch spielen.
Wir vermuten auch, daß die Bundesrepublik Deutschland im internationalen Vergleich unter Beachtung der Vereinigungsprobleme gar nicht so schlecht dasteht. In anderen Industrienationen ist die wirtschaftliche Entwickung zumindest genauso schlecht wie bei uns, wenn nicht zum Teil noch schlimmer.
Zwar hat die deutsche Wirtschaft in den achtziger Jahren an Innovationskraft verloren; aber besondere Hilfsmaßnahmen, vor allem durch den Abbau sozialer Leistungen und Errungenschaften, sind im internationalen Vergleich überhaupt nicht gerechtfertigt. Insofern entpuppt sich die Politik des Sozialabbaus, die von dieser Regierung, insbesondere natürlich von Herrn Rexrodt — ich will den Staatssekretär nicht so direkt ansehen; das hat keinen Zweck —, betrieben wird, als eine besondere Spielart, wie ich immer sage, einer „beggar-my-neighbour policy", einer Politik, die internationale, globale Wettbewerbsvorteile für die Wirtschaft erreichen will bei gleichzeitiger Diskriminierung anderer Mitbewerber. Auch das ist wenig sinnvoll; auch das kann eigentlich nicht akzeptiert werden.
Die Probleme, mit denen wir zu kämpfen haben, meine Damen und Herren, können eher mit dem Schlagwort „Innovationskrise" — und ich füge hinzu: „Ideologiekrise" — umschrieben werden. Wir haben zweifellos auch eine Konjunkturkrise. Wenn wir die massiv bekämpfen würden, hätten wir in diesem Lande erheblich weniger Probleme. Aber das ist heute nicht unser eigentliches Thema.
Ich will ein paar Sätze zur Innovationskrise sagen. Die deutsche Wirtschaft hat zweifellos, vor allem in den achtziger Jahren, Innovationsvorspriinge verloren. Wir sind zur Zeit noch immer gut bei jenen Technologien, die am Anfang dieses Jahrhunderts entwickelt wurden. Aber wir sind schlecht bei den wirklichen modernen Zukunftstechnologien. Hier haben die Japaner, aber auch die Amerikaner deutlich die Nase vorn. Gerade in den achtziger Jahren, als Sie, die CDU/CSU und die F.D.P. dran waren, ist die Anzahl der Patentanmeldungen bei uns, auch im Vergleich mit Japan und den Vereinigten Staaten, deutlich zurückgegangen.
Unübersehbare Schwächen bestehen dagegen in der deutschen Wirtschaft, wenn es darum geht, neue Erfindungen, die noch immer anfallen, allerdings verknappt, in neue, marktgängige Produkte umzusetzen. Hierüber nachzudenken, das wäre des Schweißes der Edlen wert. Aber leider lesen wir über diese Frage in dem Standortbericht so gut wie gar nichts.
Die Fragen lauten doch, meine Damen und Herren: Wie können wir die Innovationstätigkeit in der deutschen Wirtschaft steigern und damit die Innovationskrise überwinden? Wie läßt sich ein Innovationsklima schaffen, das wirkliche Innovationen hervorbringt? Wie läßt sich der Innovationsdruck in unserer Volkswirtschaft erhöhen, um die Probleme baldmöglichst zu überwinden?
Auf alle diese Fragen gibt diese Regierung leider keine Antwort. Sie redet viel von Lohnsenkungen und Arbeitszeitverlängerungen; sie redet aber nicht über die wirklichen Probleme unserer Zeit.
Durch Lohnsenkungen und Arbeitszeitverlängerungen werden
wirklich keine Innovationen geschaffen. Von den eigentlichen Problemen unserer Wirtschaft wird nur abgelenkt. Langsam müßte eigentlich jedem klar sein: Die Bundesregierung ist unfähig, die brennenden Probleme in unserem Lande zu bewältigen.
Ich möchte einige Bemerkungen zur Ideologiekrise machen. Die Bundesregierung scheint mir die Hauptursache auch für diese bestehende Ideologiekrise zu sein. Die Neoliberalen beherrschen in der Regierung das Feld; die gewählten Politiker sind ohnmächtig, gegen diese Theorie anzugehen.
Nach neoliberaler Gleichgewichtstheorie müssen die Löhne nur gesenkt werden, dann wird gewissermaßen automatisch entsprechende Beschäftigung geschaffen. Doch welche Naivität steckt eigentlich dahinter? Haben wir historisch nicht schon einmal eine Situation gehabt, in der uns diese Theorie ins Chaos geführt hat? Warum sollten in unserem verkrusteten Lande 1990 die Löhne und Preise plötzlich flexibler sein als etwa 1929 oder 1930, als sie starr gewesen sind? Die Bundesregierung befindet sich, wenn sie das als alleinseligmachendes Rezept propagiert, wirklich auf einem ideologischen Holzweg.
— Lesen Sie den letzten Bericht von Herrn Rexrodt durch; darin steht doch nur solcher Unsinn!
Gefragt sind wirklich keine historisch überholten Konzepte; sondern wir müssen moderne Theorien aufgreifen, um die Probleme zu überwinden.
Eine entscheidende Frage für die heutige Situation ist: Wie lassen sich neue Produkte, neue Produktionsprozesse organisieren, neue Märkte erschließen und alte Institutionen überarbeiten und neue Institutionen errichten? Das ist das Entscheidende. Darauf kommt es an. Darauf sollten Sie mehr Intelligenz verwenden, meine Damen und Herren.
Gefragt ist eben keine der Physik entlehnte Gleichgewichtstheorie wie der Neoliberalismus, sondern
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Dr. Uwe Jens
gefragt ist dynamisches ökonomisches Denken, das wir eher in der Biologie oder der Ökologie wiederfinden können. Darauf kommt es an.
Es wird auch immer deutlicher, was Sie mit der Debatte um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft bezwecken: Sie wollen ganz zweifellos die Soziale Marktwirtschaft auf Marktwirtschaft abwrakken.
Es geht Ihnen nicht darum, ob deutsche Unternehmen sich im weltweiten Wettbewerb behaupten. Sie wollen den Arbeitnehmern an den Geldbeutel. Die Diskussion um die Wettbewerbsfähigkeit ist im allgemeinen nur ein Vorwand gewesen. Sie lenken mal wieder ab und sagen keinesfalls die Wahrheit, meine Damen und Herren.
Die Bundesregierung — das geht aus dem Bericht deutlich hervor — hat es nachweisbar versäumt, die Grunddaten für die Beurteilung des Wirtschaftsstandorts Deutschland zu erheben. Sie hat es aber auch versäumt, vor allem mit all denen, deren Kraftanstrengung dringend nötig wäre, zu reden. Wir sind davon überzeugt, daß nur so, durch mehr Konsens und weniger Konfrontation, sich die Probleme der Zukunft lösen lassen. Wir brauchen dringend mehr Konsens, mehr Gemeinsamkeiten, und zwar in den Betrieben zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern, in den Regionen zwischen den relevanten wirtschaftlichen Gruppen und vor allem auch auf Bundesebene zwischen den Trägern der Wirtschaftspolitik. Doch zu derartigen Gemeinschaftsaktionen ist der Bundeswirtschaftsminister nicht bereit und — ich füge hinzu — nicht in der Lage.
Nüchternheit wäre angesagt, Nüchternheit und vor allem das Bemühen um etwas mehr Wahrheit, das Abrücken von der Verirrung in Ideologie. Doch diese Regierung, so scheint es, scheut die Wahrheit.
Die Tatsache, daß sie nicht in der Lage ist, elementare Basisdaten über den Standort Bundesrepublik Deutschland ad hoc zur Verfügung zu stellen, ist ein Beweis für ihre ideologische Verklemmung.
Ich bin davon überzeugt, von Wirtschaftspolitik verstehen wir Sozialdemokraten mehr. Einem Karl Schiller oder einem Helmut Schmidt wäre ein derartiger Dilettantismus wahrlich nicht passiert.
Es ist wirklich höchste Zeit, daß diese Regierung, und zwar komplett, in den von ihr so geliebten „kollektiven Freizeitpark" geschickt wird.
Herzlichen Dank.
Nun hat der Kollege Rainer Haungs das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Professor Dr. Jens! Ich bin der Meinung, daß der Nachweis der größeren Kompetenz Ihnen mit dieser Rede so wenig gelungen ist wie der Erfolgsbeweis für Nüchternheit und das Bemühen um Wahrheit und wie die Rechtschreibung Ihrer Pressemitteilung um die Wahrheit. Die Form spricht für den Inhalt.
Die Stärken und Schwächen der deutschen Wirtschaft —
— nein, die Wahrheit; es geht nur immer um die Wahrheit, liebe Frau Kollegin — ohne Vorbehalte zu überprüfen — wer wollte das nicht tun? Und: Keine Stimmungsmache anheizen — wer wäre als Ökonom davon nicht begeistert? Aber wenn ich dann diese Erzählungen von „Ideologiekrisen", von „finsteren Absichten konservativer Kreise" und gleichzeitig die Aufforderung höre, Scheuklappen beiseite zu legen, lieber Herr Kollege Jens, dann frage ich mich: Was soll das? Sie kennen doch die Lage in der Automobilindustrie. Bei VW wird ein so erfolgreiches Modell wie der Golf selbst in guten Zeiten so produziert, daß er auch in den Ländern, bei denen wir keine Währungsprobleme haben und in denen der Yen und der Dollar aufgewertet wurden, nicht mit Gewinn verkauft wurde. Wenn Sie lesen, was beispielsweise die Vorstandsvorsitzenden der meisten Autofirmen sagen, dann werden Sie finden, daß sie schlicht und einfach sagen — dies sind keine finsteren Absichten konservativer Kreise —, daß der Produktionsstandort Deutschland viel zu teuer geworden ist. Es ist doch auch keinesfalls zu bestreiten, daß wir in dieser doppelten Krise stecken, wobei man auf keinem Auge blind sein kann.
Lieber Kollege Jens, Sie haben ja einige gelungene Passagen in Ihrer Rede gehabt, bei denen es um die Innovationsschwäche der deutschen Wirtschaft geht. Das wissen wir auch, das sagt auch der Bundesminister für Wirtschaft, und er weist darauf hin. Er sagt es an richtiger Stelle, und sein Staatssekretär ist da und wird es ihm auch übermitteln.
— Aber natürlich. Ich habe vorhin kritisiert, daß Sie den Standortbericht unter Wert dargestellt haben. Es ist ein Papier, es ist zu lang geraten. In ihm steht es sehr wohl, was alles zu machen ist. Ich werde darauf zurückkommen und werde Sie auffordern, hier auch mitzuhelfen. Sie sollen nicht nur klagen, sondern Sie sollen an den Orten, wo Sie Verantwortung haben, mithelfen.
Ich füge hinzu: An den Orten, wo sozialdemokratische Wirtschaftsminister in der Verantwortung sind, da klingt die Melodie ganz anders. Fragen Sie mal Ihren Kollegen Spöri, ob es keine Kostenkrise in der baden-württembergischen Wirtschaft gibt. Fragen Sie einmal andere.
Es ist eine Rede, die Sie gehalten haben, die in weiten Passagen völlig an der Wirklichkeit vorbeigeht, denn es ist schlecht um die Wettbewerbsfähigkeit vieler Branchen bestellt. Dies hängt — und ich
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Rainer Haungs
hoffe, daß Sie mir zustimmen — mit vielem, nicht zuletzt, aber auch nicht allein, mit den Kosten am Produktionsstandort Deutschland, den Personalkosten, den Energiekosten, den Steuern und Abgaben zusammen.
Das war uns auch vor Ihrer Anfrage bekannt.
Sie haben beklagt, daß die Bundesregierung die vielfältigen Fragen, die Sie gestellt haben, nicht so und nicht so schnell beantwortet hat. Sie haben dann noch nachgelegt: Sie könnten noch 50 oder 100 Fragen mehr stellen. Aber das ist doch eine völlig vergebliche Liebesmüh. Durch Fragestellungen ändern Sie nichts an den Handlungsnotwendigkeiten, auf die ich jetzt hinweise und von denen ich ausgehe, daß die Bundesregierung hier nachkommt.
Wir benötigen eine Doppelstrategie. Richtigerweise: Wir sind stark bei der Produktion konventioneller Güter auf gesättigten Märkten mit intensivem Wettbewerb. Das ist bekannt, das ist auch Konsens. Wir benötigen deshalb verstärkte Anstrengungen mit neuen Produkten auf neuen Märkten.
Die Debatte heute nachmittag zur Asieninitiative der Bundesregierung war ein gutes Beispiel dafür, daß wir auch zu einer neuen Qualität der Zusammenarbeit von Politik und Wirtschaft im Sinne einer Intensivierung kommen müssen, daß wir sowohl — da gibt es keinen Dissens, und es wird von uns auch gar nicht übersehen — bei Forschung und Entwicklung und der Förderung der öffentlichen Hand als auch beim Verkauf der marktfähigen Produkte gemeinsame Strategien entwickeln und unter Beibehaltung der jeweiligen Verantwortlichkeit auch abgestimmt umsetzen müssen.
Das steht in vielen Erklärungen. Das sagt der Wirtschaftsminister, und das sagen wir von der Arbeitsgruppe CDU für Wirtschaftspolitik an allen Orten. Aber Sie sind es, die so einseitig darauf fixiert sind und mit den Schlagworten kommen, wir, die Partei Ludwig Erhards, wollten die Soziale Marktwirtschaft abwracken. Solch ein Unsinn! Wir wollen die Soziale Marktwirtschaft wieder bezahlbar machen. Wir wollen unsere deutsche Wirtschaft in die Lage versetzen, daß sie die eine Billion Mark
— das Drittel des Bruttosozialprodukts, das wir für soziale Leistung ausgeben — erst einmal erwirtschaftet.
Uns sind beim Abbau der Arbeitslosigkeit alle Vorschläge willkommen: ob es die schnellere Umsetzung von Forschungsergebnissen ist — das ist unumstritten—, ob es die Ausdehnung des Welthandels, der Abbau von Handelsschranken ist. Ich kann mich nicht erinnern, daß Sie auf Ihrem Parteitag sehr intensiv das Thema des freien Welthandels oder GATT diskutiert haben. Ich habe sehr viel eher in Zwischentönen gehört, daß auch Sie gegen die Gefahren des Protektionismus nicht ganz immun sind. Der Außenhandel ist der stärkste Wachstumsmotor, und hier werden wir neue Arbeitsplätze schaffen.
Aber bitte laufen Sie nicht mit Scheuklappen herum, wenn Sie sagen: Nüchternheit ist angesagt. Auch Einstiegstarife für Arbeitslose, auch bezahlbare Lohntarife für Niedrigqualifizierte, auch eine variable betriebsnahe Tarifgestaltung: Das ist doch keine Lohndiskriminierung und kein Lohnraub, wie Sie der Öffentlichkeit immer klarzumachen versuchen, sondern das ist eines der Instrumente zur Vergößerung des Arbeitsvolumens, das eben nicht nach physikalischen Gesetzmäßigkeiten fix ist, sondern das man durchaus verändern kann, wenn man auf die heutigen Herausforderungen variabel reagiert.
Flexible Arbeitszeiten heißt heute auch — ich habe das ja im Namen der CDU-Arbeitsgruppe Wirtschaft begrüßt — vier Tage bei VW. Da kann man die Tarifpartner loben, daß sie ohne Massenarbeitslosigkeit, ohne Steuersubventionen, ohne Zuschüsse der Bundesanstalt für Arbeit für eine begrenzte Zeit eine betriebsnahe Lösung getroffen haben und endlich einmal die Tarifautonomie so praktizieren, wie sie in schwierigen Zeiten sein sollte und auch Lob verdient.
Ich nehme dies aber auf und fordere es auch in anderen Bereichen. Genauso wie man für eine begrenzte Zeit in dieser Lage des Automobilbaus vier Tage arbeiten kann — und später, wenn, so hoffe ich, sich die Anstrengungen lohnen und man mit neuen Vertriebsstrategien neue Märkte erobert hat, auch wieder länger arbeiten kann --, brauchen wir auch eine Veränderung der Arbeitszeit am Bau. Wir müssen im Sommer länger arbeiten, damit wir im Winter weniger arbeiten können.
— Ja, lieber Herr Kollege Jens — ich bitte die Zwischenrufe so zu beschränken, daß ich auch darauf antworten kann —, wir können das nicht regeln. Aber genauso, wie wir die Viertagewoche bei VW loben, können wir auch die Tarifpartner an anderen Orten auffordern, dies zu regeln, und wir können sie dazu ermuntern.
Wir können nicht sagen: Dann wird Streik ins Haus stehen. Wir können nicht sagen, daß sie alles lassen sollen. Wir Politiker können durchaus sagen: Ihr könnt hier zu Regelungen kommen, die zeitgemäß sind, die der Branche entsprechen, die auch den biologischen oder Naturbedingungen entsprechen.
Denn im Sommer läßt es sich halt am Bau eher arbeiten als im Winter. Dasselbe gilt für Handel und Dienstleistungen.
Meine lieben Kollegen von der Opposition, mit Ihrer wirtschaftspolitischen Kompetenz ist es nicht so weit her.
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Rainer Haungs
Es gibt Widersprüche über Widersprüche. Sie fordern auf Ihrem SPD-Parteitag, daß der Zuwachs des Etats unter dem Bruttosozialprodukt liegen soll. Gleichzeitig verweigern Sie sich hier bei den 25 % der Sozialausgaben, wenn es um maßvolle Kürzungen geht. Sie glauben, daß die Arbeitnehmer von VW bei vier Tagen Arbeit auf 10 bis 15 % ihres Lohnes verzichten können und sagen gleichzeitig, daß moderate Kürzungen bei der Arbeitslosenhilfe oder beim Arbeitslosengeld den Arbeitslosen nicht zuzumuten sind.
Das ist doch die Unlogik in höchster Form! Dahinter steht doch überhaupt keine ökonomische Verantwortung!
Ich erinnere an die Diskussion beispielsweise heute im Wirtschaftsausschuß. Sie schreien Zeter und Mordio, wenn es darum geht, daß wir die Subventionen für die Steinkohle zurückfahren und dafür einen überschaubaren Zeitraum festlegen. Gleichzeitig fordern Sie mit dem Anspruch, ernstgenommen zu werden, daß wir neue Technologien unterstützen, Deutschland modernisieren, und Sie sind nicht bereit, uns zu helfen, wenn wir einen Betrag von 50 bis 60 Milliarden DM, der bis zum Jahr 2000 gilt, nach dem Jahr 2000 deutlich degressiv gestalten, also zurückführen wollen. Da frage ich, wo die Logik ihrer ökonomischen Kompetenz ist. Das ist ein Irrweg, meine Damen und Herren.
Es ist natürlich sehr populär, immer gerade das zu fordern, was der entsprechende Zuhörerkreis hören will. Ich gebe zu, daß wir es der Öffentlichkeit, den Betroffenen etwas schwer machen,
indem wir auf die Dinge hinweisen, die gemacht werden müssen, und nicht nach 50 teilweise berechtigten Fragen gleich noch die Drohung anfügen: Wenn wir nicht sofort eine Antwort bekommen, stellen wir noch einmal 50 Fragen.
Ich gestehe Ihnen zu, daß die SPD in der Lage ist, 150 Fragen an das Bundesministerium für Wirtschaft zu stellen. Das ist ja heute wahrscheinlich auch gar nicht das Problem.
Es ist nicht das Problem, hier viele Fragen zu stellen, sondern die entsprechenden Antworten zu geben.
Der Sachverständigenrat, um doch einmal dieses Gremium zu zitieren, das Sie auch immer in den Abschnitten loben, in denen es Ihren Vorstellungen nahekommt, hat sein diesjähriges Gutachten unter die Überschrift „Zeit zum Handeln" gestellt, nicht „Zeit zum Fragenstellen für die Wirtschaftspolitik". Ich will in aller Kürze die fünf Punkte aufführen, die uns der Sachverständigenrat in Übereinstimmung auch mit dem Gutachten und mit dem Standortbericht geliefert hat.
Erstens. Privatisierung und Deregulierung. Ich kann mich nicht erinnern, daß Sie hier so arg energisch an unserer Seite stehen. Bei der Post verzögern Sie, in anderen Dingen verhindern Sie.
— Bei der Handwerksordnung haben Sie glücklicherweise dank der geballten Überzeugungskraft der Koalition heute mitgestimmt. Ich gebe Ihnen zu, daß Sie in diesem Teilbereich Mut gezeigt und die richtige Entscheidung mitgetragen haben.
Wir werden morgen darüber diskutieren. Ich fordere Sie auf, dieses Thema, Privatisierung und Deregulierung, nicht unter der ideologischen Brille zu sehen. Platz schaffen für mehr Wettbewerb, Platz schaffen für Privatinitiative — so die Worte des Sachverständigenrates.
Zweitens. Es ist wichtig, die Haushaltskonsolidierung nicht nur mit markigen Worten auf Parteitagen zu fordern, sondern hier in den Abstimmungen und im Vermittlungsausschuß und wo auch immer unsere Politik zu unterstützen, zu der es keine Alternative gibt. Denn das schafft Platz für die notwendigen Steuersenkungen, die unbedingt als Wachstumselement für die Zukunft notwendig sind.
Drittens. Bei den sozialen Sicherungssystemen benötigen wir in Zukunft mehr Eigenbeteiligungen. Auch hier wäre Ihre Mitarbeit hilfreich. Ich sehe sie kaum.
Viertens. Bei den Tarifpartnern Augenmaß und neue Wege. Ich habe die Tarifpartner gelobt und appelliere an sie, auch in den weiteren Bereichen zukunftsgerecht zu arbeiten.
Fünftens. Die Unternehmer fordere ich auf, bei neuen Produkten und bei neuen Märkten auch ein neues Management ihrer Kosten zu betreiben. Ich hoffe sehr, daß es uns gelingt, in den nächsten Monaten die Rezession und unsere Strukturkrise zu überwinden.
Wir wollen dies tun, indem wir zielgerecht handeln, indem wir auch unpopuläre Entscheidungen treffen. Wir wollen es nicht tun, indem wir dem Ministerium weitere Fragen stellen. Ich freue mich allerdings sehr und greife dies auf: Wenn wir das nächste Mal über Ihre Antworten diskutieren werden, dann werden wir, so hoffe ich, zu einem besseren Zeitpunkt auch ein gefüllteres Plenum zu diesem wichtigen Thema finden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun spricht der Kollege Werner Schulz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch wenn die Große Anfrage der SPD noch nicht beantwortet ist, besteht offenbar fraglos und über alle Parteigrenzen hinweg die Übereinstimmung, daß diese Bundesregierung weitgehend versagt hat. Das behauptet zumindest Kurt Biedenkopf, der in „SuperIllu" schreibt, es sei ein Fehler der politischen Führung der Bundesrepublik, daß sie den Menschen
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Werner Schulz
falsche Hoffnungen mache, indem sie immer wieder auf Wirtschaftsgutachten hinweise, die einen Silberstreif am Horizont versprächen.
Offenbar vom eigenen Versagen ablenkend, wie in jeder Rezession — vielen von Ihnen ist diese Diskussion vertraut —, wird eine Debatte fiber die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland geführt. Die Regierung tritt dabei in die Rolle der besorgten Kassandra und interpretiert die Wirtschaftslage, die für die Industrien aller vergleichbaren Länder ebenso als hausgemachte Kostenkrise besteht, angeblich wegen überhöhter Löhne und Sozialausgaben sowie zu kurzer Arbeits- und Maschinenlaufzeiten.
Die konservativ-liberale Regierung zeigt dabei ein gestörtes Verhältnis zur Sozialstaatkultur und den eigentlichen großen ökologischen Herausforderungen unserer Zeit. Alles wird als Kostenballast definiert. Die Regierung will mit der Standortdebatte weitere Zumutungen für die sozial Schwachen rechtfertigen und ihre eigene Klientel der Besserverdienenden schonen oder gar begünstigen, wie die Senkung der Unternehmensteuern das gezeigt hat.
Mit der Tragfähigkeit der Argumente ist es aber nicht so weit her. Die Lohnstückkosten, d. h. die Löhne bezogen auf die Leistungsfähigkeit der Unternehmen, sind in der westdeutschen Wirtschaft im vergangenen Jahrzehnt geringer gestiegen als im vergleichbaren Ausland. In diese Betrachtungen sind die tariflichen Löhne, Arbeitszeiten und Urlaubsdauer ebenso wie die Lohnnebenkosten einbezogen.
Problematisch für die Wettbewerbsfähigkeit waren eher die D-Mark-Aufwertungen, die Staatsverschuldung und die damit verbundene Hochzinspolitik der Bundesbank. Das Lamento über die überhöhten Kosten verstellt den Blick für die eigentlichen Probleme des Wirtschaftens. Dies gilt um so mehr für den industriellen Wiederaufbau in den fünf neuen Ländern.
Die Krise ist nicht nur eine Krise der weltweiten Konjunktur. Sie ist vor allem eine Strukturkrise, eine Krise der falschen Produkte und Produktionsweisen.
Wer nur über die Kosten jammert, übersieht, daß es immer ein Merkmal des Standorts Deutschland war, Kostennachteile auszugleichen, entweder durch Steigerung der Produktivität oder aber durch die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen.
Deutschland kann nicht mit den Billiglohnländern Osteuropas konkurrieren. Die Stärke der entwickelten Industrienation liegt in der Innovation und nicht im Lohndumping oder im Abbau von Umweltstandards. Wir setzen deshalb auf Strukturveränderungen, auf ökologische, technische und soziale Erneuerungen.
Eine ganz wesentliche Standortschwäche Deutschlands, von der die Bundesregierung so am liebsten nicht redet, besteht in dem stockenden Aufbau Ost.
Die Bundesregierung ist mit ihrer Politik zur Schaffung der inneren Einheit Deutschlands und zur Förderung des Aufbaus in eine Sackgasse geraten. Ihre Voraussagen und Versprechungen halten der Realität
nicht stand. Weder ist die Sanierung der ostdeutschen Wirtschaft gelungen, noch sind neue Investitionen in ausreichendem Umfang in die ostdeutschen Bundesländer gelenkt worden, die den Substanzverlust der Wirtschaft dort hätten ausgleichen können.
Die ostdeutsche Wirtschaft ist jedoch völlig überfordert, diese Angleichung und Transformation in Richtung moderner, wettbewerbsfähiger Produktionsstrukturen aus eigener Kraft zu bewältigen.
Die hohe Arbeitslosigkeit im Osten ist vor allem eine Frage von Unterkapitalisierung. Von den für 1993 erwarteten Investitionen in Ostdeutschland in Höhe von 120 Milliarden DM entfällt lediglich ein Drittel auf westdeutsche Unternehmen. Trotz des leichten Anstiegs wird der eigentliche Investitionsbedarf weit unterschritten. Auch Frau Breuel hat ihre Enttäuschung über das mangelnde Engagement der Banken und deren eigentlichen Zusagen geäußert.
Nach wie vor sind viele Treuhandunternehmen und eine Reihe der bereits privatisierten Unternehmen in einer sehr prekären Situation. Der Sachverständigenrat hat auch dies nachdrücklich bestätigt und in seiner Einschätzung unterstrichen.
Hinzu kommt die extrem ungerechte und unsoziale Belastung der Bevölkerung mit den finanziellen Folgen der deutschen Einheit. Die Bezieher niedriger Einkommen werden doppelt und dreifach zur Kasse gebeten.
Die Wohlhabenderen kommen, gemessen an ihrer Leistungsfähigkeit, billig davon. Auch den Unternehmen ist ein angemessener Beitrag bislang nicht abgefordert worden.
Wir haben deshalb eine eigene Gesetzesinitiative unternommen, nachdem unsere Aufforderung an die Bundesregierung sich als fruchtlos erwiesen hat. — Ich sehe leider Herrn Haungs nicht mehr. Es wäre mir lieb gewesen, er hätte etwas zu unserem Investitionshilfegesetz gesagt, zumal es auch in seiner Fraktion vor einem Jahr dazu Überlegungen gab und sich andeutete, als ob es in diesem Parlament quer durch alle Fraktionen in dieser Frage zu einer Mehrheit kommen könnte.
Wir wollen mit diesem Investitionshilfegesetz mehrere Ziele erreichen: Wir wollen erstens einen wesentlichen Teil der Investitionen westdeutscher Unternehmen in die ostdeutschen Bundesländer umlenken. Denn nur wenn das gelingt, ist auf Dauer ein ausreichender großer und vielfältiger industrieller Sektor in Ostdeutschland zu sichern.
Zweitens wollen wir einen dringend benötigten neuen Sanierungsschub in der ostdeutschen gewerblichen Wirtschaft auslösen und die dafür erforderlichen Mittel aufbringen. Soweit Betriebe aus der Masse der Treuhand mit Aussicht auf Erfolg saniert werden können, jedoch dazu auf Hilfe angewiesen sind, sollten programmorientiert öffentliche Mittel für diesen Zweck zur Verfügung gestellt werden. Das betrifft ebenfalls Betriebe, die aus dem Bestand der
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Werner Schulz
Treuhandanstalt zum Teil viel zu schnell privatisiert wurden, jedoch heute nicht in der Lage sind, eine an sich mögliche Sanierung erfolgreich zu Ende zu führen.
Wir möchten drittens mehr Risikokapital für Existenzgründungen und Investitionen für den Aufbau Ost mobilisieren. Dies hat besondere Bedeutung, weil die kleineren und mittelständischen Unternehmen in den neuen Bundesländern stark unterrepräsentiert sind und weil überdies die Kapitalbildung noch nicht in dem Maße vorangekommen ist, daß Mittel für risikobehaftete Innvestitionen vor Ort aufgebracht werden können.
Der Gesetzentwurf selbst orientiert sich an einem von Ludwig Erhard im Jahre 1952 geschaffenen Gesetz über die Investitionshilfe der gewerblichen Wirtschaft, mit dem immerhin der Bedarf an Investitionen in Kohle, Eisen und Energiewirtschaft damals gedeckt werden konnte.
Meine Damen und Herren, es ist höchste Zeit, die Trittbrettfahrer der deutschen Einigung bei den Unternehmen endlich in die patriotische Pflicht zu nehmen und damit zugleich einen Beitrag zu einer gerechten Finanzierung der deutschen Einheit zu leisten. Verspätet, aber noch nicht zu spät wird auf diese Weise auch ein Teil des anstehenden Lastenausgleichs von den Gewinnern der deutschen Einheit geleistet.
Und nun spricht der Kollege Paul Friedhoff.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit 43 komplexen Fragen, die die SPD gestellt hat und auf die sie offensichtlich so schnell keine Antwort bekommen kann. Allerdings kann man die Antworten eigentlich durchaus schon ablesen; denn sie stehen im Standortpapier des Bundeswirtschaftsministers ziemlich gut beschrieben.
— Doch, sicher, Sie haben das bekommen.
Eigentlich sind dort diese Antworten vorweggenommen. In Kürze wird auch noch der Jahreswirtschaftsbericht vorliegen, und dort werden weitere Fragen von Ihnen beantwortet. Aber ich bin sicher, auch dies wird irgendwann noch ausführlich auf Sie zukommen. Im Ministerium werden die Beamten eine Menge zu tun haben, damit sie diese Fragen beantworten, und Sie werden möglicherweise noch weitere hinzufügen, wie Sie schon angekündigt haben. Ich glaube nicht, daß das Ganze dem Standort Deutschland gerecht wird. Ich glaube auch nicht, daß wir damit weiterkommen.
Nun zu den Fakten. Die Probleme in der Bundesrepublik liegen eigentlich in zwei Punkten: erstens in der zunehmenden Arbeitslosigkeit und zweitens in der abnehmenden Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen. Man kann beides nachlesen und nachvollziehen. Am Arbeitsmarkt sind die Beschäftigtenzahlen sinkend, und die Arbeitslosigkeit nimmt tatsächlich zu. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit vieler deutscher Unternehmen kann man an den Märkten feststellen. Man kann sie an der Zahlungsbilanz ablesen. Wer leugnet, daß hier eine wirkliche Wettbewerbsveränderung gegenüber den vergangenen Jahren stattgefunden hat, wobei wir eine Menge verloren haben, den verstehe ich nicht.
Aber wir sind uns in der Analyse ja auch weitestgehend einig. Nur, wenn man diese beiden Fragen miteinander vermischt, wird man keine befriedigenden Antworten bekommen. Hier muß man erheblich differenzieren. Um die Probleme des Arbeitsmarktes in den Griff zu bekommen, müssen andere Maßnahmen ergriffen werden, als sie zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit notwendig sind.
Ich möchte hier zunächst auf die Frage der internationalen Wettbewerbsfähigkeit eingehen und sie nicht mit den Fragen des Arbeitsmarktes direkt vermischen.
Wir haben mit dem Fall des Eisernen Vorhangs eine ruckartige Beschleunigung der internationalen Wettbewerbsverhältnisse erfahren. Bis zum Fall des Eisernen Vorhangs wurden die Länder Mittel- und Osteuropas nicht an der internationalen Arbeitsteilung beteiligt. In der Zwischenzeit sind sie praktisch Teil Europas, zumindest in großen Teilen. Die Assoziierungsverträge mit der Europäischen Gemeinschaft sind ja in Kraft, und sie bezeugen, daß wir auch diese Arbeitsteilung wollen. Wenn wir diese Arbeitsteilung wollen und Strukturen in Ost und West unterschiedlich sind, dann wird das automatisch Folgen für den Strukturwandel nicht nur im Osten, sondern auch im Westen haben.
Nur müssen wir dies dann auch sagen, wenn wir Strukturwandel wollen, und wir müssen dann auch deutlich sagen, daß es eine Reihe von Unternehmen geben wird, die diesem Strukturwandel nicht gewachsen sind. Davor die Augen zu verschließen und so zu tun, als würden wir dieses Problem mit Erhaltungssubventionen lösen können, ist falsch, weil wir dann Mittel vergeuden.
Wenn wir das nun analysieren, ist die Stärke der hinzugekommenen, weniger entwickelten Staaten auf Grund ihrer niedrigen Produktionskosten bei einfacheren Wirtschaftsgütern zu suchen. Diese niedrigeren Produktionskosten können wir durch Kostensenkung — Herr Jens, da gebe ich Ihnen völlig recht —bei Löhnen und Lohnnebenkosten nicht auffangen. Wir können mit den Löhnen dort nicht konkurrieren, auch wenn wir hier heruntergehen würden bei diesen Gütern, die im einfachen Bereich liegen. Wir müssen uns also auf die Produkte stürzen, die noch entsprechende Erlöse bringen, wo wir nicht so sehr unter Wettbewerbsdruck stehen, die wir in unserem Land, aber in anderen Ländern nicht so leicht herstellen können.
Insofern müssen wir uns selbstverständlich die Wettbewerbssituation und die Rahmenbedingungen für diese Unternehmen ansehen. Es handelt sich vornehmlich um kleinere und mittlere Betriebe. Ich habe bisher noch nicht erlebt, daß in einem großen Unternehmen ein Strukturwandel erfolgreich durchgeführt wurde. Wenn heute davon gesprochen wird, daß große Konzerne sich von Montanbetrieben zu Tech-
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Paul K. Friedhoff
nologieunternehmungen gewandelt haben, dann müssen wir berücksichtigen, daß diese Entwicklung nicht dadurch vollzogen wurde, daß Stahlwerke oder Bergwerke umstrukturiert wurden, sondern man hat einfach kleine und mittlere Betriebe zugekauft.
Diese zugekauften Unternehmen sind dann dem Konzern einverleibt worden. Dies ist günstigstenfalls ein Strukturwandel für Aktionäre, nicht aber für eine Volkswirtschaft.
Wir müssen uns also die Rahmenbedingungen ansehen, die der Staat setzt. In diesem Zusammenhang möchte ich drei wesentliche Punkte erwähnen. Es gibt erstens im Bereich des Rechts eine ganze Menge Hindernisse, die vielleicht für Großunternehmen oder Unternehmen mit einfacheren Produkten zu überwinden sind, aber von den moderneren Betrieben nicht.
Zum zweiten müssen wir uns vor diesem Hintergrund einmal die Ausbildung ansehen, und zum dritten müssen wir fragen, wie es um die Finanzierungsmöglichkeiten von Investitionen in diesem Wirtschaftsbereich bestellt ist. Wir müssen hier vermutlich eine Menge Verkrustungen aufbrechen.
Ich frage: Wie ist unser Arbeitsrecht heute gestaltet? Ist es flexibel genug, damit die Betriebe auf die Herausforderungen reagieren können? Sind das Betriebsverfassungsgesetz und die Mitbestimmungsregelungen, die vor längerer Zeit beschlossen wurden, in diesem Fall zeitgemäß? Entspricht das Arbeitszeitrecht, das wir gerade novellieren und über das wir in den Ausschüssen beraten, diesen Anforderungen? Oder waren damals ganz andere Zielvorstellungen maßgebend?
Die Genehmigungsverfahren, die wir in den 70er Jahren immer komplizierter ausgestaltet haben, sind heute kaum noch zu handhaben, so daß wir nicht zu zügigen Entscheidungen kommen und Planungssicherheit für die Unternehmen nicht besteht. Es ist zweifelsohne so, daß dadurch die Umstrukturierung behindert wird.
Welche Strukturen gibt es im Bildungssystem? Welche Inhalte gibt es dort? Wie praxisfern ist häufig die Ausbildung an den Universitäten? Erforderlich ist eine Orientierung an der Praxis. Wenn junge Ingenieure von der Universität in die Betriebe kommen, benötigen sie erst einmal eine lange Zeit, in der man ihnen intensiv die Flöhe, die ihnen die Professoren in die Ohren gesetzt haben, wieder austreibt. Die Praxis sieht eben ganz anders aus, zumindest in Betrieben mit hohem Technologisierungsgrad, zumindest in den Betrieben, von denen ich eben gesprochen habe.
Wie sehen die Finanzierungsmöglichkeiten aus? Hier erkenne ich ein wesentliches Hindernis. In den Unternehmen, die einfache Produkte herstellen, sind, obwohl wir die höchsten Unternehmensteuern haben, Investitionen in Sachanlagen relativ einfach dadurch möglich, daß es bei uns recht gute Abschreibungsmöglichkeiten gibt. Insofern werden die Sachinvestitionen eigentlich von der Unternehmensteuer befreit.
In modernen Betrieben, die intelligente Produkte herstellen, bei denen die Maschinen nicht so im Vordergrund stehen, bei denen im Sinne von „lean production" an Stelle der Maschinen Teile zugekauft werden, die intelligent zusammengeschraubt werden, die intelligent zu Systemen verarbeitet werden, haben wir die Substitution der Sachanlagen durch das Umlaufvermögen zu konstatieren. Hier sind die Werte im Materiallager.
Genau an dieser Stelle schlägt die Unternehmensbesteuerung voll zu. Denn das kann nur aus dem finanziert werden, was vorher verdient und versteuert wurde. Hier können letztendlich nur 30 % aufgebracht werden. Insofern wundert es mich überhaupt nicht, daß die Umstrukturierung von den Betrieben mit hohen Sachanlagen hin zu modernen Betrieben nicht erfolgt.
Als wir hier das Standortsicherungsgesetz verabschiedet haben, konnten wir noch eine stärkere Verringerung der Unternehmensteuer vornehmen, als sie letzendlich durchgekommen ist. Sie ist deswegen nicht durchgekommen, Herr Jens, weil man sich im Vermittlungsausschuß für die Abschreibung auf Sachanlagen, also für ältere Produkte, entschieden hat. Ich finde, das war ein eklatanter Fehler, den aber Sie zu verantworten haben. Und deswegen wundert es mich, daß Sie hier — —
— Natürlich werden Sie bei der Stahlindustrie, bei den Sachanlagen, bei all den Leuten, Herr Jens, großen Beifall finden, die diesen Strukturwandel nicht brauchen, die nämlich diese Produkte haben. Dagegen werden Sie bei den Unternehmen, die davon überhaupt nichts haben, eine erheblich andere Meinung feststellen können. Ich glaube, daß wir hier diese Dinge — —
— Frau Matthäus-Maier, Sie müssen sich an dieser Stelle einmal mit der Praxis beschäftigen,
Sie müssen sich mit der Praxis beschäftigen, dann werden Sie das sehr schnell merken. Wenn Sie übrigens Nachhilfeunterricht brauchen, dann sollten Sie Herrn Bohn, den Wirtschaftsminister in Thüringen, einmal fragen, der dies vor kurzem als einen wesentlichen Punkt festgestellt hat.
Er sieht in der Problematik der Finanzierung des Umlaufvermögens eines der wesentlichen Hindernisse, warum wir den Produktionsstandort im Osten nicht so aufbauen. Wenn Sie sich das ansehen, erkennen Sie, daß das sehr viel Gewicht hat und daß es in diesen Unternehmen so ist.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993 16939
Paul K. Friedhoff
Meine Damen und Herren, die internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen läßt sich nur verbessern, wenn wir diese Rahmenbedingungen verbessern, wenn wir sie den Erfordernissen der 90er Jahre anpassen. Hier ist Handeln sicherlich mehr gefordert als das Erstellen neuer Statistiken oder das Beantworten solcher Fragen. Es ist nicht allein Sache der Regierung, daß dies geändert wird, sondern hier ist ein Konsens in der Gesellschaft notwendig. Hier sind wir sicher alle gefragt.
Ich danke Ihnen.
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Ingrid Matthäus-Maier.
Der Kollege Vorredner hat den Eindruck erweckt, als ob gute Abschreibungsbedingungen, die wir in diesem Land in der Tat haben, nur für das nützlich wären, was er „alte Industrien" nennt, Kohle, Stahl und ähnliches. Ich weise darauf hin, daß die gesamte deutsche Wirtschaft — DIHT, BDI, Handwerk, alles, was in der Wirtschaft Rang und Namen hat — bei den entsprechenden Anhörungen die SPD-Position unterstützt hat, daß es ein grober Fehler gewesen wäre, im Standortsicherungsgesetz die Verkürzung der Abschreibungsbedingungen mitzumachen. Es ist also nicht irgendeine falsche Einsicht der SPD gewesen, wie Sie hier behaupten, sondern die gesamte deutsche Wirtschaft hielt die von Ihnen geplante Verschlechterung der Abschreibungsbedingungen für einen Fehler. Deswegen haben wir das auch zu Recht verhindert.
Nun erhält das Wort der Kollege Bernd Henn.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir begrüßen natürlich die Große Anfrage der SPD-Fraktion und haben eigentlich auch auf baldige Antwort gehofft; denn wir denken, diese Anfrage ist geeignet, die von der Bundesregierung und den Unternehmerverbänden angezettelte Standortdebatte vom Kopf auf die Füße zu stellen. Eine offene und ehrliche Beantwortung des Fragenkatalogs ergäbe mit Sicherheit eine regierungsamtliche Bestätigung der Tatsache, daß eben nicht hohe Löhne, Sozialabgaben, Steuern und Umweltkosten den entscheidenden Einfluß auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft haben,
sondern die Fähigkeit der Wirtschaft zur Innovation der Produktionsprozesse und zur Innovation der Produkte.
Ich möchte mich hier auf den Kollegen Haungs beziehen, der vorhin davon sprach, daß sich der VW Golf nicht mehr verkaufen ließ, weil die Kosten einfach zu hoch seien. Ich möchte aber auch daran erinnern, daß VW den Herrn López eingekauft hat, nicht um die Personalkosten zu senken, sondern um die Kapitalkosten zu senken, um die Arbeitsstruktur zu durchforsten und sie effizienter zu machen. Das hatte zunächst einmal nichts mit den Personalkosten zu tun. Ich war fast erschrocken, muß ich sagen, als ich den Pressesprecher des VW-Vorstandes gesehen habe, wie er mit leuchtenden Augen geschildert hat, daß Herr López und seine Mannschaft so effizient seien, daß sie nämlich an die Basis, an die Werkbank gingen und sich die Dinge konkret anguckten. Da habe ich mich gefragt, was denn die Manager früher gemacht haben, daß sie ihren Betrieb nicht bis unten hin durchleuchtet haben. Hier war ein eklatantes Versagen der Manager festzustellen.
Herr Kollege Henn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grünbeck?
Ja, aber gern.
Herr Kollege, habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie sagen, López hätte nur die Kapitalkosten, nicht aber andere Kosten senken wollen? Wie erklären Sie sich dann, daß VW 30 000 Leute entlassen mußte?
Sie haben natürlich völlig recht, Herr Grünbeck,
daß es natürlich auch ein Kostensenkungsprogramm gab, was den Personalkostensektor angeht. Das aber war nicht die Aufgabe des Herrn López. Vielmehr war es im ersten Schritt seine Aufgabe, diesen großen, starr gewordenen Konzern zu durchforsten und ihn schlanker zu machen — mit den entsprechenden, danach eintretenden Folgen, natürlich auch mit der Wirkung bezüglich des Personals; da gebe ich Ihnen völlig recht.
Ein entscheidendes Problem bei VW aber war, daß dort Arbeitsstrukturen vorhanden waren, die nicht mehr effizient, nicht mehr flexibel waren. Ich kenne diese Betriebe relativ gut, weil ich oft in ihnen zu tun hatte. Ich denke, hier ist im Auftrag des Vorstandes ein Problem angepackt worden, das nicht vorrangig auf Köpfe abzielte, d. h. das Rausschmeißen von Leuten, sondern im wesentlich den Kapitalbereich im Blick hatte.
Der Herr Kollege Grünbeck möchte noch eine Zwischenfrage stellen.
Aber gerne.
Würden Sie mir dann noch die Zusatzfrage gestatten, ob in deutschen Unternehmen überhaupt jemand rausgeschmissen wird oder ob er unter Berücksichtigung des sozialverträglichen Kündigungsschutzes möglicherweise von der Arbeit freigestellt oder entlassen wird?
— Was ist denn „Rauschschmeißen"? Wollen Sie wirklich sagen, daß wir auf dem „Hire and fire"-Weg sind? Dann müssen Sie einen Tag lang ein Arbeitsgericht besuchen und zuhören, wie die Verfahren auf Grund der Kündigungsschutzbestimmungen vor sich gehen.
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Josef Grünbeck
López aber hat sich nicht nur auf die Kapitalkosten und das Schlankerwerden des Unternehmens konzentriert. Sie müssen einmal die deutschen Zulieferbetriebe für die Automobilindustrie fragen, was Herr López dort verlangt. Es ist doch etwas ganz anderes als das, was Sie hier vortragen. — Wenn Sie mir hier noch einmal zustimmen würden, wäre ich für heute abend gerettet.
Herr Kollege Grünbeck, vielleicht darf ich Ihnen so darauf antworten: Es gibt Fälle, wo durch Markteinflüsse in der Tat Entlassungen unvermeidbar sein können. Es gibt aber auch sehr viele Fälle — wenn Unternehmen langfristige und vorausschauende Personalplanung betreiben und wenn sie sich rechtzeitig um die Entwicklung neuer Produkte bemühen —, wo alle diese Maßnahmen und auch ein „Rausschmeißen" — so sage ich das jetzt einmal — nicht notwendig werden. — Das ist meine Antwort auf Ihre Frage.
Ich komme zurück. Ich denke, daß die Fähigkeit, Produktionsverfahren und Produkte so zu gestalten, daß der Ressourcenverbrauch minimiert und die Umwelt maximal geschont wird, und die Fähigkeit, Produktionsprozesse so zu gestalten, daß sie ein Minimum an körperlichem und nervlichem Verschleiß für die Arbeitnehmer bewirken und ein Maximum an Motivation hervorbringen, die wirklich wichtigen Kriterien für eine entwickelte moderne Industriegesellschaft wie die Bundesrepublik Deutschland sind und letztlich sogar ein Kostensenkungsprogramm erster Güte darstellen. Wenn ich daran denke, was die Reparatur von Umwelt und der Gesundheitssektor kosten, kann ich diese Kosten doch im Vorfeld minimieren, indem ich beispielsweise die Arbeitsbedingungen ordentlich gestalte.
Ich meine, mittelfristig kann es wirklich zu einer Standortschwäche des Wirtschaftsstandorts Deutschland kommen, weil die Entwicklung genau dieser Fähigkeiten von der Politik nicht ausreichend unterstützt wurde. Forschung und Entwicklung und die Bildungspolitik haben in dem vergangenen Jahrzehnt einen immer geringeren Stellenwert bekommen. Obwohl das mittlerweile von allen Seiten in diesem Hause beklagt wird, ist haushaltspolitisch nichts passiert, um diese falsche Richtung zu korrigieren.
Anstatt Umweltschutz als integriertes Element einer modernen und zukunftsfähigen Produktionsweise zu begreifen, wird jetzt Front gemacht gegen umweltpolitische Auflagen, wird rückwärts gewendet. So werden die Zukunftschancen verspielt, so wird der Wirtschaftsstandort Deutschland an Wettbewerbsfähigkeit verlieren.
Noch schneller jedoch, denke ich, wird sich gegen den Wirtschaftsstandort Deutschland auswirken, daß die Regierung Kohl nach einem Jahrzehnt der Umverteilung von unten nach oben nun die Axt auch noch an den Sozialstaat anlegt und die soziale Schieflage im Land verstärkt. Diese Regierung demonstriert tagtäglich neu, daß sie Konfliktkurs gegen die sozial Schwächeren steuert und daß ihr sozialer Ausgleich und gesellschaftlicher Konsens nichts mehr bedeuten.
Der Unwille, zumindest aber das Unvermögen der Regierung, sozialverträgliche Strukturen im Land zu erhalten, provoziert mehr und mehr Arbeitskämpfe, provoziert Demonstrationen, mehr als in einem intakten Sozialstaat zur Regulierung von Interessenskonflikten notwendig wäre. Uns stehen im nächsten Jahr mit Sicherheit große Tarifauseinandersetzungen ins Haus. Wir hören schon jetzt täglich von Blockaden und Werksbesetzungen und wissen, daß die sozialen Spannungen zunehmen. Die Regierung darf sich rühmen, daß sie das alles wesentlich mitverursacht hat.
Ich sage hier: Selbst wenn die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften in naher Zukunft Niederlage auf Niederlage erlitten, würde es die Sache für Sie, leider aber auch für uns alle nicht besser machen; denn Resignation ist nur eine Reaktionsform der sozial Betroffenen, eine andere ist zunehmende Wut bis hin zum Haß, eine dritte ist die politische Radikalisierung zugunsten der Rechtsaußen in unserem Land.
Das Produkt dieses gefährlichen Weges der Bundesregierung wird sein, daß der Wirtschaftsstandort Deutschland am Ende gemieden werden wird und daß die Regierung genau die Verschlechterung des Standorts Deutschland produziert, die sie heute vorgibt abwenden zu wollen.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch mal auf einen aktuellen bedeutsamen Beitrag unseres Bundeswirtschaftsministers zurückkommen, der ansatzweise eine Lösung anbietet, wie man am Wirtschaftsstandort Deutschland die Arbeitslosigkeit bekämpfen kann. Wahrscheinlich weil Frau Kollegin Matthäus-Maier den Regierungsfraktionen mit ihrem berühmten Dienstmädchenprivileg immer auf den Wecker fällt, hat er sich wohl gedacht, daß man jetzt offensiv werden muß. Herausgekommen ist eine Arbeitsmarktstrategie, die darin gipfelt, die Ausweitung der steuerlichen Absetzbarkeit solcher Jobs vorzuschlagen.
Mich hatte schon die Haushaltsdebatte im September stutzig gemacht, als der Kollege Schäuble in diesem Zusammenhang von einem wichtigen Beschäftigungsbereich sprach. Der Kollege Solms setzte dann noch eins drauf und führte die Chancengleichheit für Frauen ins Feld.
Ich sage Ihnen, meine Herren Fraktionsvorsitzenden von CDU/CSU und F.D.P., und auch an die Adresse des Herrn Bundeswirtschaftsministers: Wir wollen Ihnen nicht nachstehen, was Vorschläge solcher Art angeht. Eine Dienstmagd ist ja ganz schön, aber wo bleibt denn die steuerliche Förderung von Hausknechten, von Butlern und von Gärtnern? Männer und Frauen sind schließlich gleichberechtigt in unserem Land. Denken Sie doch auch einmal an den schon nicht mehr vorhandenen Beruf und Broterwerb als Stallbursche! Wir haben so viele vermögende Hobbyreiter in dem Land, die sich nur zeitweise um ihre Pferde kümmern können. Ich denke, hier gibt es noch Beschäftigungsmöglichkeiten.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993 16941
Bernd Heim
Lassen Sie uns doch mal gemeinsam überlegen, wie man den fast gar nicht vorhandenen Beruf des Schuhputzers in Deutschland einbürgern könnte! Da liegen doch die Beschäftigungsmöglichkeiten regelrecht auf der Straße. Wie lange wollen wir uns denn diesen Standortnachteil gegenüber den USA noch leisten? Ich denke, da muß sich einiges ändern. Ich kann Ihnen nur sagen: Fröhlich weiter so! Zumindest die Kabaretts im Lande werden es Ihnen danken, meine Damen und Herren.
Herr Kollege, würden Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Hitschler gestatten?
Aber gern.
Herr Kollege, würden Sie mir zustimmen, daß es in diesem Lande rein zahlenmäßig mehr freigestellte Gewerkschaftsvertreter als Betriebsratsmitglieder gibt als Schuhputzer in den Schichten, die Sie hier zu diskriminieren versucht haben?
Sie haben völlig recht. Gott sei Dank ist das noch so! Ich möchte nicht, daß sich an diesem Zustand etwas ändert.
Meine Damen und Herren, wir sollten im Ernst dankbar sein für die offenen Worte der Herren Schäuble, Solms und Rexrodt über diese Arbeitsmarktperspektiven, die implizit auch gesellschaftliche Perspektiven sind. Das dürfen wir nicht vergessen. Im Prinzip — da hat der Kollege Schulz vom BÜNDNIS 90 recht — erübrigt sich die Beantwortung der Großen Anfrage der SPD, weil wir alle eigentlich die Antworten kennen. Sie kennen sie, wir kennen sie, und die SPD, die die Fragen gestellt hat, kennt natürlich die Antworten auch. Da machen wir uns nichts vor. Aber das ist, glaube ich, nicht das Problem. Die Frage ist doch letztlich, welches Gesellschaftsprojekt Sie im Kopf haben und was wir auf der linken Seite des Hauses eigentlich im Kopf haben.
Sie haben erklärt, daß Sie die im Industriesektor durch Produktivitätserfolge überflüssig gewordenen Arbeitsplätze zumindest zum Teil durch sogenannte „bad jobs", durch minderwertige Arbeit im Dienstleistungssektor, auffüllen wollen. Sie wollen im Grunde genommen anknüpfen an das fragwürdige Beschäftigungswunder in den USA in den 80er Jahren. Wir wollen diesen Weg nicht. Für uns ist eine hochmoderne und hochproduktive Industrie die Basis dafür, daß hohe Einkommen der Beschäftigten möglich sind und die Bezahlbarkeit eines öffentlichen und privaten Dienstleistungssektors mit ordentlichen Arbeitsverhältnissen gewährleistet wird. Wir wollen, daß hunderttausende neue Arbeitsplätze im Pflegebereich und im Umweltschutz entstehen, und wir wollen auch Arbeitszeitverkürzungen für alle.
Herr Kollege Henn, Sie sind jetzt etwas über Ihre Redezeit. Ich möchte gerne, daß alle ihre Rede beenden, wenn sie ihre Redezeit überschreiten.
Ist in Ordnung. Ich werde meine Rede abkürzen.
Sie sollen sie nicht abkürzen, Sie sollen bitte zum Ende kommen.
Ja. — Ich will in einem letzten Satz sagen: Alles in allem ist, so denke ich, die Große Anfrage der SPD-Fraktion ein richtiger Versuch, die Standortlüge der Bundesregierung zu entlarven. Es wäre schön, wenn wir sie doch noch dazu bringen könnten, die Hosen noch vor dem März 1994 runterzulassen.
Schönen Dank.
Nun hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Heinrich Kolb das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt in der Tat erste Anzeichen dafür — ich sage dies, auch wenn der Kollege Schulz es anscheinend lieber nicht hätte, wenn man den Silberstreif am Horizont erwähnt —, daß sich die konjunkturelle Lage stabilisiert hat. Die verfügbaren Frühindikatoren deuten darauf hin, daß wir bereits 1994 mit einem, wenn auch noch langsamen Wirtschaftswachstum in Westdeutschland rechnen können.
Aber ich sage auch: Selbst wenn das so ist, wird die Lage am Arbeitsmarkt zunächst noch schwieriger werden. Wir müssen davon ausgehen, daß Deutschland am Ende dieser Rezession mit einer gegenüber früheren Rezessionen erhöhten Sockelarbeitslosigkeit konfrontiert sein wird. Dieser Anstieg der Sockelarbeitslosigkeit ist aber nicht naturgegeben. Er ist vielmehr Zeichen und Resultat der strukturellen Schwächen, die sich über Jahre hinweg in der deutschen Wirtschaft eingenistet haben. Sie werden um so deutlicher fühlbar, als sich der internationale Wettbewerb im Zuge der Globalisierung der Märkte, der steigenden Mobilität des Kapitals und des technischen Wissens sowie des Aufkommens neuer Wettbewerber, vor allem im asiatischen Raum, spürbar verschärft hat.
Die Bundesregierung hat auf diese Herausforderung reagiert. Sie hat mit dem Bericht zur Zukunftssicherung des Standortes Deutschland kein Statistisches Jahrbuch, sondern ein handlungsorientiertes, konkretes Arbeitsprogramm zur Überwindung der Standortschwächen vorgelegt.
Herr Professor Jens, nicht nur das Zurückpfeifen Ihres Parteivize Oskar Lafontaine, sondern auch die
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Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolb
Große Anfrage zur Feststellung der tatsächlichen Lage der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und vor allem ihre Behandlung durch die SPD macht deutlich, daß die Sozialdemokraten bis heute nicht bereit sind, die strukturellen Probleme der deutschen Wirtschaft zur Kenntnis zu nehmen. Nach wie vor werden die Augen davor verschlossen, daß man die vor uns liegenden Herausforderungen eben nicht durch eine Politik des Verteilens von Einkommen und nicht durch eine Politik des Zuteilens der Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung lösen kann,
sondern daß es darum geht, die Wettbewerbskraft zu erhöhen, die Produktivität zu erhöhen, dafür zu sorgen, daß in neue, rentable Arbeitsplätze und in die Zukunft Deutschlands investiert wird.
Die Bundesregierung hat mit dem hier wiederholt zitierten Standortbericht ein Gesprächs- und ein Kooperationsangebot an alle Verantwortlichen aus Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften verbunden. Die Große Anfrage der SPD-Fraktion über die tatsächliche Lage der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft haben wir deshalb als günstige Gelegenheit für eine vertiefende Diskussion des Standortthemas begrüßt. Leider, Herr Professor Jens, ist diese Chance vertan.
Wenn man Ihre Tickermeldung von heute morgen, 10.49 Uhr, die schon veröffentlicht ist, liest, drängt sich in der Tat der Eindruck auf, daß es Ihnen weniger um den Dialog mit der Bundesregierung denn um Stimmungsmache geht.
Sie schreiben, die Regierung habe den Bericht zur Zukunftssicherung des Standorts Deutschland ohne die Kenntnis der notwendigen ökonomischen Basisdaten erstellt. Sie wissen genausogut wie ich, Herr Kollege Jens, daß das an der Realität vorbeigeht. Es ist wirklich die Frage, wessen völlige Inkompetenz mit derartigen Äußerungen untermauert wird.
Sie sprechen von elementaren Basisdaten. Ich will es Ihnen ersparen, Ihnen Ihren kompletten Fragenkatalog vorzuhalten.
Sie fragen z. B. nach den Patentanmeldungen in den zehn größten Industrieländern, aufgeschlüsselt nach deutschen Erfindern, die im Ausland anmelden, nach Ausländern, die in Deutschland anmelden, und das Ganze differenziert nach Mehrfachanmeldungen seit 1982. Sie fragen danach, wie sich die Belastung mit umweltbezogenen Kosten, differenziert nach pro Kopf der Bevölkerung, nach pro tausend Dollar Bruttosozialprodukt in den zehn größten Industrieländern seit 1982 entwickelt hat. Das geht ja alles noch. Ich frage mich aber, wie z. B. Ihre Frage 32 beantwortet werden kann:
Welche Belastungen sind für US-Unternehmen im Rahmen der geplanten Änderungen bei der Krankenversicherung in den USA zu erwarten, und wie soll deren Finanzierung zukünftig aussehen?
Herr Kollege Professor Jens, ob es sich hierbei um ökonomische Basisdaten handelt, die die Bundesregierung einem Bericht über die Zukunftssicherung des Standorts Deutschland hätte zugrunde legen müssen, da habe ich meine erheblichen Zweifel.
Wenn Sie damit drohen — so muß man sagen —, nach 43 Fragen in naher Zukunft noch 86 Fragen vorzulegen, das Ganze also zu verdoppeln, dann muß ich Ihnen sagen: Wir werden auch 86 Fragen nicht in drei Wochen beantworten können.
Wenn Sie dann Ihre Diskussion wollen — Sie könnten sie ja beim nächsten Mal besser timen; nicht die Bundesregierung ist ja daran schuld, daß wir heute und auch zu dieser Stunde diskutieren, wie Sie uns vorhin sinngemäß vorgeworfen haben —, dann lassen Sie uns trotzdem genügend Zeit, Ihre Fragen zu beantworten!
— Herr Kollege Professor Jens, wenn sich die Bundesregierung mehr als drei Wochen Zeit für die Beantwortung der Großen Anfrage zu den Stärken und Schwächen der deutschen Volkswirtschaft erbeten hat, dann doch nicht, weil es keine Antworten auf die von der SPD gestellten Fragen gibt, sondern weil eine sorgfältige Beantwortung — und ich unterstelle, daß Sie eine sorgfältige Beantwortung Ihrer Fragen wollen — angesichts des Umfangs des Fragenkatalogs — ich habe ja auch eine Stichprobe der Art der Fragen hier gegeben — von den statistischen und methodischen Problemen her und auch wegen der vielfach verlangten umfangreichen internationalen Vergleiche einfach längeren Atem und Aufwand erfordert.
Die Tatsache -- ich sage es noch einmal —, daß die SPD jetzt eine schnelle Debatte anberaumt hat, zeigt meines Erachtens, daß sie wenig Interesse an den Antworten hat. Das könnte ja auch nachdenklich machen. Es könnte vor allen Dingen erfordern, daß man sich mit der Position der Bundesregierung und mit der wirtschaftlichen Realität in unserem Land auseinandersetzt. Aber es wird ja schon nicht zur Kenntnis genommen, daß die Bundesregierung in ihrem Standortbericht eine ganze Reihe von Belegen für strukturelle Fehlentwicklungen in der deutschen Wirtschaft auch im internationalen Vergleich gegeben hat. Und das ist schade.
Daß Handlungsbedarf besteht, kann eigentlich von niemand ernsthaft in Frage gestellt werden. Es ist erstens doch nicht zu übersehen, daß Deutschland zu den Ländern mit einer überdurchschnittlich hohen Abgabenbelastung gehört. Um hier einmal einige ökonomische Basisdaten zu nennen, Herr Professor Jens: Die Steuer- und Abgabequote ist von 40,7 % im Jahre 1990 auf 43,7 % im Jahre 1992 gestiegen. Im kommenden Jahr werden mit der Erhöhung der Sozialbeiträge und der Mineralölsteuer die 44 %-Marke und im Jahr 1995 mit dem Solidaritätszuschlag sogar die 45 %-Marke überschritten. Das begründet ja einen Handlungsbedarf an sich.
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Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolb
Aber ich kann Ihnen auch noch den internationalen Vergleich nennen. Bei den Hauptkonkurrenten Japan und USA lag 1992 die Abgabenquote bei 31 % bzw. 34%.
Herr Kollege Schulz, Sie haben sich beklagt, daß hier niemand auf Ihren Gesetzentwurf über eine Investitionshilfeabgabe eingeht. Aber ich muß sagen, daß es sich angesichts dieser Datenlage geradezu verbietet, über Ihren Gesetzentwurf nachzudenken, der den deutschen Unternehmen erhebliche neue Belastungen — im Anfangsjahr von 12 %, auf den Nettogewinn gerechnet — aufbürdet. Wenn das so aufgebrachte Geld dann noch von Vergabeausschüssen, in denen Landes- und Kommunalvertreter, Vertreter der Bundesanstalt für Arbeit, der Gewerkschaften und der Umweltverbände sitzen, auf die Ost-Unternehmer verteilt werden soll, dann kann man sich lebhaft vorstellen, wie mit dieser Extremvariante der Investitionslenkung die Standortentscheidungen der Unternehmen in Deutschland — wirklich nicht zugunsten der Bundesrepublik — beeinflußt werden können. Vielmehr werden sich solche Unternehmen neue Standorte für Investitionen suchen, aber diese werden nicht in Deutschland sein, in Ostdeutschland nicht und auch in Westdeutschland nicht.
Zweitens ist nicht zu übersehen, daß die Sozialbeiträge in den letzten 20 Jahren, vor allem als Resultat strukturell steigender Sozialausgaben, erheblich gestiegen sind. Während vor 20 Jahren die Sozialbeiträge noch unter 29 % der beitragspflichtigen Einkommen lagen, liegen sie jetzt bei 37,4 %, und sie steigen weiter. Das hat auch sehr wenig mit der Finanzierung der deutschen Einheit zu tun.
Es kann nicht übersehen werden, daß die Produktionskosten in Deutschland, vor allem doch die Lohn-und Lohnnebenkosten, zu hoch sind. Die Lohnpolitik hat sich in den letzten Jahren zuwenig an beschäftigungspolitischen Erfordernissen orientiert. Die Lohnstückkosten in Westdeutschland — auch das sind ökonomische Basisdaten — sind in den letzten drei Jahren um durchschnittlich je 4 % per annum gestiegen. Diese nicht am Produktivitätsfortschritt ausgerichteten Lohnsteigerungen der letzten Jahre — auch und vor allem in den neuen Bundesländern — haben die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft stark beeinträchtigt. Wir können auch nicht übersehen — das sind ebenfalls ökonomische Basisdaten —, daß im internationalen Vergleich in Deutschland die Arbeits- und Maschinenlaufzeiten am unteren Ende der Skala liegen.
Wie auch immer, der Großen Anfrage der SPD liegt offensichtlich die These zugrunde, daß es weniger die Lohnkostensteigerungen waren, sondern vor allem die Aufwertung der D-Mark infolge eines restriktiven geldpolitischen Kurses der Bundesbank. Dies zeigt, daß die SPD wichtige gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge ignoriert und aus alten Fehlern nichts, aber auch gar nichts gelernt hat.
Sie ist trotz aller Erfahrungen auch heute gewillt, die gesamtwirtschaftliche Stabilität zugunsten ungewisser und allenfalls kurzfristiger konjunktureller Strohfeuereffekte aufs Spiel zu setzen, nach dem Motto, Herr Professor Jens: lieber 5 % Inflation als 5 %
Arbeitslosigkeit. Aber das kann es nun wirklich nicht sein.
Das Ausmaß der Aufwertung ist im übrigen wahrscheinlich sehr viel geringer, als Sie vermuten. Gegenüber 1983 ist der reale Außenwert nach unseren Berechnungen gegenüber 18 Industrieländern nur um 4,3 % gestiegen. Vor 14 Tagen war im „Handelsblatt" sogar nur — auf Spitzenjahr 1987 basierend — von 2,5 % die Rede. Man muß auch sehen, daß am Anfang der jetzigen Aufwertungsphase keine restriktive Geldpolitik stand, sondern Fehlentwicklungen u. a. im Bereich der Lohnpolitik ursächlich waren. Wir haben auch nie versucht, monokausal die gegenwärtigen Probleme mit zu hohen Lohn- und Lohnnebenkosten zu erklären, sondern wir haben auch auf die hohe Abgabenlast, die vielfältigen Belastungen aus der Überregulierung, die in vielen Bereichen zu verzeichnen sind, die Kosten der Inflexibilitäten am Arbeitsmarkt, die Kosten der zuwenig effizienten Erfüllung von Aufgaben durch den Staat, obwohl Private dies effizienter leisten könnten, hingewiesen. Es geht nicht darum — ich sage das ganz deutlich —, mit den Arbeitskosten von Billiglohnländern zu konkurrieren.
Ich sage auch, wir haben durchaus noch große Vorsprünge in der Produktivität und auch bei anderen Standortfaktoren, die im Weltmaßstab auch höchste Arbeitskosten rechtfertigen und zulassen. Aber, wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß das mit der Vollbeschäftigung verträgliche Maß in den letzten Jahren überschritten worden ist und die Bundesregierung — und namentlich der Bundeswirtschaftsminister — rechtzeitig und frühzeitig darauf hingewiesen hat. Arbeit ist reichlich vorhanden, aber Arbeit muß bezahlbar bleiben. Damit sie bezahlbar bleibt, brauchen wir eine effiziente Bildungspolitik. Wir brauchen Höchstleistungen in Forschung und Entwicklung. Das ist nur zu erwarten — eine Binsenweisheit an sich, aber offensichtlich nicht allen gegenwärtig —, wenn diejenigen, die sie erbringen, nicht dauernd Steine in den Weg gelegt bekommen und man ihnen mit bürokratischen Hemmnissen und Verboten jegliche Motivation nimmt.
Was wir mehr als Geld für die Forschungsförderung brauchen, ist ein Klima der Aufgeschlossenheit für den technischen Fortschritt. Das sind Tatsachen, die sich übrigens kaum in die statistischen Kennziffern eines internationalen Vergleichs gießen lassen, und vielleicht werden sie auch von Ihnen, von der SPD, deswegen ignoriert. Wir werden sie deshalb noch lange nicht ignorieren. Ich meine, wir sind mit unserem Konzept zur Sicherung des Standorts Deutschland auf einem guten, auf dem richtigen Weg.
Danke schön.
Bevor ich dem Kollegen Dr. Hermann Pohler das Wort erteile, möchte ich noch einmal auf den Sinn des roten Lämpchens und der Zeitanzeige hinweisen. Es bedeutet nämlich, daß die Zeit abgelaufen ist. Wenn dort eine Zahl
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Vizepräsidentin Renate Schmidt
aufleuchtet, sind das die Minuten, die gegenüber der angemeldeten Redezeit abgelaufen sind.
— Das bedeutet, daß Sie zu Ende sind. Minus eins bedeutet, daß Sie die Zeit um eine Minute überzogen haben. In Ihrem Fall sind es 1 Minute und 23 Sekunden, um es genau zu sagen.
Nun hat der Kollege Dr. Hermann Pohler das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn wir heute über die Feststellung der tatsächlichen Lage der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft sprechen, so haben wir auch die Situation der Wirtschaft in den neuen Ländern zu berücksichtigen.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um den mir sehr wichtigen Aspekt der Ausgangslage der DDR-Wirtschaft vor der Wiedervereinigung aufzuzeigen. Es wird wiederholt auch von Mitgliedern dieses Hohen Hauses — dabei habe ich vor allem auch die Vertreter der SPD-Fraktion im Auge — vom Plattmachen der Wirtschaft der ehemaligen DDR gesprochen. Ein Plattmachen ist aber nur dann möglich, wenn es vorher funktionierte und tatsächlich in Gang war.
Wie marode die wirtschaftliche Lage hingegen wirklich war, ist heute bekannt. So hat der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission, Gerhard Schürer, im Oktober 1989 eine Analyse der wirtschaftlichen Lage der DDR für den Generalsekretär Krenz angefertigt. Dort heißt es wörtlich:
Die Investitionen wurden auf einige Vorzeigeobjekte konzentriert, ohne den geplanten Nutzen zu erreichen, die Mehrzahl der Betriebe wurde vernachlässigt. Der Verschleißgrad der Ausrüstung in der Industrie beträgt 1989 53,8 % und im Bauwesen 67 %. In bestimmten Bereichen der Volkswirtschaft sind die Ausrüstungen so stark verschlissen, daß der Instandhaltungs- und Reparaturaufwand ökonomisch uneffektiv ist.
Selbst beim Vorzeigeobjekt, der Mikroelektronik, kam Schürer zu dem Schluß, daß die Produktionskosten dieser Erzeugnisse weit über den Kosten des internationalen Standes lagen und jährlich 3 Milliarden DM Zuschuß erforderten. Daß unter diesen Umständen der geplante Export in das sogenannte NSW — also das nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet — nicht erbracht werden konnte, ist verständlich. Auf Grund der damit eingetretenen Verschuldung wurde in der Analyse die Zahlungsunfähigkeit festgestellt. Das war also die wirtschaftliche Situation im Osten Deutschlands zur Zeit der Wiedervereinigung.
Eine weitere Verschlechterung trat für alle sichtbar mit dem Zusammenbrechen der Ostmärkte ein, auf die die Industrie der DDR bekanntlich zu 80 bis 90 % ausgerichtet war. Das zeigt: Es gab und gibt keine Alternative zu dem oft schmerzlichen Prozeß der Privatisierung mit Anpassung an die Bedingungen der
Marktwirtschaft. Unter der Beachtung dieser Ausgangsbedingungen sind die Ergebnisse der Privatisierungsleistungen der Treuhandanstalt einzuordnen. Ich will an dieser Stelle nicht näher auf die fast 13 000 Privatisierungen, den Erhalt von 1,5 Millionen Arbeitsplätzen und die Investitionszusagen von über 80 Milliarden DM eingehen.
Im Jahresgutachten des Sachverständigenrates 1993/1994 wird festgestellt, daß die wirtschaftliche Entwicklung in den jungen Bundesländern 1993 weiterhin deutlich aufwärts gerichtet ist und daß das Bruttoinlandsprodukt mit 6,5 % über dem des Vorjahres liegt. Trotz Rezession wird auch für 1994 ein Wachstum zwischen 6 und 7 % vorausgesagt. Es ist damit erkennbar, daß wir auf dem richtigen Weg sind, auch wenn die Bezugsgröße, also der Produktionsumfang nicht befriedigen kann.
Als Abgeordneter aus den neuen Bundesländern weiß ich in besonderer Weise um die großen Probleme der ostdeutschen Unternehmen. Dennoch macht der Aufbau der Wirtschaft immerhin spürbare Fortschritte. Investitionen in Höhe von ca. 136 Milliarden DM haben sowohl die Modernisierung der Anlagen als auch die Erneuerung und Verbesserung der Produkte vorangebracht.
Es ist jedoch kein Geheimnis, daß die ostdeutschen Unternehmen in der Regel große Schwierigkeiten haben, sich im überregionalen Wettbewerb zu behaupten. Die Ursachen für die Schwierigkeiten beim Aufbau einer Exportbasis sind vielschichtig. Dabei spielen Kostennachteile eine wichtige Rolle. Dagegen wurden Qualitätsmängel der Produkte weitestgehend abgestellt.
Dies sind aber nicht die entscheidenden Ursachen. Ein wesentlicher Grund ist vielmehr, daß die ostdeutschen Produzenten auf diesem Markt noch zuwenig bekannt sind und daher etablierten Konkurrenten nur durch intensive Absatzpolitik Marktanteile abringen können. Das erfordert bekanntlich Zeit, Geld und Erfahrung, Faktoren, über die die Betriebe in der Regel nicht in ausreichendem Maße verfügen. Daher sind sie auf Unterstützung angewiesen.
Die Lücke, die in dieser Hinsicht zwischen westlichen Unternehmen und ostdeutschen Anbietern klafft, führt zu den bekannten schmerzhaften Hindernissen für einen echten Aufschwung. Das erforderliche Gleichgewicht herzustellen wird ein großes Maß an Zeit und auch weitere Förderung ostdeutscher Unternehmen erfordern. Die zur Absatzförderung eingeleiteten Maßnahmen, wie etwa die finanzielle Unterstützung bei der Teilnahme an Messen und die Einkaufinitiative Ost, die durch die Treuhand initiiert wurde, sind ein Schritt in die richtige Richtung.
Einen positiven Trend gibt es auch bei der Vergabe öffentlicher Aufträge. Wir dürfen aber nicht verkennen, daß die Ergebnisse der Vorzugsregelungen für ostdeutsche Unternehmen nicht befriedigen können. Ich hoffe sehr, daß sich die Erfolge durch die nun eingesetzten „Vergabebeauftragten Ost" erhöhen lassen.
Weitere — damit meine ich nicht neue, sondern alternative — Fördermöglichkeiten sollten geprüft werden. Ich denke hier z. B. an die vielfach diskutierte
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Dr. Hermann Pohler
Anwendung der Wertschöpfungspräferenz sowie eine verstärkte Förderung der Innovationen, also Forschung und Entwicklung, und vor allem an die Gewährung von Fördermitteln für Werbeaktionen. Dabei geht es mir nicht um zusätzliche finanzielle Mittel, sondern, wie gesagt, um Umschichtungen. Denn wir wissen doch alle, daß allein die Förderung von Investitionen nicht zum Ziel führt, wenn der Absatz der Produkte nicht gewährleistet ist.
Zur Zeit sind Unterstützung und Fördermittel für viele Betriebe in den neuen Bundesländern unumgänglich. Doch kein privatisiertes Unternehmen ist auf eine langfristige Subvention ausgelegt. Ich bin daher überzeugt, daß diese Betriebe, wenn man ihnen die Chance gibt, auf der Basis eines vernünftigen Preis-Leistungs-Verhältnisses zu arbeiten, in absehbarer Zeit ihre Chance auch auf ausländischen Märkten nutzen werden.
Schönen Dank.
Nun spricht der Kollege Dietrich Sperling.
Herr Kollege, das ist Ihnen unbenommen, auch wenn ich absolut nicht zu den Heiligen gehöre. Bitte schön.
Frau Präsidentin! Liebes leeres Plenum! Wir diskutieren über den Wissensstand der Bundesregierung in einer Situation unserer Wirtschaft, die ich wie folgt kurz kennzeichne: Wir sind ein reiches Land mit — wie Herr Pohler eben dargelegt hat — einer Reihe von sehr armen Ecken und vielen unerledigten Aufgaben und hoher Arbeitslosigkeit. Fällt da nicht eigentlich jedem auf, daß wir unseren Reichtum anders nutzen müßten, damit die unerledigten Aufgaben erfüllt und die Arbeitslosigkeit vermindert wird? Wenn das unsere gemeinsame Einsicht wäre, dann würden wir nicht so zufrieden klingende Reden von der Regierungsseite gehört haben. Denn dann würde sie es umtreiben, daß das offensichtlich gar nicht geschieht, daß der Reichtum dieses Landes nicht genutzt wird, um Arbeitslosigkeit zu vermindern und Aufgaben zu erledigen.
— Ja, und deswegen sollten Sie bald woanders darüber reden, nicht hier. Denn es nutzt uns ja nichts, daß dieses auch Ihr Thema ist. Sie haben noch andere Themen, und diese sollten Sie lieber woanders hintragen. — Dies ist also die Lage, und Sie hören dem ja Gott sei Dank etwas betroffen zu.
Nun zum Wissensstand der Bundesregierung: Da wird gesagt — das hat auch Herr Henn gesagt —, eigentlich wüßten alle die Antworten auf die Fragen. Herr Henn, wenn ich diesen Optimismus teilen könnte, wäre mir wohler. Ich glaube, daß die Antwort des beamteten Staatssekretärs in dem Ministerium, das Herr Kolb hier vertritt — wie ich sagen muß, auf sympathische, wenn auch etwas hilflose Art und Weise, wie es dem Ministerium angemessen ist —, uns glauben läßt, die Bundesregierung ahne nur. Auf der Basis gesicherten Wissens wird Ihre Politik nicht gemacht. Wäre ich sehr freundlich, würde ich Goethe zitieren und den Staatssekretär anschauen und sagen: Du ahnungsvoller Engel du.
Ich würde Sie lieber als jemanden ansprechen, der das Wissen der Bundesregierung präsent macht. Herr Kolb, es tut mir leid, das Lob kann ich Ihnen nicht aussprechen.
Ich möchte Ihnen aber etwas aus meiner Erfahrung sagen: Ich war einmal zu Zeiten des Wirtschaftsministers Friderichs Berichterstatter im Haushaltsausschuß für Ihr Ressort. Wenn ich da die 43 Fragen genommen hätte und hätte einen Fraktionsmitarbeiter meiner Fraktion gefragt: „Sag mal, ich muß ganz schnell auf diese 43 Fragen Antworten haben," dann hätte er gesagt: „Ruf im Wirtschaftsministerium an, die stellen dir sofort eine Referentenrunde zusammen. Du hast an einem Nachmittag die Antworten."
Seither, Herr Kolb, haben wir in dem Ministerium, in dem Sie arbeiten dürfen, eine Art Mann-Oh-MannOh-Mann-Show gehabt, von Bange-, Haus- und Möllemann, und nun — nomen est omen — suchen wir nach dem Märchen „Des Kaisers neue Kleider" nach Rexrodts intellektueller Einkleidung. Die ist allerdings genauso geraten, wie Kaisers neue Kleider in dem Märchen. Er hat nichts an, was intellektuelle Einkleidung zu dem Wissensstand unserer Wettbewerbsfähigkeit ist.
Es nützt nichts, daß Sie uns freundlicherweise vortragen, daß sich in Deutschland eine Reihe von Daten verändert haben. Wir haben bewußt danach gefragt, wie das im Vergleich mit anderen Ländern ist, damit man unsere Wettbewerbsposition im Vergleich mit anderen Ländern überprüfen kann.
Wenn ich nun Ihr Mitarbeiter sein dürfte, Herr Kolb, dann hätte ich Ihnen gesagt: Gucken Sie mal, hier ist der Monatsbericht der Bundesbank vom November. Hier finden Sie ein paar aktuelle Zahlen, einschlägig zu dem Thema, zu dem Sie reden müssen. Die Zahlen gelten für zehn Länder, nein, sogar für elf. Ich hätte Ihnen gesagt: Beim Sachverständigenrat haben wir gerade den Bericht vorgelegt. Da können Sie hineingucken, auch da finden Sie eine Reihe von Zahlen. Wir haben neuerdings Faxgeräte im Ministerium, zu Friderichs' Zeiten war das noch nicht der Fall. Man kann sich etwas von der OECD zufaxen lassen. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages ist nicht so schlecht, daß man dort nichts nachfragen könnte. Man kann dort etwas erfahren. Es gibt eine Vielzahl von Forschungsinstituten, die aus dem Haushalt des Wirtschaftsministeriums mitfinanziert werden. Die machen dort Strukturenqueten. Die wissen auch etwas über die Vergleichszahlen anderer Länder.
Es hätte keine drei Tage gedauert, Herr Kolb, und die 43 Fragen wären von den Mitarbeitern eines guten Wirtschaftsministeriums, das an seiner Spitze intellektuelle Weisheit vertreten könnte, beantwortet worden. Dies ist nicht der Fall. Das Ministerium ist verarmt. Das Wissen, das Sie aus diesem Ministerium mitgebracht
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Dr. Dietrich Sperling
haben, ist zu mangelhaft, um Wirtschaftspolitik zielsicher auf diesem Wissensstand zu betreiben.
Ich gebe Ihnen zu — das hat auch ein Teil der Debatte hier bewiesen—, Sie sprechen ahnungsvoll. Es gibt massive Mehrheiten der Publizistik, so habe ich den Eindruck, die genauso ahnungsvoll, aber auch nicht präzise wissend, die allgemeinen Vorurteile wiederbeten und herbeibeten, mit denen zur Zeit Wirtschaftspolitik begründet wird.
Eine saubere Analyse auf Grund von Zahlen im abgewogenen Vergleich und eine durch mehrere, auf Grund von Wissensbasis gewichtete Faktoren gekennzeichnete Wirtschaftspolitik wären mir lieber. Nun möchte ich etwas dazu sagen, woher diese Armut kommt.
Ich glaube, daß in den Wirtschaftswissenschaften, so wie sie jetzt im Ministerium vertreten sind, die Modelltheoretiker den großen Ton angeben. Das wäre so ähnlich, als würde sich der Verkehrsminister jemanden als Staatssekretär ins Haus nehmen, der etwas von Modelleisenbahnen versteht, um ihn die Bundesbahn sanieren zu lassen.
Ich will keine Schleichwerbung für eine der Modell-eisenbahnfirmen machen. Aber nehmen wir doch einmal an, Marklin hätte in drei schönen Zimmern im Ministerium eine Bahn aufgebaut und es gäbe einen Beamten, der das perfekt beherrscht, der wäre ein Modelltheoretiker. So einen Modellmenschen haben Sie, wie ich fürchte, in dem Ministerium. Der ist gar nicht daran interessiert, wie die Wirklichkeit aussieht, sondern nur daran, daß das Modell funktioniert.
Ich bin ganz sicher, Herr Kolb, die Zahlen, die Sie wissen, von denen Sie sagen, wir wüßten sie alle, passen nicht in das Modell, das als intellektuelle Einkleidung Ihrem Minister mitgegeben wird und das zu dürftig ist, in dem er nackt aussieht.
Es ist die Wirklichkeitsunwilligkeit jener Modelltheoretiker, die sich in dem Ministerium ausgebreitet haben, die dazu führt, daß Sie uns diese Antwort gegeben haben, die Herr Eekhoff aufgeschrieben hat.
Wenn wir die Fragen Stück für Stück durchgehen würden, würden Sie merken, daß die Antworten gar nicht so schwerfallen. Es ist das Nachschlagen von Berichten, die man in der Tat mit einigem Fleiß zusammentragen kann, um dann unter ganz bestimmten Gesichtspunkten die Vergleichszahlen der Länder zu holen. Das ist eine Fleißarbeit, die nach meiner Ansicht von drei Mitarbeitern in drei Nachmittagen zu schaffen wäre. Das ist nicht unverschämt viel.
Aber so, wie Sie uns die Antwort geben, wissen wir nun, daß die Bundesregierung zuwenig weiß, um die Wirtschaftspolitik wirklich zu begründen, die sie führt. Ihre Wirtschaftspolitik beruht auf Ahnungen, von denen man nicht einmal wissen will, ob sie berechtigt sind.
So kommt dann etwas zustande, was dazu führt, daß Sie den sozialen Frieden in diesem Lande stören, weil Sie manche Faktoren völlig falsch gewichten, Faktoren, die auch eine Rolle spielen, sicher, die aber nicht die entscheidende Rolle spielen, so, wie Sie sie behandeln.
— Das ist eine Rede, wenn Sie es genauer wissen wollen, das darf man von solchen Plätzen. Sie könnten es ja auch machen.
— Vielen Dank. Aber ich werde von Ihnen ungern gelobt. Das sollte jeder wissen.
Das, was als Wirtschaftspolitik gemacht wird, stört den sozialen Frieden im Land. Der soziale Friede ist ein Standortfaktor, der in dem Wissen der Bundesregierung gar nicht erst vorzukommen scheint. Sonst könnte sie so nicht handeln. Es wäre auch wichtig, zu wissen, wie dies im Vergleich mit anderen Ländern aussieht.
Es wäre gut, wenn uns die Bundesregierung vortragen könnte, mit welchen Zahlen sie eigentlich ihr Handeln abstützt. Statt dessen tragen Sie uns immer wieder politische Handlungsprogramme auf der Basis dumpfer Ahnungen vor. Und Herr Grünbeck ruft immer: Man muß umsetzen, man muß handeln! Es wäre gut, wenn Sie uns Zahlen vortragen könnten, bei denen plausibel würde, warum in unserem Land die Annen ärmer und die unerledigten Zustände größer werden müssen, damit wir konkurrenzfähiger werden.
Ich glaube nichts von alledem. Nicht nur glaube ich nichts von alledem, sondern ich weiß, daß das, was andere Staaten ihrer Wirtschaft ebenfalls als sozial zu tragende Kosten, als Kosten deren Typs sozialer Marktwirtschaft zumuten, ebenfalls Größenordnungen erreicht, bei denen wir den Abbau des sozialen Charakters nicht so weit treiben müssen, wie Sie dies vorschlagen.
Sie könnten sich ja vergewissern, wie grausam Sie sein müssen. Aber Sie tun es gar nicht. Ich behaupte, Ihre Grausamkeit ist völlig überflüssig.
Weil dies so ist, warten wir auf die Antworten auf unsere Fragen. Sie sind ja immer noch dran; Sie entgehen dem Problem nicht. Deswegen rate ich denen, die hier dann sitzen — vielleicht wieder in so kleiner, angenehmer Runde —, sich genauer auszurüsten. Also: Wer sagt, der VW Golf sei lange Zeit zu teuer gewesen — das hat hier einer gesagt, der inzwischen gegangen ist —, der mag ja recht haben. Aber warum haben denn die Vorstandsmitglieder von VW so lange so hohe Gelder für eine Produktion bezogen, deren Kosten nicht wettbewerbsfähig waren?
Warum mußte man dann den teuren Lopez noch einkaufen? Wofür wurden eigentlich die Manager bezahlt? Warum müssen die nicht büßen? Fragen nach sozialer Gerechtigkeit, die sich doch auch an andere
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993 16947
Dr. Dietrich Sperling
richten können als an die Arbeitslosen, bei denen nach Ihrer Meinung gekürzt werden soll!
Wäre da nicht ein höherer Steuersatz bei denen, die viel verdienen, gewissermaßen zur pädagogischen Ermunterung zu größerem Einfallsreichtum in der Wirtschaft zweckmäßig gewesen? Könnte man nicht bei manchen Abschreibungen differenzieren, damit der Innovationscharakter in unserem wirtschaftlichen Handeln steigt? Gäbe es nicht Möglichkeiten, dazu zu ermuntern? Sie haben einen großen beamteten Apparat, Herr Kolb. Aber offensichtlich trauen Sie dem nicht einmal mehr zu, daß er innovativer sein kann, als sich die deutsche Wirtschaft bisher verhalten hat. Dabei war es früher einmal eine Art Kennzeichen im Wirtschaftsministerium, daß von dort Einfälle kamen, weil man Tatsachen genauer betrachtete als heute und weil man eine genauere Kenntnis des wirklichen Standes unserer Wirtschaft hatte. Diese ist verlorengegangen. Darum, Herr Kolb, müssen auch Sie mit in die Opposition, so sympathisch Sie sind.
Nun hat der Kollege Hansjürgen Doss das Wort.
Frau Präsidentin! Ich spreche sehr gerne vor Ihnen und habe Sie vor mir.
Wenn ich jetzt nach draußen komme und gefragt werde, was denn die SPD geboten hat, dann sage ich: Ich bin mit Professor Uwe Jens der Meinung, daß eine Wirtschaftsdebatte in eine bessere Zeit gehört, insbesondere in dieser sehr schwierigen Phase der deutschen Wirtschaft; da hat er absolut recht. Dann haben wir den Herrn Sperling von den Sozialdemokraten gehört, der eine mehr pädagogische, sehr bewußt intellektuelle Fabulierung über die Bereiche von Gott weiß was allem, aber nur am Rande vielleicht ein bißchen von der Wirtschaft hier zum Besten gegeben hat. Das war außerordentlich amüsant.
Meine lieben Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hans Mundorf schrieb am 16. November 1993 im „Handelsblatt":
Man stelle sich vor, aus dem Laden des Metzgers von nebenan dröhnt täglich der Familienkrach: Unser Meister kann nichts, unsere Gesellen sind faul und schmutzig, unsere Wurst ist verdorben, unsere Öffnungszeiten sind zu kurz, und alles in allem sind wir auch noch viel zu teuer. Welcher Kunde würde diesen Laden noch betreten?
— Stimme mir nicht zu früh zu; ich habe das eine oder andere noch da drin. Da muß die Freundschaft geprüft werden.
Hans Mundorf hat recht, keine Frage: So dürfen wir die Standortdebatte, meine lieben Kollegen, in Deutschland mit Sicherheit nicht führen. Umgekehrt hat es keinen Sinn, daß wir uns glücklich reden und rechnen und uns gesundbeten.
Im Klartext — jeder weiß das, und das sollte unbestritten sein —: Die Wirtschaft hat nicht nur einige Schwächen im Augenblick, sondern sie hat ernsthafte Probleme. Es ist in der Wirtschaft und in der Gesellschaft eine Art von trügerischer Selbstzufriedenheit entstanden. Antriebskraft und Dynamik haben nachgelassen. Es scheint das Empfinden vorzuherrschen: Es wird schon irgendwie weitergehen.
Nach über zehn Jahren wirtschaftlichen Erfolges dieser Bundesregierung, Herr Staatssekretär, hat sich in breiten Schichten unserer Bevölkerung — ich nehme dabei niemanden aus — ein von der Realität abgehobenes Lebensgefühl breitgemacht. Dieses Lebensgefühl kommt in einem verräterischen Begriff zum Ausdruck, das ist der Begriff „Besitzstand". Auch bei den Verhandlungen um die Viertagewoche bei VW wurde er vom Verhandlungsführer der IG Metall herangezogen: Die VW-Arbeiter müßten auf wohlerworbene Besitzstände verzichten. Ein trügerisches Bild! Es gibt keinen einklagbaren Anspruch auf Hochkonjunktur.
Wir können uns der manchmal bitteren Erkenntnis nicht entziehen, daß alles, was wir im Wohlstand erwarten, nur auf Grund eigener Leistung erreichbar ist. Dabei reicht keineswegs das subjektive Gefühl aus, daß man selbst etwas leiste. Der unerbittliche Maßstab dafür ist allein der Markt, an dem sich jedes Wirtschaftssubjekt die von ihm beanspruchte Leistung erwirtschaften muß. Alles andere ist Illusion.
Genau das Gegenteil, lieber Professor Jens, dieser realistischen Sicht der Dinge propagiert jedoch die SPD, indem sie vorgaukelt, Wohlstand und Arbeitsplätze könnten am Markt vorbei durch staatliches Handeln geschaffen werden.
Den jüngsten Beweis dafür liefert die Stellvertretende SPD-Vorsitzende Heidemarie Wieczorek-Zeul in ihrer Aussage: „Das Schicksal von annähernd 20 Millionen Arbeitslosen in Europa kann man nicht den Kräften des Marktes überlassen." „dpa" von gestern.
Als großes Versagen der Marktwirtschaft wird die Massenarbeitslosigkeit dargestellt. Sie wird ihr immer wieder vorgeworfen. Die monatlichen Berichte aus Nürnberg scheinen das regelmäßig zu bestätigen. Wie ist das denn mit den täglichen Erfahrungen, mit dem Realitätsbruch, den wir ununterbrochen erleben? Zum Beispiel hat das Handwerk in Nordrhein-Westfalen mit der Stahlindustrie an Rhein und Ruhr die Vereinbarung getroffen, daß man bei 15 000 im Handwerk freien Arbeitsplätzen, die in der Stahlindustrie freigesetzten Arbeiter übernehmen will. Meine Damen und Herren, das ist leider typisch: 15 sind gekommen. Das ist exakt ein Promill.
Einkommen aus staatlichen Transferleistungen sind für viele Menschen heute attraktiver als Erwerbsarbeit. Das gehört zu den Wahrheiten, über die wir wirklich einmal reden müssen. Selbst ungelernte
16948 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993
Hansjörgen Doss
Arbeitskräfte sind offenbar kaum noch bereit, für ein Monatseinkommen von um die 3 500 DM einen Arbeitsplatz anzunehmen. Netto haben sie durch die Arbeit bestenfalls ein paar hundert Mark mehr. Für dermaßen lächerliche Beträge arbeitet wohl kaum noch einer.
Herr Scharping, der Nachfolger des Weltökonomen Schmidt, hat das Problem gelöst. Er sagt: Die Sozialhilfe ist nicht zu hoch, sondern die Löhne sind zu niedrig. — Sehr schön. Also zahlen wir den Aushilfskräften nicht 3 500 DM, sondern wir zahlen ihnen 5 000 DM, und schon ist das Lohnabstandsgebot gewahrt.
Allerdings kommt jetzt die SPD wieder in die Zwickmühle; denn mit 5 000 DM ist der bereits ein Besserverdiener, dem wir ja ans Fell müssen. Dem wird in die Tasche gegriffen, wie der SPD-Chef Scharping beim letzten Parteitag erklärte: Wer 2 000 DM Steuern zahlt, kann auch 2 200 DM bezahlen. Nur, irgendwann verliert natürlich der Leistungsträger bei uns die Lust am Leisten.
Mit noch soviel Kreide in der Stimme kann Scharping nicht darüber hinwegtäuschen: Die SPD hat in ihrem Innern letztlich kein Vertrauen in die Kräfte der Marktwirtschaft, sondern setzt lieber auf Dirigismus und Umverteilen.
In der Praxis — das ist oft der Bruch gegenüber Programmen — gehen bei den Genossen die Läden herunter, wenn der Begriff Gentechnologie genannt wird. Das ist einer der Zukunftsmärkte. In den USA gibt es 300 gentechnische Produktionsstätten, in dem kleinen Dänemark, unserem Nachbarn, sind es 20, und bei uns sind es 6. Die Produkte kommen allerdings zu uns; wir haben ja offene Grenzen. Daß es da keine Mißverständnisse gibt: Es ist ja nicht so, als ob das nicht zu uns käme.
In der Praxis werden selbst leiseste Ansätze, das Verhältnis zwischen Produktivität und Lohn realistisch zu betrachten, wie Oskar Lafontaine das getan hat, sofort im Keim erstickt. In der Praxis werden die Ansätze für vernünftige Positionen zum Energiekonsens, wie das Gerhard Schröder zumindest vorgeschlagen hat, zunichte gemacht.
Also: Die SPD — das ist heute schon gesagt worden — bleibt die Partei der Widersprüche. Wir können das leider nicht ändern. Wir würden uns wünschen, daß es anders wäre.
Die deutsche Wirtschaft steckt in einer Krise. Wer soll das bestreiten? Aber unsere Unternehmen haben die Chance, aus dieser Krise gestärkt hervorzugehen. Dazu brauchen wir ein Bündel von Maßnahmen. Wir werden einen verläßlichen Kurs vorgeben und einen Prioritätenkatalog festschreiben, an Hand dessen wir die Sicherung des Standortes Deutschland Schritt für Schritt verfolgen werden. Als Kernpunkte eines solchen Maßnahmenkatalogs stelle ich mir vor:
Erstens. Reduzierung des Staatsanteils. Steuer- und Abgabenquote müssen wieder auf die Werte von 1989 herunter. Die Staatsquote muß von 52 % auf 45 % — in Japan sind es nur 33 % —, die Abgabenquote von 45 auf 40 % gesenkt werden. Jeder Prozentpunkt mehr ist ein Punkt mehr Sozialismus — das müssen wir uns klarmachen —, und jeder Punkt weniger ist mehr Marktwirtschaft.
Zweitens. Reduzierung und Befristung von staatlichen Subventionen. Hier müssen wir endlich heran. Es ist die Chance dieser Zeit, daß wir sie befristen.
Drittens. Umstrukturierung der öffentlichen Haushalte von konsumtiven zu investiven Ausgaben. Jeder, der lesen kann, kann feststellen, daß die Höhe der Investitionen korreliert mit der Höhe der Beschäftigung. Da liegt der Schlüssel zum Erfolg.
Viertens. Privatisierung öffentlicher Aufgaben auf breiter Front, insbesondere in Kommunen und Ländern.
Fünftens. Straffung aller Genehmigungsverfahren. Weg mit den bürokratischen Lasten! Das halte ich für eine ganz wichtige Aufgabe. Hier könnte ich mir vorstellen, daß es in einer Bund-Länder-KommunenKonferenz darum gehen muß, daß wir einen Anspruch auf Genehmigung nach einer bestimmten Zeit festschreiben, um die unerträglich langen Fristen zu überwinden.
Sechstens. Ein verbindliches Konzept für die Fortsetzung der Unternehmensteuerreform.
Da es bereits gelb leuchtet, muß ich mich beeilen.
Siebentens. Eindämmung der Sozialkosten. Über 1 Billion DM beträgt in der Zwischenzeit das Sozialbudget, rund ein Drittel des Bruttosozialproduktes. Befreiung der Sozialversicherung von sachfremden Aufgaben, konsequente Mißbrauchsbekämpfung und Stärkung der Eigenbeteiligung in den Sozialversicherungen. Überall soll und will der mündige Bürger eigenständig entscheiden und handeln, nur bei der Risikovorsorge drängen wir ihn in die staatliche Obhut.
Achtens. Stärkere Förderung von Forschung und Entwicklung, insbesondere steuerliche Forschungsförderung und Gemeinschaftsforschung im Mittelstand. Abbau behindernder Regulierungen für Zukunftsforschungen, z. B. bei der Genforschung.
Neuntens. Zügige Fortsetzung der Bahnreform und der Postreform.
Zehntens. Wirtschaftsverträgliche Umweltpolitik.
Unser Ziel muß sein: mehr private Investitionen, vor allem im Mittelstand — dort werden die neuen Arbeitsplätze geschaffen —, flexible Arbeitszeiten statt Viertagewoche, mehr Leistung statt Mangelverwaltung. Arbeit kann nicht „gerecht verteilt" werden. Sie muß von den Unternehmen zu bezahlbaren Tarifen nachgefragt werden. Das Gerede von der Arbeitszeitverkürzung ist eine gefährliche Illusion.
„Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt", hat der Bundeswirtschaftsminister gesagt. Recht hat er. Wir müssen die richtigen Rahmenbedingungen setzen, und dann wird auch die Wirtschaft wieder erfolgreich sein.
Ich danke Ihnen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 195. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1993 16949
Jetzt hat das Wort der Herr Abgeordnete Dr. Krause.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zwei Vorbemerkungen: Ich wollte auch auf den Gesetzentwurf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingehen. Leider ist keiner mehr von ihnen hier. Außerdem, Herr Dr. Sperling: Auf allen meinen Versammlungen nimmt Wirtschaftspolitik mindestens 80 % des Inhalts meiner Reden ein.
Nun aber zum Thema. Wem dient die gegenwärtige deutsche Wirtschaftspolitik? Wenn ich mir die Entwicklung in den neuen Ländern anschaue — und dort wird keine andere Wirtschaftspolitik als für ganz Deutschland betrieben —, so ist die Frage, ob die Wirtschaftspolitik der einheimischen Produktion oder der Erhöhung der Gewinne internationaler Freihandelsunternehmungen dient, eindeutig beantwortet. Das, was wir als sichtbaren Aufschwung in den neuen Ländern sehen, ist ein Aufschwung für den Handel. Aber andererseits sehen wir einen Zusammenbruch der Produktion.
Ich meine, Volkswirtschaft muß wieder Priorität vor den Bilanzen suprakontinentaler Handelsmonopole erhalten. Steigende Subventionen für sterbende Industrien sind ein falscher Weg. Sie mögen wahlpolitisch immer wieder nötig sein, aber es sind Investitionen in die Vergangenheit und nicht in die Zukunft.
Die Preisgabe der heimischen Märkte für Billigimporte ist wirtschaftspolitische Grundlage für steigende Arbeitslosigkeit. Ich glaube nicht, daß Investitionen in Hochtechnologien in weiterer Zukunft die Arbeitslosigkeit bei einfachen Arbeiten und vor allem in mittelständischen Betrieben dauerhaft werden senken und wieder zu Vollbeschäftigung beitragen können.
So wichtig die Lage der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ist, nach der in der Großen Anfrage gefragt worden ist: Es muß für jeden einzelnen Wirtschaftszweig eine detaillierte Antwort gegeben werden. Bisher sind diese Fragen nur Diagnostik für eine branchenspezifische Therapie. Wir brauchen aber nicht nur ein Kurieren an Symptomen. Das, was Opposition und Koalition bisher gesagt haben, stellte für viele Industriezweige nicht einmal den Ansatz für eine kausale Therapie zur Rückgewinnung verlorengegangener Märkte dar.
Es ist doch nun wirklich sehr lange her, daß Rohstoffe und Halbfabrikate nach Europa importiert wurden und wir sie zusammen mit einigen anderen Ländern in einer Art kollektivem Industriemonopol verarbeiten durften. Billiglohnländer liefern uns immer mehr Fertigprodukte und drängen die eigenen Produkte vom Markt. Und das Ostblockland China wird noch viel mehr als andere Billiglohnländer jeden bisherigen Preis unterbieten.
Wenn gesagt wird, der Freihandel werde 800 Milliarden DM Gewinne in mehreren Jahren bringen, so müssen wir fragen: Gewinne für wen? Von wem werden diese Gewinne bezahlt? Ich glaube, die Gewinne werden zu Lasten der bisherigen Produzenten gehen, auch einheimischer Produzenten in Deutschland.
Unsere Wirtschaftspolitik muß Arbeitsplätze schützen und verlorengegangene Arbeitsplätze wieder schaffen. Alles andere kann nur Begleitmusik für eine weitere wirtschaftliche Talfahrt sein, für weitere Arbeitslosigkeit und letztendlich den finanziellen Zusammenbruch unseres Sozialstaates. Deshalb brauchen wir eine Umkehr der Schwerpunkte der bisherigen Wirtschaftspolitik: weg von einer Handelsökonomie, die weltweit ist, hin zu einer Nationalökonomie, die uns wieder Arbeitsplätze bringt.
Lassen Sie mich zum Schluß zum Gesetzentwurf der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sagen: Das, was dort gefordert wird, ist falsch. Ich kann nicht die Wettbewerbsfähigkeit der westdeutschen Wirtschaft weiter belasten, um die mitteldeutsche Wirtschaft bis 1998 durch Subventionen zu stärken. Diese belastete westdeutsche Wirtschaft müßte dann immer mehr gegen Billigprodukte aus aller Welt konkurrieren und nicht nur gegen die höher subventionierten Firmen aus Mitteldeutschland.
Es wäre besser gewesen, wenn nicht nur von den Mitarbeitern der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein schlauer Gesetzentwurf geschrieben worden wäre, sondern wenn bei den Abgeordneten so viel Interesse vorhanden gewesen wäre, daß sie den Beratungen in diesem Hause beiwohnen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Eigentlich sind Beifallskundgebungen von der Tribüne bei uns im Hause nicht üblich.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/6239 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 2. Dezember 1993, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche einen schönen Abend.