Gesamtes Protokol
Guten Morgen, die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Interfraktionell ist vereinbart worden, daß am Dienstag, dem 9. November 1993, um 14.00 Uhr aus Anlaß des 55. Jahrestages der Reichspogromnacht und des vierten Jahrestages des Falls der Mauer eine Sitzung des Bundestages stattfinden soll. Anläßlich dieses Gedenkens wird die Präsidentin des Deutschen Bundestages eine Ansprache halten. Mit dem Charakter einer solchen Gedenkveranstaltung sind Anträge, Erklärungen, Zwischenfragen und das, was ansonsten bei unseren Bundestagssitzungen stattfindet, nicht vereinbar. — Ich stelle fest, daß es da bei Ihnen Einvernehmen und Zustimmung gibt.
Die Fraktion der CDU/CSU teilt mit, daß der Abgeordnete Johannes Nitsch auf seinen Sitz als ordentliches Mitglied im Vermittlungsausschuß verzichtet. Als Nachfolger wird der Kollege Hans Peter Schmitz vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Dieses ist der Fall. Dann ist der Kollege Hans Peter Schmitz als ordentliches Mitglied im Vermittlungsausschuß bestimmt.
Des weiteren ist interfraktionell vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Kirschner, Karl-Hermann Haack , Dr. Hans-Hinrich Knaape, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Einsetzung eines Untersuchungsausschusses — Drucksache 12/5975 —
2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Kirschner, Karl-Hermann Haack , Dr. Hans-Hinrich Knaape, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Einsetzung einer unabhängigen Expertenkommission — Drucksache 12/5974 —
3. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zur ÄuBerung des Bundeskanzlers über den „kollektiven Freizeitpark Bundesrepublik Deutschland" im Hinblick auf drohende Arbeitslosigkeit in den Regionen Main-Rhön/Schweinfurt, Thüringen/Zella Mehlis, Leipzig
4. weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Sozialplan im Konkurs- und Vergleichsverfahren: — Drucksache 12/5985 —
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Eckhart Pick, Dr. Hans de With, Gerd Andres, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Konkursordnung: — Drucksache 12/5995 —
5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Lederer, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Abschaffung der Wehrpflicht — Drucksache 12/6033 —
TOP 14 a)
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Pinger, Anneliese Augustin, Klaus-Jürgen Hedrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ingrid Walz, Ulrich Irmer, Dr. Michaela Blunk , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Vorrang für Eigenverantwortung, Privatinitiative und Selbsthilfe nach dem Subsidiaritätsprinzip in der Entwicklungspolitik durch Ausbau und Intensivierung der gesellschaftspolitischen Zusammenarbeit — Drucksache 12/5987 —
6. Aktuelle Stunde: Verhältnis der Bundesregierung zur Iranischen Regierung angesichts deren behaupteter Verantwortung für den Anschlag auf vier Iraner in Berlin
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit dies erforderlich ist, abgewichen werden. Sind Sie auch damit einverstanden? — Auch dieses ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich mache außerdem darauf aufmerksam, daß der Tagesordnungspunkt 14 als „Vereinbarte Debatte zur Entwicklungspolitik" aufgerufen wird. Der Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. unter Tagesordnungspunkt 14a hat einen neuen Titel, den Sie bitte der Zusatzpunktliste entnehmen. Der Tagesordnungspunkt 14b ist abgesetzt.
Die Fraktion der SPD hat fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung um die Beratung ihres Antrags auf Drucksache 12/5993 zum Sondergipfel der EG-Staats- und Regierungschefs sowie zur Europapolitik zu erweitern. Dieser Punkt soll heute mit einer Debattenzeit von zwei Stunden behandelt werden.
Wird zur Geschäftsordnung das Wort gewünscht? — Ja, das Wort hat die Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Namens der SPD-Bundestagsfraktion beantrage ich, die Tagesordnung um diesen Punkt — Forderungen an den EG-Sondergipfel der
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15952 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Heidemarie Wieczorek-ZeulStaats-und Regierungschefs, der morgen in Brüssel stattfindet — zu erweitern.Sie wissen, daß für heute eine Europadebatte des Deutschen Bundestages bereits parlamentarisch festgelegt und vereinbart war.
Wir haben dazu einen Antrag eingebracht, der die Forderungen des Bundestages an den Gipfel festlegt. Nur so können wir, der Deutsche Bundestag, unsere Haltung zum EG-Gipfel und unsere Forderungen an die Bundesregierung zum Ausdruck bringen. Die Aktuelle Stunde der letzten Woche gab dazu keine Gelegenheit, weil in diesem Rahmen keine Anträge eingebracht werden können. Deshalb müssen wir heute die Chance nutzen.
Nun entnehme ich der „Süddeutschen Zeitung" von gestern — ich zitiere —:Entgegen der ursprünglichen Planung wird es aber vor dem Treffen der zwölf Staats- und Regierungschefs am Freitag keine Europadebatte im Plenum des Bonner Parlaments geben. Bundeskanzler Helmut Kohl setzte sich mit seinem Wunsch nach Absetzung der Debatte durch, weil er offenbar befürchtet hatte, daß im Bundestag zu hohe Erwartungen an den Europäischen Rat gestellt würden.Statt dessen, liebe Kolleginnen und Kollegen, so lesen wir, hat die CDU/CSU-Fraktion Helmut Kohl Direktiven mitgegeben; so ist der Titel dieses Artikels. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in welchem Land leben wir eigentlich? Deutschland ist doch kein Einparteienstaat und auch kein Kohl-Staat, in dem einer von oben entscheidet, was der Deutsche Bundestag debattieren kann, in dem einer entscheidet, wer Bundespräsident wird.
Wenn sich CDU und F.D.P. über die Frage, wer für die Außenpolitik zuständig ist, nicht einigen können, dann darf das nicht auf dem Rücken des Deutschen Bundestages und der Bürger und Bürgerinnen in diesem Land ausgetragen werden.
Im übrigen ist diese Art des Umgangs eine Mißachtung auch des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes, das vor zwei Wochen ergangen ist. Das Urteil besagt, daß der Deutsche Bundestag mehr als bisher auf das Verhalten der Regierungen im EG-Ministerrat und in den Ratssitzungen Einfluß nehmen muß.
Wir halten das für unerträglich und den Bürgern und Bürgerinnen gegenüber für unakzeptabel.Botschaften, wie sie gestern als gemeinsame feierliche Erklärung von Bundeskanzler Kohl und dem französischen Staatschef Mitterrand abgegeben wurden, haben die Menschen in diesem Land oft genug gehört. Sie haben oft genug festgestellt, daß ein krasser Widerspruch zwischen dem, was im geheimen hinter den verschlossenen Türen der Staats- und Regierungschefs bei den EG-Gipfeln beraten wird, und den anschließenden feierlichen Erklärungen besteht. Das ist die Art und Weise, wie Sie Europa und auch Maastricht in Mißkredit gebracht haben.
Sie haben daraus aber nichts gelernt; Sie wollen noch immer diese Politik der Geheimdiplomatie betreiben. Die Bürger und Bürgerinnen werden Ihnen das aber nicht durchgehen lassen. Die Menschen wollen Taten, keine allgemeinen Erklärungen zu diesen Fragen sehen.
Wir möchten mit unserem Antrag konkrete Taten einfordern. Dieser Antrag beinhaltet: Es gibt das zentrale Thema in Europa, das allen Menschen auf den Nägeln brennt — das ist die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit und der Rezession.
Wir stellen hier konkrete Vorschläge vor, wie die Regierungen auf EG-Ebene der Massenarbeitslosigkeit und der Rezession entgegenarbeiten können.
Europa braucht die Verteidigung von Arbeitsplätzen, keine gemeinsame Verteidigungspolitik, wie sie gestern von Helmut Kohl angekündigt worden ist.
Meine Güte, was haben wir von der gemeinschaftlichen EG-Verteidigungspolitik? Wir brauchen Arbeitsplätze!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die nach mir Redenden von seiten der Koalitionsfraktionen werden sagen, das alles sei nicht so vereinbart gewesen. Wenn das nicht so gewesen wäre, dann hätten Sie jetzt die Chance, mit uns zu stimmen und dafür zu sorgen, daß wir hier eine deutliche Debatte und deutliche Äußerungen des Bundestages an die Adresse der Bundesregierung haben.
Dann stimmen Sie mit uns dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß das aufgesetzt wird.Wir haben anschließend eine Debatte über die Einsetzung des Untersuchungsausschusses zu dem
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Heidemarie Wieczorek-ZeulSkandal bezüglich der Blutplasmen, zur Frage nach der HIV-Verseuchung. Wir sind der Meinung, daß das eine wirklich zentrale Debatte ist. Der Deutsche Bundestag wird imstande sein, diese beiden zentralen Themen mit seinen engagierten Abgeordneten im Interessse der Bürger und Bürgerinnen heute hier zu behandeln.
Ich fordere Sie dazu auf, diese beiden Themen hier entsprechend zu behandeln und unserem Antrag zuzustimmen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Jürgen Rüttgers.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Wieczorek-Zeul, ich bedanke mich verbindlich dafür, daß Sie schon vorgetragen haben, was Sie meinen, was ich jetzt sage. Normalerweise pflege ich aber selbst zu sagen, was ich sagen möchte. Deshalb will ich Ihnen erklären, daß die künstliche Aufregung, die Sie heute morgen hier an diesem Rednerpult erzeugen wollten, der Sache überhaupt nicht angemessen ist.
Ich habe Verständnis dafür, daß Sie versuchen, hier eine Form von Dramatik zu inszenieren, vor allen Dingen da Sie schon gestern zu einer Pressekonferenz eingeladen haben, in der Sie mitteilen werden, was passiert, wenn hier das passiert, von dem Sie vermuten, daß es passiert.
Liebe Frau Wieczorek-Zeul, wenn ich Ihnen hier heute morgen einen Rat geben darf: Verschonen Sie uns mit den Vorbereitungen Ihrer Kandidatur auf dem SPD-Parteitag, halten Sie die Reden auf dem SPD-Parteitag und nicht hier!
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle in diesem Hause sind froh darüber, daß das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vor vierzehn Tagen den Weg für die Ratifizierung des Maastrichter Vertrages freigemacht hat. Wir freuen uns alle miteinander darüber, daß am kommenden Montag der Vertrag über die Europäische Union in Kraft tritt.Deshalb ist es auch richtig und wichtig, daß die Staats-und Regierungschefs auf Drängen des Bundeskanzlers morgen zusammenkommen, um zu überlegen, wie das, was in diesem Vertragswerk von Maastricht steht, was in Europa ja höchst umstritten war, umgesetzt, mit Leben erfüllt werden kann und auch was wir Deutsche dazu beitragen können, um die Umsetzung des Vertragswerkes konsequent anzugehen.Jeder, der sich mit dem Thema auseinandersetzt, weiß, daß es wichtige, allerdings auch strittige Fragen gibt, die dort behandelt werden, wie etwa die Frage der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, wie der Sitz des Europäischen Währungsinstituts, wie die Frage der Erweiterung der EG um die EFTA-Länder und wie die Einrichtung von Europol, sprich der Kampf gegen die internationale Kriminalität.Meine Damen und Herren, wer dies weiß, der weiß auch, daß es eben nicht einfach ist, auf einer solchen Konferenz bei so vielen Partnern zu Einigungen zu kommen. Deshalb muß es unser Ziel sein, den deutschen Verhandlungsspielraum so weit zu lassen, wie es irgend geht, weil wir zu Ergebnissen kommen wollen, weil wir nicht nur reden, sondern weil wir handeln wollen und weil dafür dieser Gipfel wichtig ist, meine Damen und Herren.
Weil dies so ist, finde ich, sollten wir am Vortag dieses Sondergipfels nicht versuchen, mit falscher Kraftmeierei, wie wir es hier gerade erlebt haben, aufzuwarten.
Unseren Partnern sind die Positionen bekannt. Meine Fraktion hat sich am Dienstag — und ich bin froh, daß sich Frau Wieczorek-Zeul darüber sehr geärgert hat — noch einmal mit diesen Positionen beschäftigt. Wir haben das genau definiert. Wir haben gesagt, was wir wollen. Ich bin auch sicher, daß dies auf dem Gipfel eine Rolle spielen wird.Deshalb, finde ich, muß man heute ganz offen sagen: Es ist falsch, jetzt fordernd vor sich herzutragen, was morgen unsere Position erschweren wird. Wer in Brüssel den Kompromiß will, der darf keine Hürden, seien es auch nur verbale Hürden, errichten.Deshalb, meine Damen und Herren, glauben wir, daß es nicht richtig ist, heute eine Debatte zu führen, wie sie beantragt worden ist.Lassen Sie mich noch eine weitere Bemerkung machen. Meine Damen und Herren, wir werden uns in den nächsten Tagen — dies ist zwischen den Parlamentarischen Geschäftsführern besprochen und vereinbart worden — sehr intensiv über die Frage der Einrichtung des Unionsauschusses und des weiteren Verfahrens in Europasachen unterhalten müssen. Dazu gibt es Vorbereitungen der Kolleginnen und Kollegen im Europaausschuß und darüber hinaus.Ich will ganz persönlich meine Meinung sagen; dies gehört zu dem jetzigen Antrag. Es wird auch in Zukunft nicht so sein, daß vor jedem Gipfel hier eine Debatte stattfindet, in der Positionen beschlossen, festgeklopft werden und die Regierung festgelegt wird.
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15954 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Dr. Jürgen RüttgersAuch das wird in Zukunft nicht so sein. Da können Siesich aufregen, soviel Sie wollen. Ich könnte Ihnen jetztZitate von Helmut Schmidt bringen, der es immer— übrigens mit Recht — abgelehnt hat, daß vorher im Parlament beschlossen wird, was er nachher in Europa umsetzen soll.
— Frau Kollegin, hören Sie doch einfach einmal zu, was ich sage. Wissen Sie, wenn man nur schreit, dann geht meistens der Gehörgang zu. Das ist ein Punkt, den man beachten sollte, wenn man sich dauernd mit Zwischenrufen in eine Debatte einmischt.Meine Damen und Herren, es wird auch in Zukunft nicht so sein, daß das Parlament im Detail festlegt, was anschließend jeweils auf einem Gipfel zu geschehen hat. Da muß man zu Kompromissen kommen. Weil das so ist, werden wir darüber reden müssen, wie wir das machen. Der Unionsausschuß wird da seine zentrale Bedeutung bekommen. Darüber wollen wir reden, und zwar sehr schnell.Wir werden heute den Antrag ablehnen, damit wir hier zu Ergebnissen kommen können.Vielen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Helmut Haussmann.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Außenminister, Herr Kinkel, weiß sehr genau, auch ohne heutige Debatte und auch ohne Fraktionssondersitzung, was die F.D.P.-Fraktion auf dem EG-Sondergipfel von der Regierung erwartet. Auf Antrag meiner Fraktion hat sich der Deutsche Bundestag bereits zum frühestmöglichen Zeitpunkt nach dem Karlsruher Urteil, in der letzten Woche, sowohl mit dem Urteil als auch mit den Erwartungen an den Sondergipfel beschäftigt.
Wir erwarten erstens, daß Frankfurt am Main Sitz der Europäischen Zentralbank wird.
Das ist eine ganz entscheidende Voraussetzung für die Zustimmung der Deutschen zu einem zukünftigen stabilen europäischen Geld. Es ist bezeichnend, daß eine Abgeordnete aus Hessen weder heute noch in der letzten Debatte überhaupt ein Wort zu Frankfurt am Main gesagt hat.
Zweitens. Wir erwarten von seiten der F.D.P.Fraktion endlich die Konkretisierung energischer Konvergenzprogramme, die durch Währungsstabilität im Zeitplan bleiben und für die gesamte Europäische Gemeinschaft neue Arbeitsplätze schaffen.
Wir erwarten drittens eine Beschleunigung der Beitrittsverhandlungen mit dem festen Ziel der Erweiterung der Gemeinschaft um die willkommenen neuen Mitglieder Österreich, Schweden, Norwegen und Finnland zum 1. Januar 1995.
Das sind die drei Hauptziele, die die F.D.P. vom morgigen Gipfel erwartet. Ich möchte aber auch ganz offen sagen: Die F.D.P. behält sich vor, vor weiteren Gipfeln eine Parlamentsdebatte zu führen.
Das wollen wir uns hier nicht verbieten lassen. Wir haben diese Debatte bereits geführt,
und wir erwarten — verehrte Frau Kollegin, keine Aufregung —, daß gemäß dem Maastricht-Urteil von Karlsruhe eine unmittelbare Information und Diskussion der Ergebnisse zum frühestmöglichen Zeitpunkt hier im Deutschen Bundestag erfolgt.
Insofern haben wir keinerlei Probleme mit Ihrem Antrag; wir lehnen ihn ab.
Jetzt hat der Abgeordnete Dr. Hans Modrow das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag der SPDFraktion fordert die Bundesregierung auf, vor dem EG-Gipfel eine grundlegende Debatte zu europäischen Fragen zu führen. Man müßte sagen: eigentlich eine normale Sache, wenn man will, daß das Parlament mitspricht. Aber die Bundesregierung verweigert sich. Warum eigentlich?Die PDS/Linke Liste sieht vor allem folgende Gründe: Erstens. Auch wenn das Verfassungsgericht den Maastrichter Vertrag abgesegnet hat, bleibt er umstritten, und das offensichtlich zu Recht. Der bevorstehende EG-Gipfel wird weitgehende Festlegungen zum Vertrag treffen. Gerade darüber soll nicht diskutiert werden. Wie in EG-Fragen üblich, soll letztlich nur zur Kenntnis genommen werden, was die Bundesregierung vereinbart. Wenn es irgendwo um Kraftmeierei geht, dann ist das genau hier der Fall. Wenn dazu noch die Arroganz der Macht kommt,
dann wird deutlich, worum es eigentlich geht.Zweitens. Über ein Demokratiedefizit wird im Zusammenhang mit dem Maastrichter Vertrag schon allgemein viel gesprochen. Selbst hier nimmt sich die Regierungskoalition nicht aus. Was jetzt mit dem Antrag der SPD praktiziert werden soll, ist der klare Beleg dafür, wie dieses Demokratiedefizit zustande kommt.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15955
Dr. Hans ModrowDann darf man sich nachher auch nicht wundem, wenn die Bürgerinnen und Bürger die Europapolitik der Bundesregierung, da sie sie nicht transparent vor sich haben, mit Mißtrauen verfolgen.Drittens. Es scheint den Koalitionsparteien darauf anzukommen, ein ganz bestimmtes Signal zu setzen:
Trotz des bekannten Demokratieleitsatzes im Bundesverfassungsgerichtsurteil soll es im Bundestag so bleiben — Herr Rüttgers hat dies schon angekündigt —, daß, frei nach Tucholsky, nicht sein kann, was nicht sein darf. Hier sollen künftig auch vor einem Gipfel Europafragen nicht diskutiert werden. Wir haben nur zur Kenntnis zu nehmen.Wir jedenfalls sehen eine zwingende Notwendigkeit für eine solche Diskussion vor dem Gipfel und werden deshalb dem Antrag der SPD unsere Zustimmung geben.
Nun hat der Kollege Gerd Poppe das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages wurden in den letzten Tagen vor allem über die Medien informiert, welches denn nun die Vorhaben der Bundesregierung zum EG-Sondergipfel sein könnten. Wir wurden ermahnt, unsere Erwartungen nicht zu hoch zu schrauben; bedeutsame Entscheidungen werde es wohl nicht geben. Die Ratifizierung der MaastrichtVerträge solle gefeiert werden. Ansonsten werde es vielleicht einige Impulse zugunsten der Vertiefung der Gemeinschaft gegenüber der Erweiterung geben, obwohl gegenwärtig kein Mitgliedstaat in der Lage wäre, die vereinbarten Kriterien für die Währungsunion zu erfüllen.
Der Bundeskanzler zieht es vor, sich mit den auf den Sondergipfel bezogenen Vorstellungen des deutschen Parlaments nicht auseinanderzusetzen. Dabei gäbe es aktuelle Fragen von äußerster Dringlichkeit, die in Brüssel behandelt werden müßten, für deren Klärung die Debatte im Bundestag eine unabdingbare Voraussetzung wäre.
In Anbetracht des Charakters einer Geschäftsordnungsdebatte kann ich nur in Stichworten andeuten, welche Themen u. a. Gegenstand unserer Debatte sein müßten. Da wäre z. B. das von Präsident Mitterrand am Montag geäußerte Vorhaben, dem Sondergipfel vorzuschlagen, die Zufahrtswege für Hilfskonvois nach Bosnien-Herzegowina gewaltsam öffnen zu lassen, oder die verschiedenen Überlegungen zu einer gemeinsamen Außenpolitik z. B. gegenüber Rußland, Osteuropa, dem Nahen Osten oder die in letzter Zeit gerade aus der CDU/CSU-Fraktion bekanntgewordenen Forderungen nach einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, wobei bezeichnenderweise weniger von einem europäischen kollektiven Sicherheitssystem als von der Westeuropäischen Union die Rede ist.
Debattiert werden müßte auch über die geplante Verschiebung des Stimmengewichts innerhalb der
EG zugunsten der großen Mitgliedstaaten, wohl interpretierbar als Furcht vor der zukünftigen Erweiterung. Für diese wiederum fehlen, soweit es die ostmitteleuropäischen Staaten betrifft, immer noch jegliche zeitliche Vorstellungen oder Stufenprogramme.
Das Problem mit der Währungsunion habe ich schon angedeutet. Kein Staat erfüllt alle Bedingungen, mehrere Staaten überhaupt keine. Deutschland liegt hinsichtlich zweier Kriterien abgeschlagen im hinteren Mittelfeld.
Ein anderes Thema hat Frau Wieczorek-Zeul vorhin bereits erwähnt. Darauf brauche ich nicht näher einzugehen.
Einer Presseerklärung entnehme ich, daß die Union als Hauptproblem deutscher Europapolitik die Festlegung des Sitzes der Europäischen Zentralbank in Frankfurt sieht. Glückliches Deutschland! könnte man da sagen. Wenn dies tatsächlich das wichtigste Problem der Deutschen ist, dann kann der Kanzler in Brüssel beruhigt wegen der gelungenen Ratifizierung sein Glas erheben, und wir Abgeordnete des Deutschen Bundestages könnten jetzt einen längeren wohlverdienten Urlaub antreten.
Das Bundesverfassungsgericht allerdings hat das neulich anders gesehen. Es hat auf die besondere Verantwortung des Bundestags hingewiesen, der die künftigen Schritte zur Konstruktion, Veränderung und Erweiterung der EG begleiten sollte. Kaum gesagt, wird diese Entscheidung schon wieder unterlaufen, indem der Kanzler seiner eigenen Fraktion einen Europabericht gibt, dem Bundestag jedoch nicht, indem die Koalition ihren Entschließungsantrag zurückzieht, andererseits der SPD-Antrag nicht behandelt werden soll. Dies ist eine für deutsche Abgeordnete nicht hinnehmbare Zumutung.
Richtig verstanden bedeutet das Karlsruher Urteil doch nichts anderes, als daß der Bundestag vor wesentlichen Entscheidungen in EG-Fragen gehört werden muß. Dieses Recht kann nicht durch eine nachträgliche Unterrichtung durch die Bundesregierung relativiert werden. Das Verfahren kann nicht in das Belieben der Bundesregierung gestellt werden, wenn wir es mit unserer Kritik am Demokratiedefizit der EG ernst meinen.
Daher kann die Forderung auch von der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nur lauten, die seit Wochen vorgesehene Europadebatte heute auf die Tagesordnung zu setzen.
Weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung liegen nicht vor. Dann kommen wir zur Abstimmung. Wer stimmt für den Aufsetzungsantrag der Fraktion der SPD? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Aufsetzungsantrag mit äußerst knapper Mehrheit
— mit äußerst knapper Mehrheit, wie ich mit beiden Schriftführern abgestimmt habe — bei einer Enthaltung aus der Unionsfraktion abgelehnt.
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15956 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Vizepräsidentin Renate SchmidtIch rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie die Zusatzpunkte 1 und 2 auf:4. a) Vereinbarte DebatteHIV-Infektionsgefährdung durch Blutprodukteb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Else Ackermann, Ulrich Adam, Anneliese Augustin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Gisela Babel, Anke Eymer, Hans A. Engelhard, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.Einsetzung eines Untersuchungsausschusses: HIV-Infektionsgefährdung durch Blut und Blutprodukte— Drucksache 12/6035 —Überweisung svorschlag: Ausschuß für GesundheitZP1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Kirschner, Karl-Hermann Haack , Dr. Hans-Hinrich Knaape, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDEinsetzung eines Untersuchungsausschusses — Drucksache 12/5975 —Überweisungsvorschlag: Ausschuß für GesundheitZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Kirschner, Karl-Hermann Haack , Dr. Hans-Hinrich Knaape, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDEinsetzung einer unabhängigen Expertenkommission— Drucksache 12/5974 —Dürfte ich Sie bitten, ein kleines bißchen leiser zu sein? Diejenigen, die dieser Debatte nicht zuhören wollen, bitte ich, den Saal möglichst ruhig und schnell zu verlassen. Diese Bitte ist ernst gemeint, weil wir dann schneller vorankommen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Stimmen Sie dieser Debattenzeit zu? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster spricht der Kollege Dr. Paul Hoffacker.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. beantragen heute die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses mit dem Ziel, die HIV-Infektionsgefährdung durch Blut und Blutprodukte umfassend aufzuklären. Es gilt, diesen gesamten Themenbereich sowohl hinsichtlich dessen, was in der Vergangenheit geschehen oder unterlassen worden ist, als auch hinsichtlich dessen, was in Zukunft geschehen muß, unverzüglich anzupacken.Meine Damen und Herren, erinnern wir uns an die jüngsten zurückliegenden Ereignisse in den letzten etwa sechs Wochen: Medienwirksam aufgemachte Nachrichten über kontaminierte Blutpräparate erschüttern die Öffentlichkeit. Der Gesundheitsausschuß tritt zweimal zu Sondersitzungen zusammen, um sich mit der Gesamtproblematik zu befassen. Umfangreiche Recherchen wurden angestellt. Die ersten Schritte, die der Minister einleiten mußte, waren die Auflösung der bisherigen Struktur des Bundesgesundheitsamtes und die Suspension eines Beamten. Die Staatsanwaltschaft wurde eingeschaltet, damit sie von Amts wegen prüft, welche Vernachlässigungen aufzudecken sind und wer die Schuldigen sein können.Die letzte Meldung von heute nacht, daß in Rheinland-Pfalz von der Staatsanwaltschaft Recherchen angestellt werden, um möglicherweise kontaminiertes Blut sicherzustellen und aus dem Verkehr zu ziehen, muß uns alle — wenn es stimmt — sehr hellhörig machen.Meine Damen und Herren, der Minister hat in vielen öffentlichen Auftritten vor der Presse versucht, die Öffentlichkeit umfangreich zu informieren. Er hat sich dabei nicht gescheut, sein eigenes Prestige einzubringen und auf die Waagschale zu legen. Herr Minister, dafür darf ich Ihnen den Dank unserer Fraktion aussprechen.
Die Reaktionen in der Öffentlichkeit auf die Vorgänge der vergangenen Tage waren erschütternd; denn die tatsächlich und vermeintlich neuen Fakten haben zu sehr unterschiedlichen Reaktionen geführt. Die Fassungslosigkeit tatsächlich Betroffener, die in der ratlosen Frage zum Ausdruck kommt „Wie konnte das geschehen?", sowie die Ängste und Sorgen potentiell Betroffener sind vor diesem Hintergrund allzu verständlich. Es gilt, dem in den kommenden Wochen und Monaten insbesondere bei den Beratungen im Untersuchungsausschuß gerecht zu werden.Das Echo, das dieses Thema in der Presse gefunden hat, möchte ich an dieser Stelle nicht im einzelnen bewerten. Die Sensibilität der Materie, bei der es vor allem um menschliche Schicksale, um Leben und Tod geht, kam hier, wie ich meine, zu kurz.Ich möchte jedoch feststellen, daß mich die Kommentierung der Ereignisse der vergangenen Wochen auch in seriösen Blättern teilweise verblüfft hat. Da ist die Rede von „Aufregungswellen", von „Tatarenmeldungen" und von „Aktionismus". Daran haben sich auch renommierte Blätter, die manche klugen Köpfe verdecken, beteiligt.Meine Damen und Herren, ich finde, daß diese Reaktionen, das gesamte Problem nicht ernst zu nehmen, es auf die leichte Schulter zu nehmen, verantwortungslos sind, d. h., daß es verantwortungslose Kommentierungen und Meldungen sind. Hier werden keine Ängste geschürt, hier wird nicht überreagiert, sondern hier wird das getan, was notwendig ist, um auch die Einzelheiten aufzudecken. Hätten wir das nicht getan, dann wäre der Schlachtruf der publizistischen Matadore gewesen: „Verrat"! Wir wären mit Vorwürfen überschüttet worden.Meine Damen und Herren, ich finde, daß am Ende eines so kurzen Prozesses nichts anderes stehen kann als ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15957
Dr. Paul HoffackerDieser parlamentarische Untersuchungsausschuß, der im Grundgesetz eine besondere Position einnimmt, ist ein geeignetes und taugliches Instrument, um die Einzelheiten aufzudecken. Es gilt, jeden von dem Verdacht freizumachen, er würde in eigener Sache recherchieren und könnte möglicherweise etwas vertuschen.
Daß der Bundesminister der Einrichtung dieses Untersuchungsausschusses zugestimmt hat, zeigt deutlich, daß er alles, auch sein eigenes Gewicht, alles was er getan oder unterlassen hat, mit in die gesamte Untersuchung einbeziehen möchte.Meine Damen und Herren, in diesen Tagen ist die Frage gestellt worden, warum die Koalition die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses beantragt, wo doch ein Untersuchungsausschuß eigentlich das Kampfinstrument der Opposition ist. Natürlich kann man unter taktischen Aspekten die eine oder andere Meinung vertreten. Ich bin nicht der Meinung, daß dies für diesen Fall ein gerechtfertigtes Argument wäre, in dem es nicht etwa darum geht, die schädliche Nebenwirkung eines Medikaments aufzudecken, sondern um Leben und Tod von Todgeweihten, die nicht von einer irgendwie schicksalhaften Krankheit betroffen sind, sondern die durch das getroffen sind, was wir aufdecken wollen.
Meine Damen und Herren, der parlamentarische Untersuchungsausschuß ist von der Verfassung gerade als Instrument zur Aufklärung solcher schwieriger Sachverhalte vorgesehen. Herr Kollege Kirschner, die von Ihnen vorgeschlagene Expertenkonunission des Bundestages bliebe doch letztlich auf den Goodwill einzelner angewiesen. Die Instrumentarien, die der parlamentarische Untersuchungsausschuß bietet, nämlich die Anwendung der Strafprozeßordnung, die Beiziehung der Akten, die Vernehmung von Zeugen und die Untersuchung von Firmen, stehen einer Expertenkommission nicht zur Verfügung.
Dies müssen wir sehen. Ich sage dies ganz leidenschaftslos; denn auch wir haben zu Beginn überlegt, ob möglicherweise eine Expertenkommission reicht, um die einzelnen Vorgänge aufzudecken und zu prüfen. Wir sind zu der Überzeugung gelangt, daß dies nicht ausreicht und daß wir uns der Verantwortung zu stellen haben, die Öffentlichkeit rückhaltlos über alle Einzelheiten aufzuklären.Es wird bisweilen gesagt, dies sei eine Verschleppung des gesamten Problems, um kritische Fragen im Ausschuß mit Mehrheit zurückzudrängen.
Das Gegenteil ist der Fall! Wir sollten heute zu der Entscheidung kommen — ich werbe immer noch bei der Opposition dafür —, daß wir einen gemeinsamen Antrag stellen, nur einen Ausschuß und nicht zwei Ausschüsse einzurichten, damit wir morgen diesenAusschuß konstituieren und sofort mit der Aufklärung anfangen können.Meine Damen und Herren, wenn Sie von „Verschleppung" sprechen, dann ist es natürlich nicht so — nehmen Sie mir das nicht übel; die Kolleginnen und Kollegen der SPD-Opposition sind gemeint —, als ob wir nicht wüßten, was Sie im Schilde geführt haben.
Herr Haack, der sich hier immer mit vorlauten und unpassenden Bemerkungen meldet, hat nämlich 19 sogenannte kritische Fragen an den Minister gestellt. Die Dynamisierung des Prozesses, wie ihn sich die SPD oder Herr Haack dachte, war ja,
erst einmal diese 19 Fragen zu stellen, sie „longe iateque" zu behandeln und dann zu sagen: Der Minister hat sie nicht beantwortet. Dann sollte eine Expertenkommission gegründet werden. Diese Expertenkommission, die das Instrumentarium, über das der Untersuchungsausschuß verfügt, eben nicht zur Hand hat, würde sich ebenfalls mit der Aufklärung befassen und nach zwei, drei Monaten feststellen, daß man sie im Rahmen einer Expertenkommission nicht leisten kann. Und was steht am Ende? — Der Untersuchungsausschuß.Meine Damen und Herren, daß sich der Gedanke der zeitlichen Nähe zu bestimmten Wahlkämpfen aufdrängt, darf man, finde ich, niemandem, der Profi ist, verdenken, und wir tun das auch nicht. Wir wollen sofort mit der Untersuchung anfangen. Deshalb lade ich Sie herzlich ein, nicht ein irgendwie geartetes politisches Kampfinstrument zu strapazieren, sondern sofort mit der Arbeit zu beginnen.Wenn von „Verschleppung" die Rede ist, dann muß der Redlichkeit halber gesagt werden, daß im Deutschen Bundestag bereits in der vergangenen Woche darauf hingewiesen wurde, daß während der sehr zeitaufwendigen Arbeiten am Gesundheits-Strukturgesetz bereits im August 1992 die interne Arbeit an dem schwierigen Thema AIDS, HIV-Gefährdung durch Blutprodukte, begonnen hat. Ergebnis dieser Arbeiten war der im November 1992 vorgelegte Bericht des Ministeriums zur HIV-Gefährdung durch Blut und Blutprodukte. Zu diesem Bericht wurde am 3. Februar 1993 im Gesundheitsausschuß eine ausführliche Sachverständigenanhörung durchgeführt. Parallel dazu wurden bereits zu Beginn dieses Jahres in der Koalition die Arbeiten an der 5. AMG-Novelle begonnen, so daß im Rahmen dieser Gesamtüberlegungen auch die Problematik einer Gesetzesänderung im Hinblick auf die Risikoabwehr und auf Vorsichtsmaßnahmen ebenfalls angegangen werden konnte.Meine Damen und Herren, wir haben an die Opfer gedacht. Wir haben im Gesundheitsausschuß bereits vor etwa vier Wochen ein Soforthilfeprogramm behandelt. Die Koalitionsfraktionen haben einen Antrag gestellt — der Gesundheitsausschuß hat ihn beschlossen —, daß wir uns mit der Entschädigung der
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15958 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Dr. Paul HoffackerOpfer befassen wollen und daß die gesamte Fondslösung eine Weiterentwicklung erfordert.Ich finde, daß alle Vorwürfe der Opposition hinsichtlich „Verschleppung" oder hinsichtlich dessen, was hier „Verheimlichung" genannt wurde, oder hinsichtlich einer mangelnden Aktivität oder einer mangelnden Sensibilität nicht ziehen. Wenn sich die Opposition an Maßnahmen im außerparlamentarischen Bereich hätte beteiligen wollen, dann hätte sie das in dem vom Minister angebotenen Beirat tun können. Die Teilnahme an diesem Beirat hat sie bereits zu Beginn der vergangenen Woche abgelehnt und es vorgezogen, das zu tun, wovon ich eingangs sprach, nämlich kritische Fragen zu stellen.Der Höhepunkt der Schizophrenie ist jetzt, daß auch die SPD einen Untersuchungsausschuß beantragt, so daß sie sich in Widersprüche verwickelt, die aufzulösen nicht unsere Aufgabe ist. Wir fragen: „Was muß getan werden?", und das tun wir dann.Wir haben in unserem Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses die Inhalte klar vorgelegt. Es gibt drei besondere Schwerpunkte.Der erste Schwerpunkt: Wir wollen uns den Opfern und der Entschädigung zuwenden. Es sollen in erster Linie die humanitären Fragen den obersten Stellenwert bekommen. Es sollen dann die Sicherheit der Blutprodukte und die Verbesserung der Methoden geprüft werden. Und es sollen selbstverständlich auch die Fragen der Vergangenheit aufgerollt werden.Meine Damen und Herren, dies ist ein Programm, das in kurzer Zeit durch den Untersuchungsausschuß auch bewältigt werden kann. Unsere Vorstellungen, zum einen die Opfer zu entschädigen, zum anderen die größtmögliche Sicherheit von Blut und Blutprodukten zu verbessern, sind bereits in den Vorschlägen zur Arzneimittelgesetznovelle zum Tragen gekommen, nämlich die Verbesserung der Auflagenbefugnis des Arzneimittelinstitutes, die Einführung der Quarantänelagerung für Blut und Blutprodukte, die Einführung eines qualifizierten Importverbotes für Blutprodukte aus bestimmten Regionen, die Verbesserung der ärztlichen Meldepflicht bei unerwünschten Arzneimittelnebenwirkungen sowie schließlich der verstärkte Ausbau der Eigenblutversorgung in Deutschland. Dies ist notwendig.Meine Damen und Herren, wir wollen auch den Teil, den die SPD an erster Stelle in ihrem Antrag nennt, nämlich die Vergangenheitsbewältigung, in unseren Antrag aufnehmen. Hier schulde ich der Öffentlichkeit die Darstellung der Versuche, die wir gemacht haben, alle Prüfungsgegenstände in einem Untersuchungsausschuß zusammenzufassen.Herr Kollege Kirschner, es ist mir bis heute nicht klar geworden, warum Sie unser Angebot eines Antrags, der sowohl Ihren Teil wie unseren Teil umfaßt — das heißt, wir machen uns Ihren Antrag zu eigen; mehr, meine ich, können Sie nicht verlangen —, nicht annehmen.
— Herr Kirschner, bleiben Sie bei dem, was wir vorgestern nachmittag besprochen haben. Ich denke, daß Ihr Gedächtnis das auch heute noch hergibt.Wir haben besprochen, daß wir Ihren Antrag ohne Kürzung übernehmen, ohne ein Jota oder Komma zu streichen, und erwarten von Ihnen, daß Sie unseren Teil mit übernehmen. Wenn Sie das nicht wollen, dann erklären Sie bitte der Öffentlichkeit, daß Sie zwei Untersuchungsausschüsse wollen, die sich mit der Vergangenheitsbewältigung befassen, während für uns an erster Stelle die Sorge um die Kranken, die Entschädigung der Opfer, die finanzielle Sicherheit und wirtschaftliche Sicherheit der Familien steht.Wenn Sie das nicht wollen — das haben Sie vorgestern deutlich gemacht —, dann erklären Sie der Öffentlichkeit, warum Sie sich nicht um die Opfer kümmern wollen, sondern sich in der Vergangenheitsbewältigung ergehen und die Zukunft außer acht lassen.
Meine Damen und Herren — und jetzt werde ich ernst —, dann stellen Sie sich nicht hin, als ob Ihnen das Schicksal der Menschen so sehr am Herzen liegt, während Sie in der Tat hier eine Vergangenheitsbewältigung vornehmen wollen, die wir nicht scheuen, die auch wir wollen. Aber bekennen Sie sich dazu, daß Sie nicht als Racheengel oder als sonstige Profilneurotiker in die Geschichte eingehen wollen, die sich mit dieser Frage befaßt.
— Ich verstehe Ihren Widerspruch, Herr Kollege Kirschner, aber Sie müssen vor der Öffentlichkeit erklären, warum Sie das nicht wollen, und müssen dem Steuerzahler erklären, warum Sie einen zweiten Ausschuß fordern.Meine Damen und Herren, bei der Vergangenheitsbewältigung und bei dem, was sich manchmal mit einem — so möchte ich fast sagen — aufklärerischen Pharisäismus in der Öffentlichkeit abspielt, muß offengelegt werden — hier zitiere ich Herrn Professor Habermehl, der als Sachverständiger am 3. Februar folgendes gesagt hat —,daß die immer wieder vorgebrachten Argumente, man habe damals— das heißt in der ersten Hälfte der 80er Jahre —schon sehr genau Bescheid gewußt, nicht stimmen.Und noch ein Zitat:In der damaligen Zeit ist die Reaktion aller Beteiligten — Wissenschaftler, Industrie, aufsichtsführende Behörde, internationale Wissenschaftsorganisationen etc. — angesichts dieses schwierigen Kapitels wirklich schnell erfolgt.Was will ich damit sagen? — Die Aufklärung der Vergangenheit muß im Lichte dieser Erkenntnis geschehen, damit kein neues Unrecht geschieht. Ich bin der Meinung, daß wir keine Vorverurteilungen vornehmen dürfen. Ich bin aber auch der Meinung, daß das aufgeklärt werden muß, was in der Vergangenheit versäumt wurde oder zu kurz gekommen ist.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15959
Dr. Paul HoffackerMeine Damen und Herren, ich lade die SPDOpposition ein, heute mit uns einen gemeinsamen Antrag hier einzubringen, über den wir morgen früh ohne Aussprache abstimmen können, damit morgen nachmittag die Konstituierung dieses Untersuchungsausschusses erfolgen kann und mit der Arbeit begonnen wird.Ich bedanke mich.
Als nächster spricht der Kollege Klaus Kirschner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das, was wir gerade vom Kollegen Dr. Hoffacker erlebt haben, zeigt deutlich, daß diese von Ihnen in den Vordergrund gestellte Gemeinsamkeit auf Ihrer Seite so gar nicht vorhanden ist. Anscheinend soll Demagogie Argumente ersetzen.
Sie wollen etwas untersuchen lassen, was bereits im Antrag der SPD steht, der am 27. Juli diese Jahres im Deutschen Bundestag eingebracht und im September in erster Lesung beraten wurde, und dies geschah gestern auch im Ausschuß. Sie wollen untersuchen lassen, während wir konkret Hilfe für die Betroffenen fordern.
Ich bitte Sie: Lenken Sie doch nicht von unserem Antrag, um den es hier gehen muß, nämlich Aufklärung zu betreiben, ab. Unser Angebot ist folgendes: gemeinsam zu untersuchen, aber nicht Dinge zu untersuchen, die politisch zu entscheiden sind.
Kollege Kirschner, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hoffacker?
Bitte.
Herr Kollege Kirschner, bestreiten Sie, daß ich Ihnen vorgestern nachmittag, am Dienstag, das Angebot gemacht habe
— es war etwas später, Herr Haack —,
— über all diese Fragen parallel, also sowohl im Gesundheitsausschuß als auch im Untersuchungsausschuß, zu reden und sofort zu handeln?
Herr Kollege Dr. Hoffacker, ich wiederhole gern noch einmal, was ich Ihnen vorher bereits gesagt habe: daß wir nicht etwas untersuchen wollen, was politisch zu entscheiden ist und was schon in unserem Antrag vom Juli ganz eindeutig zum Ausdruck kommt. Ich sage Ihnen: Sie hätten doch die Entscheidung treffen können; gestern haben wir im Ausschuß debattiert.
Wir haben in der letzten Woche im Gesundheitsausschuß den Haushalt des Bundesgesundheitsministers
beraten. Da haben Sie unseren Antrag auf Einstellung von 20 Millionen DM in den Entschädigungsfonds abgelehnt und der Zurverfügungstellung eines Betrages von 2 Millionen DM, wie Sie ihn wollten, zugestimmt. Man kann doch nicht so tun, als ob wir über Dinge reden oder Dinge untersuchen müßten, die wir bereits parlamentarisch beraten haben und auch im Gesundheitsausschuß bereden.
Gestatten Sie noch eine weitere Zwischenfrage?
Bitte schön.
Herr Kollege Kirschner, stimmt es, daß Sie unseren Antrag auf Zurverfügungstellung von 2 Millionen DM im Ausschuß mit Ihrer Fraktion abgelehnt haben?
Das gehört für mich ebenfalls unter das Stichwort „Demagogie". Sie wissen ganz genau: Wir haben die 2 Millionen DM deshalb abgelehnt, weil Sie unserem Antrag auf 20 Millionen DM nicht zugestimmt haben. Wir haben immer gesagt: 2 Millionen DM sind ein Almosen, das nicht vertretbar ist. Wir sind nicht bereit, uns nachher für die Gewährung eines solchen Almosens verantwortlich machen zu lassen. Das wird dem Problem und den Betroffenen nicht gerecht.
Es gibt noch das Bedürfnis nach einer weiteren Zwischenfrage bei dem Kollegen Dieter Thomae von der F.D.P.
Beim Kollegen Dr. Thomae selbstverständlich. Dann aber bitte ich, meine Rede fortführen zu dürfen.
Herr Kirschner, Sie haben hier von 2 Millionen DM gesprochen. Korrekterweise und fairerweise müßten wir bekunden: Die Bundesregierung hat sich zur Bereitstellung von 2 Millionen DM bereit erklärt, auch die Länder und die Pharmaindustrie haben sich bereit erklärt; die Versicherungswirtschaft hat zunächst abgelehnt, aber das Deutsche Rote Kreuz will mitmachen, so daß wir zunächst für eine Soforthilfe — ich betone: Soforthilfe — etwa 10 Millionen DM zur Verfügung haben. Damit soll — das wissen Sie — auch nach Vorstellung der Koalition nicht alles für die Personen, die durch Blutübertragungen HIV-infiziert worden sind, abgegolten sein.
Das war keine Frage.
Doch.
Herr Kollege, das war eine Kurzintervention. Es war keinerlei Frage ersichtlich.
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15960 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Ich habe den Kollegen Hoffacker gefragt, ob er korrekterweise weiß, daß wir das festgelegt haben.
Das hatten Sie am Anfang Ihres Redebeitrags vergessen.
Herr Kollege Dr. Thomae, ich nehme zur Kenntnis, was Sie eben sagten. Nur würde ich dies gerne von Ihnen in Form eines schriftlichen Antrags vorliegen haben, daß das nur eine erste Rate sein soll. Ein solcher Antrag liegt dem Deutschen Bundestag bisher jedoch nicht vor.Aber wenn Sie schon von 2 Millionen DM reden — Sie sagten: „korrekterweise" —, dann müssen Sie korrekterweise auch sagen, daß die SPD einen 60Millionen-DM-Fonds vorschlägt, bei dem wir verlangen, daß von seiten des Bundes 20 Millionen DM eingezahlt werden und daß sich Pharmaindustrie, Rückversicherer und Rotes Kreuz den Rest zu teilen haben.Meine Damen und Herren, ich möchte zu meinem eigentlichen Debattenbeitrag kommen. Der Kollege Dr. Hoffacker hat sich sehr viel Zeit dafür genommen, unseren Antrag auf Einsetzung einer unabhängigen, mit Richtern und Staatsanwälten besetzen-Expertenkommission — die aus unserer Sicht schneller und flexibler die Verantwortung urn die skandalösen Vorgänge über HIV-Verdachtsfälle aufklären kann und somit eine echte Aufklärung bewirkt — in Abrede zu stellen.Meine Damen und Herren, um was geht es? Zu lange zieht sich schon diese Debatte um mögliche, bisher nicht bekannte HIV-Infektionen hin. Die Angst, durch Blutpräparate mit dem HIV-Virus infiziert zu werden oder zu sein, ist groß. Die Ernsthaftigkeit dieses Problems erfordert allerdings, daß weder Panik noch unnötiger Aktionismus erzeugt werden, aber auch nichts verharmlost wird. Hier hilft nur eines: Aufklärung. Es muß endlich Licht in das Dunkel um die seit Wochen kursierenden Meldungen von bisher nicht bekannten HIV-Verdachtsfällen gebracht werden.Es muß folgendes aufgeklärt werden: Gibt es innerhalb der Bundesbehörden Informationsmängel? War hier Fahrlässigkeit, fehlendes Pflichtbewußtsein und/ oder Schlamperei im Spiel? Wer ist dafür letzten Endes verantwortlich?Es ist nach wie vor ungeklärt — das ist auch nicht durch Ihre Pressemitteilung, Herr Bundesgesundheitsminister, vom 22. Oktober ausgeräumt —, inwieweit es bei den 373 Verdachtsfällen vom 5. Oktober 1993 zu den 370 Fällen, die von Staatssekretär Wagner am 8. Januar genannt wurden, Überschneidungen gibt. Klar ist nur, daß es beim Bundesgesundheitsamt drei verschiedene Erfassungssysteme gibt, die untereinander nicht abgleichbar sind.Dubios ist auch die in dem Bericht des Bundesgesundheitsamtes vom 7. Oktober 1993 enthaltene Liste über die Anzahl der Fallberichte zu HIV-Infektionen von Pharmaunternehmen.
— Hören Sie zu! — Danach meldeten die Behringwerke — also nach dieser Liste, die wir ja alle bekommen haben — 344 von insgesamt 357 in der Zeit von 1986 bis 1993 gemeldeten Fällen.Für mich stellt sich die Frage: Stimmt das Meldeverfahren, oder wird nicht alles gemeldet? Wie sieht es mit der Kontrolle durch das Bundesgesundheitsamt aus, wenn ausgerechnet die Firma, die meines Wissens als erste freiwillig ein Inaktivierungsverfahren entwickelte und einsetzte, 95 % der gemeldeten Fälle bei rund 15 % Marktanteil auf sich vereinigt? Geht bei den Meldeverfahren alles mit rechten Dingen zu?Die Frage nach der politischen Verantwortung für diese Art von Informationspolitik des Bundesgesundheitsamtes geht — das will ich ohne Umschweife sagen — an die Adresse des Gesundheitsministers.
Sie, Herr Minister Seehofer, haben dem Gesundheitsausschuß des Deutschen Bundestages am 30. November letzten Jahres einen Bericht zur HIV-Infektionsgefährdung durch Blutprodukte zugeleitet. Dieser Bericht ist durch die jüngst bekanntgewordenen Verdachtsfälle — so sie sich bestätigen — zur Makulatur geworden. Sie haben diesen Bericht, den Sie im Vertrauen auf die gelieferten Daten und Fakten des Bundesgesundheitsamtes erstellt haben, offensichtlich ohne Gegenprüfung weitergeleitet. Sie haben sich — das ist der Vorwurf — in den 18 Monaten Ihrer bisherigen Amtszeit offensichtlich zu wenig um das Amt gekümmert.Es ist auch auffallend — lassen Sie mich auch dies sagen —, daß die Bundesregierung im Bundesgesundheitsamt die meisten Führungspositionen der letzten Jahre ohne Ausschreibung besetzt hat. Da drängt sich der Eindruck von Mauschelei geradezu auf. Vielleicht sind auch darin die Ursachen der Skandalchronik des Amtes der letzten Zeit zu suchen. Es ist ja nicht das erste Mal, daß das Bundesgesundheitsamt in das Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik gerät.
— Herr Kollege Zöller, wenn Sie mir sagen, welche der Führungspositionen in den letzten Jahren ausgeschrieben worden sind, wäre ich Ihnen sehr dankbar.
Ich meine, das alles gilt es aufzuklären. Es gilt aufzuklären, ob von der Bundesregierung, dem Bundesgesundheitsamt oder den der Rechts- und Fachaufsicht des Bundesministers für Gesundheit unterstehenden Instituten durch zu spät erfolgte oder ganz unterbliebene Maßnahmen Menschen zu Schaden oder eventuell zu Tode gekommen sind.Wir sind der Ansicht, daß dies mit der von uns geforderten unabhängigen Expertenkommission schneller zu leisten ist als mit einem parlamentarischen Untersuchungsausschuß. Denn wir wissen genauso wie Sie, daß in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuß die Mehrheit viele Möglichkeiten hat, mit der Geschäftsordnung unliebsame Untersuchungen zu verschleppen. Deshalb geben wir
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Klaus Kirschnerder Expertenkommission den Vorzug. Sollten Sie diesen Antrag ablehnen, dann geht es Ihnen dabei nicht nur um formale Gründe. Wir werden dann selbstverständlich von unserem parlamentarischen Recht Gebrauch machen, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß einzusetzen. Es muß jedoch alle hellhörig machen, wenn Sie selbst einen Untersuchungsausschuß fordern, der die Vorgänge untersuchen soll, für die Sie die politische Verantwortung haben.Herr Kollege Dr. Hoffacker, ich will die Institution, den Betrieb oder die Einzelperson sehen, die sich einer solchen vom Parlament eingesetzten Expertenkommission verweigert. Wir haben an die Spitze dieser Expertenkommission den ehemaligen Präsidenten des Bundesgerichtshofes, Herrn Dr. Pfeiffer, vorgeschlagen.
Deshalb ist das, was Sie hier in den Raum stellen, ein Scheinargument. Eine solche Kommission kann schneller arbeiten und ist parteiunabhängiger.
Ich sage dies nicht zuletzt im Hinblick auf die Wahlen, auf die Sie vorhin, Herr Kollege Dr. Hoffacker, hingewiesen haben. Umgekehrt wird nämlich ein Schuh daraus.Meine Damen und Herren, wenn Bundesminister Seehofer — ich sage, zu Recht — die organisatorischen und strukturellen Mängel im Bundesgesundheitsamt beklagt, dann ist das Spiegelfechterei. Sie selbst sind es, der dafür letzten Endes die Verantwortung trägt. Sie sind auch der Adressat, der von Ihnen geforderten Verbesserungen der Risikominderung bei der Blutversorgung.Ich frage Sie: Haben Sie in Ihrer bisherigen Amtszeit denn wirklich alles unternommen, um das diagnostische Fenster, d. h. das Risiko, so klein wie möglich zu halten?
Warum wurden die nationale Eigenblutversorgung und die Eigenblutspende nicht konsequent vorangetrieben, um damit die Importabhängigkeit von Blutprodukten und das mögliche, unbekannte Spenderrisiko zu minimieren? Neben diesem Untersuchungsauftrag stellt sich für uns vor allem die Frage: Wie kann den Betroffenen finanziell geholfen werden?Ich sage hier noch einmal deutlich, damit das bei dieser Art von Verwirrspiel, das hier offensichtlich betrieben wird,
nicht untergeht: Wir schlagen in unserem Antrag, der bereits im September im Bundestag beraten worden ist und dem Gesundheitsausschuß vorliegt — ich sagte dies schon —, einen Hilfsfonds von insgesamt 60 Millionen DM vor. Daran hat sich der Bund mit 20 Millionen DM zu beteiligen. Den Rest der Summe haben Pharmaindustrie, Rückversicherungen und das Rote Kreuz aufzubringen.
Es ist erfreulich, Herr Minister, daß Sie — laut Pressemitteilung von gestern — selbst einräumen, daß die von Ihnen bisher genannten 10 Millionen DM für den Hilfsfonds unzureichend sind.
Auch wenn Geld die Gesundheit nicht ersetzen kann, ist es doch das mindeste, was wir aus unserer Verantwortung jetzt tun müssen, nämlich materiell so zu helfen, daß es wirklich ein ordentlicher Betrag und nicht nur ein Almosen für die Betroffenen wird.Dies muß jedoch schnell geschehen, da 95 % der Infektionen in der Zeit von 1981 bis 1985 stattfanden. Zwischen Infektion und Ausbruch der Krankheit liegen durchschnittlich zwölf Jahre, und deshalb ist Eile angesagt. Dabei stellt sich für uns insbesondere die Frage: Gibt es — wenn ja, wie viele — noch unentdeckte HIV-Infektionen vor 1985, vor allem durch Gerinnungsmittel oder sonstige Blutprodukte?Ich appelliere an Sie: Helfen Sie mit, daß schnell und ausreichend geholfen wird! Das können Sie mit Ihrer Zustimmung zu unserem Antrag tun. Helfen Sie mit, daß schnell aufgeklärt und nichts unter dem Teppich bleibt oder unter den Teppich gekehrt wird!Vielen Dank.
Nun spricht der Kollege Dr. Bruno Menzel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Verabreichung von Blut und aus Plasma hergestellten Präparaten hat ungezählten Menschen das Leben gerettet oder konnte zur Heilung von Krankheiten beitragen bzw. die Folgen von krankhaften Prozessen wie im Falle der Bluterkrankheit segensreich beeinflussen. Um so tragischer ist es, wenn durch solch unverzichtbare Medikamente die Möglichkeit gegeben ist, unerkannt tödliche Krankheiten zu übertragen, wie im Falle Aids nachweislich geschehen.Ich denke, nur zu verständlich sind dann die drängenden Fragen, die an Medizin, staatliche Gesundheitsbehörden und Politik gestellt werden, ob in der Vergangenheit alles Mögliche getan wurde, um solch verhängnisvolle Folgen zu vermeiden, und welche Schritte man noch tun kann, um ein bis heute nicht auszuschließendes Restrisiko weiter zu minimieren. Deshalb begrüßt die F.D.P. ausdrücklich die heutige Debatte zur HIV-Infektionsgefährdung durch Blut und Blutprodukte, hoffend, daß von ihr und dem zu beantragenden Untersuchungsausschuß Initiativen ausgehen werden, die den Sicherheitsstandard von Blut und Blutprodukten entsprechend den heute ver-
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Dr. Bruno Menzelfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen weiter verbessern.Meine Damen und Herren, es geht also nicht um vorschnelle Schuldzuweisungen oder die Beurteilung von Verhaltensweisen einzelner, da das der Bedeutung dieses Themas sicherlich nicht gerecht würde. Wir wollen auch nicht vom Rednerpult aus die Arbeit des Untersuchungsausschusses vorwegnehmen. Wir wollen eine lückenlose Aufklärung aller in letzter Zeit aufgetretenen Vorwürfe, und wir wollen vor allem, daß geschehenes Leid gemildert und zukünftiger Schaden vermieden wird und daß sich die Patienten, die aus lebenserhaltenden oder lebensverlängernden Gründen auf Blut angewiesen sind, dieser Behandlung ohne Angst in Kenntnis des tatsächlichen Risikos, das letztlich bei jedem medizinischen Eingriff besteht, unterziehen können.
Ich möchte nicht falsch verstanden werden, meine Damen und Herren. Das ist keine Kritik an den Aktivitäten des Bundesgesundheitsministers. Er war nach Bekanntwerden der Vorfälle gezwungen, schnell zu handeln und die Öffentlichkeit zu informieren. Zwangsläufig ist es dabei zu Verunsicherungen gekommen, zum Teil auch deshalb, weil die genauen Hintergründe und Implikationen noch nicht vollständig bekannt waren. Aber zum Abwarten war angesichts eines potentiellen Risikos wenig Zeit. Es geht letztendlich um zwei Fragen. Erstens: Hätten HIVInfektionen durch Blutprodukte vor dem Hintergrund des jeweiligen medizinischen Kenntnisstandes tatsächlich vermieden werden können? Zweitens: Was können wir an zusätzlicher Sicherheit für die Zukunft erreichen?Fakt ist, daß die Forschung im Bereich Aids trotz der noch ausstehenden Entwicklung aktiver Schutzmaßnahmen wie beispielsweise eines Impfstoffes binnen kürzester Zeit Beachtliches geleistet hat. Man sollte nicht vergessen, daß Infektionskrankheiten, auch tödlich verlaufende, die Menschheit seit jeher begleiten und bisher mit Ausnahme der Pocken niemals vollständig beseitigt werden konnten. Die euphorische Annahme, mit der Entwicklung von Penizillin als Antibiotikum am Ende der 30er Jahre Herr über sämtliche Ansteckungskrankheiten werden zu können, erwies sich als Illusion. Noch immer sterben weltweit Hunderttausende Menschen an Infektionskrankheiten. Die Viren bilden immer neue Varianten. Sogar neue, unbekannte Krankheiten, wie eben bei Aids Anfang der 80er Jahre in den USA geschehen, treten auf.Mittlerweile ist erwiesen, daß angesichts des Krankheitsverlaufes bereits vor 1980 Infektionen mit dem Verursacher der Aids-Erkrankung vorhanden waren. Eine Weiterverbreitung der Krankheit auch durch infiziertes Blut war also möglich, weil die Erkrankung bzw. ihr Auslöser noch gar nicht bekannt war. Trotz des Auftretens der Erkrankung bei Hämophiliepatienten wurde in Fachkreisen zu diesem Zeitpunkt ein zwingender Zusammenhang zwischen der Verabreichung von Blutpräparaten und der Aids-Infektion noch nicht gesehen. Dennoch hatte das BGA bereits 1982 darauf hingewiesen, daß Empfänger dieser Präparate, also Bluter, von dem noch unbekannten Krankheitserreger besonders betroffen seien.Es ist eine Tatsache, daß wirksame diagnostische und präventive Maßnahmen erst ab dem Zeitpunkt der Erregerisolierung getroffen werden konnten. Das geschah auch, nachdem es in der vergleichsweise kurzen Zeit von nur drei Jahren nach Auftreten der Immunschwächekrankheit gelungen war, den Erreger der Krankheit zu erkennen und als Virus einzuordnen. Machen wir uns bitte einmal diese wissenschaftliche Leistung klar. Zum Vergleich: Der Syphiliserreger konnte erst 450 Jahre nach dem Auftreten der ersten Erkrankungen in Europa isoliert werden.Alle Erkenntnisse vor der Erregerisolierung, also vor allem die Ähnlichkeiten im Infektionsverhalten mit der Hepatitis B, z. B. die Übertragungswege, nämlich Sexualkontakte und Blut bzw. Blutprodukte, waren lediglich Analogieschlüsse und klinische Beobachtungen. Alle retrospektiven Bewertungen, inwieweit solche Feststellungen Eingang in präventive Maßnahmen hätten finden sollen, bleiben spekulativ.Im Dezember 1983 wurde in Deutschland die erste Aids-Erkrankung eines Bluters bekannt. Aber selbst zu diesem Zeitpunkt gingen die Meinungen über die ursächlichen Zusammenhänge noch auseinander. Das Risiko einer unbehandelten Hämophilieerkrankung wurde deutlich höher eingeschätzt als das einer HIV-Infektion.Noch im Dezember 1984 bezeichneten führende Mediziner einen Zusammenhang zwischen dem für Mitte 1985 vorgeschriebenen HTLV-Antikörpertest für Hämophiliemedikamente und der Aids-Erkrankung als nicht gesichert. Das einzige seit 1981 in Deutschland verfügbare inaktivierte Präparat wurde zudem von den Behandlern skeptisch beurteilt und hätte eine flächendeckende Versorgung aller Patienten zu diesem Zeitpunkt auch nicht zugelassen.
Ich will nicht weiter auf die Chronologie der Ereignisse eingehen. Es wird aber bei der Betrachtung der Entwicklung im Zeitraum zwischen 1982 und 1986/87 deutlich, daß, wie so oft in der Medizin, erheblich divergierende Meinungen über diese neue Krankheit und ihre Auswirkungen auf Risikogruppen existierten.— Das ist natürlich unser Thema, Herr Kollege, denn wir reden ja ausschließlich über diese Erkrankungen und die möglichen präventiven Maßnahmen, die ergriffen werden konnten.
— Ich denke, das, was ich hier sage, kann auch für Laien verständlich sein. Ich halte keine medizinische Vorlesung. Es sollte endlich einmal deutlich gesagt werden, worum es geht.
Es ist auch klar, daß das BGA seit 1982 das Problem einer neuartigen Immunschwächekrankheit und der Morbidität im Bereich der Hämophiliepatienten kannte und Präventionsmaßnahmen eingeleitet hat. Eine qualitative Bewertung der Handlungsweise des
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Dr. Bruno MenzelBGA muß dabei die wissenschaftlichen und medizinischen Rahmenbedingungen der ersten Hälfte der 80er Jahre berücksichtigen.Der 1. Oktober 1985 stellt in dieser Hinsicht eine Zäsur dar. Ab diesem Datum wurde vom BGA die HTLV-Antikörpertestung für jede Blutspende vorgeschrieben. Die meisten Infektionen traten vor diesem Zeitpunkt auf. Konnte man aber tatsächlich davon ausgehen, daß das Risiko einer HIV-Infizierung durch Verabreichung von Blutpräparaten oder Transfusionen spätestens zu diesem Zeitpunkt weitestgehend ausgeschlossen war? Das ist die Frage, denn neben der Antikörpertestung wurden von den Herstellerfirmen der Blutpräparate durchgängig gemäß ihrer Verantwortung für die ordnungsgemäße Herstellung der Arzneimittel Virusinaktivierungsverfahren verwendet, so daß sich entsprechende Vorschriften damals erübrigten. Mehrere Inaktivierungsmethoden waren im Gebrauch, die in ihrer Wirksamkeit vom BGA ähnlich beurteilt wurden.Wir wissen aber mittlerweile, daß keinerlei Sicherheitsmaßnahmen das Risiko einer Infektion — speziell bei der Verabreichung von Frischblut — zu 100 ausschließen können. Angaben des Deutschen Roten Kreuzes in meinem Heimatland, nämlich Sachsen-Anhalt, zufolge bewegt sich die Wahrscheinlichkeit einer Infektion über die Behandlung mit Blut oder Blutprodukten zwischen 1: 300 000 und 1 :3 Millionen.Ich denke, es waren auch weder dieses Risiko noch Differenzen über die Dinge, die in der Vergangenheit hätten getan werden können oder unterlassen werden müssen, die zur heutigen Debatte und der Beantragung eines Untersuchungsausschusses geführt haben. Vielmehr hat sich herausgestellt, daß der Bericht des Bundesgesundheitsministers an den Ausschuß für Gesundheit des Deutschen Bundestages vom 30. November 1992 zur HIV-Infektionsgefährdung durch Blutprodukte wohl nicht die ganze Wahrheit enthalten hat.
— Herr Kollege, ich komme schon zu dem Ziel; bloß muß ja jeder verstehen, was hier gesagt wird. Ich denke jedenfalls, das sind wir den Zuhörern schuldig.Trotz des eingangs Gesagten läßt sich nun einmal nicht leugnen, daß in den letzten Wochen durch das Bekanntwerden weiterer infektiöser Chargen von Blutpräparaten — lassen wir einmal dahingestellt, mit welchem Gefährdungspotential — eine große Verunsicherung der Bevölkerung entstanden ist. Daher ist rückhaltlose Aufklärung dringend geboten.Um dies zu gewährleisten und weil es sich um ein ebenso ernstes wie sensibles Thema handelt, beantragt die F.D.P. zusammen mit der CDU/CSU die Einsetzung des Untersuchungsausschusses „HIVInfektionsgefährdung durch Blut und Blutprodukte". Und es ist kein Zufall, daß als erster Punkt eine Entschädigungsregelung für die durch Blut oder Blutprodukte Infizierten und ihre Angehörigen behandelt werden soll.Krankheit, meine Damen und Herren, bedeutet Leid. Eine Krankheit, die stets tödlich verläuft, ist ein besonders schweres Schicksal für die Betroffenen. Wenn diese tödliche Erkrankung durch die Verabreichung von Medikamenten eintritt, von denen sich Patienten Heilung erhofften, so ist dies um so tragischer. Es muß daher — ich betone dies ausdrücklich — trotz aller notwendigen Aufklärungsarbeit im Rahmen des Untersuchungsausschusses vor allem darum gehen, das Schicksal der Betroffenen zu lindern.
Ich begrüße es im Namen der F.D.P.-Fraktion, daß von seiten des Bundesgesundheitsministeriums bereits vorab eine Entschädigungsregelung gefunden wurde, die unabhängig von weiteren Maßnahmen in dieser Richtung den Betroffenen rasche Hilfe zuteil werden lassen soll.Daneben müssen Überlegungen breiten Raum einnehmen, wie die Sicherheit der Blutprodukte weiter verbessert werden kann. Leider — ich weiß dies aus eigener Erfahrung — kann in der Medizin ein mehr oder minder großes Restrisiko nie ausgeschlossen werden. Dies betrifft auch die Diagnose einer HIV-Infektion. Die diagnostische Lücke kann bei Anwendung aller heute möglichen Teste nicht endgültig geschlossen werden.
— Danke, daß Sie mir zustimmen, Herr Kollege.Auch durch regelmäßige Antigen- und Antikörperteste bleibt letztendlich eine diagnostische Lücke oder ein diagnostisches Fenster erhalten.Andererseits bleibt es unbestritten, daß die Immunschwächekrankheit nach wie vor eine der bedrohlichsten Krankheiten ist, deren Ausbreitung gegenwärtig nur durch präventive Maßnahmen eingedämmt werden kann. Neben den unbedingt notwendigen Forschungsaktivitäten müssen daher alle Anstrengungen in Richtung einer Vermeidung von Infektionen zielen. Im Bereich der medizinischen Behandlung mit Blut oder Blutprodukten müssen deshalb mehrere Maßnahmen erwogen werden.Meine Damen und Herren, wir haben hier wiederholt heute schon von den Meldegewohnheiten und Meldepflichten gehört. Ich denke, das, was unverzichtbar ist und was dringend überprüft werden muß, ist tatsächlich die Frage: Wie, wann, was und an wen wird gemeldet? Es muß eine absolute Sicherheit bestehen, daß ein durchgehendes Meldesystem vorhanden ist, damit jederzeit auch retrospektiv verfolgt werden kann, wo welche Charge zu welcher Zeit an welchen Patienten unter welchen Bedingungen verabreicht worden ist.Wenn man sich über die Meldepraktiken unterhält, dann muß man natürlich auch die Frage stellen, welche Möglichkeiten denn dem BGA im Rahmen der bestehenden gesetzlichen Vorgaben gegeben waren, was für Meldemöglichkeiten also bestanden. Hier, denke ich, sollten wir natürlich unsere Möglichkeiten wahrnehmen, zu prüfen, inwieweit hier Veränderungen stattzufinden haben. Es bleibt unbestritten, daß wir uns mit der Frage beschäftigen müssen: Wie können wir Blut und Blutprodukte sicherer machen?
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Dr. Bruno MenzelDas heißt, die Frage zu klären, ob es möglich ist, aus eigenem Blutaufkommen alles selbst versorgen zu können, die Frage zu klären, wie wir mit den Spendern umgehen, welche Sicherungsmöglichkeiten wir noch haben, die Frage zu klären, inwieweit merkantile Interessen in jedem Fall auszuschließen sind, den Aufbau stabiler Spenderstämme zu betreiben und in letzter Konsequenz den langfristigen Aufbau der Eigenversorgung im Lande.Auf ärztlicher Seite ist darauf hinzuwirken, daß strengste Auflagen an die Notwendigkeit der Behandlung mit Frischblut gestellt werden und daß die Eigenblutspende wo immer möglich favorisiert wird.Auch die Qualitätssicherung im Bereich der Testlaboratorien muß verstärkt werden. Wir müssen uns noch einmal der Frage stellen, ob es heute schon möglich ist, Chargen von Blut und Blutprodukten genauso zu behandeln wie solche von Impfstoffen und Sera, damit lückenlos verfolgt werden kann, wo und zu welchem Zeitpunkt welche Chargen verabreicht wurden. Darüber hinaus muß geprüft werden, ob durch Quarantänelagerung, Verkleinerung der Pools und Dokumentationen zur Ermittlung von Empfängern weitere Sicherheitsgewinne erzielt werden können.Ich denke, unverzichtbar ist auch eine Intensivierung auf dem Gebiet der Infektionsmedizin, die über Jahre hinweg in Deutschland vernachlässigt wurde.
Das muß bereits im Rahmen des Medizinstudiums sichtbar werden. Dies könnte man z. B. damit beginnen, daß man das Fach der Mikrobiologie nicht in die Vorklinik legt, sondern in die Klinik, wo nämlich diejenigen, die sich später einmal mit diesem Fach beschäftigen sollen, auch die Möglichkeit haben, Zusammenhänge zwischen Krankheit und dem herzustellen, was sie dort theoretisch geboten bekommen.
Parallel zu diesen Maßnahmen wäre es natürlich auch angezeigt, die wissenschaftlichen und medizinischen Voraussetzungen im Bereich der Aids-Forschung und -Bekämpfung auf breiter Ebene zu verbessern.Auch bin ich der Ansicht, meine Damen und Herren, daß die epidemiologische Forschung in Deutschland insgesamt dringend verbesserungsbedürftig ist.
Dies hängt natürlich wieder eindeutig damit zusammen, welche Möglichkeiten wir im Meldewesen haben. Hier muß man tatsächlich die Interessen des einzelnen und die Interessen der Gemeinschaft zur Bewahrung und Sicherung vor eventuell noch in der Zukunft auftretenden infektiösen Krankheiten abwägen.All diese Detailfragen können an dieser Stelle nur skizziert werden. Man wird sich im Untersuchungsausschuß sehr intensiv mit all diesen Aspekten beschäftigen müssen. Das sind wir der Bevölkerung einfach schuldig. Die Politik ist dringend gefordert, das Vertrauen der Menschen, vor allem aber der unmittelbar Betroffenen, in die staatlichen Gesundheitsinstitutionen wiederherzustellen. Die vorgesehene Umstrukturierung des BGA — dazu bedarf es ja noch einer gesetzlichen Regelung — ist sicherlich ein Schritt, dem weitere folgen müssen.Wenn es denn zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses kommt — davon gehe ich aus —, dann sollten wir uns hier von gegenseitigen Vorwürfen, daß der eine oder andere vielleicht weniger interessiert ist, dieses oder jenes aufzuklären, möglichst freihalten. Wir alle, die wir den Untersuchungsausschuß wollen, wollen eine lückenlose, schnelle und vorbehaltlose Aufklärung. Dies einander zuzugestehen ist, glaube ich, das Recht unter guten Demokraten. Es wäre auch ein Akt, um die so oft beschworene Politikverdrossenheit ins Positive zu kehren, wenn nach außen hin sichtbar würde, daß über alle Parteigrenzen hinweg der gemeinsame Wille besteht, das zu verwirklichen, was wir am heutigen Tage in diesem Hause postulieren.Ich danke Ihnen.
Als nächste spricht Frau Kollegin Dr. Ursula Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Durch Blutgerinnungspräparate, hergestellt überwiegend aus Blutplasma US-amerikanischer Herkunft, sind in den alten Bundesländern vor allem in der ersten Hälfte der 80er Jahre fast 2 000 an der Bluterkrankheit leidende Patienten mit dem Aids-Virus infiziert worden. Hinzu kommen mehrere hundert Fälle von Infektionen, die auf Bluttransfusionen zurückzuführen sind. Betroffen sind also nicht nur Bluter, die die Medikamente regelmäßig erhalten müssen, sondern auch Menschen, die einmalig im Zusammenhang mit Operationen, Geburten oder anderen medizinischen Eingriffen Gerinnungspräparate verordnet bekommen haben. Wie viele Menschen dieses Schicksal erlitten haben, ist nicht genau bekannt. Insgesamt handelt es sich um ein an Tragik und Leid kaum zu überbietendes Geschehen, das seit Mitte der 80er Jahre den Betroffenen in seinen ganzem Ausmaß zunehmend bekannt und bewußt geworden ist.Wer angesichts einer solchen Situation gedacht hatte, nach gründlichen Analysen, die ja vorliegen, würden rasch notwendige Schlußfolgerungen gezogen und erforderliche Hilfsmaßnahmen durchgeführt, wurde schwer enttäuscht. Bis heute sind als richtig und notwendig erkannte Sicherheitsmaßnahmen nicht ins geltende Recht aufgenommen worden. Ich erwähne hier nur eine unzureichende staatliche Chargenkontrolle, die mangelhafte Chargendokumentation oder — ein sehr wichtiger Punkt — fehlende Auflagenbefugnisse der Behörden. Bis heute sind die Opfer nicht entsprechend entschädigt worden, von einer sozialen Absicherung ganz zu schweigen.Was wir allerdings, Kolleginnen und Kollegen, in den letzten Wochen erlebt haben, hat mit dem eigentlichen Problem nur indirekt zu tun und bildet ein
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Dr. Ursula FischerKapitel für sich. Wie sich stets rasch herausstellte, haben weder eine angeblich plötzlich aufgetauchte Liste von 373 Verdachtsfällen noch der zweite vermeintlich sensationelle Fall einer sogenannten Nichtmeldung aus dem Jahr 1990 in der Sache etwas Neues ergeben; auch da sollten wir ehrlich sein. Das Risiko von Blutern und anderen Menschen, sich im Zusammenhang mit Blutprodukten mit dem Aids-Virus zu infizieren, ist gegenwärtig zwar weiter reduzierbar, aber eben noch nicht völlig auszuschließen. Seit 1985 ist dieses Risiko zum Glück unverändert sehr gering geblieben.In erschreckender Weise hat sich aber etwas bestätigt, was Insidern seit langem bekannt ist: Die Informations- und sonstigen Beziehungen zwischen dem Bundesministerium für Gesundheit und dem Bundesgesundheitsamt sind offenbar in einem katastrophalen Zustand. Wenn höchstrangige leitende Beamte beider Institutionen nicht sofort und aus dem Stand erklären können, was es mit einer bestimmten statistischen Liste auf sich hat, wirft das allerdings ein schlimmes Licht auf die Qualitäten dieser in einem hochsensiblen Bereich tätigen Führungskräfte. Nebenbei gefragt: Wer ist eigentlich für ihre Berufung zuständig? Es ist doch wohl noch immer so, daß langanhaltende Mißstände bei obersten Bundesbehörden in die politische Verantwortlichkeit der jeweils Regierenden fallen.Meine Damen und Herren, was ist das unmittelbare Ergebnis der jüngsten so skandalträchtigen Enthüllungen? Erstens. Die Öffentlichkeit und auch das medizinische Personal sind nicht etwa besser informiert als vorher, dafür aber tief verwirrt und verunsichert. Zur Zeit lehnen viele Menschen notwendige Bluttransfusionen ab, verschieben Operationen oder verweigern sogar irrationalerweise bisher geleistete Blutspenden. Man sieht: Auf solche Weise kann sich ein Gesundheitsminister sehr schnell auch einmal zum Gesundheitsrisiko wandeln.Zweitens. In der Presse hat eine pauschale Verurteilung des BGA eingesetzt, die auch dann erschrekken muß, wenn man um viele Fehlleistungen und Probleme dieses Amtes weiß. Den Mitarbeitern werden nun en bloc Unfähigkeit, bürokratische Untätigkeit, Schlamperei, Bestechlichkeit und alle möglichen sonstigen Infamien unterstellt. Nach dem Alles-odernichts-Prinzip, dem absoluten Gegenteil einer differenzierten Betrachtung, ist das letzte Vertrauen der Bevölkerung in das BGA erst einmal gründlich zerschlagen worden.Natürlich ist es bitter notwendig, die Fehler und Mängel in der Arbeit dieses Amtes aufzudecken. Nur so können sie korrigiert werden. Aber das Pannenregister des BGA ist bekanntlich noch wesentlich länger, als jetzt quasi ausschnittartig untersucht werden soll.Besonders schwer wiegt zweifellos der Vorwurf der Deutschen Hämophiliegesellschaft, daß das BGA — ich zitiere — „das Sicherheitsbedürfnis der Patienten ökonomischen Interessen der Hersteller und der pharmazeutischen Industrie untergeordnet hat". Damit ist wohl die allem zugrunde liegende eigentliche Krankheit des Bundesgesundheitsamts benannt, nämlich seine übergroße Nähe zur Industrie. Wenn man so will, ist es in diesem Punkt der Bundesregierung gar nicht so unähnlich. Schließlich ist beides systembedingt.Jedenfalls liegt der Verdacht nahe, daß es diese Nähe zur Industrie ist, die das Amt in der Wahrnehmung seiner im wahrsten Sinne des Wortes lebenswichtigen Informations-, Warn- und Aufklärungspflichten immer wieder so eigenartig gelähmt hat.Mit der im Schnellschußverfahren angekündigten Auflösung des BGA und der Verselbständigung seiner Teilinstitute ist allerdings noch nichts gewonnen. Eher drängt sich hier der Eindruck einer geradezu abenteuerlichen Kopflosigkeit auf. Lassen Sie sich rechtzeitig warnen, Herr Minister, und überdenken Sie diesen voreiligen Schritt noch einmal in aller Ruhe.Es ist doch überhaupt nicht gesagt, vielmehr ziemlich unwahrscheinlich, daß die richtige Alternative zum jetzigen äußerst kritikwürdigen Zustand ausgerechnet die simple Auflösung dieses Amtes ist. Dazwischen stehen bekanntlich weitere Varianten. Jedenfalls rechtfertigen es die genannten Informationsdefizite und auch die sonstigen Verfehlungen keineswegs, eine Institution mit diesem nationalen und internationalen Gewicht und mit der Tradition des BGA über Nacht einfach zu beseitigen.Vieles spricht im Gegenteil dafür, durch eine gründlich durchdachte Reorganisation besonders die interdisziplinären wissenschaftlichen Möglichkeiten der Institute richtig auszuschöpfen, statt sie zu erschweren oder unmöglich zu machen. Bei den im BGA anstehenden Forschungen zum Gesundheits-, Umwelt- und Verbraucherschutz wird gerade das in Zukunft immer wichtiger sein.Im übrigen würde durch die Auflösung des BGA auch der öffentliche Gesundheitsdienst einen weiteren Eckpfeiler seiner Tätigkeit verlieren, was seine ohnehin schon bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Identität weiter schwer beschädigen würde.Alles in allem ist gegenwärtig die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, daß die Leistungsfähigkeit des BGA auf unverantwortliche Weise gegen Null gefahren wird. Wichtig ist seine Reorganisation; darüber muß man sich auch unterhalten.Der gegenwärtig in den Medien ablaufende Aids-Skandal hat allerdings auch sein Gutes. Endlich und erstmalig seit fast zehn Jahren dringt nun das wirkliche Problem in das Bewußtsein der Öffentlichkeit. Es ist die lange vertuschte Wahrheit, daß es auch in diesem Land eine echte Arzneimittelkatastrophe im Zusammenhang mit HIV-kontaminierten Blutprodukten gibt, und zwar in einem bisher unvorstellbaren Ausmaß. Bis heute sind keine Garantien dafür geschaffen worden, daß sich nach menschlichem Ermessen eine ähnliche Katastrophe nicht wiederholen kann.Es wurde sehr bald klar, daß der bestehende gesetzliche Rahmen auch für bestimmte Entschädigungsleistungen, Haftungen usw. nicht ausreichend ist. Das bisherige Ergebnis dieses Zustandes ist: Bis heute haben die Betroffenen, ihre Angehörigen und Hinterbliebenen keine auch nur annähernd adäquaten Ent-
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Dr. Ursula Fischerschädigungen bekommen — es sei denn, man will die Almosen, die ihnen die Versicherungen der Pharmaindustrie bezahlt haben, als solche bewerten.Allein den seelischen Schaden durch eine Aids-Infektion bewertet ein französisches Gericht mit etwa 500 000 DM. — Da kann man sich ungefähr vorstellen, was die ganzen Summen, die hier im Spiel sind, bedeuten. — Die Versicherer der deutschen Pharmaindustrie haben es inzwischen auf durchschnittlich 60 000 DM je Opfer gebracht, die Beerdigungskosten makabererweise ausdrücklich inklusive. Dafür mußten die Geschädigten dann auch noch auf jegliche weitere Rechtsmittel verzichten.Auch ein Fonds von 10 Millionen DM, wie er von den Koalitionsfraktionen noch im Zusammenhang mit der bisherigen Haushaltsdebatte vorgesehen wurde, reichte wohl, käme er denn zustande, kaum aus, um auch nur annähernd das Notwendigste zu tun.Allerdings gab es wenigstens bis vor kurzem die Absicht, schnell zu handeln. Jetzt soll nach dem Willen der Koalitionsfraktionen im beantragten parlamentarischen Untersuchungsausschuß über Begründung, Art und Höhe einer finanziellen Entschädigung debattiert werden. Auch wenn dies zuerst geschehen soll, sagen wir dazu: Wer wirklich will, daß den Opfern rasch geholfen wird, braucht dafür keinen Untersuchungsausschuß, sondern vor allem den notwendigen politischen Willen, die erforderlichen Mittel bereitzustellen.
Natürlich ist es darüber hinaus auch notwendig, alle nur möglichen Garantien zu schaffen, damit sich eine solche Katastrophe nicht wiederholen kann.Noch am 13. dieses Monats hielten es der Gesundheitsminister und Abgeordnete der Koalitionsfraktionen für möglich, daß zur nochmaligen Gegenprüfung aller wichtigen Vorgänge eine Arbeitsgruppe mit einem unabhängigen Beirat an der Seite eingesetzt wird. Ich kann mir den Sinneswandel hin zu einem umständlichen parlamentarischen Untersuchungsausschuß nicht erklären. Denn was ist das andere gewesen, wenn nicht eine Expertenkommission?Inzwischen, meine Damen und Herren, haben die Ungereimtheiten, Kopflosigkeiten und panikartigen Reaktionen der Regierung und der Koalitionsparteien für mich teilweise groteske Formen angenommen. Die vorerst letzte Flucht nach vorn heißt nun: Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses.Folgendes möchte ich noch besonders betonen: Alles im Zusammenhang mit den Blutprodukten Geschehene steht in keinerlei Zusammenhang mit der bisherigen Aids-Politik dieses Landes. Es gibt deshalb überhaupt keinen Grund, sie zu ändern und z. B. Zwangstests einzuführen, Anonymitäten zu beseitigen und auf generelle Meldepflichten zurückzugreif en.
Es muß alarmieren, daß das alles bereits wiederdiskutiert wird. Sollen denn auch auf diesem Feldganze Menschengruppen diskriminiert und ausgegrenzt werden?Notwendig ist dagegen weiterhin eine vorrangige Präventionspolitik durch eine sinnvolle Aufklärung und der Ausbau der Hilfsangebote zur Beratung. Aber schon gibt es große Sorgen, Unsicherheiten und Ängste unter den Betroffenen.
Frau Kollegin Fischer, Ihre Redezeit ist überschritten.
Ich komme zum Schluß. — Wir werden uns gegenüber den vorliegenden Anträgen insgesamt enthalten. Wir sind für Expertenkommissionen, und zwar für zwei. Wir werden sehen, was nach all den Vereinbarungen heute nachmittag herauskommt und wie man sich dann verhalten will. Wir wollen in der Sache nicht stören; aber wir denken, das ist das falsche Instrumentarium.
Ich bedanke mich.
Nun spricht Frau Kollegin Vera Wollenberger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Problem, das wir heute diskutieren, ist nur die Spitze des Eisberges, der im übrigen keineswegs überraschend aufgetaucht ist, im Gegenteil. Ein Blick auf den CDU-Antrag genügt, um zu wissen, daß der Ausschuß Erkenntnisse gewinnen soll, die längst vorliegen, die bisher aber noch nicht in die politischen Entscheidungsprozesse einbezogen worden sind.Die Situation der durch Blut und Blutprodukte HIV-infizierten Personen ist längst bekannt. Dem Gesetzgeber sind bereits etliche brauchbare Vorschläge gemacht worden. Selbst wenn man sich als Laie, wie ich es getan habe, nur wenige Stunden mit einem Bruchteil des vorhandenen Materials beschäftigt, z. B. mit dem Protokoll der 55. Sitzung des Gesundheitsausschusses oder den Stellungnahmen zum Bericht des Gesundheitsministers aus dem Gesundheitsausschuß des Bundestages zur HIVInfektionsgefährdung durch Blutprodukte, kommt man schnell zu dem Schluß, daß nicht mehr untersucht, sondern dringend gehandelt werden muß. Ein Untersuchungsausschuß, der längst bekannte Tatsachen recherchieren soll, blockiert nur den dringenden politischen Entscheidungsbedarf.Den Anmerkungen von Dr. Fiedler zum oben erwähnten Bericht des Gesundheitsministers entnehme ich, daß der Bundesregierung erstens die Bedenken der Wissenschaft gegen die Verwendung kommerziellen Plasmas von bezahlten Spendern, besonders ausländischer Herkunft, zur Herstellung von Blutgerinnungsfaktor-Konzentraten rechtzeitig vor Ausbruch der HIV-Pandemie bekannt waren; daß die Bundesregierung zweitens gleichwohl nichts unternommen hat, derartige Plasma-Importe einzuschränken, sondern im Gegenteil gegen die Hersteller inländischen, unentgeltlich gespendeten Plasmas seit
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Vera Wollenberger1981 restriktive Maßnahmen ergriffen hat; daß die Bundesregierung drittens auch nach Erkennbarwerden des Ausbruchs der HIV-Pandemie trotz mehrmaliger Warnung des Europarates die Maßnahmen zur Diskriminierung der Hersteller inländischen, unentgeltlich gespendeten Plasmas nicht gelockert hat.Als Folge dieser Politik der Bundesregierung gehört die Alt-BRD heute laut WHO zu den vier westeuropäischen Ländern mit der höchsten Aids-Infektionsrate unter den Empfängern von BlutgerinnungsfaktorKonzentraten.Bereits vor 20 Jahren wurde die Bundesregierung in einer Kleinen Anfrage im Deutschen Bundestag auf schwerwiegende seuchenhygienische Bedenken gegen den Import ausländischen Plasmas zur Herstellung gerinnungsaktiver Blutbestandteile hingewiesen. Die Bundesregierung trat diesen Bedenken damals mit der unhaltbaren Behauptung entgegen, daß bei den 1974 üblichen Verfahren möglicherweise vorhandene Hepatitis-Viren mit Sicherheit abgetötet werden würden. Die Folge war, daß Bluter in den siebziger Jahren durch verseuchtes Blut mit Hepatitis infiziert wurden. Bereits diese Hepatitis-Infektionen durch Gerinnungspräparate bei Hämophilen hätten zu einer längst überfälligen, durch das BGA vorgeschriebenen Virus-Inaktivierung führen müssen.Spätestens aber Anfang 1983 nach Veröffentlichung der Schnellinformation „Unbekannter Krankheitserreger als Ursache von tödlich verlaufenden erworbenen Immundefekten" im „Bundesgesundheitsblatt" vom Dezember 1982, wo männliche homosexuelle Einwanderer aus Haiti, Drogenabhängige und Empfänger von Faktor-8-Konzentraten als besonders Betroffene beschrieben wurden, hätte das BGA den Pharmafirmen Virusinaktivierungsverfahren für die Präparate vorschreiben und Risikospender von der Blut- und Plasmaspende ausschließen müssen.Aber nichts geschah. So konnte die Aids-Katastrophe ungestört ihren Lauf nehmen.Die Versäumnisse gehen aber noch weiter. Immer wieder wurde darauf hingewiesen, daß die Wahrscheinlichkeit der Übertragung von Virusinfektionen mit der Größe des verwendeten Plasmapools ansteigt. Das ist eine Erkenntnis, die jedem Laien unmittelbar einleuchtet, aber nicht den Beamten des Bundesgesundheitsamtes.Im Wortprotokoll zur 55. Sitzung des Gesundheitsausschusses und in den Stellungnahmen zum Bericht des Gesundheitsministeriums kann man nachlesen, daß von verantwortlicher Seite nach wie vor eine Verkleinerung der Poolgröße abgelehnt wird. Es wird dabei vom Verdünnungseffekt gesprochen, der im Falle eines größeren Pools wesentlich höher wäre. Daß mit ansteigender Poolgröße auch die Wahrscheinlichkeit steigt, daß infiziertes Blut in den Pool gelangt, wird glatt unterschlagen.Mit dem Verdünnungseffekt, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wurde übrigens in der DDR gern Politik gemacht. So wurde zum Beispiel hochbelastetes, mit Quecksilber kontaminiertes Getreide solange verschnitten, bis das Quecksilber nach Ansicht der Verantwortlichen soweit verdünnt war, daß dasGetreide für Nahrungszwecke verwendet werden konnte. Kinder, die Produkte aus diesem Getreide aßen, erkrankten in der Folge an Quecksilbervergiftung. Ich ziehe diese Parallele hier bewußt, um auf das Ausmaß der politischen Verantwortungslosigkeit aufmerksam zu machen.Die durch verseuchte Gerinnungspräparate verursachte Infektion von Hämophilen ist die bisher größte Arzneimittelkatastrophe dieses Jahrhunderts. Das muß nicht mehr untersucht werden, das steht bereits fest. Und die politisch Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Minister Seehofer hat die ersten Schritte in die richtige Richtung getan, aber weitere müssen unbedingt folgen.Meine Damen und Herren, ich habe vorhin gesagt, daß der HIV-Skandal nur die Spitze des Eisberges ist. Wenn wir heute schon einen Untersuchungsausschuß einsetzen, dann sollte er sich Fragen zuwenden, die bisher in der Öffentlichkeit noch nicht diskutiert worden sind. Zum Beispiel der Frage: Wie hoch sind in Blut- und Plasmapräparaten Umweltgifte vorhanden, wie weit sind diese Blut- und Plasmapräparate mit Umweltgiften verseucht?Besonders die kommerziellen Spender in der Dritten Welt leben in einer ärmlichen mit Pestiziden und anderen Giften hoch belasteten Umgebung. Viren kann man abtöten, aber Umweltgifte bleiben im Spenderblut. Es wird zwar jetzt endlich über den Ausstieg aus dem Blutimport nachgedacht — übrigens 20 Jahre zu spät —, aber damit ist das Problem nicht gelöst. Auch unser Blut ist hoch belastet.BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern deshalb mit allem Nachdruck eine Offenlegung der Daten über Umweltgifte im Spenderblut und danach natürlich die entsprechenden politischen Maßnahmen.Weiter sind dem BGA und dem aufsichtsführenden Bundesgesundheitsministerium in der Vergangenheit — neben den folgenschweren Versäumnissen bei der Bewertung der HIV-Infektionsgefährdung durch Blut und Blutprodukte — auch im Hinblick auf den Schutz der Bevölkerung vor gesundheitsschädlichen Stoffen in Produkten sowie aus Produktionsprozessen unsachgemäße, weil nicht am wissenschaftlichen Erkenntnisstand und am Prinzip des vorbeugenden Gesundheitsschutzes orientierte Bewertungen vorzuhalten.Genannt seien hier nur die Stichworte: Formaldehyd, Dioxine, Asbest, Holzschutzmittel. Eklatante Beispiele sind die gesundheitliche Bewertung von PVChaltigen Holzschutzmitteln sowie von Asbestzement. Denn in beiden Fällen besteht der konkrete Verdacht, daß die industriefreundlichen Bewertungen enger Zusammenarbeit und personellen Verflechtungen zwischen Industrie, Bundesgesundheitsministerium und Bundesgesundheitsamt sowie diversen Kommissionen zuzuschreiben sind.Im Hinblick auf Asbest kam der Bundesrechnungshof 1989 zu der Einschätzung, daß es im Bundesgesundheitsamt kaum ein Forschungsvorhaben zu Asbest gäbe, in das nicht langfristig Gelder der Asbestindustrie geflossen seien.
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15968 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Vera WollenbergerEine rückhaltlose, für die Öffentlichkeit und das Parlament nachvollziehbare Aufklärung der Verflechtung hat nicht stattgefunden. Das Bundesgesundheitsministerium hielt Informationen gezielt zurück und gab auf parlamentarische Anfragen und in der Fragestunde des Deutschen Bundestages ausweichende und zum Teil wahrheitswidrige Auskünfte.Die Glaubwürdigkeit des Bundesgesundheitsamtes bzw. seiner sechs eigenständigen Nachfolgeinstitute kann nur dann wiederhergestellt werden, wenn in der Vergangenheit umstrittene Entscheidungen des Bundesgesundheitsamtes konsequent überprüft werden. Eine derartige Überprüfung ist auch geboten, weil Empfehlungen und Richtwerte des BGA für den Gesetzgeber und die Rechtsprechung weitgehend normativen Charakter haben. Sie beeinflussen Entscheidungen für Sanierungsmaßnahmen, Produktionsweisen und Produktionszusammensetzungen sowie des Technologiestandards. Sie haben darüber hinaus für Unternehmen erhebliche Bedeutung, wenn in Produktionshaftungsverfahren auf Untersuchungsergebnisse des BGA Bezug genommen wird. Das geschieht in der Regel zu Lasten der Betroffenen.BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hatten einen Änderungsantrag für die Aussetzung dieses Untersuchungsausschusses vorbereitet. Da wir aber wissen, daß solche Änderungsanträge sowieso nur abgelehnt werden, möchte ich an dieser Stelle an die Kollegen der SPD appellieren, dafür zu sorgen, daß sich dieser Untersuchungsausschuß nicht nur mit der HIV-Infektionsgefährdung durch Blut und Blutprodukte befaßt, sondern auch mit der Gesundheitsgefährdung durch PCB-haltige Holzschutzmittel, mit der Gesundheitsgefährdung durch Abwitterung von Asbest und eventuell mit ähnlichen Skandalen. Wenn überhaupt ein Untersuchungsausschuß eingesetzt wird, ist dies nur dann sinnvoll, wenn dem ganzen Ausmaß des Skandals auf den Grund gegangen wird und nicht nur Schmalspuruntersuchungen betrieben werden.Vielen Dank.
Nun hat der Herr Bundesminister für Gesundheit, Horst Seehofer, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute nacht hat mir das Lagezentrum des Bundesinnenministeriums mit dem Betreff „Abwehr von Arzneimittelrisiken — Gefrorenes Frischplasma der Firma UB-Plasma — Labor Koblenz — Strafverfahren der Staatsanwaltschaft Koblenz ..." folgendes mitgeteilt:Auf der Grundlage der bislang geführten Ermittlungen ist der Verdacht gerechtfertigt, daß gefrorenes Frischplasma der Firma UB-Plasma nicht ausreichend auf Infektionsparameter getestet wurde. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß bislang ausgelieferte Plasmabeutel möglicherweise mit dem HI-Virus infiziert sind. Deshalb ist es dringend erforderlich, sofort die nachfolgenden Kunden der Firma UB-Plasma, die in 1993 beliefert wurden, dahin zu informieren, Beutel mit gefrorenem Frischplasma der UB-Plasma in Koblenznicht mehr zu einer Transfusion zuzulassen. Die akute Gefahrenlage gebietet die Sicherstellung der in Frage kommenden, noch vorhandenen gefrorenen Plasmabeutel auf der Grundlage des § 69 Abs. 1 des Arzneimittelgesetzes in Verbindung mit den jeweiligen Polizeigesetzen des betreffenden Landes. Anordnende Behörde ist das Gesundheitsministerium Rheinland-Pfalz in Mainz in Verbindung mit der Bezirksregierung Koblenz. Nach den sichergestellten Unterlagen kommen folgende Abnehmer in Betracht:.. .Es werden dann 54 Krankenhäuser und Firmen in derBundesrepublik Deutschland namentlich aufgeführt.Meine Damen und Herren, es handelt sich um die Firma, deren Name ich in der ersten öffentlichen Sitzung des Gesundheitsausschusses nach Bekanntwerden dieser Vorgänge am 8. Oktober 1993 als eine der zweifelhaften Firmen dem Ausschuß schriftlich vorgelegt habe. Das ist die Firma, über die das Bundesgesundheitsamt seit 1991 konkrete und auch zweifelhafte Informationen hatte und diese Informationen für sich behalten hat.Wer mich kennt, weiß, daß ich mich nicht leicht ärgere. Aber manche Kommentare und Veröffentlichungen der letzten Tage, dies alles aus den letzten Wochen sei Panikmache gewesen und hätte in erster Linie der Selbstdarstellung des Ministers gedient, haben bei mir, so bedauerlich diese Vorgänge sind, die blanke Wut ausgelöst, die blanke Wut.
Denn, meine Damen und Herren, hier geht es nicht um eine Selbstdarstellung, hier geht es nicht um ein Kopfwehmittel, sondern hier geht es um lebensgefährliche Dinge. Welche Kaltschnäuzigkeit muß sich bei manchen Menschen dahinter verbergen, wenn sie mir unterstellen, ich hätte dieses ganze Theater in den letzten Wochen nur deshalb angezettelt, damit ich mich in der Öffentlichkeit darstellen kann!Meine Damen und Herren, das einzige Leitmotiv meines Handelns war der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland und nichts anderes. Leider Gottes bekomme ich täglich immer mehr Informationen, die die Richtigkeit meines Handelns und die Richtigkeit des Handelns der Koalition belegen.Wenn Sie von der politischen Verantwortung gesprochen haben, Herr Kirschner: Die Überwachung der Blutspendedienste und der Firmen, die Blutprodukte herstellen, liegt bei den Ländern, in diesem Falle bei Rheinland-Pfalz. Ich bin sehr dafür, daß wir uns gemeinsam bemühen, diese Dinge nicht in eine parteipolitische Auseinandersetzung zu zerren.
Nur, Herr Kirschner: Wenn Sie ständig die Frage nach der politischen Verantwortung für manches, was ich in den letzten Tagen gesagt habe, stellen, wo ich nicht von irgend jemand ertappt wurde, sondern die Öffentlichkeit über Dinge informiert habe, die ich selbst recherchiert habe, und wenn Sie dies weiter zum Gegenstand einer parteipolitischen Auseinandersetzung machen wollen, was ich mir nicht wünsche, dann
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Bundesminister Horst Seehoferwird sich eines Tages auch die Frage stellen: Wer hat die politische Verantwortung in Rheinland-Pfalz für die Überwachung dieser Firma in den letzten Monaten und Jahren gehabt?
Meine Damen und Herren, in der Bundesrepublik Deutschland sind 60 000 Menschen mit dem Virus HIV infiziert,
10 000 Menschen sind an Aids erkrankt, die Hälfte von diesen 10 000 sind inzwischen verstorben. Es gehört zur Klarheit und Wahrheit, wenn wir der Öffentlichkeit sagen: HIV und Aids ist die heimtükkischste Infektionskrankheit unserer Zeit, und es bleibt bei den Grundlinien der Aidspolitik: Weil diese Krankheit nicht geheilt werden kann, weil wir bis zur Stunde keinen Impfstoff gegen diese Krankheit haben, sind Aufklärung und Prävention die wichtigsten Mittel, um eine Infektion zu vermeiden.Zweitens, meine Damen und Herren: HIV-Infektionen und Aidserkrankungen bringen unsägliches seelisches und persönliches Leid für die betroffenen Menschen. Deshalb muß es unser Bemühen auch in der Zukunft sein, den Betroffenen medizinische, soziale und psychologische Hilfe zu gewähren. Wir müssen weiter eine Politik betreiben, die nicht zu einer Isolation, zu einer Ausgrenzung der Betroffenen führt. Meine Damen und Herren, ich möchte es als Grundlinie der Aids-Politik auch für die Zukunft in dem Satz zusammenfassen: Wir müssen die Krankheit bekämpfen und dürfen nicht die Kranken bekämpf en.
Eine der Infektionsmöglichkeiten ist die Behandlung mit Blut und Blutpräparaten. Hier hat es im Laufe der 80er Jahre etwa 1 500 Infektionen von Blutern gegeben und rund 700 Infektionen von Menschen, die mit Blutprodukten behandelt wurden.Ich habe zu diesen Vorgängen schon kurz nach meinem Amtsantritt einen Bericht anfertigen lassen, der am 30. November 1992 dem Parlament zugeleitet wurde, einen Bericht, der sich insbesondere mit der Frage der Vermeidbarkeit der damaligen Vorgänge, Sicherheit der Blutprodukte, aber auch mit der Frage „Entschädigung" befaßt.Meine Damen und Herren, nach dieser medizinischen Katastrophe der 80er Jahre sollte es einen parteiübergreifenden Konsens geben, daß es die Verpflichtung und die Verantwortung aller Beteiligten ist, jeden Tag die höchste Aufmerksamkeit einzusetzen, daß sich in der Bundesrepublik Deutschland eine vergleichbare Katastrophe nicht wiederholen möge.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Thomae?
Ja, bitte.
Herr Minister, Sie haben eben den Fall UB Plasma von Koblenz dargestellt. Sie sagten, daß 54 Krankenhäuser beliefert wurden, sagten aber nicht, in welchem Umfang Blutersatzstoffe an diese Krankenhäuser geliefert wurden. Könnten Sie uns hier bitte nähere Auskunft darüber geben?
Herr Dr. Thomae, ich habe noch keine näheren Informationen, ich bekam gerade von Rheinland-Pfalz die Mitteilung, daß die Geschäftsräume versiegelt worden sind und die Bezirksregierung den Widerruf der Herstellungserlaubnis dieser Firma veranlassen wird. Ich habe zur Stunde jedoch keine näheren Informationen über den Umfang der weitergeleiteten Blutprodukte.Meine Damen und Herren, Leitmotiv meines Handelns ist es also, von allen Beteiligten jeden Tag höchste Aufmerksamkeit abzuverlangen, damit sich diese Katastrophe der 80er Jahre nicht wiederholt.Ich habe erste Zweifel an der Richtigkeit des Berichts, den ich dem Parlament vorgelegt habe, bekommen, als ich nach einer Veröffentlichung bezüglich dieser Firma Anfang September mit eigenen Recherchen intensiver Art begonnen habe. Leider Gottes ist die Angelegenheit in der Öffentlichkeit, auch in vielen Leitartikeln, zu wenig beurteilt worden. Man hat sich immer nur allein mit der Informationspolitik und diesen 373 Fällen beschäftigt, hat aber völlig übersehen, daß diese Liste dein Ausschuß am 8. Oktober vorgelegt wurde. Aus der Liste ergibt sich, daß diese Firma bereits im Jahre 1991 mit einem negativen Ergebnis getestet hat, was im Aids-Zentrum zu einem positiven Ergebnis geführt hat, und daß auf dieser Liste, einer Liste des Bundesgesundheitsamtes, der lapidare Satz steht: Soweit bekannt, ist aus dieser positiven Spende keine Transfusion gemacht worden.Ich habe den zuständigen Beamten des BGA gefragt: Worauf bezieht sich dieser Satz? Woher nehmen Sie Ihre Informationen? Er sagte, es handle sich um ein Telefonat. Die Frage, ob er das nicht festgehalten habe, beantwortete er mit Nein. Ich stellte die Frage: Was sagen Sie eigentlich in ein oder zwei Jahren, wenn das Telefonat bestritten wird?Dann hat sich der zweite Fall herausgestellt. Dabei handelt es sich um sechs Blutspenden, davon fünf positiv, drei zwischen der Firma und dem Aidszentrum unterschiedlich getestet. Auf Grund dieser Kenntnis hat das Bundesgesundheitsamt — dies ist eine Blutspende vom 9. Februar 1993 bis 8. April 1993 — den behandelnden Arzt des Blutspenders und den Seuchenreferenten des Landes Hessen — das ist das Sitzland des Spenders — informiert, hat aber nicht das Aufsichtsland der Firma informiert. Dies wäre bei einer Firma, die mehrfach auffällig wird, ja wohl notwendig gewesen. Man hat es für sich behalten.Wenige Tage später wird wieder ein Fall, in Frankfurt, bekannt, von dem das Bundesgesundheitsamt angeblich nichts wußte. Hier hat die gleiche Technik stattgefunden: Irgend jemand hat sich mit dem Krankenhaus in Verbindung gesetzt — heute weiß man nicht mehr, mit wem —, und die Bluttransfusion wurde verabreicht, obwohl bekannt war, daß das Blut verseucht war.
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15970 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Bundesminister Horst SeehoferMeine Damen und Herren, es ist doch nicht Aktionismus oder Panikmache, wenn man in solchen Fällen personelle und organisatorische Konsequenzen zieht. Solche Schlampereien kann man als Minister doch nicht weiterhin dulden, wenn man davon Kenntnis hat.
Dies ist eine Firma. Wir sind jetzt mit einer zweiten Firma beschäftigt, bei der hinsichtlich der positiven Charge 1990 in manchen Medien schon wieder Entwarnung gegeben wurde, weil man gesagt hat, das Ausgangsmaterial sei von 1984. Bei dieser Überprüfung stellte sich heraus, daß es mindestens eine zweite positive Charge aus den Jahren 1988 und 1989 gibt. Diese Information hat man im Bundesgesundheitsamt einfach abgelegt, weil gesagt wurde, daß zuvor der Rückruf aller Chargen veranlaßt wurde sowie das Ruhen der Zulassung für PPSB-Chargen. Man hätte Ermittlungen anstellen müssen, hätte rückverfolgen müssen, welche Patienten damit behandelt worden sind.Meine Damen und Herren, das aber wird in der Bundesrepublik Deutschland als Panikmache eingestuft. Ich hätte mal erleben wollen, was passiert wäre, wenn ich das für mich behalten hätte und die Dinge vielleicht in zwei bis drei Jahren an die Oberfläche gekommen wären.
Es spricht doch schon die Logik dagegen, daß ich die Einzelheiten der Liste der 373 Fälle kennen konnte. Diese wurden mir nach einer neunstündigen Klausurtagung in einem Termin gegen Mitternacht, zu einer ungewöhnlichen Zeit, offeriert.Auf meine Frage, in welcher Zeit durch welche Präparate welcher deutschen Firmen die Infektionen erfolgt seien, konnte man mir keine detaillierte Auskunft geben. Man sagte mir, daß die größte Zahl der Fälle wohl vor 1985 lag. Aber wie soll ich etwas gewußt haben, wenn die zuständigen Beamten, die diese Liste bearbeiten, zwei Tage brauchten, um diese Liste so zu spezifizieren, daß sie mir eine Auskunft geben konnten? Zunächst haben sie eine ganze Woche erbeten, um die Liste so zu erarbeiten, daß sie mir Auskunft geben können.Natürlich kenne ich auch die globalen Zahlen über die Bluterinfektionen in der Bundesrepublik Deutschland. Aber diese Liste von 373 Arzneimittelnebenwirkungen ist nicht kompatibel mit allen anderen Zahlen, die wir in der Bundesrepublik Deutschland kennen und auch ständig veröffentlicht haben.Warum ist diese Liste so wichtig? — Weil es die einzige Meldung ist, die wir in Deutschland haben, aus der man auf das angewandte Präparat, auf den Hersteller, auf die Therapie und auf die Person rückschließen kann. Es ist die einzige Liste, die uns die rechtliche Möglichkeit gibt, ein auffälliges Produkt vom Markt zurückzuziehen. Deshalb ist diese Liste der 373 Arzneimittelnebenwirkungen anders zu bewerten als ein Laborbericht über anonyme Meldungen, die man nicht zurückverfolgen kann, oder das Aidsfall-Register, das freiwillige und anonyme Meldungen der Ärzte über Aids-Erkrankte an die Arzneimittelkommission und damit das Bundesgesundheitsamt enthält. Dies hat eine ganz andere Qualität. Nur aus dieser Liste von 373 Arzneimittelnebenwirkungen können wir ernsthafte Rückschlüsse auf die Risikolage bei Blut und Blutprodukten ziehen. Deshalb habe ich soviel Wert darauf gelegt, daß diese Liste spezifiziert wird.Was in diesem Punkt viel zu wenig in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, ist, daß das Parlament im November 1992 falsch informiert worden ist.
Herr Kirschner, ist das nicht wichtig? Wir alle sind falsch informiert worden. Das können wir doch nicht durchgehen lassen. Dann könnte ja irgendwann einmal eine nachgeordnete Behörde mit dem Parlament oder einem Ministerium umspringen wie sie will.
Ich habe seit Anfang September ernsthafte Zweifel daran bekommen, ob all das, was mir immer an Informationen geliefert wurde, richtig ist. Ich habe mich nach sorgfältiger Überlegung und, soweit es um juristische Dinge ging, auch in enger Abstimmung mit dem Bundesjustizminister für diesen Weg entschieden. Ich habe zu Beginn meiner Ministerzeit einen Eid abgelegt und dabei geschworen, Schaden vom Volk abzuwenden. Auf Grund dieses Eides, aber auch auf Grund meiner tiefen eigenen Überzeugung habe ich seit Antritt meines Ministeramtes nach zwei Prämissen gehandelt:Erstens. Die Sicherheit von Arzneimittelprodukten — Blut gehört dazu — geht vor wirtschaftliche Interessen. Zweitens. Wir dürfen nicht erst dann handeln, wenn eine Gesundheitsgefährdung bereits sicher ist. Wir müssen schon dann handeln, wenn eine gesundheitliche Gefährdung der Bevölkerung wahrscheinlich ist.
Das verlange ich vom Bundesgesundheitsamt und von meinem eigenen Ministerium. Das war auch der Maßstab meines eigenen Handelns in den letzten Wochen.Ich kann doch nicht abwarten, bis wir eine katastrophale Bilanz zu ziehen haben, bis wir vielleicht in 2, 3 oder 5 Jahren wieder eine Katastrophenbilanz zu ziehen haben wie über die achtziger Jahre. Hier muß ich auch das Risiko eingehen, daß nicht alles, was mir mitgeteilt wird, letzten Endes erhärtet werden kann. Aber wenn der Anschein der Wahrscheinlichkeit dafür spricht und wenn es sich um seriöse Informanten handelt, kann man nach meiner tiefen Überzeugung nicht erst abwarten, bis sich das Risiko verifiziert hat. Ich muß wahrscheinliche Gesundheitsgefährdungen abwenden.
Sie von der Opposition bestreiten es Gott sei Dank nicht. Aber es gibt in der Bundesrepublik Deutschland genug Kommentatoren und Leitartikler, die mir in den letzten Tagen ganz andere Dinge unterstellt haben und einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollten,
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Bundesminister Horst Seehoferwelche Leitziele meiner Politik und der Politik der Koalition zugrundeliegen.Ein zweites Leitmotiv: Meine Damen und Herren, wir reden so viel über Politikverdrossenheit. Wir reden so viel über Intransparenz. Nun gehen einmal die Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. sowie ein Minister zum frühestmöglichen Zeitpunkt an die Öffentlichkeit, und dann ist das auch wieder nicht richtig. Man kann eine objektive Gefahr nicht durch Verschweigen eindämmen.
Da helfen nur die Offenheit und die Offensive. Ich habe mich entschlossen, endlich einmal diesen Kurs der Verniedlichung und des Verschweigens zu durchbrechen. Alle Beteiligten sagen mir immer: Wir haben doch telefoniert. Das erledigen wir schon; das lösen wir schon auf. Das wird im Bundesgesundheitsamt gesagt; das wird von Ärzten, Herstellern und Aufsichtsbehörden gesagt. Nur, meine Damen und Herren, hier geht es um tödliche Dinge. Das Verfahren kann man nicht mehr unter „streng geheim" ablaufen lassen. Das ist keine Privatangelegenheit irgendeines Verantwortlichen. Nein, es ist eine Angelegenheit, die die ganze Gesellschaft berührt und bei der Offenheit gewährleistet und Öffentlichkeit hergestellt werden muß.
Ich weiß, daß man damit auch billigend in Kauf nehmen muß, daß es zu Verunsicherung und auch zu Angst kommt. Nur, wir stellen das Vertrauen der Bevölkerung in die Funktionsfähigkeit von Behörden und der Politik nur dann wieder her, wenn wir mit diesen Dingen öffentlich und schonungslos umgehen. Die schlimmste und schrecklichste Antwort wäre, wenn man, aus welchen Gründen auch immer, die Dinge verniedlichen und verschweigen würde.Was das Bundesgesundheitsamt betrifft: Ich möchte ausdrücklich attestieren, daß in diesem Amt die weitaus größte Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter qualifiziert, motiviert und fleißig sind und ihre Pflichten ordnungsgemäß erfüllen.
Das kann uns nicht davon abhalten, dort, wo Fehler passieren und Mängel aufgedeckt werden, konsequent und schonungslos einzugreifen. Das Bundesgesundheitsamt hat darunter gelitten, daß es eine gewaltige, hierarchisch gegliederte Behörde war, ein schwerfälliger Tanker, bei dem Informationen schon innerhalb der Behörde nicht fließen konnten. Gerade die Informationen über jene Firma, von der ich sprach, sind nicht bis an die Spitze des Bundesgesundheitsamtes gelangt.Wenn man eine Hierarchie und eine Organisation durch Analyse als Ursache für einen Mangel herausgefunden hat, dann reicht es nicht aus, nur zu klagen; dann muß man die Ursachen beseitigen. Deshalb ist die Entscheidung, daß ich dem Parlament vorschlage, das Bundesgesundheitsamt als einheitliche Behörde aufzulösen, richtig. Dieser schwerfällige Tanker kann nicht so bleiben, wie er war.
Wir werden die sechs Institute, die bisher Bestandteil des Bundesgesundheitsamtes waren, ebenfalls reformieren und effizienter gestalten. Möglicherweise wird es danach weniger Institute geben. Der Vorwurf, man würde damit Einfluß auf die Wissenschaft nehmen wollen, liegt völlig daneben. Ich möchte, daß die Institute noch mehr Verantwortung bekommen und noch mehr Eigenverantwortlichkeit zeigen als in der Vergangenheit.
Ferner möchte ich, daß wir in den Instituten möglicherweise zwischen der Wissenschaft und der Bürokratie trennen,
daß die Wissenschaft völlig unabhängig von der Politik wirken kann und daß die Verwaltung die Erkenntnisse der Wissenschaft in die Praxis umsetzt.
— Es gibt keinen Maulkorb für die Wissenschaft und keine politische Einflußnahme, Herr Dr. Thomae, das ist völlig unbestritten.Nach meiner Lebenserfahrung kann eine kleinere Einheit wichtige Dinge wesentlich besser erfüllen als ein großer, unbeweglicher Tanker. Man sollte einer größeren Einheit nichts übertragen, was nicht eine kleinere genausogut erledigen kann.
Ich möchte heute noch einmal den folgenden Appell an die Öffentlichkeit richten. Wir leben in einem Rechtsstaat. Solange die vielen Vorwürfe, die in der Öffentlichkeit erhoben wurden, nicht belegt werden können — sie können bis zum heutigen Tage nicht belegt werden —, müssen und sollten wir von der Unschuldsvermutung bezüglich der Mitarbeiter sowohl im Ministerium wie im Bundesgesundheitsamt ausgehen. Ich stelle mich deshalb voll vor diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es ist eine Ungeheuerlichkeit, daß allgemein gehaltene Vorwürfe ausreichen, um Mitarbeiter und ein ganzes Amt mit dem Vorwurf der Interessenkollision und der Korruption zu verunglimpfen, ohne daß Roß und Reiter genannt werden. Ich stehe zu diesen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und lasse es nicht zu, schon aus menschlicher Fairneß, daß alle in einen Topf geworfen werden und mit Korruption und ähnlichen Verdächtigungen in Zusammenhang gebracht werden.
Es sollte umgekehrt daraus niemand den Schluß ziehen, daß wir irgendetwas vertuschen wollten. Es bleibt trotz dieser Erklärung dabei, daß wir schonungslos aufklären. Ich bitte heute das Parlament, neben der Vergangenheit meine eigene Person eben-
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15972 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Bundesminister Horst Seehoferfalls schonungslos in den Vorgang der Aufklärung miteinzubeziehen.
Meine Damen und Herren, ich frage: Was ist zu tun? Das Wichtigste ist, daß wir den Sicherheitsstandard bei der Behandlung mit Blut und Blutprodukten, den es in der Bundesrepublik Deutschland gibt, im täglichen Umgang einhalten, und zwar bei allen Beteiligten. Es nützen die schönsten Paragraphen und Richtlinien nichts, wenn sie in der Praxis nicht angewandt und eingehalten werden.
Deshalb ist dies die wichtigste Sofortmaßnahme. Das zeigt auch der Fall der Firma UB Plasma. Die Vorschriften für die Tests, für die Inaktivierung sind da, aber wenn eine Firma sie in der Praxis nicht einhält, dann nützen die schönsten Vorschriften nichts. Deshalb ist das Dringendste und Wichtigste die Einhaltung der Sicherheitsstandards. Das beginnt mit der Spenderauswahl, setzt sich fort beim HIV-Test bis hin zur Inaktivierung. Das ist die erste Aufgabe.Wenn die Sicherheitsstandards eingehalten werden, haben wir in Deutschland einen guten Sicherheitsstandard bei der Blutbehandlung. Es besteht kein Grund zur Panik. Wenn ich persönlich heute eine Bluttransfusion bräuchte, würde ich sie mir verabreichen lassen. Aber das setzt voraus, daß das, was wir haben, auch im Alltag umgesetzt wird.Meine Damen und Herren, so sehr mir Hysterie oder Angst vorgehalten werden: das Positive der Diskussion der letzten Wochen ist auch, daß man in allen Bereichen, von der Ärzteschaft bis hin zu den Krankenhäusern und insbesondere bei den Blutspende-diensten und auch bei den Ländern, plötzlich sorgfältiger über diese Dinge nachdenkt, als dies vielleicht viele Monate vorher der Fall war.Ich höre, daß die Bereitschaft zur Eigenblutspende massiv zunimmt. Die deutsche Ärzteschaft, die monatelang über die Dokumentationspflicht für Blutprodukte im Krankenhaus eine Diskussion mit uns geführt hat, ist jetzt sehr, sehr aufgeschlossen und sieht es als eine Standespflicht der Ärzte an, eine Behandlung mit Blut in den Krankenakten zu dokumentieren, damit man später zurückverfolgen kann, wer welche Blutprodukte erhalten hat.
Meine Damen und Herren, ich hatte letzten Freitag ein Gespräch mit den Gesundheitsbehörden der Länder und stelle fest, daß sich auch dort das Risikobewußtsein ganz erheblich nach oben bewegt hat. Man sollte diese positiven Momente der Entwicklung der letzten Wochen nicht übersehen. Dies ist alles unter der Überschrift „mehr Einhaltung der gegebenen Sicherheitsstandards " zu sehen.Ich lehne ganz bewußt ab und werde es auch in der Zukunft nicht mehr tun, das Risikopotential in Zahlen auszudrücken. Denn für einen Infizierten oder Aidskranken ist es ein relativ schwacher Trost, wenn er von der Politik die Botschaft erhält: Das Risiko liegt bei 1 : 1 Million. Ich nehme diese Zahlen nicht mehr in den Mund, denn wenn jemand mehrere Bluttranfusionen bekommt, verändert sich das Risikopotential dieser einzelnen Person schon ganz erheblich.
Die Analyse, daß wir einen guten Sicherheitsstandard haben, ist sicher richtig. Ich weigere mich aber ab heute, dies in Zahlen auszudrücken.Wir müssen außerdem Anstrengungen unternehmen, um diesen Sicherheitsstandard noch weiter zu verbessern. Was für mich nicht in Frage kommt, sind ein Zwangstest und eine namentliche Meldepflicht bei Aids. Das sage ich sehr, sehr deutlich. Herr Kirschner, Sie müßten noch einmal Ihre Rede nachlesen; möglicherweise haben Sie es im Unterbewußtsein gesagt. Sie kritisieren heute die Aussagekraft der Meldung von Arzneimittelnebenwirkungen.
Nach allem, was ich aus der zurückliegenden Aidsdiskussion kenne, war diese Frage, welche Klarheit durch Meldungen erzielt werden kann, eine gesellschaftspolitisch höchst umstrittene. Ich habe die Ergebnisse der Aids-Enquetekommission, die der Kollege Dr. Voigt geleitet hat, noch einmal nachgelesen. Danach haben Sie auch einen Teil dazu beigetragen, daß die Klarheit von Meldungen nicht so ist, wie wir sie uns heute wünschen würden, auch nicht bei den Arzneimittelnebenwirkungen.Eines geht nicht: In der Vergangenheit politisch initiativ geworden zu sein, daß die Meldungen und das, was mit den Meldungen mitgeteilt wird, möglichst restriktiv gehandhabt werden, und heute den politischen Vorwurf zu erheben, die Meldeergebnisse reichten nicht aus. Eine solche Doppelzüngigkeit lasse ich nicht zu.
Ich bin gegen namentliche Meldepflicht und gegen Zwangstests. Was wir aber überlegen müssen, ist, ob wir die Meldung von Arzneimittelrisiken — dazu gehören auch Blut und Blutprodukte — nicht umfassender gestalten müssen, als sie jetzt gesetzlich geregelt sind.
Wir müssen sie umfassender regeln. Denn, meine Damen und Herren, das ist die einzige Möglichkeit, ein bedenkliches Produkt, das auf dem Markt ist, wieder von diesem Markt wegzunehmen. Deshalb bitte ich, daß wir im Parlament möglichst rasch das wieder ändern, was in den 80er Jahren so verwässert wurde und 1990 in Kraft getreten ist, daß wir kaum noch einen umfassenden Überblick über die Risiken und Nebenwirkungen von Blut und Blutprodukten haben.Das ist nicht damit zu verwechseln — wie es mir ständig unterstellt wird —, daß ich für eine namentliche Meldepflicht und für Zwangstests in der Bundesrepublik Deutschland eintrete.Zweite Maßnahme: Wir müssen die Bereitschaft zur Eigenblutversorgung in der Bevölkerung erhöhen.
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Bundesminister Horst SeehoferWir müssen — das wird noch einige Jahre dauern — dahin kommen, daß wir uns in der Bundesrepublik Deutschland bei allen Blutprodukten, auch beim Plasma, selbst versorgen können.Wir sind — und da hat das Bundesgesundheitsamt gut gehandelt — wahrscheinlich Ende dieses Jahres oder Anfang des nächsten Jahres in der Lage, für nicht inaktivierbares Blut die Quarantänelagerung anzuordnen. Das würde bedeuten, daß Blut, das nicht inaktivierbar ist, einige Monate gelagert, der Spender ein zweites Mal, um das diagnostische Fenster auszuschließen, getestet und erst dann das Blut verwendet wird.
Aber für diesen Vorschlag gilt das gleiche wie für die anderen Vorschläge. Ich habe Verständnis dafür, wenn in der Öffentlichkeit gesagt wird: Warum ist das bisher noch nicht gemacht worden? Meine Damen und Herren, jeder dieser Vorschläge ist mit einem nicht unbeachtlichen Gegenargument versehen.Ich möchte Ihnen das am Beispiel der Quarantänelagerung verdeutlichen: Wenn wir bei Blut und Blutprodukten insgesamt zu einer Quarantänelagerung kommen würden, würde dies bedeuten, daß wir jeden Spender ein zweites Mal testen müssen. Das heißt, er muß ein zweites Mal kommen. Das Deutsche Rote Kreuz sagte mir zuletzt am 28. September dieses Jahres: Wenn Sie das für Blutprodukte insgesamt machen, müssen wir 60 % der Blutspenden wegwerfen, weil der Blutspender ein zweites Mal nicht kommt. Das bedeutet, daß noch mehr Blut in die Bundesrepublik Deutschland importiert werden muß und damit tendenziell das Risiko erhöht wird.
Deshalb ist es nicht einfach mit Schwarzweißmalerei getan, sondern man muß jeden einzelnen Vorschlag sorgfältig prüfen. Ich möchte vermuten, daß wir zumindest bei den Blutprodukten und Blutbestandteilen, die nicht inaktivierbar sind, möglicherweise Anfang des nächsten Jahres zu einer Quarantänelagerung kommen können. Denn im Zweifel sollte die maximale Sicherheit angestrebt werden.Wir sollten überlegen, ob wir die Ringversuche, die jetzt schon in der Praxis durchgeführt werden, daß Labors ihre Testergebnisse untereinander austauschen und abgleichen, weil es bei diesen Tests auch sehr stark auf den Erkenntnisstand und den Erfahrungswert ankommt, auch gesetzlich flächendeckend für Deutschland vorschreiben.Wir sollten überlegen, ob es Sinn macht, einen HIV-Doppeltest mit unterschiedlichem Testaufbau durchführen zu lassen.Das sind alles Überlegungen, die vielleicht noch zu einer Erhöhung des Sicherheitsstandards führen können. Ich betone noch einmal: Wir haben auch jetzt schon einen guten Sicherheitsstandard unter der Bedingung, daß er im Alltag eingehalten wird. Darauf kommt es an.Es ist nicht allein mit Kontrolle und Überwachung getan. Es ist auch nicht allein damit getan, daß man sagt: Alles muß in staatlicher Hand sein. Wenn es in staatlicher Hand eine optimale Sicherheit gäbe, hätte der Skandal in Frankreich, wo alles in staatlicher Hand war, nicht passieren dürfen.
Das ist jetzt zu tun. Daneben brauchen wir die Hilfe für die in den 80er Jahren infizierten Bluter und mit Blutbehandlungen Infizierten.Nun zu den 10 Millionen DM und dem Streit über die Entschädigung. Es geht um Menschen mit einer begrenzten Lebenserwartung. Deshalb trete ich dafür ein, daß wir nicht jede letzte juristische Klärung abwarten, auch nicht den Untersuchungsausschuß,
sondern unabhängig von einer Rechtsverpflichtung oder Verschuldensfrage eine humanitäre Soforthilfe in einer Größenordnung von mindestens 10 Millionen DM gewähren. Das ist der Gedanke. Das nimmt die strukturelle Hilfe am Ende des Untersuchungsausschusses oder des Gesundheitsausschusses nicht vorweg. Wenn man in den beiden Ausschüssen zu dem Ergebnis kommt, es gibt eine Entschädigungsverpflichtung für die Bundesrepublik Deutschland oder für andere, die umfassender angelegt sein muß, dann spricht doch dies nicht gegen eine Soforthilfe, die möglichst noch in diesem Jahr entschieden werden muß.
Herr Minister, ich möchte Sie daran erinnern, daß es Zeiten gegeben hat, wo Sie sich gelegentlich geärgert haben, wenn ein Minister die Redezeit auf Kosten der Fraktion überschritten hat.
Im Interesse der Kolleginnen und Kollegen, die noch reden wollen, möchte ich Sie daran erinnern.
Hochverehrter Herr Präsident, ich bin gleich am Schluß meiner Rede.
Meine Damen und Herren, so ist das zu verstehen. Wenn wir in den nächsten Wochen — ich denke, wir müssen im November hier zu einer endgültigen Entscheidung kommen — vielleicht doch dazu kommen, daß wir die eine oder andere Million auf diese 10 Millionen zusätzlich bekommen, dann werde ich an der Spitze der Bewegung stehen, daß diese Soforthilfe auch umfassender ausgestaltet wird.
Ich bin froh, daß die Bundesländer ihre grundsätzliche Bereitschaft erklärt haben und daß die Hersteller, die Blutprodukte herstellen, ihre Bereitschaft erklärt haben. Mich bedrückt es sehr, daß sich die deutsche Versicherungswirtschaft ablehnend geäußert hat, sich nicht beteiligen will und wegen zwei
Bundesminister Horst Seehofer
oder drei Millionen DM eine humanitäre Hilfe versagt.
Ich bin auch nicht ganz glücklich darüber, daß sich das Deutsche Rote Kreuz bisher noch nicht eindeutig erklären konnte. Aber ich werde nicht von dem Weg ablassen: Soforthilfe ja; Überlegen der strukturellen Hilfe im Laufe der nächsten Monate.
Meine Damen und Herren, wir sind aus moralischen Gründen verpflichtet, diesen betroffenen Menschen jetzt nicht mit Paragraphen, sondern mit einer wirksamen Hilfe zu begegnen.
Ich habe diesen Weg nach reiflicher Überlegung beschritten: Hilfe für Betroffene, Aufklärung in der Sache und Sicherheit bei der Blutbehandlung. Ich bin bei keiner Angelegenheit ertappt worden, sondern habe von mir aus die Recherchen angestellt und bin in die Öffentlichkeit gegangen.
Ich habe auch von mir aus von der Fraktion die Untersuchung durch einen Untersuchungsausschuß erbeten, und ich bin der Koalition dankbar, daß sie diesen Weg mit beschritten hat.
Ich weiß, daß dieser Weg auch für mich persönlich mit einem politischen Risiko verbunden ist. Aber, meine Damen und Herren, ich habe schon bei der Gesundheitsstrukturreform auch unter Einsetzen meiner politischen Existenz für einen aus meiner Sicht richtigen Weg gekämpft. Ich bin entschlossen, auch in den nächsten Monaten ohne Vertuscherei mit aller Kraft an der Aufklärung dieser Sache und an der Hilfe für die Betroffenen zu arbeiten.
Das ist auch mit einem politischen Risiko für mich verbunden. Aber ich könnte es mit meinem Verständnis von Verantwortung nicht vereinbaren, wenn ich zur Vermeidung eines Risikos für mich persönlich meiner Verantwortung nicht gerecht würde. Es soll jeder nach einigen Monaten der Untersuchung bei Vorliegen des endgültigen Ergebnisses dann über mein Verhalten entscheiden, ob es richtig oder falsch war. Ich bin fest entschlossen, auf diesem Wege die Dinge zu einer Lösung zu führen.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Norbert Eimer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mich zu Wort gemeldet zu dieser Kurzintervention nach dem Beitrag von Herrn Kirschner, in dem er dem Minister vorwarf, daß die Zahlen, die vorliegen, nicht zuverlässig sind. Das Faktum, daß die Zahlen nicht zuverlässig sind, das ist leider richtig, aber der Adressat, der Minister, ist falsch.
Nach meiner Kenntnis aus meiner Mitarbeit in der Enquete-Kommission - da hat mir der Herr Minister schon etwas vorweggenommen, das ich hier nur bestätigen kann — waren es tatsächlich die Mitglieder der SPD und die von der SPD benannten Sachverständigen, die sich vehement gegen eine verläßliche Erfassung gewehrt haben. Selbst gegen das sogenannte „unlinked-testing" gab es Widerstände. Ich erinnere mich: Als in Bayern entsprechende anonyme Tests vorgenommen wurden, gab es einen Sturm der Entrüstung in unserer Presse.
Ich meine also, daß es nicht richtig ist, hier Vorwürfe zu erheben, vor allem nicht gegen den Minister, sondern ich glaube, wir sollten das zum Anlaß nehmen, neu darüber nachzudenken, wie wir zu verläßlicheren, zu besseren Daten kommen, damit wir diese Katastrophe in Zukunft verhindern können und mehr wissen über die Ansteckungswege, mehr wissen über den Zustand der Durchseuchung unserer Bevölkerung.
Damit hier nicht etwa irgendwelche falschen Vorwürfe kommen: Es ging nie um eine namentliche Meldepflicht. Ich rede hier nur von anonymen Verfahren; es ging nicht um eine namentliche Meldepflicht. Wir sollten dies zum Anlaß nehmen, umzudenken und nach Methoden zu suchen, über die wir mehr wissen. Ich darf nur sagen: Wir wissen nicht einmal, wieviel Prozent durchseucht sind; das sind alles nur Schätzzahlen —
Herr Abgeordneter, ich mache Sie freundlich auf die Zeit aufmerksam.
— das ist mein letzter Satz —, weil wir im Grunde genommen von dem Bruch nur die Zahlen im Zähler kennen, aber nicht die im Nenner.
Vielen Dank.
Nunmehr hat das Wort der Abgeordnete Horst Schmidbauer .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Liste hat uns heute morgen sehr betroffen gemacht. Sie enthält 54 Krankenhäuser, und bei uns in den eigenen Reihen war natürlich die Sorge: Welche Krankenhäuser berühren unsere Wahlkreise? Welche Folgen können aus dem Ganzen für die Opfer entstehen?Das ist kein neuer Vorgang; denn die Frage UB Plasma war ja bereits in den letzten Wochen und Monaten im Gange. Die Frage, die sich an Sie, Herr Minister, stellt, ist, ob denn nicht durch eine rechtzeitige Anordnung der Quarantänelagerung und durch einen rechtzeitigen Importstopp auch solche aktuellen Fälle hätten vermieden werden können.Es geht aktuell weiter; wir brauchen uns nicht mit der Vergangenheit alleine zu beschäftigen. Ich denke an den Vorgang hinsichtlich der Fixer als Dauerspender bei der Plasma-Sammelstation der Firma Immuno in Hamburg oder an die Vorgänge der letzten Tage, als bekannt wurde, daß bei der Firma Biotest eine zweite Charge verseucht war.
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Horst Schmidbauer
Man hört es zwischen den Zeilen schon tickern, daß es damit noch nicht zu Ende ist. Das heißt, wir erleben, daß scheibchenweise Woche für Woche neue Fakts, neue Tatbestände kommen, und jeder fragt sich: Was kommt als nächstes? Ich denke, alleine das würde rechtfertigen, daß wir einen klaren und eindeutigen Untersuchungsauftrag im Parlament beschließen. Alleine das würde rechtfertigen, daß wir eine aktive, wirkungsvolle Expertenkommission einsetzen.Mindestens 2 300 Opfer — der größte Arzneimittelskandal, den wir jemals hatten. Das sind 2 300 Menschenschicksale, die der Angehörigen nicht eingerechnet. Wenn das nicht ausreicht: ein Bermuda-Dreieck von BGA und Instituten, in denen Informationen über Verdachtsfälle ignoriert, vergessen oder als Privatbesitz behandelt wurden. Dafür wurde die Verpflichtung vergessen, rechtzeitig, vorbeugend und im Zweifelsfall zugunsten der Patientensicherheit zu handeln. Wenn das nicht reicht: ein Amt, in dem immer diejenigen Mitarbeiter, die warnend den Finger hoben, von den Vorgesetzten einen Maulkorb umgehängt bekamen, von den Vorgesetzten, die auf der anderen Seite willfährig nach außen und katzbukkelnd nach oben waren.Wenn das nicht reicht: Plasma-Hersteller und Plasma-Importeure, die Profitinteressen über den Patientenschutz setzten. Wenn das nicht reicht: ein Kreis von Behandelnden, denen die profitable Ausweitung ihres Therapiekonzepts wichtiger war als die Sicherheit der ihnen anvertrauten Patienten. Wenn das nicht ausreicht: Versicherungsunternehmen, die kassierten, aber die Opfer erpreßten und mit Almosen abspeisten, während der Staat tatenlos zusah. Wenn auch das noch nicht ausreicht: Blutspendeorganisationen, die an der Optimierung des Spendenaufkommens, aber nicht an der optimalen Sicherheit der Empfänger interessiert waren und sich selbst nicht scheuten, gegen die wahrlich seltenen Anordnungen des BGA gerichtlich vorzugehen. Wenn das noch nicht reicht: die Reihe von Gesundheitsministerinnen und -ministern von 1982 bis heute, von denen keiner zu seiner politischen Verantwortung für diese Arzneimittelkatastrophe steht.Jeder dieser einzelnen Punkte rechtfertigt schon einen klaren Untersuchungsauftrag. Alle acht Gründe zusammen umreißen aber die Dimension dieses Skandals.Dem „Rheinischen Merkur" vom 15. Oktober ist nur zuzustimmen, wenn er feststellt:Endlich dringen all die Menschen, die sich durch Blutpräparate mit HIV ansteckten, ins Wissen und Bewußtsein. Jetzt geht die lang vertuschte Wahrheit vielen unter die Haut, subkutan wie eine Injektion.Jetzt also erfährt die Öffentlichkeit endlich, was man von leitenden Beamten im Bundesgesundheitsministerium und im BGA zu halten hat, auf deren Urteil und deren Informationen sich der Minister und seine Amtsvorgänger verlassen haben, mit denen man bis vor kurzem engen Schulterschluß gezeigt hat. Jetzt muß mit einem klaren Untersuchungsauftrag deshalb das geleistet werden, was über Jahre versäumt worden ist. Jetzt muß geleistet werden, was ein verantwortungsbewußter Gesundheitsminister längst hätte in Angriff nehmen müssen. Jetzt muß festgestellt werden, wer für diese Katastrophe veantwortlich ist. Jetzt müssen die Beweise für den Sumpf aus Fehlern, Versäumnissen, Fahrlässigkeiten und Verantwortungslosigkeit erhoben werden, der sich einer entsetzten und wütenden Öffentlichkeit offenbart.Wie tief ist das schwarze Loch noch, das wir bis in den letzten Winkel ausleuchten müssen? Die schon jetzt bekanntgewordenen Fakten lassen auf eine französische Dimension dieses Skandals schließen. Die Untersuchung wird hier tiefer graben und durch Beweiserhebung sichtbar machen, daß es nicht nur eine Produkthaftung, sondern auf Grund von Amtspflichtsverletzungen auch eine Staatshaftung geben wird.
Herr Abgeordneter Schmidbauer, der Abgeordnete Dr. Krause möchte gerne von Ihnen eine Frage beantwortet haben. Sind Sie überhaupt bereit, das zu tun?
Ich bin bereit, ja.
Herr Kollege, stimmen Sie mit mir überein, daß der gegenwärtige Gesundheitsminister für die Zeiten seiner Vorgänger nicht verantwortlich ist, und — zweitens — wie soll nach Ihrer Ansicht die politische Verantwortung von Ministern aussehen, die nicht mehr in ihrem früheren Amt tätig sind, aber an anderen herausragenden Stellen weiterhin politische Verantwortung tragen?
Lieber Herr Kollege, die Frage der politischen Verantwortung muß zunächst von jedem einzelnen Minister und jedem sonstigen Zuständigen beantwortet werden. Sie haben in Ihren eigenen Reihen Vorbilder, wie politische Verantwortung im einzelnen bewertet wird. Hier gibt es sehr unterschiedliche Dimensionen.
— Entschuldigung. Ich weiß nur, daß er in euren Reihen sitzt.
— Ich habe ihn in euren Reihen gesehen. Ich bitte um Entschuldigung.In der Zwischenzeit schnappt die Verjährungsfalle zu. Denn die Opfer müssen spätestens drei Jahre, nachdem sie nicht nur über den Schaden, sondern auch über einen möglichen Schädiger informiert sind, z. B. den Staat, ihre Ansprüche anmelden, wenn sie nicht verjähren sollen. So schreibt es das Bürgerliche Gesetzbuch vor. Diese Frist — so die Mehrheit der juristischen Experten - läuft im Dezember aus. Das heißt, selbst wenn die Beweiserhebung in einer beschleunigten Untersuchung läuft, kommt sie zu spät. Sie selbst, Herr Minister, haben deshalb in der Öffentlichkeit wiederholt erklärt, daß Sie für eine
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Horst Schmidbauer
schonungslose, offene Aufklärung sind und daß, was die Rechtsansprüche der Betroffenen angeht, keine Benachteiligung entstehen darf.Deshalb appelliere ich an Sie: Wenn Sie diesen Kernsatz weiterhin vertreten wollen, dann sollten Sie nicht nur aufklären, sondern den Betroffenen auch die Chance geben, daß sie ihre Rechtsansprüche weiterhin aufrechterhalten können. Das bedeutet, daß ein eindeutiges Signal kommen muß: Ihr Verzicht auf die Einrede der Verjährung.Nehmen Sie etwas von dem Zeitdruck, unter dem wir in der Frage der Entschädigung ohnehin stehen! Es ist Handeln in zweifacher Hinsicht gefragt: erstens im Sinne eines klaren Untersuchungsauftrages und einer Beweiserhebung in öffentlicher Verhandung, zweitens im Sinne des sofortigen Handelns, damit die richtigen Lehren aus dem Skandal gezogen werden. Dazu haben wir, die SPD, im Juli einen umfassenden Antrag eingebracht. Darin sind unsere Ziele als Konsequenz aus der Katastrophe formuliert. Sie heißen: helfen, lernen, handeln. Er sieht vor allem die Schaffung eines Hilfsfonds nach dem Vorbild der Contergan-Stiftung vor. Dazu brauchen wir keine Untersuchung. Dazu brauchen wir politisches Handeln, und zwar sofort.Wir sehen eine monatliche Rente von bis zu 2 000 DM oder wahlweise eine Kapitalisierung in Höhe von etwa 400 000 DM vor, und zwar für alle durch Blutprodukte HIV-Infizierte. Dazu brauchen wir jetzt allein in diesem Rahmen 60 Millionen DM. Wir sagen, das Einstiegsmodell des Ministers mit seiner Sterbeprämie — wie es die Betroffenen bezeichnen — lehnen wir ab.Aber ich denke, der Schaden hat auch noch andere Dimensionen. Die Opfer und ihre Probleme habe ich aufgezeigt, weil sie auch sichtbar machen, daß sie natürlich die letzten Hoffnungen auf das Parlament setzen, damit es ihnen nicht so geht, wie den 400 bereits Verstorbenen, sondern damit sie die Entschädigung noch erleben.Aber zum zweiten sind auch die Krankenkassen betroffen, die sich im übrigen ebenfalls mit einem Taschengeld abspeisen ließen. Die Beitragszahler werden jetzt dafür zur Kasse gebeten.Drittens vergessen wir nicht den Schaden, den eine weltweit anerkannte deutsche Pharmaindustrie in ihrer Gesamtheit für das unverantwortliche Verhalten einiger schwarzer Schafe hinnehmen muß.Viertens die immateriellen Schäden, die in ihrer Wirkung kaum abschätzbar sind. Es wird Jahre dauern, bis der Vertrauensverlust der Bevölkerung in unsere Gesundheitsbehörden wettgemacht werden kann.Fünftens und letztens trifft der Skandal uns alle, die Politik insgesamt, ins Mark, oder, wie es der F.D.P.-Bürgermeister von Fulda am 13. Oktober 1993 bei den letzten zwei bekanntgewordenen HIV-Infektionen, die UB-Plasma betrafen, bitter kommentierte: Die Verantwortung trägt das System. Es ist höchste Zeit, daß wir uns dieser Verantwortung stellen.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Wolfgang Zöller das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei all unseren Diskussionen sollten wir eines nicht vergessen: Es geht primär um die Menschen, die unschuldig und ahnungslos infiziert wurden und denen so schnell wie möglich geholfen werden muß. Den Betroffenen ist eher geholfen, wenn wir ihnen 10 Millionen DM als ersten Schritt gewähren, als wenn wir über 60 Millionen DM diskutieren.
Zum anderen geht es um die wichtige Aufgabe, den hohen Sicherheitsstandard von Blut und Blutprodukten zu gewährleisten und nach Möglichkeit weiter zu verbessern. Ich glaube, in dieser Einschätzung sind wir alle einer Meinung.Um so mehr bedauere ich die unterschiedlichsten Veröffentlichungen in jüngster Zeit. Die Verunsicherung der Bevölkerung ist kaum zu überbieten. Dem Minister wirft man auf der einen Seite Panikmache vor, auf der anderen Seite verschweigt und vertuscht er. Wer die Ausführungen des Ministers jedoch sachlich prüft, wird feststellen, daß er den Informationsfluß kritisierte und seine Äußerungen keinen Anlaß zur Panikmache boten. Es müssen sich vielmehr die Personen, die von Tausenden Neuinfizierten sprachen, von Tod auf Rezept, geplanten und organisierten Staatsverbrechen, Regierungskriminalität und ähnlichem diese Frage stellen lassen. Solche verbalen Ungeheuerlichkeiten kann man auch nicht mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung begründen.
Ich fordere dazu auf, endlich Roß und Reiter zu nennen.Man darf natürlich auch nicht die Wirkung unterschätzen, daß durch solche pauschalen Vorverurteilungen der überwiegende Teil der Mitarbeiter der Institute in einem Maße diffamiert wird, das unerträglich ist. Die gleichen Leute, die durch gezielte Veröffentlichungen den Minister indirekt zum Rücktritt auffordern, schreiben dann scheinheilige Briefe mit der Aufforderung: Herr Minister, bleiben Sie standhaft! — Will man einen für bestimmte Interessengruppen unliebsamen Minister loswerden?Meine sehr geehrten Damen und Herren, genausowenig Verständnis habe ich allerdings auch für jene Personen, die jetzt täglich neue Informationen veröffentlichen, die sie zum Teil schon jahrelang kennen und zurückhalten.
Ist es das schlechte Gewissen oder haben sie Angst, weil jetzt ein Minister endlich durchgreift und aufräumt? Es wird höchste Zeit, daß alle Informationen auf den Tisch kommen, und eine Versachlichung der Diskussion
ist notwendig, im wahrsten Sinne des Wortes.
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Wolfgang ZöllerIch glaube, es gibt keinen Grund, die AIDS-Politik grundlegend zu verändern. Das Risiko der Verseuchung mit aidsinfizierten Blutpräparaten ist Gott sei Dank nach wie vor gering; ganz auszuschließen ist es leider nicht. Aus diesem Grunde sollten wir unsere ganze Kraft dafür verwenden, dieses Risiko so gering wie möglich zu halten und nach Möglichkeit ganz auszuschließen.
Lassen Sie mich noch ein Thema ansprechen, das in den letzten Tagen immer wieder verstärkt diskutiert wurde — die Meldepflicht. Es wurde zum Teil der Eindruck erweckt, als könnte man damit das Problem lösen. Hier muß man sich doch erst die Frage stellen: Welches Ziel will ich mit der Meldepflicht erreichen?Man will Kenntnisse umsetzen, um die richtigen Präventionsmaßnahmen ergreifen zu können. Die Kenntnisse werden um so aussagekräftiger, je mehr Angaben ich erhalte. Die namentliche Meldepflicht halte ich nicht für den richtigen Weg.
Gespräche mit Aidsberatungsstellen haben mich überzeugt, daß zur Ermittlung epidemiologischer Daten sich die namentliche Meldepflicht im Vergleich zu anderen Instrumentarien als eher untauglich erweist.
Alle bisherigen meldepflichtigen Erkrankungen zeigen, daß namentliche Meldepflicht die Datenlage nicht vervollständigt hat. Zwar scheint niemand genau die Zahlen zu kennen, aber bei Seuchen wird über eine Dunkelziffer zwischen 15 und 40 und mehr Prozent gesprochen, obwohl das Unterlassen der Meldung als Ordnungswidrigkeit geahndet werden kann.Es ist auf Grund der bei HIV und Aids nach wie vor nicht auszuschließenden Stigmatisierung der Betroffenen davon auszugehen, daß die Meldefreudigkeit hier auch nicht größer sein wird. Eine Meldepflicht kann demzufolge keine neuen Erkenntnisse bringen.Für viel wichtiger und sinnvoller hielte ich es daher, wenn wir für mehr Meldeklarheit sorgten. Um nur ein Beispiel zu nennen: Für die Rückverfolgung von Blutzubereitungen ist es unbedingt erforderlich, daß endlich die Chargennummern in die Krankenblätter der Patienten eingetragen werden. Darüber hinaus soll eine zentral geführte, EDV-gestützte Zuordnung von Präparat, Chargennummer und exponierten Patienten erforderlich sein, um eine Identifizierung mit vertretbarem Aufwand nachvollziehen zu können.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ein Meldesystem, das mir nur sagt, wieviele Personen infiziert sind, hilft mir recht wenig, wenn es darum geht, Ursachen zu erforschen und Gegenmaßnahmen einzuleiten.
Ein weiterer Beitrag zur Verminderung des Risikos ist auch die Auswahl der Blutspender. Den Fragebogen beim Blutspenden halte ich für verbesserungswürdig. Wenn man das Ziel, Risikogruppen auszuschließen, erreichen will, muß man bei der Befragung zu Risikokontakten die Fragen wesentlich klarer herausarbeiten. Ebenso muß auch mit dem Aufzeigen der Auswirkungen von falschen Angaben das Problembewußtsein beim Spender wesentlich gestärkt werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zum Schluß feststellen: Wer den Betroffenen schnell und unbürokratisch helfen will, wer die Sicherheit von Blutprodukten verbessern will und wer die Irritation der letzten Zeit schnell aufklären will, muß eigentlich dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zustimmen. Ich bitte die Kollegen von der SPD recht herzlich, auch hier mit an einem Strang zu ziehen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Gudrun Schaich-Walch.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben ein riesengroßes Problem. Wir haben es mit Menschen zu tun, die zum Arzt gegangen sind, die von seiten der Medizin Hilfe erwartet haben, die dort aber oft größeren Schaden erlitten haben, als sie vorher hatten, und die trotz allem weiterhin zu diesen Ärzten gehen müssen.Gerade diese Situation, glaube ich, setzt voraus und macht es notwendig, daß wir sehr verantwortungsvoll und verantwortungsbewußt mit allen Informationen umgehen müssen.Ich bin Herrn Zöller sehr dankbar dafür, daß er klar gesagt hat, daß wir den Menschen auch sagen müssen: Es gibt ein Risiko, es gab immer ein Risiko; wir wußten immer, daß es ein Risiko gibt, allein auf Grund des Ausgangsmaterials, das wir in diesem Bereich benutzen; wir werden alles tun, um dieses Risiko klein zu halten. Dies deutlich zu machen ist, glaube ich, in der Berichterstattung — dies richtet sich auch an Sie, Herr Minister — zumindest am Anfang ein bißchen vernachlässigt worden.Deshalb ist die Verwirrung nach wie vor groß, zu welchen Zeiten nach welchem Stand medizinischen Wissens wer wovon letztlich Kenntnisse hatte. Da es sich dabei um Vorfälle innerhalb der dem Bundesgesundheitsamt angegliederten Institute handelt, gibt es — gerade wegen der vielfältigen Verflechtungen — nach unserer Überzeugung eben nur den einen Weg, eine unabhängige Expertenkommission einzusetzen. Nur so ist unserer Meinung nach gewährleistet, daß unvoreingenommen und ohne Angst vor möglichen politischen Konsequenzen eine Recherche der Vorkommnisse wirklich möglich ist.Darauf und auf nichts anderes zielt unser Antrag ab. Wir fordern die kompromißlose Offenlegung der Entscheidungsgrundlagen und Entscheidungsstrukturen des Bundesgesundheitsamts sowie die Darlegung der getroffenen Maßnahmen. Nur wenn man auf
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15978 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Gudrun Schaich-Walchdiesem Weg konzentriert auch wirklich ermittelt und Fragen stellt, sind wir davor gefeit, in der Zukunft weitere Fehler zu machen.Meiner Meinung nach ist aber auch die Frage entscheidend, welche Maßnahmen die Bundesregierung getroffen hat, um die Unabhängigkeit und Arbeitsfähigkeit des BGA zu erhalten und dafür Sorge zu tragen, daß das BGA eine Führungscharge hat, die den Anforderungen des Verbraucherschutzes, der Politikberatung und auch der Aufklärung und Sicherheit im Arzneimittelbereich gerecht wird, und in welcher Form diesem Auftrag die verschiedenen Bundesgesundheitsminister bei der Personalausstattung, Personalführung und Personalauswahl nachgekommen sind.Wir befürchten, daß die Unabhängigkeit, die notwendig ist, um in diesen Fragen auch der Industrie die Stirn zu bieten, beim BGA nicht immer gegeben war und im Gegenteil das BGA vermutlich durch Einflußnahme von Politik und auch von seiten der Industrie in eine ausgesprochene Problemlage gekommen ist. Seit 1985 sind diese Probleme bekannt. Seit 1985 wurde unserer Meinung nach aber nicht mit dem nötigen Nachdruck für Änderungen gesorgt. Es ist auch völlig unstrittig, daß die Strukturen des BGA neu überdacht werden müssen. Aber wir sind nicht der Meinung, daß ein Bundesgesundheitsamt überflüssig ist. Im Gegenteil, eine unabhängige Behörde, die den Verbraucherschutz wirklich ernst meint und Risikoabschätzungen trifft, halten wir nach wie vor für unabdingbar und notwendig. Die Aufgabe von Politik wird es sein, eine solche Behörde arbeitsfähig zu gestalten.Neben der Frage, wie das Bundesministerium für Gesundheit und das Bundesgesundheitsamt gearbeitet haben, ist unserer Meinung aber auch zu klären, warum die Meldepflicht pharmazeutischer Unternehmen nach § 29 Abs. 1 des Arzneimittelgesetzes denn nicht wieder dahin gehend geändert wurde, daß jeder Einzelfall im Verdachtsfall sofort zu melden ist. Wir haben eine Diskussion um die Problematik der Gefährdung des Ausgangsmaterials durch Infektionen doch bereits seit 1985. Es war meiner Meinung nach völlig kontraproduktiv, dies im Jahr 1990 zu verändern. Ich frage mich ganz ernsthaft, warum wir im Gesundheitsausschuß noch nicht die Debatte geführt haben, dies wieder zurückzudrehen. Spätestens die Diskussion in Frankreich hätte uns und auch die politische Führung in diesem Lande in dieser Frage sehr viel sensibler machen müssen.Ich bin der festen Überzeugung, daß wir auch über andere Dinge, die versäumt worden sind, diskutieren müssen. Das heißt, wir brauchen eine Ausweitung der Pflicht der Ärzteschaft zu melden. Man sollte die Meldepflicht nicht auf die Industrie eingrenzen. Die Ärzteschaft ist in dieser Frage strenger in die Pflicht zu nehmen, als es der Fall ist. Es sind Fragen zu klären und daraus Konsequenzen für die Arbeit des Untersuchungsausschusses zu ziehen. Da habe ich ein Problem mit dem Antrag der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion. Diese Fragen der Klärung, warum, wieso, weshalb, warum manche Dinge so lange, Jahre gebraucht haben, werden in Ihrem Antrag meiner Meinung nach nicht genügend berücksichtigt.
— Sie haben unsere bis jetzt noch nicht aufgenommen. Diese Fragen müssen geklärt werden. Wenn wir die Fragen geklärt und die Unsicherheit überwunden haben, dann gibt es für uns ein Stück Grundlage, zu sagen, daß wir in bestimmten Bereichen handeln können.Der nächste Punkt: Sie binden mit diesem Untersuchungsausschuß ganz wichtige Arbeitskräfte des Gesundheitsausschusses, lenken sie dorthin und lassen ihn arbeiten und arbeiten. Wir wissen von allen Untersuchungsausschüssen, wie quälend diese Arbeit ist und wie lange es dauert, bis irgendein Ergebnis erzielt wird. Das liegt nicht nur an uns und unserem guten Willen, das liegt auch an den Ressourcen, die wir zur Verfügung haben.Deshalb bin ich der Meinung: Dieser Ausschuß wäre sinnvoller beschäftigt, wenn wir uns vorrangig um Entschädigungsfragen kümmern würden. Wir müssen in den Bereichen, die schon jetzt gemeinsam — in den verschiedenen Redebeiträgen, auch in dem des Ministers — gesehen werden, handeln. Ich meine z. B. die Lagerung der Konserven, den Zweittest der Spender. Wir müssen darüber im Gesundheitsausschuß ganz konsequent diskutieren, diese Arbeit machen und dürfen uns in dieser Arbeit nicht noch dadurch behindern lassen, daß wir einen langwierigen, schwerfälligen Untersuchungsausschuß einsetzen, von dem wir ganz genau wissen, daß er viel Arbeitskraft bindet. In solchen Ausschüssen gibt es immer Interessenskollisionen. Diese Arbeit könnte eine unabhängige Kommission, meine ich nach wie vor, in hervorragender Art und Weise lösen.
Frau Abgeordnete, der Abgeordnete Hoffacker möchte Ihnen gerne eine Frage stellen, wenn Sie bereit sind, dieselbe zu beantworten.
Ja.
Bitte schön, Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort.
Frau Kollegin, ist Ihnen nicht bekannt, daß wir die Fragen der Entschädigung selbstverständlich parallel im Bundesgesundheitsausschuß behandeln können, während die haftungsrechtlichen Rückgriffe, wo Verschuldenstatbestände — genau wie Sie das wollen — aufzuklären sind, im Untersuchungsausschuß aufgeklärt werden? Darf ich Sie um Kenntnisnahme bitten, daß wir nicht gehindert sind, diese Fragen auch im Gesundheitsausschuß des Deutschen Bundestages zu behandeln?
Erstens halte ich vom Parallelarbeiten in der Regel nicht viel, weil ich sehe, wie ausgelastet die Ausschußmitglieder sind. Deshalb bin ich der festen Überzeugung, wir sollten diese
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Gudrun Schaich-Walchnotwendige Arbeitskraft nicht allein in diesem Untersuchungsausschuß bündeln. Ich sehe natürlich auch, daß man dort zu einem anderen Ergebnis kommen will als in unserem Ausschuß.Ich wollte aber nochmals unsere Gründe darlegen. Sie, Herr Dr. Hoffacker, haben vorhin in Ihrem Redebeitrag so getan, als wären wir letztendlich an einer Aufklärung nicht interessiert. Das ist, das muß ich Ihnen ganz klar sagen, nicht unser Anliegen gewesen.Ich bin Herrn Zöller sehr dankbar, daß er ebenso wie der Minister sehr deutlich gemacht hat, daß es eine Abkehr von der bisherigen Aidspolitik nicht geben wird. Ganz gegenläufig dazu war aber, muß ich sagen, der Redebeitrag eines anderen Kollegen.Infolgedessen möchte ich noch einmal an Sie alle appellieren. Wir haben drei verschiedene Meldeverfahren. Ich denke, es wird bei diesen Meldeverfahren bleiben müssen, weil wir einmal Nebenwirkungen gesondert aufnehmen müssen und die Nebenwirkungen natürlich in der Infektions- oder Erkrankungsliste ebenfalls erscheinen werden. Das läßt sich nicht vermeiden. Deshalb kann es nur darum gehen, das System zu verbessern.Ich muß folglich aber auch fragen, warum nicht, wie meine Kollegin sagte, in der Hilfe für die Betroffenen nicht sehr viel konsequenter gehandelt wurde. Ich frage mich auch ernsthaft, warum es noch keine Aufklärung der Bevölkerung mit Hilfe von Sachinformationen gegeben hat, daß die Gefährdung zwar da ist, daß sie aber unter Umständen geringer ist, als wenn man Hilfe verweigert.Warurn gibt es noch nicht das Angebot des kostenlosen anonymen Tests für diejenigen Menschen, die eine medizinische Behandlung über sich haben ergehen lassen müssen, bei der sie möglicherweise infiziert worden sind?
Es kann doch nicht sein, daß es nach wie vor Zufall bleibt, ob das jemand erfährt oder nicht.Darüber hinaus ist, glaube ich, auch mit der Ärzteschaft zu diskutieren, ob es nicht eine Beratungspflicht für Ärzte geben sollte, mit den Patienten ganz individuell über ihre Infektionswege, über eine Aufklärung zu reden, um dadurch dazu beizutragen, daß es die Ärzteschaft den Patienten nahebringt, daß sie einen Anspruch auf Hilfe haben und daß man diesem Anspruch auf Hilfe gerecht wird.Ich glaube, daß gerade bei Infektionen der Arzt am besten darüber aufklären kann, wie die Hilfe gestaltet ist, die an den jeweiligen Patienten transportiert werden könnte. Denn es muß uns klar sein: Es geht nicht nur um den Patienten, es geht dabei auch um Dritte.
Es ist mir eine große Freude, auf der Besuchertribüne eine Delegation der ungarischen Nationalversammlung, bzw. der deutsch-ungarischen Parlamentariergruppe zu begrüßen.
Ich tue das besonders gern, weil sich der Deutsche Bundestag nach wie vor in großer Dankbarkeit der Verhaltensweisen des ungarischen Parlaments und der ungarischen Regierung erinnert, als es darum ging, die Grenzen für unsere Landsleute aus der DDR zu öffnen.
Ich wünsche Ihnen einen angenehmen und erfolgreichen Besuch und hoffe, daß Sie mit guten Eindrükken zurück nach Budapest, nach Ungarn fahren.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Karl Hermann Haack .
Herr Präsident! Herr Minister! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als letzter Redner möchte ich auf einige Punkte der heutigen Debatte eingehen.Ich möchte versuchen, mich mit Herrn Hoffacker auseinanderzusetzen, weil ich denke, er hat die Position seiner Fraktion am besten beschrieben, und möchte das Zitat in Erinnerung rufen, das er zur Beschreibung dieses Problems gebracht hat: „Dem gilt es in kurzer Zeit gerecht zu werden." Der Minister hat erklärt, er werde alles daransetzen, diesem gerecht zu werden, und hat gesagt, es sei geboten, humanitäre Soforthilfe für die Bewältigung dieses Problems einzuleiten.Ich denke, wenn man solche Worte in die Welt setzt, sollte man sich mit dem auseinandersetzen, was Sie in Ihrem Antrag zur Einrichtung eines Untersuchungsausschusses geschrieben haben. Es sind drei Punkte: Der erste Punkt betrifft die Entschädigung. Der zweite Punkt betrifft die Frage, inwieweit solche Vorfälle zukünftig ausgeschlossen werden können. Der dritte Punkt ist der eigentliche Punkt, den wir sehen, nämlich wer für was verantwortlich war, sowohl im Bundesgesundheitsministerium als auch im Bundesgesundheitsamt.Ich will Ihnen zunächst einmal etwas zu dem Punkt „Entschädigung sofort, humanitäre Soforthilfe" — so der Minister — sagen. Wir, die SPD, haben am 29. Juli diesen Antrag eingebracht. Er ist im Deutschen Bundestag im September dieses Jahres behandelt worden; gestern gab es eine Einführung im Gesundheitsausschuß.Sie sagen, Sie haben 2 Millionen DM eingestellt, wollen aber des weiteren noch einige Punkte zur Situation der Aidsinfizierten, bezogen auf Aids/Bluter-Probleme, abklären. Was hindert Sie eigentlich daran zu sagen: Wir stellen in der zweiten und dritten Lesung des Haushaltes 1994 einen entsprechenden Betrag ein, und zwar auf der Basis der SPD-Fraktion. Denn soweit ich das mitbekommen habe sind diejenigen, die der Minister nennt und die bereit wären, etwas zu geben, doch recht zögerlich.Wenn man Soforthilfe will, dann erinnere ich daran, daß wir in der fünften Novelle des Arzneimittelgesetzes eine Regelung der EG übernehmen, die demnächst die Beweislastumkehr vorsieht und für Phar-
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Karl Hermann Haack
mazeutika so etwas wie eine Haftungsverpflichtung des Staates vorschreibt. Ähnlich hat sich auch der Bundesrat in der Novellierung des AMG geäußert. So wäre unsere Konzeption, die wir im Antrag vom 29. Juli dieses Jahres eingebracht haben, gewissermaßen der vorauseilende Gehorsam oder die vorauseilende Erledigung eines Problems, das ohnehin Gegenstand der nächsten Neufassung des Arzneimittelgesetzes sein wird.Man muß etwas zu der Abklärung sagen, wer nun Geld bekommen soll. Ich will die strittigen Punkte benennen. Soweit ich die Einlassung der Koalition verstanden habe, geht es bei Ihnen darum, die aidsinfizierten Bluter in dem Moment zu entschädigen, wenn die Aidserkrankung manifest wird, also Berufsunfähigkeit eintritt.Ungeklärt ist die Frage, ob die Ehefrau oder der Lebenspartner, der sich durch den Ehemann oder Lebenspartner infiziert hat, eine Entschädigung bekommt oder nicht bzw. lediglich auf Witwenrente angewiesen ist; ich habe dazu nichts von Ihnen gehört. Ähnliches trifft für die Kinder zu. Bekommen sie eine Waisenrente oder nicht?Bei uns ist dieses Problem geregelt. Wir beziehen alle Gruppen mit ein. Wir denken, daß das der richtige Ansatz ist. Man braucht nicht zu untersuchen und danach zu fragen, sondern wir müssen im wesentlichen schnell handeln.Ich wiederhole das Wort, das Sie nicht hören wollen: Wenn man es auf den Punkt bringt, geht es dabei um eine Gruppe von Menschen, die unter uns leben, aber ihren Totenschein in der Hand haben, wobei das Schicksal das Datum noch nicht eingesetzt hat.
Herr Abgeordneter Haack, Herr Abgeordneter Hoffacker möchte Ihnen eine Frage stellen. Ich nehme an, Sie sind bereit, sie zu beantworten. — Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Hermann Haack, ist Ihnen entgangen, daß in dem Untersuchungsteil, den wir in den Ziffern 1.1 bis 1.3 in unserem Antrag beschreiben, steht: mit Rückgriff auf das, was juristisch zu prüfen ist, nämlich „die haftungsrechtliche Situation der infizierten Personen und ihrer Angehörigen"?
Zweitens heißt es: die „wirtschaftliche und soziale Absicherung dieser Personen und ihrer Angehörigen im ausreichenden Maß gewährleistet ist". Ist Ihnen das entgangen?
Nein, es ist mir nicht entgangen. Als wir am 29. Juli dieses Jahres unseren Antrag eingebracht haben, haben wir exakt über diesen Punkt diskutiert. Sie haben den entschieden. Sie wollen ihn untersucht wissen. Das ist der Unterschied, den habe ich dargestellt. Vielleicht habe ich mich nicht präzise genug ausgedrückt. Aber da denke ich, daß wir ein Stück auseinander sind, und das muß geregelt werden.
Dann möchte ich mich damit auseinandersetzen, daß der Minister sagt, er will nun diese ganze Angelegenheit aufklären, und hier den Eindruck erweckt — Sie mögen mir die Wortwahl nachsehen —, daß er darüber beleidigt ist, daß, nachdem er, bezogen auf GSG, als „shooting star" der Koalition gehandelt worden ist, nun in der Frage der Bewältigung des Problems Aids und Bluter einige kritische Nachfragen veranstaltet werden.
Der „Rheinische Merkur" schreibt: „Ein Minister wacht auf. " — Nein, das ist ernst. Denn der Minister ist seit 18 Monaten im Amt und ist spätestens ausweislich der Drucksache des ersten Berichtes am 30. November 1992 seit 12 Monaten damit beschäftigt, dieses Problem administrativ wieder in den Griff zu bekommen.
Wir sind eine gemeinsame Wegstrecke gegangen, weil wir der Auffassung waren, dieses Thema ist kein Thema streitiger Auseinandersetzung.
Der Punkt, wo wir jetzt kritisch nachfragen, ist folgender: Wir bekommen von dem Minister Berichte mit Angaben von Uhrzeiten, wann wo was gewesen ist, die hinterher wieder korrigiert werden. Und dann kommt tröpfchenweise eine andere Information.
Ich will dem Minister nicht unterstellen, daß er da etwas verbergen will. Aber Fakt ist: Er macht sich von einer Bürokratie im BGM und im BGA abhängig, die nicht die Position oder den Weg, den der Minister mit uns gehen will, trägt.
Dazu will ich zwei Beispiele geben. Man hätte doch längst, seit November 1989, Rückrufaktionen nach dem Arzneimittelgesetz — § 69 — organisieren können, indem man noch einmal eine Neutestung aller Blutprodukte, aller Chargenbestellungen vorgenommen hätte. Das hätte man machen können. Das ist nicht geschehen.
Ich will noch einen anderen Punkt ansprechen, Herr Minister. Sie haben in der letzten Woche eine Pressemitteilung vom 22. Oktober 1993 herausgegeben und klären die Öffentlichkeit darüber auf, daß es drei unterschiedliche Wege im Meldeverfahren gibt. Wenn Sie drei Wege des Meldeverfahrens beschreiben, möchte ich doch einmal wissen: Warum haben Sie nicht im vergangenen Jahr oder zu Beginn dieses Jahres die Initiative ergriffen, zu einer Vereinheitlichung des Meldeverfahrens zu kommen?
Herr Abgeordneter, der Abgeordnete Seehofer möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie bereit, dieselbe zu beantworten?
Ja, klar.
Das ist der Fall. — Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Hermann Haack, ist Ihnen bekannt, daß der Rückruf von bedenklichen Arzneimitteln nach dem zitierten § 69 des Arzneimittelgesetzes eine Aufgabe der Bundesländer ist, so daß sich die Frage stellt, warum das in den Bundesländern Rheinland-Pfalz und Hessen, wo
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Horst Seehoferdie beiden Firmen, die aus meiner Sicht besonders zu überprüfen sind, sitzen, nicht geschehen ist?Zweitens. Würden Sie auch meine Meinung teilen, daß vieles von dem, was Sie heute sagen, sich nicht in Ihrem Antrag befindet, den Sie am 29. Juli dieses Jahres an den Deutschen Bundestag gestellt haben? Das heißt, daß die Koalition und auch die Bundesregierung mit ihren Vorschlägen, die sie schriftlich dokumentiert haben, sowohl zeitlich wie auch inhaltlich Ihren Vorschlägen weit vorauseilen, mit Ausnahme der Frage der Entschädigung, aber was die Arzneimittelsicherheit betrifft, weit vorauseilen?Drittens. Könnten Sie sich vorstellen, daß eine Information zutrifft, nach der Angehörige Ihrer Fraktion durch Überlassung von schriftlichen Materialien über einige Dinge eher informiert wurden als der Bundesgesundheitsminister?
Zur ersten Frage, der Berufung auf den § 69 AMG. Ich denke, dieses Argument zieht nicht. Es gibt die Einrichtung einer ständigen Konferenz der Arbeits- und Sozialminister mit dem Bundesminister, in der auch Probleme der Gesundheitspolitik beraten werden. Man hätte sich dort selbstverständlich über ein Screening-Programm auf der Basis des § 69 AMG verständigen können. Dann hätten die Länder das durchgezogen. Insofern kann ich Ihre Frage nicht verstehen. Das hätten Sie machen können.
Was war Ihre zweite Frage?
Die zweite Frage betraf folgendes: Wenn ich Ihren Antrag vom 29. Juli nachlese — ich nehme nicht das zum Maßstab, was Sie jetzt mündlich nachschieben —, dann stelle ich fest, daß Sie heute vieles vorschlagen, was nicht Gegenstand dieses Antrags ist. In dem Antrag steht auch manches, zu dem Sie die Bundesregierung auffordern, bis Ende des Jahres 1993 Vorschläge zu unterbreiten. Das heißt: Die Koalition und die Bundesregierung eilen mit vielen Vorschlägen zur Erhöhung der Arzneimittelsicherheit sowohl hinsichtlich der zeitlichen Abfolge als auch hinsichtlich des Umfangs der Vorschläge Ihren Vorschlägen voraus. Wie können Sie uns Versäumnisse vorwerfen, wenn Sie diese Dinge selber nicht in den Antrag aufgenommen haben?
Am 30. November 1992 haben Sie Ihren ersten Bericht gegeben, abgestützt durch das Bundesgesundheitsamt und das Bundesgesundheitsministerium. Sowohl im Vorfeld dieses Termins als auch in der Zeit danach hat es Gemeinsamkeiten zwischen der Koalition und der Opposition im Deutschen Bundestag gegeben, was das Verfahren anbetrifft. Wir haben uns dann am 29. Juli mit dem Antrag zu drei Punkten geäußert. Wir haben die Eigenblutversorgung und die Novellierung des AMG gefordert, weil uns das vordringlich erschien. Sie hätten im Vorgriff auf irgendwelche gesetzlichen Regelungen durchaus Vereinbarungen treffen können.
Was das AMG betrifft, so kann ich nur darauf verweisen, daß die Länder Rechtsverordnungen und Rundverfügungen hätten erlassen können, auch zur Dokumentationspflicht bezüglich Bluttransfusionen in Krankenhäusern. Das hätte man alles machen können. Ich zähle das nur auf, um deutlich zu machen, daß die Kritik, die wir an dem Minister haben, nicht Jux und Dollerei ist.
Wir erwarten, daß er nicht nur eine Darstellung der Aktenlage gibt, sondern daß der Minister nach zwölf Monaten auch einmal deutlich macht, wo er nach der Beschreibung der administrativen Gegebenheiten politisch handelt; denn er hat sich selber in diese Situation gebracht.
Zum dritten Punkt, der Überlassung von Informationen. Wir befinden uns in einem Bermudadreieck unterschiedlich handelnder Personen.
— Ich komme darauf. — Ich verweise z. B. auf den Fall des Dr. Moebius. Sie haben selber vorgetragen, wie die Informationen laufen. Es werden Spekulationen in die Welt gesetzt; fragt man nach, bekommt man keine Antwort. Es gibt in dieser Szene eben auch Teile, die daran interessiert sind, den ganzen Fall hochzukochen. Es wird unsere Aufgabe sein, mit kühlem Verstand und sachlicher Auseinandersetzung dies anzugehen. Ich werde mich nicht daran beteiligen, gewissermaßen von hinten herum zu zinken.
Sie wollten noch eine vierte Frage stellen?
Sie haben das Wort zu einer weiteren Zwischenfrage. Ich bitte aber, in eine Frage nicht gleich drei, vier oder fünf Unterfragen zu packen.
Herr Kollege Schmidbauer — —
— Ja, ich komme aber gleich auf Herrn Schmidbauer.
Herr Abgeordneter Seehofer, bitte keine Dreiecksfrage.
Da ich den Kollegen Haack schätze, fällt es mir schwer, festzustellen, daß die Präzision seiner Antwort nicht der Präzision meiner Frage entsprach.
Herr Haack, ich wollte noch einmal folgendes wissen: Bei der Präsentation des Berichts am 14. Dezember im Ausschuß hat der Kollege Schmidbauer die Richtigkeit der Darstellung schon in Zweifel gezogen.
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15982 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Horst SeehoferEr hat anschließend in der Öffentlichkeit gesagt, man könne die Unwahrheit auch durch Verschweigen von Kenntnissen sagen. Ich habe ihm daraufhin einen Brief geschrieben, er möge mir bitte mitteilen, was ich verschweige. Das war im August. Das löst bei mir die Überlegung aus, daß, wenn man mir Verschweigen vorwirft, jemand möglicherweise mehr Informationen hatte, als sie mir zur Verfügung standen. Können Sie denn ausschließen, daß Mitglieder Ihrer Fraktion in den letzten Monaten bei der Behandlung dieses Berichts von verschiedenen Beteiligten mehr Informationen zur Verfügung hatten als der Bundesgesundheitsminister
und dies nicht der Öffentlichkeit mitgeteilt haben?
Herr Minister, das ist ein klassischer Fall von Über-BandeSpielen.
— Doch, ein klassischer Fall von Über-Bande-Spielen. Sie haben ein Problem mit meinem Kollegen Schmidbauer; das habe ich begriffen. Sie haben ihm einen Brief geschrieben. Der Kollege Schmidbauer hat diesen Brief nicht beantwortet. Ich denke, daß der Kollege Schmidbauer diesen Punkt jetzt sicherlich zum Anlaß für eine Kurzintervention nehmen wird. Ich spiele hier nicht Bande. Sie haben hier erklärt, Sie seien Manns und kräftig und wollten das alles klären. Klären Sie das bitte mit Herrn Schmidbauer selbst!
Dann möchte ich noch zu einem Punkt kommen, den Sie angeschnitten haben: Reform des Bundesgesundheitsamtes. Ich glaube, daß das, was Ihnen mit der Auflösung des Bundesgesundheitsamtes als Schnellschuß über die Lippen gekommen ist, noch einmal deutlich überdacht werden muß.
— Wir haben es begrüßt; das ist richtig. Aber inzwischen sagen wir: Die Reform des Bundesgesundheitsamtes kann nicht nach dem Motto gehen: „Wir nehmen die Brüder an die Kandare", kann nicht in einer Dequalifizierung seiner Arbeit münden, sondern muß münden in eine erneuerte Gesundheitspolitik, in ein Amt für Gesundheitspolitik, für gesundheitliche Fragen, das Forschungsfragen beantwortet, Verbraucher schützt und Politikberatung für den Gesundheitsausschuß leistet. Sie werden nach meiner Einschätzung auch nicht darum herumkommen, diesen sechs Instituten — mit dem Aids-Institut sind es ja inzwischen sieben — eine Gesamtleitung zu geben, wie sie bisher bestanden hat, aber mit anderer Aufgabenstellung und anderer personeller Zusammensetzung.
Vielen Dank.
Gemäß der Aufforderung des Abgeordneten Haack meldet sich nun der Abgeordnete Schmidbauer zu einer Kurzintervention.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Minister hat mich ja direkt angesprochen. Ich stehe dazu: Sie haben den Bericht vorgelegt, und Sie selbst haben ja den Bericht in der Zwischenzeit korrigieren müssen. Ich hatte zu dem Zeitpunkt die Einschätzung und Bewertung der Fragen so vorgenommen, wie ich sie nach dem politischen Sachverhalt und den Unterlagen, die mir zugänglich waren, zu bewerten hatte. Da gab es keine Skandalmeldung, die Ihnen vielleicht verborgen geblieben wäre, sondern es ging mir bei meiner Frage und in meinen Ausführungen um die Bewertung Ihres Berichts vom 30. November, den Sie selbst in der Zwischenzeit in aller Gründlichkeit in der Öffentlichkeit hinreichend korrigiert haben.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor, so daß wir zur Abstimmung kommen können, und zwar zunächst über den von der Fraktion der SPD eingebrachten Antrag auf Einsetzung einer unabhängigen Expertenkommission. Es handelt sich jetzt also nicht um die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Der Antrag liegt Ihnen auf der Drucksache 12/5974 vor. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? -- Das war zweifelsohne die Mehrheit. Dieser Antrag ist abgelehnt.Ich lasse nunmehr abstimmen über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. sowie den Antrag der Fraktion der SPD auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Diese Anträge liegen Ihnen auf den Drucksachen 12/6035 und 12/5975 vor und sollen an den Ausschuß für Gesundheit überwiesen werden. Gibt es andere Vorschläge dazu? — Das ist nicht der Fall. Die Überweisung ist so beschlossen worden.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Gerd Andres, Konrad Gilges, Gerlinde Hämmerle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDSituation ausländischer Jugendlicher im Bildungs- und Ausbildungssektor und ihre Integrationschancen in unserer Gesellschaft— Drucksachen 12/2858, 12/4986 —Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.Zunächst habe ich mich zu erkundigen, ob der Vorschlag des Ältestenrats „Debattenzeit eine Stunde" akzeptiert wird.
Wenngleich ich den Eindruck habe, daß nicht alleaufgepaßt haben, erhebt sich zumindest kein Wider-
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Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergSpruch, so daß ich das als beschlossen feststellen kann und wir die Debatte eröffnen können.Zunächst erteile ich der Abgeordneten Frau Doris Odendahl das Wort.
Ich wäre dankbar, wenn diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte nicht zu folgen wünschen, den Saal verließen und ihre Gespräche draußen fortführten. — Das trifft auch für die Abgeordneten Zöllner und Frau Ackermann zu.Frau Abgeordnete Odendahl, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion hat im Juni 1992 eine Große Anfrage zur Situation ausländischer Jugendlicher im Bildungs- und Ausbildungssektor und ihre Integrationschancen in unserer Gesellschaft an die Bundesregierung gerichtet. Wir wollten wissen, inwieweit der Anspruch aus den Orientierungsrichtlinien der Bundesregierung vom 19. März 1980 für die Weiterentwicklung der Ausländerpolitik verwirklicht ist.Darin heißt es: Eine Berufsausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf ist einer der wichtigsten Faktoren für die berufliche und soziale Eingliederung. Junge Ausländer müssen daher die gleichen Chancen zur erfolgreichen Wahrnehmung des Ausbildungsplatzangebotes erhalten wie deutsche Altersgenossen.Die Antwort der Bundesregierung ließ fast ein Jahr lang auf sich warten. Wir hatten erwartet, daß darin wenigstens Ansätze für systematische, politische Konzepte zu erkennen sind, die der Lebenswirklichkeit dieser jungen Ausländerinnen und Ausländer entsprechen. Diese Erwartungen wurden nicht erfüllt; die Aufgabe ist heute drängender denn je.Die Aufgabe, ausländische Kinder in das Bildungssystem und ausländische Jugendliche in das Berufsbildungssystem zu integrieren, trifft nicht nur die zweite und dritte Generation, sondern stellt sich auch für die Zukunft.Auch wenn nun im schulischen Bereich seit 1980 der Anteil ausländischer Gymnasiasten und Realschüler bis 1990 von ca. 8 % bzw. 6 % auf 16 % bzw. 15 % gestiegen ist, besteht nach wie vor zwischen den deutschen und den ausländischen Schülern ein deutlicher Unterschied im Niveau der Schulausbildung, der sich in erheblich schlechteren Chancen bei der Ausbildungsplatzsuche niederschlägt.Wir sollten deshalb, meine ich, noch ein paar andere Zahlen hinzufügen: Einen Hauptschulabschluß hatten 1990 rund 51 % der ausländischen Jugendlichen; im Vergleich zu 1980 eine Steigerung um 10 %. Ohne Abschluß waren 1980 noch 52 %, im Jahre 1989 — das ist ein Erfolg — nur noch 18 %. Bemerkenswert dabei ist allerdings, daß 1989 lediglich 21,6 % der deutschen Mitschüler den Hauptschulabschluß anstrebten. In vielen Städten und Gemeinden ist die Hauptschule heute schon die Restschule für Ausländer geworden mit einem Anteil der ausländischen Schülerinnen und Schüler von bis zu 80 %,Wir begrüßen es, daß sich die Ausbildungsbeteiligung ausländischer Jugendlicher in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt hat, doch liegt der Anteil ungelernter bzw. angelernter Arbeitnehmer bei ausländischen Jugendlichen dreimal so hoch wie bei deutschen.Nun hat sich das Ausbildungsplatzangebot in den alten Bundesländern — das betone ich ausdrücklich — deutlich verbessert. In immer mehr Berufen gibt es ein größeres Angebot an Ausbildungsstellen als an Bewerbern, was auch zu zusätzlichen Anstrengungen vor allem seitens des Handwerks für ausländische Schulabgänger geführt hat,Ihr Zugang zu einer Berufsausbildung ist dennoch nicht leichter geworden. Nach wie vor konzentrieren sich ausländische Jugendliche auf nur wenige Berufe.Ihre Abbruchquoten sind überdurchschnittlich hoch. Auch hier stehen die Mädchen wieder einmal auf der Verliererseite. 1990 betrug ihre Ausbildungsquote trotz guter Schulabschlüsse nur 30 % gegenüber 40 % bei den männlichen Jugendlichen. Hier setzt sich fort, was Frauen immer wieder zu spüren bekommen: Wenn es auf dem Arbeitsmarkt und bei der Ausbildung eng wird, sind sie nur noch zweite Wahl.Nun haben Sie in Ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage viele Dinge angesprochen, mit denen die Bildungs- und die Ausbildungssituation ausländischer Jugendlicher verbessert werden können. Traurig ist nur, daß Sie trotz aller Einsicht in der Praxis das Gegenteil machen. Die Streichungen in der 10. AFG-Novelle wirken sich für ausländische Jugendliche katastrophal aus. Sie verhindern, daß Schulabschlüsse, vor allem der Hauptschulabschluß, nachgeholt werden können. Es müßte doch eigentlich in Ihrem Interesse liegen, daß das geschieht.Bei der Berufsberatung muß die Beratung ausländischer Jugendlicher und ihrer Eltern verstärkt werden. Das merken Sie auch an. Sie muß frühzeitig beginnen und auch während der Ausbildung begleitend angeboten werden. Nur machen Sie, meine Damen und Herren, durch Ihre Kahlschlagpolitik im Bereich der Arbeitsverwaltung solche Anstrengungen unmöglich.
Ich nehme an, daß Sie öfters das Arbeitsamt in Ihrem Wahlkreis besuchen. Dann wissen Sie, was dort noch geschehen kann und was nicht mehr möglich ist. Sie haben genau die Berufsberater zu Kontrollbeamten gemacht, die hier ansetzen sollten.Die Benachteiligtenprogramme und Fördermaßnahmen in Schule und Ausbildung müssen ausgebaut werden, um Bildungs- und Sprachdefizite zu mindern und vor allem um Ausbildungsabbrüche zu vermeiden. Auch hier geschieht Abbau statt Ausbau. Es ist nur traurig, daß wir dies schon vorausgesehen haben, als Sie vor einigen Jahren das Benachteiligtenprogramm aus dem Bildungsbereich ausgelagert haben. Daß dann für besondere Hilfen und Angebote für ausländische Mädchen nicht mehr viel übrig bleibt, ist unsere große Sorge.
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15984 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Doris OdendahlWir wollen, daß künftig im jährlich vorzulegenden Berufsbildungsbericht die Bildungs- und Ausbildungsprobleme ausländischer Jugendlicher stärker berücksichtigt werden. Dazu wollen wir eine Darstellung der Modelle und Förderungskonzeptionen sowie der Finanzmittel, mit denen der Benachteiligung ausländischer Jugendlicher entgegengewirkt werden soll, verbunden mit einer gesonderten Berichterstattung über die Situation ausländischer Mädchen.Die Forderungen in unserem Entschließungsantrag sind ein wichtiger Schritt zu einer modernen, humanen Migrationspolitik. Wir müssen die Zusammenarbeit auf europäischer und internationaler Ebene suchen und die Erfahrungen anderer Lander für die Gestaltung eines miteinander Lebens und Lernens — das sage ich ausdrücklich — in kultureller Vielfalt in unsere Gesellschaft einbeziehen.Meine Damen und Herren, in der Bundesrepublik Deutschland leben 1,9 Millionen ausländische Jugendliche unter 25 Jahren. Die meisten von ihnen wurden hier geboren. Alle Jugendlichen haben den gleichen Anspruch auf bestmögliche Förderung.
Für jeden jungen Menschen sind Bildung und Beruf wichtige Voraussetzungen erfolgreicher sozialer Eingliederung. Nur mit einer umfassenden Ausbildung kann auch die gesellschaftliche Integration gelingen. Wir müssen helfen, daß ausländische Jugendliche diese Chance nutzen und nutzen können.Damit wir den notwendigen Diskussionsprozeß einleiten und zu einem gemeinsamen Handeln kommen können, beantragt die SPD-Fraktion, ihren Entschließungsantrag an den federführenden Ausschuß für Bildung und Wissenschaft und an die mitberatenden Ausschüsse zu überweisen. Ich denke, wir bekommen dann eine gute Gelegenheit, das, was notwendig ist, zu tun.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Wolfgang Meckelburg das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will aus Fairneß gegenüber meinen Nachrednern ein wenig Redezeit einsparen, so daß wir alle die Gelegenheit haben, zu sprechen.
Ich möchte zwei Bemerkungen an den Anfang stellen.
Frau Odendahl, Integrationspolitik muß langfristig angelegt sein, und sie umfaßt mehr als bildungspolitische Maßnahmen. Diese Feststellungen sind notwendig, damit die heutige Debatte keine falschen Erwartungen weckt. Denn der Umfang des Fragenkatalogs der SPD und insbesondere der nachgeschobene Entschließungsantrag könnten den Eindruck vermitteln, der Schlüssel zur Integration ausländischer Jugendlicher liege ausschließlich in der Bildungspolitik und sie sei von heute auf morgen zu erreichen. Beides ist natürlich nicht zutreffend.
Gleichzeitig versuchen Sie, meine Damen und Herren von der SPD, den Vorwurf zu erheben, als werde die Bundesregierung auf diesem Gebiet ihrer Verantwortung nicht gerecht. Auch dies ist natürlich falsch.
Denn der leitende Grundsatz der Bundesregierung, Ausländer so gut und so frühzeitig wie möglich zu integrieren, ist richtig. Es ist in den vergangenen Jahren gelungen, die Bildungssituation der jungen Ausländer stetig zu verbessern. Frau Odendahl hat auf die Zahlen bereits hingewiesen. Der Anteil der ausländischen Schüler in den Gymnasien und Realschulen hat in den Jahren von 1980 bis 1990 zugenommen, in den Gymnasien von 8 % auf 16 %, in den Realschulen von 6 % auf 15 %. Die Ausbildungsbeteiligung ausländischer Jugendlicher ist in dem Zeitraum von 1984 bis 1991 von 49 000 auf 109 000 Auszubildende angestiegen. Diesen Trend, glaube ich, wollen und wünschen wir alle. Wir wissen, es bleibt dennoch einiges zu tun.
Die Maßnahmen, die dazu geführt haben, sind konsequent und langfristig fortzusetzen. Ich nenne einige Beispiele, vor allem aber ein Modell, das in Köln läuft, nämlich das von der Bundesregierung geförderte Modellprojekt für die Arbeitsmarktregion Köln, die Beratungsstelle für die Qualifizierung ausländischer Nachwuchskräfte. Das Modellprojekt existiert seit 1989 und war zunächst für drei Jahre geplant. Wegen seines Erfolges wird das Projekt für weitere drei Jahre, bis 1995, fortgeführt. Ganz nebenbei: Die Bundesregierung hat ihren Anteil an der Finanzierung dieses Projekts auf über 30 % erhöht.
Die Arbeit der Beratungsstelle zeigt, wie vielfältig die Schwierigkeiten sind, die bei dem Versuch der Integration ausländischer Jugendlicher in die Arbeitswelt auftreten können. Die Beratungsstelle versucht, diesen Schwierigkeiten gerecht zu werden, indem beim Übergang von der Schule in die Berufswelt die ausländischen Jugendlichen und ihre Eltern informiert werden. Dabei wird versucht, den Eltern zu vermitteln, daß eine Berufsausbildung ein wichtiger und sinnvoller Abschnitt für die Qualifizierung ihrer Kinder ist. Auf der anderen Seite werden auch die Ausbilder in den Betrieben durch Information über den sozialen Hintergrund potentiell interessierter Familien unterstützt. Die Beratungsstelle hat erfolgreich gearbeitet. Im Kölner Bereich ist von 1989 bis 1992 der Anteil ausländischer Jugendlicher in der Berufsausbildung von 5 % auf 10,3 % gestiegen.
Ich nenne als weitere Beispiele aus den Antworten — wir können das ja nachlesen — das Benachteiligtenprogramm, berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen, Förderungs- und Grundausbildungslehrgänge, Informations- und Motivationslehrgänge. Ich nenne auch die Berufsinformation und das Tätigkeitsfeld des Berufsinformators und mache den Hinweis, daß in jedem Arbeitsamt mindestens ein Berufsberater als Ausländerbeauftragter benannt ist. All das zeigt: Große Politik und Kleinarbeit vor Ort sind notwendig.
Lassen Sie mich abschließend einiges zu dem nachgeschobenen Entschließungsantrag der SPD sagen.
Deutscher Bundestag -- 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 19C3 15985
Wolfgang Meckelburg
— Einverstanden, Herr Kuhlwein. Ich empfinde das jetzt so.
— Herr Kuhlwein, es handelt sich nicht um einen Lernprozeß; ich habe versucht, meine Empfindungen darzulegen, weil ich im nachhinein anhand Ihres Entschließungsantrages, der mir erst seit gestern vorliegt, meine Position etwas deutlicher machen kann. Insofern sind Sie vielleicht um so mehr an dem interessiert, was ich sage.
Vor diesem Hintergrund ist der Entschließungsantrag der SPD zu beurteilen. Die Innovationsleistung, die die SPD von der Bundesregierung in der Integrationspolitik verlangt, besteht laut ihrem Antrag vor allem in der Bildung neuer Begriffe: Konzeption einer interkulturellen Berufsausbildung, bikulturelle Berufsausbildung, ein Pflichtfach „ Migrationspädagogik " oder der Vorschlag, die Betriebe sollten sich als interkultureller Arbeitsraum verstehen.
Ich will gar nicht behaupten, daß diese Begriffe nicht gutgemeint sind. Aber ich möchte fragen: Was steckt hinter diesen so anspruchsvoll klingenden Worten? Sie fordern, meine Damen und Herren von der SPD, daß Schulabschlüsse nachgeholt werden können. Aber das dürfen Sie doch bitte nicht der Bundesregierung sagen. Hören Sie doch erst einmal bei den Kollegen in den Ländern nach! Sie haben das eben angesprochen: Es wird von den Ländern anerkannt, daß das Nachholen von Schulabschlüssen durch die Länder finanziert werden muß. Wir streiten uns an dieser Stelle natürlich immer wieder urn das Geld.
— Ins AFG gehört es nicht hinein; das wird anerkannt von den Ländern, Frau Odendahl.
In einigen anderen Punkten läßt sich sicherlich Übereinstimmung herstellen. So fallen in Ihrem Entschließungsantrag auch ein paar konstruktive Vorschläge auf. Sie wollen ein Beratungskonzept, in das alle an der Berufswahl und der Ausbildung beteiligten Gruppen eingebunden werden. Berufsberatung muß, so Ihr Antrag, die Beratung ausländischer Jugendlicher und ihrer Eltern ausweiten, kooperativ gestalten, frühzeitig beginnen und auch während der Ausbildung begleitend angeboten werden.
Wenn Sie sich jetzt noch einmal das Kölner Modell vor Augen halten, von dem ich gerade gesprochen habe, dann finden Sie darin Ihre konstruktiven Forderungen zumindest vom Ansatz her erfüllt. Wie Sie wissen, hat das Bildungsministerium bereits in die Wege geleitet, daß die positiven Erfahrungen mit dem Kölner Modell ausgeweitet werden. Um die Arbeit des Modells über den Kölner Raum hinaus nutzbar zu machen, hat das Bundesministerium für Bildung und
Wissenschaft auf Bundesebene die Aktion „Ausländerinnen und Ausländer ausbilden" ins Leben gerufen.
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Frage der Abgeordneten Frau Odendahl zu beantworten?
Ich war gerade beim Schlußsatz; ich wollte die eine Minute sparen. Wenn es denn sein muß, Frau Odendahl: Bitte schön.
Nachdem Sie das Kölner Modell als eine gute Sache bezeichnet haben — auch wir tun das; in der Beantwortung taucht es auf —, wollte ich Sie fragen, Herr Kollege Meckelburg, ob Sie nicht der Meinung sind, daß Modellversuche dazu da sind, umgesetzt zu werden, und daß die Situation in Köln, die zweifellos dadurch günstig beeinflußt wird, sich dadurch noch nicht auf andere Städte und Gemeinden niederschlägt, indem man nur das eine hat und es auch lobt, sondern daß mehr geschehen muß.
Während Sie sich darauf vorbereitet haben, mir die Zwischenfrage zu stellen, hatte ich mir erlaubt, darauf hinzuweisen, daß das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft auf Bundesebene bereits zu einer Ausweitung dieser Aktion geblasen hat.
Ich wollte zum Schlußsatz kommen. Frau Odendahl, vielleicht können wir uns im Ausschuß darauf einigen, die Entwicklung des Kölner Modells zu beobachten und gemeinsam zu überlegen, was man daraus machen kann. Aber ich möchte uns alle davor warnen, vom Staat zuviel zu erwarten, was die Integration insgesamt angeht.
Schönen Dank.
Nunmehr hat die Abgeordnete Frau Ulla Jelpke das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Entschließungsantrag der SPD zur Antwort der Bundesregierung heißt es, Berufsorientierung und Berufsausbildung ausländischer Jugendlicher seien Teil einer umfassenden Migrationspolitik. Schön wäre das ja. Ich teile durchaus viele der Forderungen im SPD-Antrag; aber von einer umfassenden Migrationspolitik kann in der Bundesrepublik überhaupt nicht die Rede sein. Zuletzt hat die Sachverständigenanhörung zur doppelten Staatsbürgerschaft doch deutlich gemacht, mit welcher Blockadementalität auf einer restriktiven Handhabung der Einbürgerungsregelungen durch die Unionsvertreterinnen und -vertreter beharrt wird. Es ist geradezu Staatsdoktrin, daß die Bundesrepublik
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15986 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Ulla Jelpkekein Einwanderungsland ist, allen realen Entwicklungen zum Trotz.
Vor diesem Hintergrund müssen die in der Antwort der Bundesregierung schöngeredeten Maßnahmen gesehen werden. In aller Regel sind es Notprogramme für sehr spezifische Bereiche. Sie sind nicht nur finanziell und institutionell nicht genügend abgesichert, sie unterliegen zudem ständigen Einsparungen, Einschränkungen und Umorientierungen personeller und finanzieller Art je nach allgemeiner Konjunktur. Und sie waren auch in ökonomisch besseren Zeiten ausgesprochen diskriminierend.Die Antwort strotzt nur so von Beispielen dafür, wie konkrete Ausbildungsprobleme, die eigentlich Folge genereller Diskriminierung sind, den Betroffenen selbst angelastet werden. Die Bundesregierung findet Verständnis dafür, daß 50 % — ich wiederhole: 50 % — der untersuchten Industriebetriebe Inländer bei gleicher Qualifikation Ausländerinnen oder Ausländer vorziehen. Diese Betriebe werden pauschal von Vorurteilen oder ausländerfeindlicher Einstellung freigesprochen. Zugestanden wird Ihnen, daß sie „daran interessiert sind, homogene Arbeitsgruppen mit gleichgerichteter Einstellung zur Arbeit zu bilden, um Reibungsverluste zu vermeiden".Die Auswahlkriterien der Anbieter von Lehrstellen werden auch vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung für den immer noch äußerst geringen Anteil ausländischer Jugendlicher an den 1,4 Millionen Auszubildenden in der Bundesrepublik mit verantwortlich gemacht. Unter anderem dürfte es auf solche Mechanismen zurückzuführen sein, daß im Dezember 1991 doppelt so viele Türken arbeitslos waren wie Italiener, Griechen, Spanier, Portugiesen und Jugoslawen zusammengenommen.Das sind die Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen bzw. deren Eltern, und genau auf diesem Weg wird Kindern und Jugendlichen das Ausländerdasein andressiert, wie es die Berliner Ausländerinnen- und Ausländerbeauftragte, Frau John, nannte. Es ist schon makaber, wenn in der Antwort der Bundesregierung immer und immer wieder Defizite der jugendlichen Ausländer angeführt werden, die ihre Integration angeblich erschweren.Besonders deutlich wird das an der Situation ausländischer Mädchen. Die Kollegin Odendahl hat das hier schon angesprochen. Trotz oftmals höherer formaler Qualifikation als bei vergleichbaren männlichen Jugendlichen wachsen ihre Schwierigkeiten, weiterführende Ausbildungsplätze oder entsprechende Arbeitsplätze zu finden. Das ausschließlich familiären, religiösen und anderen Traditionen in die Schuhe zu schieben, ist meiner Meinung nach zynisch. Es gibt keine unverrückbare türkische Tradition, die Mädchen in den Friseurinnenberuf zwingt.Die Antwort der Bundesregierung führt einen ganzen Wust von Maßnahmen auf, die an sich schon völlig unzureichend sind. Darüber hinaus entsteht ihre praktische Notwendigkeit allzuoft nur deshalb, weil sich die Mehrheitsgesellschaft nicht darauf einrichten will, daß eine millionenstarke Minderheit ihre differenzierten sozialen, kulturellen, religiösen und bildungsmäßigen Ansprüche hier im Lande leben und verwirklichen will.Schönfärberisch ist die Antwort der Bundesregierung auch deswegen, weil sie über den Zeitraum der eher fetten Jahre berichtet. Außer acht läßt die Antwort die Streichung der ABM-Gelder und andere Teile des Sparprogramms für 1994. Ihrem rigiden Sparkurs fallen Bildungs- und Stützmaßnahmen wie Sprachunterricht, sozialpädagogische Betreuung und Jugendhilfemaßnahmen für Ausländerinnen und Ausländer als erste dem Rotstift zum Opfer, und zwar im kommunalen Bereich und im Bereich der Bundesregierung.Die Folgen für die ausländischen Jugendlichen werden meiner Meinung nach katastrophal sein.Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Cornelia Schmalz-Jacobsen das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Bildung und Ausbildung sind sicherlich nicht die einzigen, aber gehören zu den wichtigsten Faktoren für eine erfolgreiche Integration. Durch die Schule und durch die berufliche Bildung erwerben ausländische Kinder und Jugendliche Qualifikationen, die ihnen Perspektiven für ihre berufliche Zukunft und damit für ihren gesamten Lebenszuschnitt schaffen.Weit über zwei Drittel der in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen sind hier geboren. Die Bundesrepublik, und nicht das Herkunftsland ihrer Eltern, ist ihre Heimat. Die Bezeichnung „Ausländer" trifft vor allem für ihren rechtlichen Status zu.
An diesem Status aber darf sich die berufliche Zukunft dieser Generation nicht entscheiden. Die Ausbildungssituation für Jugendliche mit ausländischem Paß hat sich gerade im letzten Jahrzehnt ganz entscheidend verbessert. Das darf uns jedoch nicht den Blick dafür trüben, daß der Vergleich ihrer Situation mit der der entsprechenden deutschen Altersgruppe immer noch weit auseinanderklafft.Es wäre jedoch ebenso falsch, die Erfolge, die wir haben, kleinzureden. Man muß sie vielmehr analysieren, um darauf weiter aufzubauen.
Es ist enorm viel und auch enorm Vielfältiges gemacht und erreicht worden. Es hat hier ganz große Anstrengungen gegeben. Zu den Erfolgen haben ganz gewiß die zahlreichen Angebote des Bundesministeriums für Arbeit beigetragen, Dinge, die die Länder gemacht haben, wie auch das große Engagement vieler Leute, die in den Bereichen Bildung und Ausbildung tätig sind.Weitere Verbesserungen sind jedoch ohne jeden Zweifel notwendig. Der Anteil der ausländischen Jugendlichen, die eine Ausbildung im dualen System
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15987
Cornelia Schmalz-Jacobsenmachen, ist nur halb so groß wie die entsprechende Quote deutscher Jugendlicher. Der Anteil der un- und angelernten ausländischen Jugendlichen ist mehr als dreimal so hoch wie bei der deutschen Vergleichsgruppe. Und es fällt auf, daß der Anteil arbeitsloser junger Ausländer — das ist ja dann in dieser Konsequenz kein Wunder — deutlich höher liegt, als dies bei den jungen Deutschen der Fall ist.Wenn man die beiden Gruppen in ihrer schulischen Ausbildung betrachtet, fallen auch hier sehr große Unterschiede auf, am krassesten bei den Sonderschulen. Meine Damen und Herren, das kann ja wohl nicht daran liegen, daß ausländische Kinder nur halb so begabt sind wie ihre deutschen Spielgefährten.
Das alles zeigt, daß Integrationsmaßnahmen sehr frühzeitig einsetzen müssen und viele Lebensbereiche umfassen sollten. Das bedeutet, Angebote schon im Kindergarten zu machen, damit spätere Maßnahmen überflüssig werden. Mir ist auch die allgemeine Misere im Kindergartenbereich bekannt. Nur, man muß auch ins Auge fassen, daß hier für die ausländischen Kinder etwas gemacht wird.Alle an der Bildung und Ausbildung Beteiligten sind gefordert: die Schule, die Berufsberatung, die Ausbildung, die Eltern und natürlich auch die Jugendlichen selbst.In der Beantwortung der Großen Anfrage ist immer wieder von den Eltern die Rede und davon, wie wichtig gerade ihre Beteiligung ist. Hier gibt es häufig Schwierigkeiten — nicht nur für die Töchter, aber für sie ganz besonders.Die Eltern hegen oftmals hohe Erwartungen an die beruflichen Ziele ihrer Kinder, und 80 von 100 halten eine berufliche Ausbildung für wichtig. Aber einmal sind die Eingangsvoraussetzungen für diese Kinder schlechter, zum anderen spielt die mangelnde Kenntnis der Eltern über das deutsche Bildungssystem und gerade über die duale Ausbildung eine Rolle. Diese Ausbildung ist in den Herkunftsländern weitgehend unbekannt, und häufig wird zwischen dem angelernten Arbeiter und dem Facharbeiter nicht unterschieden. Ich sage es einmal salopp: Arbeiten, die in einem „Blaumann" verrichtet werden, haben in den Augen vieler Eltern kein sehr hohes Prestige.
Die Information der Eltern und die Zusammenarbeit mit ihnen ist der erste und entscheidende Schritt zur Verbesserung des Bildungsstandes ihrer Kinder. Aber es gibt auch andere Gründe für die Benachteiligung ausländischer Jugendlicher, wie in einer SINUS-Studie ermittelt wurde. Selbst dann, wenn diese Jugendlichen die Leistungskriterien erfüllen, äußern Betriebe Skepsis. Sie befürchten soziale Konflikte zwischen Deutschen und Ausländern oder zwischen Ausländern verschiedener Nationalität oder auch negative Reaktionen der Kundschaft und der Geschäftspartner.Eine Barriere für die Jugendlichen kann die deutsche Sprache sein. Allen muß klar sein — ich will das ganz deutlich sagen —: Die Basis für eine gute Integration und eine berufliche Zukunft ist die Beherrschung der Landessprache.Viele jedoch können längst perfekt Deutsch. Allerdings ist die Tatsache, daß da jemand noch eine weitere Sprache beherrscht, ein Pluspunkt. Das ist eine Stärke, gerade für uns als Exportnation. Dies sollte auch so gesehen und einbezogen werden.
In der vorliegenden Antwort wird an verschiedenen Stellen immer wieder von den kulturellen Unterschieden gesprochen. Das klingt ein bißchen vage. Ich richte das an uns alle: Wir sollten uns davor hüten, daß das zur Ausrede wird bzw. als Ausrede gebraucht wird.Es gibt viele Ungereimtheiten. Die Wirtschaft beklagt offene Lehrstellen, aber ausländische Jugendliche finden dennoch keinen Ausbildungsplatz. Da darf man nicht resignieren. Da müssen auch neue Konzepte im Bildungs- und Ausbildungsbereich gefunden werden.
Ich tippe hier nur einmal das Thema „interkulturelles Lernen" an — was das ist, darüber kann man im Ausschuß ja sprechen — oder auch die binationalen Ausbildungsprojekte des BMA. Vielleicht könnte man ja Bausteine solcher erfolgreichen Projekte in die Regelausbildung übernehmen.Es ist übrigens interessant, wer eigentlich ausländische Jugendliche ausbildet. Die absolute Spitze bildet das Handwerk. Hier ist ein Lob und ein Dankeschön angebracht.
In diesem Zusammenhang frage ich auch einmal wieder: Wo wären wir eigentlich ohne unsere Handwerksbetriebe? Ich war in diversen Kammerbezirken, und ich kann nur sagen, hier gibt man sich wirklich enorm große Mühe.Platz zwei, allerdings mit einigem Abstand, halten Industrie und Handel.Beklagenswert sind dagegen die Ausbildungsangebote für ausländische Jugendliche im öffentlichen Dienst.
Ich rede hier selbstverständlich nur von solchen Plätzen, die Ausländern offenstehen. Gerade der öffentliche Dienst, der sich so gern als Vorreiter beschreibt, gerade die von öffentlichen Stellen an die Wirtschaft gerichteten Appelle zur verstärkten Ausbildung „unserer jungen Ausländer" machen hier eine peinliche Kluft zwischen Worten und Taten deutlich.
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15988 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Cornelia Schmalz-JacobsenNicht einmal — hören Sie gut zu! — jeder 50. Auszubildende hier ist Ausländer.
Damit hinkt der öffentliche Dienst mehr als zehn Jahre hinter der Wirtschaft her.
Gerade hier könnte man so etwas wie Normalität der Begegnung möglich machen.Ich finde es auch bemerkenswert, daß nicht einmal die Bundesanstalt für Arbeit von diesem Trend abweicht, obwohl die Dienstleistung für ausländische Arbeitslose und Arbeitsplatzbewerber bei den Arbeitsämtern doch einen Schwerpunkt einnimmt. Wie wäre es mit der Ausbildung von Ausländern im eigenen Hause, bei der Arbeitsverwaltung?
Es gibt, liebe Kolleginnen und Kollegen, eine logische Kette: Beruflich qualifizierte Jugendliche haben es leichter, einen Arbeitsplatz zu finden. Wo die betriebliche Integration funktioniert, da gibt es auch in anderen Lebensbereichen kaum Probleme. Diese Jugendlichen sind ein Teil unserer jungen Generation und keine Fremden. Es liegt im gemeinsamen Interesse, Unterschiede bei den Startchancen für ihre Zukunft zu überwinden.
Das Wort hat nunmehr der Parlamentarische Staatssekretär Norbert Lammert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion gibt uns gemeinsam Gelegenheit, über ein Thema zu sprechen, das weder ein Randthema der Bildungspolitik noch ein Randthema unserer Gesellschaftspolitik ist und sein darf, das vielmehr gerade diese beiden Bereiche in einem ganz offensichtlich engen und nicht auflösbaren Zusammenhang darstellt.Über zwei Drittel der ausländischen Kinder und Jugendlichen sind in Deutschland geboren. Vermutlich der größte Teil von ihnen wird auf absehbare Zeit, wenn nicht auf Dauer, in Deutschland bleiben. Allein dieser zunächst einmal ganz vordergründige Gesichtspunkt beschreibt hinreichend die Größe und die Bedeutung einer Aufgabe, die von der Bundesregierung und allen relevanten politischen und gesellschaftlichen Kräften seit vielen Jahren engagiert verfolgt wird. Es gibt unter uns allen ganz gewiß überhaupt keinen Zweifel darüber, daß die soziale und berufliche Integration ausländischer Jugendlicher in diesem Zusammenhang ein besonders wichtiges Ziel ist und bleibt. Dies war wohl auch der eigentliche Anlaß für diese Große Anfrage und ihre Beantwortung.Die Bundesregierung hat seit langem Maßnahmen zur Verbesserung der Bildungschancen für ausländische Kinder und Jugendliche in allen Bereichen unseres Bildungssystems unterstützt. Dabei geht es von der Zielrichtung her darum, den jungen Ausländern die gleichen Rechte und, soweit eben möglich, auch die gleichen Chancen für eine qualifizierte Berufsausbildung wie ihren deutschen Altersgenossen zu verschaffen. An diesem Ziel hat sich nichts geändert. Richtig ist, daß dieses Ziel sicher noch nicht erreicht ist. Richtig ist aber auch, daß wir uns heute in einer günstigeren Situation befinden, als das noch vor einigen Jahren der Fall war.Die Bundesregierung hat dazu erhebliche Maßnahmen ergriffen, die in der Antwort im einzelnen dokumentiert sind und hier nicht wiederholt werden müssen. Es versteht sich fast von selbst, daß sie dies natürlich auch in Zukunft tun wird, gerade weil, wie der bisherige Verlauf der Debatte gezeigt hat, niemand bei allen erreichten Erfolgen übersehen wird, daß wir das gemeinsame Ziel sicher noch nicht in befriedigendem Umfang erreicht haben.Ich will allerdings darauf aufmerksam machen, daß dies alleine durch die Bundesregierung — ich könnte im übrigen auch sagen: alleine durch Politik — nicht zu erreichen ist. Dies ist überhaupt nur dann zu bewältigen, wenn es von allen politischen und gesellschaftlichen Kräften als eine Gemeinschaftsaufgabe begriffen wird, d. h. nicht nur intellektuell begriffen, sondern auch angepackt wird.
Es liegt in der Logik einer solchen Debatte, daß die einen eher auf die in der Zwischenzeit erreichten Erfolge und die anderen eher auf die noch vorhandenen Defizite hinweisen. Es ist im übrigen sicher gut, daß es, unabhängig von der Präzision der Rollenverteilung, die dabei auch immer zum Ausdruck kommt, den Hinweis auf das eine wie auf das andere gibt; denn beides ist ja wahr.Ich denke, es ist auch vernünftig festzuhalten, daß die Situation ausländischer Jugendlicher in unserem Bildungssystem ganz gewiß nicht perfekt ist. Aber es ist sicher auch fair, darauf hinzuweisen, daß die Situation ausländischer Jugendlicher in unseren Bildungseinrichtungen heute deutlich besser ist, als das vor zehn oder gar vor 20 Jahren der Fall war.
Das gibt uns, Frau Kollegin Odendahl, miteinander die Motivation, dieses Thema nicht nur für ein ernsthaftes Problem zu halten, sondern auch gemeinsam davon überzeugt zu bleiben, daß dann, wenn man sich darum bemüht, Schritt für Schritt die Erfolge erreicht werden können, die Ihnen wie mir aus den genannten Gründen besonders wichtig erscheinen.Hier ist darauf hingewiesen worden, daß sich in den vergangenen Jahren etwa der Anteil der ausländischen Gymnasiasten verdoppelt hat, daß ihr Anteil an den Realschülern auf das mehr als Zweieinhalbfache gestiegen ist, daß auch die Zahl der ausländischen Auszubildenden mehr als verdoppelt werden konnte. Gleichwohl ist richtig, daß die entsprechenden Zahlen immer noch — zum Teil deutlich — hinter den
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Parl. Staatssekretär Dr. Norbert Lammert Vergleichszahlen deutscher Jugendlicher zurückliegen. Das macht auf der einen Seite die Strecke deutlich, die wir schon hinter uns gebracht haben, und es zeigt auf der anderen Seite die Strecke, die wir miteinander noch gehen müssen.Allerdings dürfen wir dabei bitte auch nicht übersehen, daß für das unterschiedliche Bildungsverhalten von Jugendlichen, insbesondere auch von ausländischen Jugendlichen, die Erfahrungen, die Gewohnheiten, die Lebensplanungen und die Wertorientierungen der jeweiligen Familien und Elternhäuser eine beachtliche Rolle spielen, die wir mit politischen Mitteln nur begrenzt beeinflussen können und — so füge ich hinzu — auch nur begrenzt beeinflussen dürfen.Das verdeutlicht die Gratwanderung und die Sensibilität, die wir bei dieser Gratwanderung miteinander aufbringen müssen, weil das Erreichen eines bestimmten statistischen Gleichstandes nicht die alleinige Meßlatte für die Bildungspolitik für ausländische Jugendliche sein darf, um die wir uns ganz gewiß auch in den nächsten Jahren miteinander bemühen wollen.Ich bestätige Ihnen, Frau Odendahl, gerne: Die Modellversuche, die nicht nur mit beachtlichen Mitteln, sondern auch mit persönlichem Engagement von Menschen durchgeführt werden, machen nur dann Sinn, wenn sie nicht anschließend samt Erfahrungsbericht in den Akten verschwinden, sondern wenn sie von all denjenigen, die in diesem Bereich unmittelbar oder mittelbar Verantwortung tragen, als Orientierungs- und gleichzeitig als Kreativitätshilfe für den einen oder anderen zusätzlichen Ansatz tatsächlich aufgegriffen werden.Ich nutze gerne die Gelegenheit — auch im Anschluß an das, was unmittelbar vor mir die Kollegin Schmalz-Jacobsen gesagt hat —, vor allen Dingen denjenigen im Bereich der Wirtschaft zu danken, die mehr als andere sowohl verstanden haben, daß wir hier eine Gemeinschaftsaufgabe lösen müssen, als offensichtlich auch gemerkt haben, daß es in ihrem eigenen Interesse liegt, sich dieser Aufgabe zu stellen. Das gilt mehr als für jeden anderen Wirtschaftsbereich für das Handwerk.Man hat gelegentlich in solchen Zusammenhängen den Eindruck, daß bestimmte Bewußtseinsprozesse einschließlich der damit verbundenen ökonomischen Chancen in den großen Wirtschaftsbereichen und den ganz großen Betrieben unseres Landes offensichtlich viel länger brauchen als in den kleinen und mittleren Unternehmen, deren Leistungsfähigkeit man im allgemeinen aus der anderen Warte manchmal etwas herablassend beurteilt.Ich halte ausdrücklich fest: Die Lösung des Problems der Integration ausländischer Jugendlicher liegt nicht nur im Interesse einer gelingenden gesellschaftlichen Integration, sie liegt auch ganz gewiß im ökonomischen Interesse der Betriebe, die sich, soweit sie das noch nicht im gleichen Umfang tun, dieser Aufgabe stellen müssen.
Herr Staatssekretär, erstens habe ich den Wunsch nach Beantwortung einer Zwischenfrage vorliegen.
Zweitens möchte ich darauf aufmerksam machen, daß Sie zu Recht gesagt haben, in einer solchen Debatte sei es ganz natürlich, daß der eine Defizite und der andere Erfolge aufweise. Offensichtlich sind Sie bei diesem Thema so engagiert, daß Ihnen nicht auffällt, daß Sie Ihre Redezeit schon deutlich überschritten haben. Darauf möchte ich Sie aufmerksam machen.
Ich bitte darum, die Zwischenfrage zu stellen.
Herr Staatssekretär, wie bewerten Sie aus der Sicht der Bundesregierung, nachdem Sie sich eben zum Handwerk und zur Industrie geäußert haben, das Verhalten des öffentlichen Dienstes, das von Frau Schmalz-Jacobsen sehr überzeugend und leider mit unseren Erfahrungen übereinstimmend beurteilt worden ist?
Angesichts der mir in meiner Rolle als Staatssekretär abverlangten Freundlichkeit der Formulierung, meine ich sagen zu müssen, daß das, was der öffentliche Dienst in diesem Aufgabenbereich vorzuzeigen hat, zumindest unbefriedigend, vielleicht sogar beschämend ist.
Ich habe ja im übrigen deswegen vorhin aus guten Gründen darauf hingewiesen, daß hier eine ganz offensichtlich unterschiedliche Bereitschaft zur Wahrnehmung dieser Aufgaben in unserer Gesellschaft — auch aus den Daten, die die Bundesregierung selber vorlegt — deutlich zu erkennen ist und daß die Debatte über solche Sachverhalte nur dann Sinn macht, wenn man auch bereit ist, daraus gemeinsam Konsequenzen zu ziehen.
Daß der Präsident an dieser Stelle bei mir ein besonderes Engagement vermutet, freut mich. Es rechtfertigt vielleicht die eine Minute, die ich gegenüber der zugestandenen Redezeit überschritten habe.
Mit dem ausdrücklichen Dank an all diejenigen, die erstens dieses Thema auf die Tagesordnung gebracht haben und die sich zweitens über solche Debatten hinaus um die Bewältigung der damit verbundenen Aufgabenstellungen bemühen, möchte ich daher diesen Beitrag abschließen.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Margot von Renesse das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär, ich teile Ihre Auffassung, daß dies eine gemeinsame Aufgabe ist, die wir uns alle vornehmen müssen. Dabei ist die Frage, ob das Glas halbvoll oder halbleer ist, sicherlich unter verschiedenen Rollenvorstellungen — von denen wir hoffen, daß sie 1994 umgekehrt werden —, unter verschiedenen Gesichtspunkten zu sehen.
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15990 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Margot von RenesseAber einen realen, meßbaren Erfolg hat unsere Große Anfrage schon gehabt, und darüber herrscht bei uns Jubel und Heiterkeit. So war nämlich das von Ihnen ja auch in der Beantwortung unserer Großen Anfrage genannte Projekt in Köln bis zum vergangenen Jahr in seiner Weiterförderung äußerst gefährdet. Nunmehr ist es offensichtlich ein Glanzpunkt der Politik der Bundesregierung und hat große Aussicht darauf, daß es noch länger leben wird, als ursprünglich erwartet.Dasselbe gilt im Prinzip auch für die regionalen Beratungsstellen in meinem heimatlichen Bundesland Nordrhein-Westfalen, die auch in der Beantwortung unserer Großen Anfrage besonders herausgestellt werden und die gerade auch das Engagement, das in Nordrhein-Westfalen gegenüber ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern herrscht, deutlich unterstreichen.Dies ist schon einmal ein Erfolg. Das, was Sie gesagt haben — daß Sie denen danken, die dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt haben —, beziehen wir deshalb ganz deutlich auf uns, die Opposition. Denn dieses Thema ist weiß Gott des Schweißes der Edlen wert.Wir beschäftigen uns ja mit diesem Problem nicht nur, weil es eine moralische Bringschuld ist, die unsere Gesellschaft gegenüber denen hat, die unter „Benachteiligtenprogrammen" firmieren, sondern wir tun es deshalb, weil uns die schiere Notwendigkeit im eigenen Interesse allmählich dazu veranlassen muß. Wir haben eine Enquete-Kommission „Demographischer Wandel", und wir wissen aus den Hochrechnungen unterschiedlichster Organisationen — so der Bundesanstalt für Arbeit, so der Rentenversicherer —, daß wir auf diejenigen, die zum Glück inzwischen bei uns leben und arbeiten, angewiesen sein werden.Frau Schmalz-Jacobsen wies auf die eigentümliche Diskrepanz hin, die zwischen den offenen Lehrstellen auf der einen Seite und der Tatsache, daß junge Ausländer und Ausländerinnen bei uns Lehrstellen suchen, besteht. Es gibt andere mehr.Nun haben Gott sei Dank einige Betriebe — insbesondere im Bereich des Handwerks; das ist richtig — daraus Konsequenzen gezogen. Sie öffnen sich ihren eigenen Notwendigkeiten wie dem Bedarf der Ausländerinnen und Ausländer. Dabei habe ich auch Probleme mit dem Wort Ausländer, Ausländerin bei Leuten, die Kölsch oder bayerische Dialekte reden, wie ich das nie könnte, und die so einheimisch sind wie nur was, so daß man sich fragt, ob das Wort Ausländer, Ausländerin überhaupt noch angemessen ist, ob wir nicht längst andere Unterscheidungsmerkmale finden müssen, um die zu kennzeichnen — und darum geht es ja bei dieser ganzen Debatte —, die zu uns gehören.
Sie kenntlich zu machen mit anderen Kriterien ist vielleicht auch eine rechtspolitische Aufgabe. An der arbeiten ja auch gerade Sie und wir ebenfalls, wie Sie gut wissen.Wir sind auf sie angewiesen. Mit ihnen so zu arbeiten, daß sie die Verantwortung für diese unsere Gesellschaft tragen können, daß sie die Stafetten von der jeweils ausscheidenden oder noch aktiven Generation übernehmen wie unsere eigenen Kinder, unsere „guten deutschen" Kinder auch, ist eine Notwendigkeit, vor der wir stehen. Diese Notwendigkeit verbietet es uns, darauf zu hoffen, daß sich so etwas naturwüchsig abspielt.In der Tat, Integration wird über die Jahre, über die Jahrzehnte, über die Jahrhunderte stattfinden. Wir leben aber in einer Zeit, in der wir nicht darauf warten können, was sich sozusagen pflanzlich entwickelt. Wir müssen dies fördern, wir müssen dies bewirken. Dafür gibt es Instrumente. Auch in Ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage finden sich ja einige sehr brauchbare, sehr interessante Erfahrungen, die wir dem zugrunde legen können, was wir in Zukunft tun müssen.Meine Damen und Herren, ich will die Debatte über die Frage „Einwanderungsland Deutschland ja oder nein?" an dieser Stelle nicht aufwärmen; ich will nur auf eins hinweisen. Wir alle wissen, daß sich Einwanderung vollzogen hat und vollzieht, wie immer wir mit rechtlichen oder sonstigen Instrumentarien darauf reagieren. Das heißt, wir leben in einer Gesellschaft, in der auch andere als die von uns gewohnten Kulturen, Sprachen und Hintergründe existieren und sich entwickeln.Wer sagt eigentlich, wer hat eigentlich zum Gesetz erhoben — an einer Stelle scheint dieses alte Vorurteil auch in Ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage aufzuscheinen —, daß etwa auf einem islamischen Hintergrund bestimmte Tugenden der Arbeitshaltung, die wir für deutsch ausgeben, nicht auch existieren? Man fahre einmal in die Türkei und sehe sich an, wie Leute arbeiten, mit welchem Fleiß, mit welcher Selbstverständlichkeit, mit welchem Verantwortungsbewußtsein. Von dieser Vorstellung, daß man den kulturellen Hintergrund Deutschlands brauche, um ein anständiger Arbeitnehmer, eine anständige Arbeitnehmerin — verläßlich, fleißig, pünktlich usw. — zu sein, müssen wir uns allmählich verabschieden.
Wir haben — ich möchte das, weil zu meinem eigenen Hintergrund auch solche Erfahrungen gehören, noch einmal in Erinnerung rufen; manchmal scheint es mir im Westen in Vergessenheit zu geraten — multikulturelle Traditionen der Deutschen. Die riesigen Ströme von Deutschen, die insbesondere in den Osten gezogen sind und, ohne daß Hans nun Janusz werden mußte oder Iwan, dort mit den Kulturen, die um sie herum waren, gelebt und gearbeitet haben, mit ihnen im Austausch gewesen sind, sind ein Beispiel dafür. Davon könnten wir partizipieren.Selbstsicherheit der eigenen Identität und Akzeptanz dessen, was um einen herum ist, schließen sich nicht wechselseitig aus. Man muß nur mit offenen Augen sehen, was andere haben und was wir ihnen nicht erst beibringen müssen.Gewiß, es gibt Schwierigkeiten in diesen Bereichen. Sie sind aber doppelter Natur. Was wir insonderheit angehen müssen, sind die Schwierigkeiten, die bei
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15991
Margot von Renesseuns liegen, die eine Mischung aus Vorurteilen, zum Teil auch genährt durch manche politische Debatte — Vorsicht bei den Zungenschlägen, Vorsicht davor, solche Vorurteile nicht auch noch zu füttern —, darstellen, die auch aus Nichtwissen resultieren.Ich denke, daß hier viel zu tun ist. Ich finde sehr interessant, was Sie, Frau Schmalz-Jacobsen, besonders erwähnten: die vielleicht demnächst zahlreicheren Erfahrungen aus binationalen Projekten. Wenn Menschen erfahren, daß das, was sie hier lernen, auch in ihrem Herkunftsland angewendet werden kann, daß das austauschbar ist — hier liegt in der Tat eine große Aufgabe der Bundesregierung, die da natürlich auch die besseren Kontakte herstellen kann —, dann mag es auch sein, daß das für sie und für ihre Eltern von noch größerem Interesse ist. Ich denke, daß man auch aus solchen Projekten sehr viel lernen kann.Meine Damen und Herren, es gab einmal einen Menschen, dessen Bedeutung in einer Vielzahl von Weltreligionen unbestritten ist. Das war der Prophet Jesaja, der seinem Volk, dem Volk Israel, ein Wort zurief, als sie sich im babylonischen Exil befanden, nämlich: „Suchet der Stadt Bestes." Er meinte damit nicht die Hauptstadt Israels, Jerusalem; er meinte damit die Stadt, in der sich das Volk Israel zu diesem Zeitpunkt befand, nämlich Babylon.Er meinte — ich denke, das werden wir unseren ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern auch sagen müssen —: Nehmt die Umwelt, in der ihr lebt, ernst. Ihr braucht Euch nicht aufzugeben; ihr könnt die sein, die ihr seid. Aus Hassan muß nicht Hans, aus Kahir nicht Karl werden, aber nehmt die Verantwortung und die Möglichkeit ernst, die ihr in diesem Land habt, nämlich mit uns gemeinsam zu leben und zu arbeiten. Wir warten auf euch.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Maria Eichhorn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unser Bildungssystem hat eine wichtige Aufgabe bei der Integration ausländischer Jugendlicher zu erfüllen. Die Eingliederung junger Menschen anderer Nationalitäten und anderer Sprachen in unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem erfolgt in erster Linie über Schule und Betrieb.Unter den knapp über 200 000 ausländischen Jugendlichen in den alten Bundesländern, die sich 1991 in einer beruflichen Ausbildung befanden, waren 40 % weibliche Auszubildende. Statistiken sagen uns, daß junge Frauen ausländischer Herkunft trotz erheblicher Verbesserungen in den letzten Jahren mehr als alle anderen von fehlender beruflicher Qualifikation und Arbeitslosigkeit betroffen sind. Es stellt sich die Frage: Woran liegt das?Ausländische Eltern wünschen sich für ihre Kinder unabhängig vom Geschlecht einen Beruf, der für die Familie Ansehen bringt, selbständig ausübbar ist und bei einer Rückkehr in das Heimatland verwertbar ist. Bei Mädchen soll es sich — das ist heute schon einmal angesprochen worden — um einen „sauberen" Beruf handeln, der leicht und einfach auszuüben ist. Für Eltern aus bestimmten Herkunftsländern darf der Beruf nicht unweiblich und muß auch in moralischer Hinsicht unzweifelhaft sein.Bei einer Repräsentativbefragung von Ausländerinnen und Ausländern im Alter von 15 bis unter 30 Jahren wurde festgestellt: Der Ausbildungsanteil junger Ausländerinnen liegt noch weit unter dem Anteil deutscher Jugendlicher. Zwei Drittel der deutschen, aber nur ein Drittel der ausländischen Schulabgängerinnen befinden sich in einer beruflichen Ausbildung. Ausländerinnen sind wesentlich häufiger von Berufslosigkeit betroffen als deutsche Frauen. Junge Ausländerinnen ohne deutschen Schulabschluß haben fast keine Chance auf eine berufliche Qualifizierung. Dieses Los trifft in besonderer Weise die türkischen Ausländerinnen. Von ihnen bleibt mehr als die Hälfte der 20- bis 25jährigen ohne Ausbildung. Bei den anderen Nationalitäten ist jede dritte Frau betroffen.Eine Analyse zeigt, daß sich nur 15 % der berufslosen Ausländerinnen um eine Lehrstelle beworben haben. Welche Gründe gibt es hierfür? Ein Drittel der jungen Ausländerinnen ohne Ausbildung ist meist nach dem 16. Lebensjahr nach Deutschland gekommen und hat hier keine allgemeinbildende Schule besucht. Diese jungen Frauen hatten meistens eine andere Lebensperspektive. Sie waren vielleicht schon jung verheiratet. Nur knapp die Hälfte stand bei ihrer Einreise dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Jede zehnte hat sich dennoch um einen beruflichen Einstieg bemüht. Einen Ausbildungsplatz haben jedoch nur 2 % gesucht.Zwei Drittel der berufslosen Ausländerinnen haben eine allgemeinbildende Schule in der Bundesrepublik besucht. Ein großer Teil, immerhin 43 %, war an einer beruflichen Ausbildung zumindest interessiert. Jede fünfte hat sich um eine Ausbildung bemüht, aber nur jede dritte war erfolgreich. Da sie im Vergleich zu deutschen Ausbildungsplatzbewerberinnen oft weniger qualifizierte Schulabschlüsse haben, resignieren sie von vornherein.Fast jede Ausländerin mit abgeschlossener Berufsausbildung verfügt — ich denke, das ist bemerkenswert — über einen deutschen Schulabschluß; 61 % über einen Hauptschul-, 37 % über einen Realschulabschluß. Ein gutes Deutsch ist natürlich selbstverständlich.Ausländische Mädchen entschieden sich wie auch die deutschen Kolleginnen vorwiegend für sogenannte Frauenberufe, allerdings zu einem noch erheblich stärkeren Prozentsatz; denn über 62 % der weiblichen ausländischen Auszubildenden wurden als Friseurin, Sprechstundenhelferin, Bürofachkraft oder Verkäuferin ausgebildet. Für die Friseurausbildung entschieden sich besonders viele türkische und italienische Mädchen, was zur Folge hat, daß viele derjenigen, die einen bestimmten Frauenberuf gelernt haben, hernach besonders leicht arbeitslos werden.
Eine abgeschlossene Berufsausbildung ist Voraussetzung, um eine Stelle mit qualifizierter Tätigkeit zu
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Maria Eichhornerhalten. Berufliche Qualifikation schützt allerdings auch junge Ausländerinnen nicht vor Arbeitslosigkeit. Jede dritte Ausländerin mit oder ohne Ausbildung war im Verlauf ihres Erwerbslebens mindestens einmal arbeitslos. Doch lag der Arbeitslosenanteil der berufslosen über dem der beruflich qualifizierten jungen Frauen.Welche Schlußfolgerungen sind aus den Erkenntnissen zu ziehen? Ausländische Eltern unterstützen in der Regel die beruflichen Pläne ihrer Töchter, soweit diese nicht im Widerspruch zu den Wertvorstellungen der Familie stehen. Daher ist es sinnvoll, sie möglichst früh in die Berufswahlvorbereitung mit einzubeziehen und bestehende Informationsdefizite abzubauen.Bei der Berufsberatung in den Abschlußklassen muß die Situation der ausländischen Mädchen besonders berücksichtigt werden. An Schulen mit höherem Ausländeranteil kann durch Gruppenarbeit außerhalb des Unterrichts die berufliche Orientierung gezielt erfolgen.Um Lern- und Verständnisschwierigkeiten in der Berufsschule zu begegnen, kann eine besondere didaktische Aufbereitung der theoretischen Lehrinhalte für den Berufsschulunterricht ausländischer Schüler hilfreich sein. Für Lehrer an Berufsschulen mit hohem Ausländeranteil sollte die Möglichkeit bestehen, an geeigneten Fortbildungsmaßnahmen, insbesondere Sprachkursen, teilzunehmen.
In verschiedenen Städten und Gemeinden gibt es Initiativen, Arbeitskreise und Projekte der Ausländersozialarbeit mit sozialpädagogischen Angeboten für ausländische Mädchen. Die Erfahrungen zeigen, daß sich vor allem eine Mischung aus offenen Angeboten sowie schulischen und beruflichen Förderungsmaßnahmen gut bewährt hat.Für Jugendliche, die in Deutschland keine Schule besucht haben, sind Sprachkurse zur Förderung der Integration dringend erforderlich. Sie sind Voraussetzung für eine erfolgreiche berufliche Nachqualifizierung.Junge Frauen ausländischer Herkunft konnten in den letzten zehn Jahren — so haben wir heute gehört — ihren Anteil an der beruflichen Erstausbildung erheblich steigern.
Frau Kollegin Eichhorn, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Doch bestehen zum Teil noch große Defizite. Die Integration junger Ausländerinnen in das Bildungs- und Ausbildungssystem erfordert daher weiterhin eine besondere Unterstützung.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Graf Waldburg-Zeil.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als letzter Redner möchte ich mich bedanken. Ich möchte mich bei der Opposition bedanken, daß sie diese sehr fundierte Große Anfrage eingebracht hat. Sie hat uns Anlaß gegeben, einen sehr interessanten Bericht der Bundesregierung zu diskutieren. Ich meine, es war eine sehr gute Debatte. Diese Debatte werden wir im Ausschuß fortsetzen, und wir werden diesen Antrag natürlich sehr gründlich beraten. Vielleicht gelingt es uns, einen gemeinsamen Antrag daraus zu machen. Auf jeden Fall freue ich mich auf die Beratungen im Ausschuß.Ausländische Kinder und Jugendliche: Ich stolpere immer über das Wort „ausländische". Ich komme aus einem Wahlkreis ganz im Süden. Da ist die Schweiz ganz in der Nachbarschaft, und die Österreicher sind dort. Es gibt österreichische und schweizer Kinder, die bei uns, und Kinder von uns, die drüben lernen. Ich habe noch nie gehört, daß die Ausländereigenschaft dieser Kinder irgend etwas für ihren Lernerfolg in positiver oder negativer Hinsicht bedeutet hätte.
Was die Sprache anlangt, müßte das — sehr bald zumindest — für zwei Drittel der hier lebenden Ausländerkinder ebenfalls gelten, nämlich für diejenigen, die hier geboren sind und die sprachliche Sozialisation im Kindergarten sowie in der Grundschule gehabt haben.Der einzige Grund, warum das in dem umfassenden Sinne noch nicht der Fall ist, ist der, daß meist noch eine Elterngeneration vorhanden ist, die diese Integration nicht erfahren hat. Deshalb muß das Hauptziel bei der Beratung dieser Elterngeneration liegen, dort, wo die Schwierigkeiten sind.Ich meine, mit das Wichtigste liegt in der Elternmitwirkung dort, wo sie ihren Kern hat, nämlich in der Klasse, in der Klassenpflegschaft. Da müssen diese Gespräche geführt werden.Dafür gibt es ganz einfache Mittel. Natürlich kommt niemand, wenn er die Sprache nicht kann. Aber wenn man einlädt und Dolmetscher mit anbietet, dann hat das eine ganz andere Chance. Ich habe in Experimenten bereits gesehen, daß so etwas möglich ist und daß dann plötzlich die Eltern solcher Kinder in großer Anzahl kommen.Mir hat eines in dem Bericht zu denken gegeben. Zu der Beratung gehört auch die Beratung im Rahmen der Berufsbildung. Wenn tatsächlich 60 % der Jugendlichen diese Beratung und noch einmal 24 % weitere Beratungsmöglichkeiten in Anspruch nehmen, dann aber trotzdem nicht einmal 40 % eine Berufsausbildung aufnehmen, dann ist da irgendein Fehler. Der Fehler muß nicht unbedingt bei den Jugendlichen, die die Berufsbildung nachfragen, liegen; sondern vielleicht sollten wir prüfen, ob die Berufsbildung tatsächlich dem entspricht, was von ihr erwartet wird.Die schwierigste Gruppe — das ist gar keine Frage — besteht aus denen, die nach der Grundschule kommen, und vor allem aus denen, die erst nach der Pflichtschule hierherkommen. Das ist das ganze Feld, in dem das Benachteiligtenprogramm greifen muß,
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Alois Graf von Waldburg-Zeilwo berufsschulvorbereitende Maßnahmen durchgeführt werden müssen, vor allem Sprachunterricht, Sprachunterricht und nochmals Sprachunterricht.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte eine Gruppe ansprechen, die heute noch nicht erwähnt wurde. Bei der Beratung im Ausschuß müssen wir wahrscheinlich auf diese Gruppe zurückkommen. Das ist die Gruppe der Kinder von anerkannten Asylbewerbern und von solchen, die hier geduldet werden; sie sind langfristig hier.Wir haben im Jahre 1989 hier einen Antrag beraten, der den entwicklungspolitischen Beitrag zur Lösung von Weltflüchtlingsproblemen betraf. Wir haben in diesem Antrag darauf hingewiesen, daß es eine ganz bedeutsame Rolle spielt, was solche Kinder beruflich lernen — ob sie hierbleiben wollen, ob sie weiterwandern wollen oder ob sie irgendwann in ihre Heimatländer zurückkehren wollen.Es gibt im Moment ein ganz schlagendes Beispiel dafür, wie wichtig das ist: Das ist Eritrea. Nach Eritrea ist eine ganze Menge von hier lebenden Flüchtlingen zurückgekehrt. Diejenigen, die hier etwas gelernt haben, haben etwas daraus gemacht, bis hin zu Firmengründungen. Das ist ein entwicklungspolitischer Effekt, der sich aus der hier in der Bundesrepublik gewonnenen Bildung ergeben hat. Ich möchte auf diesen Faktor gerne hinweisen in der Hoffnung, daß uns im Ausschuß noch einiges dazu einfällt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der Debatte ist mehrfach angesprochen worden, daß es auch Erfolge gegeben hat, daß es hinsichtlich der Zielzahlen zwar noch immer Unterschiede gibt, daß man aber immerhin ein gutes Stück vorangekommen ist, so weit, daß man im Grunde genommen hochrechnen könnte, bis wann ein endgültiger Erfolg gegeben sein wird.Das zeigt, daß wir in diesem Felde nicht sozusagen alles neu erfinden müssen, sondern eine ganze Menge bewährter Instrumente weiter einsetzen, vertiefen, durchdenken sollten. Wenn wir auf diesem Wege konsequent weitergehen, kann der Erfolg auf die Dauer nicht ausbleiben.Ich bedanke mich.
Ich schließe die Aussprache. Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/5989 zu überweisen zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft und zur Mitberatung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, an den Ausschuß für Frauen und Jugend sowie an den Ausschuß für Familie und Senioren. Besteht darüber Einverständnis? — Dies ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
— Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Familiennamensrechts
— Drucksache 12/3163 —
— Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Namensrechts von Ehe, Familie und Kindern
— Drucksache 12/617 — (Erste Beratung 31. Sitzung)
Beschlußempfehlung und Bericht des
Rechtsausschusses
— Drucksache 12/5982 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Gres Dr. Eckhart Pick
Burkhard Zurheide
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Dagegen erhebt sich ganz offensichtlich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Joachim Gres das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Familiennamensrecht geht heute ein langer Gesetzgebungsprozeß zu Ende. Vor zwei Jahren hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, daß der Gesetzgeber von 1976 — das war damals die sozialliberale Koalition aus SPD und F.D.P. — mit der damaligen Namensrechtsregelung gegen die Verfassung verstoßen hatte. Ehepartner konnten sich seit dem Jahre 1976 zwar frei entscheiden, ob sie als Ehenamen den Namen des Mannes oder den der Frau führen wollten. Konnten sie sich aber vor dem Standesbeamten nicht einigen, wurde der Name des Mannes als Ehename eingetragen.Diese gesetzliche Regelung aus dem Jahr 1976 verstieß nach dem Urteil des Bundesverfasssungsgerichts gegen den Gleichheitsgrundsatz und war damit nichtig. Eine gesetzliche Neuregelung des Familiennamensrechts wurde damit zwingend notwendig, wenn die vom Verfassungsgericht vorgesehene Interimslösung nicht zu einer Dauerlösung werden sollte.Bei der notwendigen Erarbeitung der von der Bundesregierung und von den Koalitionsfraktionen jetzt vorgeschlagenen Lösung galt es, das Spannungsfeld zwischen verschiedenen Grundsätzen und Prinzipien zu beachten. Da war einmal der Gleichheitsgrundsatz und auch das mit dem Namen verbundene Persönlichkeitsrecht der einzelnen Ehepartner zu wahren. Andererseits ging es um den Schutz von Ehe und Familie, aber auch um grundsätzliche staatliche Ordnungsprinzipien.Die von den anderen Seiten dieses Hauses vorgeschlagenen vermeintlich einfachen Lösungen haben sich, wie so oft, bei näherem Hinsehen als nicht tauglich erwiesen. Das gilt zunächst einmal für den
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Joachim Gresscheinbar einfachen, aber, wie ich meine, pseudoliberalistischen Ansatz, es doch einfach den Ehepartnern völlig freizustellen, wie sie in der Ehe heißen wollen; also Beibehaltung des Geburtsnamens in der Ehe oder Beibehaltung des zum Zeitpunkt der Eheschließung geführten Namens in der Ehe oder beliebige Bildung von Doppelnamen aus den Namen beider Ehepartner, auch wenn diese Namen aus Zweit- oder Drittehen stammen. Dies alles freiweg nach dem Motto von Goethe: Gefühl ist alles, Name ist Schall und Rauch.Das alles würde in kurzer Zeit, in den nächsten Generationen, zu einem völligen Namenswirrwarr mit allen ordnungspolitischen Konsequenzen führen und ohne Not die in Deutschland traditionell vorgesehene Außendokumentation einer Ehe aufheben.Der grundsätzliche konzeptionelle Fehler dieses Lösungsansatzes zeigt sich aber insbesondere bei dem. Problem der Namensgebung für Kinder, die aus diesen Ehen hervorgehen. Durch die überwiegende Bildung von Doppelnamen würden komplizierte Namensfindungsprozeduren notwendig, bei denen im Extremfall durch das Los ermittelt werden müßte, aus welchen Namensbestandteilen sich der Name des Kindes schließlich zusammensetzen soll, wenn man drei- oder viergliedrige Geburtsnamen verhindern will.Abgesehen von dem unwürdigen Verfahren, daß über den Namen eines Kindes das Los geworfen wird, wäre dies der Abgesang auf die identitätsstiftende Namenskontinuität innerhalb der einzelnen Familien. Kinder der nächsten Generationen müßten genealogische Handbücher bemühen, um überhaupt noch feststellen zu können, mit wem sie verwandt sind.Dieser Lösungsweg war und ist aus unserer Sicht nicht gangbar. Dieser Weg wäre eine Sackgasse, an deren Ende einerseits der völlig beliebige Name und andererseits die digitalisierte persönliche Kennziffer stehen würde, die allein es den Behörden dann noch erlauben würde, die Identität der Bürgerinnen und Bürger verläßlich festzustellen. Es sage keiner, daß dies Schwarzmalerei ist. In Schweden hat genau diese Entwicklung stattgefunden, und in Schweden bemüht man sich, davon wieder wegzukommen.Der andere scheinbar einfache Lösungsansatz wäre, Ehepartnern, die sich auf keinen gemeinsamen Ehenamen einigen können, in Form eines Ehehindernisses schlicht die Eheschließung zu verweigern, da es mit der Haltbarkeit einer Ehe wohl nicht sehr weit her sein kann, wenn sich die Ehepartner zu Beginn der Ehe noch nicht einmal auf einen Ehenamen oder auf einen Familiennamen für ihre Kinder einigen können, so daß deswegen diese Ehe von vornherein erst gar nicht geschlossen werden soll. Einen Gesetzesvorschlag, der diesen Gedanken aufgreift, hat z. B. das sozialdemokratisch geführte Land Hamburg im Bundesrat eingebracht.Die Einführung eines absoluten Ehehindernisses wäre aber, eben gerade wegen des besonderen Schutzes der Ehe und der Familie in der Verfassung, wohl doch bedenklich. Auch die Grundargumentation wegen des zu schützenden Persönlichkeitsrechtes ist nicht unbedingt zwingend. Es ist durchaus denkbar, daß Menschen, die über viele Jahre in der Gesellschaft oder im Beruf aufgetreten sind, sich dort einen Namen gemacht haben und sich erst spät zu einer Ehe entschließen, sich doch sehr schwer damit tun, ihren Namen zugunsten des anderen Ehepartners aufzugeben. Hier ist ein Stück Persönlichkeitsrecht und Namensidentität im Spiel, das von der Rechtsordnung nicht ohne weiteres unberücksichtigt bleiben sollte, zumal sich die individuellen Lebensentwürfe der heutigen Generationen in den letzten Jahrzehnten von dem traditionellen Rollenverständnis von Frau und Mann doch entfernt haben. Auch diesen Lösungsansatz hat die Koalition für den heute vorliegenden Gesetzentwurf daher nicht aufgegriffen.Statt dessen sieht der Gesetzentwurf der Bundesregierung in der Fassung der Vorschläge der Koalitionsfraktionen ein Konzept vor, das einerseits an der bewährten und in der Bevölkerung verankerten Rechtstradition der Namenskontinuität festhält, andererseits aber dem Gleichheitsgedanken und dem Persönlichkeitsrecht — und der Name eines Menschen gehört zum Persönlichkeitsrecht — Rechnung trägt.Das Konzept der Gesetzesvorlage vereinfacht schließlich die einzuhaltenden Verfahren ganz erheblich, nimmt Abstand von Detailperfektionismus und uferlosen Namenskombinationsmöglichkeiten, die auf lange Sicht zu erheblichen administrativen und auch familiären Problemen führen würden.Lassen Sie mich zusammengefaßt kurz die wichtigsten Grundsätze der heute von uns zu treffenden Regelung des Familiennamensrechts skizzieren.Erstens. Der Regierungsentwurf und der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen halten zunächst einmal als Regelfall an dem einheitlichen Familiennamen fest. Der Regelfall soll sein, daß die Ehepartner vor dem Standesbeamten den Geburtsnamen des Mannes oder den Geburtsnamen der Frau als gemeinsamen Ehenamen bestimmen. Dieser Ehename ist dann der Familienname auch für die Kinder, die aus der Ehe hervorgehen. Diese grundsätzliche Regelung entspricht einer alten Rechtstradition in Deutschland. Sie wird von der weit überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert und auch praktiziert. Hiervon abzugehen besteht kein Anlaß.Demgegenüber will der Gesetzentwurf der SPD als Regelfall festschreiben, daß die Ehepartner in der Ehe ihre Geburtsnamen beibehalten und nur auf besonderen Antrag hin einen gemeinsamen Familiennamen bestimmen können. Diese Umdrehung des RegelAusnahme-Verhältnisses halten wir für falsch. Es soll dabei bleiben, daß in der Regel die Ehepartner ihre Eheschließung auch nach außen durch einen einheitlichen Namen dokumentieren.
Nur in den Fällen, in denen sich die Ehepartner — möglicherweise aus gutem Grund — nun partout nicht auf einen gemeinsamen Ehenamen einigen können, sollen die Ehepartner in der Ehe ihren bisherigen Namen beibehalten können.
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Joachim GresDiese Regelung ist verfassungsrechtlich unbedenklich, sie verletzt weder das Gleichberechtigungsgebot noch das Verfassungsgebot des besonderen Schutzes von Ehe und Familie.
Zweitens. Der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen sieht ferner vor, daß zum gemeinsamen Ehenamen nur der Geburtsname des Mannes oder der Geburtsname der Frau gewählt werden kann und damit als Familienname auf die Kinder, die aus der Ehe hervorgehen, übertragen wird. Der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen nimmt damit die vorgesehene Regelung des Regierungsentwurfs nicht auf, daß auch ein in einer Erstehe angenommener Name eines Ehepartners auf eine zweite oder dritte Ehe als Ehe- oder Familienname übertragen werden kann.
Eine derartige Übertragung von erheirateten Namen auf Zweit- oder Drittehen verträgt sich nach unserem Verständnis nicht mit dem Sinn der Ehe und würde nur die Gefühle des vormaligen Ehepartners bzw. dessen Familienangehöriger verletzen.
Eine Notwendigkeit hierzu ergibt sich nicht. Das Ergebnis der Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuß war ganz eindeutig: Die weit überwiegende Mehrheit der Gutachter hat die Tradierung erheirateter Namen auf Zweit- oder Drittehen abgelehnt. Es scheint mir auch kaum eine vernünftige Begründung dafür zu geben, daß sich die Ehepartner in einer Zweit- oder Drittehe einen Familiennamen geben wollen, der aus einer früheren Ehe eines der Ehepartner mit einer dritten Person stammt.In der öffentlichen Diskussion ist den Koalitionsfraktionen unterstellt worden, daß sie mit dieser Abweichung vom Regierungsentwurf insbesondere Träger von adligen Namen schützen wollen. Eine solche Unterstellung ist ganz unsinnig. Soweit diese Unterstellung aus den Reihen der SPD kommt, kann ich nur vermuten, daß sich die Träger adliger Namen mit Erfolg an die SPD-Fraktion gewandt haben. Denn genau diese Regelung, die die Koalitionsfraktionen heute dem Parlament zur Beschlußfassung vorschlagen, steht auch in dem ursprünglichen Gesetzentwurf der SPD-Fraktion, der heute ebenfalls zur Abstimmung steht. Wir sollten in dieser Frage, so meine ich, den Mut haben, einheitlich votieren zu können, weil damit offenbar fraktionsübergreifend ein vernünftiger Vorschlag gemacht wird.
Drittens. Der ursprüngliche Regierungsentwurf und der Entwurf der SPD sehen als vermeintlich vermittelnde Lösung zwischen Ehepartnern, die sich nicht auf den Namen der Frau oder den Namen des Mannes als gemeinsamen Ehenamen einigen können, die Bildung von Doppelnamen als Ehe- und Familiennamen vor. Diese Idee hat bei erster Betrachtung durchaus etwas Bestechendes, weil der Doppelname „Müller-Schmidt" bei einer Ehe zwischen Herrn Müller und Frau Schmidt nach außen die Tatsache der Eheschließung dokumentiert und auch Kinder mit diesem Doppelnamen ihre Abstammung von den beiden Ehepartnern nach außen verdeutlichen.Bei näherem Hinsehen hat aber die Zulassung von Doppelnamen als Ehenamen ganz erhebliche Nachteile, die nach wenigen Generationen das Namensgefüge in Deutschland grundlegend ändern würden, da sich Doppelnamen als Ehenamen eben automatisch auf die Kinder übertragen würden. Die Probleme entstehen dann, wenn Träger von Doppelnamen später heiraten und sich zur Vermeidung von drei- oder viergliedrigen Namen jeweils erst auf die Einzelnamensbestandteile für sich und für die Kinder verständigen müssen.
Nach wenigen Generationen hätten die so wie in einem Puzzle zusammengesetzten Namen alle Elemente des Beliebigen.Auf die verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten bei der Ehe von Trägern von Doppelnamen ist in der Presse, auch in der Fachpresse zur Genüge hingewiesen worden. Teilweise sind die bis zu 160 Kombinationsmöglichkeiten und die entsprechenden gesetzlichen Regelungen als „chaotisch" und „geradezu lachhaft umständlich" dargestellt worden.Deshalb haben sich die vom Rechtsausschuß angehörten Sachverständigen nach Abwägung aller Argumente mit großer Mehrheit dafür ausgesprochen, Doppelnamen aus ordnungspolitischen Gründen nicht zur Regel werden zu lassen, zumal sich die gern als Beleg für die Sinnhaftigkeit von Doppelnamen als Regelnamen herangezogenen Beispiele aus dem Ausland bei näherer Betrachtung als nicht stichhaltig herausgestellt haben.Es bleibt daher bei dem Geburtsnamen des Mannes oder dem der Frau als Möglichkeit für den gemeinsamen Familiennamen. Wenn einer der Ehepartner dabei mit seinem Geburtsnamen nicht zum Zuge kommt, kann er seinen Namen dem gemeinsamen Ehenamen anfügen oder voranstellen. Dies wird in fast allen Fällen dem Persönlichkeitsrecht der Ehepartner Rechnung tragen und ausreichend sein, um ihre Identität auch in der Ehe zu wahren.Viertens. Die Tauglichkeit des neuen Ehenamensrechts beweist sich aber insbesondere bei der Frage, welchen Namen die Kinder aus einer Ehe tragen sollen, wenn die Eltern keinen gemeinsamen Familiennamen gewählt haben. Der ursprüngliche Gesetzentwurf der Bundesregierung und der Gesetzentwurf der SPD sehen vor, daß dann, wenn sich die Eltern nicht haben einigen können, der Geburtsname des Kindes zwingend aus den Bestandteilen der Namen beider Eltern zusammengesetzt werden soll, wobei die Reihenfolge der Namensbestandteile und die zu berücksichtigenden einzelnen Namensteile von Trägern von Doppel- bzw. Dreifachnamen gegebenenfalls mehrfach durch das Los zu ermitteln wären.Derartige Lotteriespiele würden nach unserer Meinung die Kindeswürde verletzen. Wir stimmen diesem
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Joachim GresVorschlag nicht zu. Die Koalitionsfraktionen sind nicht bereit, diesen Vorschlag als Dauerlösung in das Gesetz zu schreiben. In der Regel dürften Ehen, bei denen sich die Ehepartner noch nicht einmal auf den Geburtsnamen des Kindes einigen können, schon halbwegs gescheitert sein. In dieser Situation z. B. per Zufall einem Kind den Namen eines Ehepartners zuzuwürfeln, der gerade den anderen Ehepartner und das gemeinsame Kind verlassen hat, ist aus unserer Sicht nicht akzeptabel.Die Koalitionsfraktionen sehen daher vor, daß in diesen Fällen das Namensbestimmungsrecht von dem Vormundschaftsrichter auf einen Elternteil übertragen werden kann, nachdem zuvor der Versuch einer gütlichen Einigung zwischen den Ehepartnern vor dem Richter gescheitert ist. Diese Lösung ist sachgerecht, sie entspricht der langjährigen Regelung bei der Nichteinigung der Ehepartner auf den Vornamen des Kindes und wird ebenfalls von der überwiegenden Mehrheit der angehörten Sachverständigen befürwortet.Fünftens sieht der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen vor, daß sich die Ehepartner innerhalb von fünf Jahren nach der Eheschließung entschließen können, einen gemeinsamen Ehenamen zu führen, wenn sie sich hierfür zu Beginn der Ehe nicht gleich haben entscheiden können. Damit wird den Ehepartnern insbesondere für den Fall, daß Kinder aus der Ehe hervorgehen, die Gelegenheit gegeben, im Interesse dieser Kinder noch einen gemeinsamen Familiennamen zu wählen. Allerdings sollte eine derartige Wahlmöglichkeit nicht innerhalb eines beliebigen Zeitraums nach der Eheschließung eingeräumt werden. Wir meinen, daß hierfür eine Befristung notwendig und ein Zeitraum von fünf Jahren ausreichend und geboten ist. Wer sich innerhalb von fünf Jahren nicht dazu entschlossen hat, einen gemeinsamen Ehe- und Familiennamen zu führen, wird dies später auch nicht tun und gegebenenfalls später nur aus sachfremden Erwägungen auf den Gedanken kommen, möglicherweise den gemeinsamen Ehenamen noch zu ändern.Sechstens. Schließlich ist uns vom Bundesverfassungsgericht aufgegeben worden, auch für heute bestehende Altehen Anpassungsregelungen vorzusehen, damit auch Ehepartner aus früher geschlossenen Ehen innerhalb einer kurz bemessenen Übergangsfrist von den Modifizierungsmöglichkeiten des Gesetzes Gebrauch machen können. Dies sieht der Gesetzentwurf vor. Allerdings stellen wir durch den Koalitionsgesetzentwurf sicher, daß eine Änderung des Ehenamens in einer bestehenden Altehe keine automatische Auswirkung auf die heute in der Regel längst volljährigen Kinder aus diesen Ehen hat. Kinder, die älter als 14 Jahre, aber noch nicht volljährig sind, müssen sich einer Namensänderung ausdrücklich anschließen.Meine Damen und Herren, insgesamt enthält der Gesetzentwurf in der jetzt vorgeschlagenen Fassung eine Namensrechtsregelung, die auf der einen Seite die deutsche Rechtstradition des gemeinsamen Ehenamens aufgreift, ein Namenschaos durch die Bildung von Doppel-, Dreifach- oder Vierfachnamen vermeidet, unwürdige Lotteriespiele bei der Bestimmung desKindesnamens verhindert und schließlich in liberaler Form den Ehepartnern, die sich auf keinen gemeinsamen Ehe- oder Familiennamen einigen können, das Recht einräumt, in der Ehe ihre Geburtsnamen fortzuführen.Insgesamt bieten wir mit der jetzt erarbeiteten gesetzlichen Regelung eine praktikable, liberale und im Rechtsbewußtsein der Bevölkerung verankerte Lösung an, die Detailperfektionismus vermeidet und die Ehe und die aus ihr hervorgehenden Kinder als identitätsstiftende Lebensgemeinschaft nach außen zu dokumentieren offenläßt.Ich bitte um Ihre Zustimmung.
Ich kann nur hoffen, daß die Stenographen mitbekommen haben, an welcher Stelle unsere Kollegin Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink fröhlichen Beifall gespendet hat.
Ich erteile unserer Kollegin Margot von Renesse das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muß mich in zweierlei Hinsicht sofort entschuldigen. Erstens: Ich werde nicht während der ganzen Debatte anwesend sein können; ich bin eingesprungen. Zweitens: Ich werde — wiederum aus dem Grund, daß ich eingesprungen bin — nur begrenzt zu den Technika des Namensrechts Stellung nehmen. Ich bitte von daher meine verehrten juristischen Kollegen um Nachsicht, daß es jetzt nicht um alle Einzelheiten der gesetzlichen Regelung, wie Sie sie vorsehen, geht.Einige grundsätzliche Bemerkungen vorzutragen habe ich nun aber die Möglichkeit; ich tue das mit Genuß. Wirrwarr, Chaos stehen gegen Tradition, Ordnung und genealogische Klarheit. Manchmal möchte man meinen, es gebe Leute, die bedauern, daß das Verfassungsgericht — vielleicht sogar zum Bedauern einiger Senatsmitglieder — den Grundsatz der Gleichberechtigung auf dieses Namensrecht anwenden mußte. Es blieb ihm nichts anderes übrig.Die bisherige Regelung verankerte noch immer den Vorrang des Mannesnamens: Wir wissen, daß, wenn sich die Ehegatten nicht auf einen Namen einigen konnten, der Standesbeamte den Mannesnamen eintragen mußte. Es war für jeden, der die Verfassungsgerichtsentscheidungen, z. B. die Stichentscheidungen und dergleichen, ein bißchen kennt, klar, daß dieses vor dem Verfassungsgericht keinen Bestand haben konnte — egal, ob man dieses Ergebnis bedauerte oder freudig begrüßte.
Lange Zeit wurde in der Diskussion um das Namensrecht der Angriff insbesondere von Frauen nach den Erfahrungen, die sie mit ihm machen mußten, nach dem Gesichtspunkt zurückgewiesen — mitunter scheint auch das in der Diskussion immer wieder durch —: Was kann denn schon ein Name sein? Namen sind Schall und Rauch, Namen haben reine Ordnungsfunktion, sie haben doch nichts mit so etwas wie Gleichberechtigung zu tun. Die umgekehrte Mög-
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Margot von Renesselichkeit aber, die es dann gab — nach der Verfassungsgerichtsentscheidung um so mehr —, schmerzt mehr, als es manche Leute zugeben.In der Diskussion über das Namensrecht wird viel weniger rational argumentiert als „ex hohlo baucho".
Das Gewohnte ist immer auch das Richtige und Bewährte. Es darf doch nicht alles anders werden.Meine Herren von der Koalition, Herr Kollege Gres, wenn wir uns die Traditionen des Namensrechts ansehen — lassen Sie mich hinzufügen: insbesondere dessen unter den adeligen Kreisen —, dann sehen wir ein Wirrwarr, ein Chaos, ein Mosaik. Dies beginnt schon bei den Wappen: Dort feiern die Doppelwappen, die Vierfachwappen, die Zwölf- und Sechzehnfachwappen durch das ganze Mittelalter hindurch fröhliche Urständ.
Auch das Namensrecht der westfälischen Bauern — „Schulze, genannt Sowieso" — hat im 19. Jahrhundert existiert und existiert bis heute.Die genealogische Klarheit ist nie verlorengegangen. Sie ging nicht einmal bei den Frauen unter, die häufig ihren Namen verloren. Es ist mir, die ich den Namen meines Mannes trage, kein Problem, meine Vorfahren festzustellen.Im übrigen: Wenn Sie meinen, daß dies durch die Namensklarheit möglich sein müsse, dann gab es diese Namensklarheit für Sie in der Vergangenheit nur für Männer.
Für Frauen war die Frage, ob sie sich mit ihrer Namensgleichheit in ihren Generationsketten wiederfanden, offensichtlich nie ein Problem, durfte es auch nicht sein.Jetzt komme ich doch zu einigen Punkten, die mich besonders bedrücken. Verfassungsrechtlich geschützt sind zwei Positionen, nämlich die Kontinuität des eigenen geführten Namens, der zu einer Identitätsfindung in einer ganz bestimmten Art, wie man sich selber als Dreijähriger in der dritten Person und später sozusagen mit jeder Unterschrift kenntlich machte, sich erlebte und erfuhr, beigetragen hat.
Zum zweiten ist es der Schutz, der nach Art. 6 des Grundgesetzes Ehe und Familie — ich betone: Familie — zugesprochen wird.Tradition, Ordnung und genealogische Klarheit sind keine verfassungsrechtlich geschützten Positionen, schon gar nicht der Geschmack. Ich führe keinen Doppelnamen; es entspricht nicht meinem Geschmack. Unsere verehrte Justizministerin führt einen, und zwar einen sehr silbenreichen. Es muß ihr gutes Recht sein.
Auch wenn ich diese Meinung nicht teile, würde ich niemals versuchen, den berühmten Satz „De gustibus non est disputandum" in der Art und Weise umzusetzen, daß ich mit einem Gesetz dagegen verstoße. Sie aber tun das. Sie machen sich zum Arbiter des Geschmacks — und das als Gesetzgeber, ohne verfassungsrechtliche Legitimation.Zum Ehedoppelnamen: Mir erscheint eine öffentliche Position als sehr wichtig, und das ist die Namenskontinuität. Es muß sich nicht nur der einzelne selbst, sondern es muß ihn oder sie auch die Umgebung am Namen erkennen können. Das spricht für Kontinuität.Eine andere, verfassungsrechtlich ebenso geschützte Position ist Art. 6 des Grundgesetzes. Ein großes biographisches Ereignis, welches die Eheschließung, aber auch die Geburt eines Kindes ist — Familie, auch Art. 6 —, muß es möglich machen, daß man den Namen entgegen der an sich gewünschten Kontinuität ändert. Die Option des gemeinsamen Ehenamens als Doppelname ist eine Möglichkeit, beides zu verbinden. Ihre Argumente dagegen sind nur: Tradition, Ordnung und genealogische Klarheit. Ich bitte Sie! Wo finden Sie gegen diese grundrechtlich geschützte Position eine entsprechend starke grundrechtlich geschützte Gegenargumentation? Es gibt sie nicht.
Sie verbieten diese Option, ohne einen Grund für diesen Eingriff in die Freiheit der Menschen nennen zu können, sich entsprechend ihren grundrechtlich geschützten Rechten zu verhalten.
Der Kindesdoppelname ist kein solches Problem. Es gibt Rechtskreise, in denen ein solcher existiert. Sie wissen damit umzugehen. Die Möglichkeit, die ein Standesbeamter bei zwei Doppelnamensträgern hätte — dagegen ist nichts einzuwenden —, ist die: Einigt euch, oder ihr behaltet eure Namen — und seien es Doppelnamen. Das ist doch kein Problem! Auf diese Weise begrenzen wir, was zu begrenzen ist, damit die Computer der Registerbeamten nicht unter der Last von Sechsfach- oder Zwölffachnamen zerspringen.Sie erlauben auch nicht — das liegt auf der gleichen Ebene — die Weiterführung oder die Übertragung des sogenannten angeheirateten Namens — sei es der eines verwitweten Ehegatten, sei es der eines geschiedenen Ehegatten — auf eine erneute Eheschließung.Meine Damen und Herren, ich habe Erfahrungen mit der Diskussion in meiner eigenen Familie. Merkwürdigerweise begrüßen alle weiblichen Angehörigen der Familie diese Möglichkeit, alle männlichen Angehörigen dieser Familie finden sie abscheulich. Hier muß doch irgendwo ein Problem liegen, das man offensichtlich geschlechtsspezifisch differenzieren kann.
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15998 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Margot von RenesseSeltsamerweise hat der Gesetzgeber, dem manchmal Weisheit zu Gebote steht, schon einmal entschieden, daß die nichteheliche Mutter mit einem Ehenamen ihren angeheirateten Namen an ihr nichteheliches Kind weitergeben kann, was früher anders war. Der Gesetzgeber hat also das Problem, daß der Name übertragen wird, ohne daß die Chromosomen und die Erbanlagen eines Kindes irgendeine Beziehung zu dem ursprünglichen Namensträger haben, schon einmal gelöst.Nun taucht plötzlich wieder der Begriff „angeheirateter Name" auf. Meine Damen und Herren, ich heiße Frau von Renesse, seitdem ich geheiratet habe. Das ist mein Name. Das ist nicht mein angeheirateter Name. Dies ist mein Name, mit dem ich inzwischen kenntlich bin vor mir selbst und anderen. Habe ich Kinder, will ich sie so nennen können. Ich bin sicher, auch Kinder werden sich gern nach beiden, nach Vater und Mutter, nennen.Ich halte Ihre Position für verfassungsrechtlich bedenklich. Ich kann mir schon vorstellen, daß es sowohl Eltern als auch Kinder gibt, die sich in ihrem Recht beeinträchtigt fühlen, sich in ihrer jeweiligen generativen oder generationsmäßigen Kette kenntlich zu machen und sich weiter kenntlich zu machen in ihren Kindern. Ich bin sicher, daß es Verfassungsbeschwerden geben wird. Ich bin nicht sicher, daß Ihr Gesetzentwurf insoweit Bestand hat.Ähnliches gilt für Stiefkinder und Kinder aus geschiedenen Ehen. Warum um alles in der Welt soll dieses mitunter ernsthafte Leid weitergetragen werden, wo wir doch als Gesetzgeber die Möglichkeit hätten, dadurch zu helfen, daß sich Kinder, die in einer anderen als der ursprünglichen, durch eine Ehe begründeten Familie ihrer leiblichen Eltern aufwachsen, zumindest durch einen Doppelnamen als zugehörig kennzeichnen können? Wir sehen das anders als Sie; entsprechend ist unser Änderungsantrag.Was ich nun überhaupt nicht verstehe, ist folgendes. Wenn Sie der Meinung sind, daß der Richter entscheiden sollte und nicht das Los, wenn Eltern verschiedene Namen haben und sich über einen gemeinsamen Namen ihres Kindes nicht zu einigen vermögen: Warum um alles in der Welt nehmen Sie dann wieder einmal den Vormundschaftsrichter? Warum greifen Sie nicht vor und denken weiter, auch an eine Kindschaftsreform, die, so hoffen wir alle, eines Tages vom Justizministerium als Gesamtentwurf vorgelegt wird, und machen nicht sofort das Gericht dafür zuständig, das Familienkonflikte zu handle-n weiß, nämlich das Familiengericht?Meine Damen und Herren, wir halten den Gesetzentwurf der Koalition für verfassungsrechtlich nicht unbedenklich. Wir halten ihn vor allem aber nicht für die Ausschöpfung dessen, was das Verfassungsgericht uns an Leid ersparenden Regelungen ermöglicht hat, die der Gesetzgeber hätte aufzeigen können. Das Verfassungsgericht bestimmt immer nur das, was nicht geht. Was geht und womit man menschliches und der Humanität verpflichtetes Recht schafft, das ist eine Frage an den Gesetzgeber. Sie setzen die Vorgaben des Verfassungsgerichts unwillig und nörglerisch um, oft an der Grenze dessen, was gerade noch verfassungsrechtlich zulässig erscheint. Das ist keinRuhmesblatt für die Koalition und keine Grundlage, mit der wir uns befreunden können.Die SPD lehnt deshalb die Ausschußfassung ab und wird ihre Änderungsvorschläge aus dem Rechtsausschuß in die zweite Lesung einbringen.Ich danke Ihnen.
Nun erteile ich dem Kollegen Burkhard Zurheide das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer sich mit dem Namensrecht beschäftigt, läuft Gefahr, daß ihm entgegengehalten wird: Laß mich doch mit diesen Kinkerlitzchen, mit diesem Kleinkram in Ruhe! — Und schon bei der zweiten Bemerkung kommt derselbe Mensch und sagt: Was habt ihr eigentlich vor? Was soll geändert werden? — Das muß damit zusammenhängen, daß jeder von uns einen Namen trägt. Das ist so interessant wie Schulpolitik, weil jeder in der Schule war oder zumindestens jemanden kennt, der dort gewesen ist. Deswegen hat offensichtlich das Namensrecht — entgegen dem ersten Anschein — doch eine gewisse Bedeutung.
Es geht — um verständlich zu machen, worum es sich bei diesem Gesetzentwurf handelt — um die Frage, ob die Verpflichtung von Eheleuten, einen gemeinsamen Familiennamen zu tragen, abgeschafft werden soll. In der Antike gab es keinen Familiennamen. Erstmalig wurden im Preußischen Allgemeinen Landrecht 1794 detaillierte Regelungen über den Familiennamen getroffen. Auch dort war es nicht etwa so, daß die Frau automatisch den Namen des Mannes übernehmen mußte. Das war nur dann der Fall, wenn die Frau, wie das damals meistens üblich war, in den Hof, oder in das Haus des Mannes einheiratete. Aber wenn es ausnahmsweise umgekehrt war, dann hatte der Mann sogar den Namen der Frau anzunehmen. Insofern ist das, über was wir heute entscheiden, nicht etwas so gravierend Neues. Erst mit der Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuches wurde die Tradition — wenn es denn eine gibt — begründet, einen gemeinsamen Familiennamen verpflichtend vorzuschreiben. — Dies geschah übrigens zunächst aus rein praktischen Gründen. — Die Entwicklung setzte sich dann bis in die 50er Jahre dieses Jahrhunderts fort, als plötzlich in Teilen der Rechtswissenschaft die Auffassung vertreten wurde, der Vorrang des Ehemannes ergebe sich aus dem Naturrecht. Das war in der Tat der Höhepunkt.
Herr Kollege Zurheide, Kollege Krause würde gern eine Zwischenfrage stellen.
Wenn es nicht angerechnet wird.
Natürlich nicht. Burkhard Zurheide : Dann gern.
Bitte, Herr Kollege Krause.
Herr Kollege, Ihnen ist doch sicher bekannt, daß bei den
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15999
Dr. Rudolf Karl Krause
römischen dreiteiligen Namen der zweite Name immer der Gentilname war. Würden Sie mir darin zustimmen, daß es also auch vor dem 19. Jahrhundert bereits solche Regelungen gegeben hat?
Herr Kollege, da ich in den letzten Monaten das Vergnügen hatte, mich mit den Feinheiten des Namensrechts zu beschäftigen, ist mir das selbstverständlich nicht unbekannt. Ich wollte hier nur keine Vorlesung über die Geschichte des Namens halten. Ich habe ja darauf hingewiesen, daß es in den letzten Jahrhunderten und Jahrtausenden die verschiedensten Traditionen gegeben hat. Aber der Höhepunkt dieser Entwicklung, nämlich die Annahme des naturrechtlich begründeten Vorrangs des Ehemannes — womit dann der verpflichtende gemeinsame Familienname begründet wurde —, war erst in den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts erreicht.
Dann kam das Gleichberechtigungsgesetz, das Frauen erstmals erlaubte, ihren sogenannten Mädchennamen dem Familiennamen voranzustellen. Erst seit 1976 — dies muß man sich immer wieder in das Bewußtsein zurückrufen — besteht überhaupt die Möglichkeit, daß der Name der Frau der gemeinsame Familienname sein kann. Für den Konfliktfall, dann, wenn sich die Eheleute nicht auf einen gemeinsamen Namen verständigen konnten, sah das Gesetz damals vor, daß automatisch der Name des Mannes gemeinsamer Familienname wird. Dies — nicht mehr und nicht weniger — hat das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung vom März 1991 für verfassungswidrig erklärt, weil nämlich in der Tat 1976 noch immer nicht die männliche Dominanz im Namensrecht beseitigt worden war. Dies holen wir allerdings heute mit diesem Gesetzentwurf nach. Heute ziehen wir auch hierunter einen Schlußstrich.
Meine Damen und Herren, es ist in der Öffentlichkeit von vielen immer wieder behauptet worden, das Verfassungsgericht habe den obligatorischen gemeinsamen Familiennamen für verfassungswidrig erklärt. Dies ist falsch, genau dies hat das Verfassungsgericht nicht getan. Das Gericht hat ausdrücklich gesagt, der Gesetzgeber könne bei einer Neuregelung auch die Verpflichtung, einen gemeinsamen Familiennamen zu führen, aufrechterhalten, wenn eine geschlechtsneutrale Auffangregelung getroffen werde.
— Natürlich ist das so. Lesen Sie doch bitte die Entscheidung des Verfassungsgerichts! Das hilft immer weiter. Dann reden wir auch endlich einmal über die Fakten. Dies ist eindeutig so.
Wir hätten also den gemeinsamen Familiennamen festschreiben und den Standesbeamten im Zweifel durch Los entscheiden lassen können. Aber ich möchte nicht, daß Ehepartner gezwungen werden, einen Namen zu führen, den sie durch einen Losent-scheid erhalten haben.
Deswegen nehmen wir mit diesem Gesetzentwurf eine wirklich absolute Neuerung vor. Der obligatorische gemeinsame Familienname gehört der Vergangenheit an.
Niemand, keine Frau und kein Mann, kann in Zukunft mehr gezwungen werden, einen gemeinsamen Familiennamen zu führen, aber man kann einen gemeinsamen Familiennamen führen.
Der Gesetzgeber sollte hier auch keine eigene Wertentscheidung treffen. Diese Entscheidung muß den Eheleuten und den Verlobten überlassen bleiben.
Ich halte es auch nicht für richtig, dem Vorschlag der SPD zu folgen, bei dem im übrigen viel Ideologie mitwabert, verpflichtend festzuschreiben, daß es keinen gemeinsamen Familiennamen gibt und ein solcher nur in Ausnahmefällen zulässig ist. Wir wollen eine liberale Lösung. Wir wollen eine völlige Ferne von staatlicher Bevormundung. Die Eheleute sollen selbst entscheiden und niemand sonst.
Meine Damen und Herren, die Regelung geht also weit über das hinaus, was das Verfassungsgericht uns vorgegeben hat. Die bestehenden Möglichkeiten hat der Kollege Gres zutreffend dargelegt. Es gibt einen Punkt, bei dem wir uns von der Opposition zumindest im Ergebnis unterscheiden. Das ist die Frage, ob zukünftig ein gemeinsamer Familienname in Form eines Doppelnamens geführt werden kann. Dies wollen wir nicht. Ich räume ein, daß es gute Argumente dafür gibt — Frau von Renesse hat sie vorgetragen —, es gibt aber auch jede Menge Argumente dagegen. Das für mich gravierende Argument dagegen ist: Was passiert in der zweiten Generation, wenn zwei Doppelnamenträger aufeinandertreffen und dann nur einen zweigliedrigen Familiennamen haben dürfen? Was sollen sie tun? Sie können sich einen Familiennamen aus vier Bestandteilen in beliebiger Reihenfolge zusammensetzen. Sie können ihn sozusagen auswürfeln. Dies hielte ich für eine etwas fragwürdige Lösung, und aus diesen ganz praktischen Gründen haben wir uns entschieden, den Doppelnamen als gemeinsamen Familiennamen nicht zuzulassen.
Meine Damen und Herren, das Abendland und die westliche Kultur werden nicht untergehen, wenn wir in Deutschland den obligatorischen gemeinsamen Familiennamen abschaffen. Es gibt viele Länder in Europa, die seit Jahrzehnten, ja seit Jahrhunderten unterschiedliche Namen der Eheleute zulassen. Was in anderen Ländern geht, sollte in Deutschland auch möglich sein. Deswegen sollten wir diese Diskussion etwas weniger ideologiebehaftet führen. Ich glaube, das täte der Diskussion sehr gut.
Ein zweites Problem, mit dem wir uns beschäftigen mußten, war die Frage, welchen Namen ein Kind erhalten soll, wenn Eheleute unterschiedliche Namen tragen. Natürlich könnte der Standesbeamte in solchen Fällen durch Los entscheiden. Dies hielte ich für verkehrt. Ich halte es nicht für richtig und auch für
Burkhard Zurheide
unwürdig, wenn es Kinder gibt, die einen zugelosten Namen haben. Nein, hier darf der Standesbeamte nicht entscheiden, und der Standesbeamte darf auch in der Sache nicht entscheiden.
Niemand anderes als die Eltern soll entscheiden dürfen welchen Namen ihr Kind haben soll.
Auch die Anwendung des Grundsatzes der alphabetischen Priorität macht keinen Sinn. Das spräche sozusagen schon gegen meinen eigenen Namen. Auch die Lösung, daß die Mädchen den Namen des Vaters und die Jungen den der Mutter erhalten oder umgekehrt, kommt nicht in Frage.
Auch Doppelnamen halte ich für die Kinder nicht für sinnvoll. Wenn sich Eheleute entschieden haben, keinen gemeinsamen Namen zu führen, welches Interesse haben sie dann daran, ausgerechnet bei den Kindern deutlich machen zu wollen, daß diese Kinder ihnen durch den Namen besonders eng verbunden werden? Ich halte es für richtig, den Eltern die Entscheidung zu überlassen; entweder wollen sie einen gemeinsamen Familiennamen mit der Folge, daß auch die Kinder einen solchen haben, oder sie sagen: Der Name hat für uns keine familienidentitätsstiftende Wirkung. Dann sollen sie aber auch das, was sie bei Eheschließung nicht wollten, bei den Kindern hinterher nicht verlangen.
Zur Vermeidung von Mißverständnissen sage ich: Auch zukünftig ist der Doppelname bei Ehepartnern möglich. Derjenige Ehegatte, dessen Name nicht der gemeinsame Familienname wird, kann seinen Namen voranstellen, demnächst sogar hinten anhängen. Insoweit, Frau Kollegin Funke-Schmitt-Rink, brauchen Sie überhaupt keine Sorgen zu haben. Sie werden auch weiterhin so heißen dürfen, wie Sie heißen, und dies gilt auch für nachfolgende Generationen.
Herr Kollege Zurheide, Sie sind schon ein Stück über Ihre Zeit.
Entschuldigung, ich habe nur noch einen abschließenden Satz.
Das vorgelegte Gesetz ist fortschrittlich, emanzipatorisch und wird Art. 3 GG in besonderer Weise gerecht. Es entlastet das Namensrecht von letztem ideologischen Ballast, ohne dabei Beliebigkeit zuzulassen oder praktische Unanwendbarkeit zu bewirken. Der Koalition ist mit diesem Gesetz eine im Wortsinne liberale Lösung gelungen.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Uwe-Jens Heuer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! § 1355 BGB ist eine von den grundgesetzwidrigen Regelungen, zu deren Änderung sich der Gesetzgeber offenbar nur sehr widerwillig verstehen konnte. Herr Zurheide hat darauf schon hingewiesen.Von 1900 bis 1958 galt: Die Frau erhält den Familiennamen des Mannes. Seit dem 1. Juli 1958 — also immerhin fünf Jahre nach dem Inkrafttreten des Gleichberechtigungsgebotes zum 1. April 1953 — konnte die Frau dem Namen ihres Mannes ihren Geburtsnamen hinzufügen. Dabei blieb es immerhin noch bis 1976.Erst seit dem 1. Juli 1976 konnten die Eheleute entscheiden, welcher Geburtsname der gemeinsame Ehename wird, wobei, wenn eine solche Bestimmung nicht getroffen wurde, noch immer der Geburtsname des Mannes Ehename wurde.Dies wurde schließlich vor nunmehr fast drei Jahren für verfassungswidrig erklärt. Es hat also mehr als 40 Jahre gedauert, bis dieses Land zu einem dem Gleichberechtigungsgebot des Grundgesetzes adäquaten Ehenamensrecht gekommen ist — und auch dies letztlich nur unter dem Druck des Bundesverfassungsgerichts.Das Problem der Gestaltung eines solchen Ehenamensrechts hat die öffentliche Meinung relativ stark beschäftigt. In ernster und heiterer Form wurden die verschiedenen possierlichen Möglichkeiten durchgespielt, die sich aus der Führung und Kombination von Doppelnamen ergeben können.Seit die „Nötigung zum gemeinsamen Ehenamen" weggefallen ist, steigt die Zahl derjenigen, die bei der Eheschließung keinen gemeinsamen Ehenamen bestimmen, dramatisch an.Der Rechtsausschuß hatte eine Anhörung, die, wie Sie wissen, bis zu den fundamentalen Fragen vorgedrungen ist: ob uns Namen überhaupt mehr sind als Schall und Rauch; ob man in der Ehe Teile seiner Identität aufgibt oder nicht und welche Rechtsgüter sich beim Ehenamensrecht eigentlich im Raume stoßen. Nicht alle diese Fragen wurden endgültig beantwortet, aber es stellte sich — das ist auch heute das Ergebnis — heraus, daß alle vorgeschlagenen Regelungsvarianten verfassungskonform sind.Insofern steht es uns frei, einem der Entwürfe zu folgen. Soweit es zwischen den Gesetzentwürfen nennenswerte juristische und inhaltliche Unterschiede gibt, neige ich zu den ehefreundlicheren Varianten. In diesem Sinne bin ich ein Wert-Konservativer. Dies wird von den Mitgliedern meiner Abgeordnetengruppe nur teilweise mitgetragen. — Im übrigen gibt es nach meinem Ermessen wichtigere Fragen, bei denen ich mir von den radikalen Ehekritikern mehr Radikalität wünschen würde.Im einzelnen: Ich meine schon, daß die Ehegatten einen gemeinsamen Ehenamen tragen sollten — bei aller Freiheit, sich auch anders zu entscheiden. Alle Entwürfe sind in dieser Frage völlig liberal, und ich begrüße das. Es besteht für die Beteiligten zunächst keinerlei Zwang zu handeln. Aber ich teile schon die Meinung eines der Sachverständigen, der — in Umkehrung einer Formulierung des Handelsgesetzbuches — gesagt hat: Der Ehename ist so etwas wie die gemeinsame Firma, unter der wir Eheleute ab jetzt auftreten.Ich meine weiterhin, daß die Ehegatten, wenn sie den gemeinsamen Ehenamen nicht bei der Eheschließung bestimmen, dies innerhalb der angemessenen
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Dr. Uwe-Jens HeuerFrist von fünf Jahren nach Eheschließung tun sollten, um den heranwachsenden Kindern den Namenswechsel zu einem späteren Zeitpunkt zu ersparen. Die Sachverständigen haben mehrfach darauf hingewiesen, daß ein Namenswechsel für die Identität von Kindern wesentlich schwerer wiegt als für die Identität Erwachsener.Hinsichtlich der Doppelnamen teile ich die Auffassung, daß hier lediglich das Problem auf die nachfolgende Generation verlagert wird, und zwar in zweifacher Hinsicht: einmal, weil spätestens dann, wenn Herr Müller-Lüdenscheid und Frau Funke-SchmittRink heiraten, Entsagung auf irgendeiner Seite nötig ist, und außerdem, weil — wie ein Sachverständiger zutreffend gesagt hat — ein Kind schon genug mit einem Einzelnamen zu tun hat. Ich neige also auch hier zu der vom Rechtsausschuß vorgeschlagenen Variante.Bedenken habe ich allerdings immer noch gegen die in § 1616 Abs. 3 BGB vorgesehene Regelung, daß das Vormundschaftsgericht bei fehlender Einigung der Eltern über den Familiennamen des Kindes das Namensbestimmungsrecht einem Elternteil übertragen kann. Es gibt sicher Fälle, in denen sachliche Anknüpfungspunkte eine sachgerechte Entscheidung ermöglichen. Ich sehe das Problem allerdings in den Kriterien für den Vormundschaftsrichter, für seine Entscheidung. Ich weiß auch, daß das Losverfahren weitgehend abgelehnt wird, und man kann auch vieles gegen das Losverfahren sagen. Hier ist es mehrfach als unwürdig bezeichnet worden.Ich meine aber, daß in jenen Fällen, in denen es sachliche Anknüpfungspunkte für eine Entscheidung nicht gibt, der Losentscheid vom unterlegenen Elternteil eher zu tragen wäre als eine richterliche Entscheidung, zwar nach Anhörung, aber ohne Begründung und unanfechtbar. In einer Ehesituation, in der sich die Beteiligten schon nicht über den Namen des Kindes einigen können, trägt eine solche richterliche Entscheidung wohl eher zur Streitverschärfung als zur Streitbeilegung bei. Doch dies mag die Praxis zeigen.Ich stimme der Beschlußempfehlung zu. Danke schön.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Herbert Werner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte die Frage zunächst und vor allem aus dem Blickwinkel des Familienpolitikers angehen und vorab sagen, daß wir sicher alle darin übereinstimmen, daß der eigene Name zum Wesen und zur Identität eines jeden Menschen gehört und daß dieser Name in der Regel von den Eltern bei Geburt bzw. nach Geburt vermittelt wird.Der Geburtsname weist zunächst auf die Zusammengehörigkeit einer Gruppe von Menschen hin, die im engeren Sinne, ursprünglich blutsmäßig, bestimmt ist, aber auch anders bestimmt sein kann. In dieseGruppe wird der Mensch hineingeboren, und in dieser Gruppe findet er sich zunächst selbst in seiner eigenen Identität. Er sucht Geborgenheit. Er sucht Selbstentfaltung im Miteinander und im Gegeneinander. Dazu gehört eben auch — das ist vorhin schon vom Kollegen Gres angesprochen worden —, daß er innerhalb dieser Gruppe Klarheit findet. Klarheit findet er auch verdeutlicht durch den einheitlichen Familiennamen, der darauf hinweist, daß diese Menschen zunächst eine Einheit darstellen.Diese Namenklarheit hat natürlich eine Ordnungsfunktion — nicht nur eine Ordnungsfunktion, aber auch eine Ordnungsfunktion. Deswegen ist es richtig, daß der Rechtsausschuß nachdrücklich darauf Wert gelegt hat, daß auch bei der Weitergabe eines Namens auf das gemeinsame Kind vorrangig ein gemeinsamer Name — ich betone: ein Name — vermittelt wird.Nun haben wir vorgesehen — der Rechtsausschuß hat dies ausdrücklich so geregelt —, daß sowohl der Name der Ehefrau als auch der des Ehemannes gewählt werden kann. Wird er gewählt, dann gilt er auch für das Kind.Ich meine, es ist schon richtig, was Kollege Gres gesagt hat, daß es eben auch der Klarheit dient — und damit zum Bewußtsein der Zusammengehörigkeit innerhalb dieser Gruppe von Menschen, innerhalb dieser Familie gehört —, wenn man im Hinblick auf die Weitergabe des Namens an das Kind oder die Kinder einen Namenswirrwarr mit zusätzlichen Doppelnamen vermeidet.Ich möchte jetzt ein bißchen paradox reden. Angenommen, Funke-Schmitt-Rink — mit Verlaub, Sie sehen es mir nach — würde Meyer-Müller-Lüdenscheid heiraten und wir würden jetzt aus diesem Sechsfachnamen Kombinationen auswählen, dann wäre es nach der Vorstellung der SPD durchaus möglich, daß beide Ehepartner unter Umständen unterschiedliche Teilnamen aus dieser Sechsergruppe auswählten. Wiederum wäre es aus dem Selbstverständnis des gemeinsamen Kindes von seinem Persönlichkeitsrecht durchaus möglich, daß es aus der getroffenen Kombination seinerseits eine eigene Kombination wählen würde.Man mag sagen: Halt, so etwas ähnliches gibt es z. B. im spanischen Raum. Das gibt es ansatzweise auch in anderen Rechtsräumen. — Ich möchte das gar nicht zur Seite fegen. Nur, es vermochte mir bisher niemand zu verdeutlichen, daß dies alles der Klarheit dient. Ich muß da ja erst mein Ahnenbuch oder meine Geburtsurkunde mit den entsprechenden Stammbucheintragungen herausziehen.
Dies ist zwar durchaus möglich, aber es verhilft in keiner Weise zu mehr Klarheit und zur Zusammengehörigkeit.Deswegen begrüße ich es, daß es so ist, daß dann, wenn sich Ehepartner auf einen gemeinsamen Ehenamen nicht einigen können und darüber hinaus — das ist geradezu die notwendige Folge — auch nicht auf einen Geburtsnamen des gemeinsamen Kindes, das
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16002 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Herbert Werner
Vormundschaftsgericht ein sogenanntes Bestimmungsrecht einem der beiden Elternteile zuweist. Dieser Elternteil entscheidet dann. Ich finde, dies ist würdiger als das reine Losverfahren, das ursprünglich im Gesetzentwurf der Bundesregierung und auch in dem Entwurf der SPD vorgesehen wurde.In derselben Art und Weise soll sich dies auch dann vollziehen, wenn Kinder adoptiert werden. Auch dann wird in Zukunft nicht automatisch der Name einfach auf das angenommene Kind übertragen. — Was wäre denn dies? — Aber es muß natürlich dann die Möglichkeit geben, daß sich die beiden Elternteile, die ein Kind annehmen, auf einen Namen einigen. Wenn Unstimmigkeiten auftreten, dann wird das Kind mit seiner eigenen Meinung unter Respektierung seines Persönlichkeitsrechts in den Entscheidungsprozeß mit einbezogen.
Herr Kollege Werner, Sie sind schon ein gutes Stück über das Ende Ihrer Redezeit.
Die Einbeziehung des Kindes vor dem Hintergrund seines Persönlichkeitsrechtes ist, Herr Präsident, richtig. In Stufen soll das Kind bei einer Namensübertragung vermehrt mitwirken. Dies ist richtig und aus der Sicht von Familie und Kind zu begrüßen. Auch aus diesem Grund sind wir der Auffassung, daß das ganze Haus dieses Gesetz in der heute vorliegenden Beschlußempfehlung annehmen sollte.
Vielen Dank.
Ich bin bei diesen ausgezirkelten Debatten, wenn das rote Licht aufleuchtet, immer in der schwierigen Situation, dem Redner entweder gleich ins Wort zu fallen — dann besteht die Chance, daß er relativ früh endet — oder zu glauben, er sähe das rote Licht selbst und würde allmählich aufhören. Aber am Schluß ist es dann über eine Minute mehr — und das bei fünf Minuten Redezeit. Ich bitte also alle herzlich, die beiden Lichter selber zu beachten. Wenn das gelbe Licht aufleuchtet, ist noch genau eine Minute Zeit.
Jetzt hat die Kollegin Dr. Marliese Dobberthien das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Name ist mehr als Schall und Rauch. Eindringlich darauf hingewiesen hat schon Altmeister Goethe —Zitat —:... der Eigenname eines Menschen ist nicht etwa ein Mantel ..., sondern wie die Haut selbst ihm über und über angewachsen, an dem man nicht schaben und schinden darf, ohne ihn selbst zu verletzen.Gemeint war natürlich der Männername. Der Frauenname dagegen galt bei Heirat als disponibel. An ihm durfte geschabt werden; er wurde verbannt. Bis zur Namensrechtsreform 1976 verlangte eine Heirat von der Frau stets Verzicht. Sie und ihre Kinder mußten qua Gesetz den Namen des Mannes annehmen. Mit der Heirat verschwand der Frauenname so aus der Öffentlichkeit und die Frau im Haushalt.Doch mit der Verbesserung der Berufsausbildung und mit steigendem eigenen Einkommen wuchs bei Frauen der Wunsch, ihren Namen trotz Heirat beibehalten zu dürfen — für jeden Mann bisher eine Selbstverständlichkeit.
Dem entsprach das Bundesverfassungsgericht vor zweieinhalb Jahren, als es die Dominanz des Männernamens im Streitfall verwarf. Bis dahin galt als „normal", daß der Mannesname Familienname wurde. Bestand die Frau dennoch auf ihrem Geburtsnamen, war es ihr immerhin gestattet, ihn dem Familiennamen voranzustellen. So blieb sie wenigstens für ihre Schulfreundinnen im Telefonbuch auffindbar, allerdings nur als kostenpflichtiger Nebeneintrag.Aber auch Kinder hatten das Nachsehen. Beide Elternnamen konnte ein Kind nie erhalten. Den Mutternamen bekam es nur bei Nichtehelichkeit.Für die meisten Frauen beinhaltet der Namenswechsel einen Identitätswechsel. Die gebürtige Frau Ziegenfuß läuft nämlich dann fortan als die Frau des Herrn Sowieso durchs Leben. Lebensleistung muß sie von vorne beginnen, sollte zur Geltung kommen, was Schiller schon meinte: Wenn der Leib in Staub gefallen, lebt der große Name noch.Mit der Einführung von Doppelnamen — so wie in 107 Staaten dieser Erde auch — hätte dem Wunsch nach Namensidentität aller Familienmitglieder stärker Rechnung getragen werden können. Doch obwohl das Bundesverfassungsgericht einen Doppelnamen für Kinder gestattet, vermochten die Koalitionsfraktionen nicht, sich zu einer frauen- und kinderfreundlichen Regelung durchzuringen.
Sie ließen sich darüber hinaus viel Zeit.
Während die SPD bereits zwei Monate nach jenem Urteil einen eigenen Gesetzentwurf präsentieren konnte, der den Eheleuten ein umfassendes Selbstbestimmungsrecht gewährt,
benötigte das Justizministerium mehr als zwei Jahre. Über diesen Entwurf wurde, kaum lag er vor, koalitionsintern weiterhin noch endlos gezankt. Hardliner torpedierten die Reform. Mal grämte sich das blaue Blut ob der Vererbbarkeit des Adelstitels, mal grauste es erzkonservativen Fundamentalisten vor einem „Anschlag auf die Familie", nur weil der Zwang zum gemeinsamen Familiennamen aufgegeben wurde.
Den vom Bundesverfassungsgericht erlaubten Losentscheid brandmarkten sie als „Verachtung desMenschen". Es ist ja auch bezeichnend, daß heute
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Dr. Marliese Dobberthienkeine Frau aus den Koalitionsfraktionen hier reden darf.
Nach enervierenden Auseinandersetzungen konnten sich die Hardliner in der Koalition nun weitgehend durchsetzen. So steht hier ein Entwurf zur Debatte, der höchstens den Namen „Reförmchen" verdient. Eine Chance ist vertan. Kein Doppelname wird zugelassen, weder für die Ehepartner noch für das Kind. Zu befürchten steht, daß in der Regel kraft Tradition und alter Rollenmuster der Mannesname wieder Familienname wird und damit dieser an die nachfolgende Generation weitergegeben wird: alles wie gehabt.Damit fällt der vorliegende Gesetzentwurf weit hinter die Intention des Urteilsspruchs aus Karlsruhe zurück. Denn obwohl die Erfahrungen der Standesämter mit der durch das Bundesverfassungsgericht erlassenen Übergangsregelung zeigen, daß die Liberalisierung des Namensrechts von der Bevölkerung gewünscht und der Doppelname zunehmend geradezu als Ausdruck der Verbundenheit der Ehepartner gewertet wird und dies in der Anhörung des Rechtsausschusses auch zum Ausdruck gekommen ist, ließen sich die Koalitionsfraktionen nicht umstimmen. Die Bemühungen um ein richtungweisendes Namensrecht, das auch in der Handhabung dem Anspruch auf Gleichberechtigung gerecht wird, müssen wir als gescheitert betrachten. Der kleinste gemeinsame Nenner der Koalitionsfraktionen ist eben noch keine Reform.Wer Gleichberechtigung ernst nimmt, darf eine wirkliche Namensrechtsreform nicht dem Verlangen nach männlicher Dominanz, die stillschweigend weiter fortlebt, opfern. Ich bitte Sie daher, den Änderungsanträgen der SPD zuzustimmen und Ihren Entwurf zu erweitern.Danke schön.
Ich erteile das Wort der Bundesministerin für Justiz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erstens. Sollte in der Koalition ein Frauendefizit bestehen, mache ich es in dieser Sekunde wett.
Zweitens. Mein Name zeigt,
daß auch vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach dem alten Recht sehr wohl ein Doppelname möglich ist: durch Voranstellung des eigenen Namens. Aber das war mit Sicherheit keine zufriedenstellende Regelung aus der Sicht der Frauen.
— Überhaupt nicht. Gerade das wird auch künftig möglich sein, weil mit den hier zur Entscheidung vorliegenden Beschlußempfehlungen an bestehendem Guten nicht gerüttelt wird.
Es wird deutlich, daß über wenige Fragen in der Rechtspolitik so engagiert und mit soviel Elan gestritten worden ist wie über das Ehenamensrecht, weil nämlich fast alle von uns persönlich betroffen sind oder künftig auch betroffen sein können.
Das erklärt auch, daß Engagement, Elan, Emotion und möglicherweise auch Vorurteile in der Diskussion eine Rolle spielen.Aber entgegen den Worten meiner Vorrednerin muß ich sagen, daß die Diskussion in den letzten Wochen und Monaten ja nicht in der Form einer kriegerischen Auseinandersetzung stattgefunden hat, sondern man hat die unterschiedlichsten Argumente ausgetauscht. Es gibt unterschiedliche Argumente, die sich auch sehr gut vertreten lassen. Von daher, meine ich, sollten wir jetzt nach den Worten meiner Vorrednerin wieder zu einem versöhnlicheren Umgang mit diesem schwierigen Thema kommen.
Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 5. März 1991 ist ja die Tür zur Ehe ohne Ehenamen geöffnet worden. Die einen haben das als Ausblick in neue Freiräume empfunden, die anderen sahen das Gebäude der Ehe in Gefahr. Bundesregierung und Bundestag eint — folgt man den heute vorgelegten Empfehlungen des Rechtsausschusses — die Vorstellung, den gemeinsamen Ehenamen nicht aufzugeben, ihn andererseits aber auch nicht gegen den Wunsch der Ehepartner vorzuschreiben. Über den Weg, wie man das am besten erreichen kann, läßt sich streiten. Das haben wir getan. Vor- und Nachteile aller denkbaren Lösungen sind auch in der heutigen Debatte deutlich geworden. Ich möchte das alles jetzt nicht noch einmal nachvollziehen.Aber eines möchte ich hier tun, nämlich den Berichterstattern im Rechtsausschuß für ihre Arbeit danken, die nicht allzu leicht gewesen ist, bis dann von der Koalition dieser Kompromißvorschlag vorgelegt worden ist, der sehr vielen Bedenken Rechnung trägt; und es ist — ein Anliegen generell in der Rechtspolitik — ein schlanker, vereinfachter Entwurf vorgelegt worden, nicht überladen mit zu vielen Regelungen und Regelungsvorgaben.Ich darf hier drei Punkte aus meiner Sicht hervorheben; ich möchte dabei nicht auf gesetzestechnische Details im einzelnen eingehen.Eine traditionell von Männern bestimmte Welt hat die Ehefrau — bis vor kurzem zumindest — faktisch dazu gezwungen, mit der Eheschließung auf ihren angestammten Namen zugunsten des Namens des Mannes zu verzichten. Dieser Verzicht ist vielen Frauen nicht leichtgefallen. Wer Kompromisse suchte, mußte sich manchmal als „Bindestrich-Frau" bespötteln lassen.Die nunmehr vom Gesetz eröffnete Möglichkeit beider Ehegatten, ihren angestammten Namen auch
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16004 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenbergerin der Ehe fortzuführen, befreit von unnötigem Zwang und ist ein Stück mehr Gleichberechtigung.Im Entwurf der Bundesregierung war eine weitere Öffnung vorgesehen, nämlich den Doppelnamen auch als Ehenamen zuzulassen, nicht vor dem Hintergrund, daß wir Chaos anrichten wollten, sondern um mit dieser versöhnlichen Möglichkeit den Weg zu einer Entscheidung für einen gemeinsamen Ehenamen zu eröffnen. Wir haben uns nach langer Diskussion auf die jetzt hier vorliegenden Empfehlungen verständigt. Ich glaube, das macht deutlich, wie kompromißbereit auch in diesem Punkt gerade die F.D.P. ist, die ja einige andere Vorstellungen zurückgestellt hat.
Im Namensrecht bewahrheitet sich der alte Satz: Im ersten seid ihr frei, im zweiten seid ihr Knecht. Wer die Ehegatten vom Zwang zum Ehenamen befreit, muß nämlich die Frage beantworten, wie denn die Kinder heißen sollen, deren Eltern keinen Ehenamen führen.Unsere Nachbarn in Europa tun sich mit dieser Frage kaum schwer. Soweit sie keinen Ehenamen kennen, knüpfen sie den Kindesnamen zwanglos an den Vater- oder den Mutternamen an, ein Weg, der uns vom Bundesverfassungsgericht wohlweislich versperrt worden ist.Der zur Beschlußfassung vorliegende Entwurf vertraut auf die Verständigkeit der Eltern. Sie sollen den Kindesnamen einvernehmlich bestimmen. Wo solches Einvernehmen nicht erzielt werden kann, soll das Vormundschaftsgericht einem Elternteil das alleinige Namensbestimmungsrecht übertragen. Das Bundesverfassungsgericht und der Regierungsentwurf hatten dieser forensischen Lösung den Losentscheid vorgezogen. Ich kann verstehen, daß ein grundsätzliches Unbehagen dagegen besteht, einen Namen durch Los zu bestimmen. Aber für mich ist in dieser Frage eigentlich am wichtigsten, daß solche Streitentscheidungen gerade im Interesse der Kinder möglichst selten notwendig sind. Das sollte hier unser Anliegen sein.
Frau Ministerin, Sie haben nur noch acht Sekunden Redezeit. Trotzdem bin ich gehalten, zu fragen, ob Sie eine Zwischenfrage, die selbstverständlich auch der Verlängerung der Redezeit dient, zulassen wollen.
Ich bin dazu bereit und werde anschließend versuchen, mich kurz zu fassen.
Bitte sehr, Herr Kollege Klejdzinski.
Frau Ministerin, darf ich Sie, da Sie sehr für eine Gleichberechtigung im Namensrecht gestritten haben und ich das auch anerkenne, fragen, warum Sie nicht die Chance genutzt haben, das sogenannte Adelsprädikat beim Namensrecht abzuschaffen. Inbesondere dort gibt es immer noch den Unterschied, daß der Herr Graf genannt wird und die Dame Gräfin. Ich möchte dann gern haben, daß sich dies auch bei den bürgerlichen Namen ausdrückt, so daß man dann am Namen erkennt, ob es eine Frau oder eine Dame ist.
— Entschuldigung, ob es ein Mann oder eine Dame ist.
Ich glaube, es ist gerade Ausdruck von liberalem Verständnis, daß wir hier nicht herangegangen sind. Das stand auch nie zur Diskussion. Warum soll nicht gerade bei Adelsnamen, die nun bestehen, die Freiheit vorhanden sein, diesen Adelstitel als Zusatzprädikat zu verwenden oder nicht? In unseren eigenen Reihen haben wir ja Vorbilder, die gesagt haben: Ich verwende ihn nicht. Warum sollen nicht andere das gute Recht haben, daran festzuhalten? Von daher haben wir uns aus guten Gründen mit dieser Frage im Zusammenhang mit dem Gesetzgebungsvorhaben nicht beschäftigt.
Ich möchte noch einen letzten Punkt erwähnen. Familienrecht muß stärker als jedes andere Recht im Bewußtsein des Volkes verwurzelt sein. Eine zeitgemäße Familienrechtspolitik muß sich deshalb rechtzeitig auf soziale Änderungen einstellen, ohne dem Rechtsbewußtsein der Bevölkerung zuviel an Veränderungen zuzumuten. Die Ihnen vorliegenden Beschlußempfehlungen erfüllen diese Voraussetzungen, weil sie in einem Teilbereich die Entwicklung vom Familienideal des 19. Jahrhunderts zur Realität von Ehe und Familie am Ende des 20. Jahrhunderts konsequent nachvollziehen.
Meine Bitte um Unterstützung der Ihnen zum Namensrecht vorliegenden Beschlußempfehlungen verbindet sich aber mit dem Wunsch, auch anderen notwendigen Gesetzgebungsvorhaben zur Verbesserung der Stellung nichtehelicher Kinder und der Angleichung der Stellung nichtehelicher Kinder an die von ehelichen Kindern genauso offen gegenüberzustehen und sie so konstruktiv mitzutragen, wie das hoffentlich gleich bei der Beschlußfassung über den hier vorliegenden Entwurf der Fall sein wird.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Dieter-Julius Cronenberg hat eine persönliche Erklärung gemäß § 31 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zur Abstimmung über das Familiennamensrechtsgesetz abgegeben. Nicht ihres Inhalts, sondern der eher ungewöhnlichen Form wegen will ich sie dem Haus nicht vorenthalten. Der Kollege Cronenberg hat formuliert:Es war gewiß nicht ganz gerecht Der Name nach dem alten Recht. Doch was wir jetzt geschaffen haben In vielen schönen Paragraphen,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16005
Vizepräsident Hans KleinIst das gerechter, liebe Leut?Hört, wie es gehen könnt mit der Zeit: Ein Paar, das noch ganz unbefangen Zum nächsten Standesamt gegangen, Um zu bestell'n das Aufgebot,Ist schon sehr bald in großer Not. Ihm machte die Befragung Pein: Wie soll denn Euer Name sein?Ob Schmidt — so heißt die junge Frau, Ob Maier — wie der Mann genau, Schmidt-Maier für die Frau vielleicht?Die Wahl fällt jetzt schon nicht mehr leicht.Dann kommt die nächste Variante,die ihnen vorschlägt der Beamte:Sie bleibt bei Schmidt, er bleibt bei Maier, So lebt es sich vielleicht noch freier.Doch einigen müßten sie sich dann,Wie wohl der Nachwuchs heißen kann. Auch hier geht's wieder Schlag auf Schlag:Was vorgesehen der Bundestag Für diesen Fall, den Fall der Fälle, Liest vor aus der Gesetzesquelle Der Herr Beamte ohne Zaudern.Doch die Verlobten packt ein Schaudern. Das Aufgebot, es ist vergessen.Man ist nur noch darauf versessen, Die Flucht zu suchen und zu finden, Um alsbald draußen zu verkünden: Bei diesen vielen Möglichkeiten, Da lassen wir die Heirat bleiben. Drum die Moral von der Geschieht':Mein Ja zu diesem Vorschlag kriegt ihr nicht.Dieter-Julius Cronenberg
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Familiennamensrechts, Drucksachen 12/3163 und 12/5982.Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 12/5991? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zuzustimmen gedenken, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen.Damit treten wir in diedritte Beratungund kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen?
— Er ist verhindert, Herr Kollege Gallus. Deswegen habe ich das Gedicht vorgelesen. —
Wer enthält sich der Stimme? — Der Gesetzentwurf ist angenommen.Unter Buchstabe b) seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/5982 empfiehlt der Rechtsausschuß, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/617 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf: Fragestunde— Drucksache 12/5962 —Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz. Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Rainer Funke zur Verfügung.Ich rufe Frage 17 des Kollegen Gerhard Poppe auf:Inwieweit treffen Medienberichte zu, wonach die US-Regierung unter Verweis auf CIA-Informationen vor Ali Fallahians Besuch über dessen direkte Verantwortung für Morde an exilierten iranischen Oppositionellen die Bundesregierung unterrichtet habe und wonach das Begehren der Bundesanwaltschaft, Ali Fallahian noch während dessen Besuch zu verhaften, vom Bundesministerium der Justiz zurückgewiesen worden sei, und wie rechtfertigt die Bundesregierung die Kontakte mit Ali Fallahian angesichts der Vereinbarung auf dem EG-Gipfel im Dezember 1992, verbesserte Beziehungen zum Iran sollten von einer Aufhebung der iranischen Morddrohungen gegen Salman Rushdie abhängig gemacht werden?Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bitte um Beantwortung.
Herr Kollege, mit dem ersten Teil Ihrer Frage fragen Sie danach, ob Medienberichte zutreffen, wonach die US-Regierung unter Verweis auf CIA-Informationen die Bundesregierung noch vor dem Besuch des iranischen Nachrichtendienstministers über dessen Verantwortung für Morde an iranischen Oppositionellen unterrichtet habe. Diese Teilfrage beantworte ich dahin, daß solche Medienberichte nicht zutreffen. Entsprechende Informationen hat es nicht gegeben.Soweit Sie danach fragen, ob Medienberichte zutreffen, wonach das Bundesministerium der Justiz das Begehren der Bundesanwaltschaft, Minister Fallahian noch während seines Deutschlandbesuchs zu verhaften, zurückgewiesen habe, so treffen auch diese Berichte nicht zu.Die Bundesanwaltschaft hatte am 6. Oktober 1993 beim Bundesministerium der Justiz unter Bezugnahme auf das Strafverfahren gegen Youssef Amin und andere um Auskunft gebeten, in welcher Eigenschaft Minister Fallahian die Bundesrepublik Deutschland besuche.Das Bundesministerium der Justiz hat das Bundeskanzleramt und das Auswärtige Amt hierzu am selben Tage befragt. Das Auswärtige Amt hat auf Grund von Auskünften durch das gastgebende Bundeskanzler-
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16006 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Parl. Staatssekretär Rainer Funkeamt und nach Erläuterung der Rechtslage durch das Bundesministerium der Justiz mitgeteilt, es gehe davon aus, daß die Ausübung inländischer Gerichtsbarkeit gegenüber Minister Fallahian gemäß § 20 Abs. 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes unzulässig sei. Dies wurde der Bundesanwaltschaft mitgeteilt.Den letzten Teil Ihrer Frage, nämlich wie die Bundesregierung die Kontakte. zu Fallahian angesichts der Vereinbarung auf dem EG-Gipfel im Dezember 1992 rechtfertige, verbesserte Beziehungen zum Iran von einer Aufhebung der iranischen Morddrohungen gegen Salman Rushdie abhängig zu machen, beantworte ich dahin, daß sich die bestehenden Beziehungen zum Iran nach Auskunft des Auswärtigen Amtes innerhalb des Rahmens halten, der vom Europäischen Rat am 12. Dezember 1992 festgelegt worden ist.Über Einzelheiten der nachrichtendienstlichen Beziehungen ist die Parlamentarische Kontrollkommission ausführlich unterrichtet worden.
Zusatzfrage, Herr Kollege Poppe.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär, für Ihre Antwort, wobei natürlich nicht nach dem Auswärtigen Amt gefragt war, sondern nach den Kontakten von Herrn Schmidbauer.
Ich habe eine Zusatzfrage: Wie geht die Bundesregierung mit der Tatsache um, daß der Staatsminister im Bundeskanzleramt Schmidbauer erhebliche Verwirrung nicht nur bei der Berliner Justiz durch seine auf die Verantwortlichkeit für den Mykonos-Anschlag bezogene Äußerung: „Wer die Details kennt, kommt zu ganz anderen Ergebnissen" gestiftet hat, welche nun wohl zu seiner Zeugenvernehmung vor dem Gericht in Berlin führen wird?
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Poppe, das Landgericht Berlin hat die Schlußfolgerung gezogen und hat ihn gebeten, zu der von Ihnen aufgeworfenen Frage als Zeuge zu erscheinen. Ich habe das nicht zu kommentieren. Die Gerichte sind unabhängig.
Zweite Zusatzfrage.
Das ist jetzt nicht die zweite Frage, sondern meine Frage eben lautete, wie die Bundesregierung damit umgeht, aber nicht, wie das Berliner Landgericht damit umgeht.
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hat das insoweit überhaupt nicht zu kommentieren. Die entsprechenden Erklärungen hierzu sind der Parlamentarischen Kontrollkommission mitgeteilt worden.
Dann hätte ich eine zweite Zusatzfrage. Sie bezieht sich ebenfalls auf Informationen in der Presse: Welche Ausbildungs- und Ausstattungshilfen oder sonstige Unterstützung außer den in Pressemitteilungen schon erwähnten Computern und Schulungspersonalhilfen hat die Bundesrepublik dem Iran in den vergangenen Jahren, also seit dem Beschluß des Europäischen Rates in Edinburgh, zu welchen Zwecken geliefert?
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Sie fragen mich als Vertreter des Bundesjustizministeriums. Dazu kann ich Ihnen sagen, daß das Bundesjustizministerium keinerlei Hilfe gegeben hat. Soweit das andere Ministerien betreffen könnte, kann ich Ihnen diese Frage, die nicht implizit in Ihrer ursprünglichen Fragestellung enthalten ist, nicht beantworten. Hierzu bedarf es gegebenenfalls einer weiteren Frage von Ihnen.
Sie wäre genaugenommen als Zusatzfrage unzulässig gewesen, Herr Kollege, weil sie sich nicht auf den Inhalt der ersten Frage bezieht.
Doch! Vizepräsident Hans Klein: Nein.
Sie bezieht sich auf den Begriff „verbesserte Beziehungen" in meiner Frage.
Entschuldigung, diese Art von Themenausweitung ist im Regelwerk der Fragestunde eben nicht vorgesehen.
Weitere Zusatzfragen dazu? — Herr Kollege Gansel.
Herr Staatssekretär, nachdem die Bundesregierung meine Fragen zum Besuch des iranischen Geheimdienstministers Fallahian dahin gehend beantwortet hat, daß zentrales Anliegen dieses Besuches humanitäre Fragen gewesen seien und daß es keinerlei Zusammenhang mit dem Mykonos-Prozeß gegeben hat, und in Anbetracht des Umstandes, daß es nunmehr Presseberichte gibt, die darauf hinweisen, daß im Zusammenhang mit diesem Besuch der Mykonos-Prozeß doch eine Rolle gespielt hat, möchte ich Sie fragen, ob die Bundesregierung hier ihre Antwort aus der letzten Fragestunde mir gegenüber korrigieren will oder ob Sie an der Darstellung festhalten, daß der Mykonos-Prozeß in keiner Weise Gegenstand der Gespräche gewesen ist, und wer in der Bundesregierung die Verantwortung übernimmt, wenn diese Auskunft gegenüber dem Parlament falsch sein sollte. — Sie haben die Chance zum Korrigieren. Überlegen Sie es sich gut, Herr Kollege.
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gansel, ich sah nur deswegen kurz zum Präsidenten, weil ich erneut keinen Zusammenhang mit der ursprünglichen Frage feststellen kann. Sie haben diese Frage vor einer Woche dem Kollegen Schmidbauer gestellt. Er war Gesprächsteilnehmer. Ich war nicht Gesprächsteilnehmer. Ich halte das im Hinblick auf die gestellten Fragen für schlicht unzulässig.
Der Zusammenhang ist da.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16007
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, das, was Sie geantwortet haben, ist zwar plausibel, sicherlich auch für den Kollegen Gansel; allerdings ist im Gegensatz zu der zweiten Zusatzfrage des Kollegen Poppe hier natürlich ein Zusammenhang gegeben, weil man sich mit der Frage nach der Verantwortung für Morde an exilierten iranischen Oppositionellen erkundigt. Ihre Auskunft mit dem Hinweis auf die direkte Verbindung zwischen dem Kollegen Gansel und dem Kollegen Schmidbauer ist aber natürlich akzeptabel.
Nein, Herr Präsident, ich frage die Bundesregierung!
Gut, Herr Kollege Gansel, und die Bundesregierung antwortet. Ob Ihnen, ob uns die Antwort gefällt oder nicht: Wir müssen sie hinnehmen.
Die Bundesregierung kann nicht sagen, ich solle einen anderen Minister fragen.
Aber der Parlamentarische Staatssekretär hat geantwortet. Ich kann jetzt in keinen Dialog eintreten. Sie haben eine Frage gestellt, und Herr Funke hat geantwortet. Daß Ihnen die Antwort nicht gefällt, ist eine andere Sache.
Herr Kollege Klejdzinski, Sie haben die nächste Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wenn ich Sie als Bundesregierung frage, antworten Sie mir dann, Sie seien nur ein Teil der Bundesregierung?
Herr Kollege Klejdzinski, das ist keine Zusatzfrage zu dieser Frage.
Gibt es weitere Zusatzfragen zu dieser Frage? — Das ist nicht der Fall.
Die Frage 18 des Abgeordneten Ludwig Stiegler wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Dann kommen wir zur Frage 19 des Abgeordneten Hubert Hüppe:
Im Hinblick auf die Tatsache, daß das sogenannte ,,Flensburger Urteil", nach dem Urlaubern eine Reisekostenminderung zugestanden wurde, weil sie mit einer Gruppe Behinderter zusammen in einem Hotel untergebracht waren, im Katalog eines Reiseveranstalters zu dem wörtlichen Zusatz führte: „Behinderte: Aufgrund der neuesten deutschen Rechtsprechung müssen wir leider diesen Zusatz neu aufnehmen; auch Behinderte haben ein Recht auf Urlaub. Deshalb kann es sein, daß Sie Behinderten im Hotel begegnen.", frage ich die Bundesregierung, welche Möglichkeiten sie sieht, ggf. durch gesetzliche Maßnahmen derartige, behinderte Mitmenschen diskriminierende Vorgänge zu verhindern und Gerichtsentscheidungen wie die von Flensburg unmöglich zu machen?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die verfassungsmäßig garantierte Unabhängigkeit der Gerichte kann Kritik an einer Einzelentscheidung nicht ausschließen. In diesem Sinne hält auch die Bundesregierung das Urteil des Amtsgerichts Flensburg für verfehlt und hat in öffentlichen Verlautbarungen wiederholt ihr Befremden zum Ausdruck gebracht.
Der einfachrechtliche Begriff des „Fehlers" als maßgebliche Voraussetzung reisevertraglicher Gewährleistungsansprüche, wie es in § 651 c BGB formuliert ist, ist im Lichte der objektiven Wertordnung der Grundrechte auszulegen. Bei der gebotenen Auslegung unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Garantie der Menschenwürde und des allgemeinen Gleichheitssatzes kann nach Auffassung der Bundesregierung die Anwesenheit Behinderter am Urlaubsort oder im Hotel nicht als „Fehler" einer Reise eines nichtbehinderten Mitreisenden angesehen werden. Behinderte sind ebenso wertvolle Menschen wie die nichtbehinderten Mitbürger.
Soweit der in der Frage zitierte Zusatz im Katalog eines Reiseveranstalters auf die „neueste deutsche Rechtssprechung" Bezug nimmt, erweckt er - vermutlich ungewollt - den unzutreffenden Eindruck, daß das Flensburger Urteil eine allgemein verbreitete und anerkannte Rechtsprechung wiedergebe. Tatsächlich sind aber das Flensburger Urteil und das über 13 Jahre zurückliegende, in ähnliche Richtung weisende Urteil des Landgerichts Frankfurt absolute Einzelfälle geblieben und werden ganz überwiegend mit Nachdruck abgelehnt. Deshalb sind derartige Zusätze weder üblich noch vor dem Hintergrund des geltenden Rechts geboten.
Die Bundesregierung leitet aus den vereinzelt gebliebenen beiden Urteilen keine Notwendigkeit für gesetzliche Maßnahmen ab.
Herr Kollege Hüppe, eine Zusatzfrage.
Da, wie Sie, Herr Staatssekretär, schon richtig gesagt haben, es sich schon um das zweite Urteil dieser Art handelt, würde Ihr Ministerium nicht ausschließen können, daß man durch einen Verfassungszusatz zur Gleichstellung von Behinderten oder darunter, unter Verfassungsrang, z. B. durch ein Antidiskriminierungsgesetz, wie es in den USA verabschiedet worden ist, solche Urteile in Zukunft verhindern könnte?Rainer Funke Parl. Staatssekreär: Herr Kollege, Sie wissen, daß in der Gemeinsamen Verfassungskommission diese Frage gründlich diskutiert worden ist. Wie jede Verfassungsänderung sollte auch diese nur in Angriff genommen werden, wenn hierfür ein eindeutiger Handlungsbedarf besteht. Angesichts der selbstverständlichen Geltung des allgemeinen Gleichheitssatzes, nämlich Art. 3 Abs. i Grundgesetz auch für Behinderte sowie der sich aus dem Sozialstaatsgebot ergebenden Pflicht des Staates zur Hilfe für Behinderte ist ein solcher Handlungsbedarf nach Ansicht der Bundesregierung nicht zu bejahen.Die von den Befürwortern einer Grundgesetzänderung erhoffte Signalwirkung könnte im übrigen— das haben wir auch in der Gemeinsamen Verfassungskommisson diskutiert — in das Gegenteil umschlagen, wenn die Verfassungsänderung keine tatsächliche
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16008 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Parl. Staatssekreär Rainer FunkeVerbesserung in der Lebenssituation Behinderter nach sich zöge. Konkrete Verbesserungen lassen sich durch eine Änderung des Art. 3 des Grundgesetzes wohl kaum erzielen. Die Änderung muß in der Gesellschaft selbst vollzogen werden.
Zweite Zusatzfrage.
Geben Sie mir denn recht, daß das Gutachten, das von dem Behindertenbeauftragten der Bundesregierung in Auftrag gegeben worden ist, genau das Gegenteil von dem sagt, was sie gerade sagen, und daß ansonsten, wenn es keine Änderung gibt, jedes Reiseunternehmen trotzdem Gefahr läuft, ähnlichen Schadenersatz zahlen zu müssen wie bei den Urteilen, die es nun einmal gegeben hat und die nicht irgendwie noch rechtlich zu beanstanden sind und für die Betroffenen natürlich eine Tragödie darstellen?
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe, glaube ich, deutlich gemacht, daß das Flensburger Urteil von uns durchaus negativ beurteilt wird. Es ist ein Einzelfall geblieben, auch wenn Sie sagen, da gibt es ein zweites Urteil, das immerhin dreizehn Jahre zurückliegt. Angesichts dessen, daß die Gesellschaft, was die Einstellung gegenüber Behinderten angeht, sich Gott sei Dank sehr gewandelt hat, meine ich, daß hier kein Handlungsbedarf gegeben ist. Wenn wir auf Grund jedes Fehlurteiles, das gefällt wird — auch Richter sind Menschen —, immer gleich Gesetze ändern würden, wären wir hier im Bundestag kräftig beschäftigt.
Nächste Zusatzfrage, Frau Kollegin Blunck.
Herr Staatssekretär, Sie haben ganz klar festgestellt, daß dies eine Diskriminierung ist. In diesem Zusammenhang möchte ich wissen, was die Bundesregierung, angesichts des Gebotes, daß keiner in diesem Land diskriminiert werden darf, zu tun gedenkt, um dem entgegenzutreten. Sind Sie mit mir der Meinung, daß sich die Bundesregierung dort nicht einfach heraushalten kann, sondern dies ahnden muß, und sei es in Form der Gewährung von Fortbildungsstellen — es gibt ja eine gemeinsame Bund-Länder-Akademie — für die entsprechenden Richter?
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Als Sie eben telefonierten und mir vielleicht nicht ganz aufmerksam zuhören konnten, habe ich dem Kollegen Hüppe hierauf bereits eine Antwort gegeben. Wir halten dieses Flensburger Urteil in der Tat für nicht richtig. Die Fortbildung von Richtern ist nicht Angelegenheit der Bundesregierung, sondern, wie Sie unschwer erkennen können, Angelegenheit der jeweiligen Länder.
Verzeihung, Frau Kollegin, Sie haben nicht das Wort.
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Ich gehe davon aus, daß die Länder entsprechende Fortbildungsmaßnahmen der Richter in die Wege leiten. Das wird in jedem Land, insbesondere auch nach solchen Urteilen, getan. Da habe ich überhaupt keine Zweifel.
Frau Kollegin Steen, Sie haben die nächste Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich möchte Ihre Aussage, daß sich die Gesellschaft in ihrer Auffassung gegenüber Behinderten geändert hat, korrigieren. Ist der Bundesregierung bekannt, daß gerade in der jüngsten Vergangenheit die Ausschreitungen und die Mißhandlungen Behinderter zunehmend um sich greifen? Halten Sie es unter diesem Eindruck nicht für geboten, ganz deutlich, auch in der Verfassung, etwas zu ändern?
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, wir stellen mit großem Entsetzen fest, daß es zunehmend Gewalt gegen Ausländer, aber auch gegen Behinderte gibt. Das haben wir auch in diesem Hohen Hause mehrfach beklagt. Trotzdem haben wir in der Gemeinsamen Verfassungskommission, in der diese Frage intensiv beraten worden ist — gerade heute war die letzte Sitzung dieser Gemeinsamen Verfassungskommission —, zu Recht gemeint, daß eine besondere Hervorhebung der Behinderten in Art. 3 Abs. 1 GG eher nachteilig für die Behinderten sein könnte als vorteilhaft. Dies habe ich auch in meiner ursprünglichen Antwort deutlich gemacht.
Weitere Zusatzfragen dazu werden nicht gestellt. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bedanke mich für die Beantwortung.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen auf. Im wesentlichen geschieht dies aber für das Protokoll, um mitzuteilen, daß die Fragen 20 bis 26 schriftlich beantwortet werden sollen. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft auf. Auch hier verhält es sich so. Die Fragen 27 bis 29 sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung auf. Die Fragen 30 bis 36 sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr auf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Manfred Carstens zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 46 auf, die unsere Kollegin Antje-Marie Steen gestellt hat:
Kann die Bundesregierung Auskunft geben, warum bis heute keine Unterzeichnung des Grundlagenvertrags zur Ausgliederung der DB-Fährlinie „ Vogelfluglinie Puttgarden" aus dem DB-Bereich erfolgte, und wann dieser vertragslose Zustand beendet wird?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Wegen des Sachzusammen-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16009
Parl. Staatssekretär Manfred Carstenshangs, Herr Präsident, schlage ich vor, daß ich die Fragen 46 und 47 gemeinsam beantworte.
Wenn die Kollegin Steen damit einverstanden ist.
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Es ist ja ein Sachzusammenhang. Sie kann ja dann trotzdem vier Fragen stellen.
Herr Präsident, es gibt zwar einen äußeren Sachzusammenhang, aber einen inneren nicht. Denn der Grundlagenvertrag beinhaltet etwas ganz anderes als der Dienstleistungsüberlassungsvertrag. Ich würde es gern getrennt beantwortet haben.
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Zu Frage 46 also: Die grundlegende Vereinbarung zwischen der Deutschen Bundesbahn/Deutsche Reichsbahn und der Deutschen Fährgesellschaft Ostsee konnte nach Auffassung der Deutschen Bundesbahn vor Genehmigung der Gründung der Deutschen Fährgesellschaft Ostsee nicht abgeschlossen werden. Das Bundesministerium für Verkehr hat im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen die Gründung der Deutschen Fährgesellschaft Ostsee inzwischen genehmigt.
Zusatzfrage.
Eine Zusatzfrage, bitte. Herr Staatssekretär, Ihnen ist bekannt, daß diese Gesellschaft bereits am 1. April 1993 ihren Dienst aufgenommen hat, wir heute den 28. Oktober schreiben und bis vor zwei oder drei Tagen dieser Grundlagenvertrag nicht unterschrieben war? Das nur einmal zur Klarstellung, daß ein sehr langer Zeitraum verstrichen ist, bis er überhaupt zur Wirkung kam.
Ich frage Sie in diesem Zusammenhang: Ist mit der Unterschrift unter diesem Vertrag jetzt auch die Aufteilung der Aufgaben und der dazugehörigen Wirtschaftsgüter endgültig entschieden und in welcher Form?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich muß noch einmal etwas zu der Art und Weise sagen, wie wir die Fragestunde abwickeln. Nicht die Abgeordneten informieren die Bundesregierung, sondern die Bundesregierung antwortet auf Fragen der Abgeordneten, und die Fragen sollen unkommentiert bleiben — das geht noch an die Adresse der Kollegin Blunck —, selbst wenn Sie einen Kommentar abgeben wollen, der eine Tatsache beschreibt. Ich bitte also herzlich, sich auf die Fragen zu beschränken.
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Ich habe auf diese Frage — wenn ich das einmal erwähnen darf, verehrte Kolleginnen und Kollegen — eben sehr präzise geantwortet, und bin auch gern bereit, auf die weitergehenden Fragen präzise zu antworten. Das, was Sie eingangs erwähnt haben, verehrte Kollegin Steen, war ja Veranlassung dafür, daß es eine etwas längere Zeit gedauert hat, bis die Genehmigung ausgesprochen werden konnte, weil erhebliche Sachfragen zu klären waren und weil parallel auch noch die Gesamtentwicklung „Bahnreform" mit einzubeziehen war. Insofern meine ich, daß wir froh darüber sein können, daß nun die Genehmigung erteilt werden konnte.
Ihre eigentliche Zusatzfrage möchte ich gern schriftlich beantworten, weil die Antwort einen Umfang annehmen müßte, der von der Zeitdauer her eine Fragestunde mit Sicherheit überfordert. Auch sollen Sie bis zu den letzten Einzelheiten genaue Auskunft darüber haben, was Sie wissen möchten.
Zweite Zusatzfrage.
Ist mit diesem Grundlagenvertrag auch verbunden, daß das Fährschiff „Warnemünde" mit Personal nach Fehmarn verlegt wird und dafür das Fährschiff „Theodor Heuss" aus dem Verkehr gezogen wird? Auch das, wenn Sie möchten, schriftlich.
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Das muß schon sein, weil ich das jetzt gar nicht beantworten könnte.
Ich rufe die Frage 47 auf, die ebenfalls die Kollegin Steen gestellt hat:
Kann die Bundesregierung Auskunft geben, warum bisher keine Dienstleistungsüberlassungsverträge für die Beschäftigten durch die „Deutsche Fährgesellschaft Ostsee" erfolgten, obwohl das als Voraussetzung für die Übernahme des Betriebs vereinbart ist, und welche Konsequenzen leitet sie daraus für die Rechtsfähigkeit des Vertrages ab?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Hier kann ich wegen des Sachzusammenhangs ganz kurz antworten. Gleiches wie für die Vereinbarung gilt auch für die Dienstleistungsüberlassungsverträge.
Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Herr Staatssekretär, ich würde gern wissen, ob damit die Zusicherung für die Beschäftigten — Beamte wie Angestellte und Arbeiter — verbunden ist, daß sie weiterhin nach den Tarifen des öffentlichen Dienstes und nicht nach den Tarifen der deutschen Seeschiffahrt bezahlt werden, nachdem die Übernahme am 1. Januar 1994 erfolgt.
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Der jetzige Stand ist in etwa so — gegriffen, aber ziemlich genau gegriffen —, daß es insgesamt 1 000 Beschäftigte gibt, davon etwa die Hälfte bei der Vogelfluglinie. Von dieser Hälfte bei der Vogelfluglinie sind wiederum 50 % Beamte, die anderen 50 % sind Tarifkräfte. In den anderen Fällen — u. a. auch Rostock — geht es darum, daß die Tarifverträge fortgeführt werden.
Zweite Zusatzfrage.
Ist der Bundesregierung bekannt oder haben Sie Kenntnis darüber, daß diese Fährlinie eventuell als zweites Schiffsregister betrieben werden soll?
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16010 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Das kann ich Ihnen auf Anhieb nicht beantworten, will ich Ihnen aber gerne mitteilen.
Weitere Zusatzfragen zu Frage 47? — Das ist nicht der Fall.
Die Frage 48 des Abgeordneten Dietmar Schütz soll, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe Frage 49 auf, die der Kollege Norbert Gansel gestellt hat:
Welche Schwierigkeiten hat es beim Bau der zweiten Kieler Kanalbrücke im Verlauf der B 503 durch die Beteiligung ausländischer Subunternehmen gegeben, und ist der Zeitplan eingehalten worden?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Der Auftragnehmer für die Straßenhochbrücke in Kiel-Holtenau ist ein deutsches Bauunternehmen, das als zuverlässig und leistungsfähig bekannt ist. Vertragsgrundlage sind deutsche Bauvorschriften mit hohen Anforderungen der Qualitätssicherung und Kontrollen durch anerkannte Sachverständige. Gleiches gilt für die Fertigung und Montage des Stahlüberbaus — das sind etwa 30 % der Bauleistung —, die durch ausländische Subunternehmer ausgeführt werden.
Schäden, die bisher auf Grund von Qualitätskontrollen vor Einbau festgestellt worden sind, können ohne Qualitätsverlust für die fertige Brücke behoben werden. Sie liegen im Erfahrungsvergleich mit anderen Hochbrückenneubauten über dem Nord-OstseeKanal im üblichen Rahmen. Auf den Bund kommen keine zusätzlichen Kosten zu, da der Auftragnehmer die Mängel zu verantworten und auf seine Kosten zu beheben hat.
Nach derzeitigem Stand werden die Vertragsfristen, Endtermin, eingehalten werden.
Zusatzfrage, Herr Kollege Gansel.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß, nachdem der Auftrag für den Bau der Holtenauer Hochbrücke an einen deutschen Generalunternehmer gegeben wurde, der sich eines belgischen Subunternehmers bediente, der einen südafrikanischen Subunternehmer einsetzte, der dafür in Kiel tschechische Arbeitnehmer beschäftigte, nun in Kiel die ersten Brückenbauteile nach einem Transport von 10 000 km aus Südafrika eintreffen und diese entweder zu kurz oder zu lang oder beschädigt sind oder Schweißnähte nicht nach den deutschen Bauvorschriften aufweisen? Halten Sie das für einen normalen Vorgang in Anbetracht des Umstandes, daß von der heimischen Stahlbaubranche angeboten wurde, die Brücke vor Ort durch Fachkräfte zu errichten?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Der Sachstand ist mir nicht so genau bekannt wie offensichtlich Ihnen. Ich kann ihn weder bestätigen noch dementieren.
Falls es aber so sein sollte, wie Sie es sagen, sollte man sich in Zukunft bemühen, daß dies anders läuft.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Präsident, ich habe immer gewußt, daß die Fragesteller mehr wissen als die Regierungsmitglieder, die uns antworten.
Deshalb bin ich eigentlich nicht hierhergekommen.
Herr Kollege Gansel, bitte stellen Sie eine Frage.
Herr Staatssekretär, dann möchte ich Sie noch einmal fragen, ob sichergestellt ist, daß die Holtenauer Hochbrücke planmäßig zum 21. Juni 1995, also zum hundertjährigen Jubiläum des Kanals, in Betrieb genommen werden kann und daß sie ohne Gefahr für Leib und Leben, entsprechend den deutschen Sicherheitsvorschriften, durch Personen und Fahrzeuge überquert werden kann.
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Das konnte meiner ersten Antwort entnommen werden, die ich noch einmal bestätige.
Allerdings steht auf meinem Zettel der letzte Satz noch nachlesbar: Nach derzeitigem Stand werden die Vertragsfristen eingehalten werden.
Kollege Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, bei einem Angebot dieser Größe ist normalerweise nicht nur zu prüfen, ob es preiswert ist. Gleichzeitig ist von der vergebenden Behörde grundsätzlich die Leistungsfähigkeit der Anbieter zu überprüfen. Gehen Sie nach Ihrer bisherigen Einschätzung davon aus, daß dieses sachgerecht erfolgt ist?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das ist das Entscheidende an diesem Sachverhalt, daß man durchaus politische Gründe haben kann, sich gegen die Art und Weise, wie dort gebaut worden ist, auszusprechen. Aber was die Sache angeht, kann festgehalten werden: Die Arbeiten sind in einer Qualität ausgeführt worden, so daß keine Veranlassung besteht, sich darüber zu mokieren. Die Preise werden eingehalten, die Termine werden eingehalten, und die Qualität wird eingehalten. Insofern ist die Bauausführung nicht zu bemängeln.
Herr Kollege Koppelin.
Herr Staatssekretär, können Sie mir noch einmal erklären, aus welchen Gründen die Bundesregierung bei solchen großen Aufträgen keinen Wert darauf legt, daß z. B. ein Stahlüberbau durch ein örtliches Unternehmen — ich nenne als Beispiel HDW — hergestellt wird?Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Es ist eine durchaus verständliche Auffassung, daß man sich so
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16011
Parl. Staatssekretär Manfred Carstensverhalten könnte, wie Sie es durch Ihre Frage zum Ausdruck bringen. Wenn es aber ein deutsches Bauunternehmen als Auftragsnehmer gibt, der als zuverlässig und leistungsfähig bekannt ist, der garantiert, daß die Qualität stimmt und daß der Endtermin eingehalten wird, geht es nach unserer Auffassung der sozialen Marktwirtschaft und auch mit Blick auf die zur Zeit laufenden GATT-Verhandlungen recht weit, dem auch noch weitergehende Vorschriften machen zu wollen, indem z. B. vorgeschrieben wird, daß HDW genommen werden muß. Wie sonst wollen Sie sicherstellen, daß es so erfolgt?
Gibt es weitere Zusatzfragen dazu? — Das ist nicht der Fall. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich danke Ihnen für die Antworten.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Post und Telekommunikation auf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Paul Laufs zur Verfügung. Ich rufe die Frage 50 auf, die der Kollege Ortwin Lowack gestellt hat.
Warum hat der Bundesminister für Post und Telekommunikation den Verkehrsminister Taiwans Liu Chao-Shiuan Ende Juli lediglich in einem Hotel und der Bundesminister für Verkehr seinen Amtskollegen nur am Flughafen in Stuttgart sprechen wollen, während der französische Minister für Transport, Verkehr und Industrie den gleichen Minister in Paris in allen Ehren im Dienstzimmer mit Stander der Republik China zu einem eingehenden Gespräch empfangen und ihm vor allem auch das Interesse Frankreichs an der Lieferung des TGV dargelegt hat, der in Konkurrenz zu dem von deutscher Seite angebotenen ICE, einem Projekt von ca. 17 Mrd. DM, steht, und wie erklärt sich das Verhalten beider Bundesminister angesichts der Tatsache, daß der frühere Bundesminister für Post und Telekommunikation, Dr. Christian Schwarz-Schilling, bereits ein Jahr zuvor zwei Minister des Kabinetts der Republik China in seinen Diensträumen in Bonn empfangen hat, ohne daß dies in irgendeiner Weise die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu anderen Staaten in Frage gestellt hätte?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Lowack, die Bundesregierung verfolgt eine konsequente Ein-China-Politik, das heißt, sie betrachtet Taiwan nicht als Völkerrechtssubjekt. In der Praxis bedeutet dies, daß die Beziehungen zu Taiwan unterhalb der Schwelle der völkerrechtlichen Anerkennung zu pflegen sind. Diese Schwelle würde überschritten, wenn ein Minister der Bundesrepublik Deutschland eine Amtsperson Taiwans offiziell in seinen Amtsräumen empfängt. Zu notwendigen Kontakten gleich welcher Art müssen daher Möglichkeiten gefunden werden, die keinen amtlichen Charakter haben.
Der Bundesminister für Post und Telekommunikation hat daher dem Gesprächswunsch des taiwanesischen Verkehrsministers nur außerhalb des Ministeriums und lediglich in seiner Funktion als Abgeordneter des Deutschen Bundestages stattgegeben. Seine Handlungsweise entspricht damit voll der Grundlinie der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Der Bundesminister für Verkehr hatte mit der taiwanesischen Seite unter Hinweis auf seine Gesamtterminplanung ein längeres Gespräch am 22. Juli 1993 in Stuttgart fest vereinbart. Das Gespräch wurde aber kurzfristig aus gesundheitlichen Gründen von Minister Liu Chao-Shivan abgesagt.
Zusatzfrage, Herr Kollege Lowack.
Herr Kollege Laufs, sind Sie nicht der Auffassung, daß sich die Bundesregierung international gesehen mit diesem Verhalten lächerlich macht, weil Frankreich ebensowenig diplomatische Beziehungen zu Taiwan unterhält, aber der zuständige Minister für Verkehr bereit war, seinen Kollegen aus Taiwan in seinem Dienstzimmer zu empfangen und mit ihm über die Lieferung des TGV zu sprechen, während sich der deutsche Verkehrsminister in dieser Art und Weise verhalten hat? Grundlage war das Angebot, sich nur auf dem Flughafen in einem Restaurant zu treffen, und daß noch dazu der Verkehrsminister Taiwans die Kosten übernimmt. Dies hat dazu geführt, daß er sich zu krank gefühlt hat, um nach Stuttgart zu kommen.
Ich möchte Sie gern fragen: Kann nicht die EinChina-Politik der Bundesregierung bei all ihrer Fragwürdigkeit zugunsten eines kommunistischen diktatorischen Regimes auch so pragmatisch gehandhabt werden — —
Herr Kollege Lowack, in unserem Regelwerk steht auch, daß wir nicht kommentieren, wenn wir Fragen stellen. Dies ist ein Leitartikel, den Sie vortragen.
Ein Leitartikel ist nicht das Schlechteste auf der Welt.
Es kommt auf die Zeitung an.
Darf ich meine Frage zu Ende stellen? — Glauben Sie nicht, daß auch die Ein-China-Politik, die Sie hier gerade propagieren, es zulassen würde, sich dann pragmatisch zu verhalten, wenn es um die Interessen der deutschen Wirtschaft geht? Was bedeuten denn eigentlich Ein-China-Politik und ihre Notwendigkeit?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lowack, die vielfältigen, in Ihrer langen Frage unterstellten Bewertungen teile ich nicht. Ich darf aber hinzufügen, daß die Politik der Bundesregierung bisher nicht zu Einbußen auf dem wirtschaftlichen Sektor geführt hat. Die Bundesrepublik Deutschland ist der größte Handelspartner Taiwans in Europa. Allerdings muß die Einschränkung gemacht werden, daß die Handelsbeziehungen zu Taiwan den Export von Rüstungsgütern ausschließen, was für Frankreich, da Sie Frankreich hier genannt haben, nicht zutrifft.
Zweite Zusatzfrage.
Sehr verehrter Kollege Laufs, darf ich fragen, ob auch Sie durch Presseberichte darüber informiert wurden, daß z. B. die Entscheidung des Bundessicherheitsrats vom 28. Januar durchaus die Lieferung von Waffenteilen, nämlich solchen bei Raketen, zuließ? Würden Sie mir nicht
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16012 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Ortwin Lowackzustimmen, daß die Bundesregierung auf Grund des Textes bei der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Rotchina am 11. Oktober 1972 gerade die Aufnahme normaler Beziehungen auch zur Republik China auf Taiwan nicht ausgeschlossen hat, d. h. daß wir völkerrechtlich überhaupt nicht in der Weise gebunden sind, wie wir uns aufführen?
Herr Kollege Laufs, diese Frage brauchen Sie nicht zu beantworten; sie ist keine Zusatzfrage zu der gestellten Frage.
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Vielen Dank, Herr Präsident.
Vielleicht darf ich noch einmal betonen, daß die Haltung des Bundesministers für Post und Telekommunikation mit dem Auswärtigen Amt abgestimmt war und in der Tat der Grundlinie der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland entsprach.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Jan Oostergetelo.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie fragen, ob man das Verhalten der Bundesregierung in diesem Fall, wenn ich an die Bilder, die uns damals vom sogenannten Platz des Himmlischen Friedens übermittelt wurden, zurückdenke, überhaupt noch in moralischen Kategorien unterbringen kann, oder ist nicht doch die ökonomische Sichtweise der Dinge dominierend gewesen?
Herr Kollege Oostergetelo, es ist schon sehr problematisch, hier einen Zusammenhang zur Frage zu sehen.
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, in der Tat ist die ursprüngliche Frage nicht darauf angelegt, moralische Kategorien unserer Handelsbeziehungen im Zusammenhang mit dem Verhalten des Bundesministers für Post und Telekommunikation zu diskutieren. Ich würde Ihnen empfehlen, diesen Fragenkomplex an anderer Stelle vorzutragen.
Weitere Zusatzfragen dazu? — Das ist nicht der Fall.
Die Frage 51 soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zur Frage 52 des Kollegen Gernot Erler.
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, gestatten Sie bitte, daß ich die beiden Fragen des Kollegen Gernot Erler wegen des Sachinhalts zusammenfassend beantworte, wenn der Kollege damit einverstanden ist.
Bitte.
Wir kommen damit zu den Fragen 52 und 53 des Kollegen Gernot Erler.
Über die Schließung wie vieler Postämter im Zuge der sogenannten „Filialkonzentration" in der Bundesrepublik Deutschland hat die Generaldirektion POSTDIENST bisher verfügt, und in wie vielen Fällen ist dabei das Benehmen mit den betroffenen Kommunen hergestellt worden?
In wie vielen Fällen ist es bei der Ankündigung der Schließung von Postämtern zu Protesten der Kommunen und der Bevölkerung gekommen, und in welchen konkreten Fällen hat dieser Protest zur Rücknahme der Schließungspläne geführt?
Ich bitte Sie, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, uni Ihre Antwort.
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Erler, von den insgesamt 22 000 Postämtern und Poststellen werden weniger als 5 %, das sind knapp unter 1 000 Amtsstellen, im Zuge der Filialnetzanpassung in Städten über 20 000 Einwohnern geschlossen. Weil vor allem kleine Filialen mit wenigen Kunden geschlossen werden, sind nach Aussage der Generaldirektion Postdienst nur 2 % der Postkunden direkt betroffen. In der Regel wurden die betroffenen Kommunen vor der beabsichtigten Schließung informiert. In Einzelfällen hat es allerdings an der rechtzeitigen Mitteilung durch die örtlichen Vertreter des Postdienstes gemangelt. Die Bekanntgabe der Schließung ist mit der Veröffentlichung in den Städten Wuppertal und München am 21. Oktober abgeschlossen worden. Die Realisierung wird bis Ende dieses Jahres weitgehend vollzogen sein.
Es sind zahlreiche Beschwerden und Proteste aus dem kommunalen Bereich und der Bevölkerung vorgetragen worden. Im Postministerium und der Generaldirektion Postdienst sind insgesamt ungefähr 200 Unterschriftenlisten abgegeben worden, deren Sammlung in der Regel von der Deutschen Postgewerkschaft organisiert worden ist. Aber es wurde auch Verständnis für die Maßnahmen der Deutschen Bundespost Postdienst geäußert, zumal auch bei den Kommunen vielfach einschneidende Kosteneinsparungen notwendig sind.
Beschwerden und Protesten wurde von der Deutschen Bundespost Postdienst im Einzelfall sorgfältig nachgegangen. Insbesondere der Zeitraum zwischen der Publizierung der Standorte, die nach dem Ergebnis der Filialnetzüberprüfung entbehrlich waren, und der tatsächlichen Schließung — in der Regel sechs Wochen — wurde häufig benutzt, um noch einmal Argumente auszutauschen. Dieser Informationsaustausch hat aber bisher nicht dazu geführt, daß der Postdienst seine Entscheidungen hätte revidieren müssen.
Herr Kollege Erler, Sie haben jetzt theoretisch vier Zusatzfragen.
Herr Präsident, ich habe auch praktisch vier Zusatzfragen.Meine erste lautet: Herr Staatssekretär, Sie haben davon gesprochen, daß bei den Schließungsabsichten die Kommunen in der Regel informiert worden seien. Halten Sie es für ein gutes Verfahren, bei so einem Vorgang, der die Lebensqualität in den Kommunen, die Versorgung der Bevölkerung mit dem wichtigen Postdienst betrifft, einfach nur eine Information stattfinden zu lassen? Wäre es nicht besser gewesen, wie das in den allgemeinen Verwaltungsordnungen vorgeschrieben ist, sich ins Benehmen zu setzen, und was hätte es denn geheißen, wenn man das wirklich gemacht hätte?
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Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Erler, zunächst unterstreiche ich durchaus Ihre Bemerkung, daß Mängel im Einzelfall bei der Unterrichtung der kommunalen Verwaltungen sehr bedauerlich sind.Ins Benehmen setzen heißt, daß rechtzeitig über die beabsichtigten Maßnahmen unterrichtet wird und den Kommunalverwaltungen die Möglichkeit der Stellungnahme eingeräumt wird, bevor endgültig entschieden wird. In der Regel ist so verfahren worden. In den Fällen, in denen bei der Unterrichtung der Öffentlichkeit Mängel aufgetreten sind, ist bis jetzt nicht festgestellt worden, daß auch in der Sache selbst Mängel vorliegen, so daß es nicht zu Revisionen gekommen ist.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, der Postdienst ist doch dabei, sich in eine weltweite Konkurrenz zu begeben. Insofern entspricht es doch wohl der Logik, daß man sich auch auf eine anständige Weise um den Kunden bemüht. Entspräche es nicht dieser Logik, daß in den Fällen, in denen es zu keinem Benehmen mit den Städten gekommen ist, nicht einmal zu einer Information — ich komme aus einer solchen Stadt, das ist die Stadt Freiburg mit immerhin 190 000 Einwohnern —, das Vertrauen dadurch wiederhergestellt wird, daß die Schließung der betroffenen Postämter ausgesetzt wird und nachträglich dieses Benehmen mit den Kommunen hergestellt wird?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Erler, wo diese Mängel aufgetreten sind, ist von seiten der Deutschen Bundespost Postdienst noch einmal im einzelnen dargelegt worden, aus welchen Gründen die Schließung erforderlich geworden ist. Der Informationsaustausch hat in diesen Fällen in der Tat etwas verspätet stattgefunden.
Wie ich schon gesagt habe, hat dieser ins einzelne gehende Informationsaustausch nicht dazu geführt, daß die Entscheidung in der Sache selbst hat revidiert werden müssen.
Die dritte Zusatzfrage, Herr Kollege Erler.
Herr Staatssekretär, Sie haben in Ihrer doppelten Antwort vorhin auch angeführt, daß es bisher nicht zu einer Korrektur trotz der Vorlage von 200 Protestvorgängen mit Unterschriften usw. gekommen ist. Mir liegen nun Informationen vor, daß in dem Bereich der Stadt Würzburg zunächst die Schließung von vier Postämtern in Angriff genommen worden ist, daß dann aber nach Protesten diese Maßnahme bei zwei Postämtern wieder rückgängig gemacht wurde.
Können Sie — insbesondere in Anbetracht des interessanten Umstandes, daß dies der Wahlkreis von Herrn Dr. Bötsch ist — dem Hohen Haus mitteilen, ob diese Informationen real oder nicht richtig sind?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Erler, am Verfahren zur Bestimmung der erforderlichen Schließungen im Rahmen der Filialnetzanpassung waren die Postämter mit Verwaltung vor Ort, die regionalen Direktionen und die Generaldirektion beteiligt. Während des Abstimmungsprozesses gab es in einer ganzen Reihe von Städten — so auch in Würzburg, aber nicht nur in Würzburg — unterschiedliche Bewertungen und Änderungen hinsichtlich der zunächst beabsichtigten Schließungen.
Nach der endgültigen Festlegung und offiziellen Bekanntmachung der zu schließenden Amtsstellen wurden die Entscheidungen der Deutschen Bundespost Postdienst nicht mehr revidiert, auch nicht in Würzburg.
Ihre vierte Zusatzfrage, Herr Kollege Erler.
Herr Staatssekretär, darf ich daraus schließen, daß es zwei verschiedene Verfahren gegeben hat? Ich hatte nämlich zu einem anderen Zeitpunkt Gelegenheit, Sie schon einmal nach den Schließungsabsichten in meinem Wahlkreis zu fragen. Darauf habe ich die Antwort bekommen, das würde geprüft und dann bekanntgegeben. So ist es bei uns auch gewesen. Wir haben nur eine endgültige Bekanntgabe der Schließungsabsichten bekommen. Danach gab es keine Möglichkeit mehr, darauf zu reagieren.
Ich stelle hiermit fest und halte daran so lange fest, bis Sie es widerlegen, daß es offenbar einige bevorzugte Städte gibt, in denen es zunächst einmal vorläufig bekanntgegeben wurde und später endgültig die Schließung durchgeführt wurde. Das scheint dann für Würzburg zuzutreffen.
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Erler, es gab dadurch einige Irritationen, daß Zwischenergebnisse dieses Abstimmungsprozesses öffentlich gemacht worden sind und nicht abgewartet wurde, bis die Festlegung dieser Standorte endgültig beschlossen worden war. Dadurch ist ein Eindruck entstanden, wie Sie ihn gerade dargestellt haben. Das Verfahren ist jedoch in allen Fällen so gelaufen, wie ich Ihnen das vorher geschildert habe.
Der Kollege Wieland Sorge hat eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, gibt es bei diesen Protestschreiben — Sie sagten, es waren ungefähr 200 — deutliche Unterschiede zwischen den Eingaben aus den neuen und alten Bundesländern, und wenn ja, worauf führen Sie das zurück?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, mir liegen keine Unterlagen, die Unterschiede darstellen, vor. Mir selbst sind eine ganze Reihe von Unterschriftenlisten überreicht worden, die alle aus den alten Bundesländern kamen. Ich bin im Augenblick überfragt, ob es Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern gibt. Ich kann jedoch dieser Frage nachgehen und Sie darüber unterrichten.
Eine weitere Zusatzfrage der Kollegin Lilo Blunck.
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16014 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Herr Staatssekretär, haben in irgendeinem Stadium dieser verschiedenen Verfahren Verbrauchergesichtspunkte, und zwar qualitative Verbrauchergesichtspunkte, eine Rolle gespielt? Mit wem sind diese festgelegt worden, und in welcher Form sind sie umgesetzt worden?
Dr. Paul Laufs, Pari. Staatssekretär: Frau Kollegin Blunck, die Kriterien, die in all diesen Verfahren einheitlich angewandt worden sind, sind die Kriterien, die der Deutsche Bundestag am 2. Dezember 1981 beschlossen hat. Sie sind selbstverständlich auch an den Verbraucherwünschen und an dem Infrastrukturauftrag zur Sicherstellung einer ausreichenden und angemessenen Versorgung der Bevölkerung mit Postdienstleistungen orientiert.
Eine weitere Zusatzfrage der Kollegin Blunck.
Herr Staatssekretär, ich hatte die Frage nach dem qualitativen Verbraucherschutz gestellt. Ich kann sehr wohl anerkennen, daß es dieser Regierung sehr fern liegt, sich darunter etwas vorstellen zu können. Deswegen möchte ich noch einmal fragen, ob Behinderte, Altenheime und Behindertenheime in der Umgebung eines Postamtes eine Rolle gespielt haben, ob das einmal unter diesem Gesichtspunkt geprüft worden ist. Noch einmal konkret nachgehakt: Wer hat diese Standards mit Ihnen besprochen? Wen haben Sie da gefragt?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, die Überprüfung des Filialnetzes ist vor Ort von den Postämtern mit Verwaltung durchgeführt worden. Man hat dies ausdrücklich nicht etwa am grünen Tisch in Bonn gemacht, und selbstverständlich sind auch diese Gesichtspunkte, die Sie hier gerade genannt haben, in der Prüfung berücksichtigt worden;
ganz abgesehen davon, daß es eine Vielzahl von Beispielen gibt, wo die Post alternative Vertriebswege gerade dort, wo Sie hier einen besonderen Bedarf sehen, eingeführt hat und auch in Zukunft einführen wird, etwa in Alten- oder in Behindertenheimen.
Ich habe jetzt noch drei Fragesteller. Ich sage dies nur, damit klar ist, daß ich alle gesehen habe. Zuerst die Kollegin Kastner, dann der Kollege Kolbow und dann der Kollege Kauder.
Frau Kollegin Kastner.
Herr Staatssekretär, darf ich Ihrer Antwort entnehmen, daß es richtig ist, daß auch behindertengerechte Postämter von Ihnen geschlossen worden sind, und darf ich Ihrer Antwort entnehmen, daß dieses der Bundesregierung vom grünen Tisch aus egal war?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich muß zunächst noch einmal in aller Deutlichkeit darauf hinweisen, daß die Filialnetzanpassung nicht vom Bundesminister für Post und Telekommunikation ausgeht, sondern in der unternehmerischen Zuständigkeit und Verantwortung der Deutschen Bundespost Postdienst liegt,
und zwar auf der Grundlage des Postverfassungsgesetzes der Postreform I, die 1989 hier in diesem Deutschen Bundestag verabschiedet worden ist.
Diese Filialnetzanpassung ist in der Tat in der Verantwortung der Deutschen Bundespost, folgt aber den Kriterien, die der Deutsche Bundestag im Jahre 1981 beschlossen hat.
Frau Kollegin Kastner, da es hier zwei Fragen waren, gibt es für Sie die Möglichkeit, noch eine Zusatzfrage zu stellen. Die haben Sie hiermit.
Herr Staatssekretär, kann ich Ihrer Antwort jetzt weiterhin entnehmen, daß der Postminister und damit auch der Herr Staatssekretär in dieser Regierung überflüssig sind?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Den Zusammenhang mit der ursprünglich gestellten Frage sehe ich nicht, aber ich beantworte Ihre Frage mit einem klaren Nein.
Damit kommen wir zur nächsten Zusatzfrage des Kollegen Walter Kolbow.
Herr Staatssekretär, in Bezugnahme auf die Fragen des Kollegen Erler möchte ich Sie fragen, ob Sie sich nicht auch des Eindrucks einer Einflußnahme des Herrn Bundespostministers mit seinen Amtsmöglichkeiten in seinem Wahlkreis erwehren können, wenn er nach eindeutigen Berichterstattungen in der Presse die Postämter Frauenland und Grombühl in Würzburg wieder der Öffnung zugänglich gemacht hat und zweitens die Schließung des Postamtes Grombühl vor sehr vielen Besuchern eines Sommerfestes bekanntgegeben hat?Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kolbow, mir sind die Sachverhalte, die Sie vortragen, nicht bekannt. Ich weiß aus eigener Erfahrung, daß in meiner Kreisstadt ein Postamt und eine Poststelle geschlossen werden
— ja, mit vielen Protesten, die damit zusammenhängen —, daß diese Entscheidung von dem Unternehmen Deutsche Bundespost Postdienst getroffen wor-
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Parl. Staatssekretär Dr. Paul Laufsden ist und daß ich überhaupt keine Möglichkeit hatte und auch nicht daran gedacht hatte, hier Einfluß zu nehmen.
Zweite Zusatzfrage des Kollegen Kolbow.
Sind Sie mit mir der Meinung, daß es nicht nur einem guten demokratischen Stil, sondern auch einer selbstverständlichen demokratischen Pflicht entspricht, wenn man die Parlamentskollegen, die sich mit um eine solche Entscheidung, wie sie gefallen ist, bemüht haben, zeitgerecht unterrichtet?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Ich glaube, daß alle Anfragen, die aus diesem Hohen Hause an den Bundespostminister gerichtet worden sind,
sofort und der Wahrheit entsprechend beantwortet worden sind.
Der Briefverkehr hat einen riesigen Umfang angenommen.
Nun eine Zusatzfrage des Kollegen Kauder.
Herr Staatssekretär, ist es richtig, daß die Entscheidung, Postämter zu schließen, auf eine Entscheidung des sozialdemokratischen Postministers Matthöfer zurückgeht und daß die Kriterien noch viel enger gewesen sein sollen als die heutigen?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kauder, das kann ich so nicht bestätigen.
Die Schließung der Postämter jetzt ist eine Entscheidung der Deutschen Bundespost Postdienst angesichts einer dramatischen Entwicklung, die auf der einen Seite gekennzeichnet ist durch den Rückgang der Verkehrsmengen um etwa ein Drittel und auf der anderen Seite durch die Steigerung der Kosten um 50 %. Da in § 37 des Postverfassungsgesetzes das Unternehmen gesetzlich verpflichtet ist, seine Dienstleistungen kostendeckend zu erbringen, und da das Postfilialnetz im Jahr Kosten von 4,5 Milliarden DM verursacht, die nur noch zur Hälfte durch Einnahmen gedeckt sind, war eine Anpassung dieses großen Filialnetzes unumgänglich, unabhängig von Entscheidungen des früheren Ministers Matthöfer.
Die letzte Zusatzfrage des Kollegen Feilcke, und dann sind wir am Ende der Fragestunde angekommen.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie so verstehen, daß Sie die Absicht haben, die Postdienste zu sanieren, indem Sie Serviceleistungen einschränken und es insofern, also zu einer Attraktivitätsminderung kommt: Wann haben wir denn mit der Vorlage zu rechnen, daß der Kunde in Zukunft seine Pakete und Briefe selbst abzuholen hat?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Feilcke, die Entwicklung und Einführung alternativer Vertriebswege sind natürlich ein Anliegen, dem wir uns mit großem Interesse zuwenden. Im ländlichen Bereich werden viele hundert Versuche mit Postagenturen gemacht, im städtischen Bereich noch nicht. Wir müssen hier vorsichtig sein, um nicht den verbleibenden Amtsstellen Konkurrenz zu machen. Wir haben in diesem Bereich ja eine Beamtenschaft, die weiterhin Arbeit haben muß. Man muß also mit Augenmaß an das Ganze herangehen. Das Ziel ist in der Tat, die Post kundenfreundlicher zu machen,
die Dienstleistungen in ihrer Qualität noch zu verbessern
und verschiedene neue Formen des Angebots zu erproben. Das ist eine Aufgabe, die uns sehr beschäftigt.
Damit sind wir am Ende der Fragestunde angekommen. Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zur Äußerung des Bundeskanzlers über den „kollektiven Freizeitpark Bundesrepublik Deutschland" im Hinblick auf drohende Arbeitslosigkeit in den Regionen Main-Rhön/Schweinfurt, Thüringen/Zella Mehlis, Leipzig
Die Fraktion der SPD hat diese Aktuelle Stunde beantragt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster der Kollege Dr. Uwe Jens.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In seiner Regierungserklärung zur Standortdebatte im Deutschen Bundestag äußerte der Bundeskanzler den Vorwurf:... wir können die Zukunft nicht dadurch sichern, daß wir unser Land als einen kollektiven Freizeitpark organisieren.
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Dr. Uwe JensEr fügte hinzu:Wir müssen in allen Bereichen unserer Ökonomie die notwendigen Voraussetzungen für eine grundlegende Umkehr schaffen.Doch was heißt das wirklich konkret? Zu Ende gedacht lautet der Vorschlag von Bundeskanzler Kohl: Die Massenarbeitslosigkeit muß noch weiter steigen. Die Aussage vom „kollektiven Freizeitpark" ist deshalb aus unserer Sicht dumm, töricht und absurd.
Die ökonomischen Rezepte des Bundeskanzlers — das füge ich aus voller Überzeugung hinzu - sind außerdem noch naiv.
Was soll denn eigentlich konkret produziert werden? Für die Produkte, die wir kennen, sind die Kapazitäten in unserer Wirtschaft nur zu 75 % ausgelastet. Die Massenarbeitslosigkeit hat ein unerträgliches Ausmaß angenommen. Wer in dieser Situation mehr Arbeit propagiert, muß sagen, wo die Mehrproduktion abbleiben soll. In Wirklichkeit führt der Vorschlag nach Mehrarbeit zwingend zu mehr Arbeitslosigkeit.
Das wird die sozialdemokratische Partei niemals mitmachen.
In Wahrheit hätte der Bundeskanzler sagen müssen: Die deutschen Arbeitnehmer sollen in Zukunft mehr arbeiten und erheblich weniger verdienen. Das hätte noch eine gewisse Logik für sich. Genau das steckt hinter der Aussage des Bundeskanzlers über den kollektiven Freizeitpark. Aber dazu hat er offenbar nicht den entsprechenden Mut gehabt. Schließlich ist der Anteil der Arbeitnehmer am Volkseinkommen seit 1982 kontinuierlich um 6 % gesunken. Keine Regierung hat den Arbeitnehmern mit Steuern und Abgaben so tief in die Tasche gegriffen wie die Regierung Kohl. Die Aussage über den kollektiven Freizeitpark ist und bleibt dumm, töricht und absurd. Ich wiederhole es aus voller Überzeugung.
Dieser Bundeskanzler hat keine Ahnung von den wirklichen Arbeitsbedingungen in unserem Lande. Fragen Sie einmal die Bergleute im Ruhrgebiet, die unsere Energieversorgung auch in Krisen sichergestellt haben! Sie haben noch nichts davon gemerkt, daß sie in einem kollektiven Freizeitpark leben. Fragen Sie einmal die Krankenschwestern oder die Polizeibeamten, die im Schichtdienst Tag und Nacht für unsere Gesundheit oder die öffentliche Sicherheit sorgen, ob sie sich in einem kollektiven Freizeitpark wähnen!
Fragen Sie einmal die Millionen Menschen, die tagtäglich hart und fleißig arbeiten, die immer mehrAngst um ihren Arbeitsplatz haben! Fragen Sie nureinmal die Fahrer beim Deutschen Bundestag, was diese Leute empfinden, wenn sie vom Bundeskanzler hören, sie lebten in einem kollektiven Freizeitpark!
Welches Maß an Zynismus will dieser Bundeskanzler in der Wirtschaftspolitik eigentlich noch anschlagen? Der Bundeskanzler hat diese schlimmen und unentschuldbaren Worte bei einer Versammlung der Arbeitgeberverbände vor kurzem wiederholt. Es war also nicht etwa ein Mißgriff: Nein, hier steckt Strategie dahinter.
Der Bundeskanzler ist eifrig dabei, den wichtigsten Standortfaktor der Bundesrepublik Deutschland, den sozialen Konsens in unserer Gesellschaft, kaputtzureden.
Diese Strategie muß möglichst schleunig beendet werden!
Wir Sozialdemokraten sind zutiefst davon überzeugt: Wir werden die Herausforderung der Zukunft nur dann bewältigen, wenn wir mehr Konsens in unserer Gesellschaft organisieren. Dazu gehört auf Bundesebene in erster Linie eine konzertierte Aktion. Die Bundesbank hat einen deutlichen Schritt in Richtung Diskontsenkung zu machen. Die Bundesregierung muß sich verpflichten, bei einer Wiederbelebung der Konjunktur die Neuverschuldung deutlich abzusenken.Wir brauchen aber auch auf regionaler Ebene mehr Verantwortung für die Wirtschaftsentwicklung.Die Worte, meine Damen und Herren, vom „kollektiven Freizeitpark" sind unentschuldbar. Diese Worte sind eine Beleidigung und Verhöhnung von Millionen von Arbeitslosen und Arbeitnehmern, die in Beruf und Tätigkeit sind. Wir fordern den Bundeskanzler auf: Nehmen Sie diese Worte zurück! Ändern Sie Ihre wirtschaftspolitische Strategie!Die Regierung ist wirklich eifrig dabei, unser Land in ein Chaos zu stürzen. Anstatt Arbeitnehmer und Arbeitslose zu diffamieren, organisieren Sie endlich eine vernünftige Strategie zur Schaffung von Beschäftigung in diesem Lande!
Nun hat der Kollege Michael Glos das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der ansonsten sehr ruhige und sachliche Kollege Jens hat offenbar etwas in den Tee bekommen, weil er am Beginn so ganz scharf war und hier mit sehr harten Worten versucht hat, den Bundeskanzler in eine Ecke zu stellen.
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Michael GlosDem Bundeskanzler vorwerfen zu wollen, er diskriminiere Arbeitnehmer oder gar Arbeitslose, wie das aus Ihren Reihen geschehen ist, ist, wie ich meine, eine Unverschämtheit und grenzt an eine Diskriminierungskampagne
bzw. es ist Desinformationsstrategie.
Richtig ist, daß in den letzten Jahren Freizeitdenken bei uns in Deutschland zu sehr in den Vordergrund gerückt worden ist. Freizeitparks an sich sind ja nichts Schlimmes, nichts Verwerfliches. Dort kann jeder seine Zeit verbringen, das richtet sich sicher auch nach seinem Geldbeutel, und sie schaffen zum Teil Arbeitsplätze, Herr Kollege.
Wir beanstanden ja Freizeitverhalten nicht pauschal. So gestehen wir dem saarländischen Ministerpräsidenten Lafontaine zu, daß er südfranzösischen Wein und die Toskana in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen rückt
und daß er sich vor allen Dingen einen Koch mit Ministerialratsgehalt hält, um seine Freizeit in Bonn zu verschönen.
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, Tatsache ist auch,
— seien Sie doch wieder ruhig —, daß wir Deutsche zum Freizeitweltmeister geworden sind.
Und es ist auch Tatsache, daß in Deutschland mehr Arbeitszeit durch Jubiläen und Feiern verlorengeht —
woran sich auch Politiker und Beamte beteiligen — als durch Streiks.
Nun kann man sich freuen, daß bei uns im Lande so wenig gestreikt wird, nur Konflikte über die Lohnhöhe und die Lohnkosten sind meiner Ansicht nach nicht sachgerecht ausgetragen worden.
Franz Thoma — Frau Präsidentin, ich bitte, zumindest die Zeit, in der gestört wird, nicht auf meine Redezeit anzurechnen — schreibt in der „Süddeutschen Zeitung" vom 24. Oktober unter der Überschrift „Die deutsche Krankheit" — jetzt hören Sie bitte zu:In einem Freizeitpark entsteht kein Innovations-klima. Weil Deutschland aus den meisten Zukunfstechnologien ausgestiegen ist, wird die Erwerbslosigkeit zunehmen.
Wer in der Vergangenheit zu Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich gewarnt hat, wurde von Ihnen diffamiert.
Bei der Jahresarbeitszeit liegt Deutschland mit 1 700 Stunden deutlich hinter den USA mit 1 900 Stunden und Japan mit 2 100 Stunden. Wir Deutschen leisten uns den längsten Jahresurlaub und gehören zu den Spitzenreitern bei Krankheits- und Fehlzeiten. Und genau diese ungesunde Entwicklung hat der Bundeskanzler zu Recht am 21. Oktober angesprochen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, genausowenig wie Löhne und Gehälter aus einem Geldautomaten kommen oder sich Arbeitsplätze durch Demonstrationen schaffen lassen, lösen überflüssige Debatten wie diese im Deutschen Bundestag Probleme.
Die Lohntüten der Arbeitnehmer können nur gefüllt und Arbeitsplätze nur erhalten werden, wenn wir wettbewerbsfähige Unternehmen haben, die ihre Kosten auf den nationalen und internationalen Märkten erwirtschaften.Der Beschluß des SPD-Präsidiums, aus der Kernkraft auszusteigen und die sichersten Kernkraftwerke der Welt abzuschalten, ist ein aktuelles Beispiel, wie man Arbeitsplätze vernichten und Ideologie auf dem Rücken der Arbeitnehmer durchsetzen will, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Die Tarifpartner haben die Lohnpolitik zu stark ausgereizt. Die Lohnkosten je Arbeitsstunde belaufen sich in der westdeutschen Wirtschaft auf 42 DM, in Japan auf 30 DM, in Frankreich auf 27,80 DM, in den USA auf 24,80 DM. Wenn der Bundeskanzler jetzt dazu aufruft, diese Entwicklung zu stoppen und das arbeitszeitpolitische Ruder herumzureißen, dann ist das kein Affront. Im Gegenteil.Ich bedauere, daß die Region Schweinfurt und die Region Thüringen, die von Arbeitslosigkeit auch aus strukturellen Gründen sehr stark betroffen sind, als Begründung für diese Aktuelle Stunde herhalten müssen. Ich nutze die Gelegenheit der Bundesregierung, vertreten durch Bundesminister Bohl, sehr zu danken, daß er in Schweinfurt zugesagt hat, die Auswirkungen des Strukturwandels nach besten Kräften sozial abzufedern.
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16018 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Michael GlosBedauerlicherweise betätigt sich die SPD vor Ort als Bremser. So wird dort z. B. der geplante Bau der A 81 von Franken in den thüringischen Wirtschaftsraum torpediert.Frau Präsidentin, ich hätte gerne noch all das aufgezählt, was der bayerische Ministerpräsident Stoiber für Schweinfurt zugesagt und auf den Weg gebracht hat. Es ist so viel, daß es viele Seiten füllt. Ich weiß, Frau Präsidentin, es ist auf Grund der Geschäftsordnung sehr schwer, das zu Protokoll zu geben. Da Sie aus Bayern sind und wissen, was Herr Stoiber für Bayern tut, wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie prüfen könnten, ob wir es ausnahmsweise zu Protokoll nehmen können. Ansonsten bedaure ich, daß die Arbeitslosen in Schweinfurt und die Sorge um den Arbeitsplatz für ein billiges parteipolitisches Süppchen, wie Sie es heute kochen wollten, mißbraucht worden sind.Danke schön.
Herr Kollege, es tut mir fürchterlich leid. Ich weiß natürlich, daß Ihnen Parteipolitik vollkommen fremd ist, aber ich kann dennoch dies nicht zu Protokoll nehmen, denn es hätte die fünf Minuten, auch wenn Sie gar nichts anderes gesagt hätten, überstiegen. Insoweit geht das nicht.
— Ich freue mich immer, wenn mir Kollegen interessante Lektüre empfehlen. Herzlichen Dank, Herr Kollege Glos.
Nun kommt der Kollege Hermann Rind zu Wort, und zwar für fünf Minuten.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!... wir können die Zukunft nicht dadurch sichern, daß wir unser Land als einen kollektiven Freizeitpark organisieren. Wir müssen in allen Bereichen unserer Ökonomie die notwendigen Voraussetzungen für eine grundlegende Umkehr schaffen.
Ich habe das noch einmal bewußt — wie Sie, Herr Kollege Jens — vorgelesen, weil ich glaube, daß Ihre Betonung, die Akzente, die Sie gesetzt haben, mit dem Wehleiden von den schwer arbeitenden Menschen, die überhaupt nicht gemeint sind — das wissen Sie genauso gut wie ich —, nicht richtig sind.
Wenn wir davon sprechen, daß Deutschland als Industrienation in einer Strukturkrise steckt, wie viele andere Industrienationen auch, dann ist eine Umkehr notwendig, um der Herausforderung gerecht zu werden, die aus Mittel- und Osteuropa, aus dem südostasiatischen Raum kommen und wo immer auf der Welt sich Länder aufmachen, in Wettbewerb mit alten Industrienationen zu treten, um dort zu bestehen. Da darf es keine Tabus geben. Wir müssen entrümpeln.Wir müssen insbesondere unseren kollektiven Vorschriftenpark entrümpeln, der Investitionen behindert.
Wir müssen neuen Technologien eine Entwicklungschance geben. Wir müssen die Privatisierung der Staatsunternehmen vorantreiben, die Flexibilisierung der Maschinenlaufzeiten, die Verkürzung von Schul- und Abschlußzeiten und Studienzeiten und all diese Dinge mehr. Das sind Maßnahmen, die im Interesse des Standortes Deutschland dringend geboten sind.Wenn die SPD hier bei fast all diesen Fragen immer die Position des Beharrens auf dem alten Besitzstandsdenken während der letzten 40 Jahre einfordert und wenn immer dann als einziges Argument die Forderung nach mehr Geld kommt, ohne zu sagen, woher dieses Geld eigentlich genommen werden soll, dann muß ich sagen: Fehlanzeige bei der SPD bei der Bewältigung der Zukunftsaufgaben, vor denen wir stehen.
Und wehe, wenn einer von Ihnen, wie Oskar Lafontaine oder der niedersächsische Ministerpräsident Schröder, einmal Lockerungsübungen macht. Sie werden gnadenlos zurückgepfiffen und mit großem Getöse niedergemacht. Das ist die Realität innerhalb der SPD.
— Ich kann doch Zeitung lesen. Ich weiß doch, wie sich Herr Schröder gestern auf Weisung Ihres Präsidiums hin verhalten mußte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht um das Umsteuern des Staatsschiffs, das über Jahrzehnte hinweg gut Kurs gehalten hat. Aber die See, das Wetter hat sich geändert, und da müssen ein Kapitän und eine Mannschaft wie die der Koalition bereit zum Umsteuern sein. Dazu bekennen wir uns.
Ich lebe in einer Gegend — ich bin dort auch geboren —, die von dieser Krise besonders schwer betroffen ist. Ich spreche von der in Ihrem Antrag angesprochenen Region Schweinfurt. Sie verfügt über drei Großunternehmen, die Zulieferbetriebe für die Automobilindustrie und den Maschinenbau sind. Es fehlen weitgehend eine mittelständische Struktur und insbesondere Betriebe in anderen Wirtschaftszweigen, die Schutz vor Krisenanfälligkeit gewähren könnten. Der Prozeß des Aufholens jahrzehntelanger Versäumnisse in dieser Region — dies gilt auch für andere Regionen — in Zeiten einer wirtschaftlichen Rezession und bei von mir eingangs geschilderten, noch nicht geänderten, sondern erst zu ändernden Rahmenbedingungen wird zumindest mehrere Jahre benötigen. In der Zwischenzeit bemühen wir uns, den Niedergang der Region für die Menschen sozial abzufedern und mit gezielten Maßnahmen des Landes und den Komplementärmitteln des Bundes den Unternehmen in der Region, die alle in den Sog der
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Hermann RindKrise zu geraten drohen, das Überleben zu ermöglichen und den Bestand der bestehenden Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen.Wir würden jedoch den Menschen in Ost- wie in Westdeutschland etwas vormachen, wenn wir so täten, als ob der Staat die dringend benötigten Arbeitsplätze schaffen könnte.
— Frau Kollegin Kastner, genau bei den Rahmenbedingungen verweigern Sie sich. Ich habe Ihnen in dieser kurzen Rede heute Beispiele dazu genannt.Der Staat kann ein Stück weit bei der sozialen Abfederung helfen, er kann ein Stück weit den Unternehmen helfen, die Probleme zu meistern. Aber Arbeitsplätze schaffen können nur die Unternehmen unter entsprechenden Rahmenbedingungen. Dafür setzen wir uns ein, dem gilt unsere Arbeit. Ich glaube, wir haben hier den richtigen Kurs eingeschlagen. Das Wort des Kanzlers, in diesem Sinne des Umlenkens, des Umsteuerns verstanden, ist genau das richtige Wort zur rechten Zeit gewesen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächster spricht nun Kollege Dr. Gregor Gysi.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn es schon um Zitate geht, muß man schon darauf hinweisen, daß der Bundeskanzler von einer Umkehr sprach. Umkehr bedeutet aber, daß wir den „kollektiven Freizeitpark Bundesrepublik Deutschland" schon haben; sonst müßte man keine Umkehr befürworten.Wer in der Situation, in der sich unser Land befindet, von einem „kollektiven Freizeitpark Bundesrepublik Deutschland" spricht, beleidigt meines Erachtens vorsätzlich Millionen Arbeitslose und Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
— Ich werde Ihnen das gleich begründen. — Ich würde gern einmal wissen, wann der Bundeskanzler und wann Sie das letztemal z. B. in einem Kohlerevier waren, wann Sie das letztemal in einem Stahlwerk waren und warm Sie das letztemal vielleicht in einer Textilfabrik waren und sich einmal angesehen haben, unter welchem Leistungsdruck die Frauen dort arbeiten.
Ich sage Ihnen noch eines. Durch die Arbeitszeitverkürzung gibt es tatsächlich ein gewisses Problem. Dieses Problem besteht darin, daß der Leistungsdruck innerhalb der verbliebenen Arbeitszeit beachtlich zugenommen hat, im Grunde genommen an die Grenze des psychisch und physisch Erträglichen heranreicht.Wenn Sie dann diesen Menschen sagen, daß sie eigentlich in einem kollektiven Freizeitpark leben, ist das eine Verhöhnung, ist das zynisch und ist auch beleidigend. Im übrigen bezeichnen Sie als große Patrioten damit das ganze deutsche Volk als faul. Auch das ist nicht besonders sinnreich, zumindest nicht im Sinne Ihrer Ideologie.Ich füge hinzu, daß im übrigen die Zahlen gar nicht stimmen. Sie sollten sich das alles einmal ganz genau ansehen. Sie argumentieren ausschließlich mit der Arbeitszeit. Sie vergessen Schichtsystem, Sie vergessen vieles andere, was dazugehört.
Aber Sie vergessen auch die wirklichen Entwicklungen in der Wirtschaft dieser Bundesrepublik Deutschland.Von 1970 bis 1972 hat die Produktivität in der Bundesrepublik Deutschland um 85 % zugenommen. Nun frage ich Sie: Wer hat das eigentlich erarbeitet? Die Produktion hat in dieser Zeit um 70 % zugenommen. Wissen Sie, daß von 1980 bis 1992 die Nettogewinne in der Bundesrepublik um 132,01 % gestiegen sind, die Nettolöhne dagegen nur um 47,5 %? Wer hat denn eigentlich diese Nettogewinne erarbeitet? Jene, denen Sie vorwerfen, daß sie in einem Freizeitpark leben würden? Das ist wirklich ziemlich ungeheuerlich.Der Anteil der Löhne der abhängig Beschäftigten ist von über 70 % am Gesamteinkommen inzwischen auf 67 % heruntergegangen, ist wieder auf das Niveau der 60er Jahre zurückgefallen.Ob nun Steuern, ob Gewinne, ob Löhne, ob Lohnnebenkosten — das alles wird von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erarbeitet, die lediglich darum streiten, welchen Anteil sie von dem bekommen, was sie selber an Wertschöpfung leisten.Angesichts dieser Zahlen den Beschäftigten vorzuwerfen, daß sie in einem Freizeitpark lebten, ist wirklich ungeheuerlich und verkennt im übrigen die Realitäten.Dann komme ich einmal zu den Arbeitslosen: Wir rechnen nun mit 5 Millionen Arbeitslosen. Haben Sie sich einmal überlegt, was ein Arbeitsloser — ob in Ost oder West — eigentlich dabei empfinden muß, wenn ihm vorgeworfen wird, in einem kollektiven Freizeitpark Bundesrepublik Deutschland zu leben?
— Aber Sie haben sich an die gesamte Bevölkerung gewandt. Da können Sie doch 5 Millionen Arbeitslose, die wir im nächsten Jahr haben werden, nicht ausklammern. Den vielen Menschen, die gegen ihren Willen in den Vorruhestand geschickt werden, und vielen anderen mehr sagen Sie, sie lebten in einem kollektiven Freizeitpark. Die fragen Sie, wann sie endlich arbeiten dürfen, aber Sie werfen ihnen vor,
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Dr. Gregor Gysidaß sie nicht arbeiten. Das ist doch der Gipfel an Zynismus. Ich muß das so deutlich formulieren.
Ich habe die Reaktion auch auf diesen Begriff im Osten schon bei Veranstaltungen gespürt. Ich kann Ihnen nur sagen: Die Leute sind zum Teil richtig betroffen. Sie fühlen sich wirklich beleidigt. Sie sagen: Ich renne jeden Tag zum Arbeitsamt, ich versuche alles, um irgendeine Tätigkeit zu bekommen, und dann wirft mir diese Regierung mit ihrem Kanzler an der Spitze vor, daß ich mich in einem kollektiven Freizeitpark aufhalte. Das ist eine tiefe Demütigung.Es kommt hinzu, daß die Freizeiteinrichtungen zumindest im Osten — jetzt beginnt es auch im Westen — kollektiv schließen. Die Jugendklubs werden geschlossen, die Kulturhäuser werden geschlossen. Ich weiß gar nicht, was Sie unter einem „kollektiven Freizeitpark" verstehen, wahrscheinlich irgendeine Art Rummel. Aber da gab es schon sinnvollere Möglichkeiten, seine Freizeit zu verbringen, übrigens auch mit Weiterbildung. Alle diese Möglichkeiten sind reduziert worden. Es stimmt also auch in dieser Hinsicht nicht.Nein, in diesem Lande wird nicht zuwenig gearbeitet, sondern das Hauptproblem besteht darin, daß in diesem Lande die finanziellen Mittel viel zu ungerecht verteilt werden. Trauen Sie sich doch endlich einmal an die 700 Milliarden DM vagabundierendes Kapital heran. Damit könnten Sie Arbeitsplätze schaffen.Schließen Sie nicht die Postämter, sondern akzeptieren Sie, daß auch in einem Dorf ein Postamt sein muß! Auch das schafft Arbeitsplätze und ist kundenfreundlich.
Ein Postamt im Dorf rechnet sich nie; das ist wahr. Aber nicht alles im Leben muß sich rechnen: weder die Graphik noch der Dokumentarfilm, noch das Postamt. Das sind wichtige Grundsätze.Hören Sie auf, die Bevölkerung zu beleidigen! Machen Sie lieber eine Wirtschaftspolitik, die tatsächlich zu Arbeitsplätzen führt, anstatt die Arbeitslosen und die Arbeitenden in diesem Lande zu verunglimpfen!Danke schön.
Das Wort hat Herr Bundesminister Friedrich Bohl.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die leistungsstarke deutsche Wirtschaft ist nicht denkbar ohne die Einsatzbereitschaft und den Leistungswillen der Arbeitnehmer in unserem Lande. Die Bundesregierung achtet diese großartige Leistung unserer Arbeitnehmer. Deshalb sind alle Vorwürfe, die insoweit hier in der Debatte an den Herrn Bundeskanzler gerichtet wurden, völlig absurd und mit Entschiedenheit zurückzuweisen.
Was Sie angeht, Herr Kollege Gysi, wäre das alles, was Sie hier vortragen, sehr viel glaubwürdiger, wenn Sie vor Jahr und Tag schon gegen den Freizeitpark Wandlitz mit gleicher Entschiedenheit gestritten hätten.
Der Bundeskanzler hat am 21. Oktober in dieser Debatte, nachdem er über die Arbeitszeit und den Urlaub in unserem Land vorgetragen hatte, wörtlich gesagt:Dennoch scheint es für viele nichts Wichtigeres zu geben, als über mehr Freizeit nachzudenken.Meine Damen und Herren, wir können die Zukunft nicht dadurch sichern, daß wir unser Land als einen kollektiven Freizeitpark organisieren.Das war das, was der Bundeskanzler gesagt hat, das war der Ansatzpunkt. Er hat nicht von Arbeitslosen gesprochen, er hat nicht von den leistungsbereiten Arbeitnehmern gesprochen, sondern davon, daß viele, die nach mehr Freizeit drängen, diesen für den Wettbewerb so wichtigen Sachverhalt bedenken sollten.Daß die Empörung der SPD mit einer gewissen Verzögerung auftritt, belegen folgende Tatbestände. Nach dem Bundeskanzler hat Ministerpräsident Lafontaine gesprochen. Wenn das das zentrale, epochale Ereignis für diesen Deutschen Bundestag gewesen wäre, hätte man annehmen dürfen, daß er sich gleich zu Beginn darüber echauffierte.
— Nein, Herr Ministerpräsident Lafontaine hat von Bahnreform, von Genehmigungsverfahren, vom Hochschulbau, von vielem anderen gesprochen.
— Entschuldigen Sie, ich lese im Protokoll z. B. nicht, Herr Kolbow, daß Sie, als der Bundeskanzler vom Freizeitpark gesprochen hat, Widerspruch angemeldet haben. Keiner, kein einziger. Das ist völlig untergegangen.
— Es ist doch etwas ganz anderes. Im Ollenhauerhaus haben Sie überlegt: Was können wir jetzt lostreten, damit wir eine Kampagne haben? Das ist die Wahrheit.
Was hat Herr Lafontaine gesagt? Er hat gesagt, der Begriff „kollektiver Freizeitpark" könne auch mißverstanden werden. Ich will es nicht polemisch gegen Sie wenden. Selbst Herr Lafontaine — das muß man sich vorstellen — spricht allenfalls davon, daß es mißverständlich sein könnte. Dafür gibt es also gar nichts her.Ich muß Sie auf folgendes hinweisen. In seiner Erklärung vom 25. März dieses Jahres vor diesem
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Bundesminister Friedrich BohlHohen Hause hat der Herr Bundeskanzler ebenfalls den Begriff des „kollektiven Freizeitparks" gewählt und gesagt:Wahr ist auch, daß sich eine erfolgreiche Industrienation nicht als kollektiver Freizeitpark organisieren läßt.Von März bis jetzt: kein Ton. Was steckt dahinter? Sie suchen nur Wahlkampfmunition. Das ist der Punkt.
Das ist unglaubwürdig bis dort hinaus!
Meine Damen und Herren, daß es unglaubwürdig ist, hat man auch daran gesehen, wie lange Sie gebraucht haben, um die genaue Formulierung für Ihre Aktuelle Stunde zu finden. Wir haben im Laufe der Woche ständig Wasserstandsmeldungen gehabt. Zuerst war Schweinfurt dabei, dann kam noch die Region Thüringen/Zella Mehlis, dann kam noch Leipzig, dann wurde Leipzig weggenommen, dann kam Bremen dazu, jetzt ist Bremen wieder weg. Sie wollen doch nur Anlässe schaffen, um Stunk zu machen. Das müssen wir der Bevölkerung deutlich sagen.
Das ist die Wahrheit. Die Wahrheit ist, daß in unserem Lande — Gott sei Dank, sage ich — viele Menschen Freizeit haben. Das wollen wir auch.Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Wir müssen natürlich auch die Voraussetzungen dafür schaffen, daß wir diesen Wohlstand und diese Freizeit weiter genießen können. Darum geht es.
Gutes Image ist heute mit einem schnellen Verfallsdatum versehen. Deshalb geht es darum, daß wir Deutschland ni c h t als kollektiven Freizeitpark organisieren, sondern als leistungsbereite und innovationsfähige Gesellschaft. Ich glaube, hieraus abzuleiten, dies solle die Arbeitslosen als Angehörige eines Freizeitparks diffamieren, ist wirklich bösartig. Das ist ein Produkt abstruser Phantasie. Das muß hier mit Deutlichkeit gesagt werden.
Wir lassen das nicht zu.
Sie, meine Damen und Herren von der SPD, stemmen sich gegen alle Veränderungen. Das ist Ihr Problem. Sie nehmen die wirtschaftlichen Grundbedingungen, unter denen wir leben, nicht zur Kenntnis. Alles, was zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, auf die wir dringend angewiesen sind, unternommen werden soll, wird von Ihnen torpediert.Wie ist es denn z. B. mit dem Gentechnikgesetz? Da haben wir doch ein klassisches Beispiel. Alle Welt weiß, daß das Gentechnikgesetz sein muß, damit die Genehmigungsverfahren in der chemischen und der pharmazeutischen Industrie verbessert, verkürzt und beschleunigt werden. Und was machen Sie im Bundesrat zum Beispiel? Sie legen sich quer. Sie haben die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Das ist das Problem.
Dann kommt hinzu, was hier schon zum Energiekonsens gesagt wurde. Da sind Sie auch nicht in der Lage, das zu tun, was für die 90er Jahre geboten ist. Bei Ihnen macht ja jeder, was er will.
Bei Ihnen, Herr Kolbow, macht jeder, was er will. Insofern ist der Fraktionssaal der SPD der dichtbesiedeltste Freizeitpark der Republik. Das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren.
Nun muß ich Ihnen folgendes sagen: Die Konkurrenz schläft nicht, und der internationale Wettbewerb honoriert keine guten Absichten oder schöne Worte. Noch haben wir eine wirtschaftlich starke Stellung. Wer sich aber auf den Lorbeeren der Vergangenheit ausruht, hat die Zukunft schon verloren.Wir sind kein Zwergstaat, der mit Nischenprodukten überleben kann. Eine Industrienation mit 80 Millionen Einwohnern ist nur als Produktionsstandort denkbar. Grundvoraussetzung ist hohe Leistungsbereitschaft, die den Deutschen in der Vergangenheit nie gefehlt hat. Das ist das Entscheidende. Darauf setzen wir. Darauf werden wir bauen.Wenn sich die SPD weiterhin in die Ecke manövriert, ist das ihr Problem. Die Regierungsfähigkeit hat sie sich damit selbst abgesprochen.Vielen Dank.
Nun hat der Kollege Ottmar Schreiner das Wort.
. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es lohnt wenig, sich mit dem Kollegen Glos auseinanderzusetzen. Sie sind ja Mühlenbesitzer. Wenn Sie in Ihrer Mühle so viel leeres Stroh dreschen wie hier in den Parlamentsdebatten, ist mir angst um die Wettbewerbsfähigkeit Ihrer Mühle, Herr Glos.
Nun zum Kollegen Bohl. Kollege Bohl hat soeben versucht, hier zu erläutern, es sei dem Bundeskanzler in Wahrheit um die vielen gegangen — —
— Können Sie diesen Haufen einmal zur Ordnung bringen, Frau Präsidentin? Man ist ja erstaunlich aufgemuntert.
Kollege Bohl hat gesagt, der Kanzler habe eigentlich diejenigen im Blick gehabt, die nach mehr Frei-
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Ottmar Schreinerzeit drängen. Nun frage ich Sie: Wer drängt eigentlich nach mehr Freizeit?Der Kanzler müßte spätestens 1985, als er die damaligen Bemühungen der Gewerkschaften, die Arbeitszeiten zu reduzieren, als dumm und töricht denunziert hatte, oder spätestens in den Jahren danach gemerkt haben, daß die Arbeitszeitverkürzungen, die die Gewerkschaften durchgesetzt hatten, der einzige wirkliche beschäftigungspolitische Beitrag der gesamten 80er Jahre gewesen sind.
Wir hätten heute viele hunderttausend Arbeitslose mehr, wenn wir das gleiche Wochenarbeitszeitvolumen hätten, wie wir es 1984 noch hatten. Insoweit besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Neugestaltung der Arbeitszeit und den Chancen der Arbeitslosen, wieder Beschäftigung zu finden.Selbst die EG-Kommission hat in den letzten Tagen mehrfach darauf hingewiesen. Die Bundesregierung in Gestalt des Bundeskanzlers hat den Kopenhagenern EG-Ratsbeschlüssen vom Juni 1993 zugestimmt. Dort heißt es: „Produktivitätszuwächse sollten künftig zur Verbesserung der Lebensqualität und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze eingesetzt werden. Dieses dynamische Konzept beeinhaltet, daß durch die Verteilung der Arbeit zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden. " So die Kopenhagener Ratsbeschlüsse mit Zustimmung des sehr verehrten Herrn Bundeskanzlers.Ja, was gilt denn jetzt eigentlich? Das, was in Kopenhagen vereinbart wurde, oder die anschließend hier öffentlich vorgenommene Denunziation einer dringend notwendigen Neuverteilung der Arbeitszeit, um mehr Beschäftigung zu schaffen. Was gilt eigentlich?
Ein weiterer Punkt. Ohne eine gerechtere Verteilung von Arbeit sind die Beschäftigungsprobleme nicht lösbar. Meinen Sie wirklich, die IG Bergbau würde aus reiner Freude die Vier-Tage-Woche vorschlagen, wenn nicht die tiefgreifende Sorge um Massenentlassungen im Bergbau das zentrale Motiv wäre? Wieso kann der Bundeskanzler vor diesem Hintergrund all diese Bemühungen, die davon geprägt sind, Massenarbeitslosigkeit nicht noch weiter dramatisch steigen zu lassen, öffentlich als „Freizeitpark" denunzieren? Wie ist das in dieser Republik möglich?Ich habe vor mir einen Zeitungsartikel aus dem „Handelsblatt" liegen. Überschrift: „Beten für den Arbeitsvertrag". Ich zitiere Ihnen die ersten Sätze:Die junge Frau, eine alleinerziehende Mutter, die ihren Namen nicht nennen wollte, schrie fast: Ich bete jeden Tag, daß ich endlich wieder Arbeit habe. Sie gehört zu den gegenwärtig etwa 13 000 Bürgern Leipzigs, die auf Sozialhilfe angewiesen sind.Wer vor diesem Hintergrund öffentlich Stimmung macht gegen diejenigen, die versuchen, den Schlüsselfaktor Arbeitszeit mit einzusetzen, um Beschäftigung zu schaffen,
der verhält sich so unverantwortlich, wie man sich unverantwortlicher nicht verhalten kann.
Wir brauchen eine Reihe von Bausteinen zur Neuverteilung der Arbeitszeit. Wir brauchen den Ausgleich von Überstunden durch mehr Freizeit — rein rechnerisches Volumen: eine Million Arbeitsplätze.
— Es käme für die Unternehmen viel billiger, wenn sie, anstatt finanzielle Zuschläge zu zahlen, Freizeitausgleich in einem angemessenen Zeitraum organisieren würden. Haben Sie das nicht kapiert?
Arbeitszeitverkürzungen dienen den Unternehmen, weil sie die Produktivität steigern. Ich könnte Ihnen vieles andere mehr nennen.Diejenigen, die sich gegen weitere Arbeitszeitverkürzungen wehren, haben in Wahrheit überhaupt kein Interesse an einer wirklichen Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit.
Sie haben kein Interesse an einer Verbesserung der Arbeitssituation. Das, was die Bundesregierung in Gestalt dieses Veteranenclubs täglich der Öffentlichkeit präsentiert, erinnert an die Vorstellung, die Dinosaurier im Museum König — einige Meter weit von hier entfernt — hätten wieder Fleisch und Blut angenommen und sich in diese Bundesregierung eingeschlichen, um Rezepte zu verkünden, die vielleicht vor 80 Jahren noch wirksam gewesen wären.
Kollege Schreiner, Sie sind am Ende Ihrer Redezeit angekommen.
Diese Bundesregierung erinnert einen immer mehr an eine Mischung aus Budalas und Glupans.
Ich will zum Schluß sagen: In der heutigen Ausgabe der „Zeit" heißt es — —
Herr Kollege Schreiner, Sie sind am Ende Ihrer Redezeit angekommen.
Darf ich den Satz noch zu Ende führen?
Ja.
In der „Zeit" heißt es —ich zitiere —:Der frühere Bonner Wirtschaftsstaatssekretär Otto Schlecht— der Ihnen ein Begriff sein müßte —
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Ottmar Schreinerhat in seiner „Ethik der sozialen Marktwirtschaft" geschrieben: Sie gründet sich auch auf die Akzeptanz einer Wirtschaftsordnung, die soziale Sicherheit, Abbau von sozialen Schranken sowie Verteilungsgerechtigkeit voraussetzt. Nur wenn der soziale Konsens zerbricht, ist das Modell Deutschland am Ende.Sozialer Konsens ist wichtiger als diese Bundesregierung. Wir brauchen eine neue Regierung.
Als nächster hat der Kollege Hans-Joachim Fuchtel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die SPD wäre nicht die Toskana-Fraktion, würde sie beim Thema „Freizeitpark" nicht unruhig werden.
Meine Damen und Herren, Sie sollten trotzdem darauf verzichten, ganz bewußt und vorsätzlich völlig unhaltbare und falsche Vorwürfe an die Adresse des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland zu richten. Das Gemeine an dieser Art und Weise ist, daß Sie dazu noch das Schicksal der Arbeitslosen und der Hilfsbedürftigen einbeziehen.
— Sie mixen die Dinge zusammen, nicht wir. Das muß man hier einmal ganz deutlich festhalten. Was hier heute von Ihnen veranstaltet wird, könnte genausogut in einem Lehrbuch der linken Agitation stehen. Dies gilt auch für das, was der Kollege Schreiner gerade gesagt hat.Man muß sich fragen, warum Sie das eigentlich machen. Der erste Grund: Es ist meiner Meinung nach eine latente Verzweiflungsaktion. Sie werden jetzt nämlich von dem eingeholt, was Sie den Menschen alles erzählt haben: Man brauche die Veränderungen in der Welt nicht zur Kenntnis zu nehmen, und man könne die Besitzstände ohne Ausnahme wie eine heilige Kuh hüten.
Dies ging so lange gut, solange wir nicht Arbeitsplätze statt Produkte exportiert haben. Wir haben lange gewarnt, daß es einmal so weit kommen könnte. Sie haben es aber nicht hören wollen.Außerdem ist jetzt die Zeit gekommen, wo auch Sie der viel zu hohen Staatsverschuldung nicht mehr ausweichen können.
Gleichzeitig ist den Sozialdemokraten als den Jüngern der Demoskopie klar, daß keine Gruppe bei sich selbst Einbußen oder Belastungen hinnehmen möchte.
Und nun fällt für Sie von der SPD eine Welt zusammen. Das ist die tatsächliche Situation. Sie haben sich viel zu spät an der Standortdebatte beteiligt
und gehen jetzt in diese für unser Land so entscheidende Zeit ohne jede Antwort auf die neuen Fragen hinein.
Die Zukunft kann nicht ständig auf Parteibeschlüsse der SPD warten.
Hier steht auf dem Spiel, ob wir als Wirtschaftsstandort künftig unter „Ferner liefen" rangieren oder unsere bisherige Position wahren können, die unter der Regierungsverantwortung von CDU, CSU und F.D.P. die beste soziale Absicherung für die Hilfsbedürftigen in unserem Land gebracht hat.
Eng damit zusammen hängt für Sie ein zweites Problem: Ihnen fehlt jede politische Führung. Sie bieten von Woche zu Woche neue Beispiele dafür: bei dem Gerangel um UN mit Klose, bei der Energiepolitik mit Schröder;
vorgestern wurde bei der Pflegeversicherung selbst Scharping Opfer der parteitaktischen Notbremse.
Meine Damen und Herren von der SPD, Ihre Führungscrew besteht inzwischen aus Spagatkünstlern, die vor allem damit beschäftigt sind, Maßnahmen zu ergreifen, damit die politische Hose nicht platzt.
Bei Lafontaine war dies bezüglich seiner Äußerungen Richtung Ostdeutschland bereits der Fall.
Davon mit solchem Scheintheater abzulenken ist Ihr eigentliches, drittes Ziel. Aber wir lassen Sie nicht aus der Verantwortung.
Es darf nicht vervespert werden, was die vor uns unter größter Entbehrung aufgebaut haben.Wir nehmen die Probleme der Arbeitslosen, der Familien, der Sozialhilfeempfänger ernst.
Unter Bundeskanzler Helmut Kohl wurde z. B. sovielGeld für aktive Arbeitsmarktpolitik eingesetzt, wie
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Hans-Joachim FuchtelSie in Ihrer Regierungszeit nicht einmal zu träumen wagten.
Wir verlangen in dieser Zeit Solidarität der Arbeitbesitzenden mit den Arbeitslosen, der gut Verdienenden mit den Bedürftigen.
Meine Damen und Herren, dem trägt Ihre angezettelte Debatte in keinster Weise Rechnung. Sie liegen mit dieser Art der Diskussion weit unterhalb der Minimalanforderungen an eine ernstzunehmende Opposition. Nehmen Sie sich ein Beispiel an Helmut Kohl!
Geistige Führung heißt in dieser Zeit: wachrütteln, um die Herausforderungen für die erfolgreiche Gestaltung einer humanen Gesellschaft von morgen zu bestehen. Das und nichts anderes will Helmut Kohl. Und wir werden ihn weiterhin in diesem Bemühen unterstützen.
Nun hat der Kollege Prof. Dr. Christoph Schnittler das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Deutschen östlich des Eisernen Vorhangs haben die alte Bundesrepublik zumeist mit Bewunderung betrachtet: Ständig steigende Löhne bei sinkender Lebensarbeitszeit, Wohlstand für alle oder doch für fast alle, Reisen in alle Welt, ein unermeßliches Waren- und Freizeitangebot, und das bei nahezu Vollbeschäftigung.
Eine Wohlstandsinsel in dieser Welt — das war sie, die alte Bundesrepublik. Ein „Freizeitpark"? Wir hätten wohl nicht widersprochen.Inzwischen gibt es keinen Eisernen Vorhang mehr und mit der Wiedervereinigung Deutschlands
ist auch die aus der DDR übernommene Wirtschaft zusammengebrochen.
Ich weiß, daß wie ein Keulenschlag viele Menschen das Schicksal getroffen hat, welches sie nie erwartet haben: das Schicksal der Arbeitslosigkeit.
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie sprechen die Lage in Schweinfurt, Zella Mehlis und Leipzig an. Ich kenne die Situation in dem thüringischen Städtchen Zella Mehlis sehr genau; ich kannIhnen die Betriebe aufzählen und Ihnen sagen, wie dramatisch dort die Beschäftigungszahlen zurückgegangen sind.
Ich kann Ihnen die offiziell errechnete Arbeitslosigkeitsquote nennen; sie beträgt 14 % oder 15 %. Das ist in den neuen Ländern immer noch ein sehr moderater Wert. Wenn Sie ein Stückchen weitergehen, zum benachbarten Kreis Ilmenau, stellen Sie fest: Dort sind es schon 22,3 %. Schweinfurt ist mit 9,6 % da noch ganz gut dran.Natürlich, meine Damen und Herren, diese Arbeitslosen wollen in ihrer überwiegenden Mehrzahl arbeiten, die Thüringer allemal. Was noch schlimmer ist: Ganze Jahrgänge meiner Altersgruppe wollten nach der Wende noch einmal in die Speichen greifen. Sie mußten in der Mehrheit in den Vorruhestand gehen.
Aber, meine Damen und Herren von der SPD, wenn Sie uns in dieser Aktuellen Stunde darauf aufmerksam machen wollen, daß die Arbeitslosigkeit das Hauptproblem in Deutschland ist, können Sie das lassen. Dies wissen wir genausogut wie Sie.
Wenn Sie mit einer Bemerkung, die Sie aus diesem Text herausgreifen, Wahlkampf machen wollen, so ist dies Ihre ureigenste Sache. Was aber die Menschen von Ihnen wissen möchten, sind Ihre Lösungen und Ihre Konzeptionen. Da ist doch nichts.
Sie lassen doch selbst Ihren eigenen Kanzlerkandidaten im Regen stehen, wenn er zu unvoreingenommenen Gesprächen über die Pflegeversicherung antreten will.
Sie lassen doch Ihren Parteifreund oder Genossen, wie Sie sagen, Schröder im Regen stehen, wenn er zu einem vernünftigen Konsens über die Kernenergie in Deutschland kommen soll.
— Ich rede hier über das, was ich für richtig halte.Ich frage Sie: Wie ist denn Ihre Antwort auf die wirkliche Gefährdung durch die Kernenergie in Tschernobyl? Wie ist denn Ihre Antwort auf das Problem, das entsteht, wenn wir aus der Kernenergie aussteigen? Dann nämlich hören wir auch auf, die Sicherheit in der Welt mitzubestimmen. Dann legen wir die Sicherheit unserer Kinder und Enkel ausschließlich in fremde Hände.Jetzt will ich auf Herrn Lafontaine eingehen, der den Anstieg der Löhne, Gehälter und Renten — ich
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Dr. Christoph Schnittlerwiederhole: und Renten — in den neuen Ländern stoppen will. Davon können sich meine Landsleute nichts kaufen. Herr Schreiner, Sie rufen nach einer neuen Bundesregierung. Bieten Sie uns Herrn Lafontaine als Wirtschaftsminister an, dann bekommen meine Landsleute schon heute eine Gänsehaut.
Ihre Genossen in den neuen Ländern tun mir manchmal leid; das muß ich Ihnen hier sagen.
Meine Damen und Herren, manche Leute glauben auch heute noch, es gebe so etwas wie ein Naturgesetz, nach dem sich in Deutschland der Wohlstand, die Sicherheit und die Freizeit gleichzeitig unbeschränkt steigern ließen und nach dem alte Ansprüche beliebig in die Zukunft fortgesetzt werden könnten. Es gibt aber kein solches Gesetz; das will Ihnen das Standortpapier dieser Bundesregierung sagen. In dem Standortpapier bilden im übrigen liberale Ideen einen sehr wichtigen Beitrag; auch das hat Ihnen der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung dargelegt.Sie, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, sollten endlich diese Lage begreifen und besser mit uns zusammenarbeiten, so daß wir gemeinsam diese Strukturkrise in Deutschland überwinden können.Danke.
Als nächster hat der Herr Bundesminister Dr. Norbert Blüm das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich finde die heutige Debatte sehr hilfreich, denn ich glaube, der größere Teil der Wachstumshemmnisse ist in den Köpfen stationiert. Wir haben in der Tat eine wirtschaftliche Krise, aber nicht zum ersten Mal. Deutschland mußte aus Schutt und Asche aufgebaut werden. Hier waren 15 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene.Wissen Sie, was man von den Leistungen der Generation, die das Wirtschaftswunder vollbracht hat, heute noch lernen kann? — Sie hat sich weniger um die Wohlstandsverwendung gekümmert als zunächst einmal um die Wohlstandserstellung. Dies ist die eigentliche Mitteilung der Kohlschen Warnung. Wir sollen unsere Phantasie und Kreativität weniger auf die Verwendung, weniger auf die Freizeit konzentrieren als darauf, Arbeit zu schaffen. Das ist die erste und wichtigste Aufgabe.
Das Manko, daß beispielsweise in Japan ein Pkw in der Hälfte der Produktionszeit hergestellt wird, die in Deutschland aufgewendet wird, werden Sie durch keine Arbeitszeitverkürzung beseitigen. Es ist ein Einbahnstraßendenken, wenn man glaubt, allein auf dem Wege der Arbeitszeitverkürzung aus der Talsohle herauszukommen. Dies ist ein kontraproduktives Denken. Es lenkt davon ab, daß unsere Hauptaufgabe die ist, neue Produkte und neue Verfahren zu erfinden.Wenn Sie schon Arbeit verteilen, dann auch Lohn. So einfach ist es nicht. Denn wäre die Strategie der Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich der Königsweg, wäre null Arbeit bei vollem Lohnausgleich der Weg aus der Arbeitslosigkeit. Sie können aus diesem Irrsinn schon erkennen, daß man dieses Einbahnstraßendenken überwinden muß.Wenn heute bei VW eine Vier-Tage-Woche ohne Lohnausgleich vorgeschlagen wird, halte ich das für die Überwindung eines Tabus, das Sie sehr lange aufrechterhalten haben.
Wenn heute die IG Bergbau — das sage ich mit großem Respekt — Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich vorschlägt, empfinde ich eine große Bewunderung für die hohe Verantwortung dieser Gewerkschafter.Lieber IG-Metall-Kollege, ich habe 1988 einmal Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich vorgeschlagen. 1988 habe ich einmal gesagt: Wer Arbeit teilen will, muß auch den dazugehörigen Lohn teilen. Damals bin ich von der Organisation, der wir beide angehören, als Arbeiterverräter beschimpft worden. Wie kann sich denn der Herr Schreiner heute als Vorreiter hinstellen, obwohl er ewig Nachzügler war? Die Nachzügler stellen sich heute als Vorreiter hin.
Ich glaube, daß das Hauptthema im Rahmen der Arbeitszeit eher die Maschinenlaufzeiten sind. Das ist das eigentliche Thema, nämlich eine intelligente Arbeitszeitverteilung, die in einer hochkapitalisierten Wirtschaft das Potential besser nutzt, als es heute genutzt wird.Wenn der Bundeskanzler vor der Mentalität eines Freizeitparks gewarnt hat, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, sollten wir nicht übersehen, daß dieses Wohlstandsland, das Westdeutschland während des Wirtschaftswunders geschaffen hat, doch sehr stark von Illusionen geprägt ist oder geprägt wurde, daß es Erfolg ohne Anstrengung gebe. Wir haben sehr viel Kreativität auf die Freizeit verwandt.Wir sind das Land mit 40 Tagen Urlaub inklusive Feiertagen. Das gibt es sonst auf der ganzen Welt nicht mehr. Die Jahresarbeitszeit beträgt 1 519 Stunden. Die Schweizer arbeiten 242 Stunden mehr; das sind 30 Tage mehr im Jahr. In den USA wird 338 Stunden mehr im Jahr gearbeitet; das sind 42 Tage mehr Jahresarbeit. Man muß das ja immer in Tage umrechnen. In Japan wird 488 Stunden mehr im Jahr gearbeitet als in Deutschland; das sind umgerechnet 61 Tage.Glauben Sie denn, meine Damen und Herren, wir können unseren Spitzenplatz auf dem Weltmarkt halten und damit Arbeit schaffen, wenn wir nur in den
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Bundesminister Dr. Norbert BlümKategorien von Freizeit denken? Insofern darauf hinzuweisen entsprang der Sorge für die Arbeitslosen. Das war die Sorge, die der Bundeskanzler hatte.
Wenn ich noch die Fehlzeiten nennen darf, so muß man feststellen: Wir sind auch dort Spitzenreiter. Es sind im Durchschnitt 146 Stunden im Jahr; das sind 18 Tage. Jetzt rechnen Sie einmal zusammen: Bei 52 Sonntagen, 52 Samstagen — bei den meisten ist es ja auch noch der Samstag —, 40 Urlaubstagen, samt Feiertagen und 18 Fehltagen kommt man auf 162 Tage, die arbeitsfrei sind. Es ist im Durchschnitt fast jeder zweite Tag. So werden wir unseren Spitzenplatz nicht halten können. Wer diesen Zustand verteidigt, der schädigt die Arbeitslosen. Darum geht es.
Es handelt sich um eine Gesellschaft, in der die Arbeitsplatzbesitzer an ihren Privilegien festhalten wollen und nicht daran denken, wie wir Arbeit auch für diejenigen schaffen können, die arbeitslos sind.
Denn Arbeit gibt es in unserem Land doch genug. Wir brauchen Wohnungen. Wir brauchen Straßen. Ich sehe auch im Pflegebereich viel Arbeit. Nur, bezahlbar muß sie sein. Darauf wollte Helmut Kohl aufmerksam machen. Deshalb finde ich die Diskussion gut.
— Die Kuh schlachten und melken wollen: So dumm ist kein Bauer. Ich bin sicher, so dumm ist ebenfalls kein Arbeiter, und deshalb wird er auf diese Parolen auch nicht hereinfallen.
Ich bleibe dabei, daß wir in der Tat auch darüber reden müssen, daß es in dieser Wohlstandsgesellschaft nicht nur die Fleißigen gibt. Von ihnen rede ich mit großem Respekt. Ich weiß, daß nicht nur Millionen von Arbeitnehmern treu und brav ihre Pflicht erfüllen — wir wollen hier nicht in diesen traditionellen Kategorien reden — und mit großem Engagement arbeiten. Hier ist von Polizisten gesprochen worden. Ich rede auch einmal von den Beamten und den Mitarbeitern in den Bundesministerien, die Hervorragendes in Sachen deutsche Einheit geleistet haben. Ich habe großen Respekt vor ihnen allen.Aber es gibt nicht nur solche, sondern es gibt auch jene, die den Sozialstaat ausnutzen und ihn ausbeuten. Wer Solidarität richtig versteht, muß den Sozialstaat vor denjenigen schützen, die die Gesellschaft mit einem Freizeitpark verwechseln. Davor muß die Gesellschaft geschützt werden.
Wollen Sie das bestreiten? Auf 8 Millionen Meldeaufforderungen der Bundesanstalt für Arbeit in den ersten neun Monaten dieses Jahres haben sich 611 000 Personen überhaupt nicht gemeldet. Das sind 7,6 %. 253 000 Arbeitslose haben sich abgemeldet.Meine Damen und Herren, wer die Fleißigen schützen will und wer die Arbeitslosen vor dem Verdacht schützen will, sie seien alle solche, die den Sozialstaat mißbrauchen, muß uns vor denjenigen schützen, die unsere Gesellschaft als einen Freizeitpark verstehen und den Sozialstaat ausnutzen. Davor hat der Bundeskanzler gewarnt; das ist im Interesse der Arbeitnehmer.
Das ist im Interesse der Arbeitslosen. Insofern bin ich für diese Debatte dankbar. Sie ist mehr als eine Debatte über Paragraphen; sie ist eine Debatte über das Denken.Ich finde, die größten Hemmnisse bei einem Aufschwung bestehen im verkrusteten Denken. Ihre Reaktion zeigt es heute wieder: Sie haben den Schuh am falschen Fuß angezogen. Sie zeigt, daß Sie sich in die Positionen Ihrer alten Vorurteile so eingebaggert haben, daß man mit Ihnen nicht ganz ruhig über die Gefahren in unserer Gesellschaft reden kann, auch über Mentalitätsgefahren. Denn wir brauchen Unternehmer und nicht Unterlasser, und vor allem brauchen wir weniger Besprecher und mehr Bearbeiter.
Das Wort hat die Kollegin Iris Gleicke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muß mich schon einigermaßen wundern, Herr Bohl:
Sie waren neulich in Suhl, haben mit den Betriebsräten der „Jagdwaffe" gesprochen, aber Sie scheinen offensichtlich das Problem nicht mit hierhergenommen zu haben und nicht zur Lösung beitragen zu wollen.Herr Schnittler, Sie mahnen die SPD im Bundestag, daß sie eine Lösung anbieten solle, die Ihr Wirtschaftsminister in Thüringen, Herr Bohn, nicht leisten kann. Das ist doch wohl nicht in Ordnung; das ist doch wohl nicht wahr. Es ist lächerlich, und das zeigt auch, daß Sie weder Interesse daran haben noch dazu in der Lage sind, das Problem zu klären.
Während wir hier über die Vorstellungen des Bundeskanzlers von kollektiver Freizeit debattieren, wird ein ganzer Industriezweig im Osten Deutschlands vernichtet. Morgen werden die letzten vier Werke der Deutschen Kugellagerfabriken in Sachsen und Thüringen ihre Produktion einstellen. Es waren einmal acht. 1 900 Männer und Frauen, die meist seit ihrer Lehrzeit in diesem Betrieb gearbeitet haben, verlieren morgen ihre Arbeit. Sie bekommen noch drei Monatsgehälter als Abfindung, und dann werden sie nicht mehr gebraucht.In Thüringen befinden sich schätzungsweise 50 mittelständische Betriebe in Konkurs. Das Schicksal
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Iris Gleickeso bedeutender Firmen wie der Suhler „Jagdwaffe" oder der Rudolstädter Faser AG ist nach wie vor ungewiß. In Thüringen haben sich weitere 300 bedrohte Betriebe zu einem Aktionsbündnis zusammengeschlossen. Dieses Aktionsbündnis hat erst am vergangenen Dienstag wieder landesweite Protestaktionen unter dem Motto „Fünf vor zwölf " durchgeführt. Die Betriebsräte führen einen verzweifelten Kampf. Sie legen die Konzepte vor, um ihre Unternehmen oder wenigstens Teile der Produktion zu retten.Ich fordere die Bundesregierung auf, hier endlich zu helfen und bei der thüringischen Landesregierung darauf zu dringen — Herr Professor Schnittler, da können Sie mir helfen —, daß sie ihr Versprechen wahrmacht und endlich die Landesbeteiligungsgesellschaften einrichtet.
Ministerpräsident Vogel steht hier im Wort. Aber den Worten müssen endlich auch Taten folgen.Vor allem fordere ich den Bundeskanzler dazu auf, etwas für die Menschen zu tun, statt die Betroffenen auch noch zu verhöhnen. Sein Geschwafel vom kollektiven Freizeitpark ist in Intention und Formulierung ebenso zynisch wie abstoßend. Was soll denn dieser unsägliche Unfug angesichts der Schlangen vor den Arbeitsämtern? Das Schlangestehen sind wir Leute aus DDR-Zeiten gewohnt. Aber früher beim Bäcker oder beim Fleischer hat man in der Regel etwas bekommen. Das Anstehen hat sich gelohnt. Das ist beim Arbeitsamt nun nicht mehr der Fall.
— Wie oft waren Sie einkaufen?
Der Kanzler hat den Menschen im Osten blühende Landschaften versprochen. Und in der Tat grünt und blüht es überall auf stillgelegten Bahngleisen; in Firmenhöfen leuchtet der Klatschmohn, und der Efeu rankt sich um einstmals rauchende Schornsteine. Gelungen ist dieses Begrünungsprogramm selbst dort, wo Firmen ausgezeichnete Marktchancen gehabt hätten. Möglich wurde dieser schöne Erfolg der Bundesregierung durch ihr blindes Vertrauen in die Marktkräfte, durch eine gnadenlose Verramschungspolitik der Treuhandanstalt und die ungenierte Selbstbedienungsmentalität ihrer Mitarbeiter.
Das stinkt mehr zum Himmel als alle ehemaligen Braunkohleschlote zusammen. Der von uns durchgesetzte Untersuchungsausschuß wird sehr viel zu tun haben.Einmal in diesem Jahr hat der Kanzler Handlungsfähigkeit demonstriert. Er hat uns nämlich versprochen, daß wenigstens die industriellen Kerne erhalten bleiben sollen. Bei mir zu Hause weiß kein Mensch, welche Kerne er eigentlich erhalten will. An dieser Stelle noch einmal zum Mitschreiben für alle, die es immer noch nicht begriffen haben: Eine von der Treuhand einmal privatisierte Firma ist kein industrieller Kern, und deshalb gibt es nicht mehr viel, was man auf der Treuhandschiene überhaupt noch erhalten könnte.Diese Bundesregierung hat bei uns im Osten kaum noch ein Ansehen, das sie verspielen könnte. Das alles läuft nach der Devise: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt's sich gänzlich ungeniert. Der Elefant kann im Porzellanladen fröhlich und ungestört herumtrampeln und herumtrompeten, weil das Geschirr längst zerdeppert ist. Ich gebe zu, daß der Vergleich ein wenig hinkt, weil die meisten Menschen im Osten den Bundeskanzler nicht als Elefanten titulieren.Sie greifen mittlerweile zu ganz anderen Bezeichnungen. Aber lassen wir das lieber. Ich möchte Ihnen einige deutliche und unschöne Worte und mir einen Ordnungsruf ersparen.Schönen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Heinz-Adolf Hörsken.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesrepublik Deutschland lebt vom Fleiß ihrer Arbeitnehmer. Sie lebt von der Risikobereitschaft unserer Unternehmer, und sie lebt noch davon, daß wir einen wissenschaftlichen Standard haben, der es möglich macht, Produkte zu fertigen und zu verkaufen.Sie von der SPD haben heute die Aktuelle Stunde beantragt, um die Äußerung des Bundeskanzlers zu hinterfragen. Ich bin überhaupt nicht mehr überrascht, daß Sie nun mit allen möglichen Mitteln versuchen, diese Aussage des Bundeskanzlers zu mißbrauchen.Die Äußerung des Bundeskanzlers — das wissen Sie ganz genau — steht überhaupt nicht im Zusammenhang mit den von Ihnen angeführten Arbeitslosen.
Das müßten Sie begreifen, und Sie haben es auch begriffen. Das macht diese Aktuelle Stunde so schlimm. Da Sie es aber nicht begreifen wollen, ist Ihr Verhalten eine sehr windige und durchsichtige Angelegenheit.Im Rahmen der Regierungserklärung zur Zukunftssicherung des Standorts Deutschland hat der Bundeskanzler folgendes gesagt — ich sage es ganz langsam, weil Sie wahrscheinlich schlecht lesen können —:Immer kürzere Arbeitszeit bei steigenden Lohnkosten, immer mehr Urlaub: Das sind keine Voraussetzungen für eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes. Wir haben in Deutschland im Durchschnitt 6 Wochen Urlaub und 12 Feiertage pro Jahr. Bei der wöchentlichen Arbeitszeit liegen wir gleichzeitig mit durchschnittlich 37,5 Stunden niedriger als alle unsere Konkurrenten. Dennoch scheint es für viele nichts Wichtigeres zu geben, als über mehr Freizeit nachzudenken. Meine Damen und Herren, wir können die Zukunft nicht dadurch sichern, daß wir unser Land als einen kollektiven Freizeitpark organisieren.
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Heinz-Adolf HörskenSoweit der Redeausschnitt aus dem Plenarprotokoll 12/182 vom 21. Oktober 1993.
— Sie selber beklagen doch mit mir an anderer Stelle in dieser Gesellschaft die Null-Bock-Mentalität vieler Menschen in unserem Lande.
Gehen Sie doch in die Versammlungen der Parteien, der Gewerkschaften und der Kirchen! Wo sind die Menschen denn da?Sie sind nicht bereit, Verantwortung mit zu übernehmen. Lassen wir uns doch alle miteinander gleichzeitig den Versuch unternehmen, die Leute wieder zu motivieren! Aber verunsichern Sie nicht durch den Frust, den Sie erzeugen wollen, die Menschen weiter!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Sie schon nicht zuhören wollen, dann hätten Sie zumindest nachlesen sollen. Glauben Sie vielleicht, daß Sie mit dieser Aktuellen Stunde den Bürgerinnen und Bürgern draußen im Lande Mut machen? Das ist doch viel zu fadenscheinig, was Sie hier vortragen. Das Gegenteil ist der Fall.Sehr verehrte Damen und Herren, hören Sie mit diesen Mätzchen auf!
Wollen wir die Augen vor den Realitäten dieses Landes verschließen?
Sie können jammern und lamentieren, doch dadurch wird der Industriestandort Bundesrepublik Deutschland nicht besser.Zur Jahresarbeitszeit: Bundesarbeitsminister Blüm hat gerade die Beispiele genannt. Wenn Sie wollen, kann ich das fortführen. In der Bundesrepublik Deutschland wird weniger als in jedem anderen Land der Welt gearbeitet. Erhalten wir in der Bundesrepublik Deutschland — —
— Ach, das ist doch dummes Zeug. Das ist doch absolut dummes Zeug. Da dürften auch Ihre Kollegen, die über die Liste hereingekommen sind, nicht reden. Das ist doch dummes Zeug.Auch die Gewerkschaften und die Betriebsräte — —
— Ich weiß, daß das weh tut.Auch die Gewerkschaften und die Betriebsräte haben das längst eingesehen und reagieren darauf verantwortungsbewußt. Die Gewerkschaften undBetriebsräte reagieren, und Sie machen hier Popanz. Popanz führen Sie hier vor.
Schauen Sie sich das an, was die Arbeitnehmer in Rüsselsheim machen, was bei VW gemacht wird, was die IG Bergbau jetzt vorschlägt! Das ist Verantwortung und nicht das, was Sie hier betreiben. Was Sie von der SPD hier versuchen, ist empörend und beschämend zugleich.
Sie wissen so gut wie alle anderen, daß mit der Aussage vom kollektiven Freizeitpark nicht die Vielzahl der arbeitslosen Menschen gemeint ist. Sie gehen hin und zerschlagen jede Zukunftsoption. Das letzte Beispiel haben Sie vor ein paar Tagen mit der Kernenergie gezeigt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht darum, unsere Arbeitszeiten, die sozialen Errungenschaften und weitere Standortfaktoren auf den Prüfstand zu stellen, damit wir dem Wettbewerbsdruck standhalten. Dazu müssen wir die Kosten senken. Überlegen Sie doch einmal, wovon Sie reden. Die Kosten müssen wir senken — das ist unser Problem —, weil wir sonst nicht mehr verkaufen können, weil wir zu teuer sind. Das ist doch die Lage.Damit wir in Zukunft soziale Sicherheit garantieren können, fordere ich Sie auf: Beenden Sie Ihre Spielchen, die Sie betreiben, und beteiligen Sie sich an der Verantwortung.
Das Wort hat nun die Kollegin Susanne Kastner.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! In der vergangenen Woche haben sich rund 50 Betroffene aus der Region Main-Rhön zu Fuß auf den Weg nach Bonn gemacht, um den Hilferuf der Region in die Köpfe der politisch Verantwortlichen zu bringen. Es waren Vertreter der IG Metall aus Schweinfurt und der gesamten Region, die sich auf dem Weg Blasen und Knochenhautentzündungen geholt haben, weil sie keinen anderen Ausweg mehr sahen, um auf ihre Situation auch überregional aufmerksam zu machen.Sie haben dies getan im Namen von rund 3 000 Langzeitarbeitslosen und von 20 000 Arbeitslosen in dieser Region. Sie haben dies auch getan für die Ruheständler, die mit 57 Jahren von der Kugellager-industrie in den Vorruhestand geschickt wurden, die Arbeitslosengeld beziehen, aber laut Statistik ja keine Arbeitslosen mehr sind.Sie marschierten aber auch für die über 15 000 Kurzarbeiter der Region. Dies ist übrigens prozentual gesehen eine der absoluten Höchstzahlen von Kurzarbeitern in den alten Bundesländern.Sie marschierten auch im Namen der Noch-Arbeitnehmer der drei Großbetriebe in Schweinfurt und der elektrotechnischen Industrie in der Region. Sie waren
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Susanne Kastnerin Bonn auch im Namen der Zivilbeschäftigten, die durch den Abzug der US-Amerikaner und den Abbau der Bundeswehr in dieser Region ohne Arbeit sind oder bald sein werden. Sie waren in Bonn aber auch im Namen all der ABM-Beschäftigten, die durch die Kürzungen dieser Bundesregierung ihren zeitweisen Arbeitsplatz verloren haben.
Sie waren auch in Bonn im Auftrag aller Menschen der Region, besonders auch der alleinerziehenden Frauen, die durch die Fehlentscheidung der Bundesregierung und dieses Bundeskanzlers in die Sozialhilfe abgedrängt worden sind oder demnächst abgedrängt werden.
Die IG-Metaller wurden vor einer Woche im Kanzleramt von Herrn Minister Bohl empfangen, wenige Stunden nachdem der Herr Bundeskanzler hier erklärt hatte, daß die Arbeitnehmer dieser Republik zu niedrige Wochenarbeitszeiten, zu viele Feiertage und zuviel Urlaub hätten, dann angeprangert hatte, daß es für viele nichts Wichtigeres zu geben scheine, als über ihre Freizeit nachzudenken, und die angesichts der tatsächlichen Situation im Land zynischen Worte gesprochen hatte, daß wir unsere Zukunft nicht dadurch sichern könnten, daß wir unser Land als kollektiven Freizeitpark organisierten.Herr Kollege Hörsken, ich sage Ihnen: 120 000 Bauarbeiter auf der Hofgartenwiese in Bonn empfanden das heute genauso als Zynismus, wie wir das empfunden haben.
Diese Worte haben ein weiteres Mal bewiesen: Dieser Bundeskanzler hat jeglichen Sinn für die Realität im Land verloren. Weiß er, wissen Sie, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen von der Koalition, eigentlich noch, was ein Facharbeiter in der Region Main-Rhön monatlich verdient?
— Herr Glos, ich zweifle manchmal daran. —1 800 bis 2 200 DM haben diese Menschen in der Regel nach allen Abzügen am Monatsende in der Tasche, und dies angesichts weiter steigender Gebühren der Kommunen und einer Miete bis zu 1 000 DM.
Kann von Ihnen überhaupt noch jemand nachvollziehen, was diese Menschen empfinden, wenn sich der Bundeskanzler und seine Minister hier hinstellen und sagen, diese Arbeitnehmer würden mit zuviel Lohn zuwenig arbeiten?
Hat der Bundeskanzler noch den Funken eines Gefühls dafür, was die Arbeitslosen empfinden, wenn sie durch die allgemeine Strukturkrise, durch Fehlentscheidungen der Bundesregierung und durch dasMißmanagement von Unternehmen arbeitslos wurden und dann den menschenverachtenden Satz vom kollektiven Freizeitpark Deutschland hören?
Erklären Sie als Verantwortliche jenen Menschen doch einmal diese verhängnisvolle Politik.
— Sparen Sie sich Ihre Worte, Herr Glos.George Bernard Shaw sagte einmal, Urlaub ohne Unterlaß sei ein gutes Training für den Aufenthalt in der Hölle. Damit beschreibt er sehr treffend die mentale und psychische Situation der arbeitslosen Menschen, von denen sich diese Regierung schon längst abgewandt hat. In solch einer Situation sind gemeinsame arbeitsmarktpolitische Kraftakte notwendig, die diesen Krisenstandorten helfen.
Es müssen endlich Zeichen der Hoffnung gesetzt werden. Dazu sind Sie als Verantwortliche in der Regierung leider noch immer nicht bereit. Im Gegenteil: Ihre letzten einschneidenden Sozialkürzungen zu Lasten der Kommunen haben dies sehr deutlich gezeigt. Allein die Stadt Schweinfurt muß durch Ihr am Freitag beschlossenes Sparkonzept in den nächsten Jahren mehr als dreimal so viel Sozialhilfe auszahlen wie heute. Bei der Bezirksumlage wird mit einer Verdoppelung der jetzigen Beiträge gerechnet. All dies muß die Stadt Schweinfurt bei sinkenden Einnahmen finanzieren. Damit wird der Stadt jegliche Möglichkeit einer gezielten Industrieansiedlungspolitik genommen, und zwar für etliche Jahre.Hermann Hesse stellte einmal fest: „Wir müssen nicht hinten beginnen bei den Regierungsformen und kritischen Methoden, sondern wir müssen vorn anfangen beim Bau der Persönlichkeiten, wenn wir wieder ... Männer" — und natürlich auch Frauen — „haben wollen, die uns Zukunft verbürgen." Diese Erkenntnis, verehrter Herr Kollege Glos, ist bei den betroffenen Menschen in der Region längst vorhanden. Die Bundesregierung handelt aber genau umgekehrt und verspielt damit mutwillig das beste Kapital, das dieses Land zu bieten hat. Es wird Zeit, daß Sie mehr Zeit bekommen, über Ihre Fehler nachzudenken, nämlich auf den Oppositionsbänken.
Nun hat der Kollege Volker Kauder das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mir diese aktuelle Debatte nun mehr als eine Stunde lang angehört. Die Verantwortung für diese Debatte trägt die SPD-Fraktion. Wenn ich sehe, was die wichtigsten Themen in unserem Land sind, nämlich wie wir die Arbeitslosigkeit überwinden können und wie wir einen Beitrag dazu leisten können, daß die Wirtschaft wieder floriert, dann müssen all die Men-
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Volker Kauderschen, die arbeitslos sind, das, was Sie heute hier gemacht haben, als Hohn empfinden.
Sie haben überhaupt keine Antwort darauf gegeben, was Sie tun wollen,
sondern Sie haben einen Satz des Bundeskanzlers, der in einer bedeutenden Rede zum richtigen Zeitpunkt gesagt worden ist, bewußt mißinterpretiert. Sie versuchen, eine Diskussion vom Zaun zu brechen, die niemanden in diesem Land weiterführt.
— Ja, ich kenne das schon: Diejenigen, die getroffen sind, schreien am lautesten, weil sie denken, dann hört man denjenigen nicht, der den Finger in die offene Wunde legt. Aber so können Sie nicht argumentieren.Meine Damen und Herren von der Opposition, das, was wir in über 40 Jahren miteinander erreicht haben, ist eine große Gemeinschaftsleistung von Unternehmern und von Arbeitnehmern. Dies haben wir immer wieder betont, und dies hat auch der Bundeskanzler klipp und klar und deutlich gesagt.
— Herr Kollege Büttner, Sie meinen ja immer, Sie seien so ein großer Arbeiterführer.Es ist das zweifelhafte Verdienst der Opposition, daß sie Arbeitslose in einen Zusammenhang mit Freizeit und Faulheit gebracht hat.
Dies kommt nicht von uns. Dagegen verwahre ich mich ganz energisch. Niemand in der ganzen Debatte am vergangenen Donnerstag, in der es um den Wirtschaftsstandort Bundesrepublik Deutschland gegangen ist, hat auch nur einen einzigen Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Freizeitpark hergestellt.
Ich sage Ihnen, warum Sie, wenn Sie überhaupt nachgedacht haben, eine solche Aktuelle Stunde beantragt haben: Sie haben ganz genau gespürt, wen der Bundeskanzler gemeint hat.
— Sie haben es ganz genau gespürt, und da sind auch Sie gemeint.
— Ja, schreien Sie nur. Die Menschen spüren schon, daß ich den Finger auf die richtige Stelle lege.Sie haben, weil Sie gespürt haben, wen der Bundeskanzler gemeint hat, versucht — dies ist Zynismus, um nicht zu sagen: Gemeinheit —, von sich abzulenken, und stellen diese unglaubliche Beziehung zwischen Freizeitpark und Arbeitslosen her.
Herr Kollege Fuchtel hat in seiner wirklich hervorragenden Rede vielleicht nur einen falschen Satz gesagt: Wir entlassen Sie nicht aus der Verantwortung. Nein, wir müssen alles daransetzen, daß Sie erst gar nicht in die Verantwortung kommen,
weil Sie kein Konzept haben, weil Sie nicht wissen, wie es vorangehen soll. Das einzige, was Sie beherrschen, ist, die Menschen aufzuhetzen und auf die falsche Fährte zu setzen.Jetzt will ich Ihnen ein paar Grundwahrheiten sagen, die einige bei Ihnen erkannt haben, aber aus parteitaktischen Gründen nicht sagen dürfen. Denn die Parteitaktik steht bei Ihnen noch immer über den wahren Verhältnissen.
Wir wollen die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Das geht nur, indem die Wirtschaft wieder wächst. Was der Kollege Schreiner vorhin gesagt hat, glaubt er ja selber nicht: Wir müßten die vorhandene Arbeit weiter umverteilen. Das ist der große Irrtum von Gewerkschaften wie auch von Ihnen. Wir müssen dafür sorgen, daß wir wieder mehr Arbeit haben,
und dürfen nicht unseren ganzen Grips darauf verwenden, wie wir Arbeit, die da ist, nur immer weiter umverteilen.Sie, die SPD-Opposition, lassen keine Gelegenheit aus, Arbeitsplätze zu vernichten.
— Die Wahrheit ist schwer zu ertragen; ich weiß das. — Sie blockieren beim Gentechnikgesetz. Sie lassen auch diejenigen in der SPD, die guten Willens sind, nicht einmal darüber diskutieren, ob wir sichere Kernkraftwerke bauen können, und vernichten damit zukunftsträchtige Arbeitsplätze.
Das einzige, was Sie draufhaben, ist die alte Langspielplatte, obwohl es inzwischen neue, hochaktuelle CDs gibt: ständig nur das umverteilen, was da ist, und sich überhaupt nicht darum kümmern, wie man die Wirtschaft wieder zum Laufen bringen kann.
Herr Kollege Büttner, nehmen Sie einmal Nachhilfeunterricht beim baden-württembergischen Wirtschaftsminister. Von ihm können Sie noch sehr viel lernen.Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, aus dem, was Sie heute gemacht haben, werden wir Sie nicht entlassen. Da machen wir nicht mit. Anstatt darüber im Deutschen Bundestag eine
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Volker KauderAktuelle Stunde zu beantragen, wie wir die Probleme bewältigen können, haben Sie dazu beigetragen, Arbeitslose zu verunglimpfen.
Nun spricht der Kollege Erich Fritz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Machen wir einen Strich unter diese Aktuelle Stunde, dann stellen wir fest: Es lohnt sich immer, über Zitate des Bundeskanzlers zu diskutieren.
Deswegen sollten wir eigentlich jede Woche eine Aktuelle Stunde machen, in der wir ein Kanzlerzitat in den Mittelpunkt stellen. Die SPD kann dabei immer etwas lernen.
Ich habe mit großer Aufmerksamkeit dem ersten SPD-Redner zugehört, dem sympathischen Professor Jens. Er hat eine Eigenschaft, die ich besonders an ihm schätze: Er kann nicht besonders gut reden — er ist leider nicht mehr da; ich hätte es ihm gerne selber gesagt —, wenn er nicht dahintersteht. Heute ist mir aufgefallen: Beim dritten Satz wurde er bereits heiser.
Das zeigt für mich, daß diese Diskussion sehr aufgesetzt ist.Man muß schon sehr zynisch denken können, um aus den Worten des Bundeskanzlers herauszuhören, mit dem Bild des kollektiven Freizeitparks sollten Arbeitslose verhöhnt werden. Dieser Vorwurf fällt auf Sie zurück, meine Damen und Herren von der SPD.
Sie haben hier über eine Stunde lang mit dem Schicksal von Menschen polemisiert, die arbeiten möchten und keinen Arbeitsplatz finden. Das wird man Ihnen so nicht abnehmen.
Ihre Aufzählung regionaler arbeitsmarktpolitischer Problemregionen, die Sie in den Titel hineingepackt haben, so daß ihn keiner mehr versteht, erweckt den Eindruck, als seien die Probleme in erster Linie Fragen regionaler Strukturschwäche. Dabei wissen Sie, daß das nicht der Fall ist. Die Ursachen liegen viel tiefer. Rezession, strukturelle Schwächen, veränderte Bedingungen des Wettbewerbs in Europa und weltweit, auch hausgemachte Innovationsprobleme und Investitionshemmnisse führen zu einem Problembündel, das nicht durch einfache Rezepte alter Art beseitigt werden kann. Vielmehr ist eine Grundinventur nötig und eine Rückbesinnung auf Prinzipien, die Deutschland schon öfter nach vorne gebracht haben. Genau in diese Richtung zielen die Aussagen des Kanzlers, nichts anderes.Sie täten besser daran, nicht solche Aktuellen Stunden zu beantragen, sondern sich in der Zeit zusammenzusetzen und Ihre Konzepte für mehr Arbeitsplätze zu entwickeln.
Weil Sie gerade bei Herrn Kauder so gelacht haben, sage ich es noch einmal ganz langsam zum Mitschreiben: Die SPD ist eines der Hauptinvestitionshindernisse in Deutschland.
Das Vorgehen der SPD bei den Konsensgesprächen über die Energiepolitik zeigt ganz deutlich, was ich meine: Je länger der Konsens auf sich warten läßt und je länger Unsicherheit in den Fragen des Energiemixes besteht, desto länger werden Investitionen hinausgeschoben. Arbeitsplätze entstehen gar nicht oder wesentlich später. Mit Exportchancen verbundene Entwicklungen von Energietechniken können nicht marktreif gemacht werden. Das ist Arbeitsplatzverhinderungsstrategie!
Wenn die SPD die Pflegeversicherung boykottiert, werden Arbeitsplätze im Pflegebereich nicht entstehen oder wesentlich später entstehen. Das ist Arbeitsplatzverhinderungsstrategie.
Solange die SPD nicht bereit ist, bürokratischen Wildwuchs und überwuchernde Planungs- und Genehmigungsverfahren in den Ländern und Gemeinden zu beschneiden, so lange werden Arbeitsplätze nicht bei uns entstehen, sondern im Ausland. Das ist Arbeitsplatzverhinderungsstrategie.
Je länger die SPD Deregulierung fürchtet wie Teufelswerk, werden Arbeitsplätze nicht entstehen. Auch das ist Teil dieser Strategie.Je länger Sie gegen das Einsparpaket Sturm laufen und damit verhindern, daß die wesentliche Grundlage für neue Arbeitsplätze gesichert wird, nämlich Geldwertstabilität und gesunde Haushalte der öffentlichen Hand, desto länger werden Unternehmen und werden Arbeitnehmer mit Belastungen im Steuer- und Abgabenbereich belegt sein, die Arbeitsplätze verhindern. Auch das gehört zu Ihrer Strategie.Je länger sich die SPD gegen längere Arbeitszeit im öffentlichen Dienst wehrt, desto höher wird der Personalkostenanteil an den kommunalen Haushalten. Das Geld fehlt bei den Investitionshaushalten, es fehlt für Arbeitsplätze. Das ist Arbeitsplatzverhinderungsstrategie.
Solange vor Ort in SPD-regierten Gemeinden über Bebauungspläne nur geredet wird, werden keine Wohnungen gebaut. Solange in diesem Bereich keine wesentliche Beschleunigung stattfindet, wird es keine
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Erich G. FritzArbeitsplätze zusätzlich geben. Das alles ist Arbeitsplatzverhinderungsstrategie.Selbst wenn Sie eines plötzlichen Tages vom ökonomischen Saulus zum Paulus würden, wären damit die strukturellen Änderungen, die wir auch brauchen, noch lange nicht durchgeführt, um die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Produkte auf dem Weltmarkt abzusichern.Dem genau widmet sich das Standortpapier der Bundesregierung. Hinsichtlich dieser Frage entscheidet sich, ob Deutschland den Herausforderungen gewachsen ist, ob wir weiter unsere wirtschaftliche Rolle in der Welt spielen und auf Dauer Wohlstand und Vollbeschäftigung erreichen und sichern können.
In diesem Zusammenhang hat der Kanzler selbstverständlich recht — Frau Kollegin, wenn Sie so freundlich wären, gehen Sie mal raus; ich glaube, Ihr Manta steht im Parkverbot, Sie müssen immer reden —, wenn er sagt, daß neue Orientierungen jenseits von Freizeit in den Mittelpunkt rücken müssen, damit wir Zukunft gewinnen. Er meint damit nicht ein konkretes Verhalten bestimmter Leute, sondern Wertentscheidungen. Er meint die Bereitschaft, sich selbst in Frage zu stellen als Gesellschaft und zu neuen Ufern aufzubrechen. Immer dann, wenn die Union in der Lage war, solche Signale zu geben, hat Deutschland etwas davon gehabt. Das wird auch nach dieser Entscheidung so sein.Herzlichen Dank.
Zu einer Erklärung außerhalb der Tagesordnung nach § 32 der Geschäftsordnung erhält der Kollege Hans Büttner das Wort.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Kollege Kauder hat mich vorhin in seiner Rede persönlich angesprochen und behauptet, die Äußerungen des Kanzlers seien u. a. auf mich gemünzt. Diese Äußerungen weise ich aufs entschiedenste zurück.
Für die Arbeitsplätze ist die Bundesregierung dieser Republik seit mehr als elf Jahren verantwortlich. Sie hat dazu beigetragen, daß 6 Millionen Menschen Arbeit suchen. Daß nicht noch mehr Menschen arbeitslos sind, haben allein Leute aus den Gewerkschaften durch ihre Tarifpolitik in den letzten Jahren bewirkt, indem sie durch Arbeitszeitverkürzung 3 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen haben. Leute wie ich haben sich verantwortungsvoller verhalten als die Mitglieder dieser Regierung, die nicht in der Lage waren, für die Arbeitslosen auch nur einen zusätzlichen Arbeitsplatz bereitzustellen.
Ich bitte deswegen, Herr Kauder, künftig solche Beleidigungen zu unterlassen.
Ich weiß zwar nicht, ob all das im Rahmen dessen ist, was üblich ist. Aber da ich ein gerechter Mensch bin, bekommt auch der Kollege Kauder zu einer kurzen Erwiderung außerhalb der Tagesordnung das Wort.
Frau Präsidentin! Ich danke Ihnen für diese Großzügigkeit.
Der Kollege Büttner hätte jetzt die unglaubliche Chance gehabt, in seinem Wahlkreis zu sagen, daß ihn der Kanzler persönlich kennt. Die ist natürlich jetzt hinüber; denn natürlich hat der Kanzler nicht an Sie persönlich das Wort gerichtet, Herr Kollege Büttner. Auch ich habe nicht an Sie persönlich das Wort gerichtet. Ich habe vielmehr die SPD angeschaut, d. h. sie und die Funktionäre in den Gewerkschaften in besonderer Weise gemeint.
Der Bundeskanzler hat all diejenigen gemeint — dazu gehören Sie —, die keinen Beitrag dazu leisten, daß Arbeitslosigkeit überwunden werden kann.
Er hat mit seinem Satz über den kollektiven Freizeitpark darauf hingewiesen, was getan werden muß, um Arbeitslosigkeit zu überwinden. Das hat er ausdrücklich gesagt. Nicht mit immer weniger Arbeit, mit immer mehr Lohn und mit kürzerer Lebensarbeitszeit können wir das Problem bewältigen, sondern das bedarf anderer Maßnahmen. Dazu müssen Sie Ihren Beitrag leisten. Den Beweis, ob Sie das tun wollen, können Sie in den Tarifrunden der nächsten Monate erbringen.
Damit befinden wir uns wieder in der Tagesordnung.Wir sind am Ende der Aktuellen Stunde angekommen.Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 17a bis 1 sowie den Zusatzpunkt 4 a und b auf:17. Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Beamtenversorgungsgesetzes, des Soldatenversorgungsgesetzes sowie sonstiger versorgungsrechtlicher Vorschriften
— Drucksache 12/5919 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung VerteidigungsausschußAusschuß für GesundheitHaushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16033
Vizepräsidentin Renate Schmidtb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 9. Oktober 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Europäischen Gemeinschaften über die Durchführung des Artikels 11 des Anhangs VIII des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften— Drucksache 12/4468 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschußc) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Beitritt der Griechischen Republik zur Westeuropäischen Union und über die assoziierte Mitgliedschaft der Republik Island, des Königreichs Norwegen und der Republik Türkei in der Westeuropäischen Union— Drucksache 12/5439 —Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß VerteidigungsausschußEG-AusschußHaushaltsausschuß gemäß § 96 GOd) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Nichtanpassung von Amtsgehalt und Ortszuschlag der Mitglieder der Bundesregierung und der Parlamentarischen Staatssekretäre in den Jahren 1992 und 1993— Drucksache 12/5830 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOe) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Verschollenheitsgesetzes— Drucksache 12/5832 —Überweisungsvorschlag: Rechtsausschußf) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 14. Juli 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Schweden zur Vermeidung der Doppelbesteuerung bei den Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie bei den Erbschafts- und Schenkungsteuern und zur Leistung gegenseitigen Beistands bei den Steuern
— Drucksache 12/5838 —
Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß Haushaltsausschuß gemäß § 96 GOg) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 18. Juni 1992 zur Revision des Übereinkommens über die Gründung eines Europäischen Hochschulinstituts— Drucksache 12/5839 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Auswärtiger Ausschußh) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 26. Mai 1989 über den Beitritt des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik zum Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen sowie zum Protokoll betreffend die Auslegung dieses Übereinkommens durch den Gerichtshof— Drucksache 12/5841 — Überweisungsvorschlag:Rechtsausschußi) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes— Drucksache 12/5896 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Rechtsausschußi) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke ListeErsetzung des Altschuldenhilfe-Gesetzes durch ein Altschuldenübernahme-Gesetz— Drucksache 12/5677 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
RechtsausschußHaushaltsausschußk) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Dr. Fritz Schumann und der Gruppe der PDS/Linke ListePrivatisierungskriminalität— Drucksache 12/5734 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß Treuhandanstalt RechtsausschußAusschuß für Wirtschaft1) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietmar Schütz, Carl Ewen, Robert Antretter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDGeschwindigkeitsbeschränkungen in Nationalparks im Bereich der Nordsee— Drucksache 12/5807 —
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16034 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Vizepräsidentin Renate SchmidtÜberweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr
SportausschußAusschuß für Umwelt, Naturschutzund ReaktorsicherheitAusschuß für Fremdenverkehr und TourismusZP4 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Sozialplan im Konkurs- und Vergleichsverfahren— Drucksache 12/5985 —Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Arbeit und Sozialordnungb) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Eckhart Pick, Dr. Hans de With, Gerd Andres, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Konkursordnung— Drucksache 12/5995 —Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Arbeit und SozialordnungInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 18a bis e auf:Abschließende Beratungen ohne Aussprachea) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums der FinanzenEinwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der bundeseigenen Liegenschaft Fahnenbergplatz 4 in Freiburg/Br.— Drucksachen 12/5292, 12/5818 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Nils Diederich Hans-Werner Müller (Wadern)Werner Zywietzb) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums der FinanzenEinwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der bundeseigenen Liegenschaft Gendarmerie-Kaserne in Mannheim-Schönau— Drucksachen 12/5291, 12/5819 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Nils Diederich Hans-Werner Müller (Wadern)Werner Zywietzc) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 123 zu Petitionen— Drucksache 12/5921 — d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 124 zu Petitionen— Drucksache 12/5922 —e) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 125 zu Petitionen— Drucksache 12/5923 —Es handelt sich zunächst um zwei Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses zur Veräußerung bundeseigener Liegenschaften in Freiburg und Mannheim auf den Drucksachen 12/5818 und 12/5819. Wenn Sie damit einverstanden sind, lasse ich über beide Beschlußempfehlungen gemeinsam abstimmen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann können wir so verfahren.Wer stimmt für die Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist damit bei Nichtteilnahme der meisten Mitglieder des Hauses so angenommen.
— Es ist so. Herr Kollege, wenn Sie sich einmal umdrehen, dann werden Sie feststellen, daß es auch in Ihrer Fraktion nicht sehr viel anders ist.Darm kommen wir zum Tagesordnungspunkt 18 c bis e. Hierbei handelt es sich um Beschlußempfehlungen des Petionsausschusses auf den Drucksachen 12/5921 bis 12/5923. Das sind die Sammelübersichten 123 bis 125. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen?— Damit sind auch diese Beschlußempfehlungen einstimmig so angenommen.Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, weise ich darauf hin, daß nach einer Vereinbarung im Ältestenrat die morgige Plenarsitzung bereits um 8.30 Uhr beginnt. Ich bitte Sie, die Kollegen, die jetzt nicht anwesend sind, hierüber zu informieren.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf:Erste Beratung des von den Abgeordneten Ottmar Schreiner, Adolf Ostertag, Gerd Andres, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Europäischen Wirtschaftsausschusses
— Drucksache 12/4620 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für WirtschaftRechtsausschußAusschuß für Post und TelekomunikationEG -AusschußNach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dagegen irgendwelche Einwände? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile zuerst dem Kollegen Adi Ostertag das Wort.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16035
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundesarbeitsminister — er ist leider gegangen — hat in der vorhergehenden Debatte gesagt — ich finde das beachtenswert —: Wir brauchen weniger Besprecher, wir brauchen mehr Bearbeiter. Ich kann ihm nur empfehlen, daß er jeden Tag selber in den Spiegel sieht und sich das selbst sagt; denn es gilt wohl vor allen Dingen für die Sozialpolitik, daß mehr gehandelt, also mehr bearbeitet werden muß und nicht soviel Schönrednerisches aus seinem Mund kommt.Diese Bundesregierung redet vor allen Dingen auch viel über die EG-Sozialpolitik. Die konkreten Ergebnisse sind allerdings äußerst mager. Mit dem heute zur parlamentarischen Beratung anstehenden EuropaWirtschaftsausschuß-Gesetz ergreifen wir Sozialdemokraten deshalb die Initiative, weil bisher weder der Ministerrat noch diese Regierung zu Problemlösungen fähig waren.Wir wollen eine immer größer werdende Lücke schließen, die im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dringend gesetzlich ausgefüllt werden muß. Für VW, Siemens, die Allianz oder Mannesmann — um nur vier Konzerne zu nennen — wird die Welt immer mehr zu einem globalen Dorf; nationale Grenzen und Gesetze werden für sie immer unbedeutender. Aber längst sind es nicht mehr nur die Multis, sondern auch viele mittelständische Unternehmen, die ihre Produktion und Arbeitsteilung in bisher nicht gekanntem Ausmaß internationalisieren.Während die nationalen wirtschaftlichen Schranken längst gefallen sind und die Unternehmen international operieren, haben Arbeitnehmer und ihre Vertreter in Betriebsräten oder auch in Aufsichtsräten in den nationalen Unternehmen nach wie vor nur beschränkte nationale Rechte. Die Firmenleitungen geben meist nur nationale Teilinformationen weiter. Deshalb können Entscheidungen und Vorgehen des Managements kaum wirksam nachvollzogen, geschweige denn beeinflußt werden. Das Machtungleichgewicht verschiebt sich immer weiter und immer schneller zu Lasten der Arbeitnehmer und ihrer Vertreter. Nationale Betriebsräte verlieren immer mehr Handlungsspielraum, den das Betriebsverfassungsgesetz eigentlich garantieren sollte.Natürlich wissen wir alle in diesem Parlament — ich glaube, das ist in den letzten Wochen deutlich geworden — um die schleichende Entwertung von Arbeitnehmerrechten. Von daher ist dringender Handlungsbedarf gegeben. So fordert z. B. der DGB in Art. 8 seiner gewerkschaftlichen Anforderungen für soziale Grund- und Mindestnormen in der EG, daß sicherzustellen sei, daß „Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte unmittelbar gegenüber der jeweils entscheidenden Stelle im Unternehmen oder Konzern ausgeübt werden können, auch wenn diese sich in einem anderen Land der Gemeinschaft befinden".Wie gesagt, trotz schöner Versprechungen folgt dem Europa der Konzerne noch lange nicht das Europa der Menschen. Darin, daß Entscheidungsprozesse undemokratisch und nicht mehr transparent sind, liegt meines Erachtens ein Grund für die vielzitierte Europamüdigkeit.Weil es die soziale Dimension des Binnenmarktes faktisch nicht gibt, wäre eine von der EG-Kommission vorgeschlagene Richtlinie über die Einsetzung europäischer Betriebsräte eine wichtige längst überfällige Maßnahme. Dem Ziel, den Binnenmarkt sozial zu gestalten, könnten wir damit ein Stückchen näher kommen. Der Entwurf einer Richtlinie für europäische Betriebsräte bleibt jedoch in Brüssel vor allem wegen der ablehnenden britischen Haltung in der Schwebe. Allerdings ist das heute keine Entschuldigung mehr, denn nach Maastricht könnte unter den neuen Bestimmungen die Richtlinie auch ohne Großbritannien verabschiedet werden.Jetzt kann der Bundesarbeitsminister seinen vielen Worten wirklich auch Taten folgen lassen. Wir brauchen und wollen auf nationaler Ebene den EuropaWirtschaftsausschuß und die EG-Richtlinie. Es wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung zu einer besseren Zusammenarbeit der Arbeitnehmervertreter in Europa.Der Bundestag hat am 30. April 1992 einen Beschluß gefaßt, in dem es heißt:Der Deutsche Bundestag begrüßt den Richtlinienvorschlag der EG-Kommission zum Europäischen Betriebsrat und fordert die Bundesregierung auf, eine zügige Verabschiedung der Richtlinie anzustreben.Allerdings ist nichts geschehen. Der zuständige EGMinisterrat hat einen erforderlichen Beschluß nicht gefaßt, die Bundesregierung wurde nicht initiativ und scheint entgegen ihrer Propaganda auch nicht an einer schnellen Regelung interessiert zu sein. Damit verweigert sie sich letzten Endes einer sachgerechten Lösung.Wie lange sollen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihre Interessenvertreter eigentlich noch vertröstet werden? Also, Herr Bundesarbeitsminister, hier muß man wirklich sagen: Wir brauchen keine Besprecher, wir brauchen wirklich Bearbeiter. Gehen Sie zügig daran, das Ganze umzusetzen.Da diese Bundesregierung ihr Versprechen offensichtlich nicht einlösen will, ergreifen wir in Zusammenarbeit mit dem DGB und der IG Metall die Initiative und legen einen entsprechenden Gesetzentwurf vor. Damit soll für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihre Interessenvertreter in Europa ein soziales Zeichen gesetzt werden. Wir meinen, das ist eine Chance, die Einstellung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu Europa ein bißchen positiver zu beeinflussen. Daran könnten eigentlich wir alle mitarbeiten.Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir die Zusammenarbeit der europäischen Arbeitnehmervertreter erleichtern. Deutsche Konzernbetriebsräte können dann einen Wirtschaftsausschuß bilden und in diesen auch ausländische Arbeitnehmervertreter berufen, wenn in den Tochterunternehmen mindestens 100 Beschäftigte sind; diese Begrenzung ist natürlich eingebaut.Ich möchte am Rande bemerken, daß die Einbeziehung ausländischer Arbeitnehmervertreter auch ein positives Zeichen gegen die in unserem Land zunehmende Fremdenfeindlichkeit wäre. Ich glaube, es
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16036 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Adolf Ostertagwäre in der Tat ein guter Schritt und ein wichtiges Signal gegenüber unseren ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, wenn diese Initiative Erfolg hätte.
Die für diese Initiative notwendige Änderung der §§ 106 und 107 des Betriebsverfassungsgesetzes entspricht bereits heute vertretenen Rechtsmeinungen und läßt sich auch mit wenig Aufwand vornehmen. Wir sollten sie schnellstens realisieren, damit das bewährte Betriebsverfassungsgesetz nicht weiter durch die sich beschleunigende Entwicklung ausgehöhlt wird.Mit der von uns vorgeschlagenen Erweiterung des Wirtschaftsausschusses wäre Deutschland vorbildlich innerhalb der EG. Gleichzeitig würde dadurch Unternehmen ein Signal gegeben, die Arbeit europäischer Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter und -gremien vertraglich zu erleichtern, sie in der Tat ein Stückchen zu motivieren.Im Wirtschaftsausschuß muß das Unternehmen über alle wirtschaftlichen Fragen unterrichten und darüber beraten. Hierzu zählen beispielsweise die Finanz- und Absatzlage, Investitions- und Rationalisierungsvorhaben, die Verlegung oder der Zusammenschluß von Betrieben sowie alle für die Arbeitnehmer bedeutsamen wirtschaftlichen Vorgänge, so wie es im jetzigen § 106 des Betriebsverfassungsgesetzes zum Wirtschaftsausschuß schon festgeschrieben ist.Bisher geschieht das nur auf der Ebene der Gesamtbetriebsräte und nicht auf der internationalen Konzernebene. Vor allem dort ist aber eine europäische Regelung sinnvoll.Mit unserer Gesetzesinitiative machen wir den dringend erforderlichen ersten Schritt. Mit unserem Vorschlag würde man praktisch die EG-Richtlinie im Vorgriff für Deutschland verankern.Unsere Initiative ersetzt allerdings nicht die europäischen Betriebsräte. Sie wären als zweiter Schritt ebenso notwendig.Wir brauchen die Vereinheitlichung und Europäisierung betriebsverfassungsrechtlicher Grundstrukturen; denn selbst wenn die europäische Richtlinie verabschiedet wird, brauchen wir danach auch die nationale Umsetzung. Hier können wir mit der vorgeschlagenen Ergänzung des Betriebsverfassungsgesetzes wichtige Erfahrungen sammeln.Wenn es Ihnen, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, mit der sozialen Dimension des Binnenmarktes wirklich ernst ist, dann stimmen Sie unserer Initiative zu. Unsere langjährigen Erfahrungen mit der deutschen Mitbestimmungspraxis zeigen, daß die Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen für das jeweilige Unternehmen positiv ist.Es ist auch nicht einzusehen, warum aus Unternehmersicht europaweite internationale Kontakte und Kooperationen von Führungskräften und Fachleuten erwünscht sind und nur der soziale Dialog mit den Betriebsräten an den nationalen Grenzen haltmachen soll.Es ist eben wieder so viel über den Standort Deutschland diskutiert worden. Lassen Sie mich abschließend sagen: Das gilt auch für die soziale Dimension in Europa. Wer heute die Nase vorn haben will, kommt an einer grenzüberschreitenden Einbeziehung der Arbeitnehmer an Entscheidungsprozessen in Unternehmen nicht vorbei. Deswegen sollten Sie sich diesem Vorhaben anschließen. Wir fordern Sie auf, unserer Initiative zuzustimmen.Vielen Dank.
Als nächstes hat nun der Kollege Peter Keller das Wort.
Frau Präsidentin! Mein lieben Kolleginnen und Kollegen! Nach der Rede des Kollegen Ostertag könnte man dem vorliegenden Entwurf der SPD zur Einführung eines Europäischen Wirtschaftsausschusses fast zustimmen wollen.
Die Betonung liegt natürlich auf „fast"; Sie müssen erst einmal zuhören.
Das liefe dann nach dem Motto: Deutschland im Alleingang, entschlossen zur längst überfälligen Verbesserung der Arbeitnehmermitbestimmung in grenzüberschreitenden Unternehmen. Es ist sicherlich richtig, Herr Kollege Ostertag — ich versuche, auch das Gemeinsame herauszuarbeiten —, daß die Mitbestimmung zum Kern der sozialen Partnerschaft in unserer Sozialen Marktwirtschaft gehört. Im Ziel stimme ich Ihnen zu, nur ist der Weg des SPD-Antrags nach meiner Meinung falsch.Als Arbeitnehmervertreter — ich war früher selbst Betriebsrat und im Wirtschaftsausschuß eines großen Konzerns — sowie als Sozialpolitiker bin ich mit den Kolleginnen und Kollegen der SPD sicherlich auch darüber einig, daß der europäische Binnenmarkt nicht nur ein gemeinsamer Wirtschaftsraum sein darf, sondern daß in gleichem Maße auch die soziale Dimension mitentwickelt werden muß.Ich meine, Europa muß mehr sein als eine reine Wirtschaftsgemeinschaft. Europa darf nicht nur ein Europa der Unternehmer und der Banker sein, sondern dieses Europa muß auch ein Europa der Arbeitnehmer sein; deshalb diese soziale Dimension. Dazu gehören nicht nur unsere Forderungen nach sozialen Mindeststandards, die von der . Bundesregierung gemeinsam mit den deutschen Sozialpartnern vereinbart worden sind, sondern dazu gehört auch ein unverzichtbares Mindestmaß an Mitbestimmungsrechten.Unsere Forderung lautet: Europaweit tätige Unternehmen brauchen eine europäische Arbeitnehmervertretung. Das gebietet schon die Chancengleichheit. Während nämlich der Informationsfluß bei den grenzüberschreitenden Unternehmen schon heute gar keine Frage mehr ist, stehen die Arbeitnehmer noch im Abseits. Ich frage mich aber auch: Was nützt
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16037
Peter Kellerein hervorragendes nationales Recht, wenn es an der Grenze aufhört?Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD, nun zu der Frage, warum wir Ihrem Vorschlag bzw. diesem Weg nicht zustimmen können. Der Gesetzentwurf der SPD erfaßt nur die Unternehmen und Konzerne, die ihren Sitz, ihre Zentrale in Deutschland haben. Ist die Zentrale in einem europäischen Nachbarland angesiedelt, läuft das Gesetz ins Leere.
Es wäre nur eine deutsche Vorreiterrolle.Es ist zu befürchten — das ist zumindest meine Sorge —, daß sich europaweit, ja weltweit operierende Unternehmen diese Rechtslage zunutze machen könnten und — ich sage es juristisch — „auswandern", um dieser Regelung zu entgehen. Gerade im Hinblick auf die Diskussion über den Wirtschaftsstandort Deutschland halte ich ein einsames Vorpreschen Deutschlands in dieser Frage für nicht hilfreich; ich halte es sogar für politisch bedenklich.
Eine solche einseitige, nur für Unternehmen mit Zentralsitz in Deutschland geltende Regelung könnte sich möglicherweise als weiterer Wettbewerbsnachteil auswirken; das wollen wir nicht.So soll nach den Vorstellungen der SPD in jedem Konzern — auch ohne ausländische Tochterfirma — ein Wirtschaftsausschuß gebildet werden. Bisher ging das nur auf der Unternehmensebene. Damit wird natürlich auch eine zusätzliche kostenträchtige Arbeitnehmervertretung geschaffen.Nun zu der Frage, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, was wir für den richtigen Weg halten. Wir sind uns sicherlich einig, daß wir eine einheitliche EG-Regelung, die für alle europäischen Länder gelten muß, mit gleichen Rechten für alle Arbeitnehmer brauchen. Hierfür gibt es bereits den Entwurf einer EG-Richtlinie zur Einsetzung europäischer Betriebsräte.Meine Damen und Herren, ich weiß, es gibt natürlich Grund, darüber zu murren — und ich murre mit —, daß wir hier noch nicht weitergekommen sind. Wir wissen alle, woran es liegt: nicht an uns, nicht an der Bundesregierung, nicht an Deutschland, sondern an Großbritannien, das sich unrühmlich aus der Sozialunion Europas verabschiedet und hier eine eindeutige Bremserrolle übernommen hat. Damit ist nach dem jetzigen Stand der ratifizierten Verträge von Maastricht Gott sei Dank endgültig Schluß, weil das Einstimmigkeitsprinzip nämlich nicht mehr gilt. Jetzt können wir mit qualifizierter Mehrheit arbeiten.Diese Richtlinie für europäische Betriebsräte kann nun im Rat der Arbeits- und Sozialminister der EG notfalls auch mit entsprechender qualifizierter Mehrheit verabschiedet werden. Das heißt, es ist keine Einstimmigkeit mehr erforderlich. Ich meine, wir sollten das auch durchsetzen. Die EG-Kommission hat bereits angekündigt, entsprechend den Protokollen über die Sozialpolitik verfahren zu wollen und die Verabschiedung zügig — Kollege Ostertag: zügig — voranzutreiben.Im Gegensatz dazu könnte ein deutsches Vorpreschen, so wie Sie es wollen, zum jetzigen Zeitpunkt als ein Signal der Resignation verstanden werden, daß sie diese europäischen Betriebsräte gar nicht mehr fordern wollen, weil die Deutschen allein die Brechstange sind, um hier etwas zu erreichen.Vor diese Situation, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, möchte ich wirklich im Interesse der Mitbestimmung, die wir für die europäischen Arbeitnehmer wollen, nachdrücklich warnen. Denn gerade uns Deutschen kommt bei der Gestaltung des Europäischen Sozialraums eine Vorreiterrolle zu. Diese dürfen wir nicht verspielen; das wollen wir auch nicht tun.Ich meine, wir sollten uns alle einig sein, daß wir dringend Regelungen zur Mitwirkung der Arbeitnehmer in grenzüberschreitenden Unternehmen brauchen. Wir sollten deshalb weiterhin alle Kraft darauf konzentrieren, hier gleich zu einer in ganz Europa verbindlichen Lösung zu finden, nämlich der Lösung über den europäischen Betriebsrat. Ein nationaler Alleingang wäre nur ein Stückwerk und könnte sich als weiterer Wettbewerbsnachteil für den Industriestandort Deutschland auswirken.Deshalb können wir Ihrem Vorschlag zur Einführung eines Europäischen Wirtschaftsausschusses nicht beitreten. Wir wollen uns aber verstärkt für die Schaffung eines europäischen Betriebsrates einsetzen. Ich meine, der europäische Betriebsrat wird auch dazu beitragen, den sozialen Frieden in den Betrieben zu sichern.Wichtig ist deshalb die harte und klare deutsche Verhandlungslinie. Ich richte diese Aufforderung gerade an unseren Bundesarbeitsminister. Wir sollten hinter unserem Arbeitsminister stehen und als Parlament, ganz gleich ob als Koalition oder Opposition, die Bundesregierung tatkräftig unterstützen. Ich fordere Sie auf, darauf unsere gemeinsame Kraft zu verwenden.
Nun hat die Kollegin Dr. Gisela Babel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Mitwirkung von Arbeitnehmern an Entscheidungen innerhalb eines Unternehmens erfolgt nach deutschem Betriebsverfassungsrecht im Betriebsrat. Es fehlen aber Regelungen für die Arbeitnehmer in ausländischen Tochtergesellschaften deutscher Unternehmen. Wie sind ihre Mitwirkungsrechte, und wo können sie diese ausüben?Nationale Bestimmungen gelten für die Arbeitnehmer dieser Konzerntöchter im Ausland nicht. Im Interesse aller Arbeitnehmer ist es, möglichst gleiche Mitbestimmungsrechte in ihren Ländern herzustellen. Das ist auch im Interesse der deutschen Arbeitnehmer, weil sich doch auch deutsche Firmen der unbequemen Mitbestimmung nicht durch Verlagerung ins Ausland entziehen sollten.Nun gibt es Bemühungen, zumindest im Wirtschaftsraum der Europäischen Gemeinschaft eine Richtlinie über die Einrichtung europäischer Betriebsräte zu schaffen. Selbst im Interesse deutscher Unter-
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16038 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Dr. Gisela Babelnehmen müßte eine solche Richtlinie sein, um auch dem Wettbewerb gleiche Chancen zu geben; denn auch soziale Standards sind Standortfaktoren.Die Verhandlungen in Brüssel mögen zäh und langwierig sein. Hier ist schon darauf hingewiesen worden, daß sie durch den Maastricht-Vertrag unter neuen und anderen Bedingungen weitergeführt werden. Aber ich habe den Eindruck, die SPD hat einfach nicht soviel Geduld und prescht jetzt vor, um einen deutschen Sonderweg vorzuschlagen. Nichts anderes ist das, was Sie hier vorgelegt haben.Die deutschen Unternehmen und Konzerne sollen bei dem nach § 106 Betriebsverfassungsgesetz gebildeten Wirtschaftsausschuß auch Arbeitnehmervertreter aus den ausländischen Tochterunternehmen aufnehmen und mitwirken lassen. Das sieht auf den ersten Blick vielleicht sogar ganz einnehmend aus. Aber man erweist den Verhandlungen in Brüssel dadurch einen Bärendienst. Es handelte sich, wenn wir dem folgen würden, um einen unabgestimmten Alleingang von deutscher Seite und würde ganz deutlich auch als solcher empfunden werden.Schlimmer ist in meinen Augen aber etwas anderes, meine Damen und Herren: Deutsche Unternehmen werden aus diesem Vorschlag herausgenommen und benachteiligt; denn nur sie müßten ja ausländische Arbeitnehmer heranreisen lassen — dies ist auch nicht ganz ohne Kosten — und sie in ihren Gremien beteiligen. Ausländische Unternehmen aber blieben davon völlig frei.Dieses Ergebnis ist besonders unannehmbar, wenn Sie die deutschen Arbeitnehmer berücksichtigen, die heute in Deutschland in Zweigunternehmen ausländischer Konzerne arbeiten. Sie haben nämlich schon heute gegenüber ihren Kollegen in deutschen Unternehmen weniger Chancen, von ihrer ausländischen Konzernspitze über langfristige Firmenpläne etwas zu erfahren. Sie werden oft sehr plötzlich vor sehr harte Entscheidungen gestellt, die ihren eigenen Arbeitsplatz betreffen. Für diese Gruppe der Arbeitnehmer in ausländischen Firmen auf deutschem Boden haben Sie überhaupt keine Lösung. Die vorgeschlagene Möglichkeit gibt es ja dann nicht.Ich glaube, das macht ganz deutlich, daß der Weg, den Sie vorschlagen, kein gangbarer Weg ist, sondern daß es darauf ankommt, daß wir in allen Unternehmen dazu ermutigen, Informations- und Konsultationsverfahren einzuführen. Dies sieht die europäische Richtlinie auch vor. So, wie sich der Entwurf der SPD nennt — Entwurf eines Europa-Wirtschaftsausschuß-Gesetzes —, ist das nämlich nicht zutreffend. Er ist der Entwurf eines „ Deutschland-WirtschaftsausschußGesetzes "; er ist ein Entwurf, in dem eine deutsche Sonderregelung vorgeschlagen wird. Er nährt den fürchterlichen Verdacht der ehemaligen britischen Premierministerin Thatcher, daß es den Deutschen nicht darum geht, Deutschland in Europa aufgehen zu lassen, sondern Europa in Deutschland.
Ich glaube, wir sollten uns vor solchen Gefahren hüten. Wir lehnen den Gesetzentwurf daher ab.
Als nächster hat der Kollege Dr. Fritz Schumann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Redner, zumindest die beiden ersten dieser Debattenrunde, haben übereinstimmend festgestellt, daß Europa nicht nur ein Wirtschafts- und Handelsstandort sein kann, sondern daß es darüber hinaus auch um soziale Dimensionen geht. Dem kann man sich eigentlich nur anschließen. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Gründungsväter eines gemeinsamen Europas sicher sehr viele politische Ansätze verfolgt haben, so muß man heute feststellen, daß die politischen und vor allen Dingen die demokratischen Ansätze arg ins Hintertreffen geraten sind. Neben Wirtschaft, Landwirtschaft und Handel haben vor allen Dingen Banken und Versicherungen, die Finanzen allgemein, Europa erobert. Die politische Dimension ist hier einfach nicht nachgekommen.Wir sehen die Wirtschaftsdemokratie als einen Teil der wichtigen politischen Dimension an, die es in diesem Zusammenhang weiterzuentwickeln gilt. Nun ist bekanntermaßen — dies ist hier zum Ausdruck gebracht worden — die EG-Initiative zur Bildung gemeinsamer Betriebsräte in Europa auf der Strecke geblieben. Auch die Ursachen sind genannt worden. Darin kommt zum Ausdruck, daß man den politischen Aufgaben nicht gewachsen ist.Wir begrüßen den Gesetzentwurf der SPD, weil, wie wir glauben, damit ein Beitrag geleistet wird, diese EG-Initiative wieder in Gang zu bekommen. Ich hielte es auch für gut, wenn Deutschland dabei eine Vorreiterrolle spielen würde, auch wenn sich meine unmittelbare Vorrednerin dagegen ausgesprochen hat. Ich möchte dies mit zwei Ansätzen begründen.Erstens. Der Kollege Keller von der CSU hat eben gerade gesagt, Betriebsräte und Wirtschaftsdemokratie seien wesentliche Bestandteile der Sozialen Marktwirtschaft, d. h. auch ein Stück Motor der Sozialen Marktwirtschaft. Warum also sollte dies auf europäischer Ebene kein Motor zur Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft sein? Wieso wird immer der Gedanke ins Spiel gebracht, daß ein deutscher Alleingang in Richtung eines Betriebsrats auf europäischer Ebene eventuell zur Bremse werden könnte? Das ist für mich nicht so recht verständlich, wenn es so ist, wie es der Kollege Keller hier zum Ausdruck gebracht hat.Zweitens. Ein solches Vorgehen kann doch auch ein Beitrag dazu sein, daß Europa nicht nur für Großkonzerne, Großbanken und Regierungsvertreter erlebbar gemacht wird. Wir beklagen allgemein, daß es in der Bevölkerung eine große Politikmüdigkeit gibt. Diese betrifft wohl die Europapolitik noch stärker als die Politik hier im Lande. Uns müßte also daran gelegen sein, diese Müdigkeit durch eine Initiative auf zubessern.Was den Gesetzentwurf im besonderen anlangt, so muß ich den vorliegenden Vorschlag zu § 106 Abs. 1 hoffentlich nicht so verstehen, daß ein Wirtschaftsausschuß auf internationaler Konzernebene bedingt, daß dann Wirtschaftsausschüsse auf Betriebsebene weg-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16039
Dr. Fritz Schumann
fallen. Ich glaube, daß es für beide ganz spezifische Aufgaben gibt.Danke.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe dann diese uns offensichtlich alle ungeheuer mitreißende Aussprache und komme zur Abstimmung.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/4620 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den EG-Ausschuß vorgeschlagen. Besteht dazu Einverständnis? — Dies scheint der Fall zu sein. Dann ist die Überweisung so beschlossen, und wir kommen dann irgendwann zu einer zweiten und dritten Lesung, die uns vielleicht mehr mitreißen wird.
— Ich habe recht; ich weiß schon, warum ich das sage. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Horst Sielaff, Brigitte Adler, Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Umsetzung der flankierenden Maßnahmen der EG-Agrarreform in der Bundesrepublik Deutschland
— Drucksachen 12/4362, 12/5076 —
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es dazu anderweitige Vorstellungen? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem dem Kollegen Joachim Tappe das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wird sicherlich niemanden verwundern, wenn ich gleich zu Beginn namens meiner Fraktion feststelle: Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage ist eine armselige, kurzatmige und technokratische Darstellung der Nicht-Lösungskompetenz der Bundesregierung angesichts eines der drängendsten Probleme unserer Zeit. Die Antwort, ohne Perspektive und Orientierung über den Tag hinaus, macht deutlich, daß die Fehleinschätzung der Bundesregierung bei der Situation in der Landwirtschaft genauso groß ist wie bei anderen Politikbereichen.Einzelfragen wird der Kollege Sielaff im Begründungszusammenhang unseres Entschließungsantrags hier noch behandeln.Ich möchte heute das tun, was der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland in der vorigen Woche von dieser Stelle aus eingefordert hat, nämlich eine Generalinventur anregen, allerdings hier speziell für den Bereich der Landwirtschaft und der Landwirtschaftspolitik. Ich will nach mehr als 30 Jahren EG-Agrarpolitik aus meiner Sicht ein paar grundsätzliche Anmerkungen zu dieser zu erstellenden Bestandsaufnahme machen.Es gibt keinen Prozeß in der Menschheitsgeschichte, der innerhalb nur einer einzigen Generation so nachhaltige Veränderungen und so negative Auswirkungen erzeugt hat wie die verfehlte Agrarkultur der letzten 30 Jahre. Ich will das in fünf Punkten exemplarisch verdeutlichen.Erstens. Technikeinsatz und Chemisierung in der Landwirtschaft haben zu einer beispiellosen Intensivierung — mit allen umweltrelevanten Problemen — und zu einer riesigen Überproduktion geführt. Während dadurch in den Industriestaaten ein Überfluß an Nahrungsmitteln vorhanden ist und die Übersättigung zu Gesundheitsproblemen geführt hat, verhungern in anderen Regionen der Erde Menschen zu Millionen.Zweitens. In den letzten Jahrzehnten ist die Landwirtschaft einseitig unter das Diktat der Ökonomie gestellt worden, und dabei ist die Ökologie unter die Räder gekommen. Das kann man auch daran ablesen, daß an den landwirtschaftlichen Fakultäten die Anzahl der Lehrstühle für Agrarökonomie alle anderen Forschungsdisziplinen dieses Bereiches majorisiert.Ich war vor drei Tagen in meiner Heimatstadt beim Festakt aus Anlaß der Errichtung des ersten Lehrstuhls in Deutschland für Tierethologie und artgerechte Tierhaltung, mit dem deutschlandweit der erste und bisher auch einzige Studiengang für ökologischen Landbau komplettiert worden ist. Das macht auf der einen Seite Hoffnung, auf der anderen Seite läßt es mich verzweifeln, wenn ich bedenke, daß eigentlich jede landwirtschaftliche Fakultät in Deutschland einen solchen integrierten Studiengang anbieten müßte.Eine einseitig auf Ökonomisierung der Landwirtschaft ausgerichtete Politik hat dazu geführt, daß seit der Jahrhundertwende die Hälfte aller Haustiere ausgestorben ist. Es gibt gerade noch 770 verschiedene Rassen Pferde, Rinder, Schafe, Ziegen, Schweine und Hühner. 70 % unserer europäischen Milcherzeugung stammt von den Schwarz-Bunten, ebenso hoch ist der Anteil der Schweinefleischproduktion aus der Kreuzung des deutschen Landschweins mit dem Piètrainschwein.Auf 80 % der europäischen Anbauflächen wachsen gerade noch vier verschiedene Körner. Mehr als die Hälfte aller erzeugten Äpfel in Europa gehört zur Sorte Golden Delicious.Vom Ackersalat bis zur Zwiebel, vom Rind bis zum Schwein haben wir stromlinienförmig Hochertragssorten und -rassen gezüchtet. Der daraus resultierende Artenschwund ist dramatisch.
Die einzige Antwort auf dieses Phänomen ist die Errichtung zentraler Genbanken. Dorthin wird die natürliche Vielfalt verbannt — in eine künstliche Umwelt also —, damit in freier Natur Platz für patentgeschützte Produkte der Saatgutkonzerne und der Tierzuchtanstalten ist.Drittens. Die milliardenschweren Landwirtschaftssubventionen ohne ausreichende Marktregulierung
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16040 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Joachim Tappeund ohne durchgreifende soziale Flankierung haben das Höfesterben nicht verhindern können.
Noch vor 40 Jahren gab es in meinem ländlichen Wahlkreis mehr als 10 000 landwirtschaftliche Anwesen, heute sind es weniger als 2 000. Weitere Hunderte von Landwirten müssen in den nächsten Jahren aufgeben. Mit den dörflichen Strukturen — unsere Dörfer sind zu Schlafstätten und „Altersheimen" degeneriert — verkümmern auch die ländlichen Räume.Hinzu kommt die Zerschlagung regionaler Verarbeitungsstrukturen. Der Wegfall ortsnaher Molkereien und Schlachthöfe macht nun Transportrituale in einem Umfang erforderlich, der auch negative Folgen für den Tierschutz hat. Ich denke hierbei besonders an die barbarische Situation bei den Schlachtviehtransporten.Viertens. Auch die wissenschaftlich ausgerichtete Forstbewirtschaftung hat nicht verhindert, daß unser Wald in einem dramatischen Tempo zugrunde geht. Ich bin überzeugt davon: Wenn unsere Wälder schreien könnten, wir würden unsere eigenen Worte nicht mehr verstehen.Fünftens. Die auf industrielle Produktionsmethoden ausgerichtete Landwirtschaft hat Monokulturen geschaffen, in denen die Natur zum Produktionsfaktor degradiert wurde. Dadurch ist zwar eine ungeheure Vielfalt eines bezahlbaren Nahrungsmittelangebots geschaffen worden, die uns aber zugleich ärmer und leider auch weniger gesund macht. Das ist der hohe Preis der vielgepriesenen Vielfalt.Die folgenschwere Armut als Resultat verfehlter Landwirtschaftspolitik zeigt sich besonders darin, daß die Einmaligkeit und die Unersetzlichkeit der Natur und unserer ländlichen Naturräume zerstört werden. Uns muß jedoch klar sein: Für Unersetzliches gibt es keinen Preis, es sei denn den der Vernichtung.
Über Hunderte von Generationen waren die Menschen auch Opfer der Natur. Heute sind wir ihre Feinde. Es ist unbestritten, daß die Natur für uns Menschen auch einen Nutzwert hat. Aber bei allen Handlungen — hier liegt die ausschließliche Aufgabe vorausschauender Politik — dürfen wir nicht übersehen, daß das Schicksal künftiger Generationen unabdingbar mit dem Schicksal der Natur und der Umwelt verbunden ist.Wenn ich nun diese — sicherlich nicht vollständigen — Anmerkungen zu der eingeforderten Generalinventur betrachte, komme ich zu der Feststellung: Die Anwort der Bundesregierung auf unsere Anfrage ist ein unübertroffenes Dokument dafür, wie es nicht sein sollte. Das Desaster wird nur verwaltet und trägt zu der allseits beklagten Verdrossenheit bei, weil keine ausreichenden Problemlösungen angeboten und weil falsche Prioritäten gesetzt werden. Die ungenügende Ausgestaltung der Gemeinschaftsaufgabe zeigt das.Ich gestehe gern zu — damit komme ich zum Schluß —, daß die Mechanismen des sogenanntenMarktes, die Bestimmungen des EG-Agrarrechts und die föderalen Verantwortlichkeiten die Umsetzung mancher positiver Einsichten erschweren. Dies darf dennoch kein Grund dafür sein, daß die nationalen Nischen und Möglichkeiten nicht genutzt werden. Wir brauchen ein geschlossenes landwirtschaftliches Konzept mit Perspektive und Orientierung für Mensch und Natur. Eine solche Orientierung von der Bundesregierung zu erfahren war das Hauptmotiv unserer Anfrage. Die gegebene Antwort hat mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Ich finde das schade.
Nun spricht der Kollege Ulrich Junghanns.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Durch meinen Vorredner sind wir durch die schwärzeste Globalinterpretation bereichert worden, aber keinen Schritt vorwärtsgekommen. Ich möchte auch gern solche Globaldiskussionen führen, aber dann, wenn sie aufgerufen sind. Heute wollte die SPD doch über die flankierenden Maßnahmen reden. Ich spreche jetzt zur Sache. Ich glaube, daß dies ein dienlicher Umgang miteinander ist.Die heute hier in Rede stehenden flankierenden Maßnahmen kennzeichnen in besonderer Weise die Komplexität der Agrarreform für die Zukunft der Landwirtschaft, der Landschaft und der ländlichen Räume: in Europa im allgemeinen und in Deutschland im speziellen. Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage gibt hierzu im einzelnen Auskunft. Deshalb möchte ich — auch um einige Anmerkungen meines Vorredners wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen — hier nur einige kurze allgemeine Ausführungen machen und dann zu den Einzelthemen kommen.Mit den flankierenden Maßnahmen werden der auslösende Faktor, nämlich die Marktanpassung der landwirtschaftlichen Produktion und ihre sozialen Folgen, und die Konsequenzen für eine umweltgerechte Landbewirtschaftung eng und konstruktiv miteinander verknüpft. Die Bundesregierung hat die flankierenden Maßnahmen nicht nur von Anfang an maßgeblich unterstützt, sondern sie sieht darin auch ein wichtiges agrarpolitisches Gestaltungsfeld für Bund und Länder gleichermaßen, auf dem wesentlich über die Akzeptanz der Reform sowohl unter den beteiligten und betroffenen Bauern als auch unter der Bevölkerung überhaupt entschieden wird.Der Sachstand der bisherigen Umsetzung in den drei Regelungsbereichen — ich möchte sie in Stichworten nennen: Vorruhestand, Aufforstungsmaßnahmen und Extensivierung — ist, entgegen der falschen Darstellung im SPD-Entschließungsantrag, Beleg für die zielstrebige Arbeit der Bundesregierung. Ich möchte das jetzt im einzelnen nachweisen.Erstens zum Vorruhestand: Bei dem großen Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten in diesem Bereich können wir in Deutschland auf das bereits geltende Gesetz über die Förderung der Einstellung der landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit verweisen. Weil es
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Ulrich Junghannssich in dieser Form bewährt hat und den Zielvorgaben der neuen EG-Verordnung genügt, wird dieses Gesetz nunmehr im europäischen Beihilfeverbund weiter angewandt. Lediglich ergänzend wird diese Regelung im Zuge der Reform der agrarsozialen Sicherung auch in unseren jungen Bundesländern eingeführt. Bis dahin stehen dort spezielle Maßnahmen zur Verfügung, die den Besonderheiten der Erwerbsstruktur entsprechen, z. B. Altersübergangsgeld, Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung, Fortbildung und Umschulung.Zweitens zur Aufforstung: Es ist — in aller Bescheidenheit — ein Hinweis auf das Niveau der agrarpolitischen Instrumentarien in Deutschland, wenn auch für diesen Bereich festgestellt werden kann, daß die Umsetzung der neuen EG-Verordnung vollzogen ist. Das Förderziel Aufforstung war bereits Inhalt des Rahmenplans der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes". Somit galt es, diesen Fördergrundsatz mit den verbesserten gemeinschaftlichen Konditionen zu verknüpfen, was kurzfristig mit Wirksamkeit vom 1. Januar 1993 im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe geschafft wurde.Es gibt nunmehr, je nach Standortbedingungen, Aufforstungsprämien über 20 Jahre zwischen 500 DM und 1 400 DM pro Hektar, die im Normalfall zu 50 % und in den sogenannten Ziel-1-Gebieten, zu denen alle jungen Bundesländer zählen, zu 75 % von der Gemeinschaft aufgebracht werden.Hier sei angemerkt: Wenn es heute mitunter Hinweise auf Aufforstungsfälle gibt, die agrarstrukturellen Zielvorstellungen widersprechen, dann liegt das überhaupt nicht am guten Instrument der Aufforstungsförderung selbst. Das weist vielmehr auf Mängel bei der Koordination der Mittelverwendung zwischen den Beteiligten in den Ländern hin, die wiederum nur in den Ländern beseitigt werden können und müssen.Drittens zum Bereich der Extensivierung: Bei der Umsetzung der EG-Verordnung für umweltgerechte und den natürlichen Lebensraum schützende landwirtschaftliche Produktionsverfahren gibt es zwei Ansatzpunkte, wobei beide Male die Länder mit in der Verantwortung stehen. Deshalb ist es falsch, wenn die SPD in ihrem Antrag fordert, die Bundesregierung solle Voraussetzungen schaffen, ... Ich glaube, selbst die SPD-regierten Länder würden es sich nicht gefallen lassen, mit einseitigen Bundesvorgaben konfrontiert zu werden.Der erste Ansatzpunkt ist nach Art. 3 Abs. 1 der EG-Verordnung die Umsetzung in gebietsspezifische Mehrjahresprogramme der Bundesländer. Alle Bundesländer haben bereits ihre — ich verwende dafür einmal den gängigen Sammelbegriff — Kulturlandschaftsprogramme in Brüssel notifizieren lassen.Für die Länder Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Thüringen sind auch schon die Konformitätsprüfungen abgeschlossen. Für die anderen soll das vor Jahresfrist erfolgen, so daß dann die erforderlichen Grundlagen für den Beihilfefluß von der Gemeinschaft direkt in die Bundesländer geschaffen sind.Mit den Kulturlandschaftsprogrammen wird kompetenterweise, so meinen wir, von den Ländern die engere Verknüpfung der Agrarstrukturpolitik mit den örtlich spezifischen Belangen der Landschaftspflege, des Umwelt- und Naturschutzes stimuliert und organisiert. Den Bauern wird eine Leistung honoriert — mein Kollege Deß wird darüber im einzelnen aus dem Blickwinkel Bayerns sprechen —, wodurch auch die öffentliche Akzeptanz für den Mitteleinsatz wächst.Der zweite Ansatzpunkt ist nach Art. 3 Abs. 4 der EG-Verordnung die Schaffung von Beihilferegelungen für Extensivierungsmaßnahmen, die wegen ihres unmittelbaren Bezugs zur Agrarmarktentlastung und zur Agrarstrukturverbesserung einheitlich für das gesamte Bundesgebiet wirksam werden sollen. Naheliegend ist dafür wiederum das Instrument der Gemeinschaftsaufgabe.Im Gesetz zur Änderung der Gemeinschaftsaufgabe haben Bundestag und Bundesrat — ich möchte das betonen — mit der Aufnahme des Fördergegenstandes „markt- und standortangepaßte Landbewirtschaftung " die erforderliche Rahmenregelung getroffen. Gemeinsames Anliegen ist, damit auch eine gewisse einheitliche Basiskonzeption der Extensivierung zu schaffen, wodurch mögliche Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Ländern verhindert werden sollen. Für die Realisierung stehen jedoch nach unseren Haushaltskonsolidierungsmaßnahmen entgegen früheren Annahmen weniger GA-Mittel im Jahre 1994 zur Verfügung, so daß nicht einfach draufgesattelt werden kann.Unsere Auffassung ist deshalb, daß jetzt in den Ländern die Abwägung getroffen werden muß zwischen den landesspezifischen Kulturlandschaftsprogrammen einerseits und der Finanzierung von Extensivierungsmaßnahmen in der Gemeinschaftsaufgabe bei Abgleichung mit den Erfordernissen der einzelbetrieblichen Förderung, der Dorferneuerung oder der wasserwirtschaftlichen Maßnahmen andererseits. Ratsam erscheint, neben den Kulturlandschaftsprogrammen der Länder, vorsichtig und schrittweise in der Gemeinschaftsaufgabe mit der Finanzierung von Extensivierungsmaßnahmen zu beginnen.Wir verstehen, daß die Länder innerhalb ihres Haushaltsrahmens eigenverantwortlich die Prioritäten für den Mitteleinsatz treffen wollen. Derartig weitgehende Flexibilität gebietet natürlich, daß die Länder ihre Schwerpunktsetzung auch auf der Kürzungsseite offensiv vertreten und dort nicht jedesmal versuchen, dem Bund den Schwarzen Peter zuzuschieben.
— Das stimmt nicht. — Dabei sollte aus verständlichen Gründen die einzelbetriebliche Förderung, insonder-heit die einzelbetriebliche Investitionsförderung, von Mittelkürzungen durch die Länder verschont bleiben. Unter diesen Aspekten halte ich eine Entscheidungsfindung im PLANAK am 15. November für dringend geboten.Nun noch von meiner Seite zu einer Frage der EG-Agrarreform, die für die Bauern unserer jungen
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16042 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Ulrich JunghannsLänder schon zur „Gretchenfrage" der europäischen Agrarpolitik geworden ist, zur Korrektur des sogenannten beihilfefähigen Grundflächenplafonds.Der Konflikt mit der Kommission ist sehr tief, vor allem, weil sie, entgegen aller sachlich begründeten Änderungsversuche des Bundesministers Borchert, nunmehr einen völlig unakzeptablen Bestrafungsmodus auf den Weg geschickt hat. Danach müßten im Maße der Überschreitung der Grundflächen alle Ausgleichszahlungen 1993 um 17 % gekürzt werden. 1994 müßten 17 % der Fläche zusätzlich stillgelegt werden; 15 % stehen reformbedingt ohnehin zur Stillegung an. Rund ein Drittel von Mecklenburg-Vorpommern würde damit brachliegen.
Dies ist für unsere jungen Bundesländer, die mitten in einer tiefgreifenden Umstrukturierung stecken, völlig unzumutbar.
Die landwirtschaftlichen Betriebe beginnen langsam Fuß zu fassen. Die Anwendung solcher Regelungen ist existenzbedrohend. Deshalb möchte ich an dieser Stelle, gerichtet an die Kommission, mit aller Deutlichkeit hervorheben: Die Landwirte trifft keinerlei Schuld an der Misere, deshalb darf sie auch keine Bestrafung treffen.
Natürlich müssen Ursachen, Fehler und vermeidbares Fehlverhalten lückenlos aufgeklärt werden, aber das kann letztlich keinen Sanktionsmechanismus gegenüber den Bauern rechtfertigen.Die Agrarpolitiker und viele andere Kollegen der CDU/CSU-Fraktion unterstützen die von Bundeskanzler Kohl mitgetragene feste Verhandlungsposition unseres Bundeslandwirtschaftsministers zur Änderung der Grundflächenbemessung. Wir fordern, um es konkret zu sagen, eine Korrektur der Entscheidung aus dem Jahre 1992 und damit eine Erhöhung der Grundflächen in den neuen Bundesländern um ca. 350 000 ha, das sind ca. 10 % der derzeitigen Grundfläche.Wir erwarten eine politische Entscheidung, auch mit dem Hinweis darauf, daß es von der Kommission seinerzeit eine politische Lösung des italienischen, spanischen und portugiesischen Milchquotenproblems gab, obwohl dort über Jahre gegen EG-Verordnungen verstoßen wurde.In allen EG-Ländern hat sich die Reform auf statistische Angaben aus langjähriger Zusammenarbeit stützen können, in den neuen Bundesländern auf zwei gegriffene Jahre, 1989/90, die noch weitgehend planwirtschaftlichen Ursprungs waren. Hier muß es eine einmalige, sinnvolle Korrektur geben, wenn die Agrarreform für unsere jungen Länder nicht insgesamt sinnlos werden soll.Ich danke Ihnen.
Nun hat der Kollege Günther Bredehorn das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Tappe, zunächst ein Wort zu Ihnen. Ich schätze Sie ansonsten sehr. Aber was Sie in der Grundsatzdiskussion, die Sie begonnen haben und die sicherlich ganz wichtig ist und die man sicher einmal führen muß — was ich jetzt gern tun möchte —,
hier vorgestellt haben, war so einseitig und strotzte so von Halbwahrheiten, daß man das nicht so stehenlassen kann. Ich möchte nur zwei oder drei Punkte aufgreifen.Sie haben unsere Nahrungsmittel angesprochen und gesagt, sie seien vielleicht nicht mehr so gesund, wie man sich das vorstellt. — Es ist nachweisbar, daß es noch nie in der Geschichte der Menschheit so viele qualitativ hochwertige Nahrungsmittel, eine so große Vielseitigkeit an hygienisch einwandfreien und gesunden und für die Verbraucher preiswerten Nahrungsmittel gegeben hat wie heute.
Lieber Herr Kollege Tappe, wenn Sie sagen, Menschen wurden Opfer der Natur, dann ist das richtig. Ich wohne an der Nordseeküste und kann das selber bestätigen. Dann haben Sie gesagt: Heute sind Menschen zum Teil Feinde der Natur. — Das mag ja sein. Ich will Ihnen jedoch als Bauer aus meiner Erfahrung heraus sagen: Wenn Sie einen landwirtschaftlichen Betrieb erfolgreich führen wollen, wenn Sie in all den Jahren eine gute Ernte haben wollen, dann geht das nur mit der Natur und nie gegen die Natur.
Sie haben auch gesagt — das soll auch das letzte sein —, daß an den Hochschulen und Universitäten Einseitigkeit von Forschung und Lehre herrscht. — Das sollten Sie dann eigentlich auch beweisen müssen. Es kann doch wohl nicht so sein, daß sich Forschung und Lehre darin ausdrückt, daß Professoren und Studenten private Felder der KWS, auf denen Versuche mit Zuckerrüben und Kartoffeln stattfinden, besetzen, wie es in Einbeck und Northeim über sechs Wochen hinweg geschehen ist. Ich muß Ihnen sagen, das hat nichts mit Freiheit von Forschung und Lehre zu tun, sondern das, was dort verfochten wurde, war schon eher Ideologie. Das möchte ich nicht gern an unseren Hochschulen haben.Wir müssen uns mit dem Problem der Gentechnik, gerade im Bereich der Landwirtschaft, auseinandersetzen. Das ist überhaupt keine Frage. Ich muß jedoch auch feststellen: Wir haben in Deutschland — der Versuch in Northeim und Einbeck ist nach einem sehr langen Verfahren genehmigt worden — in diesem Bereich nur drei genehmigte Versuche. In Belgien allein gibt es über 50 Versuche. Das müssen wir auch sehen, wenn wir vom Standort Deutschland und der Qualität von Lehre und Forschung reden. Das muß man dann ein bißchen relativieren.
Das mag genügen.
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Günther BredehornIch freue mich und finde es gut, daß wir heute diese Debatte führen. Es ist nämlich an der Zeit, über die Möglichkeiten - von daher war die Anfrage auch in Ordnung und durchaus zu begrüßen — der flankierenden Maßnahmen der EG-Agrarreform zu diskutieren und damit auf europäischer Ebene auch neue agrarpolitische Schwerpunkte zu setzen.Daß die flankierenden Maßnahmen in der agrarpolitischen Diskussion bisher keine besondere Rolle spielen, mag daran liegen, daß zwei der drei von Brüssel vorgegebenen Maßnahmen — die Aufforstung und die Vorruhestandsregelung, bei uns FELEG genannt — bereits in nationales Recht umgesetzt sind und von unseren Landwirten gut angenommen werden. Die flankierende Maßnahme „umweltgerechtere landwirtschaftliche Produktion", die Anreize für eine umweltgerechtere Landbewirtschaftung schaffen soll, ist bei uns leider bisher nicht umgesetzt, auch deshalb nicht, weil sich Bund und Länder bisher nicht einigen konnten, aber auch sicherlich deshalb nicht, weil die dazu nötigen Finanzmittel bisher im Haushalt fehlen bzw. man nicht den Mut hatte — vielleicht auch keine Mehrheiten —, neue Schwerpunkte zu setzen.Die notwendigen Einsparbeträge, die selbstverständlich auch im Haushalt des Bundeslandwirtschaftsministeriums erbracht werden müssen, gingen leider überwiegend zu Lasten der Gemeinschaftsaufgabe. Der Plafond der Gemeinschaftsaufgabe wird weiter heruntergezogen, und gleichzeitig werden in den Aufgabenkatalog neue Aufgaben hineingeschoben. Damit steigt natürlich der Druck im Kessel.Wenn Bundeslandwirtschaftsminister Jochen Borchert — völlig zu Recht und von uns voll unterstützt — die Förderung wettbewerbsfähiger, marktorientierter landwirtschaftlicher Betriebe als ein agrarpolitisches Ziel herausstellt, so kann das kaum gelingen, wenn die finanziellen Engpässe und die Überhänge an Förderanträgen laufend zunehmen.Vor diesem Hintergrund ist eine erfolgreiche Umsetzung der flankierenden Maßnahme „extensive Agrarproduktion" kaum möglich. Das bedaure ich.Ich meine auch, es ist agrarpolitisch unvernünftig, die bestehenden verschiedenen Gießkannenmaßnahmen zu heiligen Kühen zu erklären und sich den Spielraum für eine gezielte Agraranpassungspolitik auf diese Weise einzuengen.
Es wird auf Dauer nicht alles möglich sein. Wir können nicht auf der einen Seite die Ausgaben für eine sinnvolle und notwendige Agrarsozialpolitik maximieren, gleichzeitig die Gießkannenhilfen auf hohem Niveau halten und entwicklungsfähige Betriebe durch Investitionshilfen fördern.
Unsere Strukturdefizite im EG-Vergleich sind nicht wegzudiskutieren. Wir sollten nicht — auch nicht vor einer langen Serie wichtiger Wahlen — den Eindruck erwecken, wir könnten mit der Aufrechterhaltung zahlreicher Einkommenstransfers die weitere Anpassung der Landwirtschaft verhindern.
Kollege Bredehorn, es gibt zwei Zwischenfragenwünsche, nämlich vom Kollegen Kastning und vom Kollegen Jan Oostergetelo. Sie lassen sie zu?
Bitte. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Wunderbar.
Herr Kollege Bredehorn, da Sie wissen, daß ich einige Ihrer gedanklichen Ansätze sehr schätze, gerade was Sie soeben ausgeführt haben, frage ich Sie: Sehen Sie in absehbarer Zeit eine Chance, diese Denkansätze, die Sie vorgetragen haben, auch einmal innerhalb der Koalition mehrheitsfähig zu machen?
Darüber diskutieren wir in der Koalition. Ich gehe davon aus, daß die Entwicklung, die auf uns zukommt, einfach dazu zwingen wird, hier auch zu neuen Ansätzen zu kommen.
Nun Kollege Oostergetelo.
Herr Kollege, ich denke, Sie wissen als Bauer genausogut wie ich, daß die neue Agrarpolitik Wirkung zeigt, egal, wie ich sie einschätze. Ob ich dies positiv oder negativ sehe, sie zeigt Wirkung. Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Der Traum, man könne bei hohen Preisen weniger produzieren, ist ausgeträumt. Aber Sie haben zu Recht gesagt, daß wir die begleitenden Maßnahmen nicht umgesetzt haben.
Nun tragen Sie diese Regierung mit. Was können wir denn tun — es soll an uns nicht liegen —, um die begleitenden Maßnahmen überhaupt zu finanzieren, wenn wir die Gemeinschaftsaufgabe — wie Sie zu Recht gesagt haben — an allen Ecken und Enden plündern? Dann müssen wir doch auch bereit sein, irgendwelche Titel zu streichen, damit wir hier Luft bekommen.
Schönen Dank für die Frage, Herr Kollege Oostergetelo. Ich werde auf einiges davon gleich noch eingehen. Aber eines möchte ich Ihnen vorweg sagen: Von den begleitenden, von den flankierenden Maßnahmen haben wir bereits — das ist durchaus sehr positiv zu sehen, auch mit Blick auf Europa — zwei umgesetzt. Das Aufforstungsprogramm läuft, ebenso das Vorruhestandsprogramm. Aber ich habe hier ja durchaus kritisch angemerkt, daß wir uns hier — auch mit den Ländern — noch zusammenraufen müssen.
Die Länder sind da auch gefordert. Es geht nur mit den Ländern; wir sind dabei.
Ich habe natürlich auch auf das Manko der knappen Mittel hingewiesen. Hier müssen wir dann in Zukunft neue Schwerpunkte setzen, wenn wir es denn wollen.
Herr Kollege Bredehorn, lassen Sie auch noch eine Zwischenfrage aus Ihrer eigenen Fraktion zu?
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16044 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Bitte.
Herr Kollege Bredehorn, würden Sie mir beipflichten, daß man angesichts der finanziellen Situation, in der sich die Landwirtschaft derzeit befindet, über Streichungen von Fördermaßnahmen aktuell nicht reden darf?
Ich wette, er pflichtet Ihnen bei.
Ich habe ja ganz deutlich gesagt, daß wir auch im Bereich Agrarhaushalt einige schmerzliche Kürzungen vornehmen mußten. Trotzdem bin ich der Meinung, wir müssen die Diskussion weiterführen, um die knapper werdenden Mittel noch optimaler zugunsten unserer betroffenen Landwirte einzusetzen.
Meine Damen und Herren, mit flankierenden Maßnahmen wollen wir auch einen geordneten und sozialverträglichen Übergang ermöglichen. Mit flankierenden Maßnahmen können wir Strukturbrüche, Existenz- und Vermögensverluste vermeiden.
Flankierende Maßnahmen sollen Umorientierung bewerkstelligen und Neubeginn erleichtern. Die flankierenden Maßnahmen liegen an der Nahtstelle zwischen dem derzeitigen Zustand und einem Ziel, das wir erreichen wollen. Ein vorrangiges Ziel muß dabei sein, daß unsere Landwirtschaftsbetriebe wettbewerbsfähig bleiben oder werden.
Bundeslandwirtschaftsminister Borchert weist immer wieder darauf hin, wo wir bereits Marktanteilverluste hinnehmen mußten und wo uns dies künftig droht — und dies vor dem Hintergrund, daß der Standortwettbewerb zwischen den Agrarregionen der EG an Härte zunimmt. Hinzu kommt, daß sich die EG in einer Erweiterungsphase befindet und zusätzlich die Staaten Mittel- und Osteuropas auf unseren kaufkräftigen Markt drängen. Auch die klassischen Agrarexportstaaten aus Übersee werden nicht aufhören, die Festung Europa zu belagern. Der Wettbewerb bei der Produktion von Agrarrohstoffen wird weiter an Intensität zunehmen. Hierfür müssen wir uns mit vernünftigen Maßnahmen fit machen; denn wir sind es, die hier über weite Strecken Nachholbedarf haben.
Die flankierenden Maßnahmen müssen in Zukunft ein stärkeres agrarpolitisches Gewicht erhalten. Darüber, glaube ich, sind wir uns einig. Wenn die Brüsseler Vorgaben für eine umweltgerechtere Landwirtschaft vernünftig umgesetzt werden, können sie durchaus in die richtige Richtung wirken und neue Chancen ermöglichen. Wir müssen aber, meine ich, mehr tun, als dort vorgesehen ist, wenn wir zu vernünftigen Rahmenbedingungen für eine wettbewerbsfähige, extensive Landwirtschaft in Gegenden kommen wollen, die nicht die besten natürlichen Voraussetzungen haben. Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit werden sich dort nur ergeben, wenn sich der angemessene Einkommensanspruch auf größeren Einheiten befriedigen läßt. Dazu gilt es, z. B. die rechtlichen Hemmnisse des Bodenrechts abzubauen.
Aber auch neue Ansätze für die strukturelle Entwicklung können sinnvoll sein. Ich möchte nicht so weit gehen wie der Bonner Agrarprofessor Wolffram, der kürzlich sagte, von den 130 Millionen ha landwirtschaftlicher Nutzfläche der EG müßten 15 Millionen ha auf dem Wege freiwilliger Betriebsstillegung aus der Produktion ausscheiden, weil die EG-Agrarreform das Überschußproblem bislang nicht in den Griff bekommen habe. Das ist ja leider so.
Wie schon gesagt, braucht man nicht — und will ich nicht — so weit gehen, wie Professor Wolffram es tut. Aber das Problem müssen wir lösen. Hierbei bin ich für eine möglichst breitgefächerte Vielfalt von Maßnahmen, die den Bedürfnissen der Landwirte in Europa, die sich anpassen wollen, entsprechen. Wir sollten also alle vernünftigen Optionen eröffnen und sie EG-weit anbieten.
Die flächengebundenen Einkommensübertragungen erweisen sich, weil sie eben doch Produktionswirkungen haben, als zu wenig wirksam. Ich meine, wir müssen einmal diskutieren, ob nicht direkte personengebundene Einkommensübertragungen als weitere Option hinzukommen sollten. Denn mehr als die Hälfte der rund acht Millionen EG-Bauern ist älter als 55 Jahre. Drei Millionen von ihnen bewirtschaften weniger als 5 ha. Viele von ihnen würden lieber heute als morgen aufhören, wenn sie denn eine Alternative hätten. Wir sollten ihnen das Ausscheiden erleichtern und ein Angebot machen. Ich stelle mir dies als eine Weiterentwicklung der Vorruhestandsregelung auf europäischer Ebene vor. Den noch wirtschaftenden Betriebsleitern macht man ein entsprechendes Angebot. Es könnte als fairer Einkommensausgleich ausgezahlt und auf einen bestimmten Zeitraum begrenzt werden. Eine Kapitalisierung des Anspruchs sollte möglich sein.
Mit diesem Konzept kann man denen, die nicht mehr weiter wirtschaften wollen, den Ausstieg aus der Landwirtschaft erleichtern. Für andere erweitert sich der unternehmerische Spielraum. Als Finanzierungsquellen hierfür sehe ich die dann geringer werdenden Marktordnungsausgaben, den Bereich der Exportsubventionen oder die Ausgleichszulage, die man dann in eine gezielte strukturelle Hilfe umwandeln könnte.
Meine Damen und Herren, ich weiß sehr wohl: Diese Vorschläge bergen durchaus Sprengstoff; aber die ungelösten Probleme der EG-Agrarpolitik sind meines Erachtens viel brisanter. Als Liberaler möchte ich lieber nach neuen Wegen suchen und neue Wege eröffnen, als mich hinter ideologischen Scheuklappen zu verstecken. Ich hoffe und wünsche, daß wir uns dieser Aufgabe gemeinsam stellen.
Ich danke Ihnen.
Der Abgeordnete Dr. Fritz Schumann hat das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD zur Wirkung der flankierenden Maßnahmen der EG-Agrarreform wird deutlich, daß es bisher sehr wenig Faßbares gibt — darüber waren
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Dr. Fritz Schumann
sich einige der Vorredner einig —, sieht man davon ab, daß es eine Reihe von Gesetzen und Regelungen in der Bundesrepublik bereits vor der EG-Agrarreform gab, die in diese Richtung wirken, wie z. B. das Gesetz zur Förderung der Einstellung der landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit oder Regelungen zur Aufforstung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe.Die EG-Agrarreform wirkt aber schon seit diesem Jahr. Es ist nicht zu verkennen, daß sich die Landwirte darauf eingestellt haben. Insbesondere in den neuen Bundesländern — das kann ich hier sagen — wurde sehr schnell und sehr konsequent auf die veränderten ökonomischen Bedingungen reagiert. So sind es weniger die flankierenden Maßnahmen zur EG-Agrarreform, die aber bitter notwendig wären, als die gesunkenen Preise für die Produkte selbst, die eine Extensivierung der Produktion herbeiführen. Das ist auch überhaupt nicht zu beklagen. Vielmehr war es gewollt, daß mit der Preisreduzierung auch eine Extensivierung einhergeht. Nur sollten die flankierenden Maßnahmen eben diesen rein ökonomischen Prozeß, der sich gegenwärtig vollzieht, begleiten und vorrangig der umweltgerechten, nach Möglichkeit flächendeckenden und landschaftserhaltenden Produktion Rechnung tragen. Eben das passiert im Moment nicht.Daß die im Verhältnis zum Vorjahr drastisch gesunkenen Erzeugerpreise für Getreide, Ölfrüchte und Eiweißfrüchte auch eine Reduzierung von Aufwendungen insbesondere für Dünge- und Pflanzenschutzmittel nach sich ziehen, ist im Interesse der umweltgerechten Produktion sehr zu begrüßen und zeigt einmal mehr, daß Bauern auch rechnen können.Ich sehe jedoch auch Gefahren in dieser Entwicklung. Die Annäherung der Erzeugerpreise in der EG an die Weltmarktpreise wird trotz Ausgleichsleistungen den Druck darauf erhöhen, nur noch dort zu produzieren, wo es nach den natürlichen Bedingungen am besten möglich ist. Das ist zwar ökonomisch vielleicht sinnvoll, entspricht aber nicht dem Ziel der Erhaltung der Kulturlandschaft und birgt für mich ein weiteres Problem in sich: Ökologisch sinnvoll Nahrungsmittel zu produzieren kann sich nicht allein darin erschöpfen, Dünge- und Pflanzenschutzmittel zu reduzieren, sondern muß immer auch eine Produktion in regionalen Kreisläufen sein. Gerade in der Nahrungsmittelproduktion, aber auch in anderen Wirtschaftszweigen sind regionale Kreisläufe von Produktion und Verbrauch immer mehr unabdingbar.Der gegenwärtige Zustand, daß durch halb Europa Grundnahrungsmittel hin- und hergefahren werden, ist in vielerlei Hinsicht nicht mehr zu verantworten. Das schließt natürlich überhaupt nicht aus, daß es regionale Besonderheiten gibt, deren Produktion ohnehin auf das ganze Land oder auch in Europa verteilt werden kann. So wächst zum Glück nicht überall Wein und Braugerste. Ebenso gibt es bei Gemüse und Saatgut Spezialregionen, in denen nur bestimmte Früchte wachsen. Aber Fleisch, Brot, Butter und Milch lassen sich nahezu in jeder Region erzeugen.Zur Entwicklung ländlicher Räume in ihrer Gesamtheit soll ein „Konzept zur Weiterentwicklung und Förderung ländlicher Räume" durch die Bundesregierung noch in dieser Legislaturperiode entsprechend der Antwort auf die Frage 10 der Großen Anfrage vorgelegt werden. Ich erwarte, daß darin insbesondere für die inzwischen strukturarmen bis fast strukturlosen Gebiete in ländlichen Räumen der fünf neuen Länder, besonders in Mecklenburg-Vorpommern, in Brandenburg sowie in Südthüringen, Vorschläge enthalten sind, die den Erhalt der Kulturlandschaft einschließen, einer Kulturlandschaft, in der auch produziert wird und in der es sich auch für junge Menschen wieder zu leben lohnt.Eine Alternative dazu bietet sicher auch die Produktion nachwachsender Rohstoffe, die wir viel stärker als bisher forschungsseitig, produktionsseitig und überhaupt in unsere Förderprogramme einschließen müssen. Wir waren mit einer kleinen Delegation im Sommer dieses Jahres in Frankreich und konnten uns davon überzeugen, daß es dort kaum stillgelegte Flächen gibt. Denn in Frankreich ist per Gesetz z. B. die Beimischung von Bioalkohol oder Rapsmethylester zum Treibstoff geregelt, ebenso eine entsprechende Steuerbefreiung. So werden Weizen oder Raps auf Flächen angebaut, die eigentlich stillgelegt werden sollten. Genau das fehlt uns. Es gibt offenbar sehr große Schwierigkeiten, das wirklich durchzusetzen. Das wäre eine Initiative wert.Es geht nicht nur um die Land- und Ernährungswirtschaft. Vielmehr müßten wir die Gesamtentwicklung auf dem Land als komplexes Programm von Wirtschafts-, Landwirtschafts- und Sozialentwicklung betrachten. Mit der gegenwärtigen Verfahrensweise, ländliche Räume als Anhängsel der Agrar- und Raumordnungspolitik zu betrachten, ist dieses Problem sicher nicht zu lösen.Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung. Die Antwort zu Frage 28 hinsichtlich der Übertragung des Gesetzes zur Förderung der Einstellung der landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit auf die neuen Bundesländer ist ja mit der Agrarsozialreform, wie angekündigt, umgesetzt worden.Unbefriedigend bleibt dennoch, daß es Regelungen zum vorzeitigen Ruhestand von Gesellschaftern in Genossenschaften und anderen juristischen Personen nicht gibt. Gerade in Genossenschaften, in denen Eigentümer und Produzenten in hohem Maße identisch sind und ein immenser Struktur- und Formwandel in den nächsten Jahren ebenso ansteht wie in der übrigen Landwirtschaft, wäre eine diesbezügliche Regelung sehr wünschenswert. Mit dem Wegfall der Vorruhestandsregelung ergeben sich eben erneut erhebliche soziale Probleme, die nicht bewältigt sind.Hinweisen möchte ich auch noch darauf, daß es einer dringenden Regelung der Basisflächen bedarf. Das Vertrauen der Landwirte in die Politik wird in erheblichem Maße gestört, wenn es hier zu keiner Regelung kommt.Danke.
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16046 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Das Wort erteile ich nun dem Abgeordneten Rudolf Krause .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Drei flankierende Maßnahmen stehen zur Diskussion.
Erstens: Vorruhestand und Entwicklung des ländlichen Raumes. Ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben ohne Hofnachfolge führt zum Aussterben des Bauernstandes. Ziel verantwortlicher nationaler Politik muß aber die Erhaltung unseres Bauernstandes sein. Deutschland ohne Bauern wäre ein anderes Land.
Zur Entwicklung des ländlichen Raumes: Für keine ländliche Region gibt es konkrete Entwicklungspläne, die folgende Fragen beantworten: Was soll im ländlichen Raum produziert werden? Für welchen Markt? Zu welchen Kosten? Gegen welche nationale und internationale Konkurrenz? Es gibt nirgendwo solche regionalen Konzeptionen. Konzeptionslosigkeit aber ist für die Betroffenen Hoffnungslosigkeit.
Zweitens zur Aufforstung: Alle Industrielander haben eine Verantwortung für den Erhalt der Wälder auf unserem Planeten. Das heißt: keine Billigimporte aus Ländern, die in großem Maße Wälder zerstören, vor allem nicht aus solchen Flächen, die von Waldzerstörungen herrühren.
Schlußfolgerung muß also sein: auch kein deutsches Geld für globale Umweltzerstörer. Das muß das Ziel einer weltweiten Umweltpolitik sein.
Drittens: Grundsatzfragen ökologischer Landwirtschaft. Schutz des natürlichen Lebensraumes kann doch wohl nur weltweit gemeint sein. Nicht nur die Umwelt in Deutschland, sondern das globale Ökosystem muß geschützt werden.
Die deutsche Landwirtschaft darf dabei ökologisch nicht eigendiskriminiert werden. Was heißt das? Was in Deutschland verbraucht werden darf, muß auch in Deutschland produziert werden dürfen.
Nationale Regelungen haben den Verbraucher zu schützen und nicht einseitig den deutschen Produzenten zu diskriminieren. — Diese höhnischen Bemerkungen werden den badischen Bauern nicht befriedigen, der sich einer unlauteren Konkurrenz aus Frankreich gegenübersieht.
Es nützt der Umwelt auf diesem Planeten nicht, wenn streng reglementierte Produkte aus Deutschland vom internationalen und vom nationalen Markt verdrängt werden, wenn deutsche Standorte verlorengehen. Der Schutz der deutschen Standorte, der Schutz der deutschen Landwirtschaft ist immer noch der beste Beitrag zu einem globalen Umweltschutz.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Horst Sielaff.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Junghanns, Sie haben mit Ihrer Rede unseren Verdacht bestätigt:
Die Bundesregierung ist offensichtlich bei der ganzen EG-Agrarreform nur Zuschauer; wo Fehler gemacht worden sind, sind lediglich die Länder schuld.
Ich kann den Agrarministern in den neuen Bundesländern nur raten, Ihre Rede von heute sehr genau durchzulesen,
denn die Minister, Ihre Minister, kriegen von Ihnen die Schuld in die Schuhe geschoben.
Meine Damen und Herren, die flankierenden Maßnahmen der EG-Agrarreform sind für uns ein ganz wesentlicher Teil der überfällig gewesenen Agrarreform. Die Ziele dieser Reform begrüßen wir ausdrücklich, nämlich durch extensive Landwirtschaft und Produktionsverfahren und durch die Umwidmung von Flächen umweltbelastende Auswirkungen abzubauen bzw. zu verringern und gleichzeitig die unsinnige Überproduktion einzudämmen, um damit den Markt zu entlasten.Ebenso positiv bewerten wir die Förderung der Erstaufforstungen dort, wo sie sinnvoll sind, und die Möglichkeit für den Landwirt, den Übergang zum Vorruhestand leichter zu vollziehen.Mit unserer Großen Anfrage wollten wir auf die Bedeutung der flankierenden Maßnahmen hinweisen und die Umsetzung beschleunigen. Ich freue mich, Herr Bredehorn, daß Sie offensichtlich dies ja auch begrüßt haben, und wir hoffen, daß wir jetzt vielleicht doch einiges mehr in Gang setzen können.Auf der EG-Ebene wird durch die Reform die Möglichkeit eröffnet, Agrarstrukturpolitik und Agrarumweltpolitik institutionell zu verklammern. Diese gesellschafts- und umweltpolitisch wichtigen Ziele sind für uns ein zentraler Teil der EG-Agrarreform. Sie sollten auch durch den vielfachen bürokratischen Unsinn und die Schwerfälligkeit bei der Umsetzung nicht vermischt werden.Jetzt haben wir also mit dieser Reform und ihren flankierenden Maßnahmen die Möglichkeit, Agrarstrukturpolitik und Umweltpolitik miteinander zu verbinden. Leider wird diese Chance nicht voll genutzt.
Agrarstrukturpolitik ist für uns nämlich mehr als nur die Verbesserung der Produktions-, Arbeits- und Marktbedingungen landwirtschaftlicher Betriebe, so wichtig diese Voraussetzungen auch sind. Agrarstrukturpolitik muß mehr leisten. Wesentlich ist ihr Beitrag zum Schutz aller natürlichen Lebensgrundlagen und zur Sicherung und Entwicklung der Funktio-
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Horst Sielaffnen unserer ländlichen Räume. Hieran müssen die Landwirte arbeiten, und die Politik muß sie dazu in die Lage versetzen und ihnen langfristige und verläßliche Rahmenbedingungen vorgeben.
Wie es mit der Umsetzung dieser Agrarreform, die ja auch der Weg zu einer umweltgerechten Agrarpolitik sein soll, aussieht, haben wir beispielsweise gestern in der gemeinsamen Sitzung mit dem Agrarausschuß des Europäischen Parlaments wieder deutlich erfahren. Davon, daß wir von harmonisierten Umweltschutzmaßnahmen sprechen können, sind wir, glaube ich, weit entfernt.Ich nenne einige Beispiele. Ich erinnere daran, daß in Frankreich immer noch die Quecksilberbeizung bei Getreide erlaubt ist, die bei uns der Vergangenheit angehört, weil verboten.
Ich erinnere daran, daß wir eine Richtlinie zum Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln von 1991 haben. 1993 ist sie immer noch nicht umgesetzt.Ich denke an den Bereich Pflanzenbehandlungsmittel, in dem die gesetzlichen Voraussetzungen in den Mitgliedstaaten mehr als unterschiedlich sind.
Ich habe Verständnis dafür, daß die Landwirte insbesondere in den Grenzbereichen mit Recht über diese Entwicklung verärgert sind.
— Aber da im besonderen Maße, liebe Kollegin, weil dort natürlich erkennbar ist, daß man mit dem Lastwagen das, was bei uns verboten ist, herüberfahren kann. Ich meine, niemand kann dies wollen.
Meine Damen und Herren, Agrarumweltpolitik darf sich auch nicht auf eng begrenzte Gebiete allein beschränken. Sie muß mit Hilfe der flankierenden Maßnahmen flächendeckend ausgerichtet sein. Insofern ist es falsch, wenn hier von der CDU gesagt wird, die Länder sollten das allein machen.
Ich meine, daß hier der Bund nach wie vor in der Verantwortung steht.Abgesehen von den in der Gemeinschaftsaufgabe bereits verankerten Aufforstungsmöglichkeiten gibt es bis heute keinen Beschluß zur Umsetzung der übrigen flankierenden Maßnahmen. Hier hat der Agrarminister seine Hausaufgaben noch nicht gemacht. Hier könnte die Bundesregierung effektiv dazu beitragen, die Unsicherheit bei den Landwirten nicht noch größer werden zu lassen.
Der siebente Entwurf zur Umsetzung der flankierenden Maßnahmen liegt dafür auf dem Tisch. Seit über einem Jahr wird verhandelt, angesetzte Termine werden kurzfristig abgesetzt oder nicht eingehalten. Die eingetretenen Verzögerungen bei der Umsetzung dieses Teils der EG-Agrarreform hat die Bundesregierung alleine zu verantworten.
Unstimmigkeiten zwischen dem Landwirtschaftsminister und dem Umweltminister, zwischen dem Landwirtschaftsminister und dem Finanzminister über die Ausrichtung und Ausgestaltung der Agrarumweltpolitik und die Finanzierungsmöglichkeiten sind die Ursachen dafür. Der tiefere Grund liegt jedoch in der Konzeptionslosigkeit und der Führungsschwäche dieser Bundesregierung.
Die Verzögerungen umfassen inzwischen eine ganze Vegetationsperiode und reihen sich in die Pannen und Peinlichkeiten des übrigen Brüsseler Geschäfts dieser Bundesregierung ein. Herr Bredehorn, ich nenne hier nur die verpaßte Absicherung landwirtschaftlicher Interessen beim Währungsbeschluß am 2. August dieses Jahres und die viel zu späte und undiplomatische Inangriffnahme und Behandlung der Basisflächenüberschreitung auf dem Brüsseler Parkett.
Wir hoffen, daß es dem Agrarminister gelingt, diese Fehlentscheidungen in Brüssel zu korrigieren. Wir wünschen ihm dazu Erfolg. Zu späterem Zeitpunkt wird Gelegenheit sein, über Art und Weise der Verhandlungen ausführlicher zu diskutieren.Dagegen werden Gießkannenförderungen — auch Herr Bredehorn hat das angesprochen — kaum angetastet, und zwar trotz grundlegender Änderungen in der agrarpolitischen Landschaft.
Die knappen Haushaltsmittel führen zu Einsparungen bei der Förderung von Investitionen zur Herstellung wettbewerbsfähiger Betriebe und lebenswerter Dörfer. Für die umwelt- und marktentlastenden flankierenden Maßnahmen steht praktisch keine müde Mark zur Verfügung. Die Bundesregierung will die Umwidmung bzw. die langfristige Stillegung von Ackerflächen für Zwecke des Umweltschutzes, die zugegebenermaßen teuer sind — wir haben es von Herrn Junghanns wieder gehört —, den Ländern überlassen und nicht in die Gemeinschaftsaufgabe aufnehmen.
Herr Abgeordneter Sielaff, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten? — Bitte sehr.
Herr Kollege Sielaff, würden Sie mir bitte aufzählen, welche Fördermaßnahmen Sie als Gießkannenförderung bezeichnen?
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16048 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Das darf aber nicht länger dauern als die ganze Redezeit von Herrn Sielaff.
Lieber Herr Kalb, ich habe das befürchtet. Wir haben vor wenigen Tagen darüber gesprochen. Wir meinen, daß wir überall dort herangehen sollten, wo Förderungen gegeben werden,
die nicht einkommensabhängig sind, nicht umweltgerecht sind und anderes mehr. Da können die soziostrukturellen Einkommensausgleichszahlungen genannt werden. Ich könnte weitere nennen, wenn mir der Präsident jetzt noch zehn Minuten zur Verfügung stellen würde.
Die Abgeordneten Bredehorn und Oostergetelo haben einen ähnlichen Wunsch und möchten eine Zwischenfrage stellen.
Aber nicht in diesem Jahr, Herr Heinrich, da sind sie nicht gestrichen. Sie streichen sie ab 1995. Das war ja das falsche Spiel, das Sie mit den Landwirten getrieben haben.
Herr Abgeordneter Sielaff, wenn Sie vielleicht erst die Frage hören und dann die Antwort geben. Bitte schön, Herr Abgeordneter Bredehorn.
Herr Kollege Sielaff, Sie kritisieren hier so vehement die Bundesregierung, daß sie die flankierenden Maßnahmen zur extensiven Landbewirtschaftung nicht umsetzt. Sie wissen doch hoffentlich, daß das im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe nur zusammen mit den Ländern — im Rahmen des PLANAK — geschehen kann. Sehen Sie nicht auch, daß hier die Länder ihre Verantwortung wahrnehmen müssen?
Lieber Herr Bredehorn, Sie wollen doch jetzt nicht etwa auch bestätigen, daß diese „starke Bundesregierung" in der EG so schwach ist, daß sie ihre eigenen Vorstellungen in keinem Punkt durchsetzen kann? Ich meine, daß hier die größere Verantwortung, die die Bundesregierung hat, erkennbar sein muß. Natürlich muß man das auch im Einvernehmen mit den Ländern machen. Da gebe ich Ihnen recht.
Auch der Abgeordnete Oostergetelo ist noch wissensdurstig.
Herr Kollege Sielaff, muß man nicht für diese Regierung Verständnis haben? Immerhin muß man doch akzeptieren, daß sie alles das eingeführt hat, was sie zehn Jahre lang bekämpft hatte.
Da die Aufzählung zu lange dauert, sage ich nur ein Beispiel: Könnten Sie sich vorstellen, daß die Subventionierung der Milchkontrolle durchaus entfallen kann, wenn die Kuh schon bei 10 0001 ist?
Ich kann, lieber Herr Kollege Jan Oostergetelo, dem nur zustimmen. Lernfähigkeit bei der Bundesregierung und insbesondere, wie ich heute gehört habe, auch bei Herrn Bredehorn kann man nur begrüßen. Insofern hoffe ich, daß sie unsere Vorstellungen auch in anderen Bereichen eines Tages intensiv unterstützen werden — vielleicht in einer anderen Koalition, als sie heute hier in Bonn regiert.
Ich möchte zum Abschluß daran erinnern, daß das ganze Verhalten dieser Bundesregierung daran zu messen ist, daß sie in den Koalitionsvereinbarungen für die zwölfte, also für die laufende Legislaturperiode angekündigt hat — so wieder geschehen bei der Beantwortung der Großen Anfrage, ich zitiere —, ein „integriertes Konzept zur Weiterentwicklung und zur Förderung des ländlichen Raumes" vorzulegen. Wir warten immer noch auf dieses Konzept.
Wir sind gespannt, wann Sie es vorlegen.
Zu fragen ist, was ein solches Konzept überhaupt noch soll, wenn es nicht jetzt, bei völlig geänderten Rahmenbedingungen für die Landwirtschaft, vorliegt.
Ich fürchte, dieses Konzept wird erst am Ende dieser Legislaturperiode vorgelegt werden und wird dann lediglich für Wahlkampfzwecke und für unverbindliche Absichtserklärungen verwendet werden.
Nur, wir alle sollten wissen, daß die Landwirte nicht mehr länger auf klare Konzepte warten können. Helfen Sie endlich mit, daß die Bauern in unserem Lande wissen, woran sie sind. Sie müssen wissen, daß diejenigen, die marktgerecht produzieren und mutig an neue Aufgaben herangehen, eine Chance haben. Sie müssen wissen, was sie zu erwarten haben.
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
Zu einer kurzen Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Georg Gallus das Wort.
Herr Kollege Tappe, Sie haben in einem Rundumschlag die Agrarpolitik so dargestellt, wie es meines Erachtens überhaupt nicht realistisch ist.Ich glaube, Sie wollen die Arbeitslosenprobleme in Deutschland dadurch lösen, daß die Landwirtschaft wieder in Hand- und Spanndienste zurückgeführt wird und daß die Ausgaben für Nahrungsmittel um
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Georg Gallus50 % und damit so weit gesenkt werden, wie sie vor 40, 50, 60 Jahren gewesen sind.Sie müssen doch der Ehrlichkeit halber zugeben, daß der Strukturwandel in der Landwirtschaft nicht von der Landwirtschaft selber ausgegangen ist, sondern von den höheren Löhnen in der Industrie, wodurch auf der anderen Seite eine Lawine in Gang gesetzt worden ist.Ich kann nur vor einem warnen: Auch wenn wir in Europa im Augenblick Überschüsse haben, werden wir bei einer wachsenden Menschheit und bei Erhaltung der Schöpfung — da, wo Wildtiere sind, können nämlich keine Nahrungsmittel für die Menschen wachsen — sogar in den Entwicklungsländern, wo ich gerade gewesen bin, eine Intensivierung auf den Flächen brauchen, die heute zur Verfügung stehen. Sonst entsteht die Situation, daß kein Regenwald und überhaupt nur noch wenig Wald auf der Welt übrigbleiben.Man sollte die Dinge nicht so einseitig darstellen, wie Sie das getan haben.
Das Wort erteile ich nunmehr dem Abgeordneten Albert Deß.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mich gerade darüber gefreut, daß der Kollege Sielaff festgestellt hat, wir hätten eine starke Bundesregierung. Ich hoffe, daß er damit in seiner Partei keine Probleme bekommt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in dem heute zur Debatte stehenden Antrag der SPD geht es darum, daß wir feststellen, wie die Agrarpolitik der Bundesregierung im Bereich der ergänzenden Maßnahmen der EG ausschaut. Der SPD-Antrag geht in seiner Argumentation in weiten Bereichen an der Realität vorbei.Beim Vorruhestand kann die bisherige Regelung, die sich bewährt hat, in den alten Bundesländern weiterlaufen und nach einer Übergangszeit auf die neuen Bundesländer ausgedehnt werden. Die Produktionsaufgaberegelung hat bisher einen wichtigen Beitrag zur sozialen Abfederung des Strukturwandels geleistet. Die Aufforstung wird seit dem 1. Januar 1993 in verbesserter Form angeboten.Was die Umsetzung der Förderung von noch umweltgerechteren und den natürlichen Lebensraum schützenden landwirtschaftlichen Produktionsverfahren anbelangt, gibt es zwei Anhaltspunkte. Grundsätzlich sind hierfür die Bundesländer zuständig, weil Umwelt- und Naturschutz nach unserer Verfassung zum Aufgabenbereich der Lander gehören. Daß hier entsprechende Rahmenbedingungen vorhanden sind, zeigt die Tatsache, daß in verschiedenen Bundesländern bereits eigene Länderprogramme angeboten werden.Aber auch der Bund leistet seinen Beitrag im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe. Die Voraussetzungen für eine finanzielle Beteiligung des Bundes an der Umsetzung der flankierenden Maßnahme einer umweltverträglicheren landwirtschaftlichen Produktionsweise sind weitgehend geschaffen. Der Förderungskatalog des Gesetzes über die von Bund und Ländern durchgeführte Gemeinschaftsaufgabe ist um extensive Produktionsweisen und ökologische Anbauverfahren erweitert worden. Im Rahmen verfügbarer Haushaltsmittel müssen hier Prioritäten gesetzt werden. Entscheidend ist, einen Anfang zu setzen, damit die Landwirte Fördermittel vor allem für extensive Acker- und Grünlandnutzung in Anspruch nehmen können.
— Ich komme darauf, Herr Kollege Sielaff.Wenn Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD, feststellen, daß die Umsetzung der flankierenden Maßnahmen in nationales Recht zu zögerlich angepackt wird, so meinen Sie anscheinend vor allem die Bundesländer, in denen die SPD in der Regierungsverantwortung steht.In Bayern werden in nächster Zeit bereits Gelder an meine Berufskollegen ausbezahlt, die sich an Extensivierungsmaßnahmen im heurigen Jahr beteiligt haben.
Das neue bayerische Kulturlandschaftsprogramm, das flächendeckend angeboten wird — das haben Sie ja gefordert —, hat die EG-Kommission am 22. September 1993 genehmigt. Damit hat der Freistaat Bayern als eines der ersten Länder die Voraussetzungen für eine landesweite Umsetzung der EG-Vorgaben für eine noch umweltgerechtere Landwirtschaft geschaffen.
— Nein, nicht früher als der Bundestag.Beim Agrarreformpaket ist beschlossen worden, daß der Mitfinanzierungssatz der EG für Förderprogramme zur noch umweltgerechteren Landbewirtschaftung 50 % beträgt. Ich bedanke mich bei Ignaz Kiechle, daß er dies mit durchgesetzt hat.
Dies ist meiner Ansicht nach eine gute Voraussetzung dafür, daß die Agrarreform in den Mitgliedsländern umgesetzt werden kann.Die EG-Mitfinanzierung für das neue bayerische Kulturlandschaftsprogramm ist gesichert. Diese Zusage konnte der bayerische Landwirtschaftsminister Reinhold Bocklet deshalb erreichen, weil der bayerische Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber seine Zusage eingehalten hat, daß die freiwerdenden Landesmittel aus dem soziostrukturellen Einkommensausgleich erhalten und einkommenswirksam für die bayerische Landwirtschaft eingesetzt werden. Damit wurde eine solide finanzielle Basis für das neue Programm geschaffen.
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Albert DeßDas rot-grün regierte Hessen z. B. tut sich natürlich schwer, freiwerdende Landesmittel aus dem soziostrukturellen Einkommensausgleich zu verwenden. Wer den Länderanteil an seine Landwirte nicht bezahlt hat, hat natürlich auch keine freiwerdenden Mittel. Wir diskutieren hier oft die Ungleichbehandlung der Landwirtschaft innerhalb der Europäischen Gemeinschaft.
Ich meine, wir sollten hier einmal über die Ungleichbehandlung der Landwirte in den einzelnen Bundesländern diskutieren.
Die SPD sollte für eine landwirtschaftsfreundliche Politik dort eintreten, wo sie in der Regierungsverantwortung steht, statt im Deutschen Bundestag Scheinanträge zu stellen.Durch das von der Bayerischen Staatsregierung — merken Sie bitte auf — angebotene Kulturlandschaftsprogramm erhalten die Landwirte, die sich freiwillig am bayerischen Programm beteiligen, in den nächsten fünf Jahren über eine Milliarde DM an Ausgleichsleistungen. Über 500 Millionen DM kommen aus Brüssel und über 500 Millionen DM stellt das Land Bayern zur Verfügung.Beteiligen kann sich fast jeder bayerische Landwirt, der bestimmte Voraussetzungen erfüllt. Er muß die Fläche bereits seit mindestens einem Jahr selbst bewirtschaften. Diese Frist sollte meiner Ansicht nach verlängert werden. Der Antragsteller muß sich verpflichten, den Betrieb oder die eingezogenen Flächen mindestens fünf Jahre nach den vorgeschriebenen Kriterien zu bewirtschaften.Die Förderung dient im wesentlichen dem noch besseren Schutz der Umwelt sowie der Erhaltung, der Pflege und der Gestaltung der Kulturlandschaft. Gefördert werden die Umstellung und die Beibehaltung extensiverer Bewirtschaftungsweisen in der Landwirtschaft. Hierunter fallen insbesondere die Förderung der ökologischen Landbewirtschaftung, der extensiven Grünlandnutzungen und extensiven Ackernutzungen.Mit dem bayerischen Programm wird auch eine Grundförderung für umweltschonendere Landbewirtschaftungsmethoden und landespflegerische Leistungen angeboten. Diese Grundförderung können Betriebe erhalten, die sich verpflichten, kein Grünland in Ackerland umzuwandeln, keinen höheren Viehbesatz als 2,5 GV je Hektar zu halten und die Empfehlungen des Programms „Umweltgerechter Pflanzenbau in Bayern" im Betrieb umzusetzen.Mit diesem Angebot hat Bayern den Einstieg in die Honorierung der landespflegerischen Leistungen unserer Landwirtschaft geschaffen. In anderen Bundesländern, wo Sie in der Verantwortung sind, ist hier noch sehr wenig vorhanden.Das bayerische Kulturlandschaftprogramm im Rahmen der von der EG beschlossenen flankierenden Maßnahmen ist ein Angebot an die bayerischen Landwirte. Jeder Bauer kann selbst entscheiden, ob das Angebot für Ihn interessant ist. Wie ich von einzelnen Ämtern für Landwirtschaft erfahren habe, findet das Programm sehr starken Anklang, vor allem auch deshalb, weil das bayerische Angebot viele Kombinationsmöglichkeiten zuläßt. Es ist sozusagen auf die Praxis zugeschnitten.Wenn die SPD in ihrer Anfrage wissen will, ob mit den flankierenden Maßnahmen eine flächendekkende Landbewirtschaftung eher durchzusetzen ist, muß ich darauf hinweisen, daß man eine flächendekkende Landbewirtschaftung nicht durchzusetzen braucht, denn die haben wir Gott sei Dank zur Zeit noch. Es geht vielmehr darum, diese zu erhalten. Durch den Preisverfall für landwirtschaftliche Produkte ist diese flächendeckende Landbewirtschaftung mehr gefährdet. Die flankierenden Maßnahmen können nur auf Teilflächen einen direkten Einfluß haben.Wenn die SPD fordert, daß Mittel im Bundesagrarhaushalt zugunsten der flankierenden Maßnahmen umgeschichtet werden, weiß sie anscheinend nicht, daß ein großer Teil dieser Mittel gebunden ist.Die eingeplanten Finanzmittel sind entweder zu 80 % für bereits früher genehmigte Zinsverbilligungsmaßnahmen notwendig oder zu 100 % für die Ausgleichszulage in von der Natur benachteiligten Gebieten. An dieser Ausgleichszulage darf nicht gerüttelt werden. In den benachteiligten Gebieten gibt es einen hohen Dauergrünland- und Ackerfutteranteil. Der Landwirt erhält für das Dauergrünland und einen großen Teil der Ackerfutterflächen aus Brüssel im Rahmen der Agrarreform eben keine Ausgleichszahlungen. Deshalb muß die Ausgleichszulage im benachteiligten Gebiet erhalten bleiben, gerade weil durch diese Ausgleichszahlungen die flächendekkende Landbewirtschaftung in diesen Gebieten erhalten bleibt.Im SPD-Antrag wird die Forderung erhoben, daß sowohl die Investitionen zur Schaffung wettbewerbsfähiger Betriebe erhalten und zusätzlich vorn Bund entsprechende Mittel für die flankierenden Maßnahmen bereitgestellt werden. Auch die SPD weiß, daß im Bundeshaushalt gespart werden muß und die eingesparten Mittel des soziostrukturellen Einkommensausgleichs längerfristig vorrangig im Agrarsozialbereich eingesetzt werden solle. Ihr Antrag, meine Kolleginnen und Kollegen, ist in diesem Bereich — um mich vorsichtig auszudrücken — unsolide. Nicht das Wünschenswerte ist zur Zeit finanzierbar, sondern nur das unbedingt Erforderliche.Ich finde es positiv, daß der Bund nur einen Rahmen vorgibt, innerhalb dessen sich die Länder nach ihren Bedürfnissen das aussuchen können, was sie für richtig und sinnvoll erachten.
Die SPD befindet sich auf einem Irrweg, wenn sie glaubt, daß mit einer Extensivierung der Landwirtschaft eine flächendeckende Landbewirtschaftung erhalten werden kann. Die angebotenen Ausgleichszahlungen für extensivere landwirtschaftliche Wirtschaftsformen können eben nur flankierende Maßnahmen sein. Damit eine flächendeckende Landbewirtschaftung erhalten wird, ist es notwendig, daß bei den GATT-Verträgen ein entsprechender AuBen-
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Albert Deßschutz verankert werden kann und Produktionsalternativen neben der Nahrungsmittelerzeugung geschaffen werden.Hier wäre es meiner Ansicht nach notwendig, durch Umschichtungen im Bundeshaushalt zusätzliche Mittel für Anschubfinanzierungen im Bereich nachwachsende Rohstoffe zur Verfügung zu stellen. In meinem Landkreis wurde im Herbst ein Biomassekraftwerk mit 15 Megawatt Heizleistung in Betrieb genommen. Damit haben Landwirte bereits die Möglichkeit einer Produktionsalternative auf ihren Stillegungsflächen.Viele hoffnungsvolle Ansätze gibt es bei den nachwachsenden Rohstoffen. In Amerika werden die Zeitungsverleger demnächst einen großen Teil der Druckerschwärze auf Sojaölbasis verwenden. Bei Verpackungen werden entsorgungsfreundliche Produkte angeboten. In der Verlustölschmierung können Ole auf Biobasis einen Beitrag zum Umweltschutz leisten.Wir sollten gemeinsam darauf drängen, daß umweltfreundliche Produkte aus nachwachsenden Rohstoffen in den Markt eingeführt werden. Dies bringt der Landwirtschaft mehr als das, was die SPD mit ihrem Antrag heute fordert. Ich glaube, wir sollten ihn deshalb auch ablehnen.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Debatte. Ich lasse nunmehr über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/5990 abstimmen. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag der SPD? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei einer Enthaltung ist dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P. abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ...Strafrechtsänderungsgesetzes
— Drucksache 12/4825 —Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß Innenausschuß
Ausschuß für Frauen und Jugend
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von 45 Minuten vor. Das Haus ist offensichtlich damit einverstanden. Dann kann ich der Justizministerin des Landes Niedersachsen, Frau Alm-Merk, das Wort erteilen. Frau Ministerin, Sie haben das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor knapp einem Jahr hat Niedersachsen einen Antrag in den Bundesrat eingebracht, dessen Zielrichtung von Ihnen allen, wie ich weiß, unterstützt wird. Er will extremistische Propaganda entschieden bekämpfen und ihr eine deutliche Absage erteilen. Es geht um die Frage der Änderung der Straftatbestände des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, § 86 a Strafgesetzbuch, und der Volksverhetzung, § 130 Strafgesetzbuch.Die Länder Hamburg, Hessen und Rheinland-Pfalz sind dem Antrag beigetreten. Der Bundesrat hat ihn am 12. Februar 1993 auf Grund einstimmiger Empfehlung seiner Ausschüsse beschlossen. Heute, acht Monate später, findet nun endlich, so darf ich sagen, die erste Lesung statt. Acht Monate sind vergangen, in denen unsere Strafverfolgungsbehörden und Gerichte weiterhin an die meines Erachtens zu eng gefaßten §§ 86a und 130 Strafgesetzbuch gebunden waren —
acht Monate, in denen Extremisten ihre Hetzschriften ohne großes strafrechtliches Risiko weiterverbreiten konnten.
Wir sollten auch nicht darauf setzen, daß wir auf eine Reform der Strafvorschriften verzichten könnten, nur weil vielleicht in den letzten Monaten gräßliche Anschläge wie die von Mölln und Solingen ausgeblieben sind. Die Berichte unserer Staatsanwaltschaften zeigen sehr deutlich, daß wir von einem Rückgang extremistisch motivierter Gewalttaten eben gerade nicht ausgehen können. In Niedersachsen z. B. werden die Vorjahreszahlen der anhängenden Ermittlungsverfahren wegen Vergehens gegen §§ 86a, 130, 131 StGB — insgesamt 686 — bereits von den Vergleichszahlen des ersten Halbjahres 1993, nämlich schon 715, übertroffen.Während wir aber im Strafrecht immerhin über Gesetze verfügen, die uns entschiedenes Eingreifen gegen Gewalttäter ermöglichen, sind uns teilweise die Hände gebunden, um gegen die Hetzer vorzugehen, die die Schläger und Brandstifter zu ihren Schandtaten motivieren. Genau hier setzt der Gesetzesantrag des Bundesrates an.Zunächst wollen wir erreichen, daß § 86a StGB nicht nur das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen mit Strafe bedroht; strafbar soll auch das Verwenden zum Verwechseln ähnlicher Kennzeichen sein. Ich weiß, daß die Bundesregierung diesem Vorschlag zustimmt. Aber ich sage es hier sehr deutlich: Wir wollen mehr. Wir wollen in § 86a StGB das Werben mit den verbotenen Kennzeichen unter Strafe stellen. Jede Einlassung der Beschuldigten, Sie hätten nicht mit der Weitergabe durch die Empfänger gerechnet, führt bisher regelmäßig zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens. Diesem Mißstand will der Gesetzesantrag begegnen, indem künftig auch das Werben mit verbotenen Kennzeichen strafbar sein soll.Ganz wichtig ist mir aber auch die Reform des § 130 StGB. Diese Vorschrift wird von der Rechtsprechung, gestützt auf Überlegungen des Gesetzgebers aus dem Jahr 1960, viel zu eng ausgelegt. Die Hetze muß sich, wie Sie wissen, gegen die Menschenwürde richten, um vom § 130 erfaßt zu werden. Die Rechtsprechung zu § 130 StGB sieht die Menschenwürde eben nur dann als verletzt an, wenn der Mensch im Kern seiner Persönlichkeit getroffen wird, indem er unter Mißachtung des Gleichheitssatzes als unterwertig dargestellt
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16052 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Ministerin Heidrun Mm-Merk
und ihm das Lebensrecht in der Gemeinschaft bestritten wird.Im Klartext bedeutet das folgendes: Wenn aufgefordert wird, Menschen zu vergasen, wenn sie als Untermenschen, als Ungeziefer dargestellt werden, greift § 130 StGB ein. Wenn aber — und diese Fälle kennen Sie alle — von „Asylschwindlern, Schmarotzern, Betrügern, Teilen einer multikriminellen Gesellschaft, ausländischen Schweinen, potentiellen Mördern des deutschen Volkes, elenden Schändern der germanischen Menschenrasse, Asylverbrechern und Gesindel" gesprochen wird, sind wir — und das ist entsetzlich — in der Regel machtlos.Das, meine Damen und Herren, was ich hier in wenigen Worten — entsetzlichen Worten, die in den Mund zu nehmen mir schwerfällt — ausgesprochen habe, ist nur ein winziger Ausschnitt dessen, was uns allen täglich begegnet. Richten sich die Schmähungen gegen einzelne Menschen, greifen die Beleidigungstatbestände ein. Aber das Schlimme ist: Richten sie sich gegen eine Vielzahl von Personen, dann versagt unser Strafrecht.Ich habe soeben Beispiele aus der Begründung meines Gesetzesantrags und aus der des Entwurfs des Bundesrates zitiert. Einigen von Ihnen, meine Damen und Herren Abgeordneten, habe ich vor einiger Zeit weitere Beispiele vorgelegt. In meinem Haus habe ich ca. 50 Ermittlungsverfahren auswerten lassen, die innerhalb eines Vierteljahres angefallen waren und die extremistische Propaganda zum Gegenstand hatten. Die Auswertung der Verfahrensakten habe ich den Mitgliedern des Rechtsausschusses übermittelt. Sie hat mich in meiner Überzeugung bestärkt, daß § 130 StGB dringend reformiert werden muß.Insbesondere rechtsextremistische Propaganda ist durch eine Verrohung der Sprache und Verunglimpfung von Teilen der Bevölkerung in Wort und Schrift gekennzeichnet. Sie knüpft unverhohlen an den Nationalsozialismus an und steht der damaligen Propaganda in nichts, aber auch nichts nach. Solchen Erscheinungen, so meine ich, müssen wir insgesamt und alle unmißverständlich entgegentreten.
Wir können es eben nicht hinnehmen, daß Asylsuchende als „fremdländische Eindringlinge, als 2,5 Millionen illegale ausländische Nichtstuer" geschmäht werden, „die sich vom Schweiß des deutschen Arbeiters mästen". Gegen Flugblätter, die von „meineidigen Volksvertretern, korrupten Feinden des deutschen Volkes, fremdrassigen Betrügern und Millionen von Schwindelasylanten" sprechen, muß mit § 130 vorgegangen werden. Wir dürfen keine Aufkleber dulden, die Aussagen wie „Frauen, schützt euch vor dem Ausländer- und Asylantenpack!", „Ausländerpack gleich Dealerpack! " enthalten.Die enge Auslegung des Begriffs der Menschenwürde durch die Strafgerichte steht einer Verfolgung dieser Hetze nach § 130 immer noch entgegen. Dieses Ergebnis können wir unseren Bürgern nicht mehr verständlich machen. Das erlebe ich in regelmäßigen Schreiben der Bürger, die sagen: Das ist doch Volksverhetzung. Warum ist das keine Volksverhetzung? Dem müssen wir entgegentreten.Wir wollen also mit diesem Gesetzesantrag die notwendige Öffnung des § 130 StGB herbeiführen. Man mag einwenden, daß dieses Ziel nicht dadurch erreicht werden könne, daß man nur das Wort „Menschenwürde" in § 130 StGB durch das Wort „Würde" ersetzt. Ich bin da anderer Ansicht. Wir kommen weg von dem engen, auf den Kern der Persönlichkeit bezogenen Rechtsbegriff und machen deutlich, daß jede Beeinträchtigung der Würde von Teilen unserer Bevölkerung ausreicht, um künftig nach § 130 bestraft zu werden. Ich jedenfalls kann nicht verstehen, warum diesem Ziel politischer Widerstand entgegengesetzt wird.Um die Formulierung des Gesetzestextes mag man kräftig streiten. Daß aber gerade die Bundesministerin der Justiz in mehreren an mich gerichteten Schreiben die Notwendigkeit der Reform bestreitet, hat mich, gelinde gesagt, sehr verwundert. Auf ihre Bitte hin erfassen die Länder seit Anfang 1993 alle einschlägigen Ermittlungsverfahren. Die Bundesministerin der Justiz müßte deshalb wissen, daß § 86a und § 130 reformbedürftig sind. Gleichwohl ist sie der Ansicht, lediglich § 86a müsse, wie sie sagt, auf zum Verwechseln ähnliche Kennzeichen ausgedehnt werden. Das greift einfach zu kurz.Deshalb bin ich meinem Kollegen Caesar aus Rheinland-Pfalz sehr dankbar, daß er sich in den zwischen mir und Frau Leutheusser-Schnarrenberger geführten Schriftwechsel eingeschaltet hat und nachdrücklich für eine Strafbarkeit des Werbens mit verbotenen Kennzeichen und für eine Erweiterung des § 130 eingetreten ist.Lassen Sie mich aus dem Brief von Herrn Caesar vom 16. Juli 1993 zitieren. Er führt zu § 130 folgendes aus:Hier sind ganz schlimme Pamphlete in Umlauf, denen mit gegenwärtiger Gesetzesfassung des Tatbestandes der Volksverhetzung nicht beizukommen ist. Obwohl die Notwendigkeit einer Strafsanktion meines Erachtens gar nicht zu bestreiten ist, bereiten sie doch den Nährboden für schwerwiegende ausländerfeindliche Übergriffe.Zur Notwendigkeit, in § 86a StGB auch das Werben mit verbotenen Kennzeichen unter Strafe zu stellen, schreibt er mir:Ich meine, wir können es uns nicht erlauben, abzuwarten, bis diese Gesetzeslücke vermehrt und in ganz Deutschland genutzt werden, um uns erst dann wieder Gedanken zu machen, ob sie zu schließen sind. Zu einer Bekämpfung ausländerfeindlicher und rechtsextremistischer Übergriffe gehört auch, daß der Gesetzgeber den Anfängen wehrt.
Ich hielte es — auch hier bin ich mit meinem Kollegen Caesar einig — für ein sehr bedrückendes Ergebnis, wenn ich auf entsprechende Fragen der an dem Fortgang des Gesetzgebungsverfahrens sehr interessierten Öffentlichkeit, wann die Bekämpfung
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16053
Ministerin Heidrun Alm-Merk
volksverhetzender, rechtsextremistischer und ausländerfeindlicher Pamphlete sowie die Werbung mit verbotenen Kennzeichen nach § 86a umfassend auch mit strafrechtlichen Mitteln erfolgen kann, antworten müßte: Entsprechende, vom Bundesrat vorgeschlagene gesetzliche Verbesserungen drohten am Einspruch der Bundesregierung, der Bundesjustizministerin, zu scheitern. Das, meine Damen und Herren, würde nach den Debatten, die auch hier bei vollem Hause geführt worden sind, niemand mehr verstehen.
Ich bin aber zuversichtlich — das gehört zu den Aufgaben der Politik —, daß ich diese Antwort den Bürgerinnen und Bürgern in absehbarer Zeit nicht geben muß.Meine Damen und Herren Abgeordneten, der Gesetzesantrag ist einstimmig, über alle Parteigrenzen hinweg — das ist eine außerordentliche Seltenheit —, vom Bundesrat angenommen worden, weil es für notwendig befunden wurde, den demokratischen Rechtsstaat vor seinen Feinden entschlossen zu verteidigen, und zwar nicht zu spät, sondern gerade noch rechtzeitig. Ich würde es begrüßen, wenn die Diskussion und die Abstimmung im Deutschen Bundestag ebenso verlaufen würden. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und wünsche mir, daß Sie dieser Beratung nicht mehr zu viel Zeit widmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Dietrich Mahlo.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Gegenstand unserer heutigen Debatte ist zunächst eine bestehende Gesetzeslücke. Wie Sie, Frau Ministerin, zutreffend vorgetragen haben, ist es so, daß nationalsozialistische Kennzeichen im Sinne des § 86 a StGB zwar nicht in authentischer, wohl aber in einer zum Verwechseln ähnlichen Form gebraucht werden, um einerseits die Täter der Strafbarkeit zu entziehen und andererseits gleichwohl und beabsichtigt den Eindruck des Nazi-Symbols hervorzurufen und den damit verbundenen Symbolgehalt zum Ausdruck zu bringen.
In Übereinstimmung mit dem Bundesrat, der Bundesregierung und allen Teilen dieses Hauses erachten wir ein solches Verhalten ohne Einschränkung für strafwürdig. Wer Kennzeichen nationalsozialistischer Organisationen, wenn auch nur, um strafrechtlicher Verfolgung zu entgehen, geringfügig abgewandelt verwendet, bekennt sich zu nationalsozialistischem Gedankengut bzw. wirbt dafür. Da die abgeänderten Kennzeichen an die authentischen Kennzeichen, denen sie nachgebildet sind, erinnern und erinnern sollen und deren Sinngehalt transportieren sollen, sind sie diesen in der Aussage gleichzusetzen.
Angesichts der Tatsache, daß mit dem Nationalsozialismus Massenverbrechen unvorstellbaren Ausmaßes verbunden sind, die in Deutschland erdacht und von Deutschen ausgeführt wurden, stellt der
Gebrauch nationalsozialistischer Symbole auch in verfremdeter, aber leicht wiedererkennbarer Form ein Bekenntnis zu solchen Verbrechen oder deren ostentativer Verharmlosung bzw. Rechtfertigung dar. Mit Rücksicht auf die Geschichte dieses Jahrhunderts ist die demonstrative Darstellung nationalsozialistischer Anschauungen oder gar das Werben dafür eine offene Kampfansage an alle sittlichen Grundlagen jeder menschlichen Gesellschaft, die diesen Namen verdient, und kann daher nicht anders als mit strafbewehrten Verboten beantwortet werden.
Andere Begründungen der Strafbarkeit wie etwa die Verführbarkeit junger Menschen, die Beunruhigung der Öffentlichkeit, Kampf gegen menschliche Unbelehrbarkeit, zunehmende rechtsradikale Umtriebe in Deutschland in jüngster Zeit und das Ansehen der Bundesrepublik im Ausland halte ich demgegenüber für nachrangig.
Der weitere Vorschlag, auf den die Frau Ministerin auch eingehender zu sprechen gekommen ist, nämlich den Anwendungsbereich des Straftatbestandes der Volksverhetzung dadurch zu erweitern, daß für eine Bestrafung zukünftig nicht nur ein Angriff auf den Menschen im Kern seiner Persönlichkeit erforderlich ist, sondern ein Angriff auf seine allgemeine Würde ausreicht, sollte heute aus unserer Sicht in der ersten Runde noch nicht abschließend beurteilt werden.
Der Schutz des unflätig Angegriffenen und Beschimpften ist abzuwägen gegen die durch Art. 5 Grundgesetz garantierte Freiheit der Meinungsäußerung, die auch das Recht auf maßlose, überzogene, unsachliche Kritik einschließt.
Die Behauptung, schwarzafrikanische Mitbürger seien kulturlos oder unterentwickelt — wie als Beispiel in der Vorlagebegründung angeführt ist —, unterscheidet sich in ihrer Abwegigkeit und Aggressivität nicht wesentlich von landläufigen Angriffen gegen andere Gruppen, z. B. Politiker, andere Tätergruppen und andere Täterziele, die im Plädoyer von Ihnen, Frau Ministerin, nicht ins Auge gefaßt worden sind, aber gleichwohl nach der gleichen Vorschrift zu bestrafen wären.
Ich las in der letzten Woche eine Zuschrift in einer bürgerlichen Zeitung, die die Feststellung enthielt, Politiker werde man heute ausschließlich noch wegen der damit verbundenen Pfründe. Weiter erinnere ich mich an eine Äußerung eines Talk-Show-Teilnehmers, der erklärte, das einzige, was man einem deutschen Abgeordneten glauben könne, sei seine Kontonummer. So unerträglich diese Äußerungen erscheinen mögen, es stellt sich doch die Frage, ob man ihnen mit dem Strafgesetzbuch begegnen soll und darf.
Herr Dr. Mahlo, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?
Bitte schön.
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16054 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Herr Kollege Mahlo, sehen Sie nicht den entscheidenden Unterschied zwischen Ihren beiden Beispielen darin, daß das eine in die historische Abteilung Rassismus fällt, während das andere eine Auseinandersetzung mit einer Gruppierung, einer Berufsgruppe, darstellt? Meinen Sie nicht, daß dort auf Grund unserer historischen Erfahrungen entscheidende Unterschiede, auch strafrechtlicher Art, greifen müßten?
Herr Kollege, ich gebe Ihnen bei dem, was Sie sagen, in der Sache recht. Die Vorschrift unterscheidet nicht in der Weise, wie Sie das eben in Ihrer Frage getan haben. Wenn wir die Vorschrift ändern würden, wie es vorgeschlagen worden ist, würde sie sich auf einen ganz anderen Täterkreis und einen ganz anderen Opferkreis erstrecken, als Sie und Ihre Fraktion sie möglicherweise jetzt im Blickwinkel haben. Deswegen halte ich es nicht für ganz abwegig, darauf hinzuweisen. Aber ich sage Ihnen ferner, daß wir über diese Frage offen mit Ihnen im Ausschuß diskutieren werden und keineswegs festgelegt sind.
Ich habe jetzt ausdrücklich danach gefragt, Herr Kollege Mahlo, weil ich Angst davor habe, daß dieses Beispiel, das Sie genannt haben, in der Öffentlichkeit völlig mißverstanden werden kann und daß als Folge unserer Debatte eine Gleichsetzung eingeführt wird, die wir auf keinen Fall zulassen können. Ich bin kein Jurist. Ich kann das nur als jemand, der sich tagtäglich mit diesen Phänomenen für die Fraktion auseinandersetzt, politisch bewerten.
Gut, Herr Kollege. Ich ergreife gern die Gelegenheit, zu betonen, daß ich das Problem, das Sie und Ihre Vorrednerin angesprochen haben, nicht verharmlosen will, indem ich Beispiele heranziehe, die Ihnen und uns allen eigentlich weniger kritikwürdig als das, was Sie zitiert haben, erscheinen.
Nicht enthalten in der Vorlage des Bundesrates, aber gleichwohl Gegenstand von Erörterungen im Zusammenhang mit den vorher genannten Themen ist die Frage, ob man die Verwendung der sogenannten Reichskriegsflagge verbieten oder unter Strafe stellen soll, die offizielles Hoheitszeichen der deutschen Kriegsmarine von der Kaiserzeit bis 1935 gewesen ist und sie von einem Teil der Neonazis als eine Art Erkennungszeichen und Kampfmittel gebraucht oder eigentlich mißbraucht wird. Allerdings geht es hier begrifflich um einen anderen Sachverhalt als bei der Verwendung von nationalsozialistischen und quasi-nationalsozialistischen Kennzeichen. Dort wird die Nutzung eines Symbols oder seiner unmaßgeblichen Abänderung unter Strafe gestellt, weil dieses Symbol der Verherrlichung von Verbrechen dient, mit denen es unlösbar verbunden ist und an die es reuelos oder sogar affirmativ erinnert; hier dagegen soll die Nutzung einer Fahne unter Verbot gestellt werden, die, was man ihr ansieht, in der Kaiserzeit ihren Ursprung hat — was wiederum manche mögen und andere nicht —, die aber an sich historisch nicht auffällig belastet ist, jedoch von Personen als Erkennungszeichen genutzt wird, die offenbar erneut alten nationalsozialistischen Anschauungen anhängen. Das ist nicht dasselbe.
Welches ist der objektive Erklärungsgehalt einer solchen Fahne? Wir werden auch hier im Ausschuß sorgfältig abzuwägen haben, welches die richtige Reaktion darauf ist, nämlich ob das Banner verboten gehört oder die Bannerträger. Es ist zweifelhaft, ob wir dauerhaft zulassen sollen, daß sich der Rechtsradikalismus in Deutschland entgegen der historischen Wahrheit beliebig Kennzeichen oder auch Gestalten der deutschen Geschichte herauspickt, die wir dann zum Anathema erklären müssen. Was machen wir, wenn den Neonazis einfällt, eine besonders prächtige Ausgestaltung der schwarz-rot-goldenen Fahne zu ihrem Banner zu erheben?
Auch in diesem Punkt wollen wir das Urteil nicht vorwegnehmen, sondern es uns auf Grund der Erörterung im Ausschuß erst noch bilden.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Ullmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zielsetzung dieser Gesetzesinitiative wird von mir uneingeschränkt bejaht. Alles, was in der Begründung über ihren Anlaß gesagt wird, kann ich vollinhaltlich unterschreiben, auch in der Form, wie es die Frau Ministerin noch einmal vorgetragen hat. Ich möchte darum an dieser Stelle dem Bundesrat, insbesondere dem Land Niedersachsen und seiner Justizministerin, für diese wichtige Initiative danken.
Kopfzerbrechen, Frau Ministerin, verursachen mir nun aber die vorgeschlagenen Lösungen, in ähnlicher Richtung, wie sie der Kollege Mahlo vorgetragen hat. Nicht die vorgeschlagene Schließung der Strafbarkeitslücke im Bereich des Verbreitens bereitet mir Kopfzerbrechen; das leuchtet mir sofort ein und ist, denke ich, sachgemäß und unter uns wohl unstrittig. Das Problem liegt für mich in dem Versuch, die Umgehung der Strafbarkeit durch Modifikation von Symbolen dadurch zu verhindern, daß ein Begriff aus § 132a StGB, wo es um Mißbrauch von Titeln, Berufsbezeichnungen und Abzeichen geht, eingeführt wird. Ist das mit diesem „zum Verwechseln ähnlich" wirklich ein guter Gedanke? Mir schwebte hier eine Wortwahl vor, wie sie der Kollege Mahlo vorgetragen hat, etwa „unwesentlich verändert" oder etwas dergleichen, denn es kommt nach meiner Meinung darauf an, daß wir den Tätern, die wir hierbei im Auge haben, die Definitionsmacht wegnehmen über das, was „ähnlich" oder „zum Verwechseln ähnlich" und dergleichen mehr ist. Da sehe ich ein Problem, aber es ist durchaus lösbar.Ein anderes Problem habe ich mit § 130, der Ersetzung von „Menschenwürde" durch „Würde" schlechthin. Mit diesem Wort erreicht man natürlich deutlich eine Normerweiterung, aber eben eine höchst abstrakte, die zu solchen Fragen führt, wie sie Herr Mahlo gestellt hat. Es geht Ihnen aber doch ganz
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Dr. Wolfgang Ullmannoffensichtlich in der Initiative um die persönliche Würde. Dann könnte man es doch auch sagen.Eine weitergehende Lösung wäre, in den Vierzehnten Abschnitt des Strafgesetzbuches überzugehen. Dann wären wir im Bereich des § 186, und wir könnten dann in einem neuen Tatbestand von „rassistischer Herabwürdigung" sprechen. Ich sehe dabei natürlich das juristische Problem, daß wir von den Offizialdelikten zu den Antragsdelikten kommen. Das könnten wir durch eine Änderung im § 194 lösen, aber das ist dann vielleicht kompliziert.Sie sehen, es gibt Stoff für Diskussionen im Rechtsausschuß. Wenn wir uns darüber einig wären, daß es nicht zu sehr darauf ankommt, Normen zu erweitern als zu präzisieren, dann finden wir eine Lösung. Das sollte — ich stimme Ihnen zu — so bald wie möglich geschehen.Vielen Dank.
Nunmehr hat der Abgeordnete Jörg van Essen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute über Vorschläge des Bundesrates, die lediglich ein Teilausschnitt der vielfältigen Bemühungen sind, der Gewalt und der Fremdenfeindlichkeit in der Gesellschaft entgegenzuwirken.
Der Bundesrat stellt zu Recht die Änderung des § 86a StGB an die Spitze seiner Vorschläge. Im rechtsradikalen Bereich machte und macht man sich doch geradezu einen Sport daraus, durch sehr geringfügige Änderungen von Nazi-Symbolen der notwendigen Strafbarkeit zu entgehen. Was macht es in der äußeren und auch beabsichtigten Wirkung schon an Unterschied, wenn beim Hitlergruß nicht alle Finger beieinanderliegen, sondern einige gekrümmt werden.
Die Zustimmung der F.D.P. zu dieser Änderung ist selbstverständlich; wir haben sie selbst seit langem gefordert.
Zurückhaltender hat sich die Bundesregierung zu den beiden anderen Zielen des Gesetzentwurfes geäußert. Sie will sowohl bei der Erweiterung des § 86 a StGB um die Tathandlung des Werbens als auch bei der beabsichtigten Ersetzung des Begriffs „Menschenwürde" durch „Würde" in § 130 StGB die Erforderlichkeit einer Änderung sorgfältig prüfen.
In der Schrift „Offensive gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit" vom März 1993 vertritt die Bundesregierung sogar die Auffassung, daß die Einschränkung der Strafbarkeit durch den Begriff „Menschenwürde" in § 130 StGB bei der Rechtsanwendung nicht zu Schwierigkeiten geführt habe.
Ich selbst bin bei beiden Vorschlägen offener. Das liegt daran, daß ich während meiner Dienstzeit als staatsanwaltlicher Dezernent für Strafsachen mit politischem Hintergrund und auch in der Staatsschutzabteilung verschiedene Verfahren gegen Rechtsradikale auf Grund der bisher engeren Strafgesetze habe einstellen müssen.
Insbesondere bei der Verbreitung von in den USA hergestellten Hakenkreuzaufklebern habe ich mich oft der Einlassung stellen müssen, daß die Überlassung nur für den nächsten Gesinnungsfreund und seine persönliche Verwendung, nicht aber zur Überlassung an beliebige Dritte erfolge. Die Einstellung war die Konsequenz aus dieser Einlassung.
Die Rechtsprechung hat zu Recht die Auffassung entwickelt, der Begriff der Menschenwürde sei enger als der der Würde des Menschen, wie ihn Art. 1 Abs. 1 GG enthält. Bei einer Lagefeststellung kommt man nicht umhin zu konstatieren, daß die rechtsextreme Propaganda doch seit langem mit unglaublichen Äußerungen — wir haben hier einige Beispiele von Ihnen gehört, Frau Ministerin — in schwerwiegender Weise gegen den inneren Frieden verstößt, ohne daß die Angegriffenen — insbesondere Ausländer — als unterwertig dargestellt werden und ihnen das Lebensrecht in der Gemeinschaft bestritten wird. Eine Strafbarkeit nach § 130 StGB alter Fassung scheidet damit aus. Eine strafrechtliche Prüfung unter dem Gesichtspunkt der Beleidigung wiederum scheitert häufig an der Pauschalität der Schmähung. — Sie haben das richtig dargestellt.
Ich neige deshalb wie der Bundesrat zu der Auffassung, daß hier eine Strafbarkeitslücke gegeben ist. Wir sollten aber offen den Weg, diese Lücke zu schließen, prüfen. Ich halte auch den im Bundesjustizministerium angedachten Weg einer Zusammenfassung von § 130 und § 131 StGB für eine mögliche Lösung.
Wir werden uns bei unseren Beratungen nicht mit diesen Teilaspekten begnügen können. Wir müssen auch die weiteren Vorschläge der Bundesregierung einer Erweiterung des § 225 StGB, der leichteren Inhaftnahme wegen Wiederholungsgefahr gegen reisende Gewalttäter, insbesondere im rechten Bereich, der Ergänzung des Zuständigkeitskatalogs des Generalbundesanwalts und der Einrichtung eines staatsanwaltlichen Informationssystems — was mir persönlich besonders wichtig ist — in die Überlegungen einbeziehen.
Die Bundesjustizministerin hat in den vergangenen Monaten mehrfach — und ich danke ihr dafür — auf die Notwendigkeit dieser Änderungen hingewiesen. Sie hat recht, die Zeit drängt. Wir können nicht länger warten.
Vielen Dank.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Professor Uwe-Jens Heuer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stimme dem Gesetzentwurf des Bundesrates zu. Allerdings werfen der Entwurf und seine Begründung eine Reihe von Fragen auf, die dringend eine Antwort erfordern, wenn eine wirkliche Änderung der Lage gewollt wird,
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16056 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Dr. Uwe-Jens Heuerdie mich ebenso besorgt macht wie den Antragsteller.Es geht übrigens nicht nur um den politischen Frieden und das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland, wie es in der Begründung des Bundesrates heißt, sondern es geht auch um die Rettung von Menschenleben. Nach den uns vorliegenden Zahlen sind seit dem Beitritt 79 Menschenleben als Opfer rechtsextremer und ausländerfeindlicher Tötungsdelikte zu beklagen.Die Verschärfung der sozialen Widersprüche, die Anhäufung sozialen Sprengstoffes in der Gesellschaft der Bundesrepublik haben die Virulenz rechtsextremer Kräfte enorm verschärft. Das Gift war immer vorhanden, aber unter den jetzigen Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit, der zunehmenden Massenverelendung wird es stärker freigesetzt. Natürlich besteht kein monokausaler Zusammenhang zwischen der Verschlechterung der sozialen Lage großer Teile des Volkes und dem Aufschwung der rechtsextremen Kräfte. Es gibt ein ganzes Bündel von Ursachen. Dazu zählt nicht zuletzt der Versuch der Bundesrepublik, aus dem langen Schatten des Holocaust herauszutreten und die wiedererlangte volle Souveränität zur Gewinnung einer Großmachtrolle zu nutzen.Wie soll man auf diese Lage reagieren? Wie soll man an die Ursachen des Übels herangehen? Durch eine Verschärfung der Strafgesetze? Ich bin grundsätzlich gegen eine Verschärfung der Strafgesetze.Wie alle Mitglieder des Rechtsausschusses habe auch ich einen offenen Brief von Herrn Schafgans, Bürger dieses Landes und in Deutschland geborener Jude, bekommen. Herr Schafgans stellt in diesem Brief richtig fest, daß nach Verbrechen wie in Solingen viele Politiker sagen, die vorhandenen Gesetze reichten aus, um mit den rechtsextremistischen Straftaten fertig zu werden, wenn man sie richtig anwende. Wenn dies zuträfe, so schreibt Herr Schafgans, dann heiße das eben nur, daß Justiz und Polizei etwas blind seien, und dann müsse man das eben ändern.Im gleichen Sinne wird in der Begründung des Bundesrates hinsichtlich des § 130 StGB gesagt, daß die Norm von Rechtsprechung und Lehre zu eng begrenzt werde. Das klingt dort wie die Beschreibung eines Naturgesetzes.Warum wird das von Rechtsprechung und Lehre so gehandhabt? Ergibt sich das aus zwingenden Rechtsprinzipien — aus positivem oder überpositivem Recht? Oder ist das Ausfluß eines bestimmten Klimas, in dem einer der prominentesten Verfassungskommentatoren jahrelang als intimer Ratgeber des DVU-Vorsitzenden und Kolumnenschreiber der „National-Zeitung" agierte?Es gibt in diesem Land eine rechte Szene, aus der heraus schwere Straftaten verübt werden und die auch über Sympathisanten in der politischen Klasse verfügt. Man kann doch nicht übersehen, daß der Aufschwung derjenigen, deren Symbole jetzt zu Recht verboten werden sollen, zu einem Zeitpunkt stattfand, als einzelne Angehörige der politischen Klasse öffentlich über die „Durchrassung" und die „multikriminelle Gesellschaft" nachdachten.Nun will man die kriminellen Geister, die man rief und die hinsichtlich der Änderung des Asylrechts ihre Schuldigkeit getan haben, wieder loswerden. Wir wollen sie auch loswerden. Das ist kein Streitpunkt. Aber wir möchten doch auf diesen Zusammenhang hinweisen.Ich bin gegen die Verschärfung des Strafrechts zur Bewältigung sozialer Probleme. Ich verstehe auch den vorliegenden Gesetzentwurf nicht als eine Verschärfung, sondern eher als eine Klarstellung, die die Strafverfolgungsbehörden, die ja im bürgerlichen Deutschland in historischer Erfahrung auf dem rechten Auge etwas sehschwach waren, zwingt, hinzusehen und zu handeln.Insofern stimme ich dem vorliegenden Gesetzentwurf zu. Über die Formulierung im einzelnen werden wir diskutieren. Ich warne nur vor der Illusion, daß damit mehr geleistet werden kann als eine Eindämmung der Symptome. Wir sollten unsere gemeinsamen Besorgnisse in weitergehende Diskussionen einmünden lassen.Danke schön.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Dr. Krause das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist angesprochen worden, daß das Strafrechtsänderungsgesetz zwei verschiedene Punkte beinhaltet. Zum Verbot der täuschend ähnlichen Kennzeichen möchte ich nur hinzufügen: Es muß öffentlich bekanntgemacht werden, was eine täuschend ähnliche Kennzeichnung ist und daß diese verboten ist. Es darf nicht sein, daß es in eine willkürliche Ermessensentscheidung einzelner Gerichte gelegt wird,
was rückwirkend als ähnlich betrachtet wird und was nicht. Das sind wir auch den Jugendlichen schuldig, die nicht verführt werden dürfen und deren Verführung wir verhindern müssen.Ich möchte aber hinzufügen, daß es eine ganze Reihe von Symbolen gibt, die in der Geschichte, auch in der jüngeren Geschichte, Verbrechen gekennzeichnet haben; ich denke nur an Symbole der kommunistischen Verbrechen von Stalin und seiner Organisatoren, aber auch von Völkermord und Vertreibung in diesem Jahrhundert und auch in vergangenen Jahrhunderten.Ich möchte gerade auch christlichen Politikern immer wieder sagen: Wir im protestantischen Mitteldeutschland und im protestantischen Norddeutschland sind in unserer Kindheit auch noch mit der Tradition der Inquisition sehr eng vertraut gemacht worden.
Man muß also, wenn man den zweiten Schritt eines Weges tut, auch bedenken, wohin dieser Weg führen kann.
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Dr. Krause, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?
Ja, bitte.
Bitte schön, Herr van Essen.
Herr Kollege, wenn Sie die Rückwirkung beklagen: Ist Ihnen bekannt, daß es im deutschen Strafrecht ein Rückwirkungsverbot gibt?
Es ist mir bekannt, daß es ein Rückwirkungsverbot gibt. Deswegen soll auch öffentlich gemacht werden: Was ist ein ähnliches Symbol und unterliegt darum dem Verbot? Das soll möglichst weitgehend sein, um eben 14-, 15-, 16jährige vor solchen Taten auch wirksam zu schützen.
Nun zum § 130 StGB: Ich begrüße diese Änderung ausdrücklich, daß hier die Würde des Menschen umfassender strafrechtlich bewehrt wird, als dies vorher war. Aber gleichzeitig weise ich natürlich darauf hin, daß nach dem Grundgesetz alle Menschen gleich sind. Es ist also auch die Würde aller deutschen Menschen, auch aller deutschen Politiker, in gleicher Weise zu schützen. Wenn also in Salzwedel durch linke Chaoten in bekannter Handschrift " Zusammenlegung von Kohl und Rohwedder" an die Wand gesprüht wird, dann ist auch das eine extremistische Entwicklung, die vom Schutz der Würde des Menschen getragen werden muß.
Lassen Sie mich in eigener Sache sagen: Ich kenne jetzt Tausende von Republikanern persönlich,
grundanständige, fleißige und gesetzestreue Menschen. Ich wehre mich auch dagegen, daß hier die Würde von Teilen unserer Bevölkerung bisher straffrei verleumdet, geringgeschätzt, mißachtet und mit Kundgaben des Hasses überzogen werden durfte.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich erhoffe mir von diesem Gesetz eine Änderung dieses bisher rechtlosen Zustandes.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nunmehr die Justizministerin Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst zwei Bemerkungen zu Ihnen, Herr Krause.Erstens. Die Würde aller Menschen, deutscher und ausländischer Herkunft, in Deutschland ist zu schützen, und danach richten wir unsere Bestimmungen aus.
Zweitens. Unsere Gerichte fällen keine willkürlichen Entscheidungen.
Sie wenden die geltenden Gesetze an, konsequent und auch ausgerichtet an der Fortentwicklung durch die Rechtsprechung. Alles andere trifft als Vorwurf nicht zu.Meine Damen und Herren, vor mehr als zwei Jahren begann eine Welle von Brandanschlägen und gewalttätigen Ausschreitungen gegen Asylbewerber und ausländische Mitbürger, von Zerstörungen in Gedenkstätten und auf jüdischen Friedhöfen, aber auch von haßerfüllter Propaganda gegen Menschen, die in den Augen der Täter anders sind. Nicht zuletzt durch diese Ereignisse ist der Rechtsextremismus zu einer der großen gegenwärtigen Herausforderungen der Rechtspolitik geworden.Dem Haß, der Gewalt und der Menschenverachtung, die in den Anschlägen wie Mölln und Solingen, aber auch in Liedertexten sogenannter Skinhead-Rockgruppen und rechtsradikalen Pamphleten zum Ausdruck kommen, können wir nicht nur mit Betroffenheit begegnen.Nach einer Umfrage, die das Bundesministerium der Justiz beim Generalbundesanwalt und bei den Landesjustizverwaltungen durchgeführt hat, wurden im Jahr 1992 12 030 Ermittlungsverfahren wegen rechtsextremistischer oder fremdenfeindlicher Straftaten eingeleitet. Während 2 194 dieser Verfahren Gewaltdelikte zum Gegenstand hatten, betrafen über 7 000 Verfahren die sogenannten Propagandadelikte, also Tatbestände wie die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Volksverhetzung oder Beleidigung. Gerade mit einigen dieser Tatbestände beschäftigen wir uns auf Grund der Vorlage des Bundesratsentwurfs.Polizei und Justiz haben — das zeigen die Zahlen — die Herausforderung angenommen; aber auch der Gesetzgeber muß sich ihr stellen. Grundsätzlich steht meiner Auffassung nach den Strafverfolgungsbehörden zwar ein weitgefächertes, in aller Regel ausreichendes Instrumentarium zur Bekämpfung der strafrechtlichen Auswüchse fremdenfeindlicher Ausschreitungen zur Verfügung; aber auch ich halte in Randbereichen gesetzgeberische Ergänzungen für angezeigt. Ausschreitungen und haßerfüllte Propaganda gegen Asylbewerber, ausländische Mitbürger und Minderheiten geben uns Anlaß, zu prüfen, ob die geltenden Strafgesetze strafwürdigen Verhaltensweisen immer gerecht werden können und ob vorgesehene Strafrahmen ausreichen. Der Bundesratsentwurf will Änderungen der §§ 86a und 130 des Strafgesetzbuches vornehmen und damit erreichen, daß besser vorgegangen werden kann.In einem Punkt sind wir uns alle — auch das haben die Vorredner deutlich gemacht — einig: den § 86a, was die Verwendung ähnlicher, verwechselbarer
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Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Kennzeichen betrifft, zu ergänzen, um mit dieser Vorschrift besser gegen Anhänger nationalsozialistischen Gedankenguts vorgehen zu können, die leicht abgewandelte Symbole dieser Organisationen verwenden und die damit alle dieselbe Zielrichtung verfolgen.Hinsichtlich der weiteren Vorschläge — meine Kollegin Frau Mm-Merk hat es deutlich gemacht —, bei dem Werben in § 86 a des Strafgesetzbuches und bei der Änderung des Begriffs der Menschenwürde in den Begriff der Würde in § 130 StGB, war zunächst nicht unmittelbar zwingend gesetzgeberischer Handlungsbedarf angezeigt. Auf Grund von Umfragen des Justizministeriums bei den Bundesländern wurden aus einigen Ländern konkrete Fälle genannt, bei denen aus deren Sicht ein Bedürfnis nach diesen Änderungen herzuleiten war. Eine Sachverständigenanhörung — auf solche beziehen wir uns alle gern im Zusammenhang mit Änderungen von Strafbestimmungen — am 19. April 1993 vor dem Innenausschuß hat deutlich gemacht, daß von Strafrechtswissenschaftlern, von dem Vorsitzenden der Polizeigewerkschaft und vom Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz eine Änderung der beiden Bestimmungen in dem hier vorgeschlagenen Sinne nicht für zwingend notwendig erachtet wurde.Das heißt: Auch wenn wir schon jetzt vorgehen können, bin ich sehr wohl offen — das hat die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme auch deutlich gemacht — gegenüber Überlegungen, ob wir nicht Handlungsspielräume für die geistigen Brandstifter noch verengen müssen. Das hat natürlich die Auswirkung — Herr Mahlo, Sie haben das dargelegt —, Art. 5 unseres Grundgesetzes, die Meinungsfreiheit, einzuengen. Aber in dem Abwägungsprozeß, in dem wir uns befinden, müssen wir wirklich ernsthaft untersuchen, ob das notwendig und tatsächlich auch geboten ist.Ich stelle mir dabei vor, den § 130 und den § 131 des Strafgesetzbuches, also Volksverhetzung und Aufstachelung zum Rassenhaß, in einem einzigen Tatbestand zuammenzufassen und dort deutlich zu machen, daß sich jemand, der zum Haß gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt oder zu Gewalt oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert, und zwar in einer Weise, die den öffentlichen Frieden zu stören geeignet ist, strafbar machen kann, ohne daß in jedem Fall bei dieser einen Tatbestandsgestaltung das Erfordernis erfüllt sein muß, daß damit eine Verletzung der Menschenwürde einhergeht.
Frau Ministerin, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen?
Jawohl.
Bitte sehr.
Frau Ministerin, könnten wir aus den Abwägungen, die Sie jetzt anstellen und die in die Zusammenlegung zweier Paragraphen einmünden sollen, nicht herauskommen, indem wir uns — nach meiner Auffassung: endlich — dem Thema eines Antidiskriminierungsgesetzes zuwenden, um so viel mehr zu erfassen als das, was im Augenblick durch Änderung zweier Paragraphen des Strafgesetzbuches geschieht?
Ich greife die Worte meiner Kollegin Alm-Merk auf, die beklagt hat, daß schon viele Monate vergangen sind, bis über den anderen Vorschlag beraten wird. Ich glaube, wenn wir die Diskussion in diesem Punkt mit noch sehr vielen anderen Vorschlägen verbinden, die weitergehen — so habe ich Ihre Fragestellung verstanden —, dann wird im Zweifel noch sehr viel mehr Zeit vergehen, bis wir das, worauf wir uns möglicherweise relativ schnell verständigen können, verabschiedet und im Bundesgesetzblatt stehen haben. Deshalb, so meine ich, sollten wir uns auf diese Punkte beschränken. Ich glaube, dann können wir auch deutlich machen, daß bei dieser Diskussion und für diese Forderung eine breite Mehrheit im Bundestag gegeben sein wird.
Ich möchte an dieser Stelle aber noch einen zulegen, wie es mein Kollege Herr van Essen schon angedeutet hat: Ich glaube, daß wir uns in diesem Zusammenhang auch mit einer Erhöhung des Strafrahmens für die schwere Körperverletzung beschäftigen sollten. Wir sind nicht der Auffassung, daß Strafrahmen generell zu erhöhen sind, weil unser Strafrecht im wesentlichen sehr ausgewogen ist. Aber an diesem Punkt stimmt das Verhältnis zu den Diebstahls- und Eigentumsdelikten nicht mehr. Deshalb wollen wir dort eine Erhöhung. Wir wollen im Bereich des Haftgrunds der Wiederholungsgefahr eine Änderung vornehmen, ein staatsanwaltschaftliches Informationssystem einführen, und damit Instrumente schaffen, die den stark belasteten Ermittlungsbehörden eine möglichst effektive Arbeit sichern.
Neben allen strafrechtlichen repressiven Maßnahmen müssen wir uns — nicht an dieser Stelle, aber bei vielen anderen Gelegenheiten — auch immer Gedanken machen, wie wir im Bereich der Prävention und der Ursachenbekämpfung mit diesen Entwicklungen fertigwerden und gegensteuern können.
Vielen Dank.
Damit sind wir am Ende der Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 12/4825 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aussschüsse vor.Ich nehme an, daß das Haus damit einverstanden ist, denn andere Vorschläge werden nicht gemacht. — Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 117 zu Petitionen — Drucksache 12/5735 —
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Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergDazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor.Der Ältestenrat schlägt eine Debattenzeit von einer halben Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der Abgeordneten Frau Rosemarie Priebus das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die aufgerufene Petition wendet sich gegen die militärische Nachnutzung des Truppenübungsplatzes durch die Bundeswehr. Der Petitionsausschuß schlägt hierzu vor, das Petitionsverfahren abzuschließen.
Es steht außer Frage, daß die Bundesrepublik Deutschland in einer Welt, in der ein friedliches Miteinander der Völker auf lange Sicht unmöglich scheint, eine moderne schlagkräftige Armee unterhalten muß.
Ebenso steht fest, daß diese Armee üben und ausbilden muß. Also steht auch fest, daß Truppenübungsplätze in Ostdeutschland nachgenutzt werden müssen.
Damit das Hohe Haus eine Vorstellung von der Lage dieses Truppenübungsplatzes bekommt, möchte ich die Region kurz vorstellen.
Der Platz liegt in einer Region mit einer Bodenwertzahl von durchschnittlich 28, in einer landschaftlich schönen, aber wirtschaftlich armen Region mit einer derzeitigen Arbeitslosenquote von 20 % und einer Bevölkerungsdichte von über 40 Einwohnern pro Quadratkilometer.
Sehe ich die wirtschaftliche Entwicklung der Region realistisch, dann kann ich den Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg verstehen, wenn er intern schon im September 1992 Zweifel am regionalen Tourismuskonzept äußerte und zum Ausgleich der Belastung durch die militärische Nachnutzung des Truppenübungsplatzes die Stationierung von Soldaten begrüßte. Also schon ab September 1992 war das Doppelspiel des Ministerpräsidenten in der SPD auf allen Ebenen voll im Gange.
Ich zitiere aus einer Dokumentation der Bürgerinitiative Freie Heide:
1. September 1992: Reise einer Delegation zu Ministerpräsident Manfred Stolpe, um eine klare Ablehnung der Landesregierung im Schießplatzprojekt Wittstock anzumahnen. Herr Stolpe ermunterte zu weiteren öffentlichkeitswirksamen Aktionen und sagte die Unterstützung der Landesregierung zu.
Weiter: Besuch von Vera Wollenberger, Mitglied im Verteidigungsausschuß, vor Ort. Sie meinte, daß eine klare Haltung des Ministerpräsidenten sehr wohl eine Entscheidungsgrundlage für den Verteidigungsausschuß und für den Minister, Herrn Rühe, wäre. Aber diese Erklärung des Ministerpräsidenten ist nie erfolgt; die letzte Gelegenheit — —
— Hören Sie erst einmal zeitmäßig zu!
Die letzte Gelegenheit, dieses Doppelspiel aufzulösen, wäre eine Stellungnahme am Tage der Entscheidung über das Truppenübungsplatzkonzept im Bundestag am 14. Januar 1993 gewesen. Nein, statt dessen mußten die Bürger in der Presse im Februar folgende sarkastische Bemerkung entgegennehmen: „Wir haben das versäumt! Weder unsere Bonner Vertretung noch die Staatskanzlei hat gewußt, daß das Konzept an diesem Tage im Bundestag behandelt werden sollte. "
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß?
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage.
Veranlassen den Ministerpräsidenten die Meinungsumfragen zu seiner Akzeptanz zu einer derartigen Aussage?
In der Januarsitzung des Landtages mußte Herr Linde, Chef der Staatskanzlei des Landes Brandenburg, deshalb zugeben, daß das Truppenübungsplatzkonzept zumindest billigend in Kauf genommen wurde, da die brandenburgische Landesregierung die Gelegenheit nicht genutzt hatte, im Bundestag zum Thema „Ruppiner Heide" zu intervenieren.Wie zu erfahren war, wurde dieses Spiel auch von den SPD-Vertretern im Verteidigungsausschuß betrieben. Alle Hochachtung, in dieser Frage waren sich die Genossen einig!Entweder votierte man für die militärische Nachnutzung des Platzes, oder es erfolgte keine Stellungnahme dazu. Mir ist allerdings nicht bekannt, daß die Interessen der Bürgerinitiative für eine zivile Nachnutzung von der SPD im Verteidigungsausschuß artikuliert wurden.Mir wurde nur bekannt, daß das Truppenübungsplatzkonzept wegen der Colbitz-Letzlinger Heide von der SPD abgelehnt wurde. Um Schadensbegrenzung zu betreiben, hat man sich im November auf dem Parteitag der SPD flugs gegen die militärische Nachnutzung ausgesprochen. Lippenbekenntnisse sind einfach; wird es jedoch konkret, dann ist es für die SPD immer schwierig.Wie soll der Petent verstehen, daß sich die SPD mehrheitlich enthalten hat, als Frau Wollenberger am 14. Januar 1993 einen Antrag für die zivile Nutzung der Heide einbrachte? Enthaltungen gleichen dem
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16060 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Rosemarie Priebusvergeblichen Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln.Bei meinem Bekenntnis für die militärische Nachnutzung am 14. Januar war ich mir der psychologischen Ausgangssituation der Bürger meines Wahlkreises voll bewußt, zumal ich seit 1978 ungefähr 200 m neben der sowjetischen Liegenschaft Fliegerhorst Alt-Daber lebe. Ich bin also ebenfalls eine unmittelbar Betroffene.Das Truppenübungsplatzkonzept spiegelt meiner Meinung nach ausgewogen die Interessen der Streitkräfte und der Gesamtbevölkerung Deutschlands, also West- und Ostdeutschlands, wider.Wenn wir in Ostdeutschland einheitliche Lebensverhältnisse einfordern, dann sind wir auch verpflichtet, hinsichtlich der Belastungen zu teilen. Wir weisen manchmal auch zu Recht auf den Egoismus der westlichen Länder hin. Das gibt uns aber nicht das Recht, nach dem Grundsatz zu verfahren „Wie du mir, so ich dir" . Deshalb kann es nicht zu einem völligen Verzicht auf Übungsplätze kommen, selbst wenn die extensive Nutzung durch die Streitkräfte der früheren Sowjetunion oder der Nationalen Volksarmee dafür zu sprechen scheint.Die GUS-Streitkräfte nutzten den Platz ohne Rücksichtnahme auf die dortige Bevölkerung. Künftig sind folgende reduzierte Betriebszeiten geplant: Luftwaffe bis 30 Stunden pro Woche und Heer ca. 40 Stunden pro Woche, also etwa die Hälfte der früheren Nutzungsintensität, samstags allerdings nur auf Einzelantrag in begründeten Ausnahmefällen mit Genehmigung des Heeresamtes. An Sonn- und Feiertagen findet kein Schießbetrieb statt. Auch während der Hauptferienzeit ist eine mehrwöchige schießfreie Zeit geplant. Ferner werden nur 3 000 Einsätze im Jahr geflogen. Das entspricht etwa einem Sechstel des vorherigen Aufkommens.An Ihre Adresse und an Ihre mathematischen Fähigkeiten gerichtet, Herr Landrat Gilde, SPD: Was ist ein Flugeinsatz? — Ein Flugeinsatz ist der Flug eines Flugzeuges vom Start bis zur Landung. Eine Viererformation umfaßt somit vier Einsätze; wenn jeder Tornado drei bis vier Runden dreht, entspricht das bei 3 000 Runden maximal also 9 000 bis 12 000 Einsätzen — nicht 48 000 pro Jahr, wie Sie, Herr Gilde, kühn nach Ihrem Aufenthalt in Siegenburg verbreiten!
Auf Grund der Lage, der geringen Bevölkerungsdichte und vor allem der Eignung für Standard- und taktische Einsatzübungen entschied man sich für Wittstock. Damit verfolgt die Luftwaffe das Ziel, eine möglichst gleichmäßige Verteilung der Lärmlast zu erreichen. Dies bedeutet eine Entlastung der Region Siegenburg und Nordhorn.Dazu gleich eine Bemerkung zu den Falschmeldungen vor Ort. Die Tornados fliegen in Siegenburg ausschließlich über bewohntem Gebiet mit viel höherer Bevölkerungsdichte als Wittstock. Der Vergleich des 300 Hektar großen Siegenburg mit dem 13 000Hektar umfassenden Wittstock hinkt in dem gleichen Maße wie der Vergleich von Äpfeln mit Birnen.
Nun zum Vorwurf des Petenten, die Bundeswehr habe schon 1990 ihr Desinteresse an der Nachnutzung gezeigt. Dies entspricht nicht der Tatsache. Sie war von Anfang an um Einvernehmen mit dem Land bemüht. Das gegenteilige Schreiben einer nachgeordneten Behörde des Bundesministeriums der Verteidigung kann für die Regierung nicht ausschlaggebend sein.Ich bin froh, jetzt die Gelegenheit zur Klarstellung bezüglich der Eigentumsproblematik zu haben. Von den 12 654 Hektar Fläche des Truppenübungsplatzes Wittstock stehen nur noch 210 Hektar im Eigentum Dritter. Der Rest ist entweder auf Grund von Verzichtserklärungen, Verkaufsverträgen bzw. Enteignungen nach § 10 des Verteidigungsgesetzes in eine andere Rechtsform übergegangen. Beispielsweise erfolgte vor Jahren an Hand der Flurkarten die Bewertung des Waldes, auf Grund deren eine entsprechende Entschädigung gezahlt wurde. Ankäufe wurden bis zum Jahr 1987 getätigt; teilweise wurden hohe Summen dafür gezahlt.
— Ich weiß schon, weshalb ich das hier erwähne, Herr Weiß. — Unter anderem liegen mir zwei Kaufverträge vom August 1987 mit einer Verkaufssumme von rund 63 000 Mark für 19 ha und 15 000 Mark für 5 ha vor.Im Bundesvermögensamt Potsdam ist bislang auf Grund verfahrenstechnischer Schwierigkeiten die Bewertung von nur etwa einem Drittel der Gesamtfläche abgeschlossen, die aber dennoch aussagekräftig für die Restfläche ist.Das Land will nun Anspruch auf fast die gesamte Fläche als Preußenvermögen erheben. Fakt ist aber, daß 21 % Bodenreformfläche sind, also auf Neusiedler aufgeteilt wurden. Wahrscheinlich ist, daß für die Restfläche das gleiche gilt. Hier liegt deshalb die Vermutung nahe, daß der Schlingerkurs der SPD im Landtag hinsichtlich der Unterstützung der Bürgerinitiative mit einer Klage darin begründet ist, daß auch die Landesregierung von den tatsächlichen Eigentumsverhältnissen unterrichtet ist.Zu dem Vorwurf des Petenten, das Bundesministerium der Verteidigung sei auf Besorgnis und Einwände von Anwohnern des Truppenübungsplatzes nicht eingegangen, unterstütze ich die Antwort des Petitionsausschusses nur teilweise. Sie besagt, daß es zu einem noch intensiveren Meinungsaustausch hätte kommen müssen. Im Gegenzug ist aber auch zu verlangen, daß der Andersdenkende, sprich: Befürworter der Nachnutzung, seine Argumente wenigstens anbringen darf, ohne daß er bereits vorab daran gehindert wird. Beschuldigungen, wie „Lügnerin", kenne ich da aus eigener Erfahrung, ohne daß ich den Mund vorher aufmachen durfte.Es stimmt einfach nicht — das möchte ich hier im Hohen Haus nachdrücklich bekunden —, daß bei der Bevölkerung keine Akzeptanz der Bundeswehr vor-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16061
Rosemarie Priebushanden sei. Es gibt mindestens genauso viele Befürworter.
— Ich habe gesagt: mindestens.Ich zitiere aus einem nicht veröffentlichten Brief vom Februar 1993, deren es viele gibt — die Presse weigerte sich, diesen Brief zu drucken; leider ein Dauerzustand —:
Warum wird immer so getan, als ob die Entscheidung noch nicht gefallen wäre, als ob es keinen Bundestagsbeschluß gäbe?Zweitens. Man tut so, als ob alle Bürger geschlossen gegen die Nachnutzung des Truppenübungsplatzes auftreten würden. Mit welchem Recht?Drittens. Tatsache ist, daß alle Ferien- und Freizeitobjekte unter den Bedingungen des Schießplatzes entstanden sind.
— Wenn Sie mitgehört hätten, dann hätten Sie verfolgen können, daß seit 1978 auch ich Betroffene bin.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ja. —
Schließlich: Es ist bedauerlich, daß dieses Thema schon jetzt als Wahlkampfthema benutzt wird.
So viele Fragen, wer gibt die Antworten? Ende des Zitats.
Bitte nur noch einen Satz.
Ich unterstütze deshalb den Vorschlag des Petitionsausschusses, dieses Verfahren einzustellen. Mein dringlichster Wunsch ist, daß die Bürger über die wirklichen Dinge der Bundeswehr unterrichtet werden und die weitere Diskussion um den Truppenübungsplatz Wittstock diesem Charakter endlich entspricht.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Hans-Hinrich Knaape.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Werte Frau Priebus! Heute an dieser Stelle muß ich auch eine persönliche Haltung korrigieren, indem ich zum Antrag der SPD-Fraktion über die Unterstützung der Bürgerinitiative Freie Heide, den Luft/Boden-Schießplatz Wittstock im Land Brandenburg für die Nutzung durch die Bundesluftwaffe aufzugeben, spreche.Bisher war ich davon ausgegangen, daß — erstens —, wenn schon Luft/Boden-Schießübungen der Luftwaffe im Tiefflug notwendig sind, diese auch auf deutschem Boden und nicht nur im Ausland durchgeführt werden sollten.Zweitens. Die Verteilung auf drei statt bisher auf zwei Übungsplätze in Deutschland vermindert die unvermeidbaren Belästigungen in den betroffenen Gebieten erheblich, besonders wenn die Anzahl der Flüge nicht erhöht wird.Drittens hatte ich mich dafür eingesetzt, daß die Anzahl der stationierten Soldaten im Wittstocker Raum erhöht wird, was als wirtschaftlicher Faktor bedeutsam gewesen wäre.Diese Ansichten halten der Argumentation und dem eindringlich bekundeten Willen der Bürgerinitiative im Raum Wittstock nicht Stand. Die SPD-Fraktion ist überzeugt, daß durch eine rücksichtslose Enteignung von Acker und Wald 1948, 1949 und später durch die Sowjetarmee — ein Einspruch wurde nicht zur Kenntnis genommen oder abgewiesen — brutal und nachhaltig in die Befindlichkeit der Bevölkerung eingegriffen wurde.Diese Wunden — das haben wir hier in Bonn verkannt — sind nicht vernarbt, sondern im Gegenteil auch noch in der Gegenwart offen. Es wächst jetzt ein Gefühl von Heimat und Zusammenhang in dieser Region.Rücksichtslos, ohne auf Naturzerstörung, gesundheitsgefährdende Lärmbelästigung oder Beschädigung von Häusern zu achten, wurde der Bombenabwurfplatz langjährig zu jeweils nicht angekündigten Zeiten durch die Sowjetarmee mit scharfen Bomben und Bordwaffen genutzt.Zwar bestand auch schon vor dem Zweiten Weltkrieg in der Region ein Truppenübungsplatz. Er wurde aber nicht so intensiv genutzt und zerstörte nicht den Mischwald und die Heide.Wir erkennen, daß das Rechtsempfinden der Bürger nachhaltig tief verletzt wurde. Der emotionale Protest, durch Versammlungen, Demonstrationen und Wanderungen vierlerorts zu Recht bekundet, muß von uns Politikern akzeptiert werden und ist bei der Entscheidung zu beachten.Ebenso wie wir als SPD-Fraktion und auch ich persönlich die Ansicht und Haltung zum Schießplatz Wittstock ändern, indem ich mich dem Änderungsantrag zur Sammelübersicht 117, den wir eingebracht haben, anschließe, fordere ich auch die Regierungskoalition und die Bundesregierung auf, eine Revision über den Luft/Boden-Schießplatz unter den bekundeten Aspekten zu überdenken und den Appellen der dort wohnenden Bevölkerung nachzukommen. Es müssen andere Wege einer Lösung gefunden werden.Ich möchte Sie bitten, dem Antrag der SPD zuzustimmen. Es geht nicht nur um eine Abwendung einer unzumutbaren Beeinträchtigung der Lebensqualität in der Region Wittstock. Es geht in diesem Falle auch um eine Korrektur, die das Ziel hat, das deutschdeutsche Zusammenwachsen zu harmonisieren und
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16062 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Dr. Hans-Hinrich Knaapezum gegenseitigen Verständnis der Belange beizutragen.Es geht auch darum, daß in der Bevölkerung der Region trotz Bemühungen durch die Bundesregierung und auch die Bundeswehr die Bedenken gegen diesen Truppenübungsplatz nicht zerstreut werden konnten.Politik kann aber, wenn sie für den Bürger verständlich und glaubhaft bleiben soll, nicht gegen den Willen der Wähler gemacht werden. Wenn die Akzeptanz fehlt, muß nach Kompromissen gesucht werden.Die SPD des Landes Brandenburg steht hinter der Bevölkerung der Region Wittstock, wie auch die Mehrheit des Landtages in Brandenburg.Zugeben müssen wir, daß hier im Bundestag die Fraktion der SPD — im Grunde sind es die Fehler einzelner gewesen — diese klare Haltung bei zurückliegenden Abstimmungen nicht hat erkennen lassen. Wir korrigieren diese Haltung jetzt. Das tun wir offen. Das ist kein Grund zur Häme, sondern zum Nachdenken — zum Nachdenken, um Abhilfe zu schaffen.Ich glaube, es ist auch nicht die Zeit der starken Worte und der gegenseitigen Anschuldigungen. Es ist aber die Zeit der Besinnung, wie wir Deutsche in Ost und West miteinander umgehen sollten.
Wir müssen die Emotionen aus der Diskussion herausnehmen, die Argumente versachlichen und, wie im Antrag von uns gefordert, der Bundesregierung erneut Zeit geben, ihr Konzept für Wittstock zu überdenken.Ebenso wäre aber auch die Bürgerinitiative Freie Heide aufgefordert, ihre starken Worte zu mäßigen und ebenfalls in einen sachlichen Dialog überzugehen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Uwe-Bernd Lühr.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die F.D.P.-Bundestagsfraktion stimmt der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses zu.Der Truppenübungsplatz Wittstock ist im Truppenübungsplatzkonzept des BMVg für eine gemeinsame Nutzung durch Heer und Luftwaffe vorgesehen. Die Luftwaffe realisiert mit der Einbeziehung Wittstocks zwei Ziele, erstens die Verringerung des Übungsbetriebs auf den beiden westdeutschen Plätzen Nordhorn und Siegenburg durch Hinzunahme eines ostdeutschen Platzes, zweitens analog zu den Flügen im niedrigen Höhenband eine möglichst gleichmäßige Verteilung der mit den Luft/Boden-Einsätzen verbundenen Belastung.Bei der Untersuchung der in den neuen Bundesländern von der NVA und WGT genutzten Luft/BodenSchießplätzen empfahl sich der Übungsplatz Wittstock auf Grund der Lager, der Eignung für Luft/Boden-Einsätze, der relativ geringen Bevölkerungsdichte, wegen der Größe und der wegen der Größe des Platzes zu erwartenden geringen Fluglärmbelastung der Anliegergemeinden.Die GUS-Streitkräfte nutzten Wittstock montags bis freitags von 9 Uhr bis 24 Uhr und samstags von 9 Uhr bis 15 Uhr mit Kampfflugzeugen und Hubschraubem. Hierbei wurden ausschließlich scharfe Waffen, u. a. Bomben bis 500 kg, gelenkte und ungelenkte Raketen sowie Bordmunition bis 30 mm eingesetzt. Täglich wurden 450 Einsätze — das entspricht 20 000 bis 25 000 jährlichen Einsätzen — ohne Rücksichtnahme auf die Bevölkerung durchgeführt.
Die Luftwaffe plant den Einsatz in Wittstock mit dem Tornado zu Betriebszeiten, die in den Vormittags- und Nachmittagsstunden liegen. An Samstagen, Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen soll der Schießplatz geschlossen sein. Während der Sommerferien ist eine mehrwöchige schießfreie Zeit geplant. Weiterhin kommen keine scharfen Waffen, sondern ausschließlich Übungsbomben — 2,5 bis 12,5 kg — mit Rauchzündung zum Einsatz.Der geplante Nutzungsumfang beinhaltet demzufolge 3 000 Einsätze pro Jahr, also weniger als ein Sechstel der durch die ehemaligen GUS-Streitkräfte geflogenen Einsätze. Die Bundeswehr beabsichtigt als Ausgleich, nunmehr im Raum Wittstock rund 1 000 Soldaten zu stationieren.
— Sogar 1 500? Mir ist die Zahl 1 000 bekannt.
Damit verbunden wären zivile Dauerarbeitsplätze sowie Aufträge, vornehmlich in die lokale Wirtschaft, von mehr als 50 Millionen DM pro Jahr.Diese Stationierung macht Investitionen von mehr als 100 Millionen DM erforderlich, da neu gebaut werden muß. Auch bei diesen Aufträgen soll, soweit dies möglich ist, vorrangig die regionale Wirtschaft berücksichtigt werden. Hinzu kommen die Ausgaben für Altlastensanierung.Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit hat eine Privatfirma mit der Erfassung und Erstbewertung der Altlasten auf den WGT-Truppenübungsplätzen, darunter auch Witt-stock, beauftragt. Die Ergebnisse liegen meiner Kenntnis nach noch nicht vor, so daß wir hier noch keine Aussagen über Art und Umfang von Sanierungsmaßnahmen machen können.Gegen eine militärische Anschlußnutzung wendet sich eine Bürgerinitiative mit dem Konzept einer zivilen touristischen Nutzung, für das angeblich bereits ein Investor bereitsteht, der 70 Millionen DM investieren will.Wir gehen davon aus, daß hinter den Beschlüssen der zuständigen gewählten Entscheidungsgremien vor Ort nicht persönlicher Eigennutz steht, sondern eine verantwortungsvolle, zukunftsweisende Strukturentscheidung, die der Region, in der eine Arbeitslosenrate von mehr als 20 % zu verzeichnen ist, eine positive wirtschaftliche Entwicklung sichert.
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Uwe LührWenn sich der Wittstocker Bürgermeister, Herr Scheidemann, mit der dringenden Bitte an das Verteidigungsministerium wendet, endlich konkrete Informationen zum Stationierungskonzept „Fliegerhorst Wittstock" zu erhalten, damit man zweckgerichteten Horrorszenarien angeblich beabsichtigter extremer Nutzung ebenso entgegentreten kann wie den realitätsfernen Wunschvorstellungen über einen phantastischen Freizeit- und Naturpark, dann kann die F.D.P.-Fraktion diese Forderung nur unterstützen.
Die Befürworter einer militärischen Anschlußnutzung sind nirgendwo in unserer Republik in einer sonderlich komfortablen Situation, erst recht nicht dort, wo die vorangegangene Nutzung die Bevölkerung extrem belastete. Hier ist auch die Bundeswehr gefordert. Sie könnte der Agitation mit Übertreibung und dem Schüren von Ängsten vor Fortsetzung der extremen Belastung ein Ende setzen.Warum ist die Luftwaffe eigentlich nicht längst unangekündigte Übungseinsätze geflogen, die meines Erachtens von den wenigsten Anwohnern überhaupt bemerkt worden wären? Die Behauptung, daß nur geringe Belästigungen auftreten, ließen sich so zutreffend beweisen.Die Zusage der Bundeswehr, nach Wittstock zu kommen, muß schleunigst in konkrete Plandaten umgesetzt werden,
damit auch vom örtlichen Handwerk und Gewerbe sichere Investitionsentscheidungen getroffen werden können. Für das devastierte Gebiet kann das Konzept, das auf den besonderen touristischen Reiz des Gegensatzes von verwüstetem und kultiviertem Gelände setzt, keine ernsthafte Nutzungsalternative sein.
Herr Kollege Lühr, die Redezeit!
Ich komme zum letzten Satz, Herr Präsident.
Mit einer militärischen Anschlußnutzung eröffnen sich realistische Perspektiven der wirtschaftlichen Zukunft einer der ärmsten Regionen unserer Republik, die nicht zugunsten vager Träume zunichte gemacht werden sollte.
Frau Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Priebus, ich gestehe, daß Sie mir direkt ein bißchen leidtun. Wären Sie bereit, dem Hohen Haus auch mitzuteilen, was Sie gegen die Weiternutzung des Truppenübungsplatzes alles getan haben? lch denke an Fernsehsendungen, an Zeitungsartikel usw., usf. Warum sind Sie plötzlich umgekippt? Ich kann nur sagen: Sie tun mir leid.
— Aber das muß man auch mal sagen.Freud und Leid der Einheit müssen gerecht verteilt werden. — So Volker Rühe bei einem Besuch des Schießplatzes Nordhorn-Range in Niedersachsen. Zur Freude vieler Wittstocker, Neuruppiner, Kyritzer und anderer Brandenburgerinnen und Brandenburger über die Öffnung der Grenzen 1989 kam die große Hoffnung, daß nun auch endlich Schluß sei mit der verheerenden Verbombung der Heide bei Wittstock. Immerhin wurden durch die russischen Streitkräfte täglich bis zu 450 Einsätze mit scharfen Waffen durchgeführt.Die Hoffnung auf ein Ende des Bombodroms wurde, wie so viele andere Hoffnungen, nach dem Anschluß bitter enttäuscht. Natürlich haben die Bürgerinnen und Bürger jetzt das Recht, ihren Protest öffentlich zu bekunden. Sie können Unterschriften sammeln, Märsche und Kundgebungen veranstalten, Mahnsäulen aufstellen. Was aber bringt das am Ende? Welche Erfahrungen müssen sie sammeln?Mit derselben Arroganz, mit der in der DDR offener Widerstand unterdrückt wurde, erklärt der Verteidigungsminister, er sei durch Proteste nicht zu beeindrucken. Ähnliches wird auch den 120 000 Bauarbeitern passieren, die heute hier in Bonn gegen die Streichung des Schlechtwettergeldes protestiert haben.Die Briefe aus der Wittstocker Region, in denen mit sachkundigen Argumenten versucht wurde, die Bundesregierung aufzuklären, wurden entweder ignoriert oder nichtssagend — quasi auf Formblatt — beantwortet.So wies u. a. die Seniorin der Bürgerinitiative „Freie Heide" Frau Annemarie Friedrich auf die Verwandlung der Heide in eine trostlose Wüste hin, die nachweisbare Auswirkungen auf Klima und Grundwasserspiegel hatte. Traditionelle Verkehrsverbindungen zwischen den Anliegergemeinden wurden gekappt. Ein künftiges Fremdenverkehrskonzept für die Region steht und fällt mit der Entscheidung über die Weiternutzung des Bombodroms. All das schert Herrn Rühe nicht.Nach sehr langem Nachdenken hat sich nun endlich die Landesregierung Brandenburg gegen den weiteren Betrieb ausgesprochen. Auch das geht offenkundig an Herrn Rühe glatt vorbei. Jetzt soll eben rechtsstaatlich zementiert werden, was Jahrzehnte — zumindest nach Ihrer Auffassung — Unrecht war.So setzt der Verteidigungsminister sein Konzept gegen alle Bedenken und Sorgen der Betroffenen in den Regionen durch; und das betrifft Wittstock in Brandenburg ebenso wie Nordhorn-Range in Niedersachsen.Ja, der Verteidigungsminister verschafft sich auch noch Lorbeer, indem er die eine Region gegen die andere, den Westen gegen den Osten ausspielt. Es ist schon mehr als zynisch, wenn Minister Rühe bei seinem Besuch in Nordhorn gönnerhaft verspricht: Für Nordhorn wird es erträglich, wenn Wittstock kommt.
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16064 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Dr. Dagmar EnkelmannFreude und Leid sollen gerecht verteilt werden? Für die „Freude" am Bombodrom Wittstock danken wir recht herzlich.Ich danke Ihnen.
Herr Kollege Konrad Weiß, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD! In der Bibel heißt es: Im Himmel ist mehr Freude über 99 Sünder als über einen einzigen Gerechten.
Herr Kollege Weiß, Sie haben die Zahl etwas hoch gegriffen.
Ja, es sind nicht so viele anwesend. Auf jeden Fall freue ich mich mit den Engeln über die Entscheidung der SPD, ihre im Petitionsausschuß vertretene Auffassung gegen die Bürgerinitiative zu revidieren.
Frau Kollegin Priebus, was Sie hier dem Hohen Hause vorgetragen haben, ist einfach unerhört.
Am 19. Februar 1993 hat auf einer Veranstaltung, zu der auch Sie eingeladen waren, an der Sie aber nicht teilgenommen haben, in Anwesenheit vieler Bürgerinnen und Bürger aus dem Gebiet — übertragen vom Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg, aufgezeichnet vom „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt" und wiedergegeben in einer großen Dokumentation — u. a. der Ministerpräsident von Brandenburg dreimal erklärt, auf die Nachfrage von Vera Wollenberger und von mir, daß er sich eindeutig gegen die militärische Weiternutzung von Wittstock ausspricht. Ich denke, Minister Bräutigam wird darauf auch noch einmal eingehen.
Herr Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Aber selbstverständlich!
Bitte, Frau Priebus.
Herr Weiß, ist Ihnen bewußt, daß sich meine Aussage zur Haltung des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg auf die Zeit bis zur Entscheidung, also bis zum 14. Januar 1993 bezogen hat? Sie erwähnten jetzt ein Datum im Februar 1993.
Verehrte Kollegin, es gehört doch zumindest zur Fairneß dazu, wie wir als Parlamentarier miteinander umgehen sollten, dann auch die Haltung des Ministerpräsidenten nach diesem Datum deutlich zu machen.
Was ist denn das für ein Stil?
Aber das paßt natürlich völlig zu dem, was Sie den Funktionsträgern der CDU-Kreisverbände in Kyritz und Neuruppin geschrieben haben. Ich zitiere aus Ihrem Brief vom 25. Februar 1993, in dem Sie rhetorisch fragen: „Wollen Sie es verantworten, daß die Landkreise Wittstock und Neuruppin zum Truppenübungsplatz für Autonome werden?"
Sie beziehen sich dabei auf die Protestwanderungen von Betroffenen, von friedlichen Bäuerinnen und Bauern, von Märkern aus Brandenburg und engagierten Bürgerinnen und Bürgern aus Berlin,
die Monat für Monat in Wittstock zusammenkommen, um gegen den Einmarsch der Bundeswehr in Witt-stock zu protestieren. Die können Sie doch nicht als autonome Chaoten bezeichnen. Wenn Sie auch nur einmal an diesen friedlichen Protestwanderungen teilgenommen hätten, wo wir gemeinsam gesungen, wo wir getanzt und gebetet haben, wo wir nachgedacht haben über die friedliche Nutzung von Witt- stock, dann wüßten Sie, wie diese „autonomen Chaoten" aussehen. Das sind handfeste, ortsgebundene, bodenstämmige Leute, die dort diesen Protest gegen den Truppenübungsplatz durchführen.
Meine Damen und Herren, es gibt nur eine Möglichkeit. Nach 40 Jahren der Zerstörung dieses Landstriches muß dieses Gebiet, das den Leuten von stalinistischen Terroristen mit Hilfe der SED und ihrer Blockparteivasallen weggenommen worden ist —
Herr Kollege Weiß — —
— ich komme zum Ende, Herr Präsident —, diesen zurückgegeben werden.
Die Bundesregierung selbst sagt — Frau Priebus, vielleicht fragen Sie einmal die Damen und Herren von der Bundesregierung —, daß für mehr als 210 Hektar Rückübertragungsansprüche von Privatpersonen bestehen —
Herr Kollege Weiß, bitte nur noch einen Schlußsatz!
— und daß noch nicht geklärt ist, wieviel öffentliche Körperschaften ebenfalls Ansprüche auf diese Rückübertragung gestellt haben.
Ich danke Ihnen für Ihre Geduld, Herr Präsident.
Herr Kollege Weiß, das ist keine Frage meiner Geduld, es ist eine Frage der Fairneß gegenüber den Kollegen, mit denen die Redezeiten ausgemacht sind.Ich erteile das Wort dem Minister der Justiz des Landes Brandenburg, Herrn Dr. Hans Otto Bräutigam.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16065
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Die Landesregierung von Brandenburg unterstützt ganz nachdrücklich die Petition, mit der die Bürger von Wittstock und Umgebung die Schließung des Truppenübungsplatzes Wittstock verlangen.
Einige von Ihnen werden wissen, daß Anfang der 50er Jahre dieses früher einmal land- und forstwirtschaftlich genutzte Land ohne angemessene Entschädigung für militärische Zwecke der sowjetischen Besatzungsmacht enteignet worden ist. Seitdem haben die sowjetischen Streitkräfte den Truppenübungsplatz für Bombenabwürfe genutzt. Die Übungen erfolgten ohne Vorwarnung bei Tag und bei Nacht. Häufig durchbrachen Flugzeuge im Tiefflug die Schallmauer. Die Lebensqualität der Menschen in der Umgebung ist dadurch schwer beeinträchtigt worden. Ich denke, Frau Priebus, Sie werden uns bestätigen können, daß auch Ihre Lebensqualität früher beeinträchtigt worden ist. Viele Häuser in den umliegenden Dörfern sind durch die Detonationen in Mitleidenschaft gezogen worden.
Seit der Wende 1990 haben die Menschen in und um Wittstock die Hoffnung, daß diese Kriegsübungen ein Ende haben. Sie stellten sich auf eine zivile Perspektive ein, und wer die Prignitz kennt, weiß, daß sich die so reizvolle Heidelandschaft für eine touristische Erschließung geradezu anbietet. Darauf sind die Menschen in dieser Region heute, nach dem Niedergang der Landwirtschaft, auch dringend angewiesen.
— Natürlich muß das in Ordnung gebracht werden. Das ist überhaupt keine Frage. Das ist eine Verantwortung des Landes Brandenburg, und es ist auch und insbesondere eine Verantwortung der Bundesregierung. Darüber sind wir uns ja einig. Hoffentlich sind wir uns dann auch darin einig — und dazu ist es nur ein kleiner Schritt —, daß dies in Zukunft aufzuhören hat.
Zunächst sah es ja auch so aus, als würde die Bundeswehr davon Abstand nehmen, die bisher von den sowjetischen Streitkräften in Anspruch genommenen Liegenschaften weiterhin für militärische Zwecke zu nutzen. Im Falle Wittstock ist diese Erwartung dann bitter enttäuscht worden. Das 1992 vorgelegte Truppenübungsplatzkonzept sieht vor, daß der Platz Wittstock durch Luftwaffe und Heer erneut, und zwar für Bombenabwürfe, genutzt werden soll. Die zivile Entwicklungsperspektive für diese Region wird damit praktisch zunichte gemacht.
Die ganz große Mehrheit der Bevölkerung in diesem Raum lehnt eine militärische Nutzung dieses Truppenübungsplatzes ab.
— Nein, den kenne ich zwar nicht, aber, bitte, hören Sie zu!
Ich habe zu diesem Punkt noch mehr zu sagen. Ich
rede auch über die Bombenabwürfe, und die haben
— so meine ich in der Tat — in der gesamten Bundesrepublik heute nichts mehr zu suchen.
Die beteiligten Kreistage, der Landtag und die Landesregierung haben sich mit eindeutigen Beschlüssen für eine zivile Nutzung ausgesprochen. Der Ministerpräsident, liebe Frau Priebus, hat dazu ganz eindeutig Stellung genommen, nicht wie aus der Pistole geschossen, sondern nach einer sorgfältigen Prüfung, und dann ganz eindeutig. Sie müssen das lesen, wenn Sie es bisher nicht getan haben. An den Veranstaltungen, bei denen er war, haben Sie ja in aller Regel gar nicht teilgenommen.
Die Bundeswehr hat sich — das trifft zu — von den Demonstrationen und Stellungnahmen bisher nicht beeindrucken lassen. Sie hat zwar eine Stationierung von 1 500 Soldaten in Wittstock in Aussicht gestellt, aber auch das hat die betroffenen Menschen nicht von ihrer Ablehnung abbringen können. Es ist eine Tatsache, daß es für diesen Truppenübungsplatz in der Bevölkerung keine, aber auch gar keine Akzeptanz gibt.
Es ist leicht, das zu kritisieren. Die Abgeordnete Priebus hat uns eine Kostprobe gegeben, wie man das machen kann. Sie hat es in ganz polemischer Form getan, mit Polemik gegen Personen. Ich glaube, das hat der Sache nicht gedient. Aber Sie müssen wissen, wie Sie diese Auseinandersetzung führen wollen. Sie können diese Auseinandersetzung über die Sache führen, und Sie können diese Auseinandersetzung gegen Personen führen. Sie müssen das wählen. Bitte, das ist Ihre Entscheidung.
Herr Minister, die vereinbarte Redezeit wäre jetzt zu Ende.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bitte, Herr Vorsitzender,
daß Sie mir noch einen Augenblick Zeit geben, weil ich zu einem wichtigen Punkt kommen möchte. Ich werde dann aber schnell zum Schluß kommen.
Alle Teile der Bundesrepublik Deutschland haben für die Landesverteidigung Opfer zu bringen. Darüber, denke ich, kann es in diesem Hause keine
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16066 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Minister Dr. Hans Otto Bräutigam Meinungsverschiedenheiten geben. Das gilt selbstverständlich auch für die neuen Länder. Auch Brandenburg ist dazu bereit. Ich unterstreiche das ganz ausdrücklich. Daran kann überhaupt kein Zweifel bestehen. Eine ganze Reihe von Truppenübungsplätzen, die die Bundeswehr für eine Weiternutzung in Erwägung gezogen hat, sind von der Bevölkerung bereitwillig und mit Verständnis akzeptiert worden. Daß die meisten Plätze dann doch aufgegeben werden sollen, steht auf einem ganz anderen Blatt. Schon daraus kann man erkennen, daß die Ablehnung des Truppenübungsplatzes Wittstock nicht mit einer allgemeinen Aversion gegen die Bundeswehr zu tun hat.
Für die Bombenabwürfe aber, die für die Menschen eine schwere Beeinträchtigung bedeuten, gibt es keine Akzeptanz; das ist der Unterschied.
Das Insistieren der Bundeswehr auf dieser Nutzung bringt nun die Gefahr mit sich — ich bitte in diesem Punkt um Ihre Aufmerksamkeit —, daß sich die positive Einstellung zur Bundeswehr im Lande insgesamt ändert und in Mitleidenschaft gezogen wird. Das beunruhigt die Landesregierung in einem außerordentlichen Maße. Die fehlende Akzeptanz in Witt-stock und die damit verbundenen psychologischen Probleme haben die Landesregierung veranlaßt, ihre Bedenken auch in Bonn mit großem Nachdruck vorzutragen. Es steht hier mehr auf dem Spiel als ein Truppenübungsplatz.Ich möchte hier nicht näher auf die Frage eingehen, ob die Bundeswehr in der Nachfolge der sowjetischen Streitkräfte überhaupt rechtlich befugt ist, dieses früher enteignete Land weiterhin für militärische Zwecke in Anspruch zu nehmen. Nach Auffassung der Landesregierung ist das aus Rechtsgründen außerordentlich zweifelhaft. Die Landesregierung wird zu dieser Frage ein Rechtsgutachten einholen und behält sich rechtliche Schritte vor.
Verzeihung, Herr Minister; Sie sprengen jetzt jeden Rahmen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gut, dann bitte ich, nur noch einen Satz sagen zu dürfen.
Ich appelliere an Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, für die strapazierten Nerven und die verletzten Gefühle der Menschen in dieser Region Verständnis aufzubringen. Bitte fordern Sie die Bundesregierung auf, von diesem politisch fragwürdigen Projekt Abstand zu nehmen!
Ich danke Ihnen.
Verehrter Herr Bräutigam, Sie bringen mich in eine schwierige Situation. Die Bundesregierung und der Bundesrat haben, wie es die Verfassung vorsieht, jederzeit Rederecht. Nun wird davon vor allem auch seitens des Bundesrates in letzter Zeit ausgiebig Gebrauch gemacht. Wir haben deshalb eine Abmachung getroffen, daß diese Redezeiten jeweils den Fraktionen zugerechnet werden.
Wenn nun ein Landesminister spricht, nachdem seine Fraktion bereits gesprochen hat, ihr also keine Redezeit mehr abgezogen werden kann, und sich dann nicht an die Vereinbarung hält — —
— Entschuldigung, ich will nur verdeutlichen, wie kompliziert diese Situation für mich ist, und begründen, warum ich dem Kollegen rechtzeitig ins Wort gehen muß, zumal dieses fabelhafte System schon wieder dazu geführt hat, daß die Lichter am Rednerpult nicht aufleuchten.
Ich erteile der Parlamentarischen Staatssekretärin im Bundesministerium der Verteidigung, unserer Kollegin Michaela Geiger, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die in der Sammelübersicht 117 vom Petitionsausschuß behandelten drei Petitionen betreffen, wie schon festgestellt, das Truppenübungsplatzkonzept der Bundeswehr. Die Petenten wenden gegen eine nach ihrer Auffassung flächenmäßig überproportionale Nutzung des Landes Brandenburg für Truppenübungsplätze und insbesondere gegen den Truppenübungsplatz Wittstock.
Das Truppenübungsplatzkonzept der Bundeswehr wurde am 14. Januar 1993 ausführlich im Deutschen Bundestag beraten. Danach haben die Abgeordneten in namentlicher Abstimmung mehrheitlich diesem Konzept zugestimmt. Der Entscheidung vorausgegangen sind sehr gründliche Beratungen mit den Landesregierungen und den kommunalen Körperschaften und eine breite öffentliche Debatte.
Wichtig für alle, die trotzdem noch anderer Meinung sind, ist: Für uns ist damit der Dialog mit den Bürgern nicht beendet. Wir werden in den dafür eingerichteten Arbeitsgruppen versuchen, Vorbehalte abzubauen und Einzelheiten der vorgesehenen Nutzung weiter zu erörtern.
Auch der Truppenübungsplatz Wittstock wird in einer — gegenüber früher — nicht vergleichbaren, deutlich reduzierten Art, die sich an den Belangen der Bevölkerung, der Ökologie und des Umweltschutzes orientiert, genutzt werden.
Frau Parlamentarische Staatssekretärin, der Kollege Konrad Weiß würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie die zu?
Ich möchte jetzt bitte
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16067
Parl. Staatssekretärin Michaela Geigerweiterreden. Es waren Kollegen, die mir bedeutet haben, ich solle jetzt weitermachen.
An Sonntagen und Feiertagen wird kein Schießbetrieb stattfinden. Während der Hauptferienzeit — das zum Thema Tourismus — ist eine mehrwöchige schießfreie Zeit vorgesehen. Sie sehen also schon, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Zustände auf den Truppenübungsplätzen, die von der Bundeswehr genutzt werden, lassen sich in keiner Weise mit den Zuständen der Truppenübungsplätze der früheren DDR vergleichen. Bei uns herrschen ganz andere Regeln.
Es darf auch nicht übersehen werden, daß die in diesem Zusammenhang vorgesehene große Garnison Wittstock erhebliche wirtschaftliche Impulse in die Region einbringen und zahlreiche Arbeitsplätze schaffen wird.
— Herr Weiß, ich möchte Ihnen eines sagen: Es wurde vorhin gesagt, daß niemand einen Truppenübungsplatz möchte. Das ist nicht richtig. Ich höre derzeit von zahlreichen Bürgerinitiativen pro Truppenübungsplätze, und zwar dort, wo wir vielleicht welche schließen müssen.
Die Menschen, die die Verhältnisse auf unseren Truppenübungsplätzen schon kennen, z .B. auf Grafenwöhr und anderen Truppenübungsplätzen, wollen an ihren Truppenübungsplätzen festhalten.
Die Belastung der Bürger des Landes Brandenburg wird wegen der vergleichsweise geringen Bevölkerungsdichte nicht stärker sein als in anderen Bundesländern. Voraussichtlich werden wir zusätzlich auf einen der beiden Truppenübungsplätze Lehnin und Jüterbog, abhängig vom zukünftigen Standort des Großflughafens Berlin-Brandenburg, und zusätzlich auf den Truppenübungsplatz Wünsdorf verzichten, was zu einer weiteren Entlastung des Landes Brandenburg beitragen wird.Ich bitte deshalb um Unterstützung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses.
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/5970. Wer stimmt für den Änderungsantrag? — Bitte halten Sie einen Moment Ihre Hände oben, damit wir zählen können, weil das Ergebnis relativ knapp ist. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses? — Gegenprobe! — Danke. Enthaltungen? — Damit ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Meine Damen und Herren, bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, weise ich nochmals darauf hin, daß nach einer Vereinbarung im Ältestenrat die morgige Plenarsitzung bereits um 8.30 Uhr beginnt. Dies sage ich an die Adresse der Kollegen, die an den Lautsprechern in ihren Büros mithören, und auch mit der Bitte an Sie, es den anderen Kollegen mitzuteilen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 a und b sowie den Zusatzpunkt 5 auf:
11. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Konrad Elmer, Hanna Wolf, Erika Simm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Umgestaltung des Zivildienstes und Änderung der Anerkennungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer
— Drucksache 12/3735 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Familie und Senioren
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Vera Wollenberger, Dr. Klaus-Dieter Feige, Ingrid Köppe, weiterer Abgeordneter und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Abschaffung der Wehrpflicht und des Zivildienstes
— Drucksache 12/5767 —
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuß Innenausschuß
Ausschuß für Frauen und Jugend
ZP5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Lederer, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Abschaffung der Wehrpflicht — Drucksache 12/6033 —
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuß Ausschuß für Frauen und Jugend
Ich erteile dem Kollegen Konrad Elmer das Wort.
Meine Damen und Herren! Ich möchte nicht mit unserem Antrag beginnen, sondern mit dem vom BÜNDNIS 90. Die Frage der Abschaffung der Wehrpflicht steht auf der Tagesordnung. Es ist sicher kein Geheimnis, daß in allen Fraktionen über diese Problematik — Wehrpflicht, Freiwilligenarmee, Berufsarmee — diskutiert wird. Es liegt in der Natur der Sache, daß sich eine kleinere Gruppe hier schneller auf ein Konzept einigen kann als eine große Volkspartei wie die der Sozialdemokraten.Deshalb kann ich hier nur sagen, daß ich persönlich Respekt vor diesem Antrag habe und denke, daß er
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16068 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Dr. Konrad Elmerspätestens nach den nächsten Wahlen — nach denen das BÜNDNIS 90 vielleicht sogar mit in der Regierungsverantwortung ist —
mit noch ganz anderem Nachdruck auf die Tagesordnung kommen wird. Aber im Moment kann ich leider im Blick auf unsere Fraktion nur sagen, daß der Diskussionsprozeß anhält und daß wir abwarten müssen, nach welcher Seite sich die Waage neigt.
Eine Sekunde, Herr Kollege Elmer. — Es sind reichlich Sitzplätze vorhanden. Ich darf also die Kollegen bitten, sofern sie an dieser Debatte teilnehmen wollen, Platz zu nehmen.
Der eigentliche argumentative Ausgangspunkt des Antrags von BÜNDNIS 90 ist das Problem der Wehrgerechtigkeit. Genau hier setzt unser Antrag zur Umgestaltung des Zivildienstes und zur Änderung der Anerkennungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer an. Die Wehrgerechtigkeit ist in der Tat ein Problem geworden und wird es immer mehr, je geringer die Zahlen des Bedarfs der Bundeswehr an Soldaten werden. Es ist ja kein Zufall, daß erst kürzlich, wie ich hörte, 12 000 Einberufungsbescheide für Oktober aufgehoben werden mußten,
weil ein entsprechender Bedarf nicht vorhanden war.Es mag sein, daß diese Information korrigiert werden muß, wie Sie es mir zurufen; aber so war es jedenfalls verlautbart worden.Ich will nur sagen: Für mich ist schon deswegen klar, daß der Bedarf mehr als gedeckt wird, weil sich die Regierung ja immer noch administrative Ausnahmeregelungen leistet, die gar nicht gesetzlich abgesichert sind, wie z. B. die Dritte-Brüder-Regelung und die Väterregelung. Das ist alles sinnvoll; aber das müßte endlich gesetzlich geregelt werden, weil es sich hierbei um Eingriffe in erhebliche Persönlichkeitsrechte handelt und die Ausnahmen nicht einfach der Exekutive überlassen bleiben können. Daß Sie das dennoch tun, zeigt, daß es noch Reserven gibt.Im übrigen wird in den Statistiken immer nur die Jahrgangsstärke verwendet, aber nicht bedacht, daß es bei uns in jedem Jahr 200 000 Zuwanderer gibt, von denen etwa die Hälfte junge Leute sind und davon wieder die Hälfte junge Männer, so daß man mit zusätzlichen 50 000 Wehrpflichtigen rechnen darf, bei denen man überhaupt nicht weiß, wo sie bei der Bundeswehr unterzubringen sind.Deswegen und vor allen Dingen wegen der Gerechtigkeit erheben wir unsere Forderung, in der Zukunft die tatsächliche durchschnittliche Dauer des Wehrdienstes auf die Dauer des Zivildienstes zu übertragen. Dies würde nach unseren Berechnungen bedeuten: zwölf Monate und drei Tage. Denn eine längere Dauer kommt mit Berücksichtigung der Wehrübungen nicht zustande. Ja, es kann gar keine längere Dauer zustande kommen, wenn man die Kapazität derWehrübungsplätze zugrunde legt. Aber wir sind großzügig und sagen: Okay, zwölf Monate und eine Woche. Dann können wir auch den Fall berücksichtigen, daß es tatsächlich mal etwas mehr werden könnte.Nun aber dauert der Zivildienst immer noch drei Monate länger. Die Begründung ist in der Regel — wir werden sie auch nachher hören — die sehr viel stärkere Belastung durch den Wehrdienst im Vergleich zum Zivildienst, z. B. durch die Wehrübungen. Wie gesagt, für sie ist eine Dauer von 2 Tagen anzusetzen.Vor allen Dingen, so sagt man, komme die Verfügungsbereitschaft hinzu. Was hat es denn mit der Verfügungsbereitschaft auf sich? Das letzte Mal, als diese Verfügungsbereitschaft Wirklichkeit wurde, das war vor fast einem Vierteljahrhundert, bei der tragischen Niederschlagung des Prager Frühlings, der uns damals, in der DDR, besonders schwer getroffen hat. Damit wollen Sie heute noch eine zusätzliche Belastung begründen, wo wir von Freunden umzingelt sind? Die eine Hälfte davon ist in unserem Bündnis, und die andere Hälfte wäre lieber heute als morgen im Bündnis. Nein, ich kann diese Auffassung nicht teilen.Sie werden sich nachher auf das Verfassungsgericht berufen, das Ihnen einen Freibrief gegeben hat, den Zivildienst bis zu einem Drittel länger dauern zu lassen. Aber das ist ja nur eine Möglichkeit. Ob Sie sie wahrnehmen oder nicht, liegt in Ihrer und unserer Verantwortung. Deswegen müssen wir über die Gründe reden, warum wir eine so viel längere Zivildienstzeit haben wollen. Meine Vermutung ist: Sie möchten mit den drei Monaten weiterhin einen Abschreckungseffekt für den Zivildienst behalten, weil Sie immer noch Angst haben, es könnten am Ende zu wenige Wehrpflichtige sein. Diese Angst ist aber völlig unbegründet.Ich habe gelesen, daß man angesichts der steigenden Zahl von Zivildienstleistenden die Gewissensprüfungen verschärfen müßte. Da kann ich nur fragen: Was ist das für ein Grundrechtsverständnis? Als ob die Wahrnehmung eines Grundrechts davon abhängig gemacht werden könnte, wie viele Personen es wahrnehmen! Ich kann nur sagen: Ich war froh, in den Bereich von Grundrechten zu treten, wo eine solche Argumentation eigentlich längst ausgeschlossen sein sollte.Ein kürzerer Zivildienst würde außerdem natürlich Geld einsparen, und wir würden bei der von uns vorgeschlagenen Verkürzung genau das Geld sparen, was Sie jetzt so schmerzlich durch Kürzungen der Zuschüsse einzutreiben versuchen. Diese könnten dadurch also rückgängig gemacht werden. Auch dies wäre doch wohl sehr zu empfehlen.Ich erwähne von den vielen Verbesserungsvorschlägen in diesem Bereich, die Sie nachlesen können, hier im wesentlichen die Verlagerung aller Anerkennungsverfahren zum Bundesministerium für Frauen und Jugend, und zwar schriftlich und nach Aktenlage, und unseren Vorschlag, junge Menschen, die in Pflegeberufe gehen, vom Zivildienst und Wehrdienst freizustellen, und zwar nicht nur, um den
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Dr. Konrad ElmerPflegenotstand zu beheben, sondern um für die, die bei der Diskussion an eine Abschaffung der Wehrpflicht denken, überhaupt erst die Möglichkeit zu schaffen, einen Übergang vom Zivildienst zu einer normalen Versorgung des Pflegebereichs zu kommen.Aber auch für die, die die Wehrpflicht beibehalten wollen, ist unser Antrag eine wichtige Hilfe, weil die Wehrgerechtigkeit länger erhalten werden kann, wenn mehr junge Männer zum Zivildienst gehen und der Rest dann wirklich eingezogen werden kann.Ich möchte nicht verschweigen, daß wir bemerkt haben, daß einige unserer Forderungen, die merkwürdigerweise schon seit einem Jahr auf die Beratung warten und erst heute an die Reihe gekommen sind,
von der Regierung in vorauseilendem Gehorsam in Angriff genommen wurden, nämlich z. B. die Berücksichtigung der Benachteiligung junger Männer durch DDR-Unrecht oder durch einigungsbedingte Schwierigkeiten in der Ausbildung. Hier ist es in der Tat zur Anerkennung besonderer Härten gekommen.
Ich möchte abschließend noch erwähnen, daß mir ein Passus im Antrag des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN — II 2 b) aa — sehr wichtig zu sein scheint, daß wir nämlich beschließen, uns dafür einzusetzen, daß im gesamten Bereich der KSZE ein den Menschenrechten entsprechendes Wehrdienstverweigerungsrecht verwirklicht wird. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal die Bundesregierung auffordern, vor allen Dingen im eigenen Bereich der Europäischen Gemeinschaft tätig zu werden und in Griechenland immer wieder anzuklopfen, wo es immer noch keine geregelte Kriegsdienstverweigerung gibt. Vielleicht eröffnen sich durch die Regierungsveränderungen dort neue Möglichkeiten.Summa summarum: Mehr Zivildienstleistende, die es vielleicht tatsächlich gäbe, wenn die Abschrekkungsmaßnahme „drei Monate mehr" nicht mehr besteht, würden die Wehrgerechtigkeit verbessern und damit die Chancen für die, die die Wehrpflicht beibehalten wollen; und die, die sie abschaffen wollen, könnten mit unserem Vorschlag, im Pflegebereich einen Anreiz für mehr Jugendliche zu geben, diesen Beruf zu ergreifen, den Übergang gestalten, so daß ich eigentlich keinen Grund sehe, warum man unserem Antrag nicht zustimmen sollte.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Vera Wollenberger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die Abschaffung der Wehrpflicht gibt es vielerlei Gründe.Dieses Haus hat sich leider bisher mehrheitlich noch nicht entschließen können, diese Tatsache zur Kenntnis zu nehmen. Das sieht selbst Herr Feldmeyer von der FAZ so, der nun wahrlich kein Parteifreund von mir ist.Allerdings kann ich heute mit Freude feststellen, daß die Front der Wehrdienstbefürworter bereits merklich bröckelt. Niemand glaubt mehr ernsthaft, die Bundeswehr könne oder müsse auf einem Stand von 370 000 Mann gehalten werden. Doch bisher weigert sich die Führung der Bundeswehr, die Planung für die notwendige Verkleinerung anzugehen.Dieses Festhalten an überholten politischen Positionen, dieses Klammern an Dogmen ist mir aus anderen Zeiten nur zu gut bekannt.
Bekannt ist aber auch, daß es am Ende nicht hilft, die Augen vor der Realität zu verschließen. Die Realität ist, daß es keine Alternative zu einer schnellen Verkleinerung der Bundeswehr und zur Abkehr von militärischen Lösungen für die Probleme dieser Welt gibt.Doch schon jetzt ist die Wehrpflicht nicht zu halten. Von Wehrgerechtigkeit kann schlechthin keine Rede mehr sein, wenn von Jahrgängen mit durchschnittlich 320 000 tauglichen Wehrpflichtigen nicht einmal mehr 100 000 zur Bundeswehr eingezogen werden.Zivildienst, Ersatzdienste und Wehrdienstausnahmen können dieses Defizit nicht ausgleichen. Ein Lotteriespiel Wehrdienst ist aber weder politisch noch juristisch vertretbar.Völlig inakzeptabel sind die Pläne der Regierungskoalition, den Bundesgrenzschutz mit Wehrpflichtigen aufzufüllen oder gar die Polizeien der Länder mit einzubeziehen. Die Unionspläne, dies unter Berufung auf die Notstandsgesetze per Zwangsverpflichtung zu tun, können nicht ernst gemeint sein; jedenfalls sind sie unhaltbar.Auf welchen Notstand will man sich berufen? Die mangelnde Attraktivität des BGS soll so möglichst billig behoben werden. Das ist ein Schritt zur Militarisierung des Polizeidienstes, der nicht hingenommen werden kann. Zudem ist es nicht wünschenswert, die Polizei des Bundes weiter auszubauen, denn das bedeutet eine Beschränkung von Länderkompetenzen.Das Ende der Wehrpflicht ist mit solch abenteuerlichen Vorhaben nicht mehr zu verhindern. Der Zivildienst und seine oft behauptete Unverzichtbarkeit sind jedenfalls keine ausreichende Begründung für die Beibehaltung der Wehrpflicht. Es gilt die Faustregel: Je kürzer die Dienstzeiten, desto teurer wird der Einsatz von Zivildienstleistenden im Verhältnis zum Einsatz von Profis.Auf dieser Basis lohnt sich auch keine allgemeine Dienstpflicht. Allein die Kostenunterschiede würden in Bälde das Ende der Wehr- und Ersatzdienstpflicht erzwingen. Denn bereits jetzt ist der Zivildienst volkswirtschaftlich teurer als die Bezahlung tariflich bezahlter Arbeitskräfte, wie Untersuchungen der Uni Bremen und der TH Darmstadt ergeben haben.
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16070 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Vera WollenbergerZudem würde der Einsatz hauptberuflicher Kräfte anstelle der Zivildienstleistenden einen wesentlichen Beitrag zur Entlastung des Arbeitsmarktes und der Sozialversicherung leisten.Auch nach Abschaffung der Wehrpflicht ist das umfassende Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung mit und ohne Waffe abzusichern. In diesem Sinne sollen auch Dienstverpflichtungen, etwa auf Grund des Arbeitssicherstellungsgesetzes sowie des Katastrophenschutzergänzungsgesetzes, ausgeschlossen bleiben.Wir wenden uns gegen jegliche Überlegung für eine allgemeine Dienstpflicht.
Frau Kollegin Wollenberger!
Ich bin sofort fertig. — Diejenigen, die vom Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung Gebrauch gemacht haben, sind vor Nachteilen aus ihrer Entscheidung zu schützen. Insbesondere ist eine Amnestie für Totalverweigerer erforderlich, die sie vor Strafverfolgung bewahrt, auch schon bevor die Wehrpflicht endgültig abgeschafft ist.
Das Wort hat die Kollegin Andrea Lederer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich sollte es heute nur um den Antrag der SPD gehen, der eine gerechtere und sozial verbesserte Lage für die Zivildienstleistenden fordert.Ich finde den Antrag gut, und wir werden ihn sowohl in den Ausschüssen als auch in der zweiten und der dritten Beratung unterstützen.
— Sie müssen sich überlegen, was in den Anträgen steht. Ich finde es eigentlich nicht schlecht, wenn wir einmal in einem Punkt einer Meinung sind.Aber — und deshalb finde ich es auch richtig, daß die beiden Anträge der Gruppen PDS/Linke Liste und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Abschaffung der Wehrpflicht mitbehandelt werden — der Antrag der SPD geht einfach am eigentlichen Problem vorbei. Und das ist eben die Aufrechterhaltung der Wehrpflicht, die heute gar nicht mehr so allgemein ist, wie sie immer genannt wird.Sowenig Wehrgerechtigkeit besteht — ich glaube, da sind wir uns sogar fraktions- und gruppenübergreifend einig —, so wenig Gerechtigkeit besteht dann erst recht gegenüber den Zivildienstleistenden, die eben zu 100 % ihren Dienst zu verrichten haben.Wenn Sie von der SPD — wie ich jetzt in Ihrem Leitantrag zu Ihrem November-Parteitag gelesen habe — so lange wie möglich an der Wehrpflicht festhalten wollen, dann müssen Sie auch Fragen nach dieser Art von Ungerechtigkeit beantworten können.Sie, Herr Elmer, haben ja angedeutet, wie Sie sich die Lösung vorstellen könnten. Ich hoffe, Ihre Fraktion folgt dem in der nächsten Legislaturperiode.Ich will auf ein Hauptmotiv für unseren Antrag zu sprechen kommen, weil sich in den drei Minuten Redezeit ein Bündel von Motiven nicht vollständig nennen läßt, und zwar ist das ein Argument, das für mich gerade in der aktuellen Auseinandersetzung um die künftige — auch militärische — Rolle Deutschlands eine erhebliche Bedeutung hat.Wie Sie wissen, lehnen wir jegliche Auslandseinsätze der Bundeswehr ab. Unsere Kritik und unser Widerstand gelten der Politik der Bundesregierung in dieser Frage. Wollen Sie allen Ernstes jungen Männern gegenüber verantworten, zwangsweise an den militärischen Abenteuern der Bundesregierung teilnehmen zu müssen?
Ich garantiere Ihnen, daß es eine Frage lediglich kurzer Zeit ist, daß Wehrpflichtige nicht mehr gefragt werden —
— hören Sie bitte einmal kurz zu —, ob sie wollen, sondern gezwungen sein werden, an Auslandseinsätzen teilzunehmen. Das ist lediglich eine Frage der Zeit und eine Frage, in welcher Geschwindigkeit Sie Ihre Politik weiter durchsetzen können.
Ich weiß, daß dem oft das Argument entgegengesetzt wird, damit würde man eine Berufsarmee fordern oder in Kauf nehmen. Allerdings glaube ich, eine solche Unterstellung ist demagogisch. Unser Antrag beweist das Gegenteil.Natürlich muß die Abschaffung der Wehrpflicht verbunden sein mit einer weitgehenden Reduzierung der Bundeswehr, mit Konversion und mit professionellem Ersatz der Arbeitsplätze, die Zivildienstleistende zur Zeit einnehmen, was übrigens finanziell auch möglich ist, wie die Kollegin Wollenberger erwähnt hat.
Sie muß vor allem verbunden sein mit einer generellen Abkehr von der Militarisierung der Außenpolitik und einer intensiven Konzentration auf nichtmilitärische Konfliktlösung und Konfliktursachenbekämpfung.
Der Wegfall einer tatsächlichen oder angeblichen Bedrohung, die von Ihnen auch nicht mehr allen Ernstes behauptet werden kann, rechtfertigt, einen ersten und vor allem auch symbolträchtigen Schritt zu gehen, in eine Richtung, die tatsächlich etwas mit Friedensdividende zu tun haben könnte. Ich kann mir
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Andrea Lederernur wünschen, daß wir in den Beratungen in dieser Frage weiterkommen.
Frau Kollegin Claudia Nolte, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Erst vor kurzem haben wir im Ausschuß für Frauen und Jugend zwei Anträge zur Änderung des Zivildienstgesetzes beraten. Mich wundert es schon, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, daß Sie nicht versucht haben, Ihren heute zur Debatte stehenden Antrag in diesem Zusammenhang mitberaten zu lassen. Man gewinnt den Eindruck, daß Sie selbst an Ihren eigenen Anträgen kein Interesse haben.
Ein Blick in die Vorlage verstärkt den Eindruck noch.Sie fordern Dinge, die längst Praxis sind und auch schon vor einem Jahr waren, Herr Kollege Elmer, und suggerieren damit, daß es große Versäumnisse gebe.
Das ist unredlich, meine Damen und Herren.So können bereits, um nur ein Beispiel zu nennen, Zivildienstleistende, die zum Einsatz in der individuellen Pflege von Schwerstbehinderten einberufen und dorthin versetzt werden, nach je zwei Monaten tatsächlicher Dienstleistung einen Zusatzurlaub von einem Arbeitstag in Anspruch nehmen. Eine ebensolche Regelung beim mobilen sozialen Hilfsdienst wäre nicht gerechtfertigt, da keine vergleichbare Dienstbelastung besteht.Ein anderes Beispiel ist Ihre Forderung, Dienststellen zu einer psychologischen Begleitung zu verpflichten, wenn Zivildienstleistende in seelisch belastenden Tätigkeitsfeldern eingesetzt werden. Sie müßten es eigentlich wissen: Das Bundesamt für den Zivildienst bezahlt bereits seit Jahren Zuschüsse für Seminare unter Leitung von Psychologen und anderen Fachleuten, die von den Dienststellen und Verbänden initiiert werden.
Die Hilfestellung gibt es in jedem Fall, in dem die Dienststelle die Notwendigkeit solch einer psychologischen Begleitung erkennt oder der Zivildienstleistende sie verlangt. Wann die Tätigkeit eine seelische Belastung hervorruft, kann nicht abstrakt vom Gesetzgeber festgelegt werden. Die Regelung, dies im Einzelfall durch die Dienststelle entscheiden zu lassen, hat sich bewährt.Die Haushaltsmittel zum Ausbau der Kapazität der Zivildienstschulen und der von den Verbänden angebotenen Lehrgänge im Einführungsdienst der Zivildienstleistenden sind von 1992 bis 1993 von 67 Millionen auf 73,5 Millionen DM erhöht worden. Das heißt, auch der Forderung nach Erweiterung der Kapazität der Zivildienstschulen wird bereits entsprochen.
Ich habe bei meiner Wahlkreisarbeit häufig Anfragen bezüglich der Zurückstellung auf Grund teilungsbedingter Benachteiligung von Zivildienstpflichtigen erhalten. Dabei habe ich regelmäßig festgestellt, daß einem Zurückstellungsantrag Rechnung getragen wird, wenn glaubhaft gemacht werden kann, daß der Zivildienstpflichtige aus den neuen Ländern im Verhältnis zu demjenigen in den alten Bundesländern erheblich benachteiligt wird, so z. B. durch die Folge von Unrechtsmaßnahmen der Behörden der ehemaligen DDR, durch Verwaltungsschwierigkeiten im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Deutschlands oder durch die wirtschaftliche Lage in den neuen Bundesländern, etwa wenn der Ausbildungs- oder Arbeitsplatz durch den Zivildienstantritt in Gefahr gerät bzw. das Unternehmen auf den Zivildienstleistenden nicht verzichten kann. Die Reihe bereits erfüllter Forderungen könnte in dieser Weise fortgeführt werden.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, der Antrag der SPD ist für die CDU/CSU aber insbesondere deshalb absolut inakzeptabel, da er verfassungsrechtlich gesicherte Grundvoraussetzungen der Kriegsdienstverweigerung und des Zivildienstes in Frage stellt.
Sie wissen doch, daß nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer nur erfolgen darf, wenn hinreichend sichergestellt ist, daß eine nach Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes geschützte Gewissensentscheidung gegen den Kriegsdienst mit der Waffe vorliegt. Das eigentliche Ziel Ihres Antrags ist es doch, daß auf den Nachweis der Ernsthaftigkeit der Gewissensentscheidung bei der Anerkennung als Zivildienstverweigerer prinzipiell verzichtet wird.
Ihre Forderung nach gleicher Dauer des Wehr- und Zivildienstes ist im gleichen Zusammenhang zu sehen; denn die Inkaufnahme der längeren Dauer des Zivildienstes durch den Kriegsdienstverweigerer ist mit als tragendes Indiz für die Ernsthaftigkeit seiner Gewissensentscheidung anzusehen und insofern unverzichtbar.
Wer die längere Zivildienstdauer abschaffen will, fordert im Ergebnis, Herr Kollege, die Einführung einer Wahlmöglichkeit zwischen Wehrdienst und Zivildienst. Diese Wahlmöglichkeit aber ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, worauf auch das Bundesverfassungsgericht wiederholt ausdrücklich hingewiesen hat.
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16072 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Claudia NolteWenn Sie hier von einer Abschreckung sprechen, Herr Kollege Elmer, muß man Ihr Verfassungsverständnis schon hinterfragen.
Wer es mit der Wehrpflicht ernst meint, muß bei der Ausgestaltung des Zivildienstes auch berücksichtigen, daß so manche Unannehmlichkeit, die ein Wehrpflichtiger auf sich nimmt, wie Uniform und Kaserne, ein Zivildienstleistender nicht hat.
Auch dafür steht als Ausgleich die längere Dienstzeit.Es wird häufig von der Wehrungerechtigkeit gesprochen. Gemeint ist die Dienstungerechtigkeit, die Tatsache, daß es zu viele junge Männer gibt, die weder Wehr- noch Zivildienst leisten.
Diesem Umstand sollte unseres Erachtens nicht noch mehr Vorschub geleistet werden. Befreiungen bzw. Nichtheranziehungen dürfen nur in Ausnahmefällen statthaft sein. Deshalb sehen wir eine Verletzung der Dienstgerechtigkeit, wenn Sie Angehörige von Pflegeberufen generell vom Wehrdienst befreien wollen. Aus bekannten Gründen gelten nur für Geistliche und für Polizeivollzugsbeamte berufsbezogene Ausnahmen.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Ihr Antrag bringt uns nicht weiter. Der Wehrdienstverweigerer leistet seinen Dienst für die Gesellschaft im Rahmen des Zivildienstes. Im Interesse von mehreren Hunderttausend Zivildienstleistenden bitte ich Sie: Lassen Sie uns bei der jetzigen Regelung bleiben.Danke.
Das Wort hat der Kollege Uwe Lühr.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Manchmal hat man eben einen Großkampftag. Das ist heute so, und deshalb bin ich wieder dran.
Die sogenannte Friedensdividende sollte nicht nur in der Reduzierung und Auflösung von Verbänden und Standorten und damit in der Absenkung der Ausgaben in Einzelplan 14 erkennbar werden, sondern auch in der geringeren Inanspruchnahme der persönlichen Lebenszeit eines Jugendlichen durch die allgemeine Wehrpflicht. Das sind Wünsche, die ich durchaus zu teilen vermag.
Parallel dazu wird darauf verwiesen, daß durch die
Reduzierung der Streitkräfte ein geringerer Bedarf an
Wehrpflichtigen bestehe, der sich nicht gerecht auf
die Jahrgangsangehörigen verteilen lasse, so daß die allgemeine Wehrpflicht keinen Bestand haben könne. Eine Berufsarmee müsse her oder die allgemeine Dienstpflicht, um die allgemeine Wehrpflicht zu retten. Das sind Ansichten, die ich nicht teilen kann.
Den Antrag der SPD-Fraktion auf Umgestaltung des Zivildienstes und Änderung der Anerkennungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer verbindet mit dem Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine innere Logik, die der Ältestenrat intuitiv gespürt haben muß, da er eine verbundene Debatte für angezeigt gehalten hat. Allerdings — das muß ich den Kollegen von der SPD sagen — halte ich den Antrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für ehrlicher und stringenter.
Folgte der Deutsche Bundestag den SPD-Vorschlägen etwa nach Abschaffung der längeren Dauer des Zivildienstes, bedeutete das im Ergebnis die freie Wahl zwischen Wehrdienst und Zivildienst. Die freie Wahl führte aber — das wissen Sie auch — im Ergebnis zur Minimierung der Zahl von Wehrdienstleistenden und zur Maximierung der Zahl solcher Zivildienstleistenden, denen ein Zivildienstplatz nicht angeboten werden kann.
Natürlich ist das Gewissen nicht überprüfbar. Aber die Inkaufnahme der längeren Dauer ist ein deutliches Indiz für die Ernsthaftigkeit der Gewissensentscheidung.
Herr Kollege Lühr, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Elmer?
Nein, ich gestatte nicht, weil ich mit meiner Zeit sehr knapp bin.Daher erkannte auch das Verfassungsgericht diesen Weg als einen verfassungskonformen Ausweg aus dem Dilemma an.Wer heute eine Grundgesetzänderung verlangt, die die gleiche Dauer von Wehr- und Zivildienst festlegt, will in Wahrheit entweder keine Bundeswehr oder ein Berufsheer.
Aber dann sollte er es auch wirklich so sagen.In den grundsätzlichen Überlegungen über Umfang und Struktur der Streitkräfte werden — leider auch von Experten; immerhin haben die meisten SPDMitglieder des Verteidigungsausschusses den Antrag gezeichnet — wichtige Fakten und Aspekte übersehen und Entwicklungen nicht erkannt. Wehrgerechtigkeit und Dienstgerechtigkeit waren Probleme der überstarken Musterungsjahrgänge der Bundesrepublik der 80er Jahre. Das Bewußtsein dieser Zeit bestimmt noch heute die öffentliche Diskussion, obwohl sich die Realität umgekehrt hat. Die Musterungsjahrgänge der 90er Jahre sind so schwach, daß der Personalbedarf der Bundeswehr nur gedeckt wer-
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Uwe Lührden kann, wenn in Zukunft nicht mehr als ein Viertel eines Jahrgangs freigestellt wird.
Gelingt diese wesentlich höhere Ausschöpfung der Musterungsjahrgänge nicht, droht den Streitkräften nach 1995 ein hohes Fehl an Grundwehrdienstleistenden.Der Grund für diese Entwicklung liegt in einem extremen Anstieg der Kriegsdienstverweigerung seit Anfang 1991 und in einem wesentlich höheren Ergänzungsbedarf der Polizeien und des Zivil- und Katastrophenschutzes nach Beitritt der neuen Länder.Für die Streitkräfte bedeutet die höhere Ausschöpfung, daß sich der Anteil eingeschränkt Tauglicher stark erhöhen wird. Die Bedarfsdeckungsprobleme der Streitkräfte werden dadurch verschärft, daß auch die ausreichende Bedarfsdeckung mit Freiwilligen für den Dienst als Zeit- oder Berufssoldat ernsthaft gefährdet ist.Meine Damen und Herren, der Verteilungskampf um die Berufsanfänger aus den schwachen Jahrgängen zwischen Wirtschaft und öffentlichem Dienst hat voll eingesetzt und wird andauern. Anders als in der Vergangenheit werden Grundwehrdienstleistende als Ersatz für fehlende Längerdienende nicht zur Verfügung stehen.Es wird auch häufig nicht erkannt, daß unser Bündnisbeitrag die Fähigkeit zur Mobilmachung ausreichend starker Landstreitkräfte, einer hinlänglichen Luftverteidigung und einer Küstenschutzkomponente auf Dauer verlangt. Das setzt aber neben einer umfangreichen Basis- und Ausbildungsorganisation im Frieden ein starkes Reservistenpotential für die Mobilmachung voraus.
Eine Freiwilligenarmee mit etwa 200 000 Mann wäre möglicherweise anzuwerben und aus den Umfangseinsparungen auch zu finanzieren. Eine solche Armee, der nach und nach ein ausreichendes Reservistenpotential fehlen würde, wäre jedoch nicht mehr zur Erfüllung der Hauptaufgabe, nämlich der Fähigkeit zur Landesverteidigung nach Mobilmachung im Rahmen des Bündnisses, geeignet,
wäre nicht mehr Stabilitätsfaktor in Mitteleuropa, sondern eine reine Interventionsstreitmacht.Der organisatorische und finanzielle Aufwand, der mit der grundlegenden Änderung einer Personalstruktur verbunden ist, wird gern unterschätzt. Die Reduzierung, Umgliederung, Umschulung und Umstationierung der Streitkräfte in den kommenden Jahren hat eine Dimension, die fast mit der Aufstellung der Bundeswehr vor 35 Jahren gleichzusetzen ist. Nur quantitativ wird sich die Reduzierung bis 1994 durchführen lassen. Strukturgerechte Verhältnisse werden nicht vor Ende des Jahrzehnts herzustellen sein.Die Änderung der Wehrform würde wiederum die Ausplanung einer völlig neuen Personalstruktur und eine erneute Umgliederung und Umstationierung erforderlich machen und damit ein weiteres Jahrzehnt der inneren Belastung und Instabilität der Streitkräfte einleiten.Deshalb wird die F.D.P.-Fraktion allen drei Anträgen mit Sicherheit nicht ihre Zustimmung geben.
Das Wort hat der Kollege Jürgen Augustinowitz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bürger hat nicht nur Rechte, der Bürger hat auch Pflichten.
— Schön, daß auch die Sozialdemokraten dem zustimmen.
— Hören Sie gut zu, Sie haben einiges zu lernen.
Gerade in einer Zeit, in der zunehmend nur noch von Rechten die Rede ist, verwundert es nicht, daß eine der wichtigsten Pflichten des Bürgers gegenüber dem Staat, die Wehrpflicht, in Frage gestellt wird.
Dem steht energisch entgegen, daß es eine der grundlegenden Pflichten des Staates ist, seine Bürger vor äußeren Gefahren zu schützen.
Jetzt dürfen Sie das Wort „Banalität" aber nicht mehr in den Mund nehmen!
Diese Verpflichtung ist schon in Art. 1 des Grundgesetzes festgeschrieben: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."Der Staat schützt also seine Bürger. Diesem Privileg des Bürgers steht seine Pflicht gegenüber, als Teil dieses Staates am Erhalt der äußeren Sicherheit mitzuwirken; denn äußere Sicherheit ist auch heute, nach dem Kollaps des Warschauer Vertrages, keinesfalls ohne Sicherheitsvorsorge erhältlich.
Der Bürger erfüllt seine Pflicht gegenüber dem Staat, indem er sich für einen gewissen Zeitraum in den Dienst der bewaffneten Streitkräfte stellt.Bundeswehr und allgemeine Wehrpflicht stehen für die erfolgreiche Abschreckung einer kommunistischen Aggression und die Überwindung des OstWest-Konfliktes, die die friedliche Kooperation mit
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16074 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Jürgen Augustinowitzden Staaten Mittel- und Osteuropas heute erst möglich macht.
An dieser Stelle möchte ich den vielen Millionen Wehrpflichtigen danken, die ihren Dienst in der Bundeswehr geleistet und damit einen wichtigen Beitrag zum Erhalt von Frieden und Freiheit geleistet haben.
Die allgemeine Wehrpflicht ist Ausdruck der Mitverantwortung eines jeden für seine eigene Sicherheit und die seiner Mitbürger. Sie verbindet die beiden Begriffe „Wehrhaftigkeit" und „Demokratie" zu der Idee der wehrhaften Demokratie, in der wir leben und die sich bewährt hat. Die allgemeine Wehrpflicht ist eine der entscheidenden Grundlagen der deutschen Verteidigungspolitik. Niemand darf daher leichtfertig die allgemeine Wehrpflicht in Frage stellen.
Die allgemeine Wehrpflicht ist die personifizierte Verbundenheit des Volkes mit seinen bewaffneten Streitkräften.
Welche Wehrform könnte ein größeres Vertrauen der Bevölkerung in seine Streitkräfte erzeugen als die allgemeine Wehrpflicht, in der die Bevölkerung selbst diese Streitkräfte bildet?
Das hervorragende Verhältnis zwischen Bundeswehr und Bevölkerung ist nicht zuletzt dem Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht zu verdanken. Es besteht daher für mich kein Zweifel, daß die deutsche Bundeswehr auch in Zukunft eine Wehrpflichtarmee bleiben muß.
Haupteinwand gegen die Wehrpflicht ist der hohe, wie ich finde, zu hohe Anteil von jungen Männern, die angeblich nicht wehrdienstfähig sein sollen,
immerhin 20 bis 25 % eines Jahrganges. Diesen Mißstand wollen wir durch eine Änderung des Wehrpflichtgesetzes beseitigen. Zusätzlich wollen wir, daß die Wehrpflicht zukünftig quotiert auch bei einer freiwilligen Polizeireserve und vor allem beim Bundesgrenzschutz mit Blick auf die notwendige Grenzsicherung abgeleistet werden kann.
Ein weiterer Aspekt, meine Damen und Herren, ist die erschreckende Ungleichbehandlung von Wehrund Zivildienstleistenden, die sich z. B. dadurch ausdrückt, daß ein Zivildienstleistender generell heimatnah verwandt wird, keiner Kasernierung unterliegt, das Verpflegungsgeld in der Regel ausgezahlt bekommt usw. Ich könnte Ihnen viele Dinge nennen, die eine Benachteiligung für die Wehrdienstleistenden bedeuten.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Selbstverständlich.
Herr Kollege Augustinowitz, kommen Sie in Ihrer Rede noch darauf, daß Holland und Belgien gerade die Wehrpflicht abgeschafft haben?
Herr Kollege, daß sich andere Staaten anders verhalten, bedeutet für uns nicht, daß auch wir uns hierüber Gedanken zu machen hätten. Vielmehr geht es darum, daß wir Verantwortung tragen für die deutschen Streitkräfte. Insofern bleibt es bei dem, was ich gesagt habe.
Sind Sie bereit, eine zweite Zwischenfrage zu beantworten? — Bitte.
Herr Kollege Augustinowitz, wie beurteilen Sie dann die Äußerung Ihres Fraktionskollegen Zierer, der gesagt hat, die Wehrpflicht werde das Jahr 2 000 nicht mehr erreichen, es sei ein auslaufendes Modell?
Herr Kollege, Sie sehen, wie vielfältig die Meinungsbildung auch in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist.
Daß einzelne Kollegen eine andere Meinung vertreten, brauche ich Ihnen als Liberalem doch nicht als besonderes Zeichen von Liberalität vorzuweisen.Meine Damen und Herren, mein letzter Satz war, daß Zivildienstleistende gegenüber Wehrdienstleistenden enorm bevorzugt werden. Der Zivildienst ist längst nicht mehr die lästige Alternative, die er eigentlich sein sollte. Wir fordern die Bundesregierung daher auf, endlich geeignete Maßnahmen einzuleiten, die die Besserstellung der Zivildienstleistenden gegenüber den Wehrdienstleistenden beseitigen.
Bei der Infragestellung der allgemeinen Wehrpflicht ist deutlich das Bestreben zu erkennen, das Modell der arbeitsteiligen Gesellschaft auch auf den Verteidigungsbereich anzuwenden und zu einer Art GmbH für Verteidigung zu kommen. Dahinter verbirgt sich der Versuch, bei denjenigen in unserem Volk auf Stimmenfang zu gehen, die eine Übernahme von Pflichten für die Gemeinschaft ablehnen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16075
Jürgen AugustinowitzIch möchte mit einem Zitat des früheren USPräsidenten John F. Kennedy abschließen, der in seiner Antrittsrede am 20. Januar 1961 folgendes gesagt hat
— ja, ich bin sehr zeitgemäß; hören Sie genau zu —:Liebe Landsleute; fragt nicht, was Euer Land für Euch tun kann, sondern fragt, was Ihr für Euer Land tun könnt!Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/3735 , 12/5767 und 12/6033 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Besteht damit Einverständnis? — Dies ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf.
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses Treuhandanstalt zu dem Antrag des Abgeordneten Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Beteiligung der Betroffenen am Konzept zum Erhalt industrieller Kerne
— Drucksachen 12/4429, 12/5283 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Paul K. Friedhoff Hinrich Kuessner
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Gruppe PSD/Linke Liste zehn Minuten erhalten soll. Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. — Dann ist das so beschlossen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Fritz Schumann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Ausschußberatung unseres Antrages haben die Kollegen von der CDU/CSU und F.D.P. festgestellt, daß der Antrag abzulehnen sei, da die Forderung nach Beteiligung der Betroffenen bereits realisiert sei.Nach dem, was im Wahlkreisbüro und in Bonn täglich an mich herangetragen wird, sind viele Betriebsräte, Unternehmensleitungen, Kommunen und Länder — vielleicht nicht alle — aber ganz anderer Auffassung. Ich habe diese Fragen jeweils auch an das Bundesfinanzministerium und die Treuhandanstalt weitergegeben oder im Treuhandausschuß zur Sprache gebracht. Es dürfte also bekannt sein, daß es sehr, sehr viele andere Auffassungen gibt, als sie die Koalitionsparteien zum vorliegenden Antrag geäußert haben. Herr Staatssekretär Grünewald weiß, daß ich zu den eifrigen Fragern gehöre und manchmal das Finanzministerium schon mit Arbeit eindecke, wenn die Informationen nicht zu laufen.Was ist nach unserer Meinung zu tun? Erstens müssen nach meiner Auffassung die Unternehmensleitungen durch die Treuhandanstalt klar und exakt informiert werden. Das ist die Voraussetzung für eine Beteiligung der Betroffenen. Nach Feststellung des Bundesrechnungshofes erhielten die Unternehmensleitungen häufig keine Stellungnahme der Treuhandanstalt zu ihren Unternehmenskonzepten.Wie sollen sie sich Gedanken über industrielle Kerne machen, wenn sie nicht wissen, woran sie sind? In Verkaufsverhandlungen werden sie ohnehin nicht einbezogen. Das kann man natürlich differenziert sehen, aber über die Ergebnisse solcher Absprachen sollte man schon etwas erfahren, wenn man Verantwortung tragen soll und will.Ich fordere im Namen der Betroffenen das Bundesfinanzministerium, das ja die Fach- und Rechtsaufsicht zur Treuhandanstalt hat, auf, ordnungsgemäße Informationsbeziehungen zu dieser Frage herzustellen. Das ist die Voraussetzung dafür, daß die Unternehmensleitungen ihrer Informationspflicht nachkommen und insbesondere Belegschaften von Anfang an in die Entwicklung einbeziehen können.Viel Unruhe hätte vermieden und viel Kraft hätte auf vorwärts gerichtete Diskussionen und Aktionen gerichtet werden können, wenn dieser Grundsatz immer Beachtung gefunden hätte. Ich erspare mir hier Beispiele, die wir auch in diesem Hause umfangreich und ausführlich diskutiert haben.Die zweite Säule für die Beteiligung der Betroffenen sind die Betriebsräte. Die Betriebsräte verfügen über umfangreiche Sachkompetenz für die in vielen Betrieben wichtigste Frage: Wie können Arbeitsplätze wettbewerblich so strukturiert werden, daß sie erhalten werden? Gegenwärtig finden die Betriebsräte in den neuen Ländern einfach keine Partner, um ihre Ideen anzubringen. Zahlreiche Anfragen gibt es dazu, ob ein Betrieb privatisiert sei oder nicht, ob die Treuhand nach dem Nachweis von betrügerischen Handlungen bei der Privatisierung den Betrieb zurücknehme oder nicht.Die Betriebsräte finden einfach keinen, der ihnen diese Fragen klipp und klar beantwortet. Daß wir immer den Weg über parlamentarische Anfragen zu diesem Thema nehmen, kann einfach nicht der einzige Weg sein. Ich meine, daß die Bundesregierung auf die aktive Einbeziehung der Beschäftigten bei der Ausgestaltung industrieller Kerne nicht verzichten sollte. Klare Information, Mitwirkung und Mitbestimmung fördern das Engagement des einzelnen. Das ist ein Gut, auf das bei einer modernen Gestaltung der Produktion keiner verzichten kann.Drittens. Fragen industrieller Kerne lassen sich nicht in einzelnen Betrieben lösen. Die umliegende Region spielt eine entscheidende Rolle. Hier reichen die wenigen Regionalberatungen, die wenige Stunden dauern, nicht aus. Territoriale Lösungen erfordern eine umfangreiche Kleinarbeit von Wirtschaftsfördergesellschaften, Entwicklungsgesellschaften und die Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger vor Ort. Förderprogramme wollen vor Ort so verknüpft sein,
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Dr. Fritz Schumann
daß ein größtmöglicher Effekt für den industriellen Kern erreicht wird. Es geht um Fragen der Infrastruktur, der Verkehrsanbindung. Ein umfangreiches geistiges Potential dafür ist — leider, muß man sagen — vorhanden: Zehntausende Forscher mit konkreten Kenntnissen der Region und auch Regionalplaner sind inzwischen ohne Arbeit. Sehr viele wären bei geringem Aufwand bereit, ihre Kenntnisse vor Ort zu diesem Thema einzubringen.Viertens. Für die Erneuerung industrieller Kerne ist die Knüpfung von Verbindungen der Unternehmen innerhalb der Branchen und zu vor- und nachgelagerten Produktionsstufen, zu Dienstleistungs- und Forschungseinrichtungen erforderlich. Warum soll diese schwierige Aufgabe nur von den Unternehmensleitungen und der Treuhandanstalt betrieben werden? Die Gewerkschaften z. B. verfügen dazu über ganz konkrete Erfahrungen. Warum will man sie nicht einbeziehen? Ich sehe keinen plausiblen Grund dafür.Fünftens. In den Verwaltungen gibt es viele Hemmnisse. Auch die Treuhandanstalt und die Treuhandunternehmen klagen darüber. Eine ganz konkrete Beschleunigung der Bearbeitung der Vorgänge könnte erreicht werden, wenn man den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort sagen würde: In eurer Stadt, in eurer Region wird alles unternommen, einen industriellen Kern zu erneuern. Die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger und der —im positiven Sinne — Druck auf die Verwaltungen würden mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Beschleunigung führen. Die Kommune könnte ganz konkret ihr eigenes Interesse an einer schnelleren Bearbeitung erkennen.Voraussetzung ist, daß sich die Bundesregierung klar bekennt: Hier ist ein industrieller Kern, und vor Ort alle Beteiligten zusammenfaßt, um Ideen zu entwickeln, wie dieser Kern den größtmöglichen Effekt für die Region bringen kann. Darüber hinaus muß ein solcher Prozeß auch für potentielle industrielle Kerne in Gang gesetzt werden; denn es geht nicht nur — wie uns immer vorgeworfen wird — um die Erhaltung alter fossiler Mammute.In den alten Bundesländern funktioniert dieser Prozeß doch ganz ausgezeichnet. Die Unternehmen sind untereinander — und sei es nur in den Aufsichtsräten — durch Geschäftsbeziehungen usw. verbunden. In vielfältiger Weise gibt es Beziehungen mit den Kommunen. In den neuen Ländern sind Anstöße erforderlich, um solche Verbindungen nutzbringend auch für die Region herzustellen und letzten Endes Arbeitsplätze zu sichern. Wir schlagen in unserem Antrag vor, die Bereitschaft der Betroffenen dazu zu nutzen.Zusammenfassend fordere ich die Bundesregierung auf, sich erstens der Erfordernisse der Förderung von Kernen des produzierenden Gewerbes in den neuen Ländern mit einem klaren Konzept und nachvollziehbaren Handlungsmechanismen anzunehmen. Leider ist, nachdem der Bundeskanzler diesen Begriff vor einem Jahr in Mecklenburg-Vorpommern geprägt hat, seitens der Bundesregierung in den letzten Monaten kaum noch etwas von der Erneuerung industrieller Kerne zu hören. In den Wirtschaftsteilen der Medien kommen nach meinem Eindruck nur noch die zu Wort, die den Erhalt industrieller Kerne ablehnen. Angeblich würde die Erneuerung gegen den Markt erfolgen. Dem sollte auch seitens der Bundesregierung energisch widersprochen werden, Oder hat sich der Bundeskanzler etwa geirrt, als er vor einem Jahr in Mecklenburg-Vorpommern über die Erhaltung industrieller Kerne gesprochen hat?Die Möglichkeit, Arbeit zu finden, ist in den neuen Ländern weiterhin überaus begrenzt. Ohne industrielle Kerne wird es keine wirtschaftliche Belebung geben. Auch der vielbeschworene Mittelstand kann ohne industrielle Kerne kaum existieren. Sie erleben jetzt selbst, was passiert, wenn z. B. die Autoriesen Beschäftigung abbauen und Produktionskapazitäten zurückfahren, welch immenser Druck insbesondere auf mittelständische Zulieferbetriebe ausgeübt wird. Es gibt also einen engsten Zusammenhang.Zweitens möchte ich die Bundesregierung auffordern, die Betroffenen an der Ausarbeitung und Gestaltung teilnehmen zu lassen. Viele sind bereit, ihr Engagement für die Schaffung von Arbeitsplätzen auch ehrenamtlich einzubringen. Greifen Sie das Aufbauprogramm für Ostdeutschland des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts des Deutschen Gewerkschaftsbundes auf.Drittens. Mit der Erneuerung industrieller Kerne sollen Arbeitsplätze geschaffen, wirtschaftliche Entwicklungen in Gang gesetzt und Ausgaben für die Finanzierung von Arbeitslosigkeit eingespart werden. Es geht mit Sicherheit nicht um die Konservierung fossiler Mammutunternehmen, sondern es geht um vielfältige schöpferische neue Lösungen, wie die Wirtschaft wieder in Gang gebracht werden kann, wie an bestimmten Stellen industrielle Kerne neu geschaffen, erhalten und vor allen Dingen im Interesse der Schaffung weiterer Arbeitsplätze ausgebaut werden können.Vielleicht können sich die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und auch der F.D.P. einmal bei Herrn Lothar Späth in Jena umschauen. Auch dort ist ein Betrieb abgerissen worden, aber an gleicher Stelle meiner Meinung nach ein industrieller Kern, der schon einmal vorhanden war, wiederentstanden, und zwar erheblich erneuert.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Udo Haschke, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich, Kollege Schumann, verzichtet die Bundesregierung nicht auf das Mitwirken und Mitdenken der Betroffenen.Lassen Sie mich zum Stichwort „Denken" einen Philosophen zitieren, der durchaus eher im linken Lager beheimatet ist: Ernst Bloch, den, wenn ich es recht in Erinnerung habe, die SED 1957 in Leipzig zwangsemeritiert und 1961 in die Emigration getrieben hat. Ernst Bloch sagt:Denken heißt überschreiten. So jedoch, daß Vorhandenes nicht unterschlagen, nicht überschla-
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Udo Haschke
gen wird. Weder in seiner Not, noch gar in der Bewegung aus ihr heraus. Weder in den Ursachen der Not, noch gar im Ansatz der Wende, der darin heranreift.Vorhandenes nicht unterschlagen, also auch die Ursachen der Not nennen: Im Vergleich der Altersstruktur der Ausrüstungen in der Bundesrepublik und in der DDR im Jahre 1989 zeigt sich, daß extreme Produktivitätsschwächen vor allem dem technisch rückständigen und überalterten Produktionsapparat anzulasten sind.
Bei diesem Vergleich muß ich einfach sagen: 1989 waren in der DDR über 50 % der Anlagen älter als elf Jahre, über 20 % älter als 20 Jahre. Die Vergleichszahl aus den alten Ländern: Dort lagen nur 5 % in dieser Altersklasse.Lieber Kollege Elmer, ich habe bei der eben genannten Firma Zeiss Jena Feinmechaniker gelernt, ich habe an Maschinen gestanden, und ich habe drei Jahre auf Baustellen der damaligen Deutschen Demokratischen Republik als Monteur gearbeitet. Das unterscheidet uns in der praktischen Erfahrung im Beruf.Hinzu kommt — auch das muß ich noch sagen —, daß nach einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung etwa ein Fünftel aller gewerblichen Bauten der damaligen DDR in einem akut baufälligen Zustand waren — zum Teil leider noch sind; wir lassen sie gerade über ABM beräumen.Die SED-Führung investierte eben nicht in wirtschaftliche Innovationen. Sie investierte in Stacheldraht und Selbstschußanlagen entlang einer langen, langen Grenze.Absegnen ließ sie sich das alles — auch das darf nicht unerwähnt bleiben — durch den zum Transmissionsriemen der Partei entwürdigten sogenannten Freien Deutschen Gewerkschaftsbund. Auch das ist Nennen der Ursachen der Not.
— Herr Kollege Elmer, ich habe eigentlich darauf gewartet. Ich verweise Sie auf einschlägige Protokolle. Wir können hier nicht ständig denselben Dialog führen.
Wenn ich höre, daß ausgerechnet die, die aus dieser Tradition kommen, nach einer Mitwirkung der Betroffenen rufen, dann scheint mir das zynisch und angesichts der Tatsachen reine Demagogie. Aber darin sind die Kollegen gut in der Übung; denn das Geforderte ist tatsächlich Praxis.Jedenfalls: Die Kollegen der Koalition — ich will das ausdrücklich loben —, die Kollegen der SPD — ich habe gedacht, Herr Sorge sei nicht da, er ist aber da; ich lobe ihn ausdrücklich in dieser Richtung — und auch die Kollegen vom BÜNDNIS 90/GRÜNE sind im Rahmen ihrer personellen Möglichkeiten — im Moment sind das eben nicht so viele — ständig vor Ort, wenn es darum geht, industrielle Kerne zu erhalten. Sie sind vor Ort im Gespräch mit Betriebsräten und Gewerkschaftsvertretern; sie sind vor Ort in Gesprächen mit kommunalen Vertretern. Sie sind auch da, wo es wichtig wird, in Gesprächen mit Vertretern der Landesregierung und in wichtigen Punkten auch mit der Bundesregierung.
Denn wir bringen uns doch tatsächlich ein mit dem Ziel, tragfähige Konzepte für zukunftsorientierte Arbeitsplätze zu entwickeln.Denken, sagt Bloch, heißt überschreiten, auch im Ansatz der Wende, der in der Not heranreift, einer Wende — das haben wir im Zusammenhang mit der Debatte um den Standort Deutschland in dieser Woche recht sachlich diskutiert —, die nicht nur in den neuen Bundesländern geboten ist.Ausdrücklich wird in diesem Bericht hervorgehoben, daß dies eine Aufgabe ist, die der Staat nicht allein, sondern nur mit dem verantwortlichen Handeln und Mitwirken der anderen gesellschaftlichen Kräfte und jedes einzelnen Bürgers lösen kann.
Herr Kollege Haschke, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll?
Ja, sie ist ja noch jung, sie kommt nicht so unbedingt aus der Tradition.
— Das war ein Kompliment. Ich denke, Frau Dr. Höll, Sie fassen das so auf.
Ich fasse das so auf, wie ich das meine. Danke schön für den Hinweis.
Herr Kollege Haschke, ich habe eine Frage an Sie. Ich bin etwas irritiert. Sie haben 8 Minuten Redezeit. Mich interessiert, ob Sie den Antrag überhaupt gelesen haben. Er lautet „Beteiligung der Betroffenen am Konzept zum Erhalt industrieller Kerne". Die Darstellung des Problems umfaßt nur wenige Zeilen. Allerdings ist mir bei Ihren bisherigen Darlegungen etwas unklar, inwieweit Sie sich auf den vorgelegten Antrag beziehen.
Ich sage es noch einmal: Man kann die Gegenwart nicht deuten, die Gegenwart und die Zukunft nicht bewältigen, wenn man nicht die Vergangenheit etwas in den Blick nimmt.
Das ist nun einmal so. Das können Sie übrigens bei einem Ihrer prominenten Schriftsteller nachlesen. Er hat ein Zitat von Heine vorn auf seine „Aula" geschrieben: „Der heutige Tag ist ein Resultat des gestrigen" . Lesen Sie es in Ruhe nach. Lesen Sie aus
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Udo Haschke
Bloch vielleicht diesen Satz — er steht im Vorwort zu „Prinzip Hoffnung" —, lesen Sie ihn ganz langsam durch, versuchen Sie, ihm geistig zu folgen. Ich glaube, dann geht Ihnen der Sinn ein.
Ausdrücklich hervorgehoben wird im Bericht der Bundesregierung aber auch, daß der Staat manche Probleme überhaupt nicht lösen kann. Der Staat hat es in der ehemaligen DDR versucht — sehr schlecht, wie wir wissen.Weder die Bundesregierung noch die Landesregierung noch Landräte und Bürgermeister können das Industriemanagement ersetzen. Es zeigt sich aber — ich bin dem Kollegen Schumann dankbar, daß er es gesagt hat —, daß gute Politiker, die in der Regel aus der CDU/CSU-Fraktion kommen, nach einem Wechsel in eine hauptamtliche Tätigkeit in der Wirtschaft durchaus in der Lage sind, auch hier ihre Qualitäten zu zeigen. Jenoptik wurde genannt.Ich darf auf den „Ingenieur-Digest" 11/1993 verweisen:Gestärkt aus der Krise — Elektronik-Spezialisten aus Ostdeutschland treten auf der Productronica mit neuem Selbstbewußtsein auf ... Ebenfalls in München präsent ist Lothar Späths Jenoptik GmbH ... Die Jenenser zeigen in München gleich drei innovative Entwicklungen.Ich will das nicht alles vorlesen; ich habe Ihnen die Quelle genannt.
— Selbstverständlich, an einer wichtigen Stelle.Was der Staat kann, nämlich die politischen Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Neuorientierung zu schaffen, das steht obenan im Programm dieser Bundesregierung; das ist doch das Hauptziel der Regierungen in den neuen Bundesländern.Lassen Sie mich einige Beispiele nennen; ich weiß, auch dagegen haben Sie Einwände, aber das macht ja nichts.Wenn etwas dran ist — ein kleines bißchen ist sicherlich dran — an dem Vergleich der deutschen Wirtschaft mit dem gefesselten Gulliver, dann hat doch nicht zuletzt durch die Erfordernisse in den neuen Bundesländern diese Bundesregierung — -
Aber die Zwerge haben wir, wie sich auch an manchen Zwischenrufen zeigt.Gerade die Erfordernisse in den neuen Bundesländern im Blick, hat doch diese Bundesregierung begonnen, energisch die Überregulierung im Rechtsstaat Deutschland zu bekämpfen. Ich nenne nur: Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz, Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz, Novellierung des Gentechnikgesetzes.Allerdings muß ich sagen: Da, wo der Bund aktiv geworden ist, sollten sich die Länder hüten, neue Bremsen zu aktivieren. Das wäre tödlich, und zwar nicht nur für die Entwicklung in den neuen Bundesländern.Ein Wort noch zu einigen industriellen Kernen; ich muß es schon sagen. Mecklenburg-Vorpommern betreut im Rahmen des sogenannten „ Anker " -Projekts zusammen mit der Treuhandanstalt und den betroffenen Regionalvertretern sowie den betroffenen Belegschaftsmitgliedern 14 Unternehmen. Im Freistaat Sachsen sind es 70 im Rahmen des „Atlas"Projekts. Ich bin froh, jetzt in diesem Hohen Haus diesen neuen Namen erstmalig aussprechen zu können. Der Freistaat Thüringen stellt 200 Millionen DM für einen Industriebeteiligungsfonds zur Verfügung,
um vor allem privatisierte und reprivatisierte Unternehmen zu erhalten und wettbewerbsfähig zu machen.Natürlich gibt es auch in Thüringen Unkenrufer, die dann gar mächtig sagen: Das ist ein höchst riskantes Unternehmen.
Herr Kollege Haschke, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich bin beim Schlußsatz. — Sie sehen vor allem also die Risiken. Wir, die Vertreter der Koalition, sehen vielerorts schon die Ansätze der Wende, sehen die Chance, stehen zum Prinzip Hoffnung und handeln danach.
Herr Kollege Manfred Hampel, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Hört doch wenigstens Eurem eigenen Rednern zu!
Deswegen habe ich jetzt diese kleine Gedenkminute eingelegt. — Acht Monate sind seit dem Einbringen des Antrags der PDS zur Beteiligung der Betroffenen am Konzept der Erhaltung industrieller Kerne vergangen, eines Antrags, von dem man heute sagen muß, daß er zeitlich nicht mehr auf der aktuellen Höhe ist und daß es eigentlich müßig ist, sich heute damit zu beschäftigen.Auf jeden Fall gibt er uns aber Gelegenheit, uns über die letzten acht Monate wirtschaftlichen Niedergangs in Ostdeutschland auszusprechen, hier und in aller Öffentlichkeit aufzuzeigen, welche dramatische
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Manfred HampelEntwicklung sich in dieser Zeit in den neuen Bundesländern fortgesetzt hat mit der rücksichtslosen und ideologisch verbohrten Politik des forcierten Obergangs in die Marktwirtschaft, durch die Weiterführung einer Politik der Privatisierung um jeden Preis.In den letzten acht Monaten hat die Bundesregierung und in deren Auftrag die Treuhandanstalt die Öffentlichkeit getäuscht und unter der Etikette „Erhaltung industrieller Kerne" lediglich die Finanzausstattung der Treuhandanstalt verbessert. Letzendlich haben sie den Prozeß der Entindustrialisierung weiterlaufen lassen wie zuvor und den Gang von weiteren Hunderttausenden in die Arbeitslosigkeit vorprogrammiert.Meine Damen und Herren, wir dürfen uns keine Illusionen machen: So wie der Bundeskanzler vor drei Jahren von blühenden Landschaften in den neuen Bundesländern geschwärmt hat und sich dies inzwischen als reine Wahlkampfmasche zwecks Stimmenfangs im Osten herausgestellt hat,
genauso hat er längst aufgehört, vom Erhalt industrieller Kerne zu sprechen. Das Versprechen aus dem Herbst 1992 ist heute wohl eher als Versprecher zu werten.Statt dessen hat er seinen Finanzminister walten lassen, der die industriellen Kerne weitestgehend hat verkommen lassen — andere sagen dazu: schlichtweg plattgemacht hat. Das ist die Bilanz. Das ist ein trauriges Ergebnis dessen, was noch Anfang dieses Jahres als großartiger Solidarpakt den Menschen im Osten als Politknüller verkauft wurde. Ausbaden müssen das die Bürger im Westen wie im Osten.In diesem Zusammenhang will ich eines klar sagen: Die Grundidee vom Erhalt industrieller Kerne war richtig und ist richtig,
und sie wird so lange richtig bleiben, wie ein Rest Industrie vorhanden ist. Dies ist genauso richtig wie die in dem heute diskutierten Antrag enthaltene Forderung nach der Beteiligung der Betroffenen am Entscheidungsprozeß. Unsere Forderungen nach Mitbestimmung, z. B. die Konzertierten Aktionen von Karl Schiller oder auch die aktuelle programmatische Forderung von Oskar Lafontaine nach einem Beschäftigungspakt gehören ebenfalls in diesen Bereich.
— Nein, das müssen Sie sich einmal genau ansehen.
— Davon sprechen wir doch jetzt gar nicht, Herr Rüttgers.
Ich habe es mir schon verkniffen, auf Herrn Haschke zu reagieren; denn er hat von diesem Antrag so gut wie gar nicht geredet. Er hat von Dingen gesprochen, die zu diesem Antrag weitestgehend nicht gehören.
Ich habe von ihm nicht gehört, daß er seinen Bundeskanzler kritisiert hat. Denn der Bundeskanzler hat erklärt — wenn ich mich richtig erinnere, im September oder im Oktober vergangenen Jahres in Schwerin —, daß die industriellen Kerne zu erhalten sind. Seitdem kam dazu nichts wieder.
— Das ist aber sehr weit hergeholt, Herr Haschke. Wir haben am Mittwoch bei der Regierungsbefragung Finanzminister Waigel zu diesem Thema befragt. Dort hatten wir ausdrücklich die Frage gestellt, wie denn die Beteiligung der Länder aussehe. Wir sprachen noch nicht einmal von den Beschäftigten, von den vor Ort Betroffenen. Wir fragten nur nach der Beteiligung der Lander. Selbst das ist abgelehnt worden.
Ich möchte jetzt zu meinem eigentlichen Redebeitrag zurückkommen; sonst komme ich völlig ab vom Thema. Sie sollten sich auch einmal an das Thema halten.
Diese Forderungen sind auch integraler Bestandteil des Konzepts der SPD-Fraktion, die mit ihrem Antrag über den Aufbau von Industriegesellschaften ein Alternativkonzept vorgelegt hat.
Wir haben mit diesem Vorschlag ein in sich schlüssiges Gesamtkonzept zur Erhaltung industrieller Kerne entwickelt, das logischerweise auch die Frage der Nachfolgeregelung für die jetzige Treuhandanstalt einbezogen hat — eine echte Alternative zu den Halbheiten, die der Bundesfinanzminister am Mittwoch hier im Bundestag als großartige Zukunftslösung verkauft hat.Wir halten an unserem Konzept fest. Der heute vorliegende Antrag deckt hiervon nur einen sehr geringen Ausschnitt ab. Unsere Vorschläge sind umfassender, besser eingepaßt in ein Gesamtmodell, das sich weiterhin als echte Alternative zum Durchwursteln der Regierungskoalition darstellt. Der Ansatz der PDS ist im Gegensatz zu unserem Antrag einfach zu eng ausgelegt. Darum kann meine Fraktion diesem Antrag nicht zustimmen. Wir werden uns deswegen der Stimme enthalten.Schönen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Jürgen Türk.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Richtig ist: Politisches Handeln setzt klare Konzepte, setzt Ordnungspolitik, d. h. ordnende Politik zur Schaffung von Rahmenbedingungen für freies wirtschaftliches Handeln und damit für die Schaffung von Arbeitsplätzen voraus.
Ich habe allerdings meine Zweifel, ob es richtig war und ist, undifferenziert vom Erhalt industrieller Kerne auszugehen. Zum einen kann und sollte man nicht bedenkenlos erhalten, was keinen Bestand haben kann, wie z. B. einzelne sogenannte strukturbestimmende Unternehmen. Das wäre verantwortungslos gegenüber den Betroffenen. Zum anderen muß ebenfalls von der Schaffung neuer Kerne gesprochen werden, und zwar nicht nur von industriellen Kernen.
Einbezogen werden in die Entwicklungskonzepte muß ebenfalls die Schaffung von Voraussetzungen für landwirtschaftliche Standorte, wie z. B. Gewächshauskomplexe, für touristische Einrichtungen, wie z. B. Naherholungszentren, für Bildungs- und Sportzentren, für Technologie- und Forschungsparks usw. Diese Zentren, diese Kerne, stellen Kristallisationspunkte für die Ansiedlung breitgefächerter mittelständischer Strukturen dar. Es darf keine pauschale, sondern es muß eine differenzierte Betrachtung der Standortvoraussetzungen der jeweiligen Region geben, denn in der Region leben die Betroffenen, die Insider, die den Bedarf und die Standortbedingungen kennen. Diese müssen gezielt Rahmenbedingungen für Investoren schaffen, sei es nun im industriellen Bereich oder in anderen Bereichen.
Ich empfehle, daß in überschaubaren Regionen, wie z. B. Großkreisen, sogenannte Standortentwicklungsgesellschaften wirksam werden, deren Hauptträger die Kommunen und Landkreise sind und wo ebenfalls Unternehmen und Treuhandanstalt eingebunden werden sollten. Eine Beteiligung von Bund und Ländern sollte nur in Ausnahmefällen möglich sein und nur dann, wenn sie einen wirksamen Beitrag leisten können.
Die Aufgaben dieser regionalen Standortentwicklungsgesellschaften sollten sein: erstens die Analyse des Ist-Zustandes, zweitens das Aufzeigen von Standortbedingungen, drittens die Verbesserung oder Schaffung von Standortfaktoren, viertens die standortspezifische Werbung von Investoren und fünftens das Erledigen von Behördengängen für Investoren einschließlich Fördermittelbeantragung und -beschaffung. Dabei darf die Beauftragung oder Beteiligung privater Beratungs- und Aufbaugesellschaften nicht ausgeschlossen sein.
Letztlich heißt das: Investoren — sprich: Arbeitsplatzschaffern — muß der rote Teppich ausgerollt werden. Das heißt ebenfalls, nicht Standorterhaltung und -sicherung um jeden Preis, sondern vor allem integrierte Standortentwicklung ist notwendig. Vor allem heißt das auch, die Neuorientierung der Industrie und anderer Unternehmen sowie die Umstrukturierung des wirtschaftlichen Umfelds ist erforderlich, und das nicht nur in Ostdeutschland.
Das bedeutet: weg von Monostrukturen, hin zum Branchenmix, sowohl innerhalb der Standorte als auch zwischen den Standorten. Wir brauchen keinen einzelbetrieblichen Ansatz, sondern wir brauchen eine integrierte Standortentwicklung in den Regionen.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, Dr. Joachim Grünewald.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das Grundanliegen des Antrags ist die Beteiligung der Betroffenen, aber, Herr Kollege Schumann, wenn ich Sie eben richtig verstanden habe, nach Ihrer Auffassung nicht nur der tatsächlich, sondern auch der nur vermeintlich Betroffenen in Fragen von Sanierung und Privatisierung. Genau das — und das wiederhole ich — ist etwas, was seit geraumer Zeit sowohl bei der Treuhandanstalt als auch bei der Bundesregierung geschieht. So müssen wir uns wieder einmal zu später Abendstunde hier mit einer Luftblase befassen. Ich würde fast geneigt sein zu formulieren: Das ist Diebstahl an der Zeit.
Im übrigen liegt diesem Antrag ganz offensichtlich die irrige Vorstellung zugrunde, als wenn es bei der Treuhandanstalt und bei der Bundesregierung eine Aufstellung bestimmter Unternehmen gäbe, die als „industrielle Kerne" definiert sind. Meinen Sie das immer noch?
— Nein, wir haben nie von Aufstellungen und Listen gesprochen. Diese vermeintliche und gar nicht existente Aufstellung — sie kann auch nicht existent sein — soll nun zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzungen gemacht werden, getreu der Devise dieser Tage, die wir ja leidvoll erfahren, daß alles Geschehen um die Treuhandanstalt herum und in der Treuhandanstalt selbst ohne Not zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzungen gemacht wird.Der Antrag zeigt deutlich die alte statische und damit falsche Sichtweise der Wirtschaftsabläufe durch die Antragsteller. Machte man den Antrag wirklich zur Richtschnur politischen Handelns, so hätte das wirtschaftspolitisch und betriebswirtschaftlich fatale Konsequenzen.Der Sanierungs- und Privatisierungsauftrag der Treuhandanstalt ist unternehmensbezogen und orientiert sich an Kriterien der betriebswirtschaftlichen Sanierungsfähigkeit. Diese Politik war und ist auch heute noch, in zweifellos schwierigerem wirtschaftlichen Umfeld, sehr erfolgreich. Durch die Pri-
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Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewaldvatisierung, die Bundesregierung und Treuhandanstalt nach wie vor für den besten und schnellsten Sanierungsweg halten, konnten bereits bisher in hohem Maße industrielle Kerne erhalten werden.Dies gilt beispielsweise für den im Antrag erwähnten Schiffbau in Mecklenburg-Vorpommern. Herr Kollege Hampel, wenn Sie sich dabei auf den Besuch des Bundeskanzlers in Schwerin berufen, finde ich diese Abqualifizierung ausgesprochen ungerecht und undankbar. Man wagt überhaupt nicht zu sagen, in welcher Größenordnung pro Arbeitsplatz Mittel eingesetzt wurden, damit in der Schiffsindustrie, gerade in Mecklenburg-Vorpommern, Arbeitsplätze erhalten werden konnten. Das gleiche gilt für Teile der Chemie, für die Eisen- und Stahlindustrie und für Teile des Maschinen- und Anlagenbaus.Welche Bedeutung die Bundesregierung gerade der Erhaltung und der Schaffung — ich wiederhole, was Herr Türk gesagt hat — wettbewerbsfähiger industrieller Strukturen beimißt, wurde in den Solidarpaktverhandlungen im Frühjahr dieses Jahres deutlich. Im Ergebnis haben wir in diesen Verhandlungen den Kreditrahmen der Treuhandanstalt für die Jahre 1993 und 1994 um jeweils 8 Milliarden DM auf jeweils 38 Milliarden DM aufgestockt.Morgen früh, Herr Kollege Pohler, werden wir uns um 8 Uhr im Ausschuß darüber unterhalten, wie wir im Rahmen des Wirtschaftsplans diese Mittel insbesondere für die industriellen Kerne eingesetzt haben und wie wir sie in Zukunft einsetzen werden. Diese Mittel nämlich werden im wesentlichen für betriebswirtschaftlich notwendige Investitionsmaßnahmen, zur weiteren und erneuten Entschuldung und für sonstige Eigenkapitalmaßnahmen eingesetzt.Zur Zusammenarbeit: Bundesregierung und Treuhandanstalt arbeiten sehr eng und auch kooperativ mit den Landesregierungen zusammen. Es wurden schon von Herrn Kollegen Haschke die Beispiele „Atlas" und „Anker" erwähnt. Es ist aber gar nicht darauf hingewiesen worden, daß allüberall regelmäßig die Wirtschaftskabinette miteinander tagen. Es wurde verabsäumt, darauf hinzuweisen, daß wir uns in Regionalkonferenzen — ich erinnere nur an die am Standort Bischofferode bevorstehende Konferenz am 2. November — bemühen, uns mit allen regelmäßig abzustimmen.Dabei darf aber nicht übersehen werden — darauf lege ich großen Wert, auch die Bundesregierung tut dies —, daß für Fragen der regionalen Strukturpolitik nach unserer Verfassung nicht der Bund, nicht die Treuhandanstalt, sondern die Länder zuständig sind.Auch die Gewerkschaften und die Arbeitnehmer — Herr Kollege Schumann, das wissen Sie — werden auf allen Ebenen in vielfältiger Weise in die Meinungsfindung eingebunden. Dies geschieht insbesondere da, wo es sich gehört: in den Aufsichtsräten der Unternehmen. Dort sind sie überall vertreten. Das geschieht allerdings auch im Verwaltungsrat der Treuhandanstalt, wo selbstverständlich auch die Arbeitnehmer vertreten sind, ebenso wie in den Ausschüssen der Treuhandanstalt. Sie leisten dort herausragend gute Arbeit.Für zusätzliche Konferenzen besteht also gar kein Bedarf. Nicht noch mehr reden oder gar noch mehr palavern, sondern entschlossenes, gestaltendes Handeln ist gefragt.Deswegen wird die Treuhandanstalt zusammen mit der Bundesregierung den so begonnenen Weg fortsetzen. Sie hat im Lichte der Diskussion um die industriellen Kerne die Zusammenarbeit mit den Ländern intensiviert, sie hat Management-Kommanditgesellschaften gegründet — neuerlich gibt es auch hier eine Arbeitnehmerbank; das ist nicht erwähnt worden —; sie hat sich bemüht, auf diese Weise alle zu beteiligen.Es ist doch ganz selbstverständlich, daß bei den großen Einzelsanierungen — ich erwähnte schon den Fall Bischofferode — die Regionen und alle daran beteiligt werden. So müssen wir es fortsetzen.Ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses Treuhandanstalt zu dem Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zur Beteiligung der Betroffenen am Konzept zum Erhalt industrieller Kerne auf Drucksache 12/5283. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/4429 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Großen Anfrage des Abgeordneten Konrad Weiß und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Menschenrechtsverletzungen an Kindern und Jugendlichen in Brasilien
— Drucksachen 12/4455, 12/5244 —
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10 Minuten erhalten soll. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Gleichwohl, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, erlauben Sie mir ein Wort zu einer Stunde, in der das Fernsehen nicht dabei ist. Wir müssen uns ernsthaft überlegen, ob wir ein solches Thema, Menschenrechtsverletzungen bei Kindern und Jugendlichen in Brasilien — die einbringende Gruppe ist mit einem Kollegen vertreten, die Kolleginnen und Kollegen, die zu den zuständigen Ausschüssen gehören, sind spärlich vertreten —, weiterhin so behandeln können. Wir dürfen uns über das Echo nicht wundern.
Bitte, Herr Kollege Rüttgers.
Herr Präsident, ich verstehe Ihre Anregung wohl und halte sie dem Grunde nach für berechtigt. Deshalb haben wir das im Vorfeld dieser Debatte diskutiert und vorgeschlagen, diesen Punkt auch wegen der Sachnähe mit der morgen stattfindenden entwicklungspolitischen De-
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16082 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Dr. Jürgen Rüttgersbatte morgen ganz früh zu behandeln. Der Antragsteller hat darauf bestanden, daß die Debatte nicht morgen früh, sondern heute abend stattfindet. Weil es der Punkt war, der vom BÜNDNIS 90 im Rahmen dieser Woche zu behandeln war, waren wir gezwungen, so zu verfahren. Ich wollte das nur zur Erläuterung darstellen.
Vielen Dank, Herr Kollege Rüttgers. Ich habe das jetzt gar nicht so sehr im Blick auf die Tatsache gemeint, daß wir über ein solches Thema zu später Stunde sprechen, sondern vielmehr im Blick auf die Tatsache, daß viele Kollegen, die ja häufig öffentliches Interesse an solchen Dingen bekunden, dann nicht teilnehmen.
— Entschuldigung, ich habe eine Bemerkung gemacht, die auch an die Adresse der Kollegen geht. Es gab eine Aufklärung zu einem Punkt, nach dem ich eigentlich gar nicht gefragt hatte. Das war als Appell gemeint.
— Das ist richtig.
— Entschuldigung, Frau Kollegin, das ist keine Geschäftsordnungsdebatte. Ich habe eine Bemerkung gemacht, und der Kollege Rüttgers hat gemeint, er müsse mir Informationen zuteil werden lassen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Konrad Weiß.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die fortschreitende Industrialisierung und die ungerechten Eigentumsverhältnisse haben in den letzten Jahrzehnten die sozialen Strukturen in Brasilien tiefgreifend verändert und zu großer Armut geführt. Unter den sozialen Mißständen haben vor allem Kinder zu leiden. Vermutlich sind es mehrere Millionen brasilianische Kinder, die gezwungen sind, auf der Straße ihren Überlebenskampf zu führen, und die im Spannungsfeld von desolaten Familienverhältnissen und fragwürdigen staatlichen Erziehungsheimen, von Gewalt, Kriminalität, Prostitution, Drogenkonsum und Straßenhandel heranwachsen.In ihrer Antwort auf meine Große Anfrage zu Menschenrechtsverletzungen an Kindern und Jugendlichen in Brasilien bestätigt und bedauert die Bundesregierung die bedrückenden Lebensbedingungen dieser Kinder. Die Konsequenzen allerdings, die sie zieht, sind nach Auffassung der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unzureichend und werden der Not der Kinder nicht ausreichend gerecht. In den vorgeschlagenen Maßnahmen bleibt die Bundesregierung weit hinter den Möglichkeiten und auch, wie ich meine, hinter ihrem eigenen Anspruch zurück.Nach den Erkenntnissen der Bundesregierung arbeiten von den 10- bis 14jährigen etwa 2,9 Millionen Kinder, was einen Prozentsatz von 18,7 % dieser Altersgruppe entspricht. Von den 15- bis 19jährigen arbeiten 8,1 Millionen. Das sind 57,7 % dieser Altersgruppe. Kinderarbeiter unter 10 Jahren sind hierbei nicht erfaßt.Kinderarbeit in Brasilien bedeutet aber in der Regel nicht, daß die Kinder im Familienbetrieb bzw. im informellen Sektor mitarbeiten oder Jobs nach der Schule haben. Die Kinder schuften unter äußerst schweren Bedingungen, auf Zuckerrohrplantagen oder für die Herstellung von Exportprodukten wie Kaffee, Kakao, Baumwolle und Fruchtsaftkonzentrat. Sie arbeiten oft ohne jede soziale Absicherung und für einen geringen Lohn, der weit unter dem eines Erwachsenen liegt. Ohne sichernde Arbeitskleidung sind sie nicht nur den Bissen von Insekten und Schlangen ausgesetzt, sondern auch gefährlichen Herbiziden wie Paraquat und Pestiziden wie Lindan. Beide Produkte sind in Industrieländern längst verboten.Nach ihren Angaben hat die Bundesregierung keine Informationen darüber, daß Güter aus Brasilien, die nach Deutschland importiert werden, mit Hilfe von Kinderarbeit produziert wurden. Ich halte das nicht für befriedigend und erwarte, daß die deutsche Botschaft vor Ort angewiesen wird, den vielfältigen Hinweisen von Menschenrechtsorganisationen und Journalisten aus Brasilien und Deutschland nachzugehen und die Bundesregierung umfassend zu informieren.Detaillierte Angaben finden sich beispielsweise in der Studie „Kinderarbeit in Brasiliens Exportlandwirtschaft — Kinderarbeit auch für deutsche Verbraucher", eine Untersuchung der „Kooperation Brasilien" aus Freiburg und des "Dritte-Welt-Hauses" in Bielefeld. Danach sind auf brasilianischen Orangenplantagen bis zu 20 % minderjährige Arbeiterinnen und Arbeiter beschäftigt, die mitunter zehn bis zwölf Stunden am Tag Orangen pflücken oder 25 Kilo schwere Kisten schleppen müssen. Die Bundesrepublik Deutschland führt mehr als 90 % ihres Orangensaftkonzentrats aus Brasilien ein. Deutschland ist auch ein Hauptabnehmerland für brasilianischen Kaffee. Obwohl in Deutschland die Lebenshaltungskosten kontinuierlich steigen, sinkt paradoxerweise der Kaffeepreis. 1950 kostete das Pfund Kaffee noch 14,40 DM, heute ist es die Hälfte. Dieser Vorteil für die deutschen Verbraucher geht auch zu Lasten brasilianischer Kinder, die für unseren Wohlstand rücksichtslos ausgebeutet werden. Ähnliches gilt für Kakao und Baumwolle.Die Bundesregierung macht es sich zu einfach, wenn sie sich auf Unkenntnis beruft. Vor Jahren schon hielt die Bundesregierung es für wichtig, die Öffentlichkeit umfassend über Kinderarbeit aufzuklären. Dazu steht die Auffassung im Widerspruch, die die Bundesregierung nun in der Antwort auf meine Große Anfrage kundgetan hat, es gehöre nicht zu ihren Aufgaben, die deutsche Öffentlichkeit über Mißstände in dritten Staaten zu unterrichten. Wie ernst,
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Konrad Weiß
frage ich mich, nimmt die Bundesregierung eigentlich ihre so oft proklamierte Verantwortung für die eine Welt? Die Bundesrepublik Deutschland ist eine gewaltige Wirtschaftsmacht und gehört zu den einflußreichsten Ländern. Das muß Konsequenzen auch für die Gestaltung der wirtschaftlichen Beziehungen haben. Es ist nicht nur das Recht, sondern die Pflicht der Bundesregierung, die Bürgerinnen und Bürger zu warnen, wenn deutsche Unternehmen Waren anbieten, die sittenwidrig und unter Mißachtung der Menschenrechte produziert worden sind.
Brasilien hat 1990 ein vorbildliches Statut des Kindes und des Jugendlichen verabschiedet. Doch umgesetzt ist es nicht. Nach Auffassung der Bundesregierung wird das durch fehlende Haushaltsmittel, unklare Kompetenzverteilung und eine korrupte öffentliche Verwaltung in Brasilien verhindert. Es ist mir unverständlich, warum die Bundesregierung nicht die Hauptursache dafür, die ungerechte Verteilung des Landes und die ungerechten Besitzverhältnisse, beim Namen nennt und anprangert, wie das z. B. die brasilianischen Bischöfe in aller Schärfe getan haben.Landknappheit, Arbeitslosigkeit und der Verfall der Rohstoffpreise drücken den Lohn auch in Brasilien. Viele Familien sind zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes auf die Arbeit ihrer Kinder angewiesen. Der Zwang, für den Export zu wirtschaften, und die von Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds oktroyierte Strukturanpassung haben einen extremen Sparkurs zur Folge, der sich im sozialen Bereich verheerend auswirkt und die Situation gerade der Ärmsten gravierend verschlimmert.Die Bundesregierung weist zu Recht darauf hin, daß Kinderarbeit in Ländern der Dritten Welt letztlich nur durch wirtschaftliche und soziale Stabilisierung in den betroffenen Ländern abgeschafft werden kann. In der Auffassung allerdings, einseitige Handelsmaßnahmen seien nicht geeignet, derartige Mißstände zu beseitigen, kann das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Bundesregierung nicht folgen. Nach unserer Auffassung widerspricht das sowohl ihrer Kriterienpolitik als auch ihren eigenen konkreten Aktivitäten, die sie im Hinblick auf Vermeidung von Kinderarbeit unternimmt.Wir unterstützen ausdrücklich den Vorschlag der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit, den sie in Zusammenarbeit mit dem „Indo-German Export Promotion Project" erarbeitet hat. Dieser sieht die Einführung eines Warenzeichens „Hergestellt ohne Kinderarbeit" vor, das auf der Grundlage eines Lizenzverfahrens von den Unternehmen genutzt werden kann. Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schlägt ähnliche Projekte auch für Brasilien und andere Länder vor. Wir sehen darin eine gute Möglichkeit, das Verantwortungsbewußtsein der Verbraucher zu schärfen und dadurch positive Veränderungen bei den Produzenten zu bewirken. Wenn Unternehmer wissen, daß sich Produkte, die unter Ausbeutung von Kindern hergestellt wurden, nicht mehr ins Ausland verkaufen lassen, werden sie irgendwann auf Kinderarbeit verzichten.Ein anderer sinnvoller Weg ist die Unterstützung des „Transfairhandels", der von kirchlichen und Dritte-Welt-Gruppen betrieben wird. Bei diesem System erhalten die Kleinproduzenten einen höheren Preis für ihren Kaffee, so daß Kinderarbeit nicht mehr notwendig ist. Das Argument der Bundesregierung, Importbeschränkungen und Importverbote würden gegen internationale Verpflichtungen, etwa des GATT, oder gegen EG-Richtlinien verstoßen, ist angesichts des ansonsten munter praktizierten Protektionismus nicht sehr überzeugend. Wir fordern die Bundesregierung auf, ihren Einfluß zu nutzen und aktiv bei der Schaffung einer solidarischen Weltwirtschaftsordnung mitzuarbeiten.Wir erwarten von der Bundesregierung ferner, daß sie auch in Brasilien aktiv wird, um das Gesetz gegen den sexuellen Mißbrauch von Kindern durch sogenannte Sextouristen umzusetzen. Ohne die Regelung der sich daraus ergebenden Verfahrensfragen kann das Gesetz nicht wirksam werden. Damit gegen Deutsche, die im Ausland die Not von Kindern ausnutzen und sie gegen Bezahlung sexuell mißbrauchen, ermittelt und strafrechtlich vorgegangen werden kann, ist der Abschluß von bilateralen Rechtshilfeabkommen notwendig.Meine Damen und Herren, Kinder gehören weder auf die Straße noch auf Plantagen, sondern in die Familien und in die Schule. Das gilt nicht nur für Brasilien, sondern für alle Länder. Ein Land, das seine Kinder zerstört, hat keine Zukunft. Deutschland hat die UNO-Konvention zum Schutze der Kinder unterzeichnet und sich damit auch verpflichtet, Kinderarbeit nicht zu dulden. Es wäre heuchlerisch, wenn wir das Recht auf eine geschützte Kindheit zwar den deutschen Kindern, nicht aber den Kindern in den Entwicklungsländern zugestehen würden.Ich danke Ihnen.
Ich erteile der Kollegin Dr. Sissy Geiger das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Thematik der Menschenrechtsverletzungen an Kindern und Jugendlichen in Lateinamerika ist ein besonders trauriges Kapitel und liegt mir persönlich sehr am Herzen. Das Problem der Straßenkinder und der damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen existiert in mehreren Ländern Lateinamerikas. Nur wenn man diese Kinder und die Plätze, an denen sie wohnen — besser gesagt: hausen —, selbst gesehen hat, kann man sich ungefähr ein Bild von ihrer Situation machen. Ich war vor zwei Wochen mit Mitgliedern des Ausschusses für Frauen und Jugend in Guatemala und Mexiko und konnte dort sogenannte Straßenerzieher begleiten.Warum gibt es Straßenkinder? Warum werden es immer mehr? Warum sind sie das Ziel ungeheuerlicher Verfolgung, Bestrafung, ja von Tötungsaktionen offizieller und halboffizieller Polizisten in Brasilien, in Guatemala, in Mexiko? Es beginnt meistens damit, daß eine Frau vom Land in die Stadt zieht, mit einem
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16084 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Dr. Sissy Geiger
Mann mehrere Kinder hat, dieser Mann sie verläßt, ein neuer Mann ins Haus oder in die Hütte kommt und dieser die Kinder des vorhergehenden Mannes nicht mehr anerkennt.Die Mädchen werden meistens, wenn sie geschlechtsreif sind oder noch vorher, vom Vater oder vom Lebensgefährten der Frau vergewaltigt und gehen dann meistens in die Prostitution. Die Knaben widersetzen sich der autoritären Gewalt der Väter und schließen sich anderen auf der Straße lebenden Kindern an. Die Gruppe wird zum Familienersatz.Wovon leben sie? Zunächst suchen sie sich Gelegenheitsarbeiten. Weil sie aber die Schule vorzeitig verlassen haben, ist die Ausbildung mangelhaft. Das heißt, sie arbeiten zunächst im sogenannten informellen Sektor: Sie sitzen an Straßenkreuzungen, atmen den ganzen Dreck ein, putzen Schuhe, verkaufen, wenn die Ampel gerade Rot ist, Blumen, waschen Teller oder verkaufen andere Kleinigkeiten, ganz zu schweigen von den Arbeiten in Fabriken oder auf Plantagen.Sie können nicht zur Schule gehen und müssen sich selbst erhalten. Sie trösten sich mit Klebstoffschnüffeln. Es kommt zum Drogenkonsum. Sie gleiten immer mehr in die Kriminalität ab, schließen sich zu Banden zusammen, und schließlich beklauen sie die Menschen und Geschäfte und überfallen sie auch. Ein höllischer Kreislauf beginnt.In Mexiko City leben 22 Millionen Einwohner, darunter laut UNICEF 1,25 Millionen Straßenkinder. In Guatemala City leben 2,5 Millionen Menschen, darunter 5 000 Straßenkinder. In Rio de Janeiro gibt es nach neuesten Angaben 10 Millionen Einwohner, davon leben 2 Millionen in den Favelas. Es gibt dort sicherlich mehr als „nur" 797 echte Straßenkinder.Das sind die offiziellen Angaben, wobei man wissen muß, daß die Definition „Straßenkinder" verschieden ausgelegt wird. Die offiziellen Stellen sprechen nur dann von Straßenkindern, wenn sie wirklich keine Eltern mehr haben. Es sind aber in der Mehrzahl auch diejenigen Straßenkinder, die noch zu Hause wohnen, die aber den gleichen Bedingungen unterliegen wie die anderen.Diese Jugendlichen, die davon leben, daß sie Geschäfte und Menschen, auch Touristen, überfallen, werden auch dementsprechend behandelt. Sie werden wie Ratten behandelt. Die Bürger heuern sich Polizisten an, ehemalige Polizisten oder Schläger, stecken sie in Uniformen, und diese fungieren dann als Todesschwadrone. Die Bürger beauftragen diese Menschen damit, ihnen diese Kinder vom Hals zu halten. Diese Aktionen — so wissen wir von Amnesty International — können in regelrechte Blutbäder unter den Kindern und Jugendlichen ausarten.Ich zitiere mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten aus „Urgent Action" von Amnesty International:Laut einer Statistik der brasilianischen Bundespolizei wurden im ganzen Land zwischen 1988 und 1990 4 611 Kinder und Jugendliche umgebracht. Berichten zufolge sollen in der ersten Hälfte dieses Jahres allein in Rio de Janeiro 320 Kinder ermordet worden sein. Eine parla-mentarische Untersuchungskommission der Abgeordnetenkammer kam in ihrem Bericht über die „Liquidierung von Minderjährigen" vom Februar 1992 zu dem Schluß, daß die Beteiligung der Zivil- und Militärpolizei an den Kindermorden „beileibe keine Ausnahme" war, da der von Polizisten verübte Mord die dritthöchste Ursache für einen gewaltsam herbeigeführten Tod von Minderjährigen war. Verübt werden diese Verbrechen vorwiegend von Todesschwadronen und sogenannten Bürgerwehren.Die Kinder kommen auch wegen des Schnüffelns an Klebstoff ins Gefängnis, oft zusammen mit Erwachsenen. 100 000 bis 150 000 sind es in den letzten Jahren gewesen. In diesen Gefängnissen stehen Folterungen und Prügel auf der Tagesordnung.Welche Möglichkeiten gibt es nun für die Bundesregierung, in Brasilien — und Sie können auch sagen in Mexiko, Guatemala usw. — einzugreifen, damit Kindern und Jugendlichen der unterprivilegierten Bevölkerungsschichten ein menschenwürdiges Dasein gesichert wird?Meine Damen und Herren, es genügt sicherlich nicht, Programme gegen die Armut aufzulegen; das ist sicher. Angesichts einer Bevölkerungszahl von 150 Millionen Einwohnern nur in Brasilien ist Hilfe von Deutschland allein nicht zu leisten. Jeder noch so ansehnliche Geldbetrag ist hier nur ein Tropfen auf den heißen Stein.Auch wenn die zuständigen Regierungsstellen in von Deutschland initiierte Maßnahmen und Anregungen miteinbezogen werden — das haben wir sehr schön in Mexiko miterleben können — , ist das zwar wichtig und richtig, aber ich glaube, es ist nicht sehr wirkungsvoll. Südamerikaner sind stolze Menschen. Sie wollen ihr Gesicht nicht verlieren, und das ganze Ausmaß dieser bevölkerungspolitischen Katastrophe und der nicht funktionierenden Demokratie werden sie nicht zugeben.Es gibt nur eines, meine Damen und Herren: Erstens. Die Menschenrechtsverletzungen der offiziellen und nichtoffiziellen Polizisten müssen restlos aufgeklärt, geahndet und bestraft werden.
Zweitens. Wir müssen alles in Bewegung setzen, damit diese jungen Leute eine Ausbildung bekommen. Das ist ja zum Teil schon Inhalt einiger Programme. Aber dazu müssen meiner Meinung nach die privaten Hilfsorganisationen vor Ort viel stärker unterstützt werden als bisher, ebenso die kirchlichen Verbände und die Stiftungen usw. Wir haben bei unserem Besuch gesehen, daß die wirksamsten Hilfen von den privaten Organisationen kamen. Bei den staatlichen Einrichtungen versickert das Geld in der Verwaltung.Wir müssen auch unkonventionelle Ideen entwikkeln, z. B. für die Kinder in Lateinamerika über freie Träger Schulunterricht am Sonntag anbieten, wie das z. B. jetzt in Guatemala vorgenommen wird, oder Gemeinschaftszentren fördern, in denen Jugendliche gemeinsam mit ihren Eltern unterrichtet werden,
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Dr. Sissy Geiger
damit die Familie gestärkt wird und die Kinder wieder ein Zuhause haben. Wir haben so eine Einrichtung in der Nähe von Puebla in Mexiko gesehen, die zufällig — aber beispielhaft — durch die Adenauer-Stiftung finanziert wird. Nach diesem Zentrum, in dem Jugendliche und Eltern auch eine Ausbildung erhalten, sind bereits 33 ähnliche Einrichtungen in Mexiko gegründet worden.Ich persönlich halte es für ganz verkehrt, wirtschaftliche Sanktionen gegen diese Länder zu beschließen. Allerdings muß die Bundesregierung hier viel mehr Druck machen. Ein Menschenleben gilt mehr als das einer Ratte. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Freimut Duve, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Weiß, ich möchte Ihnen sehr danken, daß Sie diese Initiative ergriffen und uns alle auf dieses dramatische Thema aufmerksam gemacht haben. Es wäre darum, finde ich, Ihren Kollegen auch angemessen, wenn Sie nicht von Ihrer eigenen Anfrage sprächen, sondern von der Ihrer Gruppe. Das tun wir so in der Regel.Ich will mit einer kleinen Geschichte anfangen: Meine Frau und ich haben vor einiger Zeit geholfen, eine kleine Schule in einer Favela der Rocinha in Rio zu finanzieren, den Bau eines kleinen Zusatzgebäudes. Diese Schule ist von jungen Frauen, so wie Sie sie soeben geschildert haben, gegründet worden, die sich in der gleichen Situation — sie waren zwischen 18 und 22 Jahren — befanden. Vier Frauen haben diese Schule gegründet, eine Vorschule oben am Hügel. Wir haben sie besucht.Während wir in der Schule waren, ist draußen geschossen worden. In der Rocinha sind die meisten Bandenkriege von Rio. Nach ein paar Minuten hörte das Schießen auf, aber es war schon ziemlich erschreckend, weil das Schießen unmittelbar um dieses kleine Haus herum geschah. Die beiden jungen Gründerinnen sagten: Kommt heraus, wir bringen euch die lange steile Treppe herunter; denn wenn ihr mit uns geht, kann euch nichts passieren. Die Kinder der Männer beider Gangs sind bei uns.Was will ich damit sagen? — Es gibt da überall Versuche, aus eigener Kraft — Sie haben es ja auch erwähnt — etwas zu tun. Selbst bei einem Zerfall von Zivilisation, selbst bei dieser Art von Gewalt — jedenfalls in der Rocinha — gibt es noch einen Rest von gemeinsamer Sorge für Kinder.Genau dieser Rest von gemeinsamer Sorge für Kinder ist in den großen Straßen und in dem, was hier geschildert worden ist, nicht nur zusammengebrochen, sondern sie verschwindet langsam als Grundidee menschlichen Zusammenlebens. Es sind Kinder, die sich sozusagen aus dem anthropologischen Gewebe herausgeschleudert sehen. Niemand fühlt mehr Verantwortung.Wenn das Schicksal dieser Straßenkinder die Zukunft der Welt ist, dann hat die Welt keine Zukunft.Dies ist kein Phänomen von einigen Tausend oder Hunderttausend. Das ist ein dramatischer Bruch, der da in den letzten 20 Jahren stattgefunden hat. Ich will das an einem anderen Beispiel erläutern.Ich habe mich vor 20 Jahren für ein Buch mit den Kindern und Familien beschäftigt, die in Kalkutta und Bombay immer auf der Straße gelebt haben und leben. Es war eine riesige Zahl: damals 700 000 in der Stadt Kalkutta. Interessant daran war die Tatsache, daß selbst in der Zeitspanne von zwei Generationen, in der die Menschen auf der Straße gelebt hatten, so etwas wie eine Familienbindung und eine Tradierung erhalten blieb. Das Befragen dieser Kinder ergab, daß sie noch wußten, woher ihre Eltern kamen und zu wem sie gehörten. Das ist in Bombay wohl bis heute so. Wir haben vor einiger Zeit ein Buch über Menschen aus Bombay publiziert. Man hat versucht dafür, einzelne Straßenkinder zu befragen. Auch da ist das so geblieben: Sie haben noch gewisse Bindungen.Wir erleben jetzt — das ist wirklich ein Bruch — Kinder, denen nichts mehr tradiert wird, die also ihre eigene Welt aufbauen wollen und müssen. Das ist nicht mehr mit dem Begriff „Elend" zu beschreiben. Einer der Hauptgründe dafür ist — er ist von keinem der Entwicklungstheoretiker, weder der Rechten noch der Linken, vorausgesehen worden — das Verhalten der arbeitslosen Männer. Sie lassen ihre Frauen allein.Die Größenordnung der in den Millionenstädten Lateinamerikas inzwischen alleinlebenden Frauen, die gar nicht mehr in der Lage sind, ihre Kinder zu erziehen und hilflos geworden sind, weil die Männer abhauen, hat ein dramatisches Ausmaß angenommen. Da kann wirklich ein zivilisatorischer Bruch entstehen, der dazu führt, daß Kinder zur Ware werden mit ihrem Körper und allem, was sie gerade noch haben. Daß wir in dem katholischsten aller Kontinente einmal in eine solche apokalyptische Dimension geraten würden, daß selbst Körperteile „nachgefragt" werden, die man Embryos oder Kleinkindern entnimmt, daß wir am Ende der Zivilisation angelangt sind, ist wohl die größte Bedrohung für unsere Kultur.Deshalb ist, glaube ich, die einfache Formel nicht mehr genug: Es geht jetzt nur um Armutsbekämpfung. Das Erschrecken, aber auch die Hoffnung muß größer werden, daß es — ich weiß nicht, ob es noch einmal zu Familien kommen wird — wieder zu einer sozialen Kultur kommt, auch unter Armutsbedingungen. Denn wir werden diese Millionen in einer überschaubaren Zeit nicht auf einen Mittelstand bekommen können.Aber daß mit der Verbilderung dieses Vorgangs eine tiefe Verwilderung hinsichtlich des Wertes des Menschen auch bei uns verknüpft ist, davor habe ich Angst. Ich meine eine Überlegung, mit der ich immer sehr vorsichtig umgehe, die mir aber zunehmend zu schaffen macht: daß die allgemeine Überzeugung, daß „zu viele " Menschen auf der Erde leben, den Wert des einzelnen Kindes so dramatisch reduziert, daß man es zwar noch zur Kenntnis nimmt, aber dahinter unausgesprochen, wie ein düsterer Geist unserer Zeit, immer schon die Vorstellung steht: Na ja, es sind ja ohnehin sehr viele.
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16086 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993
Freimut DuveDiese Bedrohung ist nicht nur eine Bedrohung der Wertvorstellungen Lateinamerikas oder Asiens, sondern auch unserer eigenen. Denn dies ist eine globale Veränderung der Bewertung von Menschen und des Für-Wert-Haltens von Menschen. Deshalb ist es, glaube ich, bestimmt sinnvoll, daß wir sagen, was wir materiell tun können. Das ist relativ wenig, aber das müssen wir tun: Helfen auch aus Hilflosigkeit. Was wir aber sozusagen geistig-kulturell tun müssen und was wir in dieses Thema an humaner Würde hineintragen müssen, ist etwas, was wir für uns selber tun müssen. Denn wenn das so weiter geht — das globale Dorf ist hier schon in einem anderen Zusammenhang erwähnt worden —, dann haben wir es sehr schwer, unseren Kindern den Wert von Kindheit noch klarzumachen.Das sind ein paar Überlegungen, die ich hier gern loswerden wollte. Zum Schluß möchte ich aber noch sagen: Die kleine Geschichte damals endete zunächst heiter, am Schluß aber doch wiederum ziemlich traurig. Wir haben natürlich gelacht, als die beiden Frauen sagten: Ihr seid geschützt, durch uns; denn die Gangster haben auch ihre Kinder bei uns. — Als wir die Treppe hinuntergingen und das wirkliche Schießen aufgehört hatte, sahen wir überall um die Lehmhäuser herum kleine Kinder. Sie spielten mit selbstgebastelten Geräten, mit Holzstücken oder was auch immer, genau diesen bildhaften Bandenkrieg, den sie vorher erlebt hatten.Es gibt einen berühmten Roman von William Golding, „Herr der Fliegen", eine negative Zukunftsvision. Er beschreibt, wie Kinder verwahrlosen, wenn sie alleine sind. Was wir hier erleben, ist nach allem, was wir wissen, daß die Verwahrlosung der Erwachsenenumwelt um die Kinder herum zum Teil wesentlich größer ist. Die Kinder sind in der Lage, selber immer wieder einen Rest an Kleinsolidarität untereinander aufzubauen, auch wenn sie niemanden aus der Erwachsenenwelt mehr haben. Dieser Rest an selbständiger Solidarität, ohne daß ein Kindergärtner oder ein Vater oder eine Mutter ihnen dazu verholfen hätte, ist das Stückchen Hoffnung, das man auch aus dieser Debatte mitnehmen kann.Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Arno Schmidt, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Duve, normalerweise müßte man die Debatte jetzt abbrechen. Denn Sie haben viele Dinge beleuchtet, die man so nachvollziehen kann. Es ist auch mir, Herr Weiß, etwas zu einfach, wenn man versucht, das bei der Bundesregierung abzulagern. Ich glaube, die Einwirkungsmöglichkeiten — Sie haben immer wieder die Bundesregierung angesprochen — sind einfach zu gering, um dieses Problem so vielfältig, wie es Herr Duve dargestellt hat, anzugehen.Es ist ein trauriges Kapitel in der Alltagsgeschichte Brasiliens. Leider ist Brasilien im Laufe des letzten Jahres wiederholt mit Berichten über Menschenrechtsverletzungen in die Schlagzeilen gerückt. DieVerletzung fundamentaler Rechte von Menschen ist natürlich besonders bitter und grausam, wenn sie an den schwächsten Gliedern einer Gesellschaft geschieht.Das nächtliche Massaker an schlafenden Straßenkindern an der Candelaria-Kirche durch Angehörige der brasilianischen Militärpolizei im vergangenen Juli ist uns in Erinnerung und hat sowohl die brasilianische als auch die internationale Öffentlichkeit mehr als sonst aufgerüttelt.Trotzdem: Beides war nicht neu, zum einen, daß Straßenkinder von Todesschwadronen gemordet werden, und zum anderen, daß brutale Morde an Menschen, die in gewissen brasilianischen Kreisen als Menschen zweiter Klasse angesehen werden, auf Täter aus den Kreisen der Militärpolizei zurückgehen.Kriminalität und offene Gewaltbereitschaft durchziehen weite Kreise der brasilianischen Bevölkerung. Wen wundert es da, daß in diesem Klima auch zahllose Kinder und Jugendliche aus schierem Zwang, in einer Gesellschaft zu überleben, die ihnen kaum die Chance bietet, sich unter lebenswürdigen Umständen zu entfalten, häufig genug selber in kriminelle Kreise abrutschen, etwa in die Prostitution, wie es schon gesagt wurde, oder in das Drogengeschäft.Eines scheint jedoch offensichtlich und wird durch die Berichte über ungeahndete Menschenrechtsverletzungen, über Korruptionsskandale, über verschleppte Strafprozesse in Brasilien Woche für Woche bestätigt: Von einer Verwurzelung rechtsstaatlicher Prinzipien in der brasilianischen Gesellschaft darf man wohl noch nicht ausgehen.Eine Verbesserung der Situation der Millionen Kinder und Jugendlichen, die vorrangig auf der Straße leben — seien es nun Straßenkinder im strengen Sinne, wie Sie das sagten, Frau Kollegin, oder seien es die Hunderttausende oder Millionen, die in der Schattenwirtschaft arbeiten, ihre Familie nur noch sporadisch treffen und sie teilweise auch noch unterstützen —, im Rahmen einer wichtigen institutionellen Veränderung ist zumindest gesetzlich vorbereitet worden. 1990 ist in Brasilien ein Jugendhilfegesetz verabschiedet worden, das „Statut der Kinder und Jugendlichen". Es bietet erstmals eine gesetzliche Grundlage für die Vertretung der Rechte von Kindern und Jugendlichen.Jetzt kommt es auf die Umsetzung an. Diese Umsetzung benötigt die internationale Aufmerksamkeit, so wie auch damals die Verabschiedung des Gesetzes nicht zuletzt unter erheblichem Druck der internationalen Öffentlichkeit geschehen ist.Das Statut sieht die Bildung sogenannter Beiräte für die Vertretung der Rechte der Kinder und Jugendlichen vor. Diese werden zur Zeit auf den drei relevanten Ebenen, von der nationalen über die bundesstaatliche bis hin zur kommunalen Ebene, eingerichtet. Das vorgesehene Mitentscheidungsrecht bei Entscheidungen, die das Leben von Kindern und Jugendlichen betreffen, reicht bis hin zu einer Einflußnahme auf die Verwendung von Haushaltsmitteln.
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Arno Schmidt
An diesen Beiräten hängt auch wesentlich die Verwirklichung der weitreichenden Einzelregelungen des Gesetzes. Probleme des Schulwesens, der beruflichen Ausbildung, des Adoptionswesens, der Kinderarbeit und der Versorgung Behinderter, sollen hier angepackt werden.Eine Verbesserung von Millionen Kinderschicksalen wird sicherlich nicht von heute auf morgen geschehen. Das müssen wir realistisch sehen. Die öffentliche Diskussion und das sich ausbreitende Problembewußtsein in Brasilien sind dafür eine sehr wichtige Voraussetzung, doch wird auch die Weltöffentlichkeit weiterhin eine Wächterfunktion wahrnehmen müssen. Diese Wächterfunktion darf aber kein Ersatz für die Verpflichtung der Industrienationen sein, ihren Beitrag für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung zu leisten. Ein Scheitern der GATTVerhandlungen muß unter allen Umständen vermieden werden, auch aus dieser Sicht.Rechtsstaatlichkeit auf dem Boden der Demokratie ist sicherlich der beste Garant für ein Klima, in dem Menschenrechtsverletzungen unterbleiben und in dem die grundlegendsten Bedürfnisse der heranwachsenden Generationen befriedigt werden.Schönen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bilder der Kinder, die auf den Straßen Brasiliens von bezahlten Killerbanden massakriert wurden, sind fast schon wieder aus dem Gedächtnis der Öffentlichkeit verschwunden. Um so wichtiger ist es, daß die Kolleginnen und Kollegen vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dieses Thema noch einmal systematisch aufarbeiten und über den spektakulären Einzelfall hinaus versuchen, die grausame Normalität aufzudecken, der Tausende von Kindern und Jugendlichen in Brasilien ausgesetzt sind.
Die Antwort der Bundesregierung bleibt aber unbefriedigend. Zwar ist die Beschreibung der Symptome größtenteils zutreffend und läßt sogar Ansätze von Problembewußtsein vermuten; wenn jedoch die Rede auf wirtschaftliche Zusammenhänge und damit auf die Hintergründe der Probleme kommt, werden die Antworten zunehmend nichtssagender, ausweichender und widersprüchlicher.
Warum kämpfen denn die zahlreichen NGOs in Brasilien mit der Welle wachsender Verelendung und Verarmung in den urbanen Zentren wie gegen Windmühlen? Ich zitiere aus der Antwort der Bundesregierung:
Die Landflucht hat auch in Brasilien viele Ursachen.
Unverbindlicher geht es kaum noch. Natürlich hat sie viele Ursachen: eine bis heute nicht durchgeführte Landreform z. B. oder die anhaltend hohe Verschuldung Brasiliens oder die weiterhin von den Industrieländern geförderten überdimensionalen Industrialisierungsprojekte, an denen sich auch die Bundesrepublik beteiligt. Davon ist jedoch in der vorliegenden Antwort keine Rede.
Vielmehr ergibt sich folgendes Bild: Ausfuhrgewährleistungen für ökologisch, sozial und entwicklungspolitisch bedenkliche Projekte können zwar abgelehnt werden, werden es aber höchst selten, nämlich nur dann, wenn keine deutschen Interessen gefährdet sind. Aussagen über dennoch — diesen Kriterien zum Trotz — gewährte Bundesbürgschaften unterliegen „der Vertraulichkeit gegenüber den betroffenen Exportfirmen" . Wenn das so ist, können die Mittel, die für offensichtlich in der Mehrzahl der Fälle konsequenzlose Gutachten ausgegeben werden, besser und sinnvoller den vor Ort tätigen NGOs zur Verfügung gestellt werden, die sich wenigstens noch um Schadensbegrenzung bemühen.
Erlauben Sie mir, daß ich zum Abschluß Herrn Duve für seine weitergehenden Überlegungen mit dem Versuch, den Hintergrund zu beleuchten, warum es zum Zerfall von Zivilisation und zur Verwilderung kommt, die eben nicht nur Kinder betrifft, sondern auch Erwachsene, nachdrücklich danke. Das ist ja, wenn ich Sie richtig verstanden habe, ein Problem, das durchaus nicht nur sogenannte Drittweltländer betrifft, sondern auch uns hier. Ich glaube, gerade deshalb wäre es sehr begrüßenswert, wenn jeder dort anfinge, wo er etwas tun kann.
Ich fände es deshalb sehr gut, wenn in Zukunft derartige Anfragen, wie sie hier aus dem Parlament an die Regierung gestellt werden, weniger unaufrichtige Betroffenheitsfloskeln und Situationsbeschreibungen enthielten. Transparenz der Politik erfordert nachvollziehbare Fakten und Informationen. Offensichtlich hatte jedoch die Bundesregierung in diesem Falle eher das Bedürfnis, hinter einer Nebelwand zu verschwinden.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile zum Abschluß dieser Aussprache dem Staatsminister im Auswärtigen Amt, unserem Kollegen Helmut Schäfer, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn im brasilianischen Parlament um diese Nachtzeit über Zustände in Deutschland diskutiert würde, könnte ich mir vorstellen, daß es in unserer Öffentlichkeit Proteste gäbe. Man würde sich fragen: Was tun die eigentlich? Was geht die das eigentlich an? Die haben ja ihre eigenen Probleme.Trotz allem beantworten wir hier alle Anfragen, und wir sind auch bemüht, in allen Ländern der Welt, in denen es Mißstände gibt — und dazu zählt Brasilien —, das zu tun, was der Bundesregierung möglich ist. Wir verbergen uns auch nicht hinter einer Nebelwand; nur müssen wir auch nach einigen Reisen von Kollegen in einige wenige Länder feststellen: Es ist leider nicht so, daß es nur in drei von Ihnen beschriebenen Ländern solche Vorkommnisse gibt. Wenn Sie bei Ihrer nächsten Reise nach Kolumbien fahren,
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Staatsminister Helmut Schäferwerden Sie vielleicht die Straßenkinder von Bogota entdecken und werden zu Ergebnissen kommen, die keineswegs anders sind.Wovor ich warnen möchte, meine Damen und Herren, ist eine Pauschalisierung der brasilianischen Gesellschaft, eine Art Verdikt der Moral, das wir hier über ein ganzes Land aussprechen. Das klang ja zum Teil etwas an. Ich warne davor, weil ich glaube, daß Sie nur mit einer differenzierten Kritik überhaupt diesen Problemen werden naherücken können, nicht mit pauschalen Verurteilungen, die dort möglicherweise das Gegenteil dessen bewirken, was Sie wollten.Ich wundere mich auch bei den Ausführungen meiner Vorredner, daß nicht ein einziger im Zusammenhang mit den wachsenden Mißständen, die Herr Kollege Duve beschrieben hat, mit der wachsenden Sorge, mit der wir das sehen, auf eine sehr wesentliche Frage zurückgekommen ist — dazu bedürfte es allerdings einer längeren Debatte —, nämlich auf die der ungeheuren Zunahme der Bevölkerung, eine Bevölkerungsexplosion, die auch die Konrad-AdenauerStiftung, die Friedrich-Naumann-Stiftung und die Friedrich-Ebert-Stiftung mit Projekten nicht abfangen können.
— Bei einer Debatte mit fünf Minuten Redezeit muß man nicht noch Zwischenfragen beantworten, glaube ich, Herr Duve. Wir sehen uns ja ständig, wir diskutieren auch diese Fragen ständig.
Herr Kollege Schäfer, ich habe die Uhr für einen Moment angehalten. Ich mache mich jetzt zum Sprecher für den Kollegen Duve. Ich glaube, er wollte Sie darauf hinweisen, daß er sehr wohl von der Bevölkerungsexplosion gesprochen hat.
Ich wollte Herrn Duve, der vielleicht am weitesten gereist ist, ja gar nicht angreifen, sondern wollte nur feststellen: Sie müssen sich auch mit den Ursachen etwas intensiver befassen. Das ist dringend erforderlich, wenn — ich sage es nochmals — 60 bis 70 % der Bevölkerung in einer Reihe der von Ihnen genannten Länder unter 18, unter 16 Jahren ist und wenn diese Menschen auch bei den besten Industrialisierungsprogrammen keine Chance haben, jemals einen Arbeitsplatz zu bekommen.Dann muß man natürlich auch an anderen Institutionen als nur an brasilianischen ansetzen, und man muß die Frage stellen, ob etwa ideologische Vorstellungen z. B. über das Verbot von Familienplanung nicht eine schlimmere Grundlage für das sind,
was Sie hier beschreiben.Bitte gehen Sie nicht immer nur von dem aus, was Sie gerade sehen, sondern fragen Sie auch einmal nach den Gründen. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, daß es auch in Brasilien Schrecken und Entsetzen über diese Vorfälle gegeben hat. Wir sind alle gemeinsam entrüstet. Wir finden die Vorgänge schrecklich. Aber ich darf es noch einmal sagen: Herr Kollege Weiß, mit Ihren Vorstellungen zu Exportbeschränkungen, die Sie hier zum Teil erörtert haben, schädigen Sie eine ganze Reihe junger Menschen, die dann nicht mehr bei einer deutschen Firma in Sao Paulo arbeiten können, wo sie jetzt Gott sei Dank noch einen Arbeitsplatz finden. Ich beziehe mich dabei nicht auf Ihren Vorschlag — den ich interessant finde —, bei bestimmten Produkten bestimmte Hinweise zu geben, ob Kinderarbeit im Spiel war oder nicht. Ob dieser Vorschlag — der, wie gesagt, interessant ist — umzusetzen ist, weiß ich nicht.Bitte seien wir vorsichtig mit einer Politik, die sagt: Erstens: Wir sind hier die Hüter der Moral; zweitens: Wir treffen Maßnahmen entwicklungspolitischer Art, die diesen Ländern schaden sollen, wenn sie sich nicht so verhalten, wie wir das gerne hätten; drittens: Wir brechen möglicherweise auch noch die Beziehungen in bezug auf den Handel und auch sonst ab und schädigen sie noch mehr. Das wäre nicht die Lösung der Probleme.Ich will mich jetzt nicht auf die einzelnen Antworten, die die Bundesregierung gegeben hat, beziehen, kann aber für die Bundesregierung sagen: Wir alle verurteilen diese Vorfälle. Wir halten sie für gräßlich. Wir sehen mit Schrecken schon seit langem, daß Kinder auch die Beute von Kriminellen, von Drogenhändlern werden, die sie zu Überfällen erziehen, und dies insbesondere in den Großstadtzentren in Brasilien, in Rio de Janeiro und Sao Paulo und anderswo, allerdings nicht in ganz Brasilien; es gibt dort im Vergleich zu mancher deutschen Stadt auch sehr friedfertige Städte. Auch das sollten wir zur Kenntnis nehmen.Der brasilianische Präsident, auch der Außenminister haben vor der UNO zu diesen Vorfällen in außerordentlich deutlicher Form Stellung genommen. Es ist inzwischen ein Verfahren gegen die unmittelbar an den Morden Beteiligten eingeleitet worden, soweit man ihrer habhaft wurde. Auch wird nach einem Beschluß des Rates zum Schutz der Menschenrechte in Brasilien vom 4. August die Bundespolizei gezielt gegen die Todesschwadronen eingesetzt. Es sind wenigstens erkennbare Ansätze da, gegen solche grauenhaften Verletzungen der Menschenrechte vorzugehen.Ich darf nochmals sagen: Wir können nicht alle Weltprobleme hier lösen. Die Bundesregierung ist bei den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln nicht in der Lage, allein alle Probleme in allen nur denkbaren
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16089
Staatsminister Helmut SchäferLändern der Welt anzugehen, auch nicht die Problematik der Kinder von Indien bis Brasilien.
Sie kann nur in bescheidenem Umfang und im übrigen mit anderen Ländern zusammen, Herr Kollege Bindig, mithelfen, und genau dies tun wir. Wir unterstützen — das geht aus unserer Antwort auf die Große Anfrage hervor — eine Reihe von Projekten, die sich um die Kinder bemühen. Aber das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Wer hier glaubt, durch Große Anfragen die Lösung dieser Probleme durch die Bundesregierung herbeiführen zu wollen, der ist — entschuldigen Sie, Herr Kollege Weiß — in einem gewissen Sinne auch naiv. Ich muß Ihnen das sagen, weil ich glaube, daß wir besser daran tun, nach den Ursachen zu fragen.
Herr Kollege Schäfer, bevor Sie weiter auf einen Kollegen losgehen: Ihre Redezeit ist ein gutes Stück überschritten.
Von losgehen kann keine Rede sein. Es wird ja völlig unpersönlich, wenn wir uns gegenseitig nicht mehr mit Namen nennen dürfen.
— Bitte.
Entschuldigung, Sie können gar keine Frage mehr zulassen. Sie sind schon jenseits Ihrer Redezeit.
Ich bin jenseits meiner Redezeit? — Entschuldigung, ich habe Sie mißverstanden. Ich dachte, ich müßte meinem Kollegen Weiß eine Zwischenfrage zulassen. Ich biete ihm aber gern an, die Diskussion im Foyer fortzusetzen.
Vielen Dank.
Ich schließe diese wichtige Aussprache.
Wir sind am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, 29. Oktober 1993, 8.30 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.