Protokoll:
12091

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 12

  • date_rangeSitzungsnummer: 91

  • date_rangeDatum: 7. Mai 1992

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 20:46 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 12/91 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 91. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1992 Inhalt: Begrüßung des Präsidenten des Parlaments von Armenien und seiner Delegation . 7399 A Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeordneten Karl-Heinz Spilker . . . 7399B Erweiterung der Tagesordnung . . . . . 7399B Abweichung von den Richtlinien für die Fragestunde für die Sitzung am 20. Mai 1992 in Berlin 7504 A Tagesordnungspunkt 3: Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften (Drucksache 12/2297) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Melderechtsrahmengesetzes (Drucksache 12/2376) c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Helmut Rode (Wietzen), Wolfgang Ehlers, Andreas Schmidt (Mühlheim), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Wolfgang Lüder und der Fraktion der F.D.P.: Einbeziehung der deutschen Heimatvertriebenen, Aussiedler und der in Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa lebenden deutschen Minderheiten in die Politik der Verständigung und guten Nachbarschaft der BundesrepublikDeutschland gegenüber ihren östlichen und südöstlichen Nachbarn (Drucksache 12/2311) d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Otto Reschke, Achim Großmann, Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Bericht zum Baugesetzbuch (Drucksache 12/2133) e) Beratung des Antrags des Bundesministers der Finanzen: Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung der bundeseigenen Liegenschaft in Regensburg, Betriebs- und Geschäftsgrundstück (Drucksache 12/2401) in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 4 c und 4 d: c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Eberhard Brecht, Gernot Erler, Hans Koschnick, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Gewährleistung der Menschenrechte und Wiederherstellung der Selbstverwaltung der KosovoAlbaner (Drucksache 12/2289) d) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Menschenrechtsverletzungen in Serbien und Kroatien (Drucksache 12/2290) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid Köppe, Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE: Zugriff II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1992 von Parteien und Kirchen auf Daten von Bürgerinnen und Bürgern im Melderecht (Drucksache 12/2533) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietmar Schutz, Ulrike Mehl, Susanne Kastner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Aktionsprogramm zur Sanierung der Ostsee und der Gewässer in den neuen Bundesländern (Drucksache 12/2553) 7399D Tagesordnungspunkt 4 a, 4 b, 4 e bis 4 j: Abschließende Beratungen ohne Aussprache a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Verträgen vom 14. Dezember 1989 des Weltpostvereins (Drucksachen 12/1261, 12/2529) b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 7. Januar 1991 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über die Seeschiffahrt (Drucksachen 12/1586, 12/2314) e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 2262/84 über Sondermaßnahmen für Olivenöl (Drucksachen 12/1174 Nr. 2.18, 12/2188) f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1676/85 über den Wert der Rechnungseinheit und die im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik anzuwendenden Umrechnungskurse hinsichtlich der von der Abteilung Ausrichtung des EAGFL finanzierten Maßnahmen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 129/78 (Drucksachen 12/1174 Nr. 2.14, 12/2189) g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament: Entschließung zur Beförderung von Nuklearabfällen mit Fährschiffen und der Lagerung und Verarbeitung nuklearer Abfälle (Drucksachen 11/8490, 12/2407) h) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Rates betreffend die Werbung für Tabakerzeugnisse (Drucksachen 12/1612 Nr. 2.1, 12/2487) i) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 56 zu Petitionen (Drucksache 12/2510) j) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 57 zu Petitionen (Drucksache 12/2511) 7400C Tagesordnungspunkt 7: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Zinsbesteuerung (Zinsabschlaggesetz) (Drucksache 12/2501) Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 02 A Gunter Weißgerber SPD . . . . . . . . 7403 D Claus Jäger CDU/CSU . . . . . . . . 7406 B Dr. Kurt Faltlhauser CDU/CSU 7407 C Joachim Poß SPD . . . . . . . . . 7408A Ingrid Matthäus-Maier SPD . . . . . 7409B Hermann Rind F.D.P. . . . . . . . . . 7412 A Ludwig Eich SPD 7412B Manfred Hampel SPD . . . . . . . 7413 A Dr. Kurt Faltlhauser CDU/CSU . . . 7413C Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . . 7415C Werner Schulz (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 7417 C Gunnar Uldall CDU/CSU 7417D Gunnar Uldall CDU/CSU 7419B Ingrid Matthäus-Maier SPD . . . . . 7419C Joachim Poß SPD . . . . . . . . . 7422 B Eike Ebert SPD 7423A, C Dr. Kurt Faltlhauser CDU/CSU 7423 B Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1992 III Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) CDU/ CSU 7427 A Joachim Poß SPD 7427D, 7428C Tagesordnungspunkt 8: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des Umsatzsteuergesetzes und anderer Rechtsvorschriften an den EG-Binnenmarkt (Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetz) (Drucksache 12/2463) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Beratung des Antrags der Abgeordneten Freimut Duve, Dr. Willfried Penner, Wolfgang Thierse, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Beibehaltung des ermäßigten Steuersatzes für Kunstwerke (Drucksache 12/1320 — [v. 16. 10. 911]) Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär BMF 7429C Dr. Kurt Faltlhauser CDU/CSU 7430D Detlev von Larcher SPD 7431 A Elmar Müller (Kirchheim) CDU/CSU . . 7433D Freimut Duve SPD 7435B Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste 7435C Gerhard Schüßler F D P 7436 D Freimut Duve SPD 7437 D Dr. Walter Hitschler F.D.P. . . . . . . 7438C Wilfried Seibel CDU/CSU 7438D Tagesordnungspunkt 9: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (Drucksachen 12/2108, 12/2118, 12/2518) b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft (21. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Neunter Bericht nach § 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes zur Überprüfung der Bedarfssätze, Freibeträge sowie Vomhundertsätze und Höchstbeträge nach § 21 Abs. 2 zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die Auswirkungen des europäischen Binnenmarktes auf das Bundesausbildungsförderungsgesetz (Drucksachen 12/1920, 12/1900, 12/2518) Alois Graf von Waldburg-Zeil CDU/CSU . 7440B Stephan Hilsberg SPD 7441 C Dirk Hansen F D P 7443 C Dr. Dietmar Keller CDU/CSU 7444 D Alois Graf von Waldburg-Zeil CDU/CSU 7445A Josef Hollerith CDU/CSU 7445 C Günter Rixe SPD 7446 D Dr. Norbert Lammert CDU/CSU 7447C, 7450C Eckart Kuhlwein SPD 7447 D Dr. Michael Luther CDU/CSU 7448 D Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 7450A Dr. Rainer Ortleb, Bundesminister BMBW 7451A Dr. Dietmar Keller PDS/Linke Liste . 7451C Stephan Hlilsberg SPD 7452B Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung): Fragestunde — Drucksache 12/2516 vom 30. April 1992 — Forderung nach einer „asylantenfreien Zone" im Münchener Süden durch den Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Riedl; Entlassung Dr. Riedls bei der nächsten Kabinettsumbildung MdlAnfr 37, 38 Ulrike Mascher SPD Antw PStSekr Eduard Lintner BMI 7453B, 7454 A ZusFr Ulrike Mascher SPD . . 7453B, 7454 A ZusFr Dr. Burkhard Hirsch F.D.P. 7453C, 7454B ZusFr Dr. Rudolf Schöfberger SPD . . . . 7453C ZusFr Otto Schily SPD 7453D, 7454 B ZusFr Claus Jäger CDU/CSU 7454 B Beteiligung des Bundeskanzlers an der Neubesetzung der Ressorts nach den Rücktrittsankündigungen des Bundesaußenministers und der Bundesgesundheitsministerin MdlAnfr 2 Norbert Gansel SPD Antw StMin Bernd Schmidbauer BK . . 7454C ZusFr Norbert Gansel SPD 7454 D ZusFr Otto Schily SPD 7455 B ZusFr Dr. Klaus Kübler SPD 7455 B ZusFr Jürgen Koppelin F.D.P. . . . . . 7455 C Billigung der Antwort der Parlamentarischen Staatssekretärin Dr. Bergmann-Pohl auf die Frage zu dem Grußwort der Bundesgesundheitsministerin an die Organisation PRO FAMILIA durch den Bundeskanzler MdlAnfr 3 Claus Jäger CDU/CSU Antw StMin Bernd Schmidbauer BK . . 7455D ZusFr Claus Jäger CDU/CSU 7456A ZusFr Norbert Gansel SPD 7456 B ZusFr Monika Ganseforth SPD 7456 C ZusFr Otto Schily SPD 7456 D ZusFr Ulrike Mascher SPD . . . . . . . 7457 A IV Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1992 Beurteilung der politischen Lage in Myanmar; humanitäre Hilfe zur Verbesserung der Situation der Flüchtlinge MdlAnfr 22, 23 Thea Bock SPD Antw StMin'in Ursula Seiler-Albring AA 7457B, 7458D ZusFr Thea Bock SPD 7457 D ZusFr Dr. Klaus Kübler SPD . . . 7458A, 7459A ZusFr Monika Ganseforth SPD . 7458B, 7459 B ZusFr Dr. Dietrich Mahlo CDU/CSU . . . 7458B Stipendien für Studenten aus den USA zum Studium an deutschen Hochschulen MdlAnfr 28 Otto Schily SPD Antw StMin'in Ursula Seiler-Albring AA 7459 C ZusFr Otto Schily SPD 7459 D Beurteilung der Menschenrechtssituation und der Demokratiesierung in der Elfenbeinküste MdlAnfr 29 Dr. Klaus Kübler SPD Antw StMin'in Ursula Seiler-Albring AA . 7460A ZusFr Dr. Klaus Kübler SPD 7460 B Zeitplan für die Verlegung des Lufttransportgeschwaders 62 und den Ausbau des Flugplatzes Briest in Brandenburg MdlAnfr 40, 41 Monika Ganseforth SPD Antw PStSekr Bernd Wilz BMVg 7460D, 7461 C ZusFr Monika Ganseforth SPD . 7461 A, 7461 C ZusFr Dr. Hans-Hinrich Knaape SPD . . . 7461 B Ausbau des Militärflugplatzes Briest in Brandenburg MdlAnfr 42 Dr. Hans-Hinrich Knaape SPD Antw PStSekr Bernd Wilz BMVg . . . . 7462A ZusFr Dr. Hans-Hinrich Knaape SPD . . 7462 A Aussag en des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes über eine wachsende Armut in der Bundesrepublik Deutschland MdlAnfr 48, 49 Michael Habermann SPD Antw PStS'in Roswitha Verhülsdonk BMFuS 7462 C ZusFr Michael Habermann SPD 7463 B ZusFr Erika Reinhardt CDU/CSU . . . 7464 A Zusatztagesordnungspunkt 5: Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bundesregierung zur Frage ihrer Handlungsfähigkeit angesichts von Meinungsunterschieden zum Beispiel in der Forderung nach einer „neuen" Außenpolitik, zu ungeklärten Finanzproblemen, zu Kürzungen von Renten und anderen sozialen Leistungen Hans-Ulrich Klose SPD 7464 B Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU 7465 B Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P. . 7466 C Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) PDS/ Linke Liste 7467 C Werner Schulz (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 7468D Friedrich Bohl, Bundesminister BK . . . . 7469 C Ingrid Matthäus-Maier SPD 7471 A Gunnar Uldall CDU/CSU 7472 A Wolfgang Thierse SPD 7473 A Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU . . 7474 A Rudolf Dreßler SPD 7474 D Heribert Scharrenbroich CDU/CSU . . 7475D Dr. Gisela Babel F D P. 7476 D Dietrich Austermann CDU/CSU 7478 A Tagesordnungspunkt 10: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd Andres, Hans Büttner (Ingolstadt), Konrad Gilges, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Sofortmaßnahmen zur Arbeitsmarktpolitik (Drucksache 12/2212) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG-Änderungsgesetz) (Drucksache 12/1985) Dr. Regine Hildebrandt, Ministerin des Landes Brandenburg 7479B, 7501A Jürgen Koppelin F D P. 7479 D Julius Louven CDU/CSU 7483 A Detlev von Larcher SPD 7483 B Ottmar Schreiner SPD . . . . 7484A, 7485 C Petra Bläss PDS/Linke Liste 7486 A Dr. Gisela Babel F D P. 7487 D Josef Grünbeck F.D.P. 7489A Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 7489 D Barbara Weiler SPD 7490C Adolf Ostertag SPD 7493 D Claudia Nolte CDU/CSU 7495 D Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 7497 A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1992 V Hans Büttner (Ingolstadt) SPD 7498 A Jürgen Türk F.D.P 7499 C Dr. Norbert Blüm CDU/CSU 7502 A Franz Romer CDU/CSU 7502 B Tagesordnungspunkt 11: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 50 zu Petitionen (Straftaten gegen die persönliche Freiheit) (Drucksache 12/2094) Martin Göttsching CDU/CSU 7504 A Horst Peter (Kassel) SPD 7505 B Dr. Dagmar Enkelmann PDS/Linke Liste 7506 C Konrad Weiß (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 7507 A Burkhard Zurheide F D P 7507 C Tagesordnungspunkt 12: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Peter Conradi, Achim Großmann, Dr. Eckhard Pick, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes (Drucksache 12/1856) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Achim Großmann, Albert Pfuhl, Dr. Eckhard Pick, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Verbesserung des Schutzes für gewerbliche Mieter (Drucksache 12/1488) Dr. Eckhart Pick SPD 7509 B Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/ CSU 7510B, 7515D Ernst Schwanhold SPD 7511 C Dr. Walter hitschler F D P 7512D Albert Pfuhl SPD 7514 A Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 7514 D Peter Conradi SPD 7516 C Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär BMJ 7517D Tagesordnungspunkt 13: a) Erste Beratung des von dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfristen von DDR-Unrechtstaten (Drucksache 12/2332) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hans de With, Hermann Bachmaier, Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Zur Verfolgungsverjährung von Unrechtstaten in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (Drucksache 12/2132) Dr. Wolfgang Ullmann Bündnis 90/GRÜNE 7519A Dr. Hans de With SPD 7520 A Dr. Michael Luther CDU/CSU . . 7521A, 7525D Jörg van Essen F.D.P. 7522 C Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste . 7523 D Nächste Sitzung 7525 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 7527* A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt 12b (Antrag: Verbesserung des Schutzes für gewerbliche Mieter) Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär BMJ 7527* D Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt 13 a und b (Entwurf eines Gesetzes zur Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfristen von DDR-Unrechtstaten und Antrag: Verfolgungsverjährung von Unrechtstaten in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik) Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär BMJ 7528* C Anlage 4 Verhinderung der Vergabe der Mittel für Deutsche in den Oder-Neiße-Gebieten an polnische Institutionen MdlAnfr 21 — Drs 12/2516 — Ortwin Lowack fraktionslos SchrAntw StMin'in Ursula Seiler-Albring AA 7530B Anlage 5 Aufhebung der Feindstaatenklausel in der UN-Charta MdlAnfr 24, 25 — Drs 12/2516 — Klaus Harries CDU/CSU SchrAntw StMin'in Ursula Seiler-Albring AA 7530* C Anlage 6 Regelung der Umwelt- und Lärmschutzfragen vor der Zustimmung zum Übungsbetrieb anderer Streitkräfte als der der USA im Zusammenhang mit der Revision des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut VI Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1992 MdlAnfr 27 — Drs 12/2516 — Ludwig Stiegler SPD SchrAntw StMin'in Ursula Seiler-Albring AA 7531* A Anlage 7 Deutscher Beitrag für den internationalen Fonds zur Verhinderung der Beschäftigung von Atomwissenschaftlern aus der GUS in Krisengebieten; Beitrag anderer Länder MdlAnfr 30, 31 — Drs 12/2516 — Gernot Erler SPD SchrAntw StMin'in Ursula Seiler-Albring AA 7531* A Anlage 8 Umfang der Lagerung des Dekontaminierungsmittels C 8 in Bundeswehrdepots MdlAnfr 39 — Drs 12/2516 — Ortwin Lowack fraktionslos SchrAntw PStSekr Bernd Wilz BMVg . 7531* C Anlage 9 Zeitplan und Bereitstellung von Mitteln für die Aufstockung der Heeresunteroffiziersschule in Weiden MdlAnfr 43 — Drs 12/2516 — Ludwig Stiegler SPD SchrAntw PStSekr Bernd Wilz BMVg . . 7531* D Anlage 10 Deutsche Hilfe bei der Minenräumung in Angola MdlAnfr 44, 45 — Drs 12/2516 — Hans-Günther Toetemeyer SPD SchrAntw PStSekr Bernd Wilz BMVg . . 7532* A Anlage 11 Beschaffung von Aramit-Helmen anstelle von Stahlhelmen durch das BMVg trotz negativer Untersuchungsergebnisse MdlAnfr 46, 47 — Drs 12/2516 — Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD SchrAntw PStSekr Bernd Wilz BMVg . . 7532* D Anlage 12 Auswirkung der seit 1992 geltenden Neufassung der Richtlinien für den Hilfsfonds „Schwangere in Not" auf die im Vorjahr gestellten Anträge auf Wohnungssanierung MdlAnfr 50, 51 — Drs 12/2516 — Dr. Christine Lucyga SPD SchrAntw PStS'in Roswitha Verhülsdonk BMFuS 7533* A Anlage 13 Erforschung des von Zecken übertragenen Frühsommermeningoenzephalitis-Virus MdlAnfr 52 — Drs 12/2516 — Horst Kubatschka SPD SchrAntw StSekr Baldur Wagner BMG . . 7533* D Anlage 14 Erbringung der Leistungen gemäß § 42a SGB V zu Lasten der Krankenkassen MdlAnfr 53 — Drs 12/2516 — Dr. Hans-Hinrich Knaape SPD SchrAntw StSekr Baldur Wagner BMG . . 7534* A Anlage 15 Beurteilung des Honorarvertrags zwischen dem AOK-Landesverband und der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen; Beurteilung der Zunahme niedergelassener Kassenärzte hinsichtlich des im SGB V festgelegten Grundsatzes der Beitragsstabilität MdlAnfr 54, 55 — Drs 12/2516 — Klaus Kirschner SPD SchrAntw StSekr Baldur Wagner BMG . 7534* B Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1992 7399 91. Sitzung Bonn, den 7. Mai 1992 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Antretter, Robert SPD 07. 05. 92* Böhm (Melsungen), CDU/CSU 07. 05. 92 * Wilfried Büchler (Hof), Hans SPD 07. 05. 92 Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 07. 05. 92 * Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 07. 05. 92 Peter Harry Catenhusen, SPD 07.05.92 Wolf-Michael Dr. Däubler-Gmelin, SPD 07. 05. 92 Herta Dr. Dregger, Alfred CDU/CSU 07. 05. 92 Dreßler, Rudolf SPD 07. 05. 92 Dr. Eckardt, Peter SPD 07. 05. 92 Dr. Feldmann, Olaf F.D.P. 07. 05. 92* Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 07. 05. 92* Francke (Hamburg), CDU/CSU 07. 05. 92 Klaus Gattermann, Hans H. F.D.P. 07. 05. 92 Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 07. 05. 92 Genscher, Hans-Dietrich F.D.P. 07. 05. 92 Gröbl, Wolfgang CDU/CSU 07. 05. 92 Dr. Gysi, Gregor PDS/LL 07. 05. 92 Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 07. 05. 92 Henn, Bernd fraktionslos 07. 05. 92 Heyenn, Günther SPD 07. 05. 92 Dr. Holtz, Uwe SPD 07. 05. 92* Jaffke, Susanne CDU/CSU 07. 05. 92 Junghanns, Ulrich CDU/CSU 07. 05. 92* Kauder, Volker CDU/CSU 07. 05. 92 Kittelmann, Peter CDU/CSU 07. 05. 92* Klein (München), Hans CDU/CSU 07. 05. 92 Dr. Kohl, Helmut CDU/CSU 07. 05. 92 Kretkowski, Volkmar SPD 07. 05. 92 Kubicki, Wolfgang F.D.P. 07. 05. 92 Lohmann (Witten), Klaus SPD 07. 05. 92 Lummer, Heinrich CDU/CSU 07. 05. 92* Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 07. 05. 92* Erich Marten, Günter CDU/CSU 07. 05. 92* Matschie, Christoph SPD 07. 05. 92* Dr. Meyer zu Bentrup, CDU/CSU 07. 05. 92* Reinhard Mischnick, Wolfgang F.D.P. 07. 05. 92 Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 07. 05. 92 Dr. Müller, Günther CDU/CSU 07. 05. 92* Dr. Neuling, Christian CDU/CSU 07. 05. 92 Neumann (Bremen), CDU/CSU 07. 05. 92 Bernd Odendahl, Doris SPD 07. 05. 92 Opel, Manfred SPD 07. 05. 92 ** Paintner, Johann F.D.P. 07. 05. 92 Pfuhl, Albert SPD 07. 05. 92 * Dr. Pinger, Winfried CDU/CSU 07. 05. 92 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Probst, Albert CDU/CSU 07. 05. 92 * Reddemann, Gerhard CDU/CSU 07. 05. 92 * Reimann, Manfred SPD 07. 05. 92 * Rempe, Walter SPD 07. 05. 92 Repnik, Hans-Peter CDU/CSU 07. 05. 92 Reschke, Otto SPD 07. 05. 92 Schäfer (Offenburg), SPD 07. 05. 92 Harald B. Schanz, Dieter SPD 07. 05. 92 Dr. Scheer, Hermann SPD 07. 05. 92* von Schmude, Michael CDU/CSU 07. 05. 92* Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU 07. 05. 92 Christian Dr. Soell, Hartmut SPD 07. 05. 92* Steiner, Heinz-Alfred SPD 07. 05. 92* Terborg, Margitta SPD 07. 05. 92* Dr. Töpfer, Klaus CDU/CSU 07. 05. 92 Toetemeyer, SPD 07.05.92 Hans-Günther Vogel (Ennepetal), CDU/CSU 07. 05. 92* Friedrich Dr. Vondran, Ruprecht CDU/CSU 07. 05. 92 Walz, Ingrid F.D.P. 07. 05. 92 Weisskirchen (Wienloch), SPD 07. 05. 92 Gert Welt, Jochen SPD 07. 05. 92 Wissmann, Matthias CDU/CSU 07. 05. 92 Zapf, Uta SPD 07. 05. 92 Zierer, Benno CDU/CSU 07. 05. 92* * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates * für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung Anlage 2 Zu Prokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt 12 b (Antrag: Verbesserung des Schutzes für gewerbliche Mieter) Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz: Zum Antrag auf Verbesserung des Schutzes für gewerbliche Mieter darf ich folgende Anmerkungen machen: Nach Aufhebung des Geschäftsraummietengesetzes wurde die Bundesregierung immer wieder von den Verbänden oder durch parlamentarische Anfragen mit der Frage konfrontiert, ob Schutzvorschriften zugunsten der Geschäftsraummieter geschaffen werden sollten. Der in den letzten Jahren stattfindende Strukturwandel im Bereich der Wirtschaft führt vielfach zu einer Verdrängung kleiner und mittlerer Unternehmen aus Handel, Handwerk und sonstigem Dienstleistungsgewerbe aus den Innenstädten. Der Grund für diese Entwicklung, die auch ich bedaure, liegt häufig 7528* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1992 in mangelnder Rentabilität und in wirtschaftlich stärkerer Konkurrenz. Vielfach erfolgt eine Geschäftsaufgabe aber auch aus Altersgründen oder ähnlichen Gesichtspunkten. 1. Gesetzliche Mietzinsbegrenzungen wie etwa die Einführung einer ortsüblichen Vergleichsmiete für Geschäftsräume sind kein geeignetes Mittel, um hier der Entwicklung auf längere Sicht zu begegnen. So hat der DIHT, den ich auf seinem Feld als einen neutralen Sachwalter der betroffenen Interessen ansehe, in einer mir vorliegenden Stellungnahme vom Dezember 1991 zu dieser Frage zutreffend ausgeführt: „Keine staatliche Institution ist in der Lage, die Angemessenheit von Mietforderungen besser zu beurteilen, als dies eine Vielzahl von Mietinteressenten können, die auf Grund sorgfältiger Kalkulation von betriebsindividuellem Aufwand und Ertrag zu dem Ergebnis kommen, eine Mietforderung zu akzeptieren — oder sie abzulehnen. " Zudem sind ortsübliche Vergleichsmieten für Gewerberäume außerordentlich schwer zu ermitteln. Das Datenmaterial, das für entsprechende Mietspiegel erhoben werden müßte, wäre wegen der Vielzahl der Nutzungsmöglichkeiten noch bunter und vielfältiger als bei Wohnungen. Der Aufwand für die Erstellung solcher Mietspiegel wäre nicht vertretbar. Gesetzliche Mietpreisbegrenzungen würden sich letztlich auf die Angebotsentwicklung negativ auswirken. 2. Die Einführung eines besonderen Kündigungsschutzes für Gewerberaummieter kann nach Ansicht der Bundesregierung kein geeignetes Mittel sein, um die Probleme zu lösen. Der SPD-Antrag beschränkt sich inhaltlich im wesentlichen darauf, die in den neuen Bundesländern bis 1992 geltenden besonderen Schutzvorschriften für Geschäftsraummieter auf das gesamte Bundesgebiet zu übertragen. Dem Bundesrat liegt ein Gesetzesantrag des Landes Berlin zum Schutz der Mieter von Geschäftsräumen vor, der eine dem Wohnraumkündigungsschutz angenäherte Regelung vorsieht. Wie auch immer ein besonderer Kündigungsschutz für Gewerberaummieter gestaltet sein mag, letztlich wird auch er sich mittelfristig zu Lasten der Geschäftsraummieter auswirken. Würde die Vermietung von Geschäftsräumen derart engen, bürokratischen Reglementierungen unterworfen, wäre über kurz oder lang mit einem Rückgang der Bautätigkeit und der Vermietungen auf diesem Sektor zu rechnen. 3. Seit langem hat sich die Frage gestellt, ob die gesetzliche Kündigungsfrist für Geschäftsraummieter von nur drei Monaten den gewandelten Bedürfnissen dieser Mieter noch gerecht wird. Für die neuen Bundesländer sieht der Einigungsvertrag für die Geschäftsraummieter mit Altverträgen eine um drei Monate verlängerte Kündigungsfrist vor. Diese Sonderregelung ist bis zum 31. Dezember 1993 befristet. Nach Ansicht der Bundesregierung sollten zunächst die Erfahrungen mit der verlängerten Kündigungsfrist in den neuen Bundesländern abgewartet werden, bevor man hier zu Gesetzesänderungen schreitet. 4. Eine Ausdehnung der Förderung von Unternehmensberatungen ist nicht erforderlich. Die Richtlinien des Bundesministers für Wirtschaft über die Förderung von Unternehmensberatungen sehen durchaus vor, daß Beratungen über Mietverhältnisse im gewerblichen Bereich mitbezuschußt werden. Mit Rücksicht auf das Rechtsberatungsgesetz dürfen dabei allerdings die juristischen Fragen nicht überwiegen. Dies ist bei umfassenden betriebswirtschaftlichen Beratungen auch nicht zu erwarten. Für eine Ausdehnung der Förderung besteht daher kein Bedürfnis. Die Bundesregierung befürwortet es jedoch, wenn Verbände der gewerblichen Wirtschaft die Geschäftsraummieter stärker als bisher über die Rechtslage und über die Möglichkeiten der Vertragsgestaltung bei Mietverträgen im gewerblichen Bereich informieren. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt 13 a und b (Entwurf eines Gesetzes zur Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfristen von DDR-Unrechtstaten und Antrag: Verfolgungsverjährung von Unrechtstaten in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik) Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz: Der Unrechtsstaat DDR hat uns ein verheerendes Erbe hinterlassen, das uns noch lange Zeit beschäftigen wird. Wir müssen aus der völlig maroden und technologisch weitgehend überholten früheren Staatswirtschaft eine funktionierende konkurrenzfähige Wettbewerbswirtschaft machen. Die offenen Vermögensfragen müssen gelöst werden. Die Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland müssen angeglichen werden. Die Überwindung des DDR-Unrechtsregimes setzt aber vor allem voraus, daß wir die innere Einheit in unseren Köpfen schaffen. Es darf auf längere Sicht keine „Ossis" und „Wessis" mehr geben, sondern nur noch Bundesbürger. Diese innere Einheit schaffen wir nicht, indem wir den Mantel des Vergessens über das SED-Unrechtsregime decken. Wir müssen uns mit diesem Teil der deutschen Geschichte beschäftigen und uns mit ihm auseinandersetzen. Wir müssen uns der Opfer des SED-Unrechtsregimes annehmen. Sie müssen rehabilitiert und entschädigt werden. Und wir müssen uns auch mit den Verantwortlichen für das staatlich organisierte Unrecht befassen, den Tätern! Dies ist eine außerordentlich schwierige Aufgabe für unseren Rechtsstaat. Viele Menschen in den neuen Bundesländern erwarten von uns, daß wir diejenigen, die für vierzig Jahre Unrecht, Unterdrückung und vergebene Lebenschancen Verantwortung tragen, jetzt endlich zur Rechenschaft ziehen. Sie verstehen nicht, warum die Mühlen der Justiz so unendlich langsam mahlen, warum manchmal Funktionäre nur wegen Lappalien angeklagt und verurteilt werden Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1992 7529* können. Sie erleben nun, daß der Rechtsstaat, den sie herbeigesehnt haben, auch denjenigen zugute kommt, die das Recht mit Füßen getreten haben. Das ist aber gerade das Wesen des Rechtsstaats. Der Rechtsstaat kann und darf keine Unterschiede machen. Er muß seine rechtsstaatlichen Garantien allen ohne Ansehen der Person und ungeachtet des Gewichts der ihnen zur Last gelegten Straftaten zukommen lassen. Ein rechtsstaatliches Strafrecht ist kein flammendes Racheschwert, mit dem der Staat Vergeltung übt. Eine Bestrafung läßt der Rechtsstaat nur in engen Grenzen zu. Bereits zur Tatzeit muß eine Strafe für ein bestimmtes Verhalten gesetzlich bestimmt sein. Das Grundgesetz verbietet es uns, im nachhinein für bereits begangene Taten ein passendes Strafrecht zu machen. Dem Beschuldigten gibt der Rechtsstaat überdies zu seiner Verteidigung zahlreiche prozessuale Befugnisse. Alle diese Beschränkungen der Strafgewalt — als der einschneidendsten Form staatlicher Gewalt — sind gut und unerläßlich. Sie schützen alle Bürger ohne Ansehen vor ungerechter Strafe. Der Rechtsstaat nimmt es eher hin, daß ein Schuldiger seiner Strafe entgeht, als daß ein Unschuldiger bestraft wird. Das allein entspricht dem Wesen eines Rechtsstaates. Wir müssen den Menschen in den neuen Bundesländern helfen, dieses Wesen des Rechtsstaates zu verstehen. Unserem Rechtsstaat ist es wenig dienlich, wenn wie im Gesetzesantrag der Gruppe Bündnis 90/ GRÜNE infam behauptet wird, die strafrechtliche Ahndung von SED-Unrecht wurde durch die Nachgiebigkeit der westdeutschen Verhandlungsführung gegenüber der Nomenklatura der ehemaligen DDR verursacht und die Regelungen des Einigungsvertrags seien dadurch geprägt, daß sie einen wirksamen Schutz eben dieser Nomenklatura der DDR bewirken. Dies zeugt nicht nur von juristischer Ignoranz gegenüber den rechtsstaatlichen Garantien unseres Strafrechts, aus der sich notwendigerweise Beschränkungen der Strafgewalt ergeben. Es zeugt auch von historischer Unkenntnis bezüglich des Zustandekommens des Einigungsvertrags. Natürlich ist es absurder Unsinn zu behaupten, die Bundesrepublik Deutschland habe der Nomenklatura der DDR im Einigungsvertrag Zugeständnisse im Hinblick auf eine Strafverfolgung gemacht. Die Bundesregierung hat vielmehr im Einigungsvertrag alles daran gesetzt, eine solche Strafverfolgung im rechtsstaatlichen Rahmen zu ermöglichen. Sie hat, was speziell die Verjährung von Straftaten in der ehemaligen DDR angeht, eine Unterbrechungsregelung in den Einigungsvertrag eingestellt, die den Eintritt der Verfolgungsverjährung für solche Taten hinausschiebt. Die Schwierigkeiten, die es bei der Verfolgung der SED-Unrechtstaten gibt, beruhen nicht auf bundesdeutschen Zugeständnissen im Einigungsvertrag. Sie beruhen auf den rechtsstaatlichen Grenzen des Strafrechts und der noch nicht abgeschlossenen Aufbauphase der Justiz in den neuen Bundesländern. Offenbar will auch der Gesetzesantrag der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE die rechtlichen Regelungen des Einigungsvertrags gar nicht verändern. Nach der Gesetzesbegründung solle es sich nur um eine Klarstellung handeln. Um so unverständlicher sind mir deshalb die angesprochenen polemischen Ausführungen in der Gesetzesbegründung. Die rechtsstaatlichen Beschränkungen der Strafgewalt können wir nicht zur besseren Ahndung des SED-Unrechts beseitigen. Dies hieße die Idee des Rechtsstaats gerade dort zu verleugnen, wo man ihn nach vierzig Jahren Unrecht einführen will. Dort allerdings, wo wir Funktionären des SED-Unrechtsregimes auf rechtsstaatlicher Grundlage in rechtsstaatlicher Weise kriminelles Unrecht nachweisen können, muß der staatliche Strafanspruch durchgesetzt werden. Das sind wir nicht nur den Opfern des SED-Unrechtsregimes schuldig, sondern auch dem Rechtsstaat. Es geht nicht um Rache und Vergeltung oder gar Siegerjustiz. Es geht um die Verwirklichung und Durchsetzung des Rechtsstaats. Angesichts des Zeitraums von vierzig Jahren, über den sich das SED-Unrechtsregime erstreckt hat, stellt sich natürlich die Frage, ob Straftaten, die aus politischen Gründen in der ehemaligen DDR nicht verfolgt wurden, in dieser Zeit verjähren konnten. Ich meine, daß im allgemeinen auf der Grundlage des geltenden Rechts keine Verjährung eingetreten ist, weil die Verjährung für Straftaten, die dem StGB-DDR unterlagen, in dieser Zeit geruht hat. Bei dieser Auffassung weiß ich mich einig mit allen Justizministern der Bundesländer. Ich nehme an, daß dies auch der Meinung der weit überwiegenden Zahl der Abgeordneten dieses Hauses entspricht. Diese Haltung hat sich auch der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zu eigen gemacht. Der Grund für die Nichtverjährung ist folgender: In der ehemaligen DDR gab es keine Justizbehörden, die derartiges politisches Unrecht verfolgt haben. Die Justiz war vollständig den Weisungen des Staats- und Parteiapparats unterworfen. Die Justizbehörden waren praktisch nichts anderes als Exekutivorgane des Parteiwillens. Für die Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft haben das Bundesverfassungsgericht und der Bundesgerichtshof entschieden, daß die Verjährung von Straftaten, deren Verfolgung der damals als Gesetz geachtete Führerwille entgegenstand, geruht hat. Diese Rechtsprechung kann und muß auf das SED-Unrecht übertragen werden. Aus dem Gesagten ergibt sich im übrigen, daß das Ruhen der Verjährung entgegen dem Antrag der Fraktion der SPD nicht bis zum 2. Oktober 1990 gedauert haben kann, sondern nur bis zur Abhaltung demokratischer Wahlen in der früheren DDR am 18. Februar 1990. De jure hat zu diesem Zeitpunkt das SED-Regime geendet. Daß es de facto auch in der Folgezeit bis zum 2. Oktober 1990 vielfach nicht zu Strafverfahren gekommen ist, kann rechtlich nicht mehr als Ruhen der Verjährung gefaßt werden. Dem Gesichtspunkt der teilweisen Untätigkeit von Gerichten und Staatsanwaltschaften während des Umbruchs in der ehemaligen DDR trägt im übrigen die bereits angesprochene Unterbrechungsregelung des Artikels 315a EGStGB in der Fassung des Einigungsvertrags Rechnung. Der Antrag der Fraktion der SPD geht im übrigen davon aus, daß bezüglich der Frage des Ruhens der 7530* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1992 Verjährung kein gesetzlicher Handlungsbedarf besteht, weil das Ruhen der Verjährung bereits dem geltenden Recht entnommen werden kann. Mit dieser Auslegung des geltenden Rechts stimme ich vollkommen überein. Angesichts des Umstandes, daß einige Staatsanwaltschaften und Gerichte in vereinzelten Entscheidungen dies in Zweifel gezogen haben, habe ich aber auch Verständnis dafür, wenn man diese Frage einer deklaratorischen gesetzlichen Regelung zuführt, und ich werde mich gegenüber einer solchen Regelung nicht sperren. Der Antrag der Fraktion der SPD verneint außerdem ein Bedürfnis für die Verlängerung laufender Verjährungsfristen. Er geht davon aus, daß infolge der Unterbrechungsregelung des Einigungsvertrags frühestens 1995 Straftaten verjähren. Das ist nicht ganz zutreffend. Delikte, die allein Bundesrecht unterliegen — und damit auch ein Teil der Stasi-Straftaten —, werden von der Unterbrechungsregelung des Einigungsvertrags nicht erfaßt. Solche Delikte verjähren daher bereits heute. Insgesamt ist aber die Frage, ob es einer allgemeinen Verlängerung der strafrechtlichen Verjährungsfristen bedarf, vorrangig von den Landesjustizverwaltungen der fünf neuen Länder zu beantworten. Sie sind es, die in erster Linie entscheiden müssen, ob ihre Justiz- und Polizeibehörden in der Lage sind, innerhalb der geltenden Verjährungsfristen ihre Aufgaben zu bewältigen. Sollte von seiten der neuen Bundesländer ein Bedürfnis für eine bundeseinheitliche Verlängerung laufender Verjährungsfristen dargelegt werden, so werde ich mich auch dem nicht entziehen. Anlage 4 Antwort der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die Frage des Abgeordneten Ortwin Lowack (fraktionslos) (Drucksache 12/2516 Frage 21): Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung zu verhindern, daß die — ohnehin begrenzten — Mittel für Deutsche in den Oder-Neiße-Gebieten nur zu einem kleineren Bruchteil wirklich den betroffenen Deutschen, sondern vor allem polnischen Institutionen zugute kommen? Die der Frage zugrunde liegende Annahme, daß die Hilfe der Bundesregierung für die deutsche Minderheit in der Republik Polen dieser nur zu einem kleinen Teil zugute kommt, ist unzutreffend. Die deutsche Minderheit in Polen ist der wesentliche Nutznießer der für sie bestimmten Hilfe des Bundes. Hauptziel aller Hilfen ist, die Lebensverhältnisse der Deutschen in ihrer angestammten Heimat so zu verbessern, daß sie dort eine Zukunft für sich und ihre Kinder sehen. Dies setzt Verständigung und Versöhnung zwischen Polen und Deutschen voraus. Aus diesem Grunde sind die Hilfen so angelegt, daß sie auch der nichtdeutschen Bevölkerung zugute kommen. Eine Privilegierung der Deutschen könnte diese Ziele zunichte machen. Hauptpartner bei der Abwicklung der Hilfen sind neben zahlreichen deutschen Mittlerorganisationen auf polnischer Seite — neben den deutschen Freundschaftskreisen — kirchliche und staatliche Einrichtungen, die für ihre deutschen Mitbürger zuständig sind und in denen Angehörige der Minderheit oft Verantwortung tragen. Die Bundesregierung und die zuständigen deutschen Auslandsvertretungen stehen über Wege und Empfänger der Hilfe an die deutsche Minderheit in ständigem engem Dialog mit deren Vertretern und haben mit ihnen vereinbart, sie in Zukunft noch stärker als bisher an der Entscheidung über die Vergabe der Mittel zu beteiligen. Anlage 5 Antwort der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die Fragen des Abgeordneten Klaus Harries (CDU/CSU) (Drucksache 12/2516 Fragen 24 und 25): Sieht die Bundesregierung einen Widerspruch darin, daß in der Charta der Vereinten Nationen die sogenannte Feindstaatenklausel immer noch enthalten ist, obwohl die Bundesrepublik Deutschland mit Recht überlegt, im Rahmen von Maßnahmen der VN und des Sicherheitsrates zu Blauhelmeinsätzen der Bundeswehr zu kommen? Strebt die Bundesregierung an, daß die Feindstaatenklausel in der Charta der Vereinten Nationen aufgehoben wird? Zu Frage 24: Die Bundesregierung sieht zwischen ihren Zielsetzungen im Rahmen der Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen und den beiden in den Art. 53 und 107 der VN-Charta enthaltenen sogenannten Feindstaatenklauseln keinen Widerspruch. Die Bundesregierung betrachtet die sogenannten Feindstaatenklauseln vielmehr als obsolet. Sie haben daher auch keinerlei Auswirkung auf Rechte und Pflichten, die sich für Deutschland als gleichberechtigtem Mitgliedstaat der Vereinten Nationen aus der VN-Charta ergeben. Zu Frage 25: Für eine förmliche Aufhebung der sogenannten Feindstaatenklauseln der VN-Charta (Art. 53 und 107) wäre eine Änderung der VN-Charta nach dem in Art. 108 vorgeschriebenen Verfahren notwendig. Diese Vorschrift bestimmt, daß Änderungen zunächst von Zweidritteln der Mitglieder der VN in der Generalversammlung angenommen werden. Sie müssen sodann von Zweidritteln der Mitglieder der Vereinten Nationen einschließlich aller Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats nach Maßgabe ihres jeweiligen Verfassungsrechts ratifiziert werden, bevor sie in Kraft treten können. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, daß vor allem die Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats einen Eingriff in den Normenbestand der VN-Charta ablehnend gegenüberstehen, auch aus der Besorgnis, Änderungen würden sich nicht auf einzelne Punkte beschränken lassen. Bei dieser Sachlage sieht die Bundesregierung keine Veranlassung, Initiativen für eine Streichung der sogenannten Feindstaatenklauseln zu ergreifen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1992 7531* Anlage 6 Antwort der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die Frage des Abgeordneten Ludwig Stiegler (SPD) (Drucksache 12/2516 Frage 27): Wie ist der Stand der Verhandlungen mit den Vertragspartnern des NATO-Truppenstatuts und des Zusatzabkommens über die Revision des Zusatzabkommens, und wird die Bundesregierung einem Übungsbetrieb anderer Streitkräfte als der US-Streitkräfte erst dann zustimmen, wenn zuvor die Umwelt-, insbesondere die Lärmschutzprobleme, befriedigend geregelt sind? Die Verhandlungen werden nach wie vor in einem unter Verbündeten üblichen guten Klima geführt; in wichtigen Punkten sind bereits weitgehende Annäherungen erzielt worden. Ich bitte um Ihr Verständnis dafür, daß die Bundesregierung sich während der laufenden Verhandlungen nicht öffentlich zum Stand der Verhandlungen äußern will. Dies gilt erst recht für einzelne Bereiche, die noch Gegenstand der Verhandlungen sind. Anlage 7 Antwort der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die Fragen des Abgeordneten Gernot Erler (SPD) (Drucksache 12/2516 Fragen 30 und 31): Welche finanziellen und anderen Beiträge leistet die Bundesrepublik Deutschland für den Internationalen Fonds, der die Atomspezialisten der ehemaligen Sowjetunion in den Ländern der GUS halten und ihre Beschäftigung in Krisenregionen verhindern soll? Welche anderen Länder haben sich in welchem Umfang zur Finanzierung und Organisation dieses Fonds bereit erklärt bzw. einen solchen Beitrag in Aussicht gestellt? Zu Frage 30: Die Frage bezieht sich offenbar auf die Finanzierung des in Rußland zu gründenden Internationalen Wissenschafts- und Technologiezentrums (IWTZ). Auf Initiative der Bundesregierung hat die Kommission der Europäischen Gemeinschaft mit Zustimmung des Europäischen Rats die Mittel im Rahmen ihres Programms „Technische Hilfe für die GUS" um 50 Millionen ECU erhöht, um damit insbesondere Programme zu finanzieren, die der Abwanderung von Atomwaffenexperten aus der ehemaligen Sowjetunion in Problemländer entgegenwirken sollen. Die EG-Kommission stellt davon einen Betrag von 20 Millionen ECU zur Finanzierung des IWTZ zur Verfügung. Deutschland ist der größte Beitragszahler innerhalb der EG und steuert entsprechend seinem Finanzierungsanteil von 28 % ca. 5,6 Millionen ECU zu diesem Betrag bei. Zu Frage 31: Die Finanzierung wird nach derzeitigem Stand durch folgende Beiträge gewährleistet: EG 20 Millionen ECU = ca. 25 Millionen US-Dollar USA 25 Millionen US-Dollar Japan 20 Millionen US-Dollar Schweden 4 Millionen US-Dollar Kanada 2,5 Millionen US-Dollar Schweiz 1,5 Millionen US-Dollar. Rußland stellt die erforderlichen Räumlichkeiten nebst Infrastruktur, deren laufende Unterhaltung, sowie Personal zur Verfügung. An der Organisation des IWTZ sowie der Verwaltungs- und Kontrollstruktur wirken zur Zeit die Gründungsmitglieder EG (Kommission und Rat), Japan, Rußland und USA mit. Anlage 8 Antwort des Parl. Staatssekretärs Bernd Wilz auf die Frage des Abgeordneten Ortwin Lowack (fraktionslos) (Drucksache 12/2516 Frage 39): In welchem Umfang wird in Depots der Bundeswehr das, vor allem im ungereinigten Zustand, hochgefährliche Dekontaminierungsmittel C 8 gelagert, und ist die Bundesregierung, trotz zahlreicher Bedenken aus der Bundeswehr, der Auffassung, daß die Lagerung überall vorschriftsgemäß erfolgt? Die Bundeswehr bevorratet zur Zeit ca. 2 000 t des Dekontaminationsmittels C 8 (Calciumhypochlorit) zur Abwehr chemischer Kampfstoffe durch Neutralisation. Das handelsübliche Calciumhypochlorit ist gemäß Gefahrstoffverordnung und DIN-Sicherheitsdatenblatt brandfördernd, ätzend und in die höchste Wassergefährdungsklasse eingestuft. Bei organischen Verunreinigungen neigt C 8 zur Selbstentzündung. Für die Lagerung gelten die Bestimmungen der Technischen Regel für Gefahrstoffe Nr. 515. Die Bundeswehr wird künftig nur noch ca. 1 000 t C 8 bevorraten. Dazu sind im Depotbereich Lagermöglichkeiten geschaffen worden, die allen Vorschriften entsprechen. Die überzähligen Bestände lagern bis zur Aussonderung und Entsorgung bei der Truppe und im Depotbereich an ca. 280 Lagerorten, die die wesentlichen Lagerungsbestimmungen erfüllen. Ein Entsorgungskonzept wird zur Zeit entwickelt. Die umweltverträgliche Entsorgung der ersten 500 t ist eingeleitet und soll nach Angaben der vorgesehenen Entsorgungsfirma bis Ende 1992 durchgeführt werden. Die Bundeswehr geht davon aus, daß eine Gefährdung von Soldaten, Bevölkerung und Umwelt durch die derzeitige Lagerung von C 8 auszuschließen ist. Anlage 9 Antwort des Parl. Staatssekretärs Bernd Wilz auf die Frage des Abgeordneten Ludwig Stiegler (SPD) (Drucksache 12/2516 Frage 43): In welchem Zeitplan und personellen Umfang wird die Heeresunteroffiziersschule II in Weiden sachlich und personell auf vier Inspektionen aufgestockt werden, und hat der Bundesminister der Finanzen die notwendigen Haushaltsmittel freigegeben? Die ursprüngliche Planung zur Aufstellung von 4 Inspektionen an der Heeresunteroffiziersschule II in 7532* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1992 Weiden konnte bisher nicht verwirklicht werden. Die Gründe hierfür sind die bisher noch nicht abgeschlossenen Ausplanungen des Heeres und die dadurch noch nicht mögliche Feststellung des Ausbildungsbedarfs in den Heeresunteroffizierschulen. Auf der Grundlage der inzwischen auf die Teilstreitkräfte aufgeteilten Personalumfänge wurden innerhalb des Bundesministeriums der Verteidigung auf Arbeitsebene Alternativen zur Einrichtung der erforderlichen Inspektionen entwickelt. Sie sind jedoch noch unter Berücksichtigung mehrerer Kriterien zu prüfen. Da die Realisierung über den Bereich des Heeres hinausgehende Bedeutung hat, ist die Genehmigung durch den Bundesminister der Verteidigung erforderlich. Eine Entscheidung hierzu ist noch im Sommer 1992 beabsichtigt. Erst nach dieser Entscheidung ist der dann erforderliche Infrastrukturbedarf zu aktualisieren und der Bundesminister der Finanzen im Rahmen des Infrastrukturverfahrens erneut zu beteiligen. Anlage 10 Antwort des Parl. Staatssekretärs Bernd Wilz auf die Fragen des Abgeordneten Hans-Günther Toetemeyer (SPD) (Drucksache 12/2516 Fragen 44 und 45): Wie vereinbart die Bundesregierung die durch das Bundesministerium der Verteidigung verursachten Verzögerungen bei der Lieferung von vier demilitarisierten Minenräumpanzern und anderen Spezialfahrzeugen aus den Beständen der Nationalen Volksarmee (NVA) der ehemaligen DDR an Angola mit ihrer in der Bundestagsdebatte vom 12. März 1992 gegebenen Zusage, „Angola bei der Wahlvorbereitung (zu) helfen" sowie mit der seitens der Regierungsparteien in ihrem Antrag vom 11. Dezember 1991 (Drucksache 12/1814) ausgesprochenen Empfehlung, „freundschaftlich darauf hinzuwirken, daß die vereinbarten freien, fairen und demokratischen Wahlen in ganz Angola (...) auch wirklich stattfinden können", und teilt sie die Auffassung, daß die für Herbst 1992 anberaumten Wahlen in Angola nur dann stattfinden können, wenn die Bevölkerung die Wahllokale gefahrlos auf minenfreien Zufahrtsstraßen erreichen kann? Teilt die Bundesregierung meine Auffassung, daß das Angebot der Nichtregierungsorganisation Cap Anamur, schnelle und unbürokratische Hilfe bei der Räumung von Minen in Angola zu leisten, der von den Regierungsparteien gegenüber der Bundesregierung ausgesprochenen Empfehlung, „über Nichtregierungsorganisationen Hilfen zur Demokratisierung Angolas in der Übergangsphase anzubieten", entspricht, und warum leistet sie dieser Empfehlung nicht unverzüglich Folge? Zu Frage 44: Die Bundesregierung erkennt keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den nach wie vor aufrechterhaltenen Zusagen, Angola bei der Vorbereitung und Durchführung freier Wahlen zu unterstützen, und einem nach deutschem Recht genehmigungspflichtigen Export von Kriegswaffen (Panzer) und anderem Rüstungsgut. Die Bundesregierung unterstützt das Vorhaben der Hilfsorganisation Cap Anamur für eine Minenräumaktion in Angola. Aus diesem Grund wurden der Organisation seitens des Bundesministeriums der Verteidigung nicht nur umfangreiches Material bereitgestellt und entsprechende Fahrzeug- und/oder Geräteeinweisungen durchgeführt, sondern auch die notwendige Transportunterstützung vom Lagerort des Materials zum Hamburger Hafen gewährt. Für eine Freigabe des Materials und damit Besitzübertragung sowie für die Transportdurchführung sind die Bestimmungen des Kriegswaffenkontrollgesetzes und des Außenwirtschaftsgesetzes einzuhalten. Die notwendigen Genehmigungsverfahren müssen daher auch im Sinne der einschlägigen Resolutionen des Deutschen Bundestages mit großer Sorgfalt durchgeführt werden. Zwischenzeitlich sind jedoch alle Fragen zwischen dem Bundesministerium der Verteidigung und dem Vorstand der Organisation Komitee Cap Anamur geklärt und Mißverständnisse ausgeräumt worden. Die erforderlichen Genehmigungen zur Ausfuhr sind bzw. werden erteilt. Zu Frage 45: Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die mit Unterstützung des Bundesministeriums der Verteidigung möglich werdende Minenräumaktion der Hilfsorganisation Komitee Cap Anamur einen Beitrag zur Befriedung Angolas darstellt und darüber hinaus auch die Grundlage bilden kann für einen Neuaufbau im Bereich der Grundinfrastruktur. Überlagert wird der Minenräumeinsatz im übrigen von humanitären Aspekten: Bewahren der Zivilbevölkerung, die durch den jahrelangen Bürgerkrieg großes Leid erlitten hat, vor weiteren sinnlosen Leiden und Tod durch explodierende Minen. Aus diesen Gründen wurde die Aktion des Komitee Cap Anamur ohne Vorbehalt seitens der Bundesregierung unterstützt, wobei in jedem Einzelfall gesetzlich vorgeschriebene Genehmigungsprozeduren bei zu lieferndem Rüstungsmaterial eingehalten werden. Anlage 11 Antwort des Parl. Staatssekretärs Bernd Wilz auf die Fragen des Abgeordneten Horst Jungmann (Wittmoldt) (SPD) (Drucksache 12/2516 Fragen 46 und 47): Trifft es zu, daß das Bundesministerium der Verteidigung beabsichtigt, für die Bundeswehr eine Million neue Gefechtshelme aus Aramit-Gewebe für ca. 250 Mio. DM zu beschaffen, und wenn ja, welche Erkenntnisse haben dazu geführt, daß der zur Zeit eingeführte Stahlhelm keinen ausreichenden Schutz mehr bietet? Kann die Bundesregierung bestätigen, daß der Aramit-Helm nur eine Nutzungsdauer von ca. 4 Jahren hat und daß Untersuchungen in einem holländischen Institut ergeben haben, daß der Gefechtshelm aus Aramit keinen ausreichenden Überlebensschutz bietet? Zu Frage 46: Es trifft zu, daß für die gesamte Bundeswehr rd. 1 Million neue Gefechtshelme aus Aramidgewebe beschafft werden sollen. Der bisherige Stahlhelm der Bundeswehr kann die Forderungen des militärischen Bedarfsträgers nicht mehr erfüllen; er schützt nur gegen Normsplitter von Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1992 7533* 1,1 g bei einer Auftreffgeschwindigkeit bis zu 370 m/ sec. Neue Waffen und moderne Munition zeigen heute eine höhere Durchschlagskraft und größere Splitterwirkungen, so daß bei Normsplittern der höheren Auftreffgeschwindigkeit von 620 m/sec entgegengewirkt werden muß. Der neue Aramidhelm wird neueren Erkenntnissen über die Bedingungen auf dem Gefechtsfeld gerecht; die Schutzwirkung erhöht sich gegenüber dem Stahlhelm um ca. 67 % und sichert dem Soldaten eine wesentlich höhere Überlebenschance. Zu Frage 47: Die Gesamtnutzungsdauer der Helme wird aufgrund von Untersuchungen mindestens 10 Jahre, voraussichtlich aber wesentlich länger betragen. Der neue Gefechtshelm der Bundeswehr verbessert den Kopfschutz der Soldaten wesentlich. Gemäß fernmündlicher Auskunft des niederländischen Verteidigungsministeriums liegen dort keine anderslautenden Untersuchungsergebnisse vor. Anlage 12 Antwort der Parl. Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonk auf die Fragen der Abgeordneten Dr. Christine Lucyga (SPD) (Drucksache 12/2516 Fragen 50 und 51): Liegen der Bundesregierung inzwischen Informationen darüber vor, welche negativen Auswirkungen die Neufassung der Vergaberichtlinien für den Hilfsfonds „Schwangere in Not" zum 1. Januar 1992 hinsichtlich der noch zu bearbeitenden bereits im Vorjahr nach anderslautenden Konditionen gestellten Anträge auf Wohnraumsanierung hat? Ist der Bundesregierung bekannt, daß nach den seit Januar 1992 geltenden Richtlinien ca. 70 % bis 80 % der Anträge, die sonst hätten gefördert werden können, nicht mehr gefördert werden und damit viele Frauen hochgradig enttäuscht werden, die im Vertrauen auf die zugesagten Hilfen ihre Lebensplanung darauf eingestellt und mit den im Fonds versprochenen Mitteln gerechnet hatten? Zu Frage 50: Der „Hilfsfonds für schwangere Frauen in Not" wurde auf der Grundlage des Art. 31 Abs. 4 des Einigungsvertrages für den Zeitraum vom Oktober 1990 bis Dezember 1992 als Sofortprogramm eingerichtet. Ziel dieses Programms ist, den Frauen in den neuen Bundesländern in gleicher Weise zu helfen, wie es in den alten Bundesländern durch die Bundesstiftung „Mutter und Kind — Schutz des ungeborenen Lebens" möglich ist. Die in den Anträgen geschilderte Not des unzureichenden Wohnraums und mangelnder Wohnhygiene für das zu erwartende Kind hat das Bundesministerium für Familie und Senioren im August 1991 veranlaßt, die Richtlinien des Hilfsfonds so zu erweitern, daß die Mittel auch zur Sanierung und zum kindgerechten Ausbau von Wohnungen eingesetzt werden konnten. Die dringende Notwendigkeit gerade dieser Hilfe läßt sich aus der großen Nachfrage ablesen. Innerhalb von 21/2 Monaten gingen 1991 über 3 300 Anträge auf Wohnraumsanierung ein — davon alleine im Dezember 1 590. In dem kurzen Bearbeitungszeitraum konnten im Jahr 1991 noch 1 700 Bewilligungen erteilt werden. Um die Jahreswende 1991/1992 wurde erkennbar, daß die unerwartet große Nachfrage sowohl nach Hilfe zur Verbesserung der Wohnsituation als auch nach Unterstützung bei der Erstausstattung von Mutter und Kind die zur Verfügung stehenden Mittel schon sehr schnell erschöpfen würde. Es war deshalb notwendig, die Vergabe der Mittel aus dem Hilfsfonds für schwangere Frauen in Not auf diejenigen zu konzentrieren, die am dringendsten darauf angewiesen sind. Im Jahre 1992 sind bis Ende April für die Wohnraumsanierung ca. 6 600 weitere Anträge eingegangen. Deshalb mußten die Voraussetzungen für die Förderungsmaßnahmen bei Wohnraumsanierung denen bei Babyausstattungen angeglichen werden, um möglichst viele Anträge bewilligen zu können. Zu Frage 51: Um das Wohnungssanierungsprogramm überhaupt fortsetzen zu können, war es unumgänglich, die Einkommensgrenzen für diesen Teil des Hilfsfonds denen des allgemeinen Teils des Fonds (Ausstattungsgegenstände für Mutter und Kind) anzugleichen. Dies hatte zur Folge, daß im Vergleich zu den im vergangenen Jahr Antragsberechtigten nur noch ca. 35 bis 40 % die Voraussetzungen zur Förderung der Wohnraumsanierung erfüllen. Es ist bekannt und verständlich, daß Antragstellerinnen, die nach den seit 1. Januar 1992 geltenden Richtlinien aufgrund ihres Einkommens nun nicht mehr gefördert werden können, enttäuscht sind. Es zeigt sich aber, daß die Einsicht zunimmt, daß die Hilfe angesichts der knappen Mittel auf diejenigen konzentriert werden muß, die ihrer in besonderem Maße bedürfen. Anlage 13 Antwort des Staatssekretärs Baldur Wagner auf die Frage des Abgeordneten Horst Kubatschka (SPD) (Drucksache 12/2516 Frage 52): Welche Forschungen wurden bisher zur Bekämpfung der FSME (Frühsommermeningoenzephalitis)-Virus übertragenden Zecken durchgeführt, und welche Maßnahmen hat die Bundesregierung zum Schutz der Bevölkerung gegen diese sogar bis zum Tod führende Erkrankung getroffen? Das Bundesgesundheitsamt beobachtet pflichtgemäß das Vorkommen dieser Erkrankung und seiner Überträger regelmäßig und gibt Hinweise in Fachzeitschriften sowie Ratschläge an Ärzte (Bundesgesundheitsblatt 5/89 S. 183-189; Bundesgesundheitsblatt 5/91 S. 187-188). Weiterhin wird von der Ständigen Impfkommission des Bundesgesundheitsamtes die Schutzimpfung ge- 7534* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1992 gen Frühsommermeningoenzephalitis (FSME) für alle diejenigen Personen empfohlen, die sich in Gegenden aufhalten, die Naturherde der FSME sind. Dazu gehören vor allem Österreich, Tschechoslowakei, Südeuropa, Südschweden und Süddeutschland. Forschungen zur Bekämpfung der FSME werden z. Zt. weder durch das Bundesgesundheitsministerium noch durch das Bundesministerium für Forschung und Technologie wegen anderer Schwerpunkte der Gesundheitsforschung gefördert. Anlage 14 Antwort des Staatssekretärs Baldur Wagner auf die Frage des Abgeordneten Dr. Hans-Hinrich Knaape (SPD) (Drucksache 12/2516 Frage 53): Stellt die am 1. Januar 1992 in Kraft getretene Regelung des § 42 a SGB V über nicht-ärztliche sozialpädiatrische Leistungen darauf ab, daß die dort genannten psychologischen, heilpädagogischen und psychosozialen Leistungen, die der Erkennung einer Krankheit zum frühestmöglichen Zeitpunkt sowie der Aufstellung eines Behandlungsplans dienen, nur in sozialpädiatrischen Zentren oder auch bei niedergelassenen kinder- und jugendpsychiatrischen Ärzten zu Lasten der Krankenkassen erbracht werden können? Ich gehe davon aus, daß es Ihnen darum geht, ob nichtärztliche sozialpädiatrische Leistungen nach § 43a SGB V nur in Sozialpädagogischen Zentren oder auch durch niedergelassene kinder- und jugendpsychiatrische Ärzte zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung erbracht werden dürfen. Bei der Vorbereitung der Regelung und ihrer Beratung im Bundestag bestand Einvernehmen darüber, daß Leistungen nach § 43 a SGB V sowohl von in § 119 SGB V beschriebenen Sozialpädiatrischen Zentren als auch von entsprechend ausgebildeten niedergelassenen Ärzten erbracht werden können. Andernfalls ginge die vergütungsrechtliche Regelung in § 85 Abs. 2 Satz 3 SGB V, die für niedergelassene Ärzte gilt, ins Leere. Anlage 15 Antwort des Staatssekretärs Baldur Wagner auf die Frage des Abgeordneten Klaus Kirschner (SPD) (Drucksache 12/2516 Fragen 54 und 55): Wie beurteilt die Bundesregierung den zwischen dem AOK-Landesverband Niedersachsen und der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen abgeschlossenen Honorarvertrag, der einen gespaltenen Punktwert für ärztliche Honorare für die KVdR-Versicherten einerseits und die Allgemeinversicherten andererseits vorsieht? Wie beurteilt die Bundesregierung den auch 1991 wie in den Vorjahren ungebrochenen Trend einer steigenden Anzahl niedergelassener Kassenärzte, wobei ein besonderes Plus der Fachärzte festzustellen ist, und die damit einhergehende Zunahme der Fallzahlen als auch der abgerechneten Fälle je Mitglied im Hinblick auf den im SGB V festgelegten Grundsatz der Beitragsstabilität? Zu Frage 54: Das Bundesministerium für Gesundheit hat das niedersächsische Sozialministerium als zuständige Aufsichtsbehörde mit Schreiben vom 18. März dieses Jahres gebeten, den Honorarvertrag des AOK-Landesverbandes Niedersachsen mit der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen einer aufsichtsrechtlichen Überprüfung zu unterziehen. Sie hat in diesem Schreiben auf zwei Bestandteile der Vereinbarung hingewiesen, gegen die erhebliche rechtliche Bedenken bestehen. Zum einen führt die im Vertrag vorgesehene Anhebung der Vergütung im ärztlichen Bereich im Vertragszeitraum zu einem Anstieg der Gesamtvergütung von voraussichtlich ca. 8 v. H. Dem steht ein erwarteter Anstieg der Grundlohnsumme von 4 bis 5 v. H. gegenüber. Damit haben sich die Vertragspartner auf eine Erhöhung der Gesamtvergütung geeinigt, die mit dem im Gesundheits-Reformgesetz festgeschriebenen Grundsatz der Beitragssatzstabilität nicht vereinbar ist. Zum anderen sieht der Vertrag eine unterschiedliche Honorierung der ärztlichen Leistungen in der Allgemeinen Krankenversicherung und der Krankenversicherung der Rentner vor: für Leistungen in der Krankenversicherung der Rentner ist eine um ca. 11 v. H. höhere Vergütung und eine größere zulässige Mengenausweitung vorgesehen. Im Ergebnis wird damit ein erheblicher Teil der durch den Vertrag bedingten Mehrausgaben für die ambulante ärztliche Versorgung über den Finanzausgleich für die Krankenversicherung der Rentner auf andere Krankenkassen in und außerhalb Niedersachsens abgewälzt. Der Grundsatz der Beitragssatzstabilität gilt jedoch für die Allgemeine Krankenversicherung ebenso wie für die Krankenversicherung der Rentner. Seitens des niedersächsischen Sozialministeriums ist bisher noch keine Antwort auf das Schreiben des Bundesministeriums für Gesundheit eingegangen. Zu Frage 55: Die Zahl der niedergelassenen Kassenärzte hat sich seit 1975 um 35 v. H. erhöht. Wie sich die steigende Zahl der Kassenärzte auf die Ausgabenentwicklung der Krankenkassen auswirkt, hängt zunächst von der Ausgestaltung der ärztlichen Vergütung ab, die zwischen den Krankenkassen und den Kassenärztlichen Vereinigungen vereinbart wird. Die Vertragspartner sind dabei gesetzlich verpflichtet, den Grundsatz der Beitragssatzstabilität zu beachten. Dieser Verpflichtung sind sie in den letzten Jahren durch eine Plafondierung der Gesamthonorarsumme, den sog. „Honorardeckel", nachgekommen. Die steigende Ärztezahl hat dadurch zunächst nicht zu einem überproportionalen Anstieg der Ausgaben für die ambulante ärztliche Versorgung geführt, wohl aber zu einer starken Ausweitung der von den Ärzten abgerechneten sowie der verordneten und veranlaßten Leistungen beigetragen. Bei einer plafondierten Gesamthonorarsumme führte die Mengenexpansion zu einer sinkenden Vergütung für die einzelne ärztliche Leistung; der sog. „Punktwertverfall" ist dafür ein Indikator. Diese, auch von Ärzten kritisierte Auswei- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1992 7535* tung insbesondere der medizintechnischen Leistungen führt zu Ungleichgewichten in der Einkommensverteilung zwischen den Ärzten und den verschiedenen Arztgruppen. Die Bundesregierung verfolgt das Ansteigen der Zahl der niedergelassenen Kassenärzte mit Sorge, weil sie davon negative Auswirkungen auf die gesetzliche Krankenversicherung befürchtet. Auch der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hat in seinem Sondergutachten 1991 nochmals ausgeführt, daß die Tätigkeit von immer mehr Ärzten zu höheren Ausgaben der Krankenkassen ohne zusätzlichen gesundheitlichen Nutzen führen kann. Die Bundesregierung prüft deshalb zur Zeit, wie dieser Entwicklung entgegengewirkt werden kann. Der Vorschlag, den mit der wachsenden Zahl der Kassenärzte und dem zunehmenden Anteil der Fachärzte verbundenen Problemen einer gerechten Einkommensverteilung mit einer Zulassungsbeschränkung zu begegnen, stößt auf verfassungsrechtliche Grenzen, die durch das Grundrecht der freien Berufswahl gezogen sind. Das Bundesministerium für Gesundheit prüft gegenwärtig, welche Möglichkeiten in diesem Rahmen bestehen. Sie bezieht in diese Überlegungen auch eine Weiterentwicklung des geltenden Rechts der kassenärztlichen Bedarfsplanung ein. Eine kurzfristige Problemlösung ist hierdurch aber nicht zu erwarten. Die Selbstverwaltung der Krankenkassen und der Kassenärzte muß deshalb die bereits jetzt zur Verfügung stehenden Instrumente nutzen, um die Mengenentwicklung bei den ärztlichen Leistungen zu begrenzen. Insbesondere sind zu nennen: die durch das Gesundheits-Reformgesetz neu eingeführten und verbesserten Instrumente zur Wirtschaftlichkeitsprüfung, eine Neubestimmung der Vergütungsstruktur für die ärztlichen Leistungen im Einheitlichen Bewertungsmaßstab, die Nutzung des Honorarverteilungsmaßstabes für eine gerechte Verteilung der Gesamthonorarsumme durch die Kassenärztlichen Vereinigungen, die im GesundheitsReformgesetz vorgesehene Gliederung der kassenärztlichen Versorgung in eine haus- und fachärztliche Versorgung, die Vereinbarung konkreter Maßnahmen zur Begrenzung einer überzogenen Mengenentwicklung im Rahmen der Honorarvereinbarungen.
Gesamtes Protokol
Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1209100000
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich möchte zunächst den Präsidenten des Parlaments von Armenien, der mit seiner Delegation auf der Ehrentribüne Platz genommen hat, ganz herzlich im Deutschen Bundestag begrüßen.

(Beifall)

Herr Kollege Ararkzian, Sie und Ihre Begleitung, zu der neben drei Parlamentskollegen auch der Wirtschaftsminister gehört, haben in Bonn bereits zahlreiche Gespräche geführt und führen sie noch. Ihr wichtigstes Anliegen ist gegenwärtig, Parlament und Bundesregierung dafür zu gewinnen, daß der Ihr Volk sehr bedrängende Karabach-Konflikt mit Hilfe der KSZE gelöst oder einer Lösung nähergebracht wird. Ich freue mich besonders, daß wir in diesen Tagen feststellen konnten, was langjährige parlamentarische Beziehungen, die in all den Jahren wahrgenommen worden sind, die kontinuierlich beibehalten wurden und in schwierigsten Zeiten, ob bei Erdbebenkatastrophen oder in einem Umgestaltungsprozeß, unablässig vorangebracht wurden, doch in bezug auf das Verhältnis zwischen Deutschland und Armenien bewirken können.
Wir wünschen Ihnen, daß Sie auch bei den weiteren Stationen in Wiesbaden und Berlin erfolgreiche Gespräche führen, und freuen uns über unsere guten parlamentarischen Beziehungen.
Meine Damen und Herren, der Kollege Spilker feierte am 3. Mai seinen 71. Geburtstag. Ich gratuliere ihm im Namen des Hauses nachträglich sehr herzlich.
Jetzt komme ich zum amtlichen Teil.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die Ihnen in der Zusatzpunktliste vorliegenden Punkte zu erweitern:
1. Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/Linke Liste: Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit — Drucksache 12/2526 — (In der 90. Sitzung bereits erledigt.)

2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid Köppe, Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE:
Zugriff von Parteien und Kirchen auf Daten von Bürgerinnen und Bürgern im Melderecht — Drucksache 12/2533 —
3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietmar Schütz, Ulrike Mehl, Susanne Kastner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Aktionsprogramm zur Sanierung der Ostsee und der Gewässer in den neuen Bundesländern — Drucksache 12/2553 —
4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Freimut Duve, Dr. Willfried Penner, Wolfgang Thierse, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Beibehaltung des ermäßigten Steuersatzes far Kunstwerke — Drucksache 12/1320 — (v. 16. 10. 91)

5. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zur Frage ihrer Handlungsfähigkeit angesichts von Meinungsunterschieden zum Beispiel in der Forderung nach einer „neuen" Außenpolitik, zu ungeklärten Finanzproblemen, zu Kürzungen von Renten und anderen sozialen Leistungen
6. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG-Änderungsgesetz) — Drucksache 12/1985 —
7. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, F.D.P. und der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE: Hilfe für die demokratische Opposition in Peru — Drucksache 12/2550 —
Weiterhin ist interfraktionell vereinbart worden, die Vorlagen unter Punkt 4 c und 4 d der Tagesordnung im vereinfachten Verfahren zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall; ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3, 4 c und 4 d sowie die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:
3. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften
— Drucksache 12/2297 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß (federführend)

Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Melderechtsrahmengesetzes (MRRG)

— Drucksache 12/2376 —



Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß (federführend)

Rechtsausschuß
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Familie und Senioren
Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Helmut Rode (Wietzen), Wolfgang Ehlers, Andreas Schmidt (Mühlheim), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Wolfgang Lüder und der Fraktion der F.D.P.
Einbeziehung der deutschen Heimatvertriebenen, Aussiedler und der in Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa lebenden deutschen Minderheiten in die Politik der Verständigung und guten Nachbarschaft der Bundesrepublik Deutschland gegenüber ihren östlichen und südöstlichen Nachbarn
— Drucksache 12/2311 —
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß (federführend) Innenausschuß
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Otto Reschke, Achim Großmann, Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Bericht zum Baugesetzbuch
— Drucksache 12/2133 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (federführend)

Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
e) Beratung des Antrags des Bundesministers der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung der bundeseigenen Liegenschaft in Regensburg, Betriebs- und Geschäftsgrundstück
— Drucksache 12/2401 —
Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
4. c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Eberhard Brecht, Gernot Erler, Hans Koschnick, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gewährleistung der Menschenrechte und Wiederherstellung der Selbstverwaltung der Kosovo-Albaner
— Drucksache 12/2289 —
Überweisungsvorschl a g: Auswärtiger Ausschuß
4. d) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Menschenrechtsverletzungen in Serbien und Kroatien
— Drucksache 12/2290 —
Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid Köppe, Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE
Zugriff von Parteien und Kirchen auf Daten von Bürgerinnen und Bürgern im Melderecht
— Drucksache 12/2533 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß (federführend) Rechtsausschuß
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietmar Schütz, Ulrike Mehl, Susanne Kastner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Aktionsprogramm zur Sanierung der Ostsee und der Gewässer in den neuen Bundesländern
— Drucksache 12/2553 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.
Die Anträge der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 12/2289 und 12/2290 zu den Menschenrechten der Kosovo-Albaner sowie zu den Menschenrechtsverletzungen in Serbien und Kroatien sollen an den Auswärtigen Ausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b sowie 4 e bis 4j auf:
Abschließende Beratungen ohne Aussprache
a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Verträgen vom 14. Dezember 1989 des Weltpostvereins
— Drucksache 12/1261 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Post und Telekommunikation (18. Ausschuß)

— Drucksache 12/2529 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Gerhard O. Pfeffermann Arne Börnsen (Ritterhude)


(Erste Beratung 50. Sitzung)

b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 7. Januar 1991 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über die Seeschiffahrt
— Drucksache 12/1586 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr (16. Ausschuß)

— Drucksache 12/2314 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Dirk Fischer (Hamburg)


(Erste Beratung 64. Sitzung)




Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (10. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 2262/84 über Sondermaßnahmen für Olivenöl
— Drucksachen 12/1174 Nr. 2.18, 12/2188 —
Berichterstattung: Abgeordneter Ulrich Heinrich
f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (10. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1676/85 über den Wert der Rechnungseinheit und die im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik anzuwendenden Umrechnungskurse hinsichtlich der von der Abteilung Ausrichtung des EAGFL finanzierten Maßnahmen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 129/78
— Drucksachen 12/1174 Nr. 2.14, 12/2189 —
Berichterstattung: Abgeordneter Rolf Koltzsch
g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr (16. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zur Beförderung von Nuklearabfällen mit Fährschiffen und der Lagerung und Verarbeitung nuklearer Abfälle
— Drucksachen 11/8490, 12/2407 —
Berichterstattung: Abgeordneter Carl Ewen
h) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Rates betreffend die Werbung für Tabakerzeugnisse
— Drucksachen 12/1612 Nr. 2.1, 12/2487 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Hermann Schwörer
i) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 56 zu Petitionen — Drucksache 12/2510 —
j) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 57 zu Petitionen
— Drucksache 12/2511 —
Wir kommen zunächst zum Tagesordnungspunkt 4 a. Der Ausschuß für Post und Telekommunikation empfiehlt auf der Drucksache 12/2529, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 b betrifft das Abkommen mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über die Seeschiffahrt. Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 12/2314, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen?
— Auch dieser Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 e: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten bezüglich Sondermaßnahmen für Olivenöl. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 f betrifft die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zur Anwendung von Umrechnungskursen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 g: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr zu einer Entschließung des Europäischen Parlaments zum Umgang mit Nuklearabfällen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen der SPD und der PDS/Linke Liste angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 h: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft betreffend Werbung für Tabakerzeugnisse.
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Abgeordneten Ingrid Köppe auf Drucksache 12/2549 vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist mehrheitlich abgelehnt.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung?
— Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist bei einigen Enthaltungen angenommen.
Tagesordnungspunkte 4 i und 4j: Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 12/2510 und 12/2511. Das sind die Sammelübersichten 56 und 57. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlungen sind bei zwei Enthaltungen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur



Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Neuregelung der Zinsbesteuerung (Zinsabschlaggesetz)

— Drucksache 12/2501 —
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß (federführend)

Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie und Senioren
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache.
Herr Staatssekretär Grünewald, Sie haben das Wort.

Dr. Joachim Grünewald (CDU):
Rede ID: ID1209100100
Frau Präsidentin! Meine werten Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in erster Lesung das sogenannte Zinsabschlaggesetz. Mit diesem Gesetz ziehen wir die notwendigen Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juni 1991.

(Joachim Poß [SPD]: Leider die falschen Konsequenzen!)

— Nein, die richtigen, Herr Poß.
Die von den Karlsruher Richtern geforderte Besteuerungsgleichheit kann nach deren eigener Einschätzung auf unterschiedliche Weise sichergestellt werden; sei es im Wege des Steuerabzugs, sei es im Wege hinreichender Kontrollmöglichkeiten.
Im vorgelegten Gesetzentwurf haben wir uns in Anlehnung an den Vorschlag der „Zinskommission" — der ich auch im Namen der Bundesregierung für ihre herausragende und intensive Arbeit sehr herzlich danken darf — für ein Modell der Erfassung der Kapitaleinkünfte im Wege des Steuerabzugsverfahrens entschieden.
Der Gesetzentwurf sieht mit Wirkung ab 1. Januar 1993 die Einführung eines sogenannten Zinsabschlags von 25 % vor. Hierbei handelt es sich um einen auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer anrechenbaren Steuerabzug mit Vorauszahlungscharakter. Dieser Zinsabschlag ist mit der 25 %igen Kapitalertragsteuer vergleichbar, die nach dem Einkommensteuergesetz schon immer von Dividendenerträgen einzubehalten war; übrigens genauso wie bei partiarischen Darlehen, wie bei Wandelanleihen und wie bei kurzlaufenden Lebensversicherungen.
Der wesentliche Unterschied ist aber, daß der Zinsabschlag grundsätzlich nicht durch den Schuldner des Zinsertrages, also z. B. durch den Wertpapieremittenten, sondern durch die auszahlende Stelle einbehalten wird. Das ist in aller Regel das Kreditinstitut.
Dadurch erreichen wird, daß auch ein Steuerabzug von Zinsen aus ausländischen Anleihen möglich ist. So können wir grundsätzlich eine Spaltung des Kapitalmarktes vermeiden.
Steuerausländer sind vom Steuerabzug ausgenommen; denn in aller Regel unterliegen sie mit ihren
Zinserträgen ohnehin nicht der beschränkten Steuerpflicht.
Für die sogenannten Tafelgeschäfte, also die Bankgeschäfte über den Schalter, gilt das allerdings nicht. Hier soll der Zinsabschlag grundsätzlich abgezogen werden; unabhängig davon, ob es sich um einen Ausländer oder um einen Inländer handelt.
Die Höhe des Zinsabschlagsatzes von 25 % haben wir sehr sorgfältig geprüft. Im internationalen Vergleich liegt der Steuersatz von 25 % im oberen Mittelfeld; keinesfalls bedeutet der Satz eine Begünstigung von Großverdienern.
Das Bundesverfassungsgericht selbst hat eine Abgeltungssteuer in Anlehnung an eben diesen Satz von 25 % ins Spiel gebracht. Der vorgeschlagene Zinsabschlag ist dagegen nur eine Vorauszahlung; so gesehen also ein Weniger. Er läßt die materielle Steuerpflicht der Zinserträge völlig unberührt; bei der Veranlagung erfolgt weiterhin eine Besteuerung nach dem individuellen Steuertarif bis hin zu 53 %.
Im übrigen erfaßt der Zinsabschlag in Höhe von 25 % die gesamten Bruttoeinnahmen und liegt somit in seiner Belastungswirkung sogar über 25 %.
Die zweite wesentliche Maßnahme des Gesetzentwurfs ist die Verzehnfachung des einkommensteuerlichen Sparerfreibetrags auf 6 000 bzw. 12 000 DM. Dadurch werden ca. 80 % aller Steuerpflichtigen künftig von der Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen freigestellt. Mit diesem so erhöhten Freibetrag soll so einfach wie möglich dem Hinweis des Bundesverfassungsgerichts nachgekommen werden, wonach es verfassungsrechtlich unbedenklich ist, die Besteuerung der Kapitaleinkünfte auf die gesamtwirtschaftlichen Anforderungen an das Kapitalvermögen auszurichten und die Kapitalbildung als Quelle der Altersversorgung gesondert zu würdigen.
Der erhöhte Sparerfreibetrag soll, wie bereits jetzt, für alle Einkünfte aus Kapitalvermögen gelten; denn der vom Bundesverfassungsgericht angesprochene Gesichtspunkt der Altersvorsorge gilt für alle Erträge aus Kapitalvermögen gleichermaßen.
Wer nun verfassungsrechtliche Bedenken anmelden will — im übrigen sind diese Bedenken, so habe ich mir berichten lassen, gestern bei der Anhörung schon entscheidend relativiert worden —,

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Im Gegenteil!)

möge bitte selber noch einmal das Urteil lesen. Dort heißt es, daß es im Rahmen des gesetzgeberischen Einschätzungsspielraums bliebe, alle Kapitaleinkünfte — ich betone: alle —, unabhängig von ihrer Anlageform und buchungstechnischen Erfassung, an der Quelle zu besteuern und mit einer Definitivsteuer zu belasten, die in einem linearen Satz den absetzbaren Aufwand und den Progressionssatz in Durchschnittswerten typisiert.
Was hier zu den einzubeziehenden Anlageformen hinsichtlich der Steuererhebung gesagt wird, kann im Hinblick auf den Sparerfreibetrag nicht abweichend bewertet werden. Der Sparerfreibetrag und der Werbungskostenpauschbetrag für Einkünfte aus Kapital-



Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald
vermögen sollen weitmöglichst bereits beim Steuerabzug berücksichtigt werden können.
Deshalb sieht der Gesetzentwurf den sogannten Freistellungsauftrag vor. Wer es wünscht, kann diesen Auftrag bis zur zulässigen Gesamthöhe auf mehrere Kreditinstitute aufteilen. Allerdings müssen wir sicherstellen, daß niemand von dieser Freistellung in unzulässiger Weise Gebrauch macht. Deshalb ist im Gesetzentwurf eine Regelung enthalten, wonach die abzugspflichtigen Stellen in ausgewählten Fällen dem Bundesamt für Finanzen Angaben aus dem Freistellungsauftrag mitzuteilen haben.
Eine flächendeckende Mitteilung und Kontrolle hingegen wäre unverhältnismäßig und würde auf Grund der Tatsache, daß es in der Bundesrepublik 300 Millionen Konten gibt, die unterhalten werden, die Funktionsfähigkeit der Finanzverwaltung schwer beeinträchtigen. Auch bei einem unveränderten Fortbestehen des sogenannten Bankenerlasses ist es möglich, der vom Bundesverfassungsgericht geforderten Verifikation gerecht zu werden, denn auf Grund der kräftigen Anhebung der Sparerfreibeträge wird die Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen künftig kein Massengeschäft mehr sein.
Das Personal der Finanzbehörden wird also insoweit freigestellt und erhält nun freiwerdende Kapazitäten, um sich unter Ausschöpfung der Bestimmungen der Abgabenordnung zukünftig intensiv den verbleibenden Fällen zuwenden zu können; das sind z. B. die Auskunftspflicht der Beteiligten, die Auskunftspflicht Dritter, aber auch die Außenprüfung beim Steuerpflichtigen selbst.
Die notwendige Konsequenz der Verzehnfachung des Freibetrages bei der Einkommensteuer sind eine entsprechende Anhebung des vermögensteuerlichen Freibetrages auf 100 000 DM — auch aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung —, aber auch ein Freibetrag von 100 000 DM bei der Erbschaftsteuer. Die Beträge von 100 000 DM entsprechen bei einer 6 %igen Verzinsung im Mischdepot dem Freibetrag von 6 000 DM.
Schließlich enthält der Gesetzentwurf deutliche Verbesserungen im Bereich der steuerlichen Altersvorsorge und der Besteuerung von Alterseinkünf ten. Der sogenannte Vorwegabzug für Versicherungsbeiträge soll auf 6 000 DM bzw. 12 000 DM verbessert werden. Das entlastet alle Selbständigen, die in vollem Umfang für ihre eigene Vorsorge zahlen müssen; es entlastet aber auch die Arbeitnehmer, insbesondere die mit geringem und mittlerem Einkommen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zugleich sollen die Höchstbeträge für Vorsorgeaufwendungen mit Wirkung für alle Steuerzahler — also für die Selbständigen und auch für die Arbeitnehmer, und zwar unabhängig von der Höhe ihres Einkommens — angehoben werden. Außerdem sollen der Versorgungsfreibetrag und der Altersentlastungsbetrag auf 6 000 DM angehoben werden, was vor allem alle älteren Mitbürger begünstigen wird.
Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf ist ausgewogen und nach unserer Meinung
verfassungsfest. Die Akzeptanz unseres Konzepts zeigt auch die Entwicklung am Kapitalmarkt. Nach dem Bekanntwerden der Eckwerte hatten wir dankenswerterweise sogar am Kapitalmarkt eine rückläufige Zinsentwicklung um einen halben Prozentpunkt zu verzeichnen.
Das Votum des Finanzausschusses des Bundesrates ist uns deswegen ein wenig unverständlich. Der Bundesrat möchte den Gesetzentwurf ganz ablehnen. Ich möchte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" in Anspruch nehmen, die den Verdacht geäußert hat, daß das vielleicht doch eine Maßnahme derjenigen sein könnte, die sich bei der SPD in dieser Frage auf einen Konfrontationskurs eingelassen haben.

(Widerspruch bei der SPD)

Im übrigen, meine Damen und Herren, hat der Finanzausschuß zu erkennen gegeben, daß sich bei den von uns eingebrachten Anträgen, insbesondere was die Auswirkungen auf die unterschiedlichen Ebenen von Bund, Ländern und Gemeinden angeht, ein Kompromiß finden lassen kann.
Es ist nun Aufgabe des Parlaments, sehr sorgsam, vor allen Dingen aber mit der gebotenen Vorsicht die weiteren Beratungen vorzunehmen, damit es nicht zu Verwerfungen auf dem Kapitalmarkt kommt, die wir in dieser Situation unter keinen Umständen ertragen könnten.
Sie wissen, daß die Kreditwirtschaft, wie sie gestern noch einmal vorgetragen hat, ganz dringend auf eine Vorlaufzeit von mindestens einem halben Jahr angewiesen ist. Wir müssen uns also gemeinsam darum bemühen, das Gesetz noch vor der Sommerpause — also zum Ultimo Juni — im Bundesgesetzblatt zu veröffentlichen. Ich hoffe und wünsche, daß wir dieses Ziel in konstruktiver Zusammenarbeit erreichen können.
Ich danke Ihnen sehr.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1209100200
Als nächster spricht der Abgeordnete Gunter Weißgerber.

Gunter Weißgerber (SPD):
Rede ID: ID1209100300
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Grünewald, es wird Sie nicht überraschen, daß wir doch eine etwas andere Auffassung als Sie haben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Die muß deswegen nicht richtig sein!)

Sie sprachen die gestrige Anhörung an. Mein Eindruck war ein anderer als der Ihre. Mein persönlicher Eindruck war, daß speziell die Verfassungsrechtler ein vernichtendes Urteil über dieses Gesetz gefällt haben.

(Beifall bei der SPD)

Als Neubundesbürger und damit Jungsteuerzahler im bundesdeutschen Steuersystem fühle ich mich angeregt, einige Bemerkungen allgemeiner Art voranzustellen. Anläßlich der Montagsdemonstrationen auf dem Leipziger Augustusplatz im Zeitraum 1989/ 90 sprach ich immer eindeutig einer schnellen Erreichung der deutschen Einheit das Wort, übrigens auch



Gunter Weißgerber
ganz im Sinne einer übergroßen Mehrheit innerhalb meiner Partei.

(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/CSU]: Sehr lobenswert!)

Wir wollten im wesentlichen das westdeutsche Modell des Marktes, der Verwaltung, des Sozialsystems, des Finanzsystems usw.
Doch eine meiner wesentlichen Aussagen jener Zeit möchte ich hier nicht verschweigen: Wir wollen zwar das westdeutsche Fahrrad, doch können der Lenker ruhig ein schwedischer und der Sattel ein französischer oder spanischer sein. Uns war die „Grundausführung" des Spatzen in der Hand vorerst wichtiger als dessen noch zu schaffende „Exklusivvariante", zumal wir wußten, daß der Einigungsprozeß objektiv nur wenig Spielraum für grundsätzliche Verbesserungen zuließ.
Dem Einigungsvertrag in seiner Fehlerhaftigkeit war auf Grund fehlender Zeit und fehlender Alternativen trotz allem zuzustimmen. Dies sage ich auch im Hinblick auf grundsätzliche Fehler dieses Vertragswerkes wie die naive Unterschätzung des Finanzbedarfes und den kolossalen Fehlgriff bei der Eigentumsproblematik. Für letzteres hätte Herr Kinkel eigentlich entlassen werden müssen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Na!)

So entschwindet er ins nächste Amt, einen Scherbenhaufen hinterlassend.
Auch hätten beide damaligen Partner des Einigungsvertrages ein zu schaffendes übersichtliches Steuerrecht vereinbaren können. Wo eingeborene Westdeutsche schon nicht durchblicken: Wie sollen dann im Steuerrecht ungeübte Ostdeutsche in dem Dickicht überhaupt klarkommen?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der PDS/Linke Liste)

Konkret geht es um die Identifikation des Bürgers mit seinem Gemeinwesen. Vorbedingung für solches ist ein Verstehen desselben. In der täglichen Praxis gelingt es dem nicht speziell ausgebildeten Bundesbürger immer weniger, sich in die Fremdsprache des Gesetzgebers einzulesen. Fremdheit zwischen Staat und Bürger auch auf diesem nicht unwichtigen Gebiet macht sich breit.

(Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Richtig!)

Das Streben nach Allgemeinverständlichkeit sollte den Parlamenten zu eigen sein.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Gunnar Uldall [CDU/CSU])

Statt Linguistiker zur Tarnung von Fehlern zu beschäftigen — ich denke an die Schöpfung „Zinsabschlag" für die schon gehabte „Quellensteuer" —, sollten jene Spezialisten besser für die Schaffung verständlicher Gesetzestexte herangezogen werden. Das Verständnis von Gesetzestexten gehört mittlerweile zur Spezies Herrschaftswissen. Der Normalbürger bleibt außen vor. Hier ist eine Umkehr notwendig.
Nun zum vor uns liegenden Jein-Gesetzentwurf zur Neuregelung der Zinsbesteuerung.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie kennen die alte Regelung nicht! — Ingrid MatthäusMaier [SPD]: Ein gutes Wort!)

Statt Fehler einzugestehen, bemühte man schlitzohrig einen neuen Begriff für eine alte, nicht funktionierende Sache in neuem Gewand.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Der Begriff kommt von mir!)

— Ich kann Ihnen da nicht gratulieren.
Will die Bundesregierung ein weiteres Mal, diesmal völlig unnötig, den Wähler zum Narren halten? An der Quelle soll doch die Steuer abgeführt werden. Das entsprechende Stoltenbergsche Quellensteuergesetz war hier begrifflich ehrlicher. Unbedarfter Gebrauch von Wörtern und Begriffen wurde irreführenderweise bereits mit dem Begriff Solidaritätszuschlag gehandhabt. Wer übt mit wem Solidarität? Immerhin zahlt auch der Ostdeutsche diesen Zuschlag. Nichts dagegen einzuwenden! Jeder muß seinen Teil dazu beitragen, doch nicht unter dem hehren Wort der Solidarität, einem der am häufigsten mißbrauchten Begriffe im Ostblock.
In diese Schieflage paßt übrigens in hervorragender Weise auch die Äußerung von Herrn Bötsch, wonach die Ostdeutschen weniger Rente zu bekommen haben, da sie ja weniger eingezahlt haben. Versteht man dies in der CSU unter Solidarität?

(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/CSU]: Man sollte den Zusammenhang kennen!)

Oder soll der ostdeutsche Rentner für die Nichtwahl des CSU-Ablegers DSU bestraft werden?
1988/89, dem Zeitraum der Quellensteuer Stoltenbergs, gehörte ich noch zu den Zaungästen der westdeutschen Politszene, bekam also nur schemenhaft die Diskussion mit. Meines Wissens sprach diesbezüglich Franz-Josef Strauß sogar von schlampiger Arbeit. Ebenso erlebte ich von ferne und damit ziemlich unbeteiligt das Fiasko dieser Steuer, Stoltenbergs Rückpfiff, Waigels Antritt und dessen Rücknahme der Quellensteuer — Grund genug für mich, mich mit diesem damaligen Prozeß vertraut zu machen.

(Joachim Poß [SPD]: Das war Waigels Einstand bei den Banken!)

In diesem Zusammenhang stieß ich auf dem holprigen Weg zur höheren Quellensteuererkenntnis auf die Drucksache 10/4525 vom 11. Dezember 1985, den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur dritten Beratung des Entwurfs eines Steuerbereinigungsgesetzes 1986 mit folgenden Essentials.
Die SPD forderte in dieser Drucksache damals erstens eine Verzehnfachung der damaligen Sparerfreibeträge auf 3 000/6 000 DM. Damit sollte eine Entlastung der kleinen und mittleren Sparer erreicht werden.
Zweitens forderte die SPD in dieser Drucksache die Besteuerung von sämtlichen Kapitalerträgen in der Praxis. Wörtliches Zitat:



Gunter Weißgerber
Als Instrument hierfür bieten sich vor allem Kontrollmitteilungen an. Es geht nicht an, daß Kapitalerträge auch nach den jüngsten Feststellungen des Bundesrechnungshofs bei der derzeitigen Besteuerungspraxis zum überwiegenden Teil unversteuert bleiben, während z. B. bei Arbeitnehmern jede verdiente Mark sofort der Lohnsteuer unterworfen wird.
Dem ist aus heutiger Sicht nichts hinzuzufügen — außer: Man hätte bereits damals auf die SPD hören sollen.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das müßte man öfter tun!)

Hinzufügen möchte ich, gewissermaßen zur Pointierung, ein Zitat unseres momentanen Finanzministers. Ich sage „momentan", da wir ja zur Zeit erleben, wie schnell gegenwärtig Minister wechseln. Es ist ein Zitat vom 6. Juni 1989:
Die Anhebung des Sparerfreibetrages ist deshalb auch ein Modell zur Steuervereinfachung. Die von der SPD geforderte Verzehnfachung wäre allerdings unseriös. Sie ist mit unserem Grundsatz einer vertrauenswürdigen und soliden Haushalts- und Finanzpolitik nicht vereinbar.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sieh mal an!)

Ich staune, in welcher Geschwindigkeit Grundsätze purzeln können.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ich erkläre es Ihnen dann!)

Heute schlägt Herr Waigel selbst eine Verzehnfachung vor.

(Zurufe von der SPD — Widerspruch bei der CDU/CSU)

— Gemach!
Warum diese Verspätung? Wir wissen doch alle, spätestens seit Herbst 1989: Wer zu spät kommt ... — Sie wissen.
Damit bin ich beim Positiven des vorliegenden Gesetzentwurfs. Die SPD begrüßt die deutliche Anhebung der Sparerfreibeträge, die über 80 % der Steuerpflichtigen von der Besteuerung ihrer Zinseinkünfte befreit.

(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/CSU]: Sehr gute Maßnahme!)

Damit wird endlich unsere Forderung erfüllt, die der Bundesfinanzminister kategorisch über viele Jahre hinweg ablehnte.
Doch sehen wir auch Probleme in der Begünstigung der Einkunftsart Kapitalvermögen gegenüber den anderen Einkunftsarten hinsichtlich der hohen Freibeträge.

(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/CSU]: Sind Sie dafür oder dagegen?)

— Ich bin noch nicht am Ende.
Wir akzeptieren diese Differenzen aber auf Grund der Inflationsanfälligkeit von Einnahmen aus Geldvermögen. Auch wir wissen, daß es für den Sparer
schwer einsichtig ist, warum Zinsen aus Kapitalanlagen, die aus bereits versteuertem Einkommen gebildet worden sind, der Steuerpflicht unterliegen sollen. Für den Sparer stellt der Zins die Brücke zwischen zukünftigem und gegenwärtigem Konsum her. Die Zinsbesteuerung wirkt daher wie eine Bestrafung des Sparens und als Anreiz zum Gegenwartskonsum. Dieser Entwicklung steuerlich entgegenzutreten dürfte die Ungleichbehandlung gegenüber anderen Einkünften mildern.
Allerdings wird der Bundesfinanzminister jetzt niemandem mehr verständlich machen können, warum er sich weiterhin einer Verbesserung des steuerlichen Grundfreibetrages für alle widersetzt. Ob es nun um das tarifliche Existenzminimum, den Vorsorgepauschbetrag, den Kinderfreibetrag oder den Arbeitnehmerpauschbetrag geht — alle diese Freibeträge liegen unter dem angestrebten Sparerfreibetrag. Der Staat fördert also das Einkommen aus Kapital stärker als das Einkommen aus Arbeit.
Dies ist ein beredter Ausdruck für die Umverteilung von unten nach oben, für die sozialpolitische Schieflage der Regierungspolitik.

(Hermann Rind [F.D.P.]: Das mußte ja kommen!)

Der SPD geht es hier nicht um Diskriminierung des Kapitaleigentums, wohl aber um die Würdigung lebendiger menschlicher Arbeit.
Wir halten es aber nicht für gerechtfertigt, den hohen Sparerfreibetrag auf Erträge aus unternehmerischer Betätigung zu gewähren. In der gestrigen Anhörung haben es die Verfassungsrechtler als gleichheitssatzwidrig angesehen, allen Unternehmen, die ihre gewerbliche Betätigung in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft organisieren und damit Gewinnanteile beziehen, für diese Kapitaleinkünfte den Sparerfreibetrag zu gewähren.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Hört! Hört! — Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Der einzige, der das gesagt hat, war sehr unsicher!)

— Er hat es aber gesagt.
Es ist nicht einzusehen, daß der verheiratete Inhaber einer Ein-Mann-GmbH 12 000 DM steuerfrei bezieht, während der Freiberufler seine Erwerbseinkünfte vollständig versteuern muß. Auch Sie waren da unsicher, wie ich gemerkt habe.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung schreibt in seiner Kritik des Zinsabschlaggesetzes der Bundesregierung ins Poesiealbum:
Die Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach einer umfassenden, den Steuergrundsätzen entsprechenden Besteuerung von Kapitalerträgen hätte sich erfüllen lassen, wenn die Bundesregierung konsequent Kontrollmitteilungen der Banken an die Finanzämter zur Pflicht gemacht hätte (Forderung der SPD).
Hier fehlt der Regierung eindeutig der Mut zur Tat, welcher aus meiner Sicht zu den — übrigens auch von



Gunter Weißgerber
der Bevölkerung eingeklagten — Primärtugenden bei Politikern gehört.

(Zuruf von der F.D.P.: Was war das?) — Primärtugenden.

In Art. 1 Punkt 15 der vorliegenden Drucksache 12/2501 plant die Bundesregierung die Einfügung eines § 45d, Mitteilungen an das Bundesamt für Finanzen. Gefordert werden lediglich Vor- und Zunamen sowie Geburtsdatum der Person, die Anschrift des Auftraggebers, die Anzahl der von dem Auftraggeber erteilten Freistellungsaufträge usw.
Die neue Quellensteuer wird also zu einem erheblichen bürokratischen Mehraufwand führen, ohne daß dieser mehr Steuerehrlichkeit nach sich zieht.

(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/CSU]: Das ist die Konsequenz!)

So müssen Sparer für jedes ihrer Konten einzeln einen Antrag auf Berücksichtigung eines Freibetrages stellen oder, wie bei Stoltenbergs Quellensteuer, eine Nichtveranlagungsbescheinigung beim Finanzamt beantragen.
Besonders ältere Menschen werden hier überfordert sein und damit diese Steuer letztlich berappen, obwohl sie möglicherweise unter die Freibeträge fallen würden. Säumige Steuerzahler jedoch sind nach dem vorliegenden Gesetzentwurf abermals nicht gezwungen, ihrer vollen Steuerpflicht nachzukommen. Soll der Ehrliche immer der Dumme sein?

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ja!)

Wir fordern ein Ende des gesetzlichen Schutzes der Steuerhinterzieher durch eine Aufhebung des § 30 a der Abgabenordnung, wie es bereits in den USA, in Dänemark und den Niederlanden üblich ist und im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juni 1991 klar zum Ausdruck kommt.
1989 begründete die Bundesregierung ihre Verweigerungshaltung bezüglich echter Kontrollmitteilungen sinngemäß damit, daß § 30a der Abgabenordnung im Interesse eines vertrauensvollen Verhältnisses des Bürgers zum Staat und aus kapitalmarktpolitischen Gründen notwendig sei. Das heißt im Klartext, daß weiterhin Rücksicht auf die Steuerhinterzieher genommen werden soll. Steuerehrliche werden ihr Finanzverhalten so oder so nicht ändern. Unehrliche werden durch wirkliche Sachaufklärung lediglich dazu veranlaßt, sich kapitalmarktpolitisch schädlich zu verhalten.

(Zuruf von der SPD: So ist es!)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1209100400
Herr Weißgerber, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jäger?

Gunter Weißgerber (SPD):
Rede ID: ID1209100500
Ja, bitte.

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID1209100600
Herr Kollege Weißgerber, nachdem Sie sich mit der Vorgeschichte dieser Gesetzgebung so eingehend befaßt haben, möchte ich Sie fragen, warum Sie nicht erwähnen, daß es gerade das Lernen aus den Fehlern der Quellensteuer, die damals Kapitalbeträge in zweistelliger Milliardenhöhe ins Ausland gejagt und damit zu weniger Ein-
nahmen des Fiskus und zu weniger faktischer Steuergerechtigkeit geführt hat, war, was uns jetzt veranlaßt hat, einen neuen und anderen Weg einzuschlagen? Es wäre doch redlich gewesen, auch diese Überlegungen zu erwähnen.

Gunter Weißgerber (SPD):
Rede ID: ID1209100700
Ich erkenne Ihre Schwierigkeiten mit diesem Gesetz insgesamt an — nachher komme ich noch dazu —, aber ich denke trotzdem, daß die Stichproben, zu denen ich ebenfalls noch komme, das bessere Mittel sind, die Steuererträge für diesen Staat einzubehalten, und daß damit die Gefahr der Kapitalabwanderung nicht mehr so groß ist. Das ist meine Auffassung dazu.
Ich denke, Gesetzestreue werden gegenüber Gesetzesverletzern benachteiligt. Sollen hier die Ehrlichen gehenkt und die Unehrlichen laufengelassen werden? Der Staat hat nicht das Recht, die Hinterziehung von Steuern billigend in Kauf zu nehmen, um Geldanleger nicht zu verprellen.

(Beifall bei der SPD — Hermann Rind [F.D.P.]: Zustimmung!)

Hier wird Schonung des Kapitalmarktes zwar erreicht, doch nur unter Preisgabe der Steuergerechtigkeit. Ich höre Karlsruhe läuten.
Diese Frage hat Verfassungsrang, nicht nur aus Sicht der SPD; denn es bedeutet die Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes schlechthin. Wir fordern statt der Freistellungsaufträge, die Zinserträge einzelner besser stichprobenartig zu kontrollieren.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Bitte nicht!)

Denn was war eigentlich der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Steuergerechtigkeit? Jeder soll entsprechend seinem persönlichen Steuersatz letztendlich zahlen. Eindeutig muß festgestellt werden: Die Bundesregierung hat ihre diesbezügliche Aufgabe nicht erfüllt.

(Beifall bei der SPD)

§ 30a der Abgabenordnung schützt weiterhin jeden Bankkunden, der es nach Abzug der 25%igen Quellensteuer versäumt, seine Kapitalerträge in seiner Steuererklärung anzugeben. Großverdiener mit einem Spitzensteuersatz von 53 % kommen hier im Falle unehrlicher Handlungsweise davon.

(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/CSU]: Eben nicht! — Gegenruf von der SPD: Eben doch!)

Sie bezahlen dann nicht einmal die Hälfte. — Ich habe von unehrlichen Steuerzahlern gesprochen. — Diese Art der Steuerhinterziehung bleibt somit folgenlos und ist damit quasi legal. Ohne Kontrollmitteilungen oder Stichproben sieht sich der Unehrliche durch Augenzudrücken am Ende noch belohnt. Hier muß uns übrigens die Koalition nicht mit unserem angeblich vorhandenen Neidkomplex kommen. Gerechtigkeit ist keine Sache des Neides, wohl aber eine Pflicht des demokratischen Staates.

(Beifall bei der SPD)

Aus unserer Sicht ist die vorhin beanstandete Ungleichbehandlung von Steuerzahlern somit nicht



Gunter Weißgerber
abgeschafft, sondern nur gemildert worden. Ich zitiere das Bundesverfassungsgericht:
Eine Steuerbelastung, die nahezu allein auf der Erklärungsbereitschaft des Steuerpflichtigen beruht, weil die Erhebungsregelungen Kontrollen der Steuererklärungen weitgehend ausschließen, trifft nicht mehr alle und verfehlt damit die steuerliche Lastengleichheit. Der Gesetzgeber muß die Steuerehrlichkeit deshalb durch hinreichende, die steuerliche Belastungsgleichheit gewährleistende Kontrollmöglichkeiten abstützen. Auch gesamtwirtschaftliche Gründe können einen Verzicht des Gesetzgebers auf eine hinreichende Kontrolle der im Veranlagungszeitraum abgegebenen Erklärungen des Steuerpflichtigen verfassungsrechtlich nicht rechtfertigen.
Die Bundesregierung behauptet doch wohl nicht im Ernst, daß die von ihr angedachten Mitteilungen als hinreichende Kontrollen im Sinne des Bundesverfassungsgerichts Existenzrecht haben. Oder wartet sie wieder einmal auf die höhere Rechtsprechung aus Karlsruhe? Aber an sich ist doch wohl die Politik in der Pflicht und nicht das Bundesverfassungsgericht.
Der Sachverständigenrat zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sieht es in seinem Jahresgutachten sarkastisch:
Allerdings kann man durchaus bezweifeln, daß das Vertrauen des Steuerhinterziehers in die Verschwiegenheit seiner Bank ein schutzwürdiges Gut ist.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist nichts Halbes und auch nichts Ganzes. In den „Finanznachrichten" des Bundesfinanzministeriums vom 28. Februar dieses Jahres erklärte Joachim Grünewald, der Parlamentarische Staatssekretär, daß einerseits der Zinsabschlag von 25 % dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts und andererseits der Verzicht auf Kontrollmitteilungen den Koalitionsbeschlüssen entspricht. Hier frage ich mich: Seit wann sind Koalitionsbeschlüsse dem Rang von Verfassungsgrundsätzen gleich? Eine Zweidrittelmehrheit besitzt diese instabile Koalition bekanntlich nicht. Das Grundgesetz läßt sich also nicht schnell einmal ändern.
Ich erkenne die Schwierigkeiten einer allseits befriedigenden Lösung des Problems an. Vor dem Hintergrund der Schlupflöcher in Europa, z. B. Luxemburg, ist Steuergerechtigkeit schwierig herstellbar. Die Bundesregierung ist aufgefordert, im Rahmen der EG hinsichtlich einer Harmonisierung auch auf dem Gebiet der Quellensteuer mit Nachdruck tätig zu werden. Daß dies eine schwache Hoffnung unsererseits auf den Elan der Bundesregierung ist, wissen wir. Immerhin schlummerte die Bundesregierung in dieser Sache bis März dieses Jahres und schlummert wahrscheinlich heute noch. Was bei der Mehrwertsteuer rasant vor sich ging, sollte doch auch an dieser Stelle möglich sein.
Die fehlende Harmonisierung auf diesem Gebiet in Europa ist für dieses Gesetz tragisch zu nennen.

(Beifall bei der SPD)

Nicht zuletzt steht hier, wie bereits gesagt, die Bundesregierung in der Pflicht. Höchst aufschlußreich
bemerkte Professor Arndt in der Anhörung zum vorliegenden Gesetzentwurf, daß ohne die Einreihung der Bundesregierung in die Harmonisierungsverweigererfront Luxemburg heute bereits kein Schlupfloch mehr wäre.

(Zuruf von der SPD: Hört! Hört! — Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das glauben Sie doch selber nicht!)

Doch erklären wir deutlich: Eine Grundgesetzwidrigkeit wird es mit der SPD bei diesem Gesetz trotz objektiv bestehender Schwierigkeiten nicht geben. Gehen Sie in sich! Sie kennen unsere Forderungen, welche sich bekanntlich mit den Auffassungen von Verfassungsrechtlern decken.
Danke schön!

(Beifall bei der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1209100800
Als nächster spricht der Abgeordnete Herr Rind. — Nein, Herr Faltlhauser.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Soll die F.D.P. schon vor der CSU kommen? — Heiterkeit)


Dr. Kurt Faltlhauser (CSU):
Rede ID: ID1209100900
Das wäre tatsächlich, Frau Kollegin, ein unglaublicher Vorgang.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am 27. Juni 1991 waren viele Experten und diejenigen, die sich dafür hielten, der Meinung, das Bundesverfassungsgericht habe dem Bundestag und der Bundesregierung eine Vorlage gemacht, die praktisch nicht zu lösen sei. Ich erinnere an Zeitungsüberschriften wie „unlösbares Problem", „Quadratur des Kreises" und noch drastischere Überschriften.
Heute können wir feststellen: Von dieser Panikstimmung ist nichts übriggeblieben. Die Vorschläge der Zinskommission sind von der Öffentlichkeit, von der Fachwelt und — Herr Staatssekretär Dr. Grünewald hat schon darauf hingewiesen — auch von den Kapitalmärkten weit überwiegend positiv aufgenommen worden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ein kompliziertes Problem ist jetzt in ein Gesetz gefaßt worden, das für die Bürger und für das gesamte wiedervereinigte Land eine gute Lösung bringen wird.
Denjenigen allerdings, die uns mit Patentrezepten — gewissermaßen mit erhobenem Zeigefinger — Belehrungen erteilen wollten und wollen, müssen wir sagen, daß bei diesem Problem mehrere wichtige Ziele gleichzeitig in Einklang gebracht werden müssen und nicht immer nur ein einziges Spezialziel gesehen werden darf.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Ich nenne die fünf Ziele, die wir gleichzeitig in Einklang bringen müssen.
Erstens Verfassungsmäßigkeit. Ich betone dabei: Wir stützen uns nicht auf die Einschätzung der Verfassungsmäßigkeit irgendeines Verfassungsrechtlers,



Dr. Kurt Faltlhauser
sondern wir beziehen uns auf den Text des vorliegenden Urteils. Das ist die entscheidende Grundlage.

(Ludwig Eich [SPD]: Das tun Sie doch nicht!)

Zweitens. Wir müssen die Regelung EG- und auslandsverträglich gestalten. Es wäre am Vorabend des Binnenmarktes geradezu absurd, eine nationale Regelung zu schaffen, die eine Harmonisierung der Kapitalertragsbesteuerung erschwert und nicht erleichtert.
Drittens. Wir mußten auf den Kapitalmarkt Rücksicht nehmen. Im Rahmen der Arbeit der Zinskommission hat uns die Bundesbank genaue Auskunft über die drastische Kapitalbewegung bei der ersten sogenannten Quellensteuer gegeben, die Finanzminister Waigel deshalb, wie ich meine — gerade auch aus heutiger Sicht —, richtigerweise abgeschafft hat.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1209101000
Herr Abgeordneter Faltlhauser, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Poß?

Dr. Kurt Faltlhauser (CSU):
Rede ID: ID1209101100
Ich würde den Gedanken gerne noch zu Ende führen, und dann kommt Herr Poß. — Mit der alten Quellensteuer würden wir uns heute schwertun, die Finanzierung der deutschen Einheit über den Kapitalmarkt zu bewältigen. — Jetzt der Kollege Poß, bitte schön.

Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1209101200
Herr Kollege Faltlhauser, da Sie die Notwendigkeit der Harmonisierung in der EG zu Recht erwähnt haben, möchte ich fragen: Können Sie schildern, welche Initiativen die Bundesregierung im abgelaufenen Jahr, seit Vorliegen des Urteils, ergriffen hat, um diese Harmonisierung zu forcieren?

Dr. Kurt Faltlhauser (CSU):
Rede ID: ID1209101300
Herr Kollege Poß, ich weise Sie darauf hin, daß die EG-Kommission ihre ursprünglichen Pläne zur Harmonisierung ausdrücklich zurückgezogen hat, weil sie erkannt hat, daß eine Harmonisierung nicht möglich ist. Die Bundesregierung ihrerseits hat heftig darauf gedrängt, daß eine Harmonisierung stattfindet. Auf Grund des Widerstands anderer Länder ist das nach meiner Kenntnis nicht zustande gekommen.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1209101400
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU). Aber natürlich. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Bitte.

Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1209101500
Ist es nicht vielmehr so, Herr Kollege Faltlhauser, daß nach der Abschaffung der Quellensteuer, nach dem Einstand von Herrn Waigel — ein Einstand mit Blick auf die Banken — die Position der Deutschen als stärkster Partner in dieser Frage nachhaltig erschüttert war und dadurch notwendige Harmonisierungserfolge auf Grund des Vorgehens der deutschen Bundesregierung in Frage gestellt wurden?

Dr. Kurt Faltlhauser (CSU):
Rede ID: ID1209101600
Herr Kollege Poß, ich habe aus der damaligen Zeit noch sehr gut in
Erinnerung, wie die übrigen EG-Partner gegen das Vorgehen der Bundesrepublik Deutschland heftig protestiert haben, eine Quellensteuer einseitig auf nationaler Ebene zu schaffen. Sie waren damals der Auffassung, daß dies eine Festlegung zu Lasten der übrigen Länder wäre. Sie wollten auf jeden Fall eine harmonisierte und eine spätere Lösung. Ich glaube also, Sie liegen mit Ihrer Auffassung falsch, belegbar an Hand von Dokumenten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich darf, Frau Präsidentin, meine Erläuterung der Ziele, die wir miteinander in Einklang bringen müssen, fortsetzen. — Wir müssen, wie schon gesagt, auf den Kapitalmarkt Rücksicht nehmen. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß die Bundesbank uns genaue Auskunft über die entsprechenden Kapitalbewegungen nach der Einführung der damaligen Quellensteuer gegeben hat.
Darauf haben sich gestern in der Anhörung und vorher schon in der Presse Vertreter eines Wirtschaftsforschungsinstituts eingelassen und die Auffassung vertreten, daß die Kapitalflucht für die deutsche Kapitalmarktsituation völlig irrelevant sei, da das fliehende Geld im Rahmen der internationalen Kapitalmärkte wieder zurückfließe. Solche Milchmädchenrechnungen von einem Experten sind sehr schwer erträglich. Ich mußte mich in der Anhörung gestern sehr zurückhalten. Die Bundesbank hat denn auch deutlich gemacht, daß dieser Rückholeffekt teuer zu stehen kommt. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn sich manche Wirtschaftsforscher etwas mehr an der praktischen Erfahrung der Bundesbank und der Banken orientieren würden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Joachim Poß [SPD]: Jetzt sollen sich die Forscher schon von Interessen leiten lassen!)

— Wissen Sie, wenn man als Volkswirt solche Äußerungen von sogenannten Experten hört, dann tut das weh; das darf ich hier auch einmal sagen.

(Joachim Poß [SPD]: „Sogenannten Experten" ? RWI?)

Das vierte Ziel, das wir gleichzeitig erreichen müssen, ist die Schonung der Bezieher kleiner und mittlerer Kapitaleinkünfte. Nicht zuletzt die Angst der „Oma mit dem Sparbuch" war einer der entscheidenden psychologischen Gründe für die negative Aufnahme der alten Quellensteuer. Herr Kollege Jäger hat schon auf diese Erfahrungen und die Schlußfolgerungen aus diesen Erfahrungen hingewiesen.
Schließlich sollte unnötiger bürokratischer Aufwand vermieden werden, und zwar sowohl bei den Finanzverwaltungen als auch bei den Kreditinstituten. Wer erinnert sich nicht an die Schwierigkeiten mit den Nichtveranlagungsbescheinigungen und den komplizierten Antragswegen bei dem alten Gesetz? — Ich glaube, wir alle erinnern uns daran.
Im Ergebnis müssen wir feststellen, daß die gleichzeitige Erfüllung dieser fünf Hauptzielsetzungen mit



Dr. Kurt Faltlhauser
Sicherheit keine leichte Aufgabe war und natürlich auch Kompromisse notwendig gemacht hat.

(Joachim Poß [SPD]: Kompromisse zugunsten von Steuerhinterziehern!)

Wir mußten von vornherein klar sehen, daß wir kein ideales Patentrezept vorlegen können, sondern nur einen ordentlichen Kompromiß. Ich glaube, daß wir einen tragfähigen Kompromiß gefunden haben, der die Erfüllung der fünf genannten Ziele in ausreichendem Maße sicherstellt.
Lassen Sie mich aber jetzt auf einige Einzelaspekte des Gesetzes eingehen. Herr Weißgerber hat sich zu den verfassungsmäßigen Aspekten schon sehr kritisch geäußert. Herr Poß hat sich gestern in einer Presseerklärung zu der Behauptung verstiegen, dieses Gesetz sei ein Scherbenhaufen.

(Joachim Poß [SPD]: Zutreffende Umschreibung!)

Lieber Herr Poß, ich glaube, daß Sie uns als seriöser Gesprächspartner erhalten bleiben wollen. Deshalb werden Sie das sicherlich bald wieder zurückziehen. Oder sind Sie tatsächlich so sehr beeindruckt von Äußerungen von Professoren, die die Opposition ihrerseits handverlesen aus einer großen Zahl von Verfassungsrechtlern zusammengesucht hat und die dann — gewissermaßen dankbar für die Einladung der Opposition — bestimmte Aspekte unterstrichen haben?

(Joachim Poß [SPD]: Das war ein Eigentor, Herr Kollege!)

Ich glaube, die Spezialmeinung von zwei Professoren in diesem Land kann vielleicht einen Kratzer ins Familienporzellan bringen; für einen Scherbenhaufen können sie mit Sicherheit nicht sorgen.

(Eike Ebert [SPD]: Sie können froh sein, daß Ihre Verfassungsrechtler nicht da waren!)

Im übrigen gab es gerade bei diesen Experten im Hinblick auf das, was Herr Weißgerber gerade zur Abgrenzung von Zinserträgen, Erträgen von GmbHs usw. gesagt hat, in höchstem Maße Unsicherheit. Diesen Fragen waren sie bei Nachfrage im Finanzausschuß erkennbar nicht gewachsen.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1209101700
Herr Faltlhauser, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Abgeordneten Matthäus-Maier?

Dr. Kurt Faltlhauser (CSU):
Rede ID: ID1209101800
Bitte schön, Frau Kollegin.

Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1209101900
Herr Faltlhauser, wollen Sie bitte bestätigen, daß bei der Anhörung nur zwei Verfassungsrechtler anwesend waren, obwohl vier geladen waren: zwei benannt von der SPD, zwei benannt von Ihnen, daß aber die von Ihnen benannten nicht gekommen sind — ich weiß nicht, warum, aber sie waren nicht da —?
Würden Sie weiter bestätigen, daß die, die da waren, beide gesagt haben, Ihr Gesetzentwurf sei verfassungswidrig, und daß sich die von Ihnen benannten nicht einmal — was ganz ungewöhnlich
ist, wir waren beide schon bei vielen Anhörungen — schriftlich geäußert haben?

Dr. Kurt Faltlhauser (CSU):
Rede ID: ID1209102000
Ich bedanke mich sehr für diese Frage, weil ich so noch einmal vertiefen kann, um was es mir hier geht.

(Ludwig Eich [SPD]: Vielleicht antworten Sie auch auf die Frage!)

— Das tue ich doch gerade, Herr Kollege. Durch die Beantwortung dieser Frage kann ich noch einmal unterstreichen, um was es mir geht. Die verfassungsrechtliche Debatte, die heute auch in den Medien so starken Niederschlag gefunden hat, ist von zwei Wissenschaftlern ausgelöst worden, die von der SPD handverlesen — ich wiederhole es — in Deutschland zusammengesucht worden sind, die im übrigen der SPD bei entsprechenden Anhörungen immer zur Verfügung stehen; die kennen wir schon.

(Joachim Poß [SPD]: Sie vertreten die in der Wissenschaft eindeutig vorherrschende Meinung!)

Die beiden anderen Professoren — Frau Kollegin, nehmen Sie das doch bitte einmal zur Kenntnis — konnten — das wußten wir von der Fraktion nicht; ich habe kritisiert, daß andere es auch nicht wußten — aus technischen Gründen nicht kommen. Sie sind zum Teil gar nicht im Lande. Ein Professor ist, soweit ich weiß, in den USA. Bitte nehmen Sie das zur Kenntnis. Es ist für mich persönlich ärgerlich gewesen, daß sie nicht dasein konnten, weil ich weiß, daß sie dieser ablehnenden verfassungsrechtlichen Beurteilung mit Sicherheit deutlich widersprochen hätten.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie bestätigen also meine Frage?)

— Ich bestätige, die Verfassungsexperten waren ausschließlich von der SPD geladen; sie waren handverlesen aus einer Vielzahl möglicher Verfassungsexperten in der Bundesrepublik Deutschland ausgesucht. Das relativiert doch die Aussage, darum geht es mir!

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1209102100
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Eich?

Dr. Kurt Faltlhauser (CSU):
Rede ID: ID1209102200
Nein, ich würde jetzt gern in meinem Text fortfahren. Vielleicht sind Sie zufriedener, wenn ich etwas zum Inhalt der verfassungsrechtlichen Einwendungen sage.

(Ludwig Eich [SPD]: Wollen Sie eigentlich die Dignität der beiden Wissenschaftler in Frage stellen?)

— Ich stelle ihre Auffassung in Frage, und dazu komme ich jetzt.

(Ludwig Eich [SPD]: Sie wollen die Dignität der beiden Wissenschaftler in Frage stellen!)

Die verfassungsrechtlichen Auffassungen und Kritikpunkte gehen auf zweierlei zurück.

(Zurufe von der SPD)




Dr. Kurt Faltlhauser
— Herr Kollege, ich nehme doch an, daß Sie inhaltliche Aufklärung wünschen. Jetzt hören Sie einmal gut zu! Dann werden Sie vielleicht klüger.
Erstens. Die Freibeträge sind unter dem Aspekt kritisiert worden, ob sie nicht zu hoch sind. Zweitens wurde die mangelnde Verifikation oberhalb der Abschlagsgrenze von 25 % kritisiert.
Zum ersten Kritikpunkt: Es ist völlig unbestritten, daß Freibeträge in Höhe von 6 000 bzw. 12 000 DM gegenüber anderen Einkommen — vorsichtig gesagt — sehr gut ausgestaltet sind. Deshalb haben wir uns auch in der letzten Debatte zur Quellensteuer im Jahre 1988 nicht dazu bewegen lassen, diese Freibeträge, wie von der SPD damals gefordert, drastisch zu erhöhen. Erst der Text des Verfassungsgerichtsurteils hat uns gewissermaßen dazu aufgefordert. In dem Urteil vom 27. Juni wird dem Gesetzgeber ausdrücklich anheimgestellt, eine deutliche Erhöhung der Freibeträge vorzunehmen. Die Verfassungsrichter begründen das auch.
In dem Urteil heißt es, eine deutliche Erhöhung der Freibeträge sei möglich unter dem Aspekt der Altersvorsorge. Um die Altersvorsorge für den Normalbürger dauerhaft zu sichern, könne — so meinten die Verfassungsrichter — der Gesetzgeber bis zu einer gewissen Größenordnung auf die Besteuerung verzichten.
Das Verfassungsgericht hat weiter darauf hingewiesen, daß die Freibeträge eine Lösungsmöglichkeit in bezug auf die erhöhte Inflationsanfälligkeit langfristig angelegter Spargelder seien. Da eine Indexierung der Inflationsverluste nicht in Frage komme, sei ein hoher Freibetrag ein möglicher Ausgleich für den Inflationsverlust; so das Verfassungsgericht.
Konsequenterweise haben Ihre beiden Professoren

(Joachim Poß [SPD]: Das sind nicht unsere Professoren! Das sind Professoren, die wir für die Anhörung vorgeschlagen haben! Unglaublich!)

— die von Ihnen eingeladenen Professoren — in der gestrigen Anhörung die Freibeträge selbst in der Größenordnung von 6 000 bzw. 12 000 DM nicht für verfassungswidrig erklärt. Aber ich stelle Ihnen anheim, hier eine Kürzung der Freibeträge zu fordern. Der Dank der Bürger wird Ihnen dann sicherlich gewiß sein.
Der zweite Einwand bezüglich der Verfassungsmäßigkeit ist ernster zu nehmen. Die Zweifel stützen sich auf die Vorgabe des Verfassungsgerichts, daß die Steuerpflichtigen nicht nur materiellrechtlich, sondern auch tatsächlich gleich belastet werden müssen,

(Joachim Poß [SPD]: Herr Kreile hat damals „verfassungswidrig" geschrien, als wir die Verzehnfachung auf der damaligen Basis vorgenommen haben! Das ist hier reine Geschichtsklitterung!)

daß das Deklarationsprinzip durch das Verifikationsprinzip zu ergänzen ist. Die Kritiker behaupten nun, daß dem Verifikationsprinzip oberhalb der Grenze von 25 % nicht ausreichend Genüge getan sei. Ich
halte diese Auffassung zwar für diskutierbar, aber im Ergebnis für falsch, und zwar aus folgenden Gründen:
Das Urteil, das für uns allein Leitlinie bei der Entscheidung war, hat nicht nur einen Vorwegabzug der Kapitalertragsteuer, eine Quellensteuer, als mögliche Variante genannt, sondern — Herr Poß, jetzt passen Sie einmal auf, damit ich das im Ausschuß nicht noch drei- oder viermal erläutern muß — ausdrücklich eine Abgeltungssteuer mit dem expressis verbis genannten Satz von 25 % oder — alternativ —30 % als Lösung aufgeführt.

(Claus Jäger [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Mit einer Abgeltungssteuer verzichtet der Fiskus auf jegliche Steuermehreinnahme oberhalb der Grenze des Abgeltungssatzes.

(Claus Jäger [CDU/CSU]: So ist es!)

Das heißt, daß auch derjenige, der 53 % Steuern bezahlen müßte, seiner Steuerpflicht mit der Abführung von 25 % seiner Kapitalerträge abschließend Genüge getan hat. Oberhalb der 25-%-Grenze bedarf es also bei diesem Vorschlag, den das Verfassungsgericht ausdrücklich für möglich hält und für verfassungskonform ansieht, keinerlei Verifikationsprinzips mehr. Der Staat verzichtet auf die Besteuerung dieser Einkommen, obwohl eine Besteuerung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip diese Besteuerung eigentlich notwendig machen müßte.

(Joachim Poß [SPD]: Soweit stellen Sie das richtig dar!)

Der Zinsabschlag im vorliegenden Gesetz in Höhe von 25 % erfüllt zunächst die gleiche Bedingung wie die Abgeltungssteuer. Er stellt eine Abführung von 25 % sicher. Der Zinsabschlag geht aber — im Gegensatz zur Abgeltungssteuer — einen Schritt weiter. Er ermöglicht eine Reihe von Maßnahmen, die die Bezahlung oberhalb der Grenze des Zinsabschlags sicherstellen sollen.

(Claus Jäger [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Ich nenne fünf Maßnahmen, Herr Kollege Rind:
Erstens. Liegen Anhaltspunkte vor, daß Kapitaleinkünfte verschwiegen werden, so sind oberhalb der 25-%-Grenze Nachforschungen bei den Banken anzustellen, z. B. durch Steuerfahndung, aber auch durch die Veranlagungsstelle des Finanzamtes.
Zweitens. Bei Betriebsprüfungen werden regelmäßig auch die Einkommen- und Vermögensteuer des Betriebsinhabers geprüft. Dies ist eine weitere Verifikation.
Drittens. In Erbfällen kann verifiziert werden. Auch das ist in nicht geringem Ausmaß gewissermaßen eine Stichprobe auf die Richtigkeit der Abführung.
Viertens. Jeder Steuerpflichtige muß bei der Einkommensteuer-Erklärung eine Anlage KSO ausfüllen. Er muß auch unter diese KSO-Anlage seine Unterschrift setzen. Das ist gewissermaßen die gelbe Karte für die latente Steuerunehrlichkeit, und diese gelbe Karte wird ihre Wirkung sicherlich nicht verfehlen.



Dr. Kurt Faltlhauser
Fünftens. Die Kreditinstitute bringen seit Anfang 1989 — das haben wir ja nach der Abschaffung der alten Quellensteuer nicht revidiert — auf jeder Zinsgutschrift einen Hinweis an, daß Zinsen steuerpflichtig sind. Auch dies ein Signal für mehr Steuerehrlichkeit.

(Ludwig Eich [SPD]: Wo ist die Kontrolle?)

Ich will noch einmal betonen: Es wird dadurch das gleiche erfüllt wie bei der Lösung, die das Verfassungsgericht ausdrücklich genannt hat — für mich erstaunlicherweise —, und wir gehen sogar noch darüber hinaus und verifizieren oberhalb der Grenze von 25 %. Das ist ein Vorschlag „Verfassungsgericht plus". Deshalb sind wir nach eingehender Diskussion sehr sicher, daß dieser Vorschlag verfassungsgemäß ist.
Meine Damen und Herren, wenn wir die Alternative der Opposition aufgreifen, nämlich Kontrollmitteilungen,

(Ludwig Eich [SPD]: Stichproben!)

dann wird die Steuerflucht mit Sicherheit noch größer sein. Dadurch werden Sie die Ungleichheit mit Sicherheit vergrößern, weil diejenigen, die sich der Steuer entziehen wollen, ins Ausland gehen werden. Diese Möglichkeit besteht immer. Sie werden mit Ihrem Vorschlag einen Vertreibungseffekt haben, der gigantisch ist.
Sie, Herr Kollege Poß, haben mir gerade „Die Zeit" in die Hand gegeben, in der es heißt: „Flucht in die Fonds — In diesem Jahr beschert die Furcht vor der neuen Quellensteuer der Branche einen Boom". Ich muß Ihnen sagen: Wenn Ihre Vorstellungen zum Durchbruch kämen, dann wäre das ein sensationeller Boom für all diejenigen, die irgendwelche Anlagen im Ausland anbieten.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1209102300
Herr Faltlhauser, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Poß?

Dr. Kurt Faltlhauser (CSU):
Rede ID: ID1209102400
Ich gehe jetzt auf keine Zwischenfrage mehr ein, weil ich noch einige Punkte ansprechen möchte.

(Joachim Poß [SPD]: Ihnen gebe ich keine Zeitung mehr! Die ganzen Artikel sind entstellt wiedergegeben! — Eike Ebert [SPD]: Zeitungen nennen und dann keine Zwischenfragen beantworten!)

Wenn wir Ihre Alternativen aufgreifen würden, dann würden wir ein Massenproblem zu bewältigen haben: Bei 300 Millionen Konten hätten wir selbst bei einer nur 1 %igen Stichprobe jährlich 3 Millionen Mitteilungen. Das würde, wie gestern in der Anhörung betont wurde, für jedes Finanzamt etwa 12 000 Kontrollmitteilungen bedeuten, die zuzuordnen und auszuwerten sind. Meine Damen und Herren, die aktuelle Aufgabe in unserem Lande ist doch nicht, Bürokratie aufzubauen, sondern wir müssen Bürokratie abbauen, weil wir uns überbordende Bürokratien nicht mehr leisten können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Eike Ebert [SPD]: Bloß, Sie machen es nicht! —Joachim Poß [SPD]: Sind Freistellungsaufträge keine Bürokratie?)

Bei allen Kontrollverfahren gibt es — vor der Prüfung ausgeschriebener Kontrollmitteilungen — das Problem ihrer Zuordnung an das zuständige Finanzamt und die richtige Steuerakte.

(Joachim Poß [SPD]: Der arbeitet nur mit Buhmännern! So unseriös habe ich Herrn Faltlhauser noch nie erlebt! Zutiefst unseriös! Kein seriöser Gesprächspartner mehr!)

Ich hätte noch eine Fülle von Argumenten gegen Ihre Vorstellungen, aber aus Zeitgründen will ich mir die ganzen Argumente gegen eine unglaubliche Vorstellung von Rasterfahndung gegenüber den Sparern schenken.
Ich will an den Schluß einen Appell stellen, liebe Kollegen.

(Joachim Poß [SPD]: Offenbar waren die Banken bei Ihnen doch sehr nachhaltig am Werke!)

Ich weiß, daß Sie geneigt sind — gegenwärtig in besonderer Weise —, Blockadepolitik zu betreiben.

(Joachim Poß [SPD]: Sie sind der reinste Bankenlobbyist!)

Bei der Mehrwertsteuer, wo die Blockade von Herrn Lafontaine betrieben wurde, ist das gründlich schief gegangen. Ich habe Verständnis, daß Sie in dem einen oder anderen Punkt Ihre oppositionellen Signale zeigen wollen. Aber in dieser Frage, bei der Besteuerung des Kapitals und der Zinserträge, bitte ich Sie doch, nicht nur populistisch auf die Bürger zu schauen, sondern vor allem auch auf die Kapitalmärkte.

(Ludwig Eich [SPD]: Auf die Banken!)

Wenn Sie weiterhin die Öffentlichkeit und diejenigen, die handeln müssen, die Banken und die Verwaltungen, durch Ihre Blockadepolitik im Bundesrat in Unsicherheit halten, wird der Effekt sein, daß das Kapital aus diesem Land flieht und die Zinsen nach oben gehen.

(Joachim Poß [SPD]: Koalition der Steuerhinterzieher!)

Die Verunsicherung in diesem Land wird sich noch weiter verstärken. Bedenken Sie bitte auch — das wurde gestern in der Anhörung noch einmal betont —: Die Administration in den Banken, in den Kreditinstituten insgesamt und in den Finanzverwaltungen braucht mindestens ein halbes Jahr Vorlauf, um sich vorzubereiten.

(Joachim Poß [SPD]: Deswegen wirbt man schon seit Monaten, daß das Geld nach Luxemburg gehen soll!)

Wenn Sie blockieren und wir im Juli nicht zu Ende kommen, wird ab 1. Januar 1993 keine Verpflichtung mehr bestehen, Kapitalerträge zu besteuern. Dann sind wir in einer Bananenrepublik. Die Blockadepolitik der SPD kann dazu führen. Ich bitte Sie, dieses Land vor einem derartigen Unsinn zu bewahren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Joachim Poß [SPD]: Sie legen Bananenschalen aus, auf denen Sie selbst ausrutschen!)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1209102500
Als nächster spricht der Abgeordnete Rind.




Hermann Rind (FDP):
Rede ID: ID1209102600
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wohl selten hat ein Urteil im Bereich des Steuerrechts soviel Wirbel ausgelöst wie das Zinsurteil vom 27. Juni 1991. Als die Koalition als Reaktion auf dieses Urteil am 28. August eine Koalitionsarbeitsgruppe, die Zinskommission, beauftragte, Lösungsmöglichkeiten zur gerechteren Erfassung der Zinserträge auf der Grundlage dieses Urteils zu suchen, schien dieser Auftrag ein Himmelfahrtskommando für die beauftragten Politiker zu sein. Als die Zinskommission am 11. November 1991 ihre Vorschläge vorlegte, gab es nicht nur in der Koalition, sondern auch in weiten Teilen der interessierten Öffentlichkeit großes Lob für die geleistete Arbeit. Es war wohl allen an dieser Arbeit Beteiligten klar, daß kritische Anmerkungen aus der Fachwelt folgen würden. In einer lobenden Stellungnahme äußerte der Präsident der Deutschen Bundesbank, Professor Schlesinger: Mögen sich die Teufel, die im Detail liegen könnten, nicht als solche erweisen.
Die gestrige Anhörung hat gezeigt, daß, wenn auch keine Teufel, so doch eine Reihe von Teufelchen noch zu besiegen sind. Aber das werden wir im Gesetzgebungsverfahren leisten.
In der gestrigen Anhörung wurde der Teufel der Verfassungswidrigkeit an die Wand gemalt. Dabei bezog sich die Kritik insbesondere darauf, daß das System des Zinsabschlags von 25 % als Anrechnungsteuer die Besteuerungsgleichheit verletzen würde, weil das Steuerpflichtige mit einem Steuersatz von über 25 % weiterhin zur Steuerhinterziehung anreize. Bei einer vorläufigen Bewertung der geäußerten Bedenken komme ich zu dem Ergebnis, daß sie nicht durchgreifend sind.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich halte sie nicht für unberechtigt, aber sie sind nicht durchgreifend. Die Beurteilung, daß eine gleich hohe Abgeltungsteuer verfassungskonform ist, während die Anrechnungsteuer das nicht sei, ist für mich nicht schlüssig und auch aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht zwingend abzuleiten. Irgendwie scheint mir das sozusagen eine etwas über juristische Beurteilung zu sein. Überlegen Sie einmal: Eine Anrechnungsteuer in gleicher Höhe soll verfassungswidrig sein, eine Abgeltungsteuer, die überhaupt keine Höherbesteuerung mehr zuläßt, soll jedoch verfassungskonform sein. Bei dem, der ein gesundes Rechtsempfinden hat, stößt sich hier einiges.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1209102700
Herr Rind, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Eich?

Hermann Rind (FDP):
Rede ID: ID1209102800
Bitte schön.

Ludwig Eich (SPD):
Rede ID: ID1209102900
Herr Kollege, könnten Sie bestätigen — und dazu Stellung nehmen —, daß der Punkt der verfassungsrechtlichen Kritik darin bestand, daß der Staat nicht einerseits eine Einkommensteuerpflicht schaffen, dann aber über § 30a der Abgabenordnung sagen kann: Ich kümmere mich nicht darum? — Das waren die Worte. Können Sie also bestätigen, daß es die Frage der Kontrolle war, die nicht ausreichend gelöst ist?

Hermann Rind (FDP):
Rede ID: ID1209103000
Nein, das kann ich nicht bestätigen, weil auch von den Verfassungsrechtlern bestätigt wurde, daß es zulässig sei, ein System der Besteuerung ohne Kontrolle im Rahmen der Abgeltungsteuer anzuwenden. Ich kritisiere die Professoren nur insoweit ein bißchen —mit Kritik am Verfassungsgericht soll man ja sehr vorsichtig sein —, als man bei der Abgeltungsteuer etwas anderes gelten läßt als bei der Anrechnungsteuer. Das ist der Punkt, den ich kritisiere.

(Joachim Poß [SPD]: Weil es ein anderes System ist!)

— Ich weiß das. Ich kenne die systematischen Unterschiede. Mit diesem Thema werden wir uns noch im Ausschuß und in den Arbeitsgruppen befassen. Wir werden das dort sorgfältig abwägen und überprüf en.
Zur Lösung des Problems der steuerlichen Erfassung von Zinserträgen gibt es viele Möglichkeiten. Wir haben sie im Bericht der Zinskommission ausführlich dargestellt. Die für den Bürger angenehmste wäre die Steuerfreiheit von Zinserträgen. Dies verbietet sich aus grundsätzlichen und aus fiskalischen Überlegungen. Dann gibt es die Möglichkeit von Kontrollverfahren, wovon wir in dem Bericht auch eine Vielzahl von Varianten aufgezeigt haben. Ich glaube, wir haben dort alle erfaßt.
Dann gibt es die Möglichkeit des Steuerabzugsverfahrens, auch dies wieder unterteilt in Erfassung an der Quelle und Erfassung an der Zahlstelle. Bei der Erfassung an der Zahlstelle gibt es die Abgeltung- und die Anrechnungsteuer. Das sind die Themen, mit denen wir uns bei der Zinsbesteuerung insgesamt auseinandersetzen müssen.
Nun steht im Mittelpunkt der Überlegungen der SPD zum Kontrollverfahren eine Streichung des § 30a Abs. 3 der Abgabenordnung. Das wurde gestern in der Anhörung von Frau Matthäus-Maier noch einmal ausdrücklich bestätigt.
Was steht denn nun in § 30a Abs. 3 der Abgabenordnung? Dort steht, daß Konten und Depots anläßlich der Außenprüfung bei einem Kreditinstitut nicht zwecks Nachprüfung der ordnungsgemäßen Versteuerung festgestellt oder abgeschrieben werden dürfen und insoweit auch die Ausschreibung von Kontrollmitteilungen unterbleibt.
Wenn nun die SPD von der Streichung dieser Vorschrift ausgeht und weiter folgert, daß dann im Wege von Stichproben eine Überprüfung der erklärten Zinsen vorgenommen werden könne, dann muß man sich dem Stichprobenverfahren zuwenden. Beim Stichprobenverfahren aber muß, wenn man der Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach Besteuerungsgleichheit gerecht werden will, eine Zahl — jetzt greife ich nur einmal das auf, was Kollege Faltlhauser gesagt hat — von 6 Millionen Konten überprüft werden. Das sind 2 %; das ist das Minimum. Gestern in der Anhörung war die Rede von mindestens 5 %. Wenn vom Steuerbürger ein gewisses Risiko der Aufdekkungsgefahr gesehen werden soll, dann muß eine



Hermann Rind
gewisse Zahl von Stichproben vorgenommen werden.

(Joachim Poß [SPD]: Bei der Freistellungsbescheinigung haben wir das nicht!)

Für die Freistellungsbescheinigung haben uns gestern die Experten, auch die Deutsche Steuergewerkschaft, bestätigt, daß dies ein Verfahren sei, das bei der angestrebten Regelung über das Bundesamt für Finanzen gut handhabbar sei.
Wenn Sie im übrigen § 30a Abs. 3 abschaffen und Stichproben einführen wollen, dann wollen Sie doch wohl trotzdem einen Sparerfreibetrag gewähren. Das Problem des Sparerfreibetrages und seiner Berücksichtigung hätten Sie also beim Stichprobenverfahren ebenso, wie wir es bei dem anderen Weg haben, den wir gewählt haben.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1209103100
Herr Kollege Rind, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Hampel?

Manfred Hampel (SPD):
Rede ID: ID1209103200
Herr Kollege, können Sie mir zustimmen, daß die von Ihnen genannten Zahlen nicht seriös sein können, da noch nicht einmal die Banken wußten, in welchem Umfange für die vorhandenen Konten Freistellungsaufträge erteilt werden könnten?

Hermann Rind (FDP):
Rede ID: ID1209103300
Das kann ich Ihnen, Herr Kollege Hampel, nicht bestätigen. Wir sprechen über zwei verschiedene Dinge. Wie viele Freistellungsaufträge kommen, das können die Banken nicht sagen; wie viele Konten existieren und überprüft werden müßten, das wissen wir nun definitiv und zuverlässig. Das sind also zwei völlig verschiedene Dinge. Bei den Konten besteht Sicherheit: 300 Millionen ist die Zahl. Ich bin überzeugt, daß auf welche Weise auch immer, ob durch Lockerung oder Aufhebung des Bankgeheimnisses, Prüfungsmöglichkeiten eröffnet werden, die schon an bürokratischen Schwierigkeiten scheitern werden.
Aber wesentlich wichtiger ist natürlich die auf jeden Fall in großem Stil einsetzende Kapitalflucht, die der Wirtschaft, dem Staat, den Ländern und Gemeinden die finanzielle Grundlage für die Finanzierung des Aufbaus in den neuen Ländern und aller anderen Aufgaben entziehen würde.
Oder man treibt die Anleger in die anonymen Tafelgeschäfte. Das ist auch eine Frage, die gestern in der Anhörung eine Rolle gespielt hat: Wie wollen Sie Tafelgeschäfte kontrollieren? Die Konsequenz wäre: Abschaffung der Tafelgeschäfte. Also wären auch hier Eingriffe in das Kapitalmarktgeschehen notwendig, wenn man einem Stichprobenverfahren und einer Lockerung oder Aufhebung des Bankgeheimnisses näherträte.
Auch das Bundesverfassungsgericht hat dieses Problem gesehen und deswegen dem Gesetzgeber freigestellt, auf welchem Wege er die Besteuerungsgleichheit herstellt.

(Joachim Poß [SPD]: Nur auf diesem Wege erreichen Sie die eben nicht! Das wissen Sie doch auch!)

Nun haben wir uns bei den weiteren Überlegungen in der Zinskommission und in der Koalition auch mit einer Abgeltungsteuer beschäftigt. Ich möchte nicht verschweigen, daß ich sehr viel Sympathie für ein solches System habe, da es am ehesten und besten die Besteuerung der Substanz verhindert.
Dies an einem einfachen Beispiel dargestellt: Bei einem Zinsertrag von 8 % und einem Steuersatz von 50 % verbleibt dem Anleger eine Nettorendite von 4 %. Wenn eine Geldentwertung von beispielsweise 4,5 % vorliegt, dann hat der Sparer nicht nur den gesamten Ertrag verloren, sondern auch ein halbes Prozent an der Substanz des angelegten Geldes eingebüßt.

(Joachim Poß [SPD]: Es ist interessant, mit welcher Geldentwertung auf Zukunft Sie bei uns rechnen!)

— Ich habe hier ein Beispiel gebildet. Sie haben auch gestern in der Anhörung gehört, Herr Kollege Poß, daß, wenn die Inflationsraten niedriger sind, wofür wir kämpfen und wofür wir uns hoffentlich alle einsetzen, auch die Erträgnisse niedriger sind, so daß die Diskrepanz immer dieselbe ist.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1209103400
Herr Rind, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Faltlhauser?

Hermann Rind (FDP):
Rede ID: ID1209103500
Bitte schön.

Dr. Kurt Faltlhauser (CSU):
Rede ID: ID1209103600
Herr Kollege Rind, können Sie sich vorstellen, welche Reaktion in diesem Land eingetreten wäre, insbesondere stimuliert durch die hier sitzende Opposition,

(Joachim Poß [SPD]: Platte Propaganda!)

wenn wir eine 25%ige Abgeltungsteuer vorgeschlagen und dadurch definitiv den Weg dafür freigemacht hätten, daß etwa Leute mit großem Bargeldportefeuille wie der Herr Flick oder der Herr Oetker bei ihren Kapitalanlagen mit 25 % Steuern — das ist ja ein Teil der Einkommensteuer — außen vor wären und die übrigen, die arbeiten, etwa der Handwerker, selbstverständlich entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit mit 40, 45 % herangezogen werden würden? Können Sie sich dieses Orchester in unserem Lande, insbesondere bei den Erfahrungen mit den Kollegen, vorstellen?

Hermann Rind (FDP):
Rede ID: ID1209103700
Herr Kollege Faltlhauser, ich verrate ja nun kein Geheimnis: In der Zinskommission, in der wir beide zusammen mit dem Kollegen Wissmann, dem Kollegen Uldall, dem Kollegen Hauser und dem Kollegen Gattermann saßen, haben wir insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Neiddebatte, die immer unter dem Stichwort der Umverteilung von unten nach oben geführt wird, gesagt: Um Gottes willen, politisch können wir uns diesem Vorschlag eigentlich gar nicht nähern, wir werden in der Luft zerrissen, obwohl in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Rechtfertigung aus dem Gedanken einer Berücksichtigung der Inflationsrate durchaus sehr viel Sympathie bei uns allen für dieses System hat aufkommen lassen. Aber wir haben die politischen Schwierigkeiten der Durchsetzbarkeit gesehen; nicht nur wir, sondern auch die Beteiligten,



Hermann Rind
die Vertreter der Banken usw., haben dieses Problem durchaus gesehen.
Ich hatte vorhin gesagt, daß eine 0,5%ige Einbuße an der Substanz bei einer Besteuerung in Form einer Anrechnungsteuer einträte. Wenn ich nun einmal das Beispiel mit einer 30%igen Abgeltungsteuer und einem Zinssatz von 8 % bilde, so läßt sich leicht nachrechnen: 8 % minus 30 % Steuer ergibt 5,6 Nettorendite. Bei einer Geldentwertung von 4,5 %, wie ich sie beispielsweise angenommen habe, blieben also immer noch 1,1 % vom Ertrag, eine bescheidene Rendite, für den Sparer übrig, und die Substanz würde nicht angegriffen.
Aber auch dieses System hat natürlich seine Mukken — über die politische Durchsetzbarkeit hinaus. Einmal müßte bei Steuerpflichtigen mit einem persönlichen Grenzsteuersatz unter 30 % bei der Veranlagung die Abgeltungsteuer als Anrechnungsteuer ausgestaltet werden, wenn wir das einigermaßen sozial verträglich gestalten wollen. Dann hätten wir also nach unten eine Anrechnungsteuer und nur nach oben eine Abgeltungsteuer.

(Joachim Poß [SPD]: Viel Bürokratie!) — Ja, gut.

Zum anderen würde betrieblich eingesetztes Vermögen benachteiligt, was zur Verlagerung der Geldströme in risikoloses Kapital führen würde. Also auch hier muß man neben der politischen Akzeptanz die sachlichen Gründe sehen, die auch wir durchaus gesehen und gewichtet haben.
Aber meine Bedenken, daß hier mit dem Besteuerungssystem, egal, wie wir es ausgestalten, bei entsprechend hohen Steuersätzen in die Substanz hinein besteuert würde, muß man auch als sehr gewichtig ansehen.
All diese Überlegungen haben uns zum anrechenbaren Zinsabschlag geführt. Und wenn ich aufgezeigt habe, daß jedes System der Besteuerung von Kapitalerträgen Für und Wider aufweist, so gilt dies auch beim Zinsabschlag. Nur waren wir in der Kommission zu dem Ergebnis gekommen, daß wesentlich weniger Punkte gegen unser System sprechen, als eben für dieses System sprechen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wenn ich gesagt habe, daß wir aus den Fehlern der 10%igen Quellensteuer von 1989 gelernt haben, so bezieht sich dies insbesondere auf den abschreckenden Effekt auf Steuerausländer, die ja mit ihren Zinserträgen in Deutschland nicht steuerpflichtig sind. Um diesen für unseren Kapitalmarkt wichtigen Geldstrom nicht zu beeinträchtigen, mußte vermieden werden, daß ihnen zuerst die Steuer abgezogen wird, die sie überhaupt nicht zahlen müssen, und sie sich dann diese wieder vom Bundesamt für Finanzen zurückholen müssen. Aus der Anhörung wissen wir, daß dieses Ziel weitgehend erreicht wurde. Aber wir wissen, daß hier noch eine Reihe von Regelungen notwendig ist, um dieses Ziel abzusichern.
Das deutlichste Zeichen, daß wir die bei uns nicht steuerpflichtigen Ausländer mit unserer Botschaft erreicht haben, ist der Zustrom aus dem Ausland auf den deutschen Kapitalmarkt, der auch nach der Vorlage der Beschlüsse und des Gesetzentwurfes nicht nachgelassen hat, sondern eher sich verstärkt hat.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Ich glaube also, die Botschaft kam an.

Wenn auch der Sparerfreibetrag in seiner Höhe und im Verhältnis zum Grundfreibetrag problematisiert wurde, wir halten ihn ebenso für berechtigt wie die Erhöhung der Freibeträge bei der Vermögen- und Erbschaftsteuer. Damit haben wir zumindest für über 80 % unserer Bürger erreicht, daß sie keine preiserhöhungsbedingten Schmälerungen ihrer Zinseinnahmen hinnehmen müssen, da sie mit ihren gesamten Zinserträgen steuerfrei sind. Dies ist, glaube ich, eine der Botschaften, die am positivsten bei den Bürgern in unserem Lande überkamen.
Wenn man manchmal so hört, was hohe und bedeutende Steuerrechtsexperten an systematischen Überlegungen anstellen, dann muß ich sagen: Auch die Wissenschaftler sollten ab und zu einmal — das würde ihnen nicht schaden — ihr Ohr am Volk haben und hören, wie die Bevölkerung darüber denkt, wenn Zinseinkünfte aus versteuertem Einkommen heraus noch einmal besteuert werden. Diese Überlegungen stellen Steuerrechtler nicht an. Auch sie müßten sich ebenso wie die Politiker hier mitunter etwas stärker an der Bevölkerung und an einer tiefsietzenden Überzeugung der Menschen orientieren. Denn wir sind ja nicht umsonst das Land mit den höchsten Sparraten. Wenn diese Mentalität bei uns gebrochen würde, könnten wir die großen vor uns liegenden Zukunftsaufgaben nicht meistern. Deshalb ist es so wichtig, daß wir diese gesunde Sparmentalität unserer Bevölkerung erhalten und nicht beschädigen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wir haben, Herr Kollege Poß, um wieder auf die Bürokratie zu sprechen zu kommen, viel Mühe darauf verwandt, die Freistellung von der Kapitalertragsteuer für 80 % unserer Bevölkerung so auszugestalten, daß wir zu einem vergleichsweise einfachen Verfahren kommen.

(Joachim Poß [SPD]: Vergleichsweise einfach im Rahmen eines falschen Systems!)

— Egal, welches System, über richtig oder falsch sind wir unterschiedlicher Meinung; das brauchen wir hier nicht auszutauschen. Aber auch Sie bräuchten ein System. Egal, wie Sie zu der Besteuerung an sich stehen, eines müßten Sie uns bestätigen, nachdem es alle Vertreter gestern auch in der Anhörung getan haben: das wir das unter den gegebenen Umständen einfachstmögliche Verfahren gewählt haben, und daß auch die Absicherung des Mißbrauchs der Freistellungsaufträge uns gelungen ist, wie der Vertreter der Steuergewerkschaft gesagt hat, natürlich alles aus dem derzeitigen Erkenntnisstand heraus.

(Joachim Poß [SPD]: Die Philosophen sagen, im Einfachen gibt es nichts Richtiges!)

— Nein, so hat er nicht gesagt.

(Joachim Poß [SPD]: Ich meine die Philosophen!)




Hermann Rind
— Ja gut, aber ich habe mich jetzt hier nicht mit Philosophie zu beschäftigen, sondern mit pragmatischen Lösungen für ein sehr schwieriges Problem.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Da wurde uns sehr eindeutig bestätigt, daß wir hier eine sehr gute Regelung gefunden haben, die auch den Mißbrauch verhindert.
Einen letzten erfreulichen Punkt darf ich noch ansprechen. Ich glaube, es war ein gelungener Schachzug, daß wir mit dem gleichen Gesetz den Grundbetrag bei den Sonderausgaben, den Sonderausgabenvorwegabzug, den Versorgungsfreibetrag und den Altersentlastungsbetrag angehoben haben. Die aus dem Zinsabschlag zu erwartenden Steuermehreinnahmen fließen zu einem erheblichen Teil so wieder an die Steuerzahler zurück.
Die Verbesserung des Grundhöchstbetrages bei den Sonderausgaben kommt allen Steuerpflichtigen, Selbständigen und Arbeitnehmern, zugute. Die Anhebung des Sonderausgabenvorwegabzugs um stolze 50 % kommt insbesondere den in diesem Bereich stark benachteiligten Selbständigen sowie Arbeitnehmern mit kleinen und mittleren Einkommen zugute.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Die Anhebung des Versorgungsfreibetrages und des Altersentlastungsbetrages führt immerhin zu einer Verbesserung bei der Besteuerung der Alterseinkünfte. Obwohl die sicherlich wünschenswerte Neuregelung der Besteuerung der Alterseinkünfte in der Kürze der für die Ausarbeitung des vorliegenden Gesetzentwurfes zur Verfügung stehenden Zeit nicht erreicht werden konnte, so wurde doch zumindest eine gleichmäßigere Besteuerung der Alterseinkünfte erreicht; dies ist ein Schritt in die richtige Richtung.
Was nun ein drohendes Vermittlungsverfahren angeht, so kann davon ausgegangen werden, daß sich die SPD-regierten Länder untereinander und mit der SPD-Bundestagsfraktion über eine gemeinsame Position noch nicht einig sind. Die Ablehnung der SPD-regierten Länder im Finanzausschuß des Bundesrates ist wohl insbesondere vor diesem Hintergrund zu sehen. Im Interesse unserer Kapitalmärkte und deren Ergiebigkeit für die Wirtschaft ebenso wie für die öffentlichen Haushalte hoffe ich, daß es keine zu großen Probleme bei der Überwindung der Hürde Bundesrat geben wird.
Ohne nun die Verhandlungen mit den Ländern vorprägen zu wollen, kann ich für die F.D.P.-Fraktion aber heute schon verbindlich erklären — dies ist zur Beruhigung der Kapitalmärkte wichtig —: Eine Aufhebung oder Lockerung des Bankgeheimnisses, in welcher Art und in welchem Umfang auch immer, wird es auch im Vermittlungsverfahren aus den von mir bereits dargestellten Gründen mit uns nicht geben.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das können Sie auch für uns gleich erklären!)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1209103800
Als nächste spricht die Abgeordnete Dr. Barbara Höll.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1209103900
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bundesfinanzminister Waigel hat die Bundesregierung offenbar erfolgreich darauf verpflichtet, sich eine von ihm in der Debatte über den Bundeshaushalt 1992 noch in kritischer Absicht verkündete Maxime zu eigen zu machen, die, aus dem Bayerischen ins Hochdeutsche zurückübersetzt, lautet: Es muß etwas geschehen, aber es darf nichts passieren.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist in geradezu idealer Weise Ausdruck dieser Lebensphilosophie; denn die von der Bundesregierung geplante Neuregelung setzt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom Juni 1991 lediglich formal um. Der Zweite Senat hatte dem Gesetzgeber aufgegeben, für die vollständige Besteuerung auch der Zinseinkünfte zu sorgen und spätestens bis zum 1. Januar 1993 durch hinreichende Vorkehrungen zu gewährleisten, daß die privaten Kapitalerträge gleichheitsgerecht besteuert werden. Ich zitiere aus dem Urteil:
Bei einer für die Allgemeinheit bedeutsamen und für den einzelnen belastenden Gemeinschaftspflicht läßt ... der Gleichheitsgrundsatz keine gesetzliche Regelung zu, die jemanden von der an sich gesetzlich begründeten Pflicht schon dann freistellt, wenn er erklärt, der Pflicht nicht nachkommen zu wollen.
Der Entwurf der Bundesregierung geht in seinem Kern ganz eindeutig von der Freiwilligkeit des Steuerpflichtigen aus. Durch den Verzicht auf effektive Kontrollen würde die fehlende Erklärung eines Steuerschuldners deshalb objektiv folgenlos bleiben. Das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung schätzt, daß die Nichtangabe — also die Nichtversteuerung — von Kapitaleinkünften als Folge einer wenig konsequenten Durchsetzung des geltenden Steuerrechts den Staat jährlich um Steuereinnahmen in einer Größenordnung von 25 Milliarden DM bringt.
Die vom Bundesverfassungsgericht angemahnte Neuregelung der Zinsbesteuerung soll gewährleisten, daß Zinseinkünfte rechtlich und tatsächlich mit anderen Einkommen gleich belastet werden. Alle Zinserträge sollen nicht nur de jure, sondern auch de facto der Steuerpflicht unterliegen.
Ferner haben die Karlsruher Richter darauf hingewiesen, daß der auch von ihnen festgestellte Erhebungsmangel bei der Besteuerung von Kapitaleinkünften seine wesentliche Ursache im § 30a der Abgabenordnung, dem sogenannten Bankenerlaß, hat, der — ich zitiere —
eine wirksame Ermittlung und Kontrolle der Einkünfte aus Kapitalvermögen verhindert und sich als strukturelles Verzugshindernis darstellt.
Diese scharfe und eindeutige Kritik des Bundesverfassungsgerichtes am Bankenerlaß wird von der Bundesregierung schon fast zynisch ignoriert, wenn sie in der Begründung zu ihrem Gesetzentwurf ausführt — ich zitiere —:
Mit diesem Vorschlag der Bundesregierung bleibt das Steuer- und Bankgeheimnis voll in bisherigem Umfang ... erhalten.



Dr. Barbara Höll
Der uns heute vorliegende Gesetzentwurf ist eine Mogelpackung aus dem Hause Waigel. In seinen wesentlichen Teilen ist er nicht verfassungskonform; denn sowohl die steuerbegründenden Vorschriften als auch die Regelung ihrer Anwendung verletzen das Prinzip einer möglichst gleichmäßigen Belastung der Steuerpflichtigen. Wie soll die nach materiellem Steuerrecht gebotene Besteuerung der Zinserträge gesichert werden, wenn, wie von der Bundesregierung beabsichtigt, die Besteuerung der Zinseinkünfte auf der Erklärungsbereitschaft des Steuerschuldners beruht und die Finanzämter die Höhe der Zinsgutschriften nicht kontrollieren dürfen? Hinzu kommt, daß Scheinübertragungen von Zinsen an Dritte faktisch kaum zu kontrollieren sein werden. Wie soll die mehrmalige Inanspruchnahme des Sparerfreibetrags verhindert werden?
Solange der Steuersatz für Zinseinkünfte mit 25 % erheblich unter dem Höchstsatz der Einkommensteuer von 53 % liegt, könnten sich Steuerpflichtige veranlaßt sehen, ihren individuellen Steuersatz auf diese 25 % zu senken. Denn es ist in das Belieben derjenigen gestellt, deren Grenzsteuersatz oberhalb der 25%igen Zinsabschlagsteuer liegt, ob sie Zinseinkünfte mit ihrem individuellen Steuersatz versteuern oder nicht. Jenseits der 25 % könnte der Belastungserfolg nach unserer Auffassung nur durch effektive Kontrollen der Finanzverwaltung gesichert werden, die die Bundesregierung jedoch ausdrücklich ausgeschlossen wissen will.
Die PDS/Linke Liste kritisiert zum einen die pauschale Erhöhung der Freibeträge und zum anderen das Fehlen eines geeigneten Instrumentariums zur Durchsetzung des Steueranspruchs. Die im Einkommensteuergesetz aufgelisteten und rechtlich gleichgestellten Einkunftsarten werden in diesem Gesetzentwurf so undifferenziert behandelt, daß bestimmte Erwerbsarten eindeutig privilegiert werden und so der vom Bundesverfassungsgericht geforderte gleichmäßige Belastungserfolg nicht eintreten kann.
Bei Einnahmen aus Kapitalvermögen soll nur ein jeweils um 6 000 bzw. 12 000 DM geminderter Teil in die Bemessungsgrundlage eingehen. Das führt dazu, daß Einkommen, die zum Teil aus Einkünften aus Kapitalvermögen bestehen, auf Grund dieser Freibetragsregelung einer geringeren Steuerbelastung unterliegen als Einkommen, in denen Einkünfte aus Kapitalvermögen nicht enthalten sind.
Erträge aus unternehmerischer Betätigung werden rechtlich als Kapitalerträge qualifiziert. Auch Gewinnanteile aus Beteiligungen, z. B. an einer GmbH, sollen durch Freibeträge erfaßt werden. Ein Unternehmer, der Gewinne aus einer Kapitalgesellschaft bezieht, wird für sich den Freibetrag in Anspruch nehmen können. Gewinne aus GmbH-Anteilen können auch auf Kinder umgelegt werden. Die Freibeträge würden sich vervielfachen. Beziehern von Aktiendividenden und GmbH-Anteilen will diese Bundesregierung über diese Freibeträge Summen belassen, die den Grundfreibetrag für das steuerfreie Existenzminimum eindeutig überschreiten.
Die Bundesregierung begünstigt Haushalte, die über Kapitaleinkünfte verfügen. Nach einer Berechnung von Professor Littmann von der Hochschule für
Verwaltungswissenschaften in Speyer hätte dieser Sparerfreibetrag folgende Konsequenzen: Ein Ehepaar mit zwei Kindern, das ausschließlich Kapitaleinkünfte hat, die über Freibeträge gleichmäßig auf alle Familienmitglieder verteilt werden, könnte insgesamt Zinsen in Höhe von rund 53 000 DM beziehen, ohne Einkommensteuer zahlen zu müssen. Dagegen müßte unter sonst gleichen Umständen ein Ehepaar mit zwei Kindern und Einkünften aus unselbständiger Arbeit rund 6 800 DM Steuern zahlen.
Die Bundesregierung privilegiert mit diesem Gesetzentwurf ganz eindeutig bestimmte Erwerbsarten. Die steuerliche Begünstigung von Kapitaleinkünften gegenüber allen anderen Einkunftsarten verstößt gegen den Gleichheitsgrundsatz. Sie fügt dem Familienlastenausgleich eine weitere unsoziale Regelung hinzu; denn Familien mit Kapitaleinkünften können diese auch auf die Kinder verteilen und so über die Freibeträge faktisch die Vorteile eines Familiensplittings in Anspruch nehmen.
Bei der Besteuerung der sogenannten Alterseinkommen will die Bundesregierung Kapitaleinkünfte ebenfalls begünstigt wissen. Da die steuergesetzlichen Regelungen kumulativ wirken und in Anspruch genommen werden können, werden von diesem Gesetz diejenigen profitieren, deren Einkommen sich im Alter aus unterschiedlichen Einkünften zusammensetzt. Diese Steuerpflichtigen können zusätzlich zum Sparerfreibetrag auch für Einkünfte aus Kapitalvermögen einen Altersentlastungsbetrag in Höhe von 6 000 DM geltend machen.
Die geplante Neuregelung des § 24 a des Einkommensteuergesetzes, also die Anhebung des Altersentlastungsbetrages auf 6 000 DM, würde das sogenannte Versicherungssparen nahezu lückenlos steuerlich begünstigen. Pflichtversicherten ist es dagegen weiterhin verwehrt, ihre Beiträge zu den gesetzlichen Versicherungen bis zur Höhe der Beitragsbemessungsgrenzen als Sonderausgaben geltend zu machen und steuerlich absetzen zu können.
Die Neuregelung der Besteuerung von Alterseinkommen baut weder entstandene Ungleichheiten ab, noch vermeidet sie es, neue Benachteiligungen für andere zu schaffen, und verstößt deshalb gegen die dem Gesetzgeber vom Bundesverfassungsgericht im März 1980 ins Stammbuch geschriebenen Auflagen.
Aus der Sicht der PDS/Linke Liste sind die einkunftsbezogenen Freibeträge ein steuerpolitischer Skandal erster Ordnung; denn während Zinseinkünfte bis zu 12 000 DM steuerfrei bleiben, werden Löhne in gleicher Höhe voll besteuert.
Dem Entwurf der Bundesregierung sieht man an, wer im Finanzministerium und am Kabinettstisch gewissermaßen mental den Griffel geführt hat. Heraus kam ein Elaborat, dem die Deutsche Bundesbank begeistert bescheinigt, daß es besonders rücksichtsvoll darauf verzichtet — ich bin versucht zu sagen: sehr sensibel und zartfühlend —, die Kreise des Kapitalmarkts zu kreuzen.

(Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Das ist gut! Das ist ein Kompliment!)




Dr. Barbara Höll
Die Neuregelung sei wesentlich kapitalfreundlicher und für den Kapitalmarkt schonender als die Quellensteuer des Jahres 1989, zumal — ich zitiere — „selbst stichprobenartige Kontrollen auch die Frage nach der Erfüllung der Steuerpflicht in der Vergangenheit wieder aufgeworfen hätten".

(Zuruf von der CDU/CSU: Man muß die Zusammenhänge schon irgendwie erfassen, um das zu verstehen!)

Graf Lambsdorff hätte ich gern gefragt: Kann man die brennende Sorge um das Seelenheil der Steuerhinterzieher eindringlicher formulieren, als die Bundesbank es getan hat?
Auf die bereits im September letzten Jahres von der Bundesregierung verbreitete Nachricht, sie plane weder Kontrollmitteilungen noch Stichprobenverfahren, reagierten die Sensibelchen auf dem Anleihenmarkt mit Kursgewinnen. Die Bundesbank mußte zwecks Beruhigung der Gemüter 770 Millionen DM in den Markt einschleusen.
Die „Wirtschaftswoche" outete in ihrer Ausgabe vom 15. November 1991 die Ghostwriter dieses Gesetzentwurfs. Sie erinnerte daran — ich zitiere —, „daß sich die Regierung bei ihrer Entscheidung die Feder von Banken hat führen lassen, deren Abwehrschlacht gegen die Stichproben an Doppelmoral kaum zu überbieten war. Schon heute melden sie im Todesfall jeden Pfennig ans Finanzamt; dennoch tönen sie von der Unberührbarkeit des Vertrauensverhältnisses zum Kunden. "
Ich möchte zusammenfassen: Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ignoriert das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Er ist mit dem Prinzip der Steuergerechtigkeit nicht vereinbar. Er bevorzugt die Bezieher von Einkünften aus Kapitalvermögen gegenüber Beziehern von Einkünften aus unselbständiger Arbeit.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1209104000
Frau Dr. Höll, Ihre Redezeit ist abgelaufen!

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1209104100
Noch einen Satz: Die Grundidee der Einkommensbesteuerung, die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, wird erneut grob verletzt. Die Steuervergünstigung für Zinseinkünfte dient ausschließlich wirtschaftspolitischen Zielsetzungen, und die Beibehaltung der bestehenden Abgabenordnung widerspricht der Pflicht zur gesetzmäßigen Steuererhebung.

(Rudolf Kraus [CDU/CSU]: Drei Sätze!)

Der Verzicht auf die Stichprobenverfahren macht eine wirksame Kontrolle der im Inland entstehenden Zinseinkünfte unmöglich. Der Steuerhinterziehung ist nach wie vor Tür und Tor geöffnet, und deshalb werden wir dieses Produkt einer unsozialen Steuerpolitik ablehnen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1209104200
Als nächster spricht der Abgeordnete Werner Schulz.

Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1209104300
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie erinnern sich vielleicht noch an einen Eklat in diesem Hause — ich habe ihn selber nicht miterlebt —, als Heiner Geißler mit einem Brecht-Zitat die Wahrheitsliebe der SPD zu charakterisieren versuchte.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Was? — Joachim Poß [SPD]: In den 70er Jahren!)

— Das Brecht-Zitat kennen Sie nicht mehr? — (Zurufe von der SPD: Doch!)

Herr Geißler charakterisierte die Wahrheitsliebe der SPD mit einem Brecht-Zitat. Damals hieß es sinngemäß, daß die Wahrheit, wer sie nicht kennt ... usw. — Ich merke: Es macht klick. Wir behandeln gerade die Finanzpolitik; der Groschen ist gefallen.

(Gunnar Uldall [CDU/CSU]: 1983, im Januar!)

Ich weiß nicht, ob dieses Verdikt damals angemessen war. Mir scheint aber, daß Herr Geißler heute eher Anlaß hätte, das Zitat auf die jetzige Bundesregierung anzuwenden, Herr Faltlhauser.

(Zustimmung beim Bündnis 90/GRÜNE)

Der jüngste Bericht des Finanzministers vor den Koalitionsfraktionen legt nahe, daß er die Wahrheit nicht weiß. Dies entlastet die Bundesregierung keineswegs. Es zeigt nur, daß sie den Ernst der Lage immer noch nicht erkannt hat. Die „Süddeutsche Zeitung" hat es treffend dargestellt: Die Koalition ist verrottet bis ins Mark.

(Zuruf von der SPD: Jawohl!)

Es ist nicht allein die soziale Ungerechtigkeit, die in den jüngsten Vorschlägen von Herrn Waigel zum Ausdruck gelangt. Das mittelfristige Finanzkonzept sieht vor allem Einsparungen im sozialen Bereich vor. Hier werden die sozial Schwachen erneut getroffen. Viel schlimmer ist, daß die nun in Grundzügen erkennbare Finanzplanung schon bei oberflächlicher Durchsicht als Irreführung erkennbar ist.

(Zurufe von der SPD: Ja!)

Ich will nicht einmal unterstellen, daß er dieses Täuschungsmanöver bewußt unternimmt. Das Schlimme an dieser Regierung ist ja, daß sie so oft auf ihre eigenen Zahlen hereingefallen ist.

(Zuruf von der SPD: Was heißt „hereingefallen"?)

Inzwischen haben die Bürgerinnen und Bürger nicht nur in den alten Bundesländern die Inkompetenz der Regierungskoalition erkannt.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1209104400
Herr Schulz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Uldall?

Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1209104500
Ja, natürlich.

Gunnar Uldall (CDU):
Rede ID: ID1209104600
Herr Kollege Schulz, kann es sein, daß Sie übersehen haben, daß wir jetzt über den Zinsabschlag debattieren? Ist die Rede, die Sie jetzt halten, nicht vielleicht schon für die Aktuelle Stunde heute nachmittag vorbereitet worden?




Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1209104700
Herr Uldall, ich übersehe gar nichts, aber ich denke, da gibt es einige Zusammenhänge zwischen dem, was wir jetzt besprechen, und dem, was heute nachmittag zu sagen ist.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich glaube, Ihre Regierungskoalition befindet sich in einem so tiefen Schlamassel, daß man einzelne Teile gar nicht mehr so genau unterscheiden kann. Ich möchte diesen Bogen in einem etwas größeren Zusammenhang spannen, wenn Sie erlauben.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der SPD — Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Hauptsache, Sie kommen noch zur Sache, Herr Kollege! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Sie verwechseln das offensichtlich mit Ihrem Parteitag!)

— Ich verwechsle das nicht mit unserem Parteitag! Wir sind keine Partei, aber auch diesbezüglich scheint die politische Wahrnehmung auf Ihrer Seite nicht sonderlich ausgeprägt zu sein.
Das Finanzkonzept des Finanzministers wird Makulatur sein, noch bevor die ersten Haushaltsberatungen in diesem Jahr beginnen werden. Wenn es ernstgemeint ist, wird er das Versprechen des Bundeskanzlers widerlegen, keine weiteren Steuer- und Abgabenerhöhungen vorzunehmen.

(Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Nun bringt dem doch mal das richtige Manuskript! Das wird doch langsam peinlich!)

Wir wissen aber, was wir von solchen Versprechungen zu halten haben. Dem Bundeskanzler ist es nicht einmal gelungen, eine finanzpolitisch gewiß nicht besonders bedeutende Senkung der Ministergehälter im Kabinett durchzusetzen; auch das ist ein Schlaglicht auf den Zustand der Bundesregierung.
Dabei sind die Zeichen unübersehbar: Die wirtschafts- und finanzpolitische Lage in Deutschland ist alarmierend. Es fehlt aber immer noch das Eingeständnis, daß der Aufbau in Ost-Deutschland zu realen Einkommensverzichten im Westen führen wird. Das heißt im Klartext: Die Bürgerinnen und Bürger müssen damit rechnen, daß der Wohlstand schrumpft. Die Bundesregierung hat sich jedoch hartnäckig geweigert, dies zur Kenntnis zu nehmen. Es ist ganz folgerichtig, daß diese Bundesregierung auch dort, wo sie ernsthafte Versuche zu einer Problemlösung unternimmt, erfolglos bleibt.
Das jüngste Beispiel — nun komme ich darauf, Herr Uldall; Sie brennen ja regelrecht darauf, das von mir zu hören — ist der Gesetzesvorschlag zum Zinsabschlagsgesetz, ein für meine Begriffe mißlungener Versuch, es allen recht zu machen. Die gestrige Anhörung zum Entwurf des Gesetzes erbrachte die Bestätigung: Der Entwurf der Bundesregierung wird den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts nicht gerecht. Die neue Quellensteuer wird ohne Kontrollmechanismen zu einer faktischen Abgeltungssteuer mit einem Steuersatz von 25 %.
In der vorliegenden Fassùng wirkt dieses Gesetz als Aufforderung zur Steuerhinterziehung. Der Auftrag
des Bundesverfassungsgerichts lautet aber: Der Gesetzgeber muß die Steuerehrlichkeit durch hinreichende, die steuerliche Belastungsgleichheit gewährleistende Kontrollmöglichkeiten abstützen.
Im Entwurf sind mehrere Mängel zu erkennen. Zunächst wird das verfassungsrechtlich wichtige Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verletzt. Gleichzeitig wird auch das Gebot der Gleichbehandlung von unterschiedlichen, in der Höhe aber unterschiedslosen Einkommen außer acht gelassen. Dies gilt nicht nur für den Fall der zu erwartenden Steuerhinterziehung bei Einkommen, die über dem Steuersatz von 25 %. liegen. Auch die Freibetragsregelung stellt eine steuerliche Subventionierung von Kapitaleinkünften dar, in deren Genuß andere Einkunftsarten nicht gelangen.
Diesen Vorzug besitzt die Besteuerung der Lohneinkünfte nicht; Kapitaleinkünfte werden damit deutlich begünstigt. So könnte beispielsweise ein Ehepaar mit zwei Kindern, das ausschließlich Kapitaleinkünfte hat, Zinsen in der Höhe von etwa 53 000 DM beziehen, ohne daß dafür Einkommensteuer entrichtet werden müßte.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das haben wir doch schon einmal gehört!)

Unter sonst gleichen Umständen müßte dieses Ehepaar mit zwei Kindern bei dem gleichen Einkommen aus unselbständiger Arbeit Steuern in Höhe von nahezu 7 000 DM bezahlen.
Nebenbei: Auch die vorgesehene Neuregelung der Freibeträge bei der Vermögensteuer bedeutet eine Begünstigung dieser Einkunftsart.
Zusammengefaßt: Die Begünstigung von Kapitaleinkünften gegenüber anderen Einkunftsarten verstößt nicht nur gegen den Gleichheitsgrundsatz; sie ist auch ein Verstoß gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip. Die im Entwurf vorgesehene Verzehnfachung des Freibetrages ist deshalb verfassungsrechtlich bedenklich.
Ebenso zweifelhaft ist die vorgesehene Regelung einer faktischen Abgeltungssteuer ohne wirksame Kontrolle. Hohe Kapitalerträge können weiterhin in beträchtlichem Umfang der Besteuerung entzogen werden. Das Gebot der Steuergerechtigkeit wird so auch in Zukunft verletzt. Die geplante Zinsertragsteuer ohne Offenlegung der Kapitaleinkommen muß als eine Art Anleitung zur Steuerhinterziehung interpretiert werden.
Ich kann nicht sehen, daß diese Bundesregierung noch in der Lage ist, den genannten Mängeln abzuhelfen. Gleichwohl fordere ich sie auf, diesen Entwurf, der schon die Hürde des Bundesrates nicht nehmen wird, schleunigst zurückzuziehen.

(Zuruf von der SPD: Sehr richtig!)

Auf der Tagesordnung bleibt die Schaffung einer steuerlichen Regelung, die die bisherige Praxis der Steuerhinterziehung bei Kapitaleinkünften endlich beendet. Notwendig ist eine Zinssteuer, die den klaren Festlegungen durch das Bundesverfassungsgericht folgt. Die Prinzipien der Gerechtigkeit und der Leistungsfähigkeit müssen dabei beachtet werden. Es reicht nicht aus, daß das Steuerrecht zwar einen



Werner Schulz (Berlin)

Anspruch konstituiert, das Verfahrensrecht diesen Anspruch aber nicht entsprechend durchsetzt.
Deshalb muß gewährleistet werden, daß Kapitalerträge künftig den Finanzbehörden offengelegt werden. Die Möglichkeiten zur Kapitalflucht hat die Bundesregierung selbst ohne Not aufrechterhalten. Der Bundesfinanzminister hat bisher nichts unternommen, um auf europäischer Ebene für eine gleichmäßige steuerliche Erfassung von Zinseinkünften zu sorgen. Auch hier existiert Handlungsbedarf. Die Besteuerung von Kapitaleinkommen muß durch ein System von Kontrollmitteilungen auf EG-Ebene abgesichert werden. Das betrifft vor allem das Steuerschlupfloch Luxemburg.
Darüber hinaus bleibt die Finanz- und Steuerpolitik aufgefordert, auch bei anderen Steuerarten für Steuergerechtigkeit zu sorgen. Eine gleichmäßige Besteuerung nach dem Prinzip der Leistungsfähigkeit findet auch auf vielen anderen Feldern des Steuerrechts nicht statt.
Ich danke Ihnen.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der SPD — Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Ich bitte Sie! Da kann man doch nun wirklich nicht klatschen — bei so einem Schwachsinn!)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1209104800
Als nächster spricht der Abgeordnete Uldall.

Gunnar Uldall (CDU):
Rede ID: ID1209104900
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Koalitionsfraktionen haben nach dem Urteil des Verfassungsgerichtes sehr schnell gehandelt

(Zuruf von der SPD: Das merkt man!)

und einen Vorschlag für die Neuregelung der Zinsbesteuerung vorgelegt. Dabei ließen wir uns von dem Grundsatz leiten: Durch das neue Verfahren soll eine Gleichmäßigkeit der Besteuerung, nicht aber eine Auffüllung der Staatskasse erfolgen.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Jawohl!)

Konsequenterweise haben wir deswegen ein Verfahren vorgesehen, nach dem mit dem Zinsabschlag erzielte Mehreinnahmen im gleichen Zuge an den Steuerzahler in Form eines erhöhten Freibetrages oder durch eine deutlich verbesserte Möglichkeit für die Altersvorsorge zurückgegeben werden. Deshalb ist festzuhalten: Der Zinsabschlag ist keine neue Steuer, sondern ein Verfahren, um die Besteuerung der Zinserträge gerechter zu machen.

(Zuruf von der SPD: Ein unzulässiges!)

Ein Zweites ist mit Nachdruck festzuhalten: Egal, wie wir die weitere Diskussion über das Zinsabschlaggesetz im Bundestag, im Bundesrat und u. U. im Vermittlungsausschuß erleben werden, eines steht fest: Die Union wird einer Aufhebung des Bankgeheimnisses in gar keinem Falle zustimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zurufe der SPD: Das wollen wir doch auch nicht! — Bauen Sie doch nicht einen Pappkameraden auf!)

Ich möchte eine Frage aufgreifen, die im Zusammenhang mit der Zinsbesteuerung immer wieder gestellt wird, nämlich die Frage: Warum müssen Zinserträge überhaupt besteuert werden? Schließlich, so wird gesagt, stammen diese Zinserträge doch in der Regel aus einem Sparkapital, das aus versteuertem Einkommen zusammengetragen wurde.

(Zuruf von der SPD: Endlich wissen wir das mal!)

Dieses Argument klingt zunächst einmal plausibel. Aber man muß weiterdenken: Jedes Vermögen wurde aus versteuertem Einkommen gebildet. Das gilt für das kleine Guthaben auf einem Sparbuch, und das gilt auch für das Großvermögen.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1209105000
Herr Uldall, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Matthäus-Maier?

Gunnar Uldall (CDU):
Rede ID: ID1209105100
Bitte.

Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1209105200
Herr Uldall, wäre es, statt zu sagen, das klinge plausibel, nicht besser, an Hand eines Beispiels darzulegen, daß es eigentlich sehr unplausibel ist? Das Beispiel lautet: Unterstellt, da hat jemand 100 000 DM gespart. Der eine legt das Geld aufs Konto und bekommt Zinsen, der nächste ist ein Handwerker und schafft damit Arbeitsplätze, ein weiterer baut damit eine Mietwohnung und zieht daraus Mietzinsen. Beide müssen es versteuern: der Handwerker und derjenige, der das Mietshaus hat. Warum ist es dann eigentlich plausibel, daß nur derjenige es nicht versteuern soll, der es auf dem Konto hat? Ist das eigentlich nicht das Gegenteil von plausibel?

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Also sind Sie doch gegen die Freibeträge?)

— Aber Herr Faltlhauser, ist es denn nicht im Interesse des ganzen Hauses und damit auch in Ihrem Interesse, daß wir, wenn wir ein solches Gesetz machen, dieses Argument, das es in der Bevölkerung in der Tat gibt, daß nämlich nicht zweimal versteuert werden dürfe,

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Es wird doch nicht zweimal versteuert!)

gemeinsam vom Tisch bringen, weil es in der tatsächlichen Welt nicht zutrifft und weil es Lohnsteuerzahler wie auch Selbständige und Handwerker benachteiligt? Warum machen Sie dann solche Zwischenrufe?

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Wollen Sie den Unterschied nicht begreifen?)


Gunnar Uldall (CDU):
Rede ID: ID1209105300
Nach dieser Kurzfrage von Ihnen, liebe Frau Matthäus-Maier, sage ich zunächst: Zum einen Teil haben Sie recht. Sie haben damit recht, daß diese häufig geäußerte Auffassung, daß Zinserträge grundsätzlich steuerfrei sein sollten, nicht erklärbar ist.

(Zustimmung bei der SPD)

Ich halte es auch für gut, daß wir dies einmal parteiübergreifend, fraktionsübergreifend für die Öffentlichkeit darstellen. Sie haben also völlig recht,

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Mehr wollte ich gar nicht hören!)




Gunnar Uldall
wenn Sie sagen: Es ist unlogisch zu sagen, Zinserträge sind steuerfrei, aber wenn ich dieses gleiche Kapital in Wohneigentum oder in einer Maschine in meinem Handwerksbetrieb binde, dann sollen die hiermit erzielten Erträge besteuert werden.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Fein! Das wollte ich sagen!)

Dieses paßt nicht zusammen. Wenn man es so machen würde, wie es häufig populistisch gefordert wird, würde das zur Folge haben, daß kein Mensch mehr Wohnungen baut.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Danke!)

— Na, hören Sie sich noch den Rest mit an! Sie haben lange gefragt und müssen jetzt auch lange stehenbleiben, weil natürlich die Antwort entsprechend lang ausfällt.

(Heiterkeit — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie gönnen mir die Ruhe beim Sitzen wohl nicht!)

Deutschland würde ein Volk von Couponschneidern werden,

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sehr gut!)

und das würde unserer Volkswirtschaft nicht nutzen.
Falsch aber liegen Sie, Frau Matthäus-Maier — und deswegen müssen Sie stehenbleiben —,

(Erneute Heiterkeit)

mit der Behauptung, daß die Zinserträge in Zukunft nicht mehr besteuert werden müßten. Das ist doch absoluter Quatsch! In Zukunft wird eine gleichmäßige Besteuerung gerade durch dieses Gesetz sichergestellt werden, Frau Matthäus-Maier!

(Zustimmung bei der CDU/CSU — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das habe ich doch gar nicht gesagt!)

— Wunderbar! Also, wenn Sie das nicht gesagt haben, konzentrieren wir uns auf den ersten Teil, und in dem gebe ich Ihnen recht. Ich freue mich, daß wir auch einmal über die Fraktionsgrenzen hinweg Gemeinsamkeit nach draußen zeigen.

(Zuruf von der SPD: Große Koalition!)

Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik wird auf die Dauer der nächsten zehn bis fünfzehn Jahre weiterhin einen hohen Kapitalbedarf haben. Als Folge der sozialistischen Wirtschaftspolitik muß in den Betrieben Ostdeutschlands investiert werden, um sie auf ein international wettbewerbsfähiges Niveau zu bringen.

(Zurufe von der SPD: Ihr verschleudert sie doch! — Ihr verschenkt sie!)

Eine völlig marode Wohnungsbausubstanz muß erneuert werden. Es gilt, eine geeignete Verkehrsinfrastruktur zu schaffen. Bahnen, Brücken und Straßen müssen gebaut werden. Das Kommunikationsnetz muß modernisiert werden. Wie viele Milliarden das erfordern wird, kann heute noch keiner endgültig sagen.

(Zuruf von der SPD: Wieso? Kohl wußte es schon 1989!)

Aber eines steht fest: Es werden Hunderte von Milliarden D-Mark sein, die wir in Zukunft auf dem deutschen Kapitalmarkt aufbringen müssen.
Die Finanzierung dieser gewaltigen Anstrengungen wird kein Problem sein, allerdings unter einer Voraussetzung: daß wir in Deutschland auch weiterhin über einen leistungsfähigen Kapitalmarkt verfügen und daß die Sparquote von 12, 13 oder gar 14 % nicht absinkt.

(Claus Jäger [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Gehen die Finanzierungskräfte in Deutschland zurück, werden wir die gesamtdeutschen Herausforderungen nicht meistern können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deshalb muß unter allen Umständen vermieden werden, daß Kapital in zu großem Umfange aus der Bundesrepublik abfließt.

(Claus Jäger [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Die Bevölkerung muß weiterhin motiviert sein, einen im internationalen Vergleich hohen Anteil ihres Einkommens zu sparen.

(Zurufe von der SPD: Ja! — Sehr richtig!)

Alle Kenner der Finanzmärkte sind sich einig: Wer in Deutschland Kontrollmitteilungen einführt und das Bankgeheimnis aufhebt,

(Zuruf von der SPD: Das will doch gar keiner!)

verursacht einen Kapitalexodus und verringert die Sparneigung in Deutschland. Das kann sich keine Volkswirtschaft erlauben, erst recht nicht die deutsche Volkswirtschaft unter den heutigen Umständen, die ich eben skizziert habe.

(Claus Jäger [CDU/CSU]: Das begreift die SPD nicht! — Zuruf von der SPD: Das ist Spiegelfechterei!)

Wer Kontrollverfahren einführt — ob stichprobenartig oder flächendeckend —, verwirklicht damit eine Utopie, die von Orwell in „1984" gezeichnet wurde, im Jahre 1992.
Die Koalition wird verhindern, daß es zu einem solch übergreifenden, flächendeckenden Kontrollverfahren oder Stichprobenverfahren kommen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU — Joachim Poß [SPD]: Jawohl, die Koalition für die Steuerhinterzieher! — Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/ CSU]: Herr Poß, so etwas ist eine bodenlose Frechheit! — Claus Jäger [CDU/CSU]: Ein demagogischer Zwischenruf! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Und ein dummer obendrein! — Gegenruf von der SPD: Nein, zutreffend!)

Ein zuweilen vorgetragenes Argument heißt: Das Kapital, das abfließt, kommt als Auslandskapital wieder zurück nach Deutschland. — In der Theorie mag das unter Umständen richtig sein. Aber wenn es richtig ist, dann nur in einer außerordentlich langfristigen Betrachtung! Zunächst ist aber abgeflossenes



Gunnar Uldall
Kapital weg. Da kann man überhaupt nicht dran rütteln.

(Joachim Poß [SPD]: Lesen Sie dazu einmal beim RWI nach!)

Dieses abgeflossene Kapital kehrt nur dann zurück, wenn in Deutschland Attraktives geboten wird. „Attraktives" heißt eben: ein hoher Zins.

(Zuruf von der SPD: Eine andere Regierung!)

Wir würden also erleben, daß, würde man jetzt leichtfertig einen Kapitalabfluß zulassen, dieses Kapital zwar unter Umständen zurückkommt, aber nur unter der Bedingung, daß wir in Deutschland ein deutliches höheres Zinsniveau haben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Völlig richtig! — Joachim Poß [SPD]: Auch eine solide Finanzpolitik kann sehr attraktiv sein, Herr Uldall!)

Das kann doch keiner bei uns wollen.

(Joachim Poß [SPD]: Das haben wir doch im Moment!)

— Lieber Herr Kollege, das ist völlig richtig.
Welche Auswirkungen ein hohes Zinsniveau hat, das spüren wir doch gerade in der jetzigen Phase.

(Zurufe von der SPD: Eben!)

Deswegen ist es doch völlig unverständlich, daß Sie leichtfertig eine Politik betreiben, mit der das Kapital nach draußen getragen wird und eine Hochzinsphase in Deutschland sogar über 10 oder 15 Jahre festgeschrieben werden würde.

(Joachim Poß [SPD]: Wer ist denn in der Regierung? — Gegenruf von der CDU/CSU: Gott sei Dank wir! Sonst würde es uns nicht so gut gehen!)

Hohe Zinsen heißen: Finanzierungsprobleme für Ostdeutschland und kaum noch Chancen für den zinsempfindlichen Wohnungsbau. Das wäre die Folge Ihrer Politik, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU — Joachim Poß [SPD]: Das sind die Folgen Ihrer Politik! — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wer ist denn hier dran?)

Die Folgen zu hoher Zinsen hat neben dem Arbeitnehmer, der daran hängt, daß neue Arbeitsplätze über Investitionen geschaffen werden, und neben dem, der eine Wohnung sucht, natürlich der Steuerzahler zu tragen; denn hohe Zinsen bedeuten nichts anderes als hohe Belastungen der Länderhaushalte und des Bundeshaushaltes, weil der Hauptträger der hohen Zinsen nachher wieder die öffentliche Hand sein wird.
Deswegen kann ich nur sagen: Diese Politik, die mit wenig Einfühlsamkeit einen Kapitalabfluß bewußt in Kauf nimmt, schreibt ein hohes Zinsniveau für die nächsten Jahre fest und entzieht damit dem Zusammenwachsen Deutschlands die Finanzierungsgrundlage.

(Claus Jäger [CDU/CSU]: Sehr wahr! — Zuruf von der SPD: Jetzt wissen wir es! — Gegenrufe von der CDU/CSU: Nicht nur wissen, sondern auch merken! — Und vor allem verstehen!)

Meine Damen und Herren, um den Kapitalmarkt zu schonen, haben wir ganz bewußt den hohen Freibetrag von 6 000 oder 12 000 DM vorgesehen. 80 % der Einkommensteuerzahler werden damit vom Zinsabschlag gar nicht berührt werden. Natürlich ist dies im Vergleich ein sehr hoher Freibetrag; aber das Verfassungsgericht hat ausdrücklich betont, daß der Inflationsverlust beim Geldkapital eine besondere Berücksichtigung bei der Zinsbesteuerung finden darf. Deswegen kamen in diesem Punkt gestern die Verfassungsrechtler zu dem einhelligen Ergebnis, daß der erhöhte Freibetrag mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Ich habe wenig Verständnis für das indirekte Drängeln der SPD — das heute morgen durch Beiträge und Zwischenrufe immer wieder deutlich wurde —, den Sparerfreibetrag von 6 000 oder 12 000 DM wieder herabzusetzen.

(Joachim Poß [SPD]: Wer sagt das?)

Wenn Sie dies wollen, seien Sie so ehrlich und sagen Sie es. Wenn Sie es nicht wollen, dann müssen Sie Ihre Einlassungen überprüfen und in diesem Punkt nicht unnötig Kritik an der Regierung üben. Die Sparer haben ein Anrecht, zu erfahren, welche Positionen mit Ehrlichkeit von den Parteien vertreten werden.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten zur besseren Erfassung der Zinserträge. Über das Kontrollverfahren ist bereits gesprochen worden. Es ist deutlich geworden, daß dies ein nicht gangbarer Weg ist. Ein anderer Vorschlag, der im Verfassungsgerichtsurteil angesprochen und zum Teil auch von Fachverbänden und Fachjournalisten gefordert wird, ist die sogenannte Abgeltungssteuer: Nach Zahlung eines bestimmten Prozentsatzes würde die Einkommensteuer als abgegolten betrachtet werden.
Was bedeutet dies in der Praxis? Setzt man z. B. einen Abgeltungssatz — ich will jetzt gar nicht einmal 25 %, sondern 35 % sagen — von 35 % an, so würde der bessergestellt werden, der einen Grenzsteuersatz von mehr als 35 % hätte. Wer als Verheirateter mehr als 170 000 DM verdient, der profitiert; wer weniger verdient, der verliert bei dieser Lösung, und zwar verliert er um so mehr, je niedriger das Einkommen ist. Es würde dann zwar eine Milderung durch den Freibetrag geben; aber im Prinzip würde sich an dieser Ungerechtigkeit in der Besteuerung nichts ändern.

(Joachim Poß [SPD]: Das ist richtig!)

Gerade ältere Mitbürger, die kein Arbeitseinkommen mehr haben, die für den Lebensabend gespart haben und jetzt die Zinsen für den laufenden Lebensunterhalt benötigen, wären negativ betroffen.

(Joachim Poß [SPD]: Da brauchen Sie uns nicht zu überzeugen! In diesem Fall haben Sie einmal recht!)




Gunnar Uldall
Eine solche Abgeltungssteuer wäre zwar einfach und würde sicherstellen, daß alle hohen Einkommen gleichmäßig, nämlich niedrig besteuert würden;

(Joachim Poß [SPD]: Die Gleichheit im Unrecht wäre das!)

aber diese Lösung wäre ungerecht und fände in der Bevölkerung kaum Verständnis. Wenn eine solche ungerechte Abgeltungssteuer verfassungskonform ist, dann ist es der Zinsabschlag allemal, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Joachim Poß [SPD]: Da sind wir Ihrer Meinung!)

Die Beratungen haben gezeigt, wie schwer es ist, einen Weg zu finden, der allen Gesichtspunkten — Verfassungsmäßigkeit, soziale Gerechtigkeit, Kapitalmarkt, Kapitalabfluß — voll entspricht. Nach meiner Beurteilung ist der vorliegende Entwurf der Regierung und der Koalitionsfraktionen eine gute Lösung. Für ein parteipolitisches Muskelspiel ist das Thema „Zinsbesteuerung" viel zu ernst.

(Joachim Poß [SPD]: Das haben Sie bei der Quellensteuer an gleicher Stelle auch schon behauptet, Herr Kollege! Seien Sie vorsichtig!)

Nur mit Unverständnis kann man deswegen zur Kenntnis nehmen, was die SPD-Mehrheit in der vergangenen Woche im Finanzausschuß des Bundesrates beschlossen hat.

(Joachim Poß [SPD]: So haben Sie persönlich hier im Bundestag schon die Quellensteuer verteidigt, Herr Uldall!)

Seien wir uns bewußt: Ein Herumtaktieren verunsichert die Kapitalmärkte und gefährdet das Zinsniveau. Eine verzögerte Verabschiedung bringt Banken, Sparkassen und Raiffeisenkassen in große Schwierigkeiten.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1209105400
Herr Uldall, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Poß?

Gunnar Uldall (CDU):
Rede ID: ID1209105500
Bitte.

Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1209105600
Herr Kollege Uldall, sind Sie nicht der Meinung, daß Sie mit der Vorlage eines Gesetzentwurfs, der offensichtlich wenn nicht verfassungswidrig, so doch mit starken Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit ausgestattet ist, selbst die Finanzmärkte zusätzlich verunsichern und beunruhigen, statt eine Klarheit zu schaffen, die auch den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts wirklich Rechnung trägt?

Gunnar Uldall (CDU):
Rede ID: ID1209105700
Herr Poß, deswegen haben sowohl der Kollege Rind wie auch ich eingangs dieser Rede gesagt, daß es mit uns eine Aufhebung des Bankgeheimnisses nicht geben wird, und dies ist das entscheidende Signal,

(Joachim Poß [SPD]: Sie haben nicht verstanden!)

das die Finanzmärkte brauchen. Es wäre gut, wenn ein solches Signal auch von der SPD käme, meine Damen und Herren.

(Joachim Poß [SPD]: Sie legen einen verfassungswidrigen Gesetzentwurf vor! — Weiterer Zuruf von der SPD: Gehen Sie doch auf die Frage ein!)

Meine Damen und Herren, eine Verzögerung der Verabschiedung dieses Gesetzes würde unverantwortliche Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Neuregelung hervorrufen, weil einfach die Kreditinstitute mindestens ein halbes Jahr benötigen, um die entsprechenden organisatorischen Voraussetzungen zu schaffen.

(Zuruf von der SPD: Warum bringen Sie es dann so spät?)

Eine völlige Blockade dieses Gesetzes wäre natürlich noch schlimmer, denn sie hätte noch einen anderen Effekt: Wir hätten dann zum Jahresende, also etwa in acht oder neun Monaten, die Situation, daß die Besteuerung von Kapitalerträgen auslaufen würde, da sie nach dem Spruch des Verfassungsgerichts ungültig ist.

(Joachim Poß [SPD]: Aber das wissen Sie doch schon seit einem Jahr! Das ist schon seit einem Jahr bekannt! Warum kommen Sie damit dann erst jetzt?)

Im Klartext heißt das, daß ab Januar keine Zinsen mehr besteuert würden. Das würde die Finanzminister im Bund und in den Ländern sowie die zuständigen Leute in den Gemeinden in eine fürchterliche Klemme bringen, aber eine solche Blockadepolitik durch die SPD-Länder im Bundesrat und durch die SPD-Bundestagsfraktion hier würde natürlich auch Beifallsstürme hervorrufen, zwar nicht bei den 80 % Steuerpflichtigen, die von dem Zinsabschlag gar nicht betroffen wären, aber bei den anderen 20 %. Von denen würden Sie Beifallsstürme kriegen, weil die natürlich freigestellt werden, nämlich diejenigen,

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Wir hätten dann eine Bananenrepublik!)

die mit ihrem Zinseinkommen so hoch liegen, daß sie die Freibeträge überschreiten. Die würden Ihnen heftig Beifall klatschen, und diese Leute, die ein so hohes Zinseinkommen haben, gehören zu der Gruppe, der die Sozialdemokraten sonst ihre besondere Aufmerksamkeit widmen; sie gehören nämlich wirklich zu der sogenannten Gruppe der Reichen.

(Vorsitz: Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg)

Würden die Sozialdemokraten ihre Blockadepolitik im Bundesrat weiterbetreiben, könnte sich zum Jahresende die Situation einstellen, daß Herr Flick und Baron Thyssen keine Einkommensteuer mehr zu zahlen hätten.

(Joachim Poß [SPD]: Beschimpfen Sie doch nicht Flick und Thyssen!)

Ich wünschte Ihnen sehr, daß Sie diese Situation dann rechtfertigen müßten, Herr Poß.

(Claus Jäger [CDU/CSU]: Sehr gut!)




Gunnar Uldall
Deswegen wird unsere Fraktion auf eine zügige Verabschiedung dieses Gesetzes dringen,

(Beifall bei der CDU/CSU)

damit dem Verfassungsgericht entsprochen wird, eine gerechte Zinsbesteuerung in Deutschland Platz greift und wir einen Kapitalmarkt Deutschland behalten, der die großen Herausforderungen der Wiedervereinigung bewältigen kann.
Vielen Dank

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209105800
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Ebert das Wort.

Eike Ebert (SPD):
Rede ID: ID1209105900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde es bedauerlich, daß unsere Debatte ganz offensichtlich daran krankt, daß Sie ständig Pappkameraden aufbauen, um dann darauf schießen zu können.

(Beifall bei der SPD)

Herr Uldall, es ist wenig eindrucksvoll, wenn Sie fast ein Jahr brauchen, um hier im Parlament einen Entwurf vorlegen zu können, und jetzt behaupten, daß die SPD schuld wäre, wenn ab 1. Januar 1993 die Kapitalerträgnisse möglicherweise nicht mehr besteuert würden.

(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/CSU]: Das Urteil stammt von Ende Juni!)

— Das Urteil ist vom 27. Juni 1991. Dann haben Sie zehn Monate — ich denke, Sie können genauso gut rechnen wie ich —

(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/CSU]: Ein Jahr?)

— fast ein Jahr, habe ich gesagt — gebraucht, um hier etwas vorzulegen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209106000
Herr Abgeordneter Ebert, ob diese Rechnung stimmt, möchte Herr Dr. Faltlhauser durch eine Zwischenfrage, nehme ich an, feststellen. Gestatten Sie eine Frage? Ich rechne die Zeit auch nicht an.

Eike Ebert (SPD):
Rede ID: ID1209106100
Ja, bitte schön, Herr Dr. Faltlhauser.

Dr. Kurt Faltlhauser (CSU):
Rede ID: ID1209106200
Herr Kollege, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß am gleichen Tage, an dem das Urteil verkündet wurde, am 27. Juni 1991, der Bundeskanzler bereits die Zinskommission eingesetzt hat, daß die Zinskommission der Öffentlichkeit ein sehr umfängliches und detailliertes Gutachten — rechnen Sie die Sommerpause mit — bereits im November vorgelegt hat? Nehmen Sie weiterhin zur Kenntnis, daß die Verwaltung, die Administration des Finanzministeriums in sensationell kurzer Zeit, nämlich bis März, ein Gesetz formuliert hat und daß heute bereits die Anhörung der Verbände, also aller Fachbeteiligten im Finanzministerium und auch die Anhörung aller Experten hier im Bundestag hinter uns liegt? Würden Sie auf Grund der Erfahrung parlamentarischer demokratischer Arbeit bestätigen, daß dies ein sensationell schnelles Vorgehen ist, das ich in anderen komplexen Fachbereichen sowohl bei dieser Regierung als auch bei vielen Vorläuferregierungen bisher kaum feststellen konnte? Wie kommen Sie angesichts dieser Tatsache zu der Behauptung, daß hier lange gezögert wurde?

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209106300
Herr Abgeordneter Ebert, bevor Sie die Antwort geben, möchte ich sagen: Das war wohl keine kurze Zwischenfrage. Ich würde Ihnen empfehlen, einmal den § 27 unserer Geschäftsordnung durchzulesen.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Ich habe mich an der Zwischenfrage der Frau Kollegin orientiert!)

Das war eher eine Kurzintervention. Wenn wir das unter diesem Kapitel abbuchen, haben wir weniger geschäftsordnungsmäßige Schwierigkeiten. Das erlaubt Ihnen, Herr Ebert, aber trotzdem, eine entsprechende Antwort zu geben.

Eike Ebert (SPD):
Rede ID: ID1209106400
Die kann relativ kurz sein, Herr Präsident: Ich fand das genauso, wie Sie es beurteilt haben. Das ist der Versuch, eine Rechtfertigungsrede zu halten, Herr Dr. Faltlhauser, daß das so lange gedauert hat.

(Beifall bei der SPD — Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/CSU]: Das war eine Richtigstellung!)

Denn wenn Sie wissen, daß es einen fixen Termin gibt, den 1. Januar 1993, dann müssen Sie eben schneller arbeiten, auch wenn das Tempo von Ihnen schon als sensationell schnell empfunden worden ist.

(Beifall bei der SPD)

Sie können jetzt doch nicht sagen, daß die SPD schuld wäre, falls es möglicherweise Schwierigkeiten gibt, dieses Gesetz bis zum 1. Januar 1993 in Kraft zu setzen; denn wir sehen jetzt zum erstenmal diesen Entwurf auf dem Tisch, und heute ist die erste Lesung.
Ich will einmal sehen, meine Damen und Herren, ob Sie die Flexibilität aufbringen, die es ermöglicht, eine Konsenslösung in diesem Bereich zu erreichen, damit das Gesetz in der Tat rechtzeitig in Kraft treten kann. Wenn Sie aber weiterhin der SPD Vorwürfe machen, mit denen sich die SPD einfach nicht identifizieren kann, dann habe ich Zweifel, ob es zu einem Konsens kommen wird.
Herr Uldall, Sie haben in Ihrer Rede mehrfach gesagt: Eine Abschaffung des Bankgeheimnisses, wie die SPD sie will, wird es mit uns nicht geben. Nehmen Sie zur Kenntnis, daß auch die SPD das Bankgeheimnis nicht abschaffen will. Ich denke, wir haben in der Wahrung des Geheimnisses von Bürgern eine längere Tradition als Sie; ich will da nicht auf andere Bereiche abheben. Aber wenn das Bankgeheimnis dafür mißbraucht wird, daß in großem Umfang Steuerbeträge am Staat vorbeigeleitet werden, dann kann mit dem Bankgeheimnis in dieser Form etwas nicht stimmen. Darüber müssen wir reden, Herr Uldall.

(Beifall bei der SPD)

Es ist auch völlig unsinnig, wenn Sie hier vortragen, die SPD wolle — Sie haben das als Replik auf einen



Eike Ebert
Zwischenruf gesagt — an der Höhe der Freibeträge kratzen; vielmehr ist es so — das können Sie einfach nachlesen in der Diskussion vor einigen Jahren —, daß die Freibetragshöhe jetzt dem entspricht, was die SPD vor Jahren schon gefordert hat. Deshalb können Sie jetzt nicht versuchen, hier Buhmänner aufzubauen.

(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/CSU]: Was mäkeln Sie dann dauernd daran herum?)

— Wir mäkeln — dazu komme ich noch — an der Einbindung dieser Freibeträge in das Gesamtsystem der Grundbeträge — nicht aus Prinzip, Herr Hauser; das ist nicht das Thema.
Wir müssen uns auch dagegen wehren, daß Sie versuchen, Äußerungen, die Professoren gestern in der Anhörung gemacht haben, zu diskriminieren, indem Sie sagen: Das sind Ihre SPD-Leute, die Sie da eingeladen haben.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das habe ich nicht gesagt!)

— Wir haben hier lange darüber diskutiert, daß Ihre Professoren, die Sie eingeladen haben, nicht gekommen sind, sich geweigert haben, sich zu dem Thema zu äußern.

(Joachim Poß [SPD]: Gekniffen haben!)

Die Professoren, die da waren, versuchen Sie der SPD zuzurechnen, weil Ihnen die Äußerungen nicht passen. Ich denke, Herr Dr. Faltlhauser, Sie sollten auf Ihrem Schreibtisch in Ihrer Post nachschauen. Dann werden Sie nämlich feststellen, daß die schriftliche Äußerung von Professor Lattmann vom Zentralverband der Volks- und Raiffeisenbanken versandt worden ist.

(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/CSU]: Das macht es nicht besser!)

— Jetzt polemisieren Sie hier auch noch gegen die, weil Ihnen das nicht paßt. Das hat doch sicherlich mit der SPD überhaupt nichts zu tun.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Darauf gehe ich nicht mehr ein, der kriegt Alterszuschlag!)

Wenn er das vorher nicht liest, dann ist das sein Problem, aber nicht das Problem der SPD. Littmann kann man nicht deshalb der SPD zurechnen, weil Ihnen seine Aussagen nicht passen.
Herr Dr. Faltlhauser, wenn Sie hier schon die Zeitung von Herrn Poß nehmen und daraus zitieren, dann sollten Sie nicht nur die Oberüberschrift lesen, sondern auch die Unterüberschriften; denn darin steht unter anderem, daß der Gesetzentwurf eine Unterstützung für Steuerbetrüger ist, so „Die Zeit" vom heutigen Tag. Ich denke, das ist kein SPD-typisches Blatt, dem Sie Parteilichkeit vorwerfen können. Der Herr Hanke spricht in der gleichen Zeitung davon, daß der Gesetzentwurf durchaus etwas von einer halbseidenen Veranstaltung hätte.

(Joachim Poß [SPD]: So ist das, halbseiden!)

— Halbseiden, das ist bemerkenswert, Herr Poß, da stimme ich Ihnen zu.

(Joachim Poß [SPD]: Das wundert mich aber nicht!)

Meine Damen und Herren, ich denke, der vorliegende Entwurf macht sehr deutlich, in welches Dilemma man gerät — Sie sind hineingeraten —, wenn man verfassungsrechtlich problematische Tatbestände nicht rechtzeitig beseitigt. Seit Jahren toleriert diese Bundesregierung es, daß in großem Stil Einkünfte aus Kapitalvermögen nicht deklariert und die zu zahlenden Steuern hinterzogen werden. Seit Jahren wurden und werden trotz steigender Finanznot der öffentlichen Hände Milliarden am Fiskus vorbeigeleitet. Weil die Großen es so machen, sehen natürlich auch die vielen Kleinen nicht ein, daß man Zinseinanhmen versteuern muß. Steuerhinterziehung ist in unserem Land zum Volkssport geworden; Tafelgeschäfte sind „in". Wer bei gehobenen Partys nicht mit seinem Konto in Luxemburg renommieren kann, läuft Gefahr, nicht dazuzugehören.

(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/CSU]: In welchen Kreisen verkehren Sie denn?)

Gegen all dies hat die Bundesregierung außer dem mißlungenen Quellensteuerversuch nichts unternommen; vielmehr gibt es vollmundige Erklärungen des Finanzministers, so z. B. im November 1989 auf dem 12. Deutschen Steuerberatertag — ich zitiere —:
Mit uns gibt es weder im nationalen Rahmen noch auf europäischer Ebene irgendeine Form der Quellensteuer oder von Kontrollmitteilungen.
Die Quellensteuer, meine Damen und Herren — Sie haben jetzt listigerweise einen anderen Namen gefunden —, führen Sie mehr oder weniger wieder ein; Sie versuchen es zumindest. Über das, was an Unsicherheiten bleibt, werden wir noch reden.
Meine Damen und Herren, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat Ihnen eine Frist gesetzt. Darüber habe ich schon gesprochen. Ich denke, wir sollten in diesem Zusammenhang auch mal sagen, daß es mehr und mehr ein Kennzeichen des Regierungshandelns dieser Bundesregierung geworden ist und mehr und mehr ein Kennzeichen des Handelns der Regierungskoalition, daß das Bundesverfassungsgericht immer häufiger verfassungswidrige Tatbestände in diesem Land beanstanden muß, so auch in diesem Fall.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Ich denke, dies ist bemerkenswert. Sie müßten einmal darüber nachdenken, wie Sie dieser Tendenz entgegenwirken können.
Dabei bin ich durchaus der Auffassung — ich habe mich auf dem Weg hierher mit Herrn Uldall darüber unterhalten —, daß dies eine sehr unglückliche Entwicklung ist. Wenn die Gestaltung dieser Gesellschaft mehr und mehr von jenen, die in der Politik dafür zuständig sind, auf die Gerichte übergeht, dann hilft das nicht unbedingt den Regelungen, die bei der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung oder in anderen Bereichen dabei herauskommen, denn Verfas-



Eike Ebert
sungsrichter müssen ihr Handeln, ihre Aussagen notgedrungen an anderem orientieren, als die Politik das tun kann. Ich denke, es ist ein schweres Versäumnis, wenn mehr und mehr Verfassungsgerichte an Stelle der Politik handeln. Ich sehe, daß das auch auf diesem Feld nicht ganz ohne Probleme ist.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Zustimmung!)

Ich unterstreiche das, was Herr Uldall gesagt hat: Es ist wenig verantwortungsvoll, daß die Beratungen hier im Parlament erst jetzt stattfinden können.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Es geht nicht schneller!)

Ich komme aus der Kreditwirtschaft und weiß, welches Durcheinander die Quellensteuer und ihre unorganisierte Einführung produziert haben. Eine solche steuerliche Veränderung greift intensiv in die organisatorischen Abläufe der einzelnen Kreditinstitute ein. Sie müssen enorm viel im Bereich der Datenverarbeitung ändern; neue Software muß geschrieben werden. Ich weiß, aus dem Bereich, aus dem ich komme, daß die Leute schon seit langen Monaten sagen: Wir sehen das gleiche Chaos kommen wie damals. — Damals haben Sie noch nicht einmal Ausführungsbestimmungen rechtzeitig erlassen, und Sie hatten noch nicht einmal die notwendigen Formulare erstellt. Die Finanzämter waren nicht einmal in der Lage, sachgerechte Auskünfte zu erteilen.
Meine Damen und Herren, dies sollte nicht wieder passieren. Ich meine, daß Sie die Hauptverantwortung dafür tragen, daß wir nicht in der Zeit sind. Wir reden ja so viel von Standortqualität der Bundesrepublik Deutschland. Ihr Verhalten in diesem Bereich und Ihre Bereitschaft — ich erinnere noch einmal an die Anhörung, die wir gestern im Finanzausschuß durchgeführt haben —, auf einem äußerst dünnen Eis zu versuchen, eine solche Gesetzgebung durchzubringen, tragen ganz entscheidend dazu bei, daß der Standort Bundesrepublik Deutschland international in Mißkredit gerät. Daran können wir alle kein Interesse haben.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, ich fordere Sie auf, die geschilderten Erfahrungen im Zusammenhang mit der Quellensteuer wirklich ernst zu nehmen und sich zu bemühen, zu einer Lösung zu kommen.
Der vorliegende Entwurf ist allerdings wenig geeignet dafür. Er ist ein Dokument der Hilflosigkeit und der Konzeptionslosigkeit dieser Bundesregierung und dieser Koalition.

(Beifall bei der SPD)

Er ist in vielen Bereichen steuersystematisch verfehlt und in seinen Auswirkungen wenig durchdacht. Er ist, wie man an vielen Stellen erkennen kann, mit heißer Nadel genäht. Ich befürchte, daß das Ganze ein steuerpolitisches Chaos produziert, das nicht mehr zu überbieten ist.
Schauen wir uns nur einmal einige Dinge im Detail an. Ich komme zunächst zu den Freibeträgen. Freibeträge sollen steuersystematisch dazu dienen, den Grundaufwand abzudecken. Es müssen nicht im einzelnen Nachweise vorgelegt werden; ich erinnere an
den Arbeitnehmerfreibetrag, den Kinderfreibetrag usw. Dieser Freibetrag wäre ja irgendwie noch zu akzeptieren. Gestern hat einer der Professoren zum Ausdruck gebracht, angesichts der unsystematischen Gesamtsituation, wie sie sich inzwischen in unserem Einkommensteuerrecht darstelle, komme es auf ein weiteres unsystematisches Element nicht mehr an, denn Sie benutzen diesen Freibetrag zu einem anderen Zweck, nämlich dazu, die Anzahl derjenigen, die dem Zinsabschlag unterfallen, insgesamt auf 20 % der Steuerpflichtigen zurückzufahren. Das ist ein ganz anderer Ansatz, aber man kann darüber diskutieren.
Ich habe vorhin gesagt, daß wir von der SPD das Problem sehen — darüber muß man sprechen; das kann auch Ihnen nicht recht sein —, daß in vielen Bereichen die Abgleichung dieser jetzt relativ hohen Freibeträge mit den vorhandenen Freibetragsregelungen kollidiert. Ich finde schon, daß es ein Skandal ist, wenn sich der steuerliche Grundfreibetrag jetzt insgesamt niedriger darstellt. Er liegt nämlich bei nur 5 610 DM und damit unter den 6 000 DM, die Sie als Sparerfreibetrag eingesetzt haben. Dies kann doch nicht sein.

(Joachim Poß [SPD]: Das ist der Punkt!)

Hier ist Handlungsbedarf, und Sie müßten sich dieser Frage annehmen.
Außerdem — das ist auch in der Anhörung deutlich geworden — führt die Kumulierung der Freibeträge zu geradezu skurrilen Ergebnissen; denn wenn Sie sich dieses von Ihnen zwar nicht geliebte, aber vorhandene Papier des Herrn Ullmann anschauen, dann sehen Sie, daß dieser ja sehr eindrucksvoll vorgerechnet hat, daß, wenn die Zinseinnahmen einer Familie, wie das ja üblich ist — das machen alle so —, auf die Kinder regelmäßig verteilt werden, eine Familie von zwei Erwachsenen und zwei Kindern insgesamt einen steuerlichen Freibetrag von über 52 000 DM hat. Rechnen Sie sich einmal aus, was für ein Kapitalbetrag dahinterstehen muß! Ich denke, das können auch Sie nicht wollen. Ich hoffe, daß Sie darüber noch einmal nachdenken. So kann das doch nicht laufen.
Wenn ich am Anfang von den „Pappkameraden" gesprochen habe, dann gehört dazu letztlich auch der Begriff, den Sie hier gefunden haben; denn das ist ja kein Sparerfreibetrag, der irgendwo etwas Soziales insinuiert, so daß man denkt, da wird für den kleinen Sparer etwas gemacht.

(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/CSU]: Natürlich!)

Das ist ein Gewinnfreibetrag. Es ist überhaupt nicht einzusehen, daß hier die Erträge aus Kapitalgesellschaften gleich behandelt werden. Gerade wenn Sie auf das Nebeneinander von GmbH-Organisationsformen in der gewerblichen Wirtschaft schauen und denjenigen, der noch die volle Verantwortung als Einzelunternehmer trägt, dann ist es doch sicherlich auch von Ihnen nicht gewollt, daß Sie damit einen



Eike Ebert
wichtigen Beitrag dazu leisten, daß die GmbH in Zukunft noch attraktiver ist als bisher.

(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/CSU]: Dann müssen wir das gesamte Steuerrecht ändern!)

Meine Damen und Herren, ich denke, in diesem Punkt müssen Sie einmal nachdenken und in Ihrer Steuerkommission noch kräftig tätig werden,

(Beifall bei der SPD)

da offensichtlich die Regierung selbst sich dieser Frage zur Zeit nicht annehmen kann.
Ich habe gestern in der Anhörung bereits darauf hingewiesen, daß Sie die Findigkeit — damit sind ja Bataillone von Steuerberatern und Bankjuristen beschäftigt — im Bereich des Financial Engineering nicht unterschätzen dürfen. In diesem Bereich wird ja schon kräftig daran gearbeitet, wie man mit Ihren Vorgaben andere Lösungen finden kann.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das wird bei jeder Lösung so sein! Bei jeder!)

— Aber unsere Aufgabe, Herr Dr. Faltlhauser, muß doch darin bestehen, so etwas in einer möglichst engen Bandbreite zu halten.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Haben wir!)

Wir können doch nicht ein Gesetz machen, bei dem wir hier in der ersten Lesung schon Dutzende von Modellen auf Kiel gelegt vorfinden, die dieses Gesetz wieder umgehen sollen. So verstehe ich Gesetzgebung nicht, meine Damen und Herren.

(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/CSU]: Wer wird denn 300 Sparkonten anlegen?)

Sie sollten das genauso sehen. Ich meine, Sie müssen diesen Entwurf ganz entscheidend überarbeiten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Die behauptete Verfassungswidrigkeit!)

Wo sind Ihre Gegenexperten gewesen? Sie werden doch nicht sagen wollen, daß sie wegen des Streiks im
öffentlichen Dienst nicht da waren. Dann hätten sie sich schriftlich äußern können.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, trotz dieser sich andeutenden Verfassungswidrigkeit wollen Sie den Gesetzentwurf verabschieden. Ich beziehe hier durchaus die kritischen Worte ein, die ich am Anfang zu der Frage gesagt habe, ob es richtig ist, daß Verfassungsgerichte die Wirklichkeit gestalten. Aber wir haben jetzt das Gesetz, wir haben den Termin 1. Januar 1993, und dann betreten Sie jetzt dieses dünne Eis und versuchen, dieses Gesetz durchzupauken. Sie nehmen es in Kauf, daß wir hier eine völlige Chaossituation bekommen. Das ist ja nun sicherlich für die Ziele, Herr Uldall, in denen wir übereinstimmen, nicht hilfreich.
Meine Damen und Herren, ich denke, daß dieses Gesetz auch in einem anderen Punkt nicht das sein kann, als was die Regierungsvorlage es auszuweisen versucht. Ich spreche den Bereich der EG-Regelungen an. Ich weiß, daß man Kapitalmarktregelungen mit wirklich umfassender Rigorosität — ob man das will oder nicht, darüber kann man diskutieren; wir sind ja nicht für die Kontrollmitteilung, sondern Sie wissen, daß wir als Sozialdemokraten das Stichprobenverfahren vorziehen — nur machen kann, wenn man eine Regelung auf europäischer Ebene erreicht. Ich frage Sie nochmals: Wo sind Ihre Aktionen, um auf der europäischen Ebene etwas zu erreichen?

(Beifall bei der SPD)

Denn es darf nicht sein, daß wir EG-weit in den jeweiligen Ländern die ausländischen Kapitalanleger de facto von den Steuern befreien, was Sie mit diesem Gesetzentwurf machen. Mit dem § 30a der Abgabenordnung haben Sie ein hieb- und stichfestes Bankgeheimnis installiert, das keine Nachprüfungen zu erwarten hat. Ich glaube, es ist noch gar nicht so deutlich geworden, daß Sie mit diesem Gesetz die Steueroase Bundesrepublik Deutschland schaffen.

(Joachim Poß [SPD]: Die haben wir doch schon!)

Dies ist richtig, Herr Poß, wir haben sie schon. Aber wir wollen sie hier nochmals verfestigen. Derjenige, der aus dem Ausland hier Geld anlegt, ist nicht gehalten, es zu versteuern. Ich rede nicht über die rechtliche Situation, ich rede über die faktische Situation, meine Damen und Herren. Ich weiß nicht, ob wir damit einen hilfreichen Beitrag leisten, um innerhalb der EG zu einer Koordinierung zu kommen. Denn das System wäre hinterher, daß alle europäischen Bürger jeweils im Ausland ihr Geld anlegen müssen. Dann ist das Ganze steuerfrei. Ich denke, das kann so nicht laufen.
Ich meine — auch hier stimme ich mit Ihnen überein —,es muß eine ganze Menge getan werden, um das Umfeld zu verbessern, daß eine solche Regelung von der Bevölkerung akzeptiert wird.
Dazu gehört, daß die Inflationsrate heruntergefahren wird. Denn wenn die Steuer anfängt, die Substanz zu verzehren, ist klar, daß sich der einzelne dagegen zu wehren versucht. Das halten wir auch nicht für sozial. Aber Herr Uldall, wer ist seit 1982 in diesem Land an der Regierung? Wer ist folglich für die



Eike Ebert
wirtschaftliche Situation verantwortlich? Wer ist folglich dafür verantwortlich, daß wir inzwischen eine Inflationsrate von fast 5 % haben? Dann müssen Sie sich auch das zurechnen lassen, was bei der Besteuerung der Kapitalerträge nicht in Ordnung ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, das Beste, was Sie für den Kapitalmarkt tun können, ist, das Gesetz zurückzuziehen und etwas vernünftiges Neues vorzulegen.
Danke schön.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209106500
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Hauser (Rednitzhembach) das Wort.

Hansgeorg Hauser (CSU):
Rede ID: ID1209106600
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Ebert, soweit Sie sich auf die Praxis bezogen haben, waren Ihre Ausführungen sehr, sehr gut. Ich kann Ihnen nur zustimmen. Was das Thema Verunsicherung betrifft, muß ich Ihnen sagen: Die Verunsicherung entsteht dadurch, daß Sie ständig von einer Verfassungswidrigkeit reden und sie unterstellen. Warten wir ab, wie das Verfassungsgericht darüber entscheiden wird!

(Joachim Poß [SPD]: Wollen Sie dieses Risiko wieder eingehen?)

Dann können wir das entsprechend sehen.
Der Gesetzgeber muß die Steuerehrlichkeit durch hinreichende, die Steuerbelastungsgleichheit gewährleistende Kontrollmöglichkeiten abstützen. Im Veranlagungsverfahren bedarf das Deklarationsprinzip der Ergänzung durch das Verifikationsprinzip.
Mit diesen Leitsätzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juni 1991, also vor nicht einmal einem Jahr, begründen die Befürworter von Kontrollmitteilungen die Notwendigkeit und Pflicht des Gesetzgebers zur Schaffung eines Instrumentariums von Kontrollmechanismen. Es ist deshalb notwendig, das denkbare Instrumentarium etwas näher zu untersuchen.
Kontrollen von Zinseinkünften können einmal durch eine Verpflichtung der Banken zur Meldung der Zinserträge an die Finanzbehörden erfolgen. Wir haben das in der Zinskommission das Mitteilungsverfahren genannt. Diese Verpflichtung kann entweder als flächendeckende, also vollständige, Berichtspflicht oder nach Auswahlkriterien, also einer eingeschränkten Berichtspflicht, ausgestaltet sein, die Kontrolle könnte aber auch durch die Finanzverwaltung selbst durchgeführt werden: durch die Einrichtung eines Prüfungsverfahrens, bei dem die Finanzbehörden jedes Jahr eine bestimmte Anzahl von Kundenkonten überprüfen.
Lassen Sie mich diese theoretischen Kontrollmöglichkeiten gleich auf ihre praktische Durchführbarkeit und die entsprechenden Konsequenzen nachprüfen.
Es besteht Einigkeit — auch mit Ihnen —, daß wir ein flächendeckendes Mitteilungsverfahren des Bankenapparates an die Finanzbehörden nicht wollen.

(Zuruf von der SPD: Richtig!)

Deshalb wollen Sie von der SPD eine Kontrolle in Stichproben einführen, also eine eingeschränkte Mitteilungspflicht. Sie benutzen dazu das schöne Wort „bürgerfreundlich", also ein bißchen softig, damit es möglichst gut klingt.
Wie schaut denn so etwas in der Praxis aus? Die Finanzverwaltung beschließt, daß die Konten aller in einem Zufallsverfahren ausgewählten Steuerpflichtigen von den Banken an das Finanzamt gemeldet werden, z. B. alle, die heute, am 7. Mai, geboren sind. Alle Banken würden ihre Meldungen an eine zentrale Behörde, z. B. an das Bundesamt für Finanzen, schikken, und es müßte dann ein System entwickelt werden, um diese Meldungen bezüglich einer bestimmten Einzelperson zu koordinieren. Für Zigtausende wäre diese Arbeit völlig überflüssig, da sie die Sparerfreibeträge, die ja sehr hoch angesetzt sind, nicht überschreiten. Das betrifft alle die Arbeitnehmer, die ein normales Arbeitseinkommen haben. Die alle sind davon nicht betroffen, und daran mäkeln Sie die ganze Zeit herum!

(Joachim Poß [SPD]: Das ist nicht der Punkt; das wissen Sie doch!)

Um alle Steuerpflichtigen dem Zufallsverfahren zu unterwerfen, müßte ein System der Erfassung ausgearbeitet werden, z. B. eine Personenidentifikationsnummer, bestehend etwa aus einer Steuernummer, dem Anfangsbuchstaben des Familiennamens und dem Geburtsdatum, und das alles nur, um einen ganz geringfügigen Effekt zu erzielen. Der Vergleich mit der Rasterfahndung, der gestern immer wieder gebracht und sogar von Ihrer Seite zugegeben worden ist, ist sicherlich nicht abwegig. Ihre Frau Kollegin hat gesagt, das könnte durchaus so verstanden werden.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209106700
Herr Abgeordneter Hauser, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Poß zu beantworten? — Bitte schön!

Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1209106800
Herr Kollege Hauser, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Frau Kollegin Matthäus-Maier, als sie diesen Begriff anwandte, dazu unter Hinweis auf das, was das Ifo-Institut in München vorgeschlagen hat, sagte, daß eben das genau nicht das Ziel der SPD sei, sondern das Gegenteil von uns angestrebt wird? Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen und dementsprechend auch in künftigen öffentlichen Äußerungen nicht mehr das Modell der SPD in Zusammenhang mit der Rasterfahndung zu bringen?

Hansgeorg Hauser (CSU):
Rede ID: ID1209106900
Herr Kollege Poß, erinnern Sie sich an die Diskussion! Frau Matthäus-Maier hat sehr wohl gesagt: Das geht in die Richtung einer Rasterfahndung.

(Detlev von Larcher [SPD]: Nein, im Gegeteil!)




Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach)

Dann lesen Sie das Protokoll nach. Sie hat gesagt, daß das so lückenlos gemacht werden muß, daß letzten Endes eine Rasterfahndung entsteht.

(Detlev von Larcher [SPD]: Nein, das Gegenteil ist der Fall!)

Da z. B. Tafelgeschäfte mit dieser Fahndungsmethode nicht erfaßt würden — die Anleger sind ja hier anonym —, würde diese Anlageform einen erheblichen unerwünschten Aufschwung erzielen, es sei denn, wir würden entweder eine Aufzeichnungspflicht der Banken einführen oder eine Abgeltungssteuer auf Tafelgeschäfte mit dem Risiko der erheblichen Ungleichbehandlung.
Es ist über die Dichte der Meldungen gesprochen worden. Auch das müßte ein Ausmaß annehmen, das die Finanzverwaltung nicht verkraften könnte. Wenn die Prüfung durch die Finanzverwaltung durchgeführt würde, dann müßte ein regelrechter Sonderprüfungsdienst mit erheblichem Personenaufwand zur gezielten Prüfung von Kundenkonten bei Kreditinstituten eingerichtet werden. Die systematische Prüfung müßte nach wechselnden Kriterien eine bestimmte Prüfungsintensität erreichen, wobei gewährleistet sein muß, daß der Kunde einer kleinen Sparkasse — Herr Ebert, hören Sie zu — oder der Raiffeisen- oder Volksbanken kein größeres Entdeckungsrisiko haben darf als der Kunde einer Großbankfiliale. Die Zuordnung der bei der Sonderprüfung ausgeschriebenen Kontrollmitteilungen zum richtigen Finanzamt und zur richtigen Steuerakte muß ebenso gewährleistet sein wie die vollständige Erfassung aller Einkünfte aus Kapitalvermögen. Beide Prüfungsmethoden wären reine Verdachtsprüfungen, und das ist rechtssystematisch ebenso unzulässig. Der Bankenerlaß müßte nicht nur in bezug auf Absatz 3 des § 30 a aufgehoben werden, sondern er müßte komplett aufgehoben werden.
Letztendlich sind alle diese Kontrollmethoden, die die steuerliche Belastungsgleichheit gewährleisten sollen, keine geeigneten Methoden, die hier angewendet werden können.

(Joachim Poß [SPD]: Das ist Ihre subjektive Ansicht; die Fachleute sagen etwas anderes!)

Machen wir uns doch nichts vor: Mangelhafte Prüfungen würden in kürzester Zeit perfektioniert werden, so daß wir in eine totale Kontrolle kämen. Einen solchen Überwachungsstaat wollen wir doch alle nicht. Das Vertrauen des Bürgers zum Staat und vor allem auch der Anleger zu den Banken wäre in kürzester Zeit zerstört, mit allen Konsequenzen, die heute schon ausführlich dargestellt worden sind.
Wir sollten die vom Verfassungsgericht gebotene Verifikationspflicht bei denjenigen Steuerpflichtigen untersuchen, die letztendlich als Steuerzahler übrigbleiben. Das sind schätzungsweise nur noch 20 %. In der Regel sind diese höherverdienenden Steuerpflichtigen leitende Angestellte, hohe Beamte, Unternehmer oder Freiberufler. Jeder Angehörige dieser Berufsgruppen weiß, daß eine falsche Erklärung von Kapitaleinkünften eine Steuerhinterziehung darstellt mit erheblicher Strafbewehrung und Konsequenzen im Berufsleben. Im Veranlagungsverfahren kann bei
begründetem Verdacht jederzeit von der einfachen Nachfrage bis zum Ermittlungsverfahren ein ganzes Spektrum von Verifikationsmöglichkeiten ausgenutzt werden.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209107000
Eine weitere Bitte um eine Zwischenfrage wird angemeldet, Herr Abgeordneter Hauser.

Hansgeorg Hauser (CSU):
Rede ID: ID1209107100
Bitte sehr.

Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1209107200
Herr Kollege Hauser, haben nicht auch Sie wie ich den Unterlagen zur gestrigen Anhörung entnehmen können, daß von Leuten, die beispielsweise 1 Million Jahreseinkommen haben, nur jeder dritte Zinseinkünfte angibt?

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Als IstZustand!)

— Als Ist-Zustand.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das ändern wir!)


Hansgeorg Hauser (CSU):
Rede ID: ID1209107300
Herr Poß, die Verifikationsmöglichkeit wird sich in Zukunft auf nur noch 20 % konzentrieren müssen. Das heißt, daß es nicht mehr so wie bisher ist, die große Vielzahl der Steuerpflichtigen nachzuprüfen ist, sondern es werden nur noch 20 %, ein Fünftel der Steuerpflichtigen übrigbleiben. Sie werden erleben, daß die Finanzbeamten von ihren Möglichkeiten, die ihnen absolut zur Verfügung stehen — glauben Sie mir das, ich kann Ihnen das aus der Praxis bestätigen —, besser Gebrauch machen können, wenn nur noch ein kleinerer Teil zu überprüfen ist.

(Joachim Poß [SPD]: Die deutsche Steuergewerkschaft ist anderer Meinung, wie Sie wissen! Die schlägt unser Verfahren vor!)

— Gott sei Dank bin ich nicht Mitglied der Steuergewerkschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU — Joachim Poß [SPD]: Das geht auch schlecht als Arbeitgeber!)

— Sehr richtig.
Schließlich unterliegen Steuerpflichtige, soweit es sich um Gewerbetreibende und Freiberufler handelt, der steuerlichen Außenprüfung. Auch dabei wird eine Überprüfung der Kapitaleinkünfte vorgenommen.
Die Gruppe der steuerlich nicht Überprüften ist sicherlich im Endergebnis verschwindend gering, so daß von einer hinreichenden Belastungsgleichheit tatsächlich gesprochen werden kann.

(Joachim Poß [SPD]: Das ist verfassungspolitisches Abenteurertum!)

Das vorgelegte Zinsabschlaggesetz gewährleistet nicht nur eine gerechte Behandlung aller Steuerpflichtigen, sondern es sichert auch zu, daß die Sparerfreibeträge von Anfang an zur Anwendung kommen. Dies garantiert das Freistellungsverfahren mittels des Freistellungsauftrags. Das Formular ist so einfach gestaltet und doch mit allen nötigen Angaben versehen, daß es sich in der Praxis sehr schnell



Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach)

bewähren wird. Natürlich müssen die Kreditinstitute eine gehörige Portion mithelfen — das gebe ich zu —, um eine umfassende Aufklärungsarbeit zu leisten. Das haben mir auch Ihre Kollegen zugesagt, die im übrigen das Zinsabschlagsgesetz als sehr positiv beurteilt haben, Kollegen aus Ihrer Organisation.

(Joachim Poß [SPD]: Sie meinen die Banker?)

— Nein, nein, da sind Ihre Genossen dabei.
Auch in den Fällen, bei denen die Grenzen der Steuerpflicht nicht überschritten werden, den sogenannten NV-Fällen, fällt zunächst ein großer Aufwand bei der Verwaltung und der Kreditwirtschaft an — das gebe ich zu —, aber eine gerechtere Besteuerung verursacht eben einen höheren Aufwand.
Wir haben gestern in aller Deutlichkeit gehört, daß es zu dem Freistellungsverfahren keine Alternative gibt!

(Beifall bei der CDU/CSU — Joachim Poß [SPD]: In diesem System!)

Es hat niemand etwas anderes vorgebracht.
Wir sind zuversichtlich, daß das vorgelegte Zinsabschlagsgesetz einer verfassungsrechtlichen Überprüfung standhält. Nach heutigem Recht wird ein hoher Prozentsatz der Steuerpflichtigen zu Steuersündern, weil die Freibeträge sehr niedrig sind. Nach neuem Recht kommt dafür nur noch ein Fünftel in Betracht, die aber wesentlich schärfer überwacht werden, als das bisher der Fall war. Die geforderte Kontrolle ist nach unserer Auffassung damit gewährleistet.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209107400
Meine Damen und Herren, da mir weitere Wortmeldungen nicht vorliegen, kann ich die Aussprache schließen.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs Drucksache 12/2501 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. — Widerspruch erhebt sich dagegen nicht. Andere Vorschläge gibt es auch nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 und den Zusatzpunkt 4 auf:
8. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des Umsatzsteuergesetzes und anderer Rechtsvorschriften an den EG-Binnenmarkt (Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetz)

— Drucksache 12/2463 —
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß (federführend)

Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus EG-Ausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Freimut Duve, Dr. Willfried Penner, Wolfgang Thierse, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Beibehaltung des ermäßigten Steuersatzes für Kunstwerke
— Drucksache 12/1320 — (v. 16. 10. 91)

Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß (federführend)

Innenausschuß
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft EG-Ausschuß
Interfraktionell ist eine Debattenzeit von einer Stunde vereinbart worden. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann habe ich auch das als beschlossen festzustellen und darf die Debatte eröffnen. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald.

Dr. Joachim Grünewald (CDU):
Rede ID: ID1209107500
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In genau 238 Tagen wird der europäische Binnenmarkt vollendet sein. Zwölf Länder Europas sind dann ein einheitlicher Wirtschaftsraum, ein Wirtschaftsgebiet größer als das von Nordamerika mit 274 Millionen Menschen, Japan mit 123 Millionen oder der GUS mit 289 Millionen Einwohnern.
Mit der ökonomischen Integration wird ein wichtiges Etappenziel auf dem mühsamen Weg zu einem gemeinsamen Europa erreicht sein. Der Präsident Jacques Delors spricht sogar davon, daß wir an diesem 1. Januar 1993 in eine neue Epoche der europäischen Geschichte eintreten werden.
Ein wichtiger Bestandteil des Binnenmarkts, der einen freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet, ist nun einmal die Beseitigung der Steuergrenzen innerhalb der Gemeinschaft und die Abschaffung der Grenzkontrollen. Dieser für das Funktionieren des Binnenmarkts unverzichtbare Schritt setzt eine weitgehende Harmonisierung der indirekten Steuern, also der Umsatzsteuer und der besonderen Verbrauchsteuern, voraus, weil sonst Haushaltsausfälle bei den Mitgliedstaaten eintreten können und insbesondere die steuerliche Wettbewerbsneutralität verletzt werden würde.
Diesem Ziel nun dient der vorliegende Gesetzentwurf. Er enthält die Anpassung des Umsatzsteuerrechts an den Binnenmarkt und sieht die Abschaffung der nicht zu harmonisierenden sogenannten kleinen Verbrauchsteuern — mit Ausnahme der Kaffeesteuer —, also der Steuern auf Leuchtmittel, Salz, Zucker und Tee, zum 1. Januar nächsten Jahres vor.
Grundlage des Gesetzentwurfs zur Umsatzsteuer ist die Änderungsrichtlinie zur 6. EG-Richtlinie, die nach langen und ganz ungewöhnlich zähen Verhandlungen am 16. Dezember 1991 in Brüssel verabschiedet werden konnte. Danach werden Waren im grenzüberschreitenden Verkehr zwischen Unternehmen umsatzsteuerlich weiter entlastet. Eine Belastung mit Umsatzsteuer erfolgt erst im Bestimmungsland. An die Stelle der bisherigen Besteuerung der Einfuhr, also der alten Einfuhrumsatzsteuer, tritt nun die Besteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs von Gegenständen im Bestimmungsland. Um die Gefahr



Pari. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald
von Steuerausfällen einzudämmen, ist ein innergemeinschaftliches Kontrollverfahren notwendig.
Bei diesem Besteuerungsverfahren handelt es sich, worauf ich ganz besonderen Wert lege, nur um eine auf vier Jahre befristete Übergangsregelung. Diese Regelung — das sei in aller Deutlichkeit gesagt — entspricht nicht den Vorstellungen der Bundesregierung von einem europäischen Binnenmarkt. Die Bundesregierung ist dieser Regelung auch immer entgegengetreten und hat sich für eine Besteuerung nach dem Ursprungslandprinzip schon ab 1. Januar nächsten Jahres eingesetzt. Sie hat trotz ganz erheblicher Vorbehalte hinterher, wenn Sie so wollen, im Kompromißwege doch letztlich mit Sicht auf die Haltung der anderen Staaten und auch der EG-Kommission zugestimmt, um den freien Waren- und Personenverkehr innerhalb der Gemeinschaft ohne Grenzkontrollen nicht zu gefährden. Sie konnte auch bei den Beratungen, auch dank Ihrer Hilfe — das sei ausdrücklich anerkannt —, ganz erhebliche steuertechnische Vereinfachungen durchsetzen.
Ab 1. Januar 1997 wird diese Übergangsregelung durch eine Regelung zur Besteuerung im Ursprungsland ersetzt werden. Eine Warenbewegung zwischen München und Paris wird dann umsatzsteuerlich genauso behandelt werden wie eine zwischen München und Hamburg. Sollte sich der EG-Ministerrat allerdings nichts einigen können, dann verlängert sich, sehr zu unserem Leidwesen, die Geltungsdauer dieser Übergangsregelung.

(V o r s i tz : Vizepräsidentin Renate Schmidt)

Auf einen wichtigen Punkt, der bei der bisherigen Diskussion, wie ich meine, ein bißchen zu kurz gekommen ist, möchte ich noch hinweisen. Für den privaten Reiseverkehr in der Gemeinschaft gilt das Ursprungslandprinzip schon ab dem 1. Januar 1993. Der private Verbraucher kann dann Waren, die er in einem anderen EG-Mitgliedstaat, mit der dort bestehenden Umsatzsteuer belastet, erworben hat, ohne wertmäßige — z. B. bis zu 300 DM — und mengenmäßige — z. B. bis zu 300 Zigaretten — Beschränkung und ohne Kontrollen in sein Heimatland verbringen.
Die Umstellung auf das neue Besteuerungssystem wird sowohl für die Wirtschaft als auch für die Verwaltung gewiß nicht leicht sein. Wir haben bei der nationalen Umsetzung der EG-Richtlinie jedoch alles getan, um insbesondere die Anpassungsschwierigkeiten für unsere Wirtschaft zu verringern; ich erinnere Sie nur an unsere gemeinsame Diskussion mit der zuständigen EG-Kommissarin Frau Scrivener im Sommer vergangenen Jahres.
Wir haben auch nach der Anhörung der Wirtschaftsverbände im Bundesfinanzministerium zahlreiche Verbesserungsvorschläge noch einarbeiten können. Ich nenne insbesondere die umstrittene Vertrauensschutzregelung, wonach dem gutgläubigen Unternehmer bei einer innergemeinschaftlichen Lieferung auch dann die Steuerbefreiung belassen bleibt, wenn die Voraussetzungen dafür einmal fehlen sollten.
Bei der Abschaffung der kleinen Verbrauchsteuern geht es nun nicht darum, auf leicht erzielbare Einnahmen zu verzichten; denn bekanntlich macht ja auch
Kleinvieh Mist. Vielmehr sollen gerade die Grundlagen für dauerhafte Einnahmen aus den übrigen Steuern gesichert werden. Dies kann nur erreicht werden, wenn der Standort Deutschland im EG-Binnenmarkt weiterhin wettbewerbsfähig bleibt.
Die Beibehaltung der kleinen Verbrauchsteuern würde die betroffenen Unternehmen im Wettbewerb mit nicht verbrauchsteuerbelasteten EG-Produkten benachteiligen. Nach dem Wegfall der Grenzkontrollen würde die — in Anführungszeichen — Einfuhr unbelasteter Konkurrenzprodukte aus anderen EG-Staaten deutsche Hersteller vom Markt verdrängen. Produktions- und Standortverlagerungen wären die Folgen. Das wird ganz besonders evident bei der Leuchtmittelsteuer. Das Ifo-Institut hat uns vorgerechnet, daß dann, wenn es da bei der Besteuerung bliebe, allein akut 12 000 Arbeitsplätze gefährdet würden.
Mit dem Wegfall der kleinen Verbrauchsteuern haben wir in diesem und dem vergangenen Jahr schon sieben Steuern abgeschafft. Ich erinnere noch einmal an die Abschaffung der Kapitalverkehrsteuer, also der Börsenumsatzsteuer, zum 1. Januar 1991 und der Gesellschaftsteuer und der Wechselsteuer zu Beginn dieses Jahres. Damit haben wir den Finanzplatz Deutschland gestärkt. Mit der jetzt vorgesehenen Maßnahme stärken wir nun den Standort Deutschland im EG-Wettbewerb.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209107600
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Faltlhauser?

Dr. Joachim Grünewald (CDU):
Rede ID: ID1209107700
Aber bitte sehr.

Dr. Kurt Faltlhauser (CSU):
Rede ID: ID1209107800
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mit mir darin überein, daß es trotz unserer Freude bei der Abschaffung der Börsenumsatzsteuer doch eine etwas merkwürdige Situation ist, wenn unmittelbar hinterher die betroffenen Banken, wenn auch nicht auf ganzer Linie, so doch zumindest punktuell, ihre entsprechenden Gebühren drastisch erhöhen und so das Ergebnis für den Kunden wiederum neutralisieren? Würden Sie gemeinsam mit mir in den Protest gegen dieses Vorgehen einstimmen?

(Freimut Duve [SPD]: Keine Feindschaft gegen Banken!)


Dr. Joachim Grünewald (CDU):
Rede ID: ID1209107900
Nein, nein. Ich stimme Herrn Abgeordneten Dr. Faltlhauser für die Bundesregierung uneingeschänkt zu. Sie erinnern sich sehr wohl aus der Diskussion über die Abschaffung der Börsenumsatzsteuer — wir haben die Gefahr ja gesehen —, daß wir diese ausdrücklich in der Absicht abgeschafft haben, den Finanzplatz Deutschland zu stärken, nicht aber in der Absicht, auf der anderen Seite über zusätzliche, erhöhte Einnahmen die nicht schlechte Situation der deutschen Banken zu stärken. Es wird nötig sein, gemeinsam mit den Banken über diesen Vorgang erneut zu sprechen.

(Zuruf des Abg. Freimut Duve [SPD])




Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald
— Entschuldigen Sie bitte, Herr Kollege, das ist weder mein Herzenswunsch noch der Herzenswunsch der Bundesregierung.
Danke sehr.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209108000
Nun hat der Kollege Detlev von Larcher das Wort.

Detlev von Larcher (SPD):
Rede ID: ID1209108100
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Daß der Bundestag gegen den Willen der Opposition Gesetze berät und auch beschließt, ist Alltagserfahrung.

(Hermann Rind [F.D.P.]: Aber diesmal nicht!)

Aber das, was wir heute machen, ist, so glaube ich, schon eine ganz besondere Situation und einmalig. Denn das Gesetz, das heute in erster Lesung beraten wird, will in der Bundesrepublik eigentlich gar keiner. Das will die Bundesregierung nicht, die diesen Gesetzentwurf einbringt, das wollen die Regierungsfraktionen nicht, und das will auch nicht die Opposition.
Gleiches ist bei dem festzustellen, was die Betroffenen dazu sagen. Auch die Betroffenen wollen die vorgesehenen Regelungen nicht: DIHT, BDI, Hauptverband des Deutschen Einzelhandels, Bundesverband des Deutschen Groß- und Außenhandels, die Verbände des Handwerks, der Spedition und Lagerei, — sie alle kritisieren die Kompliziertheit und die zunehmende Bürokratisierung der vorgesehenen Regelungen und Abläufe sowie die für die Unternehmen dadurch steigenden Kosten. Ihnen schließen sich die Bundessteuerberaterkammer und der Deutsche Steuerberaterverband an. Für die in den Finanzverwaltungen Beschäftigten übt die Deutsche SteuerGewerkschaft harsche Kritik.
Dennoch werden wir, was nach diesen einleitenden Bemerkungen den mit der Sache nicht Vertrauten absurd erscheinen mag, dieses Gesetz — hoffentlich — nach einigen Verbesserungen und Korrekturen in den Ausschußberatungen letztendlich hier im Bundestag beschließen.
Der Wegfall der Grenzkontrollen und der Grenzüberwachung ist ohne Zweifel ein ganz wichtiges Symbol der europäischen Einigung. Ein Europa ohne Grenzen — diese jahrzehntealte Utopie — soll nun Wirklichkeit werden. Doch für mindestens 95 % des Warenverkehrs in der EG bleibt es leider bei der Utopie.
Verwirklicht wird das Europa ohne Grenzen — Herr Staatssekretär Grünewald sprach davon — lediglich für den privaten Reiseverkehr. Innerhalb der Gemeinschaft können die Reisenden in jedem Land einkaufen, was sie wollen, und in ihr Heimatland mitbringen. Die Mehrwertsteuer haben sie beim Einkaufen im Partnerland bezahlt. Für sie verschwinden tatsächlich die Grenzen in Europa.
Dieses Prinzip sollte nach unseren Vorstellungen auch für den gewerblichen innergemeinschaftlichen Handel ab dem 1. Januar nächsten Jahres gelten. Doch leider war dafür in Europa kein anderes Land zu begeistern. Die anderen Länder — so verstehe ich
das — bangen um ihre Steuereinnahmen. So kommt es nun zu einer Übergangsregelung, von der das „Handelsblatt" schreibt: „Der Europäische Binnenmarkt ab 1993 ist eine optische Täuschung", während die Verbände von einem „Scheinbinnenmarkt" sprechen.
Diese im Entwurf des Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetzes festgelegte Übergangsregelung hat zur Folge, daß beim Warenverkehr zwischen Unternehmen alles so bleibt, wie es ist. Die Exporte im Binnenmarkt werden wie bisher von der Umsatzsteuer befreit, und die Importe werden der Besteuerung unterworfen. Das heißt konkret: Ein deutscher Exporteur bekommt bei einer Warenlieferung etwa nach Frankreich die Mehrwertsteuer erstattet. Seine Waren stehen dann mit dem französischen Mehrwertsteuersatz im Wettbewerb mit den französischen Waren. Der einzige Unterschied ist: Das, was bisher an den Grenzen passierte, wird in die Büros der Steuerverwaltungen und der Unternehmen verlagert und damit ungeheuer verkompliziert. Zumindest bis 1997 wird das alte System bei der Mehrwertsteuer zementiert.
Während also politisch, Herr Grünewald, ein EG-Binnenmarkt zum 1. Januar auf dem Gebiet der Steuern suggeriert wird, beraten wir hier über einen Gesetzentwurf, der dokumentiert, daß die Harmonisierung der Mehrwertsteuer auf EG-Ebene mißlungen ist.

(Freimut Duve [SPD]: So ist es!)

Meine Damen und Herren, dies ist offenbar der Preis für einen EG-Binnenmarkt, den wir politisch alle begrüßen, der sich aber im Detail auf dem Gebiet der Steuern von ursprünglich hehren Ansprüchen zu einer unbefriedigenden Notlösung entwickelt hat.

(Zuruf von der SPD: Jawohl!)

In den schriftlichen und mündlichen Stellungnahmen der Verbände in der Anhörung des Finanzausschusses am 29. April war dies die Hauptkritik: Die Einrichtung eines umfangreichen EDV-gestützten Kontrollsystems in den Finanzverwaltungen mit Informationsaustausch zwischen den nationalen Finanzverwaltungen, um die künftig zur Besteuerung notwendigen und vorgeschriebenen Meldungen der Unternehmen zu kontrollieren, führt zu einem zu großen Verwaltungsaufwand in den Steuerverwaltungen und Unternehmen und zu zusätzlichen Kosten in beiden Bereichen.
Die vierteljährlichen Angaben der Unternehmen an ihre zuständige Finanzverwaltung werden EDV-mäßig aufbereitet, so daß sie zwischen den Verwaltungsstellen der Mitgliedstaaten per Fernübertragung ausgetauscht werden können. Damit besteht dann die Möglichkeit, zu kontrollieren, ob die Abnehmer ihrer Umsatzsteuerpflicht nachgekommen sind und die Lieferer die Befreiung von der Umsatzsteuer zu Recht erhalten haben.
Ein weiterer Vorwurf ist ebenfalls nicht von der Hand zu weisen. Mit dem steigenden Verwaltungsaufwand für Wirtschafts- und Finanzverwaltung paart sich die weitere Komplizierung des materiellen Rechts. Selbst Unternehmen mit einer eigenen Steuerverwaltung klagen darüber, daß das Umsatzsteuer-



Detlev von Larcher
recht nur noch von ein paar Spezialisten beherrschbar sein wird; so nachzulesen im „Handelsblatt" vom 28. April.
Allgemein gilt die Meinung: Der Warenaustausch mit Drittstaaten, also mit Nicht-EG-Ländern, sei ab 1993 steuerlich leichter abzuwickeln, als ein gleichartiger Warenaustausch innerhalb der Europäischen Gemeinschaft.
Nicht allein die Deutsche Steuergewerkschaft fragt, ob sich dieser enorme Aufwand für ein Übergangsgesetz lohnt, wenn es denn wirklich ein Übergangsgesetz bleiben soll.
Trotz dieser massiven Kritik der Verbände kann es in dem jetzigen Gesetzgebungsverfahren dennoch wohl nur darum gehen, im Rahmen dessen, was die EG-Richtlinie erlaubt, die Übergangsregelung durch einige Verbesserung im Detail so erträglich wie möglich auszugestalten.
Als die wichtigste Verbesserung schlagen wir Sozialdemokraten vor, daß die Vorschriften für die Übergangsregelung im Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetz ausdrücklich bis zum 31. Dezember 1996 befristet werden. Eine im Gesetz festgelegte Befristung ist meines Erachtens vor allem aus zwei Gründen unbedingt erforderlich:
Erstens. Eine Befristung der Übergangsregelung ist der ausdrückliche Wille des Deutschen Bundestages und, wie wir heute auch wieder gehört haben, auch der Bundesregierung. In einer Entschließung des Deutschen Bundestages vom 7. Juni 1991 wurde nämlich einmütig festgelegt, daß die Übergangsregelung vom Deutschen Bundestag nur dann hingenommen werden könne, wenn sie auf einen möglichst kurzen Zeitraum begrenzt wird. Der Bundestag hielt damals sogar eine Terminierung nur bis Ende 1996 für angemessen.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Sehr richtig! Jawohl!)

In unserer gemeinsamen Entschließung haben wir deutlich gemacht, daß die Befristung der Übergangsregelung und ein Grundsatzbeschluß über die endgültige Regelung unverzichtbar seien und höchste Priorität genießen.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Parallel und gleichzeitig!)

— Jawohl. Der Bundestag hat deshalb die Bundesregierung aufgefordert, bei den Verhandlungen auf EG-Ebene darauf zu achten, daß gleichzeitig mit der befristeten Übergangsregelung die Eckwerte des endgültigen Besteuerungssytems verabschiedet werden.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Ja!)

Dies ist jedoch nicht geschehen. Im Gegenteil: Im verabschiedeten Richtlinientext wurde festgelegt, daß sich die Übergangsregelung automatisch bis zum Inkraftsetzen einer endgültigen Regelung verlängert. Wird keine Einigung über eine endgültige Regelung erzielt — dies ist angesichts dessen, was wir gehört haben, nämlich die ablehnende Haltung der meisten anderen EG-Staaten gegenüber den bisher vorgeschlagenen Lösungsmöglichkeiten —, so ist schon
jetzt die Hintertür für eine beliebige Verlängerung der Übergangsregelung geöffnet worden.

(Joachim Poß Es ist deshalb schon merkwürdig, daß die Bundesregierung in ihren Gesetzentwurf keine ausdrückliche Befristung aufgenommen hat, obwohl dies dem Text der EG-Richtlinie entspräche und dies der ausdrückliche Wille des Deutschen Bundestages ist. Zweitens. Wir halten eine Befristung der Übergangsregelung im Umsatzsteuergesetz auch deshalb für notwendig, weil den EG-Institutionen und den anderen Mitgliedstaaten gegenüber nur so ausreichend dokumentiert werden kann, daß die Bundesrepublik Deutschland nach wie vor festen Willens ist, ab 1997 zu einer endgültigen Regelung zu kommen. Kollege Faltlhauser hat in einem Beitrag der Fachzeitschrift „Steuern und Wirtschaft" völlig zu Recht darauf hingewiesen, daß eine zukünftige Einigung durch zahlreiche Sonderregelungen für den Übergangszeitraum nicht gerade erleichtert wurde; denn — ich zitiere — „diese Regelungen nehmen von den Mitgliedstaaten einen Großteil des heilsamen Zwanges, zu einer weiteren Annäherung der Mehrwertsteuersätze zu kommen". Recht hat Herr Dr. Faltlhauser hier in dem Punkt. (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Auch hier!)


(Zurufe von der SPD: Hört! Hört!)

— Nicht auch hier, sondern hier.
Ich bin deshalb sehr zuversichtlich, daß wir in den anstehenden Beratungen im Finanzausschuß in einer gemeinsamen Initiative doch noch zu einer gesetzlichen Befristung der Übergangsregelung kommen werden. Damit handelten wir in Übereinstimmung mit den Wirtschaftsverbänden und den Bundessteuerberaterkammern. Wir müssen die Bundesregierung auffordern, mit Hochdruck eine Einigung über das Clearing-Verfahren herbeizuführen, das für die endgültige Regelung notwendig ist.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU — Joachim Poß [SPD]: Das ganze Haus fordert die Bundesregierung auf!)

Die von den neuen Regelungen Betroffenen formulieren zusätzlich zu diesen Punkten eine Fülle von einzelnen Kritikpunkten und Verbesserungsvorschlägen. Ich will hier nur die wichtigsten für die weiteren Beratungen aufzählen: Verbringen von Gegenständen in einen anderen Mitgliedstaat im Rahmen des Unternehmens, innergemeinschaftliche Güterbeförderungsleistungen, Erwerbsschwelle in Höhe von 20 000 DM, Lieferschwelle in Höhe von 200 000 DM, Reparaturleistungen und Lohnveredelungen, Haftungsrisiken der Unternehmen.
Bei diesen Punkten sollten richtlinienkonforme und für die Unternehmen praktikablere Regelungen im Gesetz selbst bzw. in der Durchführungsverordnung gefunden werden. Für sogenannte Reihengeschäfte sollten in Verhandlungen mit den Mitgliedstaaten kurzfristig einheitliche Regelungen vereinbart werden.



Detlev von Larcher
Von der Abschaffung der Grenzkontrolle zum 1. Januar 1993 sind u. a. auch rund 200 Zoll- und Grenzspeditionen mit mehreren tausend Beschäftigten konkret betroffen. Bei den Zollspediteuren besteht immer noch eine große Unsicherheit darüber, wie es für sie nach dem 1. Januar weitergehen soll. Es ist immer noch offen, ob und inwieweit die Zollspediteure auch zukünftig im Rahmen der Übergangsregelung qualifizierte Aufgaben bei der Abwicklung des innergemeinschaftlichen Warenverkehrs übernehmen können.
Die Bundesregierung muß unverzüglich Klarheit darüber schaffen, welche Dienstleistungen ab dem 1. Januar 1993 nach Wegfall der Grenzkontrollen noch zu erbringen sind, damit sich die Betriebe rechtzeitig auf die neue Situation einstellen können.
Heute können wir in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" lesen, daß es einen EG-Vorschlag gibt, der mit Geld zu tun hat, der von der Bundesregierung — so steht es jedenfalls in der „FAZ" — sehr kritisch gesehen wird. Aber daß da etwas getan werden muß, glaube ich, liegt auf der Hand.
Am Beispiel des Erwerbs neuer Fahrzeuge möchte ich deutlich machen, wie die beklagte Verkomplizierung des Umsatzsteuerrechts aussieht. Die erste Frage ist: Was ist ein „neues Fahrzeug"? Neu ist nach der Richtlinie ein Fahrzeug, wenn gleichzeitig zwei Bedingungen erfüllt sind: Die erste Inbetriebnahme des Fahrzeugs darf zum Zeitpunkt des Erwerbs nicht länger als drei Monate zurückliegen, und das Landfahrzeug darf nicht mehr als 3 000 km zurückgelegt haben, das Wasserfahrzeug darf nicht mehr als 100 Betriebsstunden auf dem Buckel haben und das Luftfahrzeug nicht mehr als 40 Betriebsstunden.
Nach deutschem Recht wäre ein Landfahrzeug aber auch neu, wenn es zum Zeitpunkt des Erwerbs bereits vier Monate in Betrieb war, jedoch lediglich 2 000 km gelaufen hätte.

(Zuruf von der SPD: Irrsinn!)

Es wäre auch noch neu, wenn es bereits 4 000 km gelaufen hätte, aber nur zwei Monate in Betrieb war. Hier sollte eine richtlinienkonforme Definition erfolgen.

(Zuruf von der SPD: Das ist Europa!)

Private Letztverbraucher werden erstmalig im Umsatzsteuerrecht als Unternehmer angesehen, nämlich dann, wenn sie neue Fahrzeuge an einen in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Abnehmer liefern; dadurch soll das Bestimmungslandprinzip gesichert werden.
Es gibt von der Deutschen Steuergewerkschaft ein Beispiel, das die praktischen Folgen schildert: Die Großmutter, die ein Kraftfahrzeug bei der Kölner Dombaulotterie gewinnt, wird zur Unternehmerin, wenn sie dieses Fahrzeug in die Niederlande verkauft, und muß eine Umsatzsteuervoranmeldung mit der Zahl „Null" abgeben. Verschenkt sie dieses Fahrzeug aber an einen niederländischen Enkel, bekommt dieser Schwierigkeiten, der niederländischen Steuerverwaltung nachzuweisen, daß er das Auto unentgeltlich bekommen hat und keine Erwerbsteuer zu bezahlen hat.
Auch wenn es gelingt, im Rahmen der Beratung noch einige Verbesserungen durchzusetzen, die die Übergangsregelung für Unternehmen und Verwaltung praktikabler machen, so ist bereits jetzt festzustellen: Die Übergangsregelung macht unser bisher einfaches und überschaubares Umsatzsteuergesetz wesentlich komplizierter und führt unter dem Strich zu einem Anstieg des Verwaltungsaufwands in Unternehmen und Finanzverwaltungen.
Die verbleibende Zeit für die Umsetzung des Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetzes ist für Wirtschaft und Verwaltung äußerst kurz bemessen. In den neuen Bundesländern sind diese Regelungen wahrscheinlich überhaupt nicht umzusetzen.
Man muß bei alldem kein ausgesprochener Pessimist sein, um zu befürchten, daß wir am 1. Januar 1993 — am ersten Tag des EG-Binnenmarkts — nicht ein Mehr an Harmonisierung, sondern nur ein Mehr an Chaos haben werden.
Zu der Abschaffung der Bagatellsteuern hat Herr Staatssekretär Grünewald Stellung genommen. Es gibt diesbezüglich eine Merkwürdigkeit: Zum einen wird gesagt, das, was da wegfällt, wird für die Unternehmen Wettbewerbserleichterungen bedeuten, eine große Hilfe sein; auf der anderen Seite wird aber vier Sätze weiter gesagt, daß die Gewinnsteuern steigen werden, weil die Verbrauchsteuern als Betriebsteuern wegfallen. Wir sind gespannt darauf, Herr Staatssekretär, wie die Bundesregierung diesen Widerspruch bis zur letzten Beratung im Bundestag beheben will.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209108200
Nun hat der Kollege Elmar Müller das Wort.

Elmar Müller (CDU):
Rede ID: ID1209108300
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Herr Kollege Larcher, es gibt in diesen Fragen sicher eine ganze Menge Übereinstimmung, vor allem in der Abarbeitung der komplizierten Fälle, die wir zu bewältigen haben.
In geschichtlichen Augenblicken kann man sich bewähren, oder man kann versagen. Das gilt für die Politiker ebenso wie für die Bürger. Es war ein langer Weg für die Bürger und für die Generationen, insbesondere für meine Generation, die Nachkriegsgeneration, den europäischen Binnenmarkt zu verwirklichen. Art. 8 a des EWG-Vertrages, eingefügt durch Art. 13 der Einheitlichen Europäischen Akte, legt unmißverständlich fest: „Die Gemeinschaft trifft die erforderlichen Maßnahmen, um bis zum 31. Dezember 1992 ... den Binnenmarkt schrittweise zu verwirklichen." Weiter heißt es: „Der Binnenmarkt umfaßt einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages gewährleistet ist."
Mit dem EG-Binnenmarktgesetz, das auf der Richtlinie des Rates beruht, werden insbesondere umsatzsteuerliche Vorschriften an den Wegfall der Steuergrenzen innerhalb der EG zum 1. Januar des nächsten



Elmar Müller (Kirchheim)

Jahres angepaßt. Mit dem 1. Januar werden dann für 344 Millionen EG-Bürger aber nicht nur die Zollgrenzen fallen, sondern hinzu kommt als weiteres stabilisierendes Element die Schaffung des EWR, des Europäischen Wirtschaftsraumes; die Verträge wurden vor wenigen Tagen durch die Außenminister der EG und der EFTA, der Europäischen Freihandelszone, unterzeichnet. Damit haben wir ab Januar kommenden Jahres vom Nordkap bis nach Sizilien mit 375 Millionen Verbrauchern den weltweit kaufkraftstärksten Binnenmarkt, der rund 40 % des gesamten Welthandels umfassen wird.
Als weitere begleitende Maßnahmen werden aber auch einige Steuern abgeschafft, die sogenannten Bagatellsteuern, deren jährliches Aufkommen weniger als 1 Milliarde DM betragen soll und die ebenfalls im Zuge der Steuerharmonisierung — das ist gemeinsamer Wille — innerhalb der EG abgeschafft werden sollen. Die Bundesrepublik erreicht dieses Ziel Ende des kommenden Jahres mit der Aufhebung der Besteuerung von Salz, Tee, Zucker und Leuchtmitteln ab 1. Januar, was sich mit großer Sicherheit durch ein verbilligtes Warenangebot für die Verbraucher bemerkbar machen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Joachim Poß [SPD]: Da sind wir gespannt! Das werden wir kontrollieren!)

Damit verzichten wir auf eine Einnahmequelle, die in den vergangenen Jahren ständig stärker sprudelte und immerhin 517 Millionen DM einbrachte.
Eben sprach ich davon, daß dieser einheitliche Markt zu Beginn des nächsten Jahres für den Verbraucher sichtbare, zeitsparende Verbesserungen an den Grenzen und erlebbare Vergünstigungen für den Geldbeutel bringen wird. Private Verbraucher können Waren aus anderen EG-Mitgliedstaaten ohne Beschränkung in ihr Heimatland mitbringen. Diese Waren bleiben mit der Mehrwertsteuer des Ursprungslandes belastet. Der Bürger kauft über die Grenzen hinweg dort ein, wo er für sich das günstigste Angebot entdeckt. Kein Zoll und kein Finanzamt interessieren sich mehr dafür. — Das ist die eine Seite.
Andererseits bringt es für die Wirtschaft in der EG insgesamt 344 Millionen und im gesamten Europäischen Wirtschaftsraum 375 Millionen potentielle Kunden gegenüber 240 Millionen in den USA und 120 Millionen in Japan. Damit weckt es Hoffnungen auf eine höhere Absatzzahl und gibt mit Sicherheit Impulse für ein neues, EG-weites Wirtschaftswachstum.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir wollen das Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetz bis zur Sommerpause verabschieden, damit Unternehmen, Steuerberater und Finanzverwaltungen noch ein halbes Jahr Zeit haben, um sich auf das im innergemeinschaftlichen Warenverkehr geltende Umsatzsteuerrecht einzustellen. Zuvor müssen wir jedoch — das hat die Anhörung am vergangenen Mittwoch gezeigt — noch eine ganze Reihe von Unklarheiten beseitigen.
Dazu gehört, daß wir als Bundestag deutlich zu machen haben, daß die Übergangsregelung bis zum 31. 12. möglichst nicht überschritten wird. Die CDU/ CSU-Fraktion wird deshalb die Initiative ergreifen, um eine gemeinsame Entschließung mit der Gesetzesverabschiedung auf den Weg zu bringen, um dieses Verlangen deutlich zu machen. Die deutsche EG-Präsidentschaft im Jahre 1994 könnte übrigens für diesen Schritt eine entscheidende Rolle für eine endgültige Regelung spielen. Ich will aber nochmals klarstellen: Ohne diese Übergangsregelung hätte sich nichts geändert. Die Zollschranken wären auch im nächsten Jahr geblieben.
Dem Wegfall der Zollkontrollen, des Grenzaufenthalts und der Zollformalitäten muß selbstverständlich ein Verwaltungssystem gegenübergestellt werden, das dem Finanzminister erlaubt, bei innergemeinschaftlichen Lieferungen im gewerblichen Warenverkehr dennoch seine Steuern einzufordern. Dazu gehört, daß die Umsatzsteueridentifikationsnummer, die jedes im europäischen Binnenmarkt operierende Unternehmen künftig von der Steuerverwaltung zugeteilt bekommt, ebenfalls möglichst schon zur Jahresmitte vergeben wird.
Dasselbe gilt für die Rechtsverordnung, die wir zu erwarten haben, in der zu regeln ist, wie die Voraussetzungen der steuerfreien Ausfuhr nachzuweisen sind und wie die Aufzeichnungspflichten praktisch zu setzen sind, was Voraussetzung für die vierteljährlichen Meldungen innergemeinschaftlicher Lieferungen an das künftige Bundesamt für Finanzen in Saarlouis sein wird.
Selbstverständlich darf die deutsche Wirtschaft erwarten, daß sie laufend über den Stand der Vorbereitungen unterrichtet wird, um innerbetriebliche Vorbereitungen treffen zu können.
Hier ist die Stelle, wo ich gerne das Lob aller Sachverständigen in der Anhörung weitergebe, wonach die Auskunftsbereitschaft der Mitarbeiter im Finanzministerium übereinstimmend als bisher vorbildlich bezeichnet werden kann.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Guter Minister — gutes Haus!)

Umgekehrt darf man als lobenswert herausstellen, daß die Spitzenorganisation — wie ich das beispielsweise von meiner eigenen IHK in Nürtingen weiß — schon jetzt an Hand des Gesetzentwurfes Mitarbeiterschulungen für die Betriebe des Binnenmarktes anbieten.

(Detlev von Larcher [SPD]: DIHT hat 140 Veranstaltungen!)

— Immerhin; allein bei der IHK des Raumes Stuttgart habe ich etwa 120 gesehen.
Auch in solchen Anstrengungen zur Vorbereitung, meine Damen und Herren, kann man erkennen, welche Betriebe bereit sind, sich den Herausforderungen eines vergrößerten Marktes zu stellen, wer seine Chance nutzen will und welche Unternehmen glauben, mit der Eintragung in das Handelsregister hätten sie bereits eine Lebensversicherung unterschrieben.
Zu Recht wurde darauf hingewiesen, daß bei steuerfreier innerbetrieblicher Lieferung z. B. bei Miß-



Elmar Müller (Kirchheim)

brauch der Umsatzsteueridentifikationsnummer mittelständische Unternehmen oder Lieferanten generell ein Haftungsrisiko eingehen würden. Dazu sei gesagt, daß es die EG-Richtlinie den Mitgliedstaaten überläßt, die Nachweispflicht für die Steuerbefreiung festzulegen. Ausdrücklich ist deshalb im Entwurf des EGBinnenmarktgesetzes eine entsprechende Vertrauensschutzregelung für deutsche Unternehmen festgelegt. Demnach wird einem Unternehmen die Steuerbefreiung trotz fehlender Voraussetzungen belassen, wenn es sich als Lieferer die dann ab 1.1.1993 europaweit eingeführte Identifikationsnummer hat geben lassen.
Vielleicht aber kann es zusätzlich hilfreich sein und der Beruhigung dienen, wenn wir dasselbe Verfahren wie anläßlich der Verabschiedung des Umsatzsteuergesetzes 1967 wählen, wo der Bundestag bei ähnlich tiefgreifender Umstellung einstimmig die Empfehlung an die Bundesregierung ausgesprochen hat, sie möge bei der Durchführung Rücksicht auf die Übergangsschwierigkeiten der Steuerpflichtigen nehmen.
Es gibt noch Diskussionsbedarf bei Gold, Antiquitäten und Kunst. Da geht es um Steuerbefreiung oder Differenzbesteuerung.

(Freimut Duve [SPD]: Da erwarte ich ein klares Wort von Ihnen!)

Wir haben Betrugsfälle — auch das wurde angesprochen — etwa im Pkw-Bereich auszuschließen. Wir denken daran, unter Umständen den Nachweis der Umsatzsteuer bei Zulassung einzuführen. Wir haben auch verantwortungsvoll zu prüfen, ob wir etwa in der Frage der steuerlichen Vertreter für die Transportunternehmen etwas tun können.

(Abg. Freimut Duve [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

Vor allem in den Fragen des Reihengeschäftes haben wir noch einige Fragen an Hand von Fallbeispielen zu klären. Das haben wir gemeinsam zu tun. Dort wird es außerordentlich schwierig. Ich stimme mit Ihnen überein, daß wir im Clearing-Verfahren den Ansatz haben, mit dem wir uns in der Zwischenzeit orientieren können.
Meine Damen und Herren, wenn wir trotz der zu erwartenden Übergangsschwierigkeiten der Europäer die Sache Europas in die Hand nehmen, dann bin ich ganz sicher, daß wir bei Nachweis der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit diesen Schritt schaffen. Es ist ein Schritt nach vorne, in eine richtige Richtung, wie ich denke.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209108400
Gestatten Sie eine Schlußfrage des Kollegen Duve?

Elmar Müller (CDU):
Rede ID: ID1209108500
Nachdem ich am Ende bin, darf ich das gerne tun.

(Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Mehr eine Nachfrage als eine Zwischenfrage!)


Freimut Duve (SPD):
Rede ID: ID1209108600
Keine Aufregung, Herr Uldall.
Herr Kollege, da ich Sie jetzt zu fassen habe und wir in dieser Sache nur eine Runde machen, möchte ich Ihnen gerne die Frage stellen: Steht Ihre Fraktion zu der Halbierung des Mehrwertsteuersatzes bei Kunstwerken? Ist das etwas, was Sie wichtig nehmen? Tragen Sie unseren Antrag mit?

Elmar Müller (CDU):
Rede ID: ID1209108700
Wir können darüber noch nicht abstimmen.

(Freimut Duve [SPD]: Es gibt also keine Meinung Ihrer Fraktion dazu?)

— Es gibt im Moment noch keine Meinung in dieser Frage.
Wir können das Ganze in zwei Bereichen klären: entweder in der Befreiung oder aber im Differenzbetrag. Wir können selbstverständlich auch die von Ihnen angesprochene Lösung in die Diskussion mit einbeziehen. Das sollten wir vorurteilsfrei tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209108800
Nun hat die Kollegin Frau Dr. Barbara Höll das Wort.

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1209108900
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie werden vielleicht überrascht sein, daß ich als Vertreterin der PDS/Linke Liste die Einschätzung des Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetzes durch die großen Wirtschaftsverbände, wie sie in deren Stellungnahme zum Ausdruck kommt, in wesentlichen Punkten teile. Die Übereinstimmung mit dem Unternehmerlager ist allerdings nicht Ausdruck einer Schulterschlußmentalität der PDS, sondern Resultat der genauen Lektüre dieses Gesetzentwurfs der Bundesregierung.
Bereits der Titel dieser Vorlage „UmsatzsteuerBinnenmarktgesetz", täuscht über ihren wahren Inhalt. Da mag sich die Bundesregierung rhetorisch drehen und wenden, wie sie will: Die von ihr als Anpassung bezeichnete Änderung steuerrechtlicher Regelungen wird die für den 1. Januar 1993 geplante Einführung des EG-Binnenmarktes nicht erleichtern. Ich stimme den Spitzenverbänden der Wirtschaft ausdrücklich zu, die kritisieren, daß die in diesem Gesetzentwurf zunächst auf vier Jahre befristete Übergangsregelung lediglich einen Scheinbinnenmarkt verkörpert.
Mit dem Wegfall der steuerlichen Grenzen zur Jahreswende 1992/93 werden zwar Kontrollen an den Binnengrenzen der EG entfallen, eine Besteuerung des grenzüberschreitenden Handels im Ursprungsland oder gar nach dem Gemeinschaftsprinzip wird es allerdings nicht geben.
Das von der EG-Kommission 1985 vorgelegte Weißbuch hatte die Beseitigung der steuerlichen Schranken auf dem Gebiet der Umsatzsteuer gefordert. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung läßt die grenzüberschreitenden Kontrollen nur scheinbar wegfallen; denn was als Abschaffung der Grenzkontrollen verkauft wird, führt in Wahrheit zu einer Verlagerung der bisher von den Zollverwaltungen vorgenommenen Kontrollen in die Betriebe.
Beim innergemeinschaftlichen Erwerb im Rahmen des kommerziellen Warenverkehrs soll dies für eine



Dr. Barbara Höll
Übergangszeit für den Fall, daß sich die EG-Regierungschefs bis Ende 1996 nicht einigen, verlängert und der Erwerb von Gegenständen im Bestimmungsland besteuert werden. Die Bundesregierung behauptet, sie habe erhebliche steuertechnische Vereinfachungen durchsetzen können. Die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft beklagen dagegen einen steigenden Verwaltungsaufwand in der Wirtschafts- und Finanzverwaltung und eine weitere Verkomplizierung des materiellen Rechts. Die deutsche Steuergewerkschaft spricht von komplizierten Sonderregelungen bei Lieferungen an Endverbraucher und kritisiert den mit dieser Übergangsregelung verbundenen Aufbau eines verwaltungsaufwendigen Kontroll- und Überwachungssystems.
Lohnt sich ein solcher Aufwand für eine angebliche Übergangslösung? Ist vielleicht daran gedacht, dieses gewissermaßen unvollendete Werk im Rahmen einer ständigen Ausstellung zu präsentieren? Was hindert die Bundesregierung daran, den Beschluß des Deutschen Bundestages vom 7. Juni 1991 umzusetzen und eine Befristung der Übergangsregelung in den Gesetzestext aufzunehmen? Könnte dadurch gegenüber den anderen Mitgliedstaaten der EG nicht klar und eindeutig der angeblich unbestrittene Übergangscharakter dieser Regelung zum Ausdruck gebracht werden?
Das Ursprungslandprinzip gilt z. B. für innergemeinschaftliche Lieferungen an private Abnehmer weiterhin. Erst dann, wenn der Gesamtwert der Lieferungen einen bestimmten Gesamtwert überschreitet, müssen sie im Bestimmungsland der Umsatzsteuer unterworfen werden. Aus der Begründung des Gesetzentwurfs geht zum einen hervor, daß diese Schwellen von EG-Mitgliedstaat zu EG-Mitgliedstaat differieren, und zum anderen, daß die Höhe dieser Schwellen von den einzelnen Mitgliedstaaten noch festgelegt wird. Fürwahr, eine erhebliche steuertechnische Vereinfachung!
Für die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung durch den Unternehmer bei innergemeinschaftlichen Lieferungen ist der Nachweis zu erbringen. Wie die Nachweise für steuerbefreite innergemeinschaftliche Lieferungen aussehen, steht jedoch noch in den Sternen. Zwar soll der Bundesfinanzminister ermächtigt werden, im Verordnungswege und mit Zustimmung des Bundesrates festzulegen, wie die Voraussetzungen der innergemeinschaftlichen Lieferungen nachzuweisen sind, und im Gesetzentwurf finden sich auch zahlreiche Hinweise auf eine noch zu erarbeitende Durchführungsverordnung, die für die praktische Handhabung der gesetzlichen Bestimmungen offenbar unerläßlich ist; der Entwurf einer solchen Verordnung liegt jedoch nicht vor.
Die Umstellung auf diese umsatzsteuerrechtlichen Bestimmungen findet also nicht nur unter einem großen Zeitdruck statt, sondern auch ohne die für die Funktionsfähigkeit dieses Systems dringend benötigte Rechtsverordnung. Ist überhaupt gewährleistet, daß die Zuteilung der für die innergemeinschaftlichen Umsätze benötigten Umsatzsteueridentifikationsnummern in allen EG-Mitgliedstaaten zum 1. Januar 1993 abgeschlossen sein wird? Mit dem Wegfall der innergemeinschaftlichen Steuergrenzen verlieren
z. B. die Zollbeamten nicht automatisch ihren Aufgabenbereich. Ebenso werden Grenzspediteure, Importmakler und Zollagenten nicht mit der Arbeitslosigkeit Bekanntschaft machen, sondern sich anderweitigen Arbeiten widmen können.
Der europäische Binnenmarkt ist auch ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für die deutsche Finanzverwaltung, die sich über mindestens 800 neue Stellen freuen kann. Die EG-weite Abschaffung der Besteuerung der Einfuhr wird mit einer beträchtlichen Ausweitung der Steuerregistrierungspflicht gekoppelt sein. Viele Unternehmen werden gezwungen sein, in Bestimmungsländern des EG-weiten Warenverkehrs einen eigenen Steuervertreter unterzubringen. Umsatzsteuerliche Pflichten eines Unternehmers in einem anderen EG-Land sind mit einem Papierkrieg verbunden. Europaeinheitliche Steuervordrucke gibt es jedoch nicht, zumal jedes Land die Abfassung von Anzeigen und Erklärungen in der eigenen Landessprache fordert. Das Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetz soll einen Fortschritt in der Entwicklung der europäischen Einigung dokumentieren, der noch nicht einmal auf dem Papier erkennbar ist.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209109000
Frau Dr. Höll, ich bitte Sie, zum Schluß zu kommen.

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1209109100
Die Bundesregierung trägt mit ihrem Gesetzentwurf nicht zur Beseitigung umsatzsteuerlicher Schranken bei. Er verkehrt die im Weißbuch der EG-Kommission enthaltenen Forderungen und Vorschläge in ihr Gegenteil. Deshalb lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209109200
Nun hat das Wort der Kollege Gerhard Schüßler.

Gerhard Schüßler (FDP):
Rede ID: ID1209109300
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Rechtzeitig vor Beginn des Europäischen Binnenmarktes am 1. Januar 1993 hat die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem die EG-Richtlinie vom Dezember 1991 zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems im Hinblick auf die Beseitigung der Steuergrenzen in innerdeutsches Recht umgesetzt werden soll. Dem Bundesfinanzministerium und den zuständigen Beamten gebührt unsere Anerkennung, weil es ihnen gelungen ist, diese komplizierte Gesetzesvorlage, durch die das geltende Umsatzsteuerrecht umfassend geändert und ergänzt wird, in gerade drei Monaten zu erstellen.

(Detlev von Larcher [SPD]: Geht es den Beamten gut! Die Beamten werden immerzu gelobt!)

— Sie haben ja heute morgen schon Gegenteiliges getan. Deshalb kann man ja auch einmal ein Lob anbringen, wenn es angebracht ist.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Haben sie das denn verdient?)




Gerhard Schüßler
— Sie haben in der Anhörung sicher mitbekommen, daß sie das verdient haben. Darum soll man das auch sagen.

(Zurufe von der SPD: Oh! — Joachim Poß [SPD]: In welchem Saal waren Sie gestern?)

— Im gleichen wie Sie, Herr Poß. Ich habe vielleicht besser zugehört.
So kann die Bundesrepublik Deutschland ihren Beitrag zur Beseitigung der Steuergrenzen und der Grenzkontrollen termingerecht erbringen. Die Unternehmen, ihre steuerlichen Berater und die Finanzverwaltungen werden sich ab Mitte des Jahres auf die neuen Regelungen einstellen können.
Die wesentlichen Änderungen sind durch die europäische Richtlinie vorgegeben — ich denke, das sollte man sagen —, die technisch einwandfrei in die deutsche Gesetzgebung übernommen worden sind, soweit das nach den bestehenden politischen Vorgaben möglich war.
Das politische Ziel, die Grenzkontrollen des innergemeinschaftlichen Warenverkehrs aus steuerrechtlichen Gründen aufzuheben, wird erreicht. Die Warenbewegungen in der Gemeinschaft werden sich unbehelligt von Schlagbäumen vollziehen können. Wir sollten diesen Erfolg auch nicht geringschätzen, meine Damen und Herren. Noch vor zehn Jahren haben die Europäer von der Öffnung der Grenzen geträumt. Das wird nur so schnell vergessen. Nun wird sie Wirklichkeit. Die Grenzzollämter an den innergemeinschaftlichen Grenzen verschwinden. Daß damit große organisatorische und personelle Konsequenzen für die Zollverwaltungen und die Grenzspediteure verbunden sind, sollte nicht unerwähnt bleiben und ist heute morgen hier auch schon betont worden.
Wir wissen jedoch alle und bedauern, daß wir noch weit davon entfernt sind, daß Warenlieferungen innerhalb der Gemeinschaft genauso behandelt werden wie Inlandsumsätze. Erreicht ist das nur für die privaten Verbraucher, die ohne wert- und mengenmäßige Beschränkungen Waren in jedem EG-Mitgliedstaat zu dem jeweils dort geltenden Mehrwertsteuersatz erwerben und ohne weitere steuerliche Belastungen in ihr Heimatland mitbringen können. Erreicht worden ist das auch für Versendungskäufe in bestimmtem Umfang, bis etwa 100 000 ECU.
Nicht erreicht worden ist dagegen eine durchgängige Besteuerung im Ursprungsland, wie sie die deutsche Seite zusammen mit der EG-Kommission, gestützt durch eine eindeutige Stellungnahme des Deutschen Bundestages vom Juni vergangenen Jahres, gewollt hat. Das war in Brüssel nicht zu erreichen. Alle anderen europäischen Partner haben sich gesträubt, weil sie fiskalische Nachteile befürchteten.
Nun müssen wir für eine Übergangszeit mit dem Bestimmungslandprinzip leben. Die unbestrittene Folge ist, daß die Kontrollen an den Grenzen jetzt in die Unternehmen verlagert werden, d. h. höherer Verwaltungsaufwand und mehr Bürokratie für die Finanzbehörden und die Wirtschaft. Insoweit ist das sicherlich nicht gerade eine vergnügungsteuerpflichtige Veranstaltung. Die mit dem europäischen Binnenmarkt angestrebten Kostenvorteile treten damit ebenfalls nicht ein.
Die Bundesrepublik Deutschland muß daher alles dafür tun, daß nach der vereinbarten Übergangszeit ab 1997 zum Ursprungslandprinzip übergegangen werden kann. Die Bundesregierung sollte schon jetzt damit beginnen, die Vorarbeiten dafür voranzutreiben, damit sie bei Übernahme der Präsidentschaft im Ministerrat ein konsensfähiges Konzept für ein künftiges Clearing-Verfahren vorlegen kann.
Der deutsche Gesetzgeber sollte schon jetzt deutlich machen, daß er die Übergangsregelung nur mit der notwendigen Befristung hinnehmen will. Im laufenden Gesetzgebungsverfahren müssen die Ermessensspielräume, die die EG-Richtlinie dem deutschen Gesetzgeber einräumt, ausgeschöpft werden, um die Übergangsregelung so zu gestalten, daß sie möglichst unbürokratisch wird.
Die Einzelheiten der Durchführung des Gesetzes sollten so bald wie möglich feststehen und auch bekanntgegeben werden. Das gilt vor allem für die reibungslose und schnelle Zuordnung von Umsatzsteueridentifikationsnummern und die Details der Nachweispflichten für die Voraussetzungen einer steuerfreien Ausfuhr, die geforderten Meldungen und Aufzeichnungen der Unternehmen.
Davon hängt auch das Funktionieren des neuen § 6 Abs. 4 des Umsatzsteuergesetzes ab, wonach eine Lieferung auch dann als steuerfrei anzusehen ist, wenn die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung auf unrichtigen Angaben des Abnehmers beruht und der Unternehmer die Unrichtigkeit dieser Angaben auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht erkennen konnte.
Ein weiterer Komplex ist die Abschaffung von Bagatellsteuern. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion steht dazu, die Verbrauchsteuern auf Leuchtmittel, Salz, Zucker sowie Tee zu streichen. Es geht hier nicht darum, auf Mittel zu verzichten, die die öffentlichen Haushalte an sich dringend benötigen. Wir sehen, daß die Beibehaltung dieser Steuern zu erheblichen Wettbewerbsverzerrungen und Benachteiligungen der deutschen Unternehmen im Rahmen des gemeinsamen Binnenmarktes führen und erhebliche Arbeitsplatzverluste mit sich bringen würde. Das macht keinen Sinn. Es ist auch anzumerken, daß es sicherlich kein alltäglicher Vorgang ist, daß Steuern abgeschafft werden, und insoweit ist das einen besonderen Hinweis wert.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Die F.D.P.-Bundestagsfraktion stimmt der Überweisung der Gesetzesvorlage in der vorliegenden Fassung an den federführenden Finanzausschuß zu. Wie allseits deutlich geworden ist, werden wir dort noch erheblichen Beratungsbedarf haben.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209109400
Nun hat das Wort der Kollege Freimut Duve.

Freimut Duve (SPD):
Rede ID: ID1209109500
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Ich bin doch einigermaßen enttäuscht darüber, daß hier im Deutschen Bundestag kein Konsens mehr



Freimut Duve
über eine Sache besteht, über die wir uns Jahrzehnte einig waren, daß nämlich Kunstgegenstände, vor allem Bilder und Skulpturen von Künstlern, dem halben Mehrwertsteuersatz unterliegen müssen und daß wir uns gemeinsam dafür einsetzen wollten, daß das nun auch bei dem europäischen Recht so sein muß.
Wir haben diesen Konsens erreicht in Fragen der Printmedien. Wir haben gemeinsam etwas gemacht, was für die Bürger sehr schwer zu begreifen ist, daß nämlich pornoähnliche Zeitschriften aus medienpolitischen Gründen den halben Mehrwertsteuersatz haben. Wir haben gemeinsam gesagt: Gut, auch die „Bild"-Zeitung kriegt als Printmedium den halben Mehrwertsteuersatz. Hier fällt die Union aus der Gemeinsamkeit heraus — Sie haben eben auf meine Zwischenfrage so ein bißchen nervös geantwortet — und sagt: Das müssen wir uns noch einmal überlegen. Ich möchte das hier festhalten. Ich hatte gedacht, daß wir mit unserem Antrag sozusagen einen parlamentarischen Selbstläufer haben und daß sich alle für diese Frage auf der europäischen Ebene engagieren.
Die Bundesregierung hat hier — von uns unterstützt — ein Stiftungssteuergesetz zur Kulturförderung eingebracht. Das hatte ein Volumen von 10 Millionen DM.
Verehrter Herr Kollege, ich bitte um Aufmerksamkeit. — Danke.

(Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl, Herr Oberlehrer! — Heiterkeit)

— Meine Damen und Herren, das machen wir nicht immer so, aber ein bißchen Erheiterung muß auch manchmal sein.

(Zuruf von der F.D.P.: Er spricht also nur für die Öffentlichkeit!)

Wenn der halbe Mehrwertsteuersatz, diese Begünstigung wegfällt, wird es für die Künstler einen Ausfall von 150 Millionen DM geben; das ist 15 mal soviel wie das Gesamtvolumen der Kulturförderung durch das Stiftungssteuergesetz. Das ist ernst, das ist nicht irgendein Kleckerkram. Wenn der Kulturstaat Bundesrepublik Deutschland so damit umgeht und sich das sozusagen auch gefallen läßt — Ihre Antwort, Herr Staatssekretär, auf eine Frage meines Kollegen Weißgerber vor einiger Zeit zeigt ja Ihre Unsicherheit —, dann hätte ich hier gern gewußt, wie denn die abschirmenden Maßnahmen aussehen, die Sie in der Antwort auf die Frage angedeutet haben. Jedenfalls habe ich bisher nicht feststellen können, ob sich die Bundesregierung wirklich bei den EG-Verhandlungen dafür eingesetzt hat und was, wenn sie unterlegen ist, denn eigentlich die wirklichen Widerstände waren. Aber daß jetzt die Union schon auf dieser Stufe der parlamentarischen Absicht des nationalen Parlaments schwach auf den Füßen oder in den Knien wird, das enttäuscht mich sehr.

(Beifall bei der SPD)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209109600
Kollege Duve, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hitschler?

Freimut Duve (SPD):
Rede ID: ID1209109700
Ja, natürlich. Das zeigt ja, daß er zugehört hat und mitdenkt. Bitte schön, Herr Kollege.

Dr. Walter Hitschler (FDP):
Rede ID: ID1209109800
Schönen Dank für die Nachsicht, die Sie mit mir haben. Aber, Herr Kollege Duve, es mutet natürlich schon etwas merkwürdig an, wenn gerade Sie, deren Genossen den Kulturbetrieb gegenwärtig bestreiken, sich hier zum Wortführer der Kultur machen.

(Zuruf von der SPD: Das war aber schwach!)

Ich möchte Sie in der Sache fragen, womit Sie eine halbierte Mehrwertsteuer rechtfertigen würden, wenn beispielsweise ein Gemälde von Markus Lübbertz zu einem Betrag von 500 000 DM veräußert wird.

Freimut Duve (SPD):
Rede ID: ID1209109900
Ich will auf Ihre Streikanmerkung nicht weiter eingehen; sie war zu humorvoll, als daß sie hier ein Beitrag gewesen wäre. Das andere wird natürlich immer so gemacht, daß man Kunstobjekte, die hohe Preise erzielen, herannimmt, um die eigentliche Absicht, nämlich den kleinen Künstler zu fördern — das ist ein ganz wichtiges Element bei einem Bild, das 1 000 DM oder 500 DM kostet — zu diskreditieren.

(Joachim Poß [SPD]: Neidargument!)

Daß ausgerechnet bei der F.D.P. eine solche populistische Fragestellung aufkommt, um die wenigen Künstler in Deutschland, die gute Preise erzielen, zu diskreditieren, wundert mich sehr, Herr Kollege.
Ich danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209110000
Nun kommt der Kollege Wilfried Seibel.

Wilfried Seibel (CDU):
Rede ID: ID1209110100
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will nur sehr kurz auf die Ausführungen des Kollegen Duve eingehen. Herr Duve, es kann sicherlich zur Lebendigkeit beitragen — Sie haben das ja auch sehr pädagogisch angelegt —, Dinge zu behaupten, die nicht verifizierbar sind. Der Konsens ist nicht aufgehoben. Kämpfen Sie doch bitte nicht gegen einen Pappkameraden an!

(Freimut Duve [SPD]: Sie wollen doch den Kollegen nicht als Pappkameraden bezeichnen! — Weiterer Zuruf von der SPD: Lassen Sie uns noch das Aber hören!)

Es geht nicht um den Pappkameraden, den Sie durch Fingerzeig bezeichnen, sondern um den, den Sie hier argumentativ aufgebaut haben, indem Sie gesagt haben, der Konsens sei zerstört. Hören Sie bitte zu!
Erstens. Nehmen Sie die Erklärung zur Kenntnis: Der Konsens ist nicht aufgekündigt. Zweitens. Es gibt keine Beschlußlage. Ich habe gerade Herrn Staatssekretär Grünewald gefragt, den ich mit seiner freundlichen Genehmigung hier zitieren darf. Wir prüfen und diskutieren zur Zeit — sowohl in der Regierung als auch in der Fraktion — die Frage einer Differenzbesteuerung oder einer Beibehaltung. Ich denke, es ist doch fair und angemessen, sich die günstigste Lösung



Wilfried Seibel
noch einmal vor Augen zu führen und dann in eine Diskussion darüber einzutreten. Ich denke, Ihre ganze Aufregung, die Sie hier an den Tag gelegt haben, war gegenstandslos.

(Zustimmung bei der CDU/CSU Lachen bei der SPD)

— Sie war wirklich gegenstandslos. Vielleicht tröstet es Sie, daß Sie die etwas ruhigere Atmosphäre im Saal ein wenig belebt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich möchte noch einmal ganz kurz auf das zurückkommen, worüber wir hier eigentlich diskutieren, nämlich auf die Regulierung des Binnenmarktes. Meine Damen und Herren, wir sollten nicht vergessen, daß sich hinter einer solch schlichten Formulierung wie der des Art. 8 Abs. 13 des EWG-Vertrages — „Der Binnenmarkt umfaßt einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages zu gewährleisten ist" — doch eine erhebliche Zahl von Lebenssachverhalten verbirgt. Sie alle wissen, daß wir noch vor wenigen Jahren gezwungen waren, bei Urlaubsfahrten entsprechende Wartezeiten an den Grenzen einzurechnen. Sie wissen auch, daß die Fahrer von Lkws einen ganz anderen Erlebnishorizont haben, daß sie sich damit abzufinden haben, daß sie lange Wartezeiten an den Grenzen schon zum einkalkulierten Bestandteil ihres Arbeitsalltags machen müssen. Da ist der Zollerklärungsbogen, den der Fahrer eines Lkw heute bei der Abfahrt in die Hand gedrückt bekommt und der in allen Staaten der EG einheitlich ist, schon heute eine wesentliche Erleichterung. Der Grenzübergang von Waren ist zu einer normalen, handhabbaren und nicht zeitraubenden Angelegenheit geworden.
Um auch an dieser Stelle das Bewußtsein für den schon erreichten Standard nicht zu verlieren, empfiehlt es sich z. B., einen Geldumtausch in einem der früheren Staatshandelsländer selbst zu bewerkstelligen oder auch andere Handelshemmnisse konkret auszuprobieren. Ich denke, der Idee, den freien Verkehr zu gewährleisten, sind wir ein großes Stück nähergekommen. Tatsächlich werden sich Hemmnisse, die sich heute noch auftürmen, ab 1993 so nicht mehr einstellen.
Aber wir dürfen frommen Selbsttäuschungen natürlich nicht erliegen. Die Einschätzung aller Fachverbände der Wirtschaft ist unterschiedslos. Ich denke auch, der überwiegende Teil der Kollegen in diesem Haus teilt die erheblichen Bedenken, daß sich der Verwaltungsaufwand für die jetzt gefundenen Regelungen nicht deutlich reduziert, sondern sich wohl eher steigern wird.
Mit dem Fortfall der Grenzkontrollen wird eine weitere Komplizierung des materiellen Rechts einhergehen. Die Verwaltungsleistungen werden in die Unternehmen verlagert. Außerdem entsteht ein neues Risiko für den Unternehmer beim Nachweis der Voraussetzungen für eine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung, da der Lieferant bei innergemeinschaftlichem Handel künftig im wesentlichen auf die Angaben des Abnehmers angewiesen ist. Das kann
vor allem für kleinere und mittlere Unternehmen ein neues steuerliches Handelshemmnis bedeuten.
Es ist nicht auszuschließen, daß ab 1. Januar 1993 eine Lieferung in die Schweiz steuerlich leichter abzuwickeln sein wird als eine gleichartige Lieferung nach Frankreich. Genau das sollte aber vermieden werden und kann als Dauerzustand nicht akzeptiert werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es wäre an dieser Stelle noch auf eine Reihe weiterer administrativer Schwierigkeiten und Risiken hinzuweisen. Aber ich denke, die Erörterungen im Ausschuß und die Anhörung haben das nötige Bewußtsein dafür geschaffen.
Wir müssen also entschieden fordern, daß die Übergangsregelung, die wir mit diesem Gesetz verabschieden werden, nur vier Jahre in Kraft bleibt. Ein längerer Zeitraum oder ein Hinüberdämmern in einen amorphen Dauerzustand ist nicht zu akzeptieren.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD)

Lassen Sie mich zum Schluß noch folgendes sagen: Ich denke, wenn wir in den Archiven gar nicht so weit zurückgehen, werden wir feststellen können, daß es bei den Diskussionen um diesen Binnenmarkt in den Jahren 1987 und 1988 zu großen Aufregungen, zu Seminaren, Kongressen und Auftritten vieler Bedenkenträger gekommen ist. Ich meine, der ganze Diskussionseifer, die Summe der theoretisch aufgetürmten Probleme und Bedenken wird mit diesem Gesetz auch etwas abgebaut. Ich meine, wir haben auch Veranlassung, der Bundesregierung dafür zu danken, daß sie entschlossen, nachhaltig und ganz konsequent den Kurs gehalten hat, zur Errichtung des europäischen Binnenmarktes auch die administrativen Hemmnisse konsequent nach und nach abzubauen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die europäische Idee wird wieder ein Stück konkreter. Sie wird sich als selbstverständlich mit den Erleichterungen in das Leben der Bürger und der wirtschaftlich Handelnden einfügen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209110200
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/2463 und 12/1320 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu gegenteilige Anmerkungen? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (15. BAföGÄndG)

— Drucksachen 12/2108, 12/2118 —



Vizepräsidentin Renate Schmidt
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft (21. Ausschuß)

— Drucksache 12/2518 — Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Graf von Waldburg-Zeil
Günter Rixe
Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink
bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 12/2552 — Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Carl-Ludwig Thiele
Hinrich Kuessner

(Erste Beratung 80. Sitzung)

b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft (21. Ausschuß)

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Neunter Bericht nach § 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes zur Überprüfung der Bedarfssätze, Freibeträge sowie Vomhundertsätze und Höchstbeträge nach § 21 Abs. 2
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die Auswirkungen des europäischen Binnenmarktes auf das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG)

— Drucksachen 12/1920, 12/1900, 12/2518 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Graf von Waldburg-Zeil Günter Rixe
Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink
Es ist vereinbart, dazu eine Stunde zu debattieren. Gibt es dazu andere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist auch das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Graf von Waldburg-Zeil.

Graf Alois von Waldburg-Zeil (CDU):
Rede ID: ID1209110300
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf vorweg als Berichterstatter auch im Namen der Mitberichterstatter eine Erklärung abgeben. In dem in der Bundestagsdrucksache 12/2518 auf den Seiten 1 ff. abgedruckten Gesetzestext des 15. BAföG-Änderungsgesetzes fehlt an zwei Stellen das Wort „jeweils". Es muß richtig heißen in Art. 1 Nr. 15 Buchstabe a zweiter Spiegelstrich: „die Zahl ,1 240' jeweils durch die Zahl ,1 275' " und in Art. 2 Nr. 4 Buchstabe a zweiter Spiegelstrich: „die Zahl ,1 275' jeweils durch die Zahl ,1 310' " zu ersetzen. Es handelt sich hierbei um eine offensichtliche Unrichtigkeit, die ich zu berichtigen bitte.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209110400
Das haben sicherlich alle verstanden.

(Heiterkeit)


Graf Alois von Waldburg-Zeil (CDU):
Rede ID: ID1209110500
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die zweite und dritte Beratung der 15. BAföG-
Novelle gibt mir Anlaß zu sieben kurzen Bemerkungen.
Erstens. Bei der Überprüfung der Bedarfssätze, Freibeträge sowie Vomhundertsätze und Höchstbeträge nach § 21 Abs. 2 BAföG hat sich die zweijährige Berichterstattung des Bundes bewährt. Ob eine Verbesserung durch die von der Opposition gewünschte Anpassung des Rhythmus der Sozialerhebung von drei Jahren an diese zweijährige Berichterstattung erreicht werden kann, wird der Ausschuß noch prüf en.
Einen kleinen Zweifel darf ich am Sinn der rituellen Anhörung anmelden, die wir dazu stets mit den Betroffenen veranstalten. Ich glaube, solange wir BAföG-Novellen beraten, hat es in den Beschlüssen noch nie eine Abweichung von den Vorschlägen gegeben, die von der Bundesregierung gemacht worden sind. Ich meine, wir werden sicher immer zu hören bekommen, daß mehr besser sei, aber im Grunde genommen kommt dabei nicht sehr viel heraus.
Die Tatsache, daß Koalitionsfraktionen und SPD gemeinsam die Anhebung der Bedarfssätze zum Herbst 1992 um 6 v. H. und der Freibeträge um durchschnittlich 3 v. H. jeweils zum Herbst 1992 und zum Herbst 1993 beschlossen haben, zeigt, daß der Bericht gar nicht so falsch gelegen haben kann.
Zweitens. Kein Gesetzentwurf kann so gut sein, daß ihn die parlamentarische Beratung nicht noch verbessern könnte. Bei der Frage der Anhebung des Grundbedarfs in den neuen Ländern hat die Anhörung ihre Zwecke durchaus erfüllt ebenso wie die gründliche Beratung im Ausschuß. Die Entscheidung, durch die Koalitionsfraktionen beantragt, die Angleichung in einem Schritt vorzunehmen, war keine populistische Entscheidung, sondern eine sachorientierte.
Drittens. Manche Klärungen lassen sich erst nach gründlicher Rücksprache erreichen. Der Bundesrat hatte empfohlen, daß der Wohnzuschlag nach der Härteverordnung in den neuen Ländern ohne Selbstbeteiligung auch den Studenten gewährt werden sollte, die in Wohnheimen öffentlich-rechtlicher Träger untergebracht sind. In ihrer Gegenäußerung hatte die Bundesregierung ihr ablehnendes Votum mit der Gefahr überhöhter Mietforderungen zur Finanzierung von Sanierungsmaßnahmen mit der Folge entsprechend höherer Förderungsleistungen begründet. Diese Gefahr ist nun durch verbindliche Erklärungen der neuen Länder ausgeräumt worden. Insofern konnte das Votum des Bundesrates nun Berücksichtigung finden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Viertens. Auch Gesetze mit bundesweitem Geltungsbereich kommen nicht umhin, Sondersituationen Rechnung zu tragen. Mit der im Ausschuß beschlossenen neuen Fassung des § 9 Abs. 1 der Härteverordnung ist es geglückt, eine Besitzstandswahrungsklausel für die besonderen Interessen von Berliner Studierenden einzufügen, die durch die Umstrukturierung des dortigen Hochschulwesens betroffen waren.
Allerdings zeigt sich an diesem Beispiel, daß es leichter ist, einer eingegrenzten speziellen Problema-



Alois Graf von Waldburg-Zeil
tik Herr zu werden, wie etwa der künftigen Zuordnung einiger Institute von der Freien Universität zur Humboldt-Universität, als durch eine generelle Regelung einen Grundsatz aufzuweichen, wie den des Belegenheitsprinzips bei einer allgemeinen Pendlerregelung.
Dieselbe Problematik hat den Ausschuß auch gehindert, in Flächenstaaten auftretende Probleme beim Besuch von gemischten Fachoberschulkiassen 12 zu lösen. Eine Änderung, die nicht mehr nach dem Prinzip der besuchten Schulart, sondern nach der individuellen Vorbildung Ausbildungsförderung geleistet hätte, wäre in den Folgewirkungen schwer eingrenzbar gewesen. Der Ausschuß hat in seinem Entschließungsvorschlag empfohlen, die Bundesregierung aufzufordern, zu prüfen, ob und wie unter rechtlichen und politischen Gesichtspunkten dem genannten Anliegen des Bundesrates doch noch Rechnung getragen werden kann. Herr Rixe, Sie werden diesen Fall sicher noch intensiv vortragen.

(Günter Rixe [SPD]: So ist es!)

Ihre Sympathie gilt an sich dem Anliegen. Wir bleiben dabei, daß die Bundesregierung das überprüfen sollte. Denn wenn wir die Folgewirkungen nicht prüfen, kann die Ausweitung bis zu 32 Millionen DM kosten.
Fünftens. Auch in einfachen Anpassungsnovellen muß immer Raum für durchzuhaltende große Themen bleiben. Zwar muß eine allgemeine Regelung Überschreitungen von Höchstverweildauern verhindern. Ist diese Überschreitung jedoch die Folge einer Schwangerschaft oder der Pflege und Erziehung eines Kindes bis zum vollendeten fünften Lebensjahr, muß das anders gesehen werden.
Frauen- und familienpolitisch ist die Änderung sehr zu begrüßen, wonach in Zukunft die Förderungsbeiträge bei einer solchen Überschreitung als Zuschuß zu leisten sind und sich wegen der verlängerten Förderungsdauer kein zurückzuzahlender Darlehensbetrag ergibt.
Sechstens. Auch in der 15. Novelle kommt es zu Anpassungsnotwendigkeiten, die den Erfahrungen der Praxis oder Folgen der Rechtsprechung entspringen. Wir werden nach der gründlichen Beratung im Ausschuß den Ergebnissen der Ausschußberatung zustimmen und den im Ausschuß schon einmal gestellten und jetzt wiederholten Forderungen von seiten der SPD, die darüber hinausgehen, nicht zustimmen können.
Darf ich — siebtens — trotz der bescheidenen Fortschritte dieser Novelle mit dem nochmaligen Hinweis auf den Bericht der Bundesregierung über die Auswirkungen des europäischen Binnenmarktes auf das Bundesausbildungsförderungsgesetz schließen. Der Vergleich zeigt klar, daß die Bundesrepublik in der Ausbildungsförderung der europäischen Mitgliedsländer an der Spitze steht.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209110600
Nun kommt der Kollege Stephan Hilsberg.

Stephan Hilsberg (SPD):
Rede ID: ID1209110700
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, daß ich nach diesen gekonnt vorgetragenen Ausführungen meines Vorredners, Graf Waldburg-Zeil, die sich aber doch sehr im einzelnen erschöpften, ein wenig grundsätzlicher auf BAföG eingehe, zumal mir das hier angesichts eines besonderen Faktums der Anlaß zu sein scheint.
Normalerweise gehört die kontinuierlich vorgeschriebene BAföG-Anpassung zu den parlamentarischen Alltagsangelegenheiten. Insofern haben Sie sicher recht. Trotzdem geht diese 15. BAföG-Novelle, die zweite nach dem Vollzug der deutschen Einheit, darüber hinaus. BAföG, Bundesausbildungsförderung, ist ein sehr weiter Name für den eigentlich engeren Begriff der ausschließlichen Studentenfinanzierung. Nur entspringt er einer der wenigen, aber wichtigen Bundeskompetenzen in Bildungsangelegenheiten und ermöglicht den Zugang aller gesellschaftlichen bzw. sozialen Schichten zum Studium. Das ist deshalb ein so wichtiger Beitrag für die Erschließung der kreativen und der geistigen Fähigkeiten für die notwendigen Lösungen dringlicher Aufgaben wie etwa Weiterentwicklung von Wissenschaft, Forschung, Technik und Technologie, Anpassung der Industriegesellschaft an das Zeitalter der Ökologie, Zusammenwachsen Europas in einer enger gewordenen Welt mit all den Problemen in bezug auf die Dritte Welt und nicht zuletzt die Erhaltung des wirtschaftlichen Standortes Deutschland.
Das darf man über den sicher notwendigen Tagesaufgaben nicht vergessen. Aber man darf gerade als Sozialdemokrat nicht die Mängel übersehen, die das BAföG trotz allem hat. Da ist auf der einen Seite die übermäßige Belastung von Familien mit mehreren Kindern. Es ist die soziale Unausgewogenheit, weil die weniger Verdienenden stärker belastet werden, was als Kernpunkt christdemokratischer Politik immerhin einen Keil in die Gesellschaft treibt. Es ist auch die Belastung, die sich aus der Darlehensrückzahlung ergibt. Das ist nicht ganz einsichtig, wenn man sich die notwendige Arbeit ansieht, die die ehemaligen Studenten später zu leisten haben.
Ich denke hier auch an die hartnäckige Aussparung des Schüler-BAföG, wie es einmal existiert hat, das die gleiche Aufgabe hat wie das Studenten-BAföG.

(Alois Graf von Waldburg-Zeil [CDU/CSU]: Das ist aber keine Forderung von Ihrer Seite!)

Wir haben das Schüler-BAföG als Forderung nie aufgegeben; wir haben die Forderung nach SchülerBAföG immer wieder erhoben, und Sie werden nicht erleben, daß wir auf diese Forderung verzichten.

(Alois Graf von Waldburg-Zeil [CDU/CSU]: Es liegt aber kein konkreter Antrag vor!)

— Das mag sein; aber es hat natürlich auch wenig Sinn, bei dieser jährlich bzw. kontinuierlich wiederkehrenden Anpassung des BAföG immer nur akklamatorische Dinge mit hineinzubringen, sondern man muß sich auf diesen schmalen Grat besinnen, der realistisch machbar ist. Es gehört zu den Mängeln, daß Schüler-BAföG nicht vorhanden ist, und es wird



Stephan Hilsberg
wieder auf der Tagesordnung stehen, sobald andere Verhältnisse vorliegen.

(Alois Graf von Waldburg-Zeil [CDU/CSU]: Applaus für den Realismus!)

Ja, Realismus ist ein ganz wesentlicher Punkt, und ich komme darauf noch zu sprechen.
Aber lassen Sie mich vorab noch etwas anderes sagen: Das wichtigste an dieser BAföG-Novelle ist nicht nur die Anpassung von Freibeträgen und die Erhöhung der Förderung; diese Förderung steigt um 6 %. Sicherlich, wir haben zugestimmt; aber was sollten wir machen? Wir können an dieser Stelle nur realistisch einer Sache zustimmen, von der Sie meinen, die Bundesregierung hätte allein recht und wir könnten auf die Anhöhrung der Studenten verzichten.
Ich kann mir vorstellen, warum Sie denken, daß wir darauf verzichten können: weil Sie nämlich ungern in so blamable Zustände kommen, daß die Studenten mit Fug und Recht begründen, daß die Anpassung nicht ausreicht, daß z. B. Dinge wie der Warenkorb ungenügend geregelt sind, daß die Feststellung, wo denn eigentlich die Lebenshaltungskosten anzusiedeln sind, wie man sie ermittelt, daß all das ungenügend geregelt ist.
Wenn wir hier an dieser Stelle mit Ihnen zusammen stimmen, dann deswegen, weil trotz aller Mängel immer noch die Grundtendenz gewahrt ist und weil die jährlich wiederkehrende Anpassung auch auf eine Regelung der Sozialdemokraten zurückgeht, die festgelegt hat, daß das BAföG durch die Anpassung den veränderten Lebensbedingungen stattgeben muß.
Für mich ist noch sehr wichtig, daß wir hier die Angleichung für ostdeutsche Studenten haben. Für die Studenten in Ostdeutschland ist das ein echter Grund zur Freude. Es ist aber auch nicht leicht zu erringen gewesen.

(Beifall bei der SPD und der F.D.P.)

Sie haben dem erst nach einer Vorlage des Bundesrates stattgegeben und es dann allerdings mit allen Parteien gemeinsam beschlossen.

(Alois Graf von Waldburg-Zeil [CDU/CSU]: Wir prüfen immer erst!)

Eigentlich möchte man meinen, daß das im zweiten Jahr der deutschen Einheit eine Selbstverständlichkeit sei, und doch ist es eher die Ausnahme angesichts niedrigerer Tarife, niedrigerer Arbeitslosengelder, geringerer Sozialhilfen und niedrigerer Renten in Ostdeutschland.

(Zuruf von der F.D.P.: Auch niedrigerer Produktivität!)

Die West- Ost-Angleichung entspricht dem Blick nach vorn — wohin könnten wir sonst blicken? —; aber sie ist nicht billig zu haben, und ich befinde mich hier als Ostdeutscher gerade wegen der niedrigeren Produktivität in einer nicht ganz einfachen Situation. Einerseits weiß ich, daß Deutschland, insbesondere das demokratische Deutschland, gar nicht anders kann, als den Gleichheitsgrundsatz in seiner Gänze zu verwirklichen, und das betrifft nicht nur BAföG. Andererseits weiß ich auch, daß dafür Opfer notwendig sind
— Opfer, die persönlich und empfindlich spürbar sind, zugunsten des Ausgleichs in Richtung Osten. Das macht auch vor BAföG nicht halt.
So ist die Studienabschlußförderung nicht verlängert worden, die ein Strohhalm für jeden Absolventen war, der sich dadurch von der Notwendigkeit befreit sah, nebenher jobben zu müssen, wenn er wegen der Überlastung unserer Hochschulen zum Schluß seines Studiums — vielfach unverschuldet — nicht mehr BAföG-berechtigt war. Zwar sagt die Bundesregierung, die Koalition sagt es auch —, hier sei kein Handlungsbedarf; aber Kundige wissen, daß sie hier ein bißchen flunkern.
Die Sache mit der Studienabschlußförderung hat zwei Seiten. Zum einen hat sie nämlich nicht die Ursache der zu langen Studienzeiten bekämpft, die in der Überlastung der Hochschulen liegt. Das sollten wohl auch die Sonderprogramme I und II tun, haben sie aber nicht geschafft. Das Ziel der Studienabschlußförderung war mehr die Wirkung der Bekämpfung der Überlast. So etwas sollte Politik nicht tun; denn das sind meist verschleuderte Mittel.
Zum anderen sollte auch ein Bewertungsbericht über die Wirksamkeit der Studienabschlußförderung vorgelegt werden; aber das geschieht nicht, und nun läuft sie ohne Bewertung aus. Das ist wie ein Durchfallenlassen ohne Prüfung. Das können wir nicht mitmachen, und deshalb liegt hierzu — neben anderen — ein Änderungsantrag von uns vor. Warum sagt die Bundesregierung nicht einfach ehrlich, daß sie die Mittel dafür nicht hat? Sind Sie der Meinung, Herr Minister Ortleb, daß man das Studenten nicht sagen kann? Denn die Studenten denken das sowieso. Es ist unredlich, in der jetzigen Situation den Menschen nicht die Wahrheit zu sagen. Statt sie zu belügen, sollte man reinen Wein einschenken.

(Beifall bei der SPD)

Weil wir gerade davon sprechen und weil BAföG ein sogenanntes Leistungsgesetz ist — ein etwas unfairer Begriff; denn die Bürger erhalten hier zwar Leistungen vom Staat, den sie andererseits aber mit ihren Steuern finanzieren —, aber auch deshalb, weil wir als SPD im Bundesrat die Mehrheit haben, möchte ich dazu noch ein Wort sagen: Wir sitzen in einem Boot. Die Neuregelung der Staatsfinanzen können wir nur gemeinsam oder wir können sie gar nicht schaffen. Ich bin dafür: gemeinsam, gerade deshalb, weil die Bildung, ein zwar teurer, aber eben auch hochnotwendiger und innovativer Faktor, den Konsens der betroffenen Parteien verlangt.
Gestatten Sie mir, darüber hinaus noch auf einige wichtige Punkte einzugehen, die zwar nicht Kardinalpunkte sind — auch angesichts der jetzigen Mehrheitsverhältnisse —, die aber doch immer wieder vorgebracht werden müssen. Wir haben dafür ein Paket von Änderungsvorschlägen eingebracht, und Sie haben die Gelegenheit, diesen zuzustimmen oder sie abzulehnen.
Da ist zunächst die Frage, wie denn — ich bin schon darauf eingegangen — die Lebenshaltungskosten der zu Fördernden ermittelt werden sollen; denn nach wie vor gibt es kein ausreichendes Instrumentarium, um festzustellen, ob die Mittel des BAföG ausreichen.



Stephan Hilsberg
Auch dafür die Anhörung im Ausschuß. Zwar gibt es die Sozialerhebung und, wie Sie wissen, auch die Berichtspflicht der Bundesregierung, aber trotzdem bringt die Bundesregierung die BAföG-Novelle regelmäßig zeitlich vor der Sozialerhebung ein. Hier muß es ein abgestimmtes Verfahren geben, das die Möglichkeiten der Ermittlung eines studentischen Warenkorbs zur Bestimmung der studentischen Lebenshaltungskosten ausschöpft.
Wir bedauern es zudem, daß sich die Bundesregierung nicht zu unserer Forderung als auch der des Beirates für Ausbildungsförderung, des DGB, studentischer Vertreter etc. zur Wiedereinführung des Schüler-BAföG geäußert hat. Dieses Ziel hat, trotz der Mehrheitsverhältnisse, nichts von seiner bildungs- und sozialpolitischen Bedeutung verloren.
Dann möchte ich noch auf eine delikate Angelegenheit verweisen, die mit dem Prüfungsauftrag nicht zu erledigen ist, weil hier ein Gleichheitsgrundsatz schlicht falsch ausgelegt wird. Anspruchsberechtigte — um es noch einmal zu nennen —, die eine Fachoberschulklasse 12 besuchen, bekommen nämlich dann kein BAföG, wenn sie in einer Klasse sitzen, wo nur zwei oder drei sind, die keinen Anspruch auf BAföG haben. Das ist eine schlichte Ungerechtigkeit. Wir haben dieses Problem im Ausschuß diskutiert, immerhin mit viel Verständnis für Sie. Leider führte dieses Verständnis nicht zu Konsequenzen. Prüfungsauftrag ist ein Auf-die-lange-Bank-Schieben. Sie haben jetzt bei unserem ersten Änderungsantrag die Gelegenheit, diesen Fehler zu korrigieren.

(Alois Graf von Waldburg-Zeil [CDU/CSU]: Ich habe schon dem Prüfungsantrag zugestimmt, wie Sie!)

— Ja, das ist zuwenig. Das ist ein populistischer Kompromiß, mit dem Sie manchen anderen Sand in die Augen streuen können, aber nicht uns. Es ist unsere Aufgabe, die Öffentlichkeit, auch wenn sie nicht ganz so groß ist, auch hier im Plenum nicht, darüber zu informieren.
Ein immerhin ernsthafter Punkt: Die mangelhafte Förderung von Auslandsstudien ist anzumahnen. Zur Zeit ist es nämlich nicht möglich, eine ein- oder zweijährige Zusatzausbildung zu fördern, auch wenn sie die Qualifikation für eine Tätigkeit im Bereich der Europäischen Gemeinschaft verbessert. Trotz vorliegenden Berichts hat man schon den Eindruck, daß diese BAföG-Novelle im europafreien Raum stattfindet. Binnenmarkt und Maastricht kommen so gut wie gar nicht darin vor.
Nicht zuletzt will ich darauf hinweisen, daß der Förderanspruch für 21jährige Kinder von Bürgern von EG-Staaten, sogenannten EG-Ausländern, leerläuft, da er verbunden ist mit einer Regelung im Aufenthaltsgesetz/EWG über die Freizügigkeit, wonach diejenigen, die BAföG beantragen, ihr Aufenthaltsrecht verlieren. Das ist ein Unding.
Zum Schluß: Ich habe sehr detailliert unser Verhältnis zur Bundesausbildungsförderung dargestellt. Trotz seiner Mängel halten wir sie von der Zielrichtung für richtig. Trotzdem sind wir keine Koalitionspartei. Ich glaube, wir haben als Opposition gemeinsam mit dem Bundesrat das maximal Mögliche
erreicht. Wir sind nicht zum Konsens verpflichtet, aber wir sind auch keine Beckmesser, und unsere Zusatzanträge stellen gute Anträge zur Weiterentwicklung dar.
Deshalb werden wir der Novellierung des BAföG in der Ausschußfassung zustimmen.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der SPD)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209110800
Nun spricht der Kollege Dirk Hansen.

Dirk Hansen (FDP):
Rede ID: ID1209110900
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte doch zu Anfang Stephan Hilsberg für die Verhaltenheit im Ton und die Nachdenklichkeit in der Sache ausdrücklich meinen Dank sagen, weil dies deutlich gemacht hat, wie im Ausschuß und, ich denke, auch darüber hinaus, miteinander umgegangen wird und umgegangen werden kann und das, wenn man so will, auch ein bißchen stilbildend hinsichtlich parlamentarischer Kultur ist. Deswegen also ausdrücklich meinen Dank.
Ich möchte auch an Sie anschließen, Herr Hilsberg, es aber doch noch stärker deutlich machen. Denn ich finde, die jetzige Stunde steht unter einem Zeichen, das man so formulieren könnte: Deutsche Einheit auch beim BAföG. Es ist etwas erreicht worden, was — Sie haben darauf hingewiesen — in vielen anderen Gebieten noch keineswegs erkennbar ist. Und der Ausschuß für Bildung und Wissenschaft zusammen mit dem Ministerium hat etwas erreicht, was wirklich heraushebenswert ist. Deutsche Einheit auf diesem Gebiet ist klar erkennbar gemacht, weil gewollt.
Die Beratungen im Ausschuß zur 15. Novelle des BAföG haben in den vergangenen Wochen verschiedene Wendungen erfahren. Das Ergebnis ist ausgesprochen positiv, daher ja auch nicht unerklärlicherweise die Zustimmung, ich denke und hoffe, von allen Seiten, jedenfalls auch über die Koalitionsfraktionen weit hinaus.
Unter dem Ministerium von Rainer Ortleb sind in kürzester Zeit zwei BAföG-Novellen verabschiedet worden, die beide im Zeichen dieser deutschen Einheit stehen. Sowohl bei der 14. BAföG-Novelle vom vergangenen Sommer wie auch bei der heutigen Verabschiedung ist erkennbar, daß die Vereinigung schrittweise Fortschritte macht.

(Beifall bei der F.D.P.)

Mit der Entscheidung im Bildungsausschuß und mit der gestrigen Entscheidung im Haushaltsausschuß ist erreicht worden, daß für alle Bundesländer ein gleicher BAföG-Grundbedarf erkannt wird.
Die Bedarfssätze werden nicht, wie ursprünglich vorgesehen, schrittweise, sondern nunmehr in einem Schritt in Ost und West in gleicher Weise angehoben. Die Höchstförderung für nicht bei ihren Eltern wohnende Studierende steigt um 50 DM auf 940 DM und für bei den Eltern wohnende Studenten um 40 DM auf maximal 710 DM. Diese Anpassung ab Herbst 1992 wird für das laufende Jahr 6 Millionen und für das kommende Jahr ca. 12 Millionen DM erfordern. Die Koalitionsfraktionen und im Anschluß daran, jeden-



Dirk Hansen
falls logisch betrachtet, auch die Opposition sind der Auffassung gewesen, daß Preissteigerungen beispielsweise bei der Erhöhung für Eisenbahn- und Nahverkehrskarten, bei Lebensmitteln und Textilien wie insgesamt bei den Lebenshaltungskosten diese Angleichung von Ost und West rechtfertigen.
Diese im Durchschnitt 6 % betragende Steigerung der Leistungen für Schüler und Studenten nach dem BAföG steht neben der zweiten Verbesserung, die mit der um ca. 3 % betragenden Anhebung der Freibeträge bei den Elterneinkommen vorgenommen wird. Eine dritte Verbesserung ist die Anhebung des Wohngeldanteils und die Erweiterung der Härteverordnung entsprechend den tatsächlichen Mietpreisen.
Ebenso gibt es Verbesserungen für die Förderung von Ausländern und bei der Förderung Studierender mit Kindern. Auch wird ein zwingender Auslandsstudienanteil nunmehr in die Förderung einbezogen.
Außerdem gibt es auch Einvernehmen zwischen den Fraktionen hinsichtlich der Verbesserung für die Berliner Studenten, die, was die rechtliche Zuordnung ihres Studienplatzes im Osten der Stadt angeht, trotz des BAföG-Belegenheitsprinzipes nicht schlechtergestellt werden.
Mit diesen beispielhaft genannten Verbesserungen des BAföG wird deutlich, daß der Bundestag sich als fähig erwiesen hat, aus der öffentlichen Anhörung, die er im März dieses Jahres veranstaltet hat, Konsequenzen zu ziehen, obwohl zugegebenermaßen nicht alle auch gerade dort angeführten Wünsche erfüllt werden konnten. Aber das kann niemanden überraschen. Wunschlisten sind bekanntlich immer länger als die jeweils aktuell gegebenen Möglichkeiten. Dies auch als eine Teilantwort auf Ihren Änderungsantrag.
Durchaus wünschenswert bleibt es unserer Auffassung nach, zu überprüfen, inwieweit Fachoberschüler mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung auch in die Förderung aufgenommen werden können. Wir sind uns sehr bewußt, daß hier nicht nur finanzielle Mehrbelastungen in erheblichem Maße auf uns zukommen, sondern daß offenbar gerade auch rechtliche Bedenken bestehen, die jedenfalls keine schnelle Lösung zulassen, wenn man nicht Grundsätze des BAföG, wie das Prinzip der Förderung nach Ausbildungsstätte, zugunsten einer individuellen Förderung aushebeln wollte. Deswegen ist hier weiterer Klärungsbedarf über die Diskussion der vergangenen Woche hinaus.
Das, was Minister Ortleb bei der Verabschiedung der 14. BAföG-Novelle schon angekündigt hat, wird nunmehr vollzogen. Die Anhebung der BAföG-Sätze war ein notwendiger Schritt. Es ist klar, daß die Anpassung der Bedarfssätze, die normalerweise alle zwei Jahre vorgenommen wird, zeitlich nicht zusammenpaßt mit den alle drei Jahre neu erstellten Sozialerhebungen der Bundesregierung. Graf WaldburgZeil hat darauf hingewiesen. Es wird insofern notwendig sein — wir sind uns da ja einig —, daß der zehnte Bericht nach § 35 des BAföG zur Überprüfung der Bedarfssätze mit der 14. Sozialerhebung in einen möglichst nahen zeitlichen Zusammenhang gerückt wird, um angemessene Vergleichszahlen zu bekommen. Der neunte Bericht war eine wesentliche Hilfe
zur Erstellung der aktualisierten Zahlen. Aber wegen der zeitlichen Nähe ergibt sich noch Verbesserungsbedarf.
Es darf aber nicht dazu führen, daß in Zukunft trotz steigender BAföG-Beträge doch eine gewisse Illusion wächst, da die Kaufkraft insgesamt eher stagniert oder gar sinkt und sich insofern eine Schere zwischen effektiven Preisen und BAföG-Zahlungen öffnet. Aber es ist gerade der Erfolg der 15. BAföG-Novelle, daß der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft schon frühzeitig im Beratungsgang die Marke von 6 % mehr angepeilt hat und daß alle zu beteiligenden Bundestagsausschüsse und auch der Bundesfinanzminister grünes Licht gegeben haben.
Daß rund 430 000 Studierende und — das betone ich gegenüber der SPD — auch ca. 160 000 Schüler im gesamten Bundesgebiet BAföG-Leistungen beziehen, macht deutlich — auch wenn natürlicherweise Wünsche offenbleiben —, daß das BAföG auch in seiner heute zu verabschiedenden Novelle mit Bundesmitteln in Höhe von insgesamt 2,7 Milliarden DM für das Jahr 1992 als ein im weitesten Sinne des Wortes „Sozialgesetz" zu verstehen ist, das sozial ist und nunmehr auch bezogen auf ganz Deutschland für Chancenausgleich sorgt. Bildung bleibt für Liberale weiterhin eine wesentliche Sozialinvestition.
Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209111000
Nun hat der Abgeordnete Dietmar Keller das Wort.

Dr. Dietmar Keller (PDS/LL):
Rede ID: ID1209111100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich bin für einen kulturvollen Stil im Umgang. Aber ich denke, das Parlament ist auch dazu da, daß man sich gegenseitig unterschiedliche Meinungen kundtut.
Die langwierige und komplizierte Diskussion hat deutlich gemacht — ich halte das für normal —, daß es eine Kluft zwischen der Meinung von Sachverständigen und der Entscheidung der Bundesregierung gibt. So haben in der Anhörung im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft im März dieses Jahres alle Sachverständigen deutlich gemacht, daß es keinen unterschiedlichen Grundbedarf eines Studierenden (Ost) im Vergleich zu einem Studierenden (West) gibt. Die Bundesregierung weiß das auch. Ich finde, es wäre gut, wenn die Bundesregierung dann auch deutlich sagte, warum sie gegen diesen Sachverstand Gesetzentwürfe unterbreitet.
Die Sachverständigen waren sich ferner darüber einig, daß es gewichtige Gründe für die Verlängerung der Studienabschlußförderung bis 1995 gibt. Auch hier wäre eine Antwort nötig. Ähnliches wäre zum Schüler-BAföG, zum Wohnbedarf oder zur Berechnung eines studentischen Warenkorbes zu sagen.
Ich verstehe ja, daß man, wenn man regiert, dieses und jenes politisch entscheiden muß; aber ich habe Schwierigkeiten damit, wenn der Sachverstand nicht ernstgenommen wird.




Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209111200
Herr Kollege Keller, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Graf von Waldburg-Zeil?

Dr. Dietmar Keller (PDS/LL):
Rede ID: ID1209111300
Selbstverständlich.

Graf Alois von Waldburg-Zeil (CDU):
Rede ID: ID1209111400
Herr Kollege, worin würden Sie den Sinn der Anhörung der Sachverständigen sehen, wenn nicht darin, daß man dann, wie wir es gemacht haben, einen Entwurf korrigiert? Wenn jeder Entwurf bereits so ausfiele, daß das, was die Sachverständigen zu sagen hätten, vorweggenommen wäre, bräuchten wir ja keine Sachverständigen.

Dr. Dietmar Keller (PDS/LL):
Rede ID: ID1209111500
Herr Kollege, ich sehe es gerade umgekehrt. Wenn man vom Sachverstand nur ein Zehntel nutzt und neun Zehntel negiert, dann sind die Notwendigkeit und das Ernstnehmen der Anhörung doch etwas in Frage gestellt. Ihre Reaktion auf die Anhörung ist mir zu gering. Denn dabei ist mehr gesagt worden, als Sie jetzt als dringend notwendig zu bezeichnen bereit sind. Zumindest sollten Sie zugeben, daß es dringend notwendig wäre. Um mir vorzustellen, daß Sie es vielleicht politisch nicht umsetzen können, reicht auch mein eigener Realismus.
Ich darf Sie allerdings noch auf ein Problem aufmerksam machen, das bisher in der Diskussion noch keine Rolle gespielt hat. Ich meine die aus meiner Sicht jeglicher Gleichbehandlung von Ost- und WestStudierenden sowie Ost- und West-Eltern hohnsprechende Berechnungsgrundlage für das Ost-BAföG 1992. Für die Berechnung wird nicht etwa ein reales Jahreseinkommen zugrunde gelegt, sondern lediglich die Monate Oktober bis Dezember 1991. Da zumindest die Mehrzahl der Ostdeutschen in diesem Zeitraum noch Arbeit hatten, bekamen sie auch Weihnachtsgeld in der Höhe eines durchschnittlichen Monatseinkommens. Nach meiner Information wurden durch die Multiplikation der Monate Oktober bis Dezember in der Mehrzahl der Fälle der BAföG-Berechnung 16 Monatseinkommen statt dreizehn zugrunde gelegt. Das führte zu erheblichen BAföG-Kürzungen in Ostdeutschland.
Ich halte dieses Verfahren für rechts- und sittenwidrig. Da BAföG-Bedienstete nach der Angleichung der Grundbedarfssätze ohnehin mit Neuberechnungen beschäftigt sind, sollte das rückwirkend eventuell mit einer Pauschale in Ordnung gebracht werden.
Ich würde es auch begrüßen, wenn wir uns im Ausschuß für Wissenschaft und Bildung einmal über eine grundsätzlichere Form des BAföG verständigen würden, die auch zu einer größeren Durchschaubarkeit und Handhabbarkeit der Regelung für die Betroffenen und zur Senkung des Verwaltungsaufwandes führen müßte, und das nicht erst, wenn die 16. Novelle unmittelbar auf der Tagesordnung steht, sondern, wenn es geht, relativ schnell. Ja, ich würde ein BAföG begrüßen, das eine ständige Novellierung und damit auch die Debatten dazu überflüssig machen würde.
Die SPD hat einen Änderungsvorschlag vorgelegt, der darauf gerichtet ist, die Kluft zwischen dem Sachverständigenrat und der Stellungnahme des
Bundesrates einerseits und dem Regierungsentwurf andererseits weiter zu schließen. Er findet meine Zustimmung, auch wenn ich der Argumentation, die hier vom Sprecher der SPD vorgebracht und als realistisch bezeichnet wurde, nicht folgen kann. Natürlich bleiben die Frage des Schüler-BAföG und die Einführung einer sozialen Grundsicherung eine grundsätzliche soziale Frage für die weitere Arbeit und das weitere Leben der Studenten.
Ich danke Ihnen.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209111600
Nun hat das Wort der Kollege Josef Hollerith.

Josef Hollerith (CSU):
Rede ID: ID1209111700
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst ein Wort zu Kollege Hilsberg. Lieber Kollege, um einer falschen Legendenbildung bereits in ihrer Entstehung zu begegnen, möchte ich darauf hinweisen, daß die Studienabschlußförderung im Jahre 1993 ausläuft und wir uns im Jahre 1993 darüber zu unterhalten haben, was zu tun ist.

(Günter Rixe [SPD]: Das ist zu spät!)

Jede andere Aussage, die etwa unterstellt, die CDU/ CSU habe sich so oder anders entschieden, ist schlichtweg falsch. Wir werden im Jahre 1993 die notwendigen Entscheidungen fällen.

(Eckart Kuhlwein [SPD]: Ist das nicht ein bißchen spät?)

— Das ist sicherlich der richtige Zeitpunkt, um die notwendigen Beschlüsse zu fassen.

(Eckart Kuhlwein [SPD]: Sie wissen doch auch gern vorher, wieviel Geld Sie kriegen werden!)

— Das wissen viele nicht, lieber Kollege Kuhlwein, was sie an Geld kriegen werden. Denken Sie nur an die Streiks, die derzeit laufen. Da wissen auch viele nicht, wie der Streik ausgeht, wie die Erhöhungen sein werden. Es liegt in der Natur der Dinge, daß erst die notwendigen Beschlüsse gefaßt werden müssen, um dann die entsprechenden Gelder zu zahlen. Sie wissen auch als Abgeordneter nicht, was Sie in diesem Jahr eventuell an Diätenerhöhungen bekommen oder nicht bekommen.

(Eckart Kuhlwein [SPD]: Ich kann aber anders darauf verzichten als die Studenten!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, hinter uns liegen die zwei bislang wichtigsten Jahre in der Geschichte der Ausbildungsförderung. In das Jahr 1990 fiel die grundlegende Reform durch das 12. BAföG-Änderungsgesetz, und das Jahr 1991 hat die Erstreckung der Förderung auf das Beitrittsgebiet und den Aufbau der Förderungsverwaltung in den neuen Bundesländern zu verzeichnen.
Auch wenn es für eine Bilanz sicherlich noch zu früh sein dürfte, läßt sich bereits jetzt sagen, daß die administrativen Probleme bei der Einführung des BAföG in den neuen Ländern weitgehend bewältigt werden konnten.

(Beifall bei der CDU/CSU)




Josef Hollerith
Ich halte dies für eine großartige Leistung unserer Verwaltung und auch für eine großartige Leistung der Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern.
Mit einer gut koordinierten Hilfe der bundesdeutschen Studentenwerke wurden an den meisten Hochschulstandorten innerhalb relativ kurzer Zeit Studentenwerke mit den erforderlichen Ämtern eingerichtet, konnte Personal gewonnen und geschult und so der Berg der anhängigen Verfahren bewältigt werden. Das von manchen und von Interessierten an die Wand gemalte Chaos ist ausgeblieben.
Vor uns liegt der Entwurf des 15. BAföG-Änderungsgesetzes zur Anpassung der Bedarfssätze sowie der Frei- und Höchstbeträge nach § 35 BAföG und mit Änderungen bei der Förderung von Ausländern. Ich stimme mit den Kollegen überein, daß es eine große Leistung ist, die innere Einheit Deutschlands auch dadurch zu vollenden, daß beide Bedarfssätze — im Osten, in den neuen Ländern, wie im Westen, in den alten Ländern — gleich werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Dies ist ein Ausdruck unseres festen Willens, auf der materiellen Ebene, auf der Ebene der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und des beruflichen Nachwuchses, keine Unterschiede fortzuführen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, vor uns liegt aber auch die Verwirklichung des EG-Binnenmarktes mit all den Herausforderungen, die sich daraus ergeben. Unsere Ausbildungsförderung muß daher sicherstellen, daß die deutsche Jugend auch innerhalb der EG-Konkurrenz berufliche Zukunftsperspektiven hat.
Daher begrüße ich die Änderung zu Art. 1 Nr. 1 (neu) und 6 BAföG, mit der eine Zusatzausbildung für die Verwendung im europäischen Ausland, insbesondere für Absolventen von Fachhochschulen, gefördert werden soll.
Die Auswirkungen des Europäischen Binnenmarktes weisen — wie wir dem Bericht der Bundesregierung vom Dezember 1991 auf Drucksache 12/1900 entnehmen können — auf die Notwendigkeit weiterer Ausbildungsförderung für Auslandsaufenthalte hin.
Allerdings will ich in Anbetracht — dies sei nicht verschwiegen, weil es bekannt ist — unserer angespannten Haushaltslage auch eine Gefahr hervorheben, die Professor Dr. Dams von der Universität Freiburg bei der öffentlichen Anhörung zum Gesetzentwurf formuliert hat. Zur Zeit ist der Anteil von geförderten EG-Ausländern marginal. Niemand aber weiß, wie dies in Zukunft auf Grund der unterschiedlichen Förderungsniveaus aussehen wird. Diese im Grundsatz positive Förderung — die ich ausdrücklich begrüße — weist hier eine finanzielle Perspektive auf, von der wir nicht wissen, in welcher Höhe sie den Haushalt belasten wird.
Ein weiteres Problem wird uns beschäftigen müssen. Schon heute zahlt die Bundesrepublik z. B. beim ERASMUS-Programm doppelt: einmal über den Haushaltsschlüssel unserer Mitfinanzierung des EG-Haushalts, zum anderen für diejenigen, die ihr Auslandsstudium im Rahmen des BAföG finanziert bekommen.
Zwar fördert das BAföG mit gutem Recht Auslandsstudien in einem Umfang, wie es andere europäische Länder durch ihr Förderungsrecht nicht tun; jedoch darf die Bundesrepublik hierdurch in Zukunft nicht unangemessen finanziell belastet werden. Deswegen, meine ich, müssen innerhalb der EG die entsprechenden Anpassungen gebündelt durchgeführt werden. Eine europäische Finanzierung, etwa wie bei einem Sozialfonds, ist aus meiner Sicht anzustreben.
Neben der finanziellen muß aber auch eine organisatorische Angleichung stattfinden, indem wir unsere im EG-Vergleich viel zu langen Studienzeiten verkürzen, unsere Studenten — nicht nur finanziell — stärker motivieren, im Ausland zu studieren — dabei ist ein Anteil von 10 % Auslandsstudenten anzustreben; bisher sind es leider nur etwa 4 % — und unsere steigenden Studienabbruchquoten — es ist realistisch, von 15 bis 20 % auszugehen — reduzieren.
Dies könnte durch attraktivere berufliche Ausbildungsgänge — die Aufwertung der beruflichen Bildung ist unser gemeinsames Anliegen — geschehen. Dadurch könnte zugleich unser dramatisches Ungleichgewicht zwischen Studenten und Lehrlingen beseitigt werden.
Nur mit jüngeren, auslandserfahreneren und motivierten Nachwuchskräften kann sich Deutschland im Wettbewerb um international mobile Investoren auf Dauer behaupten. Nur dann bleibt unser Land als Wirtschaftsstandort interessant. Das zur Entscheidung vorliegende 15. BAföG-Änderungsgesetz begrüße ich daher. Es sollte aber nur ein Schritt zur Verbesserung von Ausbildungs- und Berufsförderung in dieser Legislaturperiode sein. In Zukunft müssen wir uns vor allem der beruflichen Aus- und Weiterbildung widmen.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209111800
Nun hat der Kollege Günter Rixe das Wort.

Günter Rixe (SPD):
Rede ID: ID1209111900
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Hansen, ein bißchen Wasser muß ich nun schon in den Wein hineinschütten.

(Dirk Hansen [F.D.P.]: Ich hatte es mir doch gedacht!)

Das Motto „Wir waren uns im Ausschuß alle einig!" trifft ja nicht zu. Wenn wir uns so einig gewesen wären, dann hätten wir hier nicht noch fünf oder sechs Änderungsanträge eingebracht. Ich denke, das ist auch sehr wichtig. Wenn ich mir vorstelle, daß die Sachverständigen, die uns bei der Anhörung das alles vorgetragen haben, heute hören und lesen, was wir beschließen, muß ich in der Tat sagen, daß die Sachverständigen eigentlich enttäuscht sein müßten, daß wir nicht mehr auf sie eingegangen sind.

(Dr. Dietmar Keller [PDS/Linke Liste]: Sehr richtig!)




Günter Rixe
Wir müssen beim BAföG in einigen Punkten noch einiges tun.
Dringende Anliegen des Bundesrates, des BAföG-Beirates, der Sachverständigen und der Studentenverbände werden von den Regierungsparteien und der Bundesregierung nicht berücksichtigt. Selbst eine gemeinsame Resolution der Studentenverbände, der auch die Studentenorganisationen der CDU/CSU und der F.D.P. zugestimmt haben

(Eckart Kuhlwein [SPD]: Haben die noch welche?)

— ja, anscheinend, denn die Resolution wurde vor der Ausschußsitzung verteilt —, konnte ihre Herzen für die Verbesserung der sozialen Lage der Studenten nicht erweichen.
Dies ist schon ein eindrucksvoller Vorgang. Bernerkenswert ist nicht nur die Solidarisierung der Studenten, sondern auch das totale Übergehen dieser Forderung durch die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen. Meine Damen und Herren, so geht man eigentlich nicht mit erwachsenen Menschen urn!
Wir stimmen der Erhöhung der Bedarfssätze um 6 % und der Freibeträge in zwei Stufen um jeweils 3 % zu. Das haben wir auch im Ausschuß gesagt. Damit bin ich wie alle anderen Redner der Meinung, daß wir im Bereich der gemeinsamen Finanzierung der Studenten in den alten und in den neuen Ländern einen großen Schritt vorangekommen sind. Aber es fehlen noch einige Anträge, und ich will diese Punkte hier auch noch einmal nennen.
Die SPD hat eine stärkere Anpassung der Bedarfssätze zwar gewünscht und gefordert, aber wir sind angesichts der großen Haushaltsprobleme in den Ländern und im Bund bereit, nur den hier vorgeschlagenen Bedarfssätzen zuzustimmen und heute nicht höhere zu beschließen; denn Sie wissen ja alle, daß wir dem Gesetzentwurf, der jetzt vor uns liegt, in zweiter und dritter Lesung zustimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) — Ja, natürlich, man muß realistisch sein.


(Eckart Kuhlwein [SPD]: Das war beim BAföG immer guter Brauch!)

Ich will noch vier Punkte nennen, Herr Hilsberg hat sie natürlich auch schon genannt, aber ich will noch einmal darauf eingehen.
Erstens. Wir wollen die Verlängerung der Studienabschlußförderung um weitere zwei Jahre. Sie wissen, daß ich hier eigentlich für Frau Odendahl von meiner Fraktion rede, die für BAföG zuständig ist. Ich kann mich gut daran erinnern, daß der frühere Bundesbildungsminister Möllemann damals diese Reform der Studienabschlußförderung sehr stolz verkündet hat, und jetzt wollen wir sie kürzen oder abschaffen.

(Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.: Nicht jetzt!)

— Nicht abschaffen, sondern die Verlängerung nicht heute beschließen, sondern erst 1993. Dies kommt eigentlich zu spät; denn die Studenten werden die Anträge für das Studienjahr 1993 in diesem Jahr stellen, und die Ämter müssen diese dann ablehnen. Dann stehen die Studenten vor der Tür. Sie, Herr
Hollerith, haben ja eben gesagt, daß Sie dies im nächsten Jahr beschließen wollen. Dann ist es zu spät. Dann werden zig Studenten schon Ablehnungsbescheide haben. Dann müssen alle diese Ablehnungsbescheide verworfen und neue ausgefüllt werden. Nein, wir müßten die Verlängerung der Studienabschlußförderung eigentlich heute beschließen und nicht erst im nächsten Jahr.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209112000
Kollege Rixe, gestatten Sie mehrere Zwischenfragen?

Günter Rixe (SPD):
Rede ID: ID1209112100
Ja, bitte, ich sehe das ja.

Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1209112200
Herr Kollege Rixe, könnten Sie mir vielleicht freundlicherweise erläutern, warum Sie offensichtlich einen dauerhaften Leistungsanspruch auf eine Studienabschlußförderung heute nicht vorschlagen können oder wollen, aber bereits heute wissen, daß eine Verlängerung um zwei Jahre angemessen, möglich und nötig sei?

Günter Rixe (SPD):
Rede ID: ID1209112300
Da treffen Sie mich genau auf dem falschen Fuß. Ich habe eben schon gesagt, daß ich im BAföG nicht so bewandert bin, weil ich hier für Frau Odendahl stehe. Aber ich frage Sie: Warum lehnen Sie als Koalitionsfraktionen denn heute die Verlängerung über das nächste Jahr hinaus ab?

(Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Das tun wir ja nicht!)

— Doch, natürlich.

(Alois Graf von Waldburg-Zeil [CDU/CSU]: Wir verlängern nur nicht!)

— Sie verlängern nur nicht; das ist richtig. Aber wir sagen: Das muß heute über 1993 hinaus verlängert werden, weil es sonst zu spät kommt. Das ist unser Problem.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209112400
Nun die Zwischenfrage des Kollegen Kuhlwein.

Eckart Kuhlwein (SPD):
Rede ID: ID1209112500
Herr Kollege Rixe, können Sie sich vorstellen, daß die Entscheidung der Koalition, erst im nächsten Jahr über eine Verlängerung der Studienabschlußförderung zu reden — einige haben ja gesagt, im nächsten Jahr würden sie es machen —, auch damit zu tun hat, daß CDU/CSU und F.D.P. gar nicht mehr damit rechnen, im nächsten Jahr noch gemeinsam Regierungsverantwortung zu tragen?

(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Dirk Hansen [F.D.P.]: Spaßmacher!)


Günter Rixe (SPD):
Rede ID: ID1209112600
Herr Kuhlwein, da kann ich eigentlich nur mit Ja antworten. Sonst würde die Koalition heute diesem wichtigen Punkt zustimmen.

(Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Ich dachte, hier ginge es um BAföG!)

Der zweite Punkt, der mir ganz besonders am Herzen liegt — das habe ich auch im Ausschuß gesagt —, betrifft die Frage der Förderung der Fachoberschüler mit Berufsabschlüssen in den Berufsoberschulklassen. Da haben Sie ja im Ausschuß unserem Antrag leider nicht zugestimmt. Sie haben einen Prüfungsauftrag befürwortet, der dies regeln soll. Ich



Günter Rixe
kann Ihnen nur sagen: Mir wäre eigentlich recht, Herr Bildungsminister, wenn wir dies heute beschließen könnten. Denn es ist ein Problem, daß Schüler in einer Klasse sitzen, von denen der eine BAföG bekommt, der andere jedoch nicht. Ich kann mich noch an die Sitzung des Ausschusses erinnern, als mein Freund und Kollege Herr Nelle mit dem Kopf genickt hat, als wir diesen Antrag gestellt haben, Herr Graf, auch Sie waren eigentlich der Meinung, daß man das machen sollte. Aber ich habe die Befürchtung: Da sind Sie eingeknickt, weil die F.D.P. dies aus prinzipiellen Gesichtspunkten heraus nicht will.

(Dirk Hansen [F.D.P.]: Was ist denn das für eine Gerüchteküche?)

Herr Hansen, das Argument, daß dies 32 Millionen DM kostet, kann in der Tat nicht das Hauptargument sein; 32 Millionen DM bei einem BAföG-Topf, der Milliarden DM beinhaltet.

(Dirk Hansen [F.D.P.]: Nein, das verändert die Grundsätze! Das wissen Sie genau!)

Nein, das verändert nicht die Grundsätze. Wir haben hier die Lage, daß Schüler in einer Klasse sitzen, von denen der eine BAföG bekommt, der andere jedoch nicht. Wir möchten die Gleichrangigkeit in diesem Punkt haben.
Sie zwingen eigentlich auch die Länder und die Schulträger, Schulen da und dort zusammenzulegen, und Sie zwingen die Schüler zu weiteren Wegen, damit sie nicht in unterschiedlichen Klassen sitzen.

(Dirk Hansen [F.D.P.]: Nein, das ist nicht wahr!)

— Doch, natürlich ist das wahr.

(Eckart Kuhlwein [SPD]: Das weiß man sogar in Niedersachsen, Herr Hansen!)

Drittens. Das von uns im Sommer 1991 angestoßene Thema Binnenmarkt, politische und soziale Union und BAföG ist keineswegs erledigt. Ich habe meine Rede ein bißchen verkürzt. Sie haben im Ausschuß unseren weitergehenden Berichtsantrag — dazu möchte ich noch etwas sagen — mit der Begründung abgelehnt — Herr Graf Waldburg-Zeil, ich komme genau auf Sie —, er enthalte Kritik an der Bundesregierung; deswegen könnten Sie unserem Antrag nicht zustimmen, obwohl Sie grundsätzlich nicht dagegen waren. Ich muß feststellen: Eine deutlichere Selbstentmachtung des Parlaments habe ich lange nicht mehr gesehen, daß man einem Antrag nicht zustimmen kann, nur weil Kritik

(Alois Graf von Waldburg-Zeil [CDU/CSU]: Ungerechtfertigte Kritik!)

am Bundesbildungsminister und an Herrn Lammert, der da unten sitzt, geübt wurde, der diese nicht zustimmen konnten. Ich habe dafür kein Verständnis.
Jetzt muß ich langsam zum Ende kommen. Viertens fordern wir — deshalb liegen unsere Anträge vor — die Anpassung des Härtezuschlages für den Wohnbedarf von 75 DM auf 90 DM. Auch dies ist nicht vom Ausschuß angenommen worden. Es steht leider auch nicht in der Gesetzesvorlage; deswegen unsere Anträge.
Ich habe versucht, einige Punkte, ganz losgelöst von meinem Redemanuskript, klarzumachen. Ich will nur noch einen Punkt nennen, der mich maßlos geärgert hat und der sich an die F.D.P. und an den früheren Bundesbildungsminister — nicht an Sie, Herr Ortleb, sondern an Ihren Vorgänger — richtet. Ihr Vorgänger scheint ja immer noch nicht davon abzulassen, daß er in den Bildungsbereich hineinreden will, obwohl er Wirtschaftsminister ist. Ich habe zufällig vor ein paar Tagen gelesen, daß er sagte, weil wir finanziell so eng ausgestattet seien, wolle er das BAföG wieder auf Volldarlehen umstellen.

(Eckart Kuhlwein [SPD]: Dazu hat Herr Hansen nichts gesagt!)

Da sollten Sie, die Parteikollegen von der F.D.P., Ihrem Wirtschaftsminister Möllemann ernsthaft widersprechen, der immer meint, er sei halb Bildungsminister und halb Wirtschaftsminister. Wir könnten den Studenten in den fünf neuen Bundesländern wirklich nicht zumuten, wieder ein Volldarlehen mit einer Verschuldung von 40 000 bis 50 000 DM aufzunehmen. Wir alle waren eigentlich froh, daß wir dies vor zwei Jahren abgeschafft haben und nur noch die Hälfte des BAföG auf der Basis eines Darlehens gewährt wird.
Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209112700
Nun hat der Kollege Dr. Michael Luther das Wort.

Dr. Michael Luther (CDU):
Rede ID: ID1209112800
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Aktuellen Stunde des Deutschen Bundestages am 13. November 1991 über die Situation von Studium und Lehre im geeinten Deutschland wurden von uns die Dinge bereits deutlich angesprochen, die sich heute in der 15. BAföG-Novelle widerspiegeln.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Auch auf die ausreichende Finanzausstattung, die die Veränderungen im Bildungsbereich erfordern, wurde hingewiesen. Daß wir trotz der gespannten Haushaltslage dahinterstehen, wird heute deutlich; denn das Bundesausbildungsförderungsgesetz wurde nicht geschaffen, um alle, denen nichts Besseres einfällt, mit einem Platz an der Uni zu beschenken, sondern um das vorhandene Potential an Intelligenz so weit wie möglich auszuschöpfen.
Die Statistik ist heute zwar nicht so besonders positiv, denn obwohl nach der Wiedereinführung der BAföG-Zuschußkomponente der Anteil der studierenden Arbeiterkinder von 8,5 auf 12 % angestiegen ist, sind es eben nur 12 % Kinder aus Arbeiterfamilien.

(Eckart Kuhlwein [SPD]: Sehr richtig!)

Diese Tatsache erfordert immer wieder unsere große Aufmerksamkeit, damit wir dem Ziel des Bundesausbildungsförderungsgesetzes gerecht werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Darum bemüht sich die Bundesregierung, darum
bemüht sich die Regierungskoalition, und auch die



Dr. Michael Luther
Opposition unterstützt uns hier dankenswerterweise.

(Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Was nicht immer zu erwarten ist!)

Meine Damen und Herren, die Größe der Bedürftigkeit in Ost und West ist signifikant unterschiedlich. Während im Westen nur etwa 30 % der Studierenden BAföG-Empfänger sind, erhalten im Osten etwa 90 % der Studenten BAföG.

(Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Das ist wichtig, ganz wichtig!)

Das zeigt die gewaltige Leistung, die die BAföG-Bearbeitungsstellen in den Hochschulen und Universitäten der Länder im Osten Deutschlands in nur sechzehn Monaten — einschließlich ihres eigenen Aufbaus — erbracht haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Hinzu kommt, daß durch die wirtschaftliche Umstrukturierung und die damit verbundene schnelle Veränderung der Einkommenssituation der Eltern, auch durch die plötzliche Arbeitslosigkeit der Eltern, schnellere Anpassungen für den einzelnen notwendig wurden. Auch hier möchte ich allen danken, die diese große Arbeit leisten mußten; in vielen Überstunden, bei geringerer Bezahlung und ohne Streik.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Eckart Kuhlwein [SPD]: Das letztere hätten Sie sich sparen können!)

— Das war mir aber wichtig zu sagen.
Der Einigungsvertrag hat für den 3. Oktober 1990 sachlich richtig festgestellt, daß das Einkommens- und Preisniveau in West und Ost unterschiedlich ist. Damit wurden folgerichtig unterschiedliche Bedarfssätze festgesetzt. Auch heute ist das Preisniveau, insbesondere durch die nicht kostendeckenden Mieten, im Osten niedriger. Damit sind die Einkommen im Osten, die bei etwa 60 % West liegen, erträglich.
Ich will hier keine Diskussion über die Mietentwicklung im Osten anfangen, aber ich habe das benannt, weil immer wieder mit dem niedrigeren Preisniveau dort die Vorstellung von allgemein niedrigeren Lebenshaltungskosten verbunden wird. Das stimmt nicht, denn Heizung, Strom, Lebensmittel und Textilien kosten im Osten wie im Westen das gleiche.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wenn man Glück hat!)

In den neuen Ländern sollten nach dem Regierungsentwurf die Sätze für den Grundbedarf zum Herbst 1992 angehoben und zum Herbst 1993 voll an das Westniveau angeglichen werden. Nach der Rohfassung des Regierungsentwurfes hat sich allerdings einiges verändert. In Anbetracht der weiteren Preissteigerungen in den neuen Ländern infolge des Wegfalls der Vergünstigungen für die Studenten gegenüber dem in den alten Ländern zu verzeichnenden Preisniveau haben sich die Lebenshaltungskosten der Studenten in den neuen Ländern an die der Auszubildenden in den alten Ländern angeglichen. Die Sätze für den Grundbedarf werden mit dieser Novelle im Osten in einem Schritt an das Westniveau angepaßt.
Das möchte ich deutlich betonen, weil Radiomeldungen heute früh etwas anderes besagten.
Dazu bedurfte es allerdings, Herr Hilsberg, nicht des Votums des Bundesrates,

(Eckart Kuhlwein [SPD]: Aber ja! — Alois Graf von Waldburg-Zeil [CDU/CSU]: Nein, das haben wir von Anfang an vertreten!)

sondern das entspricht — verfolgen Sie bitte das, was die CDU tut —

(Heiterkeit bei der SPD)

einem Beschluß des Bundesparteitages der CDU vom Dezember.

(Eckart Kuhlwein [SPD]: Sie tut vieles im Verborgenen! — Zuruf von der CDU/CSU: Hören Sie doch mal zu! Das ist ganz interessant!)

— Lassen Sie mich bitte ausreden. Es bedurfte nicht des Votums des Bundesrates, weil das bereits dem Beschluß des CDU-Bundesparteitages in Dresden vom Dezember letzten Jahres entspricht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wenn Sie diese Wahrheit wiederholt nicht zur Kenntnis nehmen wollen oder vielleicht nicht können, dann tut es mir leid.

(Eckart Kuhlwein [SPD]: Aber die Regierung hat sich in ihrer Vorlage um diesen Beschluß überhaupt nicht gekümmert!)

— Vielleicht könnten Sie freundlicherweise noch dazusagen, wie lange es dauert, bis ein Entwurf in den Bundestag kommt, und daß dabei eine gewisse zeitliche Abfolge notwendig ist.
Meine Damen und Herren, nun noch ein Wort zur Wohnheimsituation. Ich erinnere mich sehr wohl an meine Studentenzeit, als uns im Politunterricht verdeutlicht wurde, wie gut wir es hätten, zu zweit oder zu dritt in einem 10 bis 15 m2 großen Zimmer, Waschbecken inklusive, wohnen zu dürfen, Gemeinschaftsküche, Gemeinschafts-WC und -Dusche im Keller. Diese hohe Belegungsrate ist auf Dauer nicht haltbar.
Hinzu kommt, daß modernisiert und repariert werden muß. Da ist es schon verständlich, wenn die Bundesregierung vermeiden möchte, daß die notwendigen Renovierungsmaßnahmen durch überhöhte Mieten über das BAföG finanziert werden. Da die Länder aber sicherstellen, daß notwendige Renovierungsmaßnahmen bei den Wohnheimen nicht durch überhöhte Mieten über das BAföG finanziert werden, entfällt das Kostenrisiko.
Damit ist ein Wohnzuschlag nach der Härteverordnung in den östlichen Ländern Deutschlands ohne Selbstbeteiligung für die 70 % der Studenten, die in Wohnheimen öffentlich-rechtlicher Träger untergebracht sind, möglich.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, meine Redezeit ist zu Ende. Daher nur noch ein kurzes Schlußwort: Mit der 15. BAföG-Novelle entsprechen wir dem Grundsatz, die Bedarfssätze und Freibeträge regelmäßig an die allgemeine wirtschaftliche Lage anzupassen. Aber auch in Zukunft wird eine ange-



Dr. Michael Luther
messene, elternabhängige Förderung der Studenten im Rahmen des BAföG unverzichtbar sein.
Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209112900
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ulrich Briefs.

Dr. Ulrich Briefs (PDS/LL):
Rede ID: ID1209113000
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann Ihnen ein paar harte Aussagen in diesem Zusammenhang leider nicht ersparen. Vielleicht liegt das daran, daß ich zu unmittelbar an der Situation vieler Studierender dran bin.
Dieses 15. BAföG-Änderungsgesetz gibt Gelegenheit, einmal kurz etwas zur Realität der Studienförderung im reichen Deutschland zu sagen. Vorweg jedoch zu den in der Novelle vorgesehenen Anhebungen von Bedarfssätzen, Mietkostenpauschale, Härteausgleich und Freibeträgen. Sie sind aus meiner Sicht in fast allen Punkten unzureichend. Ich kann daher dieser BAföG-Novelle nicht zustimmen. Im einzelnen:
Erstens. Angesichts einer Inflationsrate von über 4 % wäre für zwei Jahre eine Erhöhung der Bedarfssätze um 8 % statt 6 %, wie vorgesehen, notwendig.
Zweitens. Die Mieten sind allein zwischen 1990 und 1991 um rund 11 % gestiegen. Die Mietkostenpauschale im BAföG-Satz müßte demnach auf etwa 300 DM angehoben werden.
Drittens. Der Härteausgleich, der seit 1986 nicht angepaßt worden ist, müßte auf 100 DM angehoben werden.

(Alois Graf von Waldburg-Zeil [CDU/CSU]: Wer bietet mehr?)

Viertens. Die Freibeträge müßten, um der tatsächlichen Einkommensentwicklung Rechnung zu tragen, 1992 um 4 % und 1993 um 6 % angehoben werden.
Fünftens. Die Studienabschlußförderung — das ist hier schon mehrfach angesprochen worden — ist, um einen Beitrag zur Verkürzung der Studienzeiten zu leisten, mindestens bis 1995 beizubehalten.
Sechstens. Regelungen für eine elternunabhängige Förderung des zweiten Bildungswegs und die Wiedereinführung des Schüler-BAföG sind unerläßlich.
Hinter diesen dürren Zahlen wird ein gesellschaftlicher Skandal ersten Ranges sichtbar;

(Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [CDU/ CSU]: Na, na, na!)

hierzu die angekündigten Anmerkungen. Zwei Drittel aller Studierenden — das sind naturgemäß eher die Kinder von Mittel- und Geringverdienenden — müssen für das Studium in der Studienzeit arbeiten. Daß das Studienabgangsalter an deutschen Hochschulen deshalb erheblich höher ist als in anderen vergleichbaren westeuropäischen Ländern, verwundert nicht. Eine sozial wirklich ausreichende Studienförderung wäre daher auch ein wirksamer Beitrag zur Studienzeitverkürzung, wenn diese überhaupt — aber auch darüber müßten wir erst einmal reden — sinnvoll ist.
Bezeichnend für die Entwicklung der tatsächlichen Lage der Studierenden ist aber folgendes: Die Kaufkraft des BAföG-Höchstsatzes, den nur ein Teil der Studenten bekommt, ist von 1971 bis 1992 von 420 DM auf 365 DM gesunken, also real um 13 % gefallen. Im gleichen Zeitraum ist der Mittelzufluß in die Kassen der Wirtschaft — um nur einmal eine Vergleichszahl zu nennen — für Investitionen, für spekulative Kapitalmarktanlagen usw. von 240 Milliarden DM im Jahre 1970 auf fast 840 Milliarden DM im Jahre 1990 gestiegen.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209113100
Herr Kollege Briefs, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lammert, die Ihnen nicht angerechnet wird, obwohl Sie schon bald am Ende Ihrer Redezeit sind?

Dr. Ulrich Briefs (PDS/LL):
Rede ID: ID1209113200
Bitte, Herr Kollege Lammert.

Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1209113300
Herr Kollege Briefs, da Sie sich in der Materie offensichtlich besonders gut auskennen: Könnten Sie mir vielleicht sagen, in welchem der Länder mit geringerer durchschnittlicher Studiendauer der Anteil der Studenten, die nebenher Beschäftigungsverhältnisse haben, geringer ist als in der Bundesrepublik Deutschland?

Dr. Ulrich Briefs (PDS/LL):
Rede ID: ID1209113400
Meines Wissens ist das in einer ganzen Reihe von westlichen Ländern der Fall. Ich weiß, daß die Studiendauer in den Niederlanden und in Frankreich geringer ist. Da habe ich sehr konkrete Erfahrungen auch aus eigener Lehrtätigkeit an Pariser Universitäten. Ich kann nur sagen: Die Verhältnisse, die ich aus dem Bereich von BAföG-Beziehern kenne, gibt es beispielsweise in Frankreich in diesem Ausmaß und in dieser Form nicht. Das ist auch sehr gut so.

(Alois Graf von Waldburg-Zeil [CDU/CSU]: Die Bundesrepublik ist im BAföG Spitze!)

— Das müssen Sie sich einmal abschminken: sich
ständig zur eigenen Beruhigung zu sagen, daß die
Bundesrepublik in allem Spitze ist. Das ist nicht so.

(Alois Graf von Waldburg-Zeil [CDU/CSU]: Sie verwechseln das Stipendiensystem mit einem allgemeinen Förderungssystem!)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209113500
Herr Dr. Briefs, Sie müssen allmählich zum Ende kommen.

Dr. Ulrich Briefs (PDS/LL):
Rede ID: ID1209113600
Eine immer reicher werdende Volkswirtschaft erlaubt es sich — das ist der Skandal —, die wachsende Zahl von Studierenden, die nach dem Abschluß ihres Studiums insbesondere für die weitere ökonomische und technische Entwicklung ganz unerläßliche Leistungen zu erbringen haben, immer schlechter zu versorgen. Daß das einen unmenschlichen Druck für sehr viele Studierende, ihre Familien und für sonstige Angehörige bedeutet, sei auch noch angemerkt. Aber wir müssen uns darüber im klaren sein, daß es sich im Grunde um einen wirklichen gesellschaftlichen und politischen Skandal handelt und daß eine solche Haltung vor dem Hintergrund der ökonomischen Verhältnisse dieser reichen — und weiterhin reicher und produktiver werdenden — Bundesrepublik Deutschland einfach



Dr. Ulrich Briefs
nicht gerechtfertigt ist. Die 15. BAföG-Novelle ist daher aus meiner Sicht ein Dokument sozialer Kälte, sonst nichts.

(Beifall des Abg. Dr. Dietmar Keller [PDS/ Linke Liste])


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209113700
Nun hat der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Dr. Rainer Ortleb, das Wort.

Prof. Dr. Rainer Ortleb (FDP):
Rede ID: ID1209113800
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem Entwurf des 15. BAföG-Änderungsgesetzes hat die Bundesregierung erneut zum Ausdruck gebracht, welche Bedeutung sie der Herstellung und Sicherung gerechter Chancen für alle jungen Menschen beim Start in das Berufsleben beimißt. Angesichts der angespannten Haushaltslage, die auf in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland beispiellosen Anforderungen an das Gemeinwesen beruht, ist die vorgesehene Anhebung der Leistungen nach dem BAföG von besonderer Bedeutung.
Die Erörterung des Gesetzentwurfs im federführenden Bundestagsausschuß für Bildung und Wissenschaft hat bestätigt, daß die Bundesregierung die richtigen bildungspolitischen Grundentscheidungen getroffen hat. Rund 600 000 jungen Menschen werden schon vom Herbst dieses Jahres an höhere Förderungsbeträge geleistet. Für die Auszubildenden in den alten Ländern werden die Bedarfssätze um rund 6 v. H., in den neuen Ländern um 14 v. H. erhöht.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Damit wird es, wie von Vorrednern bereits ausgeführt, in der ganzen Bundesrepublik Deutschland einen einheitlichen BAföG-Grundbedarfssatz geben.
Herr Kollege Keller, ich darf in einigen Bemerkungen auf Ihre Ausführungen eingehen.
Erstens. Die Bundesregierung hat es sich nicht leichtgemacht und die Angleichung in einem Schritt von vornherein aus dem Denken verbannt, sondern wir waren auf Grund der Schwierigkeiten im Haushalt angehalten, die Entwicklung etwa bei Tarifen, Mensa-Essen und Preisen in den neuen Bundesländern sorgfältig zu berücksichtigen. Daß wir uns jetzt für eine Angleichung in einem Schritt entschieden haben, zeigt, daß wir in dieser schwierigen Situation mit dem Haushalt und auch mit den Sorgen der jungen Leute, denen diese Ausbildungsförderung zugute kommt, verantwortungsbewußt umgehen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Die Regelung, daß bei der Berechnung für das BAföG auf die letzten vier Monate des Jahres zurückgegriffen wird, ist ein alter Hut, weil das bereits berücksichtigt wird. Es gibt auf diesem Gebiet auslaufende Unterschiede. Haben Sie aber bitte Verständnis dafür, daß es haushaltsmäßig nicht vertretbar ist, jede Verbesserung einer Sozialleistung pauschal rückwirkend vorzunehmen. Wir haben das getan, was machbar war.
Eine erhebliche Anhebung ist auch beim Wohnbedarf in den neuen Ländern vorgesehen. Dieser Satz soll für nicht bei den Eltern wohnende Studentinnen
und Studenten von 50 auf 80 DM steigen. Die besonderen Regelungen, die ursprünglich vorgesehen waren, nämlich bei von öffentlichen Trägern geförderten Wohnheimen Abstriche zu machen und eine Art persönlicher Beteiligung einzuführen, haben wir zurückgenommen, weil die neuen Länder zwischenzeitlich verbindlich erklärt haben, daß sie dafür sorgen, daß BAföG-Leistungen nicht für Sanierungsmaßnahmen verwandt werden.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209113900
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Keller?

Dr. Dietmar Keller (PDS/LL):
Rede ID: ID1209114000
Herr Minister, ich glaube Ihnen schon, daß Sie alles versucht haben, was machbar ist. Aber stimmen Sie mir nicht zu, daß es schon mathematisch falsch und sozial in höchstem Maße ungerecht ist, wenn man die Weihnachtsgratifikationen vervierfacht und damit auf ein Jahresgehalt von 16 Monaten kommt, während im Vergleich dazu bei den Studenten der Altbundesrepublik 13 Monate zugrunde gelegt werden?

Prof. Dr. Rainer Ortleb (FDP):
Rede ID: ID1209114100
Herr Keller, ich darf noch einmal darauf hinweisen, daß diese Regelung überholt ist. Wer demnächst einen Bescheid bekommt, wird feststellen, daß das Einkommen im Kalenderjahr angerechnet wird. Im übrigen: Über Mathematik — Verzeihung, ich bin Mathematiker — möchte ich mit Ihnen nicht streiten.

(Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich möchte darauf hinweisen, daß wir auch berechtigte Forderungen aus Berlin berücksichtigt haben, was die Pendlerregelung angeht. Da sich Vorredner darauf bereits bezogen haben, möchte ich mir Ausführungen dazu sparen. Ich glaube aber, daß auch solche Details zeigen, mit welchem Verantwortungsbewußtsein die Bundesregierung diesen Entwurf behandelt hat.

(Zustimmung bei der F.D.P.)

Die Einkommensfreibeträge im gesamten Bundesgebiet werden zum Herbst 1992 und zum Herbst 1993 jeweils um durchschnittlich 3 v. H. angehoben. Für die politische Diskussion erscheint mir sehr wesentlich, noch einmal nachdrücklich zu betonen, daß die Freibeträge vom Einkommen der Eltern im ganzen Bundesgebiet einheitlich hoch sind. Es trifft nicht zu, daß im Hinblick auf die durchschnittlich geringeren Einkommen in den neuen Ländern dort niedrigere Einkommensbeträge anrechnungsfrei bleiben. Auch dadurch ist der wesentlich höhere Anteil der Geförderten an der Gesamtzahl der Auszubildenden in den neuen Ländern zu erklären.
Ich darf, Herr Kollege Hollerith, folgende Zwischenbemerkung machen: Die Situation der parallelen Förderung durch Europaprogramme und nach dem BAföG ist nicht so, wie Sie sie dargestellt haben. Wir haben durch die derzeitige Verfahrensweise die Möglichkeit, mehr Auszubildende in den Genuß einer Auslandsförderung zu bringen.



Bundesminister Dr. Rainer Ortleb
Die Bundesregierung begrüßt, daß der federführende Ausschuß dem Bundesratsvotum zur strukturellen Änderung der Ausbildungsförderung far den Besuch von Fachoberschulen jetzt nicht gefolgt ist und als Grundlage für eine vertiefte Diskussion dieses Problems einen Bericht der Bundesregierung angefordert hat.
Ich halte es für grundsätzlich richtig, daß wir gerade in dieser Zeit, in der wir jede Entscheidung mit Sorgfalt fällen müssen, prinzipiell eine genaue Untersuchung der Situation vornehmen; denn manches, was leicht gesagt ist, hat sofort Gesetzesänderungen in anderen Bereichen aus Gründen der Gleichbehandlung zur Folge. Alles das muß bedacht werden.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ein wesentlicher Punkt in der Ausschußdebatte war die Verlängerung der Befristung der Studienabschlußförderung über den 30. September 1993 hinaus. Herr Kollege Hilsberg, Sie haben dazu gesagt, wir enttäuschten jetzt die Studenten, wir streuten Sand. Bitte, verzeihen Sie: Sie streuen Sand, indem Sie behaupten, daß wir eine solche Förderung für die Zukunft ausgeschlossen hätten. Richtig ist, daß wir über einen gewissen Zeitraum feststellen wollen, welche Wirkung diese Förderung überhaupt hat.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Damit hat niemand gesagt, daß wir diese Förderung, wenn sie sich bewährt, nicht wollen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209114200
Herr Minister, würden Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Hilsberg gestatten?

Prof. Dr. Rainer Ortleb (FDP):
Rede ID: ID1209114300
Wenn er sie ganz kurz hält, ja.

Stephan Hilsberg (SPD):
Rede ID: ID1209114400
Wollen Sie bestreiten, daß all diejenigen, die jetzt die Studienabschlußförderung beantragen, diese zwar noch bewilligt bekommen, aber nicht mehr für den vollen Zeitraum eines Jahres, sondern nur noch für ein dreiviertel Jahr, für ein halbes Jahr usw., daß sich also der Förderungszeitraum verkürzt und in dem Sinne ausläuft? Wir hätten nur dann Abhilfe schaffen können, wenn wir den Förderzeitraum bis zu dem Moment, in dem die Schlußbewertung vorliegt, verlängert hätten. Alles andere ist ungerecht.

Prof. Dr. Rainer Ortleb (FDP):
Rede ID: ID1209114500
Herr Kollege Hilsberg, wir haben heute den 7. Mai 1992. Bis zum 30. September 1993 ist die Förderung gesichert. Meine Bereitschaft das BAföG zu novellieren, kennen Sie; meine Amtszeit beträgt bisher kaum mehr als ein Jahr. Ich habe bereits die 14. Novelle hier vertreten und vertrete heute die 15. Wenn wir dabei bleiben, daß wir uns den jeweiligen Problemen stellen, haben wir keinen Grund zu Pessimismus.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Eckart Kuhlwein [SPD]: Das merken wir uns!)

Sie haben sicherlich Verständnis, daß aus den von mir genannten Gründen eine Beschlußfassung über
diese Studienabschlußförderung heute nicht sachgemäß wäre.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist und bleibt bemüht, im Rahmen aller Gegebenheiten die Wirksamkeit des BAföG als Sozialleistungsgesetz zu gewährleisten, und meint, das mit dieser 15. Novellierung bewiesen zu haben.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209114600
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes auf den Drucksachen 12/2108 und 12/2118.
Der Ausschuß für Bildung und Wissenschaft empfiehlt, nach Kenntnisnahme der beiden in der Tagesordnung aufgeführten Berichte der Bundesregierung, den Gesetzentwurf in der Ausschußfassung auf Drucksache 12/2518 anzunehmen.
Auf Drucksache 12/2554 liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Die Fraktion der SPD verlangt, daß über die Nummern dieses Änderungsantrags getrennt abgestimmt wird. Sie ist damit einverstanden, daß wir über den Änderungsantrag vor Aufruf der Einzelvorschriften des Gesetzentwurfs abstimmen. Gibt es dazu Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann wird so verfahren.
Wir stimmen also zunächst über Nr. 1 Buchstabe a des Änderungsantrages der SPD ab. Wer stimmt dafür? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Damit ist Nr. 1 Buchstabe a abgelehnt.
Wir stimmen jetzt über Nr. 1 Buchstaben b bis e ab. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit sind auch die Buchstaben b bis e mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt.
Wir stimmen jetzt über Nr. 1. Buchstabe f ab. Wer stimmt für diesen Änderungsvorschlag? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist auch der Buchstabe f dieses Änderungsantrages abgelehnt.
Wir stimmen jetzt über Nr. 1 Buchstabe g und h ab. Wer stimmt für diese beiden Änderungsvorschläge? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Auch diese Änderungsvorschläge sind mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt.
Jetzt stimmen wir über Nr. 2 des Änderungsantrages ab. Wer stimmt für Nr. 2 des Änderungsantrages? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist auch Nr. 2 abgelehnt.
Wir stimmen jetzt noch über Nr. 3 des Änderungsantrages ab. Wer stimmt für Nr. 3 des Änderungsantrages? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Auch Nr. 3 des Änderungsantrages ist abgelehnt.
Damit ist der Änderungsantrag auf Drucksache 12/2554 insgesamt mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. abgelehnt.



Vizepräsidentin Renate Schmidt
Wer stimmt für den Gesetzentwurf in der Ausschußfassung mit den vom Berichterstatter vorgetragenen Änderungen? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei wenigen Enthaltungen einstimmig — von einigen mit schwerem Herzen — angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit mit großer Mehrheit bei vier Stimmenthaltungen angenommen.
Der Ausschuß für Bildung und Wissenschaft empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/2518 außerdem die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei zögerlicher Beteiligung ist diese Beschlußempfehlung so angenommen.
Jetzt unterbreche ich die Sitzung für immerhin 11 Minuten und wünsche Ihnen eine schöne Mittagspause. Um 14 Uhr setzen wir die Sitzung fort.

(Unterbrechung der Sitzung von 13.49 bis 14.01)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209114700
Meine Damen und Herren, ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:
Fragestunde
— Drucksache 12/2516 —
Wir rufen zunächst den Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern auf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Lintner zur Verfügung.
Ich rufe zunächst die Frage 37 der Abgeordneten Frau Mascher auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die Forderung des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Erich Riedl, den Münchner Süden zur „asylantenfreien Zone" zu erklären, angesichts der Nähe dieser Forderung zu Erfolgsmeldungen von NS-Gauleitern, ihre Städte seien „judenfrei"?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Eduard Lintner (CSU):
Rede ID: ID1209114800
Frau Kollegin Mascher, die Antwort lautet: Der in den Fragen konstruierte Zusammenhang der Äußerungen des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Erich Riedl, mit Vorgängen aus dem Dritten Reich ist böswillig hergestellt und wird zurückgewiesen. Die Bundesregierung weist ferner die Unterstellung der Nähe der politischen Auffassung des Herrn Kollegen Dr. Riedl zur Programmatik rechtsextremistischer Parteien mit Entschiedenheit zurück.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209114900
Zusatzfrage? — Bitte sehr.

Ulrike Mascher (SPD):
Rede ID: ID1209115000
Teilt die Bundesregierung meine Sorge und die Sorge vieler Bürgerinnen und
Bürger, daß durch solche Äußerungen eines Regierungsmitglieds ausländerfeindliche Äußerungen von Republikanern und DVU quasi gesellschaftsfähig gemacht werden?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Nein. Für diese Sorge gibt es keinen Anlaß, zumal auch die näheren Umstände bekannt sind und auch bekannt ist, was der Kollege Dr. Riedl eigentlich gemeint hat.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209115100
Der Abgeordnete Hirsch möchte eine Zusatzfrage stellen.

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1209115200
Herr Staatssekretär, da mir weder die näheren Umstände bekannt sind noch ich weiß, was Herr Staatssekretär Riedl gemeint hat: Würden Sie uns bitte sagen, ob es zutrifft, daß Staatssekretär Riedl aufgefordert hat, den Münchener Süden zu einer asylantenfreien Zone zu erklären, und was er damit gemeint hat?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Dr. Hirsch, der Kollege Dr. Riedl hat auf die chaotischen Zustände hingewiesen, die bei der Unterbringung der Asylanten in seinem Wahlkreis entstehen. Er wollte darauf hinweisen, daß der Wahlkreis bei der Frage der Unterbringung dieser großen Zahl von Asylbewerbern mittlerweile überfordert ist.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209115300
Herr Abgeordneter Schöfberger, bitte sehr.

Dr. Rudolf Schöfberger (SPD):
Rede ID: ID1209115400
Herr Staatssekretär, was hätte nach Ihrer Meinung Herr Staatssekretär Riedl gesagt — damals war er noch nicht Staatssekretär —, wenn er bei der Flucht aus dem Sudetenland und beim Ankommen in Münchberg die Antwort erhalten hätte, Münchberg sei eine sudetenfreie Zone?

(Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Sehr wahr!)

Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, dieser Zusammenhang ist so weit hergeholt, daß ich darauf keine Antwort geben kann.

(Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Schade!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209115500
Herr Abgeordneter Schöfberger, Sie haben nur eine Zusatzfrage. Im übrigen muß ich darüber nachdenken, ob das nicht eine Art Dreiecksfrage war. Wenn ich es richtig sehe, sitzt Herr Staatssekretär Riedl auch auf der Regierungsbank. Ob er zur Beantwortung zur Verfügung steht, ist eine andere Frage.
Herr Abgeordneter Schily.

Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1209115600
Herr Staatssekretär, können Sie uns den Begriff „asylantenfreie Zone" erläutern?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Ich habe schon darauf hingewiesen, Herr Schily, daß er auf die chaotischen Zustände hinweisen wollte, die bei der Unterbringung entstehen. Damit ist das konkret genug erläutert.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209115700
Dann rufe ich die Frage 38 der Abgeordneten Frau Mascher auf:



Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
Ist die Entlassung des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Erich Riedl angesichts der Nähe seiner politischen Äußerungen zur Programmatik rechtsextremer Parteien Bestandteil der nächsten Kabinettsumbildung der Regierung?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Mascher, bei der Beantwortung dieser Frage kann ich auf die eben gegebene Antwort verweisen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209115800
Frau Abgeordnete, eine Zusatzfrage.

Ulrike Mascher (SPD):
Rede ID: ID1209115900
Verstehe ich Ihre Antworten richtig, daß sich die Bundesregierung die Äußerungen des Herrn Staatssekretärs Riedl quasi zu eigen macht?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Mascher, Sie verstehen die Antworten insoweit nicht richtig.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209116000
Haben Sie noch eine Zusatzfrage, Frau Mascher?

Ulrike Mascher (SPD):
Rede ID: ID1209116100
Heißt das, daß Sie sich davon distanzieren?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Ich habe auf die Frage bereits geantwortet, und ich möchte es dabei belassen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209116200
Herr Abgeordneter Jäger, bitte sehr.

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID1209116300
Herr Staatssekretär, teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß es sich bei dem Kollegen Dr. Riedl um einen in seiner europäischen, menschenfreundlichen und grundliberalen Einstellung so über jeden Zweifel erhabenen Kollegen handelt, daß Verdachtsmomente, wie sie in solchen Fragen aufscheinen, wahrlich unangebracht sind?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jäger, diese Auffassung teilen wir uneingeschränkt.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209116400
Herr Abgeordneter Dr. Hirsch.

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1209116500
Herr Staatssekretär, wenn Sie diese Auffassung uneingeschränkt teilen, darf ich Sie dann fragen, warum Sie sich für die Bundesregierung die Äußerung des Staatssekretärs Riedl nicht zu eigen machen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Es ist nicht üblich, daß sich die Bundesregierung jedwede Äußerung irgendeines Kabinettsmitgliedes zu eigen macht.

(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Irgendeines?)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209116600
Herr Abgeordneter Schily.

Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1209116700
Herr Staatssekretär, sieht die Bundesregierung Veranlassung, gerade im Hinblick auf die gerühmte Liberalität und Europafreudigkeit des Staatssekretärs Riedl ihm zu empfehlen, künftig
solche Äußerungen wie „asylantenfreie Zone" besser zu unterlassen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Dr. Riedl ist sicher in der Lage, diese Dinge selber und eigenständig zu beurteilen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209116800
Damit, Herr Staatssekretär, sind wir am Ende Ihres Geschäftsbereiches, und ich kann den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und Bundeskanzleramtes aufrufen. Hier steht uns Herr Staatsminister Schmidbauer zur Beantwortung zur Verfügung.
Zunächst rufe ich die Frage 2 des Abgeordneten Norbert Gansel auf:
In welcher Weise beteiligt sich der Bundeskanzler nach den Rücktrittsankündigungen des Bundesministers des Auswärtigen, der der F.D.P. angehört, und der Bundesministerin für Gesundheit, die der CSU angehört, an den Entscheidungen über die Neubesetzung dieser Ressorts in Anbetracht des Umstandes, daß gemäß Artikel 64 GG die Bundesminister auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen werden?

Bernd Schmidbauer (CDU):
Rede ID: ID1209116900
Herr Kollege Gansel, es ist richtig, daß nach Art. 64 des Grundgesetzes der Bundeskanzler das Vorschlagsrecht zur Ernennung der Bundesminister durch den Bundespräsidenten hat. Dies schließt nicht aus — und ich unterstelle Ihnen einmal, daß Sie das aus eigener Erfahrung ähnlich sehen —, daß in Koalitionsvereinbarungen zu Beginn einer Legislaturperiode zwischen den Koalitionsparteien die Besetzung bestimmter Bundesministerien und damit auch die Möglichkeit zur Benennung der betreffenden Minister vereinbart wird. Derartige Absprachen hat es auch bei bisherigen Koalitionen gegeben. Der Bundeskanzler prüft gemäß dem verfassungsmäßigen Auftrag die ihm unterbreiteten Vorschläge und schlägt sodann dem Bundespräsidenten die Ernennung vor. Im Hinblick auf die Nachfolge von Frau Hasselfeldt ist dies, wie Sie wissen, bereits geschehen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209117000
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Gansel.

Norbert Gansel (SPD):
Rede ID: ID1209117100
Herr Staatsminister, darf ich Sie in bezug auf die Ernennung des Außenministers und in bezug auf die Ausübung des Vorschlagsrechtes durch den Bundeskanzler nach einer zweifachen faktischen Entscheidung durch ein Gremium der F.D.P., das nach dem Parteiengesetz keine Beschlüsse fassen oder Empfehlungen beschließen darf, fragen, ob der Bundesregierung die Kommentierung zu Art. 64 des Grundgesetzes im einschlägigen „Bonner Kommentar", Band VI, bekannt ist, wo es heißt:
Eine totale Einengung des Bundeskanzlers bei Ausübung seines Vorschlagsrechtes würde nicht nur dem Geiste der Verfassung widersprechen; sie wäre auch verfassungswidrig.
An anderer Stelle heißt es:
Verfassungsrechtlich bedenklich ist es insonderheit, wenn dem Koalitionspartner ... für die ihm zugestandenen Ministerämter eine faktische Präsentationsbefugnis eingeräumt wird.



Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Herr Kollege Gansel, ich will, ohne den Vorspann noch einmal vorzutragen, unterstreichen, daß es dem Bundeskanzler unbenommen bleibt, eine eigene Bewertung der Vorschläge vorzunehmen und sie im Einzelfall, soweit ihm dies erforderlich erscheint, auch zurückzuweisen. Dieser Spielraum ist gegeben, und Sie können in Kenntnis des Bundeskanzlers davon ausgehen, daß er entsprechende Vorschläge prüft und — dies mag auch einmal geschehen — solche Vorschläge auch zurückweist, wenn ihm dies gemäß der Entscheidung aus der Sachlage heraus richtig erscheint.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209117200
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Gansel.

Norbert Gansel (SPD):
Rede ID: ID1209117300
Trifft es zu, daß der Bundeskanzler dem Koalitionspartner mitgeteilt hat, daß er jeden Vorschlag der F.D.P. akzeptieren würde, wie es ja dann auch geschehen ist, und sieht die Bundesregierung die Problematik, daß sie den Bundespräsidenten bei der Ernennung von Bundesministern und Bundesministerinnen auf Grund des Vorschlagsrechtes des Bundeskanzlers in eine besorgniserregende Situation bringt, wenn der Bundeskanzler Vorschläge des Koalitionspartners weitergibt, sozusagen als Briefträger oder auf dem Weg des imperativen Mandats, wenn insbesondere eine Ministerin vorgeschlagen wird, die dem Bundeskanzler wie auch den meisten Mitgliedern dieses Hauses bis zu ihrer Bestimmung durch den Koalitionspartner namentlich gar nicht bekannt gewesen ist?
Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Ich will auf Ihre kurze und klare Fragestellung antworten, daß das bisher von mir Gesagte diese Unterstellung ausschließt. Ich schließe auch aus, daß der Bundeskanzler — gleichgültig, welchem Partner — mitgeteilt hat, daß er jeden Vorschlag akzeptiere. Das von mir eben Gesagte schließt das klar und deutlich aus.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209117400
Herr Abgeordneter Schily.

Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1209117500
Trifft es zu, daß Gegenstand der Koalitionsvereinbarung zwischen CDU/CSU und F.D.P. ist, daß der Bundeskanzler an Personalvorschläge eines Koalitionspartners für bestimmte Ressorts gebunden ist?
Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Es trifft zu — dies habe ich eben ausgeführt —, daß die Koalitionsparteien die Besetzung bestimmter Ministerien und damit natürlich auch die Möglichkeit zur Benennung der betreffenden Minister vereinbart haben. Ich sage es noch einmal: Dies schließt nicht aus, daß diese Vorschläge geprüft werden und bei jeder Einzelfallentscheidung entsprechend den Möglichkeiten des Bundeskanzlers verfahren wird.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209117600
Herr Abgeordneter Kübler.

Dr. Klaus Kübler (SPD):
Rede ID: ID1209117700
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, in einem Gespräch mit hochrangigen auswärtigen Besuchern wurde die Frage gestellt, wer denn in der Bundesrepublik den Außenminister oder die Minister ernennen würde; das geschah im Rahmen
eines Gespräches, wie die politischen, verfassungsrechtlichen Überlegungen im Rahmen des Ausgleiches zwischen diesem Land und uns sind. Haben Sie nicht das Gefühl, daß diese Situation einen verheerenden Eindruck im Ausland hinterlassen hat und uns wirklich Schaden in dieser Zeit, wo die Außenpolitik in besonderer Weise gefragt ist, zugefügt hat?
Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Herr Kollege, ich kann das nicht bestätigen. Ich schließe Irritationen bei irgendwelchen Partnern, Freunden, Nachbarn nicht aus. Es wird Aufgabe dieser Bundesregierung sein, zu dokumentieren, daß die entsprechende Entscheidung eine sehr gute Wahl war. Damit werden auch solche Irritationen beseitigt. Das wird die Zukunft zeigen. Aber ansonsten will ich das nicht weiter kommentieren.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209117800
Zusatzfrage des Abgeordneten Koppelin.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1209117900
Wären Sie bereit, dem Haus bekanntzugeben, wie in der Zeit der Großen Koalition aus CDU und SPD die Minister ernannt worden sind?

(Norbert Gansel [SPD]: Das war genauso schlimm! )

Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Sie haben die Antwort gehört. Ich kann auch das nicht bestätigen. Aber der Kollege Gansel hat ausgeführt, daß es sehr schlimm gewesen sein muß.

(Norbert Gansel [SPD]: Da war Herr Kiesinger Bundeskanzler; jetzt ist sein Enkel Bundeskanzler! — Dr. Klaus Kübler [SPD]: Aber er spricht noch nicht für die Bundesregierung!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209118000
Nun wollen wir nicht darüber philosophieren, inwieweit noch der direkte Zusammenhang gegeben ist. Das erübrigt sich auch; denn es liegen keine weiteren Fragen zu dieser Frage vor.
Ich rufe die Frage 3 des Abgeordneten Claus Jäger auf:
Ist die Antwort der Parlamentarischen Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl auf meine am 23. April 1992 zu einem Grußwort der Bundesministerin für Gesundheit an die Organisation PRO FAMILIA gestellte mündliche Frage, Drucksache 12/2466, in der es wörtlich heißt: „PRO FAMILIA bietet psychologische, soziale und medizinische Beratung zu Partnerschaft, Sexualität und anderen Lebensfragen und nimmt in dem Spektrum der Beratungsangebote einen wichtigen Platz ein", mit dem Bundeskanzleramt abgestimmt worden, und billigt der Bundeskanzler diese Aussage der Parlamentarischen Staatssekretärin?
Ich bitte den Herrn Staatsminister, die Frage zu beantworten.
Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Herr Kollege Jäger, in ihrer Antwort auf Ihre Kleine Anfrage hat Frau Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Bergmann-Pohl darauf hingewiesen, daß die zuständige Bundesministerin Frau Gerda Hasselfeldt sich in ihrem Grußwort zum 40jährigen Bestehen der Deutschen Gesellschaft für Sexualberatung und Familienplanung e. V. entsprechend ihrer Zuständigkeit zu



Staatsminister Bernd Schmidbauer gesundheitspolitischen Aspekten der Arbeit von Pro Familia geäußert hat. In diesem Rahmen nimmt das Beratungsangebot von Pro Familia z. B. einen wichtigen Platz auch im Bereich der Aufklärung über die Immunschwächekrankheit Aids ein, wie Sie wissen. Die Feststellung der Bedeutung von Pro Familia im Spektrum der Beratungsangebote zu Fragen von Partnerschaft, Sexualität und Schwangerschaft bedeutet keine Wertung der Arbeit des Vereins in einzelnen Bereichen, insbesondere nicht im Bereich des Schutzes des ungeborenen Lebens. Wie Sie wissen, ist der Schutz des ungeborenen Lebens und des geborenen Lebens eine Pflichtaufgabe des Staates und ein besonderes Anliegen der Bundesregierung. Die Bundesregierung setzt sich daher im Rahmen des ihr Möglichen dafür ein, diesen Schutz weiter zu verbessern.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209118100
Eine Zusatzfrage, bitte schön, Herr Abgeordneter Jäger.

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID1209118200
Herr Staatsminister, da ja auch dem Gesundheitsministerium längst bekannt war und bekannt ist, daß diese Organisation die Beratung mit Tendenz zur Lebenserhaltung wie auch jeden strafrechtlichen Schutz der ungeborenen Kinder ablehnt: Wäre es nicht nach Auffassung des Bundeskanzlers geboten gewesen, schon in dem Grußwort die von Ihnen jetzt eben ausgesprochene Distanzierung deutlich zu machen?
Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Herr Kollege Jäger, ich habe mir die Grußworte verschiedener Vertreter im politischen Bereich einmal angesehen. Ich bleibe bei der Antwort, die ich eben gegeben habe, daß wir feststellen, daß dies keine Wertung des Vereins darstellt. Darüber hinaus wird die Bundesregierung, sprich: das Bundeskanzleramt, keine weiteren Bewertungen zu diesem Vorgang abgeben. Er spricht für sich selber, und wir haben auch nicht dementiert, sondern wir haben nur klargestellt.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209118300
Eine weitere Zusatzfrage, bitte schön, Herr Abgeordneter Jäger.

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID1209118400
Herr Staatsminister, sieht die Bundesregierung die Gefahr, daß derartige Grußworte von Regierungsmitgliedern von Organisationen, welcher Art auch immer, als Persilscheine mißbraucht werden können, wenn im freundlichen Jubelton Feststellungen unterlassen werden, die angesichts der notwendigen Distanz der Bundesregierung zu bestimmten Bestrebungen geboten wären?
Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Bei dem hohen Sachverstand der Vertreter der Bundesregierung sehen wir diese Gefahr nicht.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209118500
Zusatzfrage des Abgeordneten Gansel.

Norbert Gansel (SPD):
Rede ID: ID1209118600
Herr Staatsminister, teilt die Bundesregierung die Erkenntnis langgedienter Parlamentarier, daß insbesondere, wenn es sich um parlamentarische Anfragen zu Grußworten bei friedlichen
Veranstaltungen zu Sexualberatung und Familienberatung handelt, die Devise gilt: Lieber Jäger Claus als Jäger 90?
Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Wenn Sie darauf bestehen, werde ich Ihnen eine schriftliche Antwort zukommen lassen, Herr Kollege Gansel.

(Norbert Gansel [SPD]: Ja, ich bestehe darauf! — Claus Jäger [CDU/CSU]: Die möchte ich dann auch sehen!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209118700
Der Abgeordnete Gansel besteht darauf.
Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Ich leite sie auch dem Kollegen Jäger zu.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209118800
Abgeordnete Frau Ganseforth.

Prof. Monika Ganseforth (SPD):
Rede ID: ID1209118900
Eine Zusatzfrage: Herr Staatsminister, wie bewertet die Bundesregierung Aktivitäten, ungewollte Schwangerschaften durch Aufklärungen zu verhindern? An dieser segensreichen Arbeit nimmt Pro Familia ja intensiv teil. Wie bewertet die Bundesregierung solche Aufklärungsarbeit?
Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Ich sagte bereits, daß die Arbeit von Pro Familia eine wichtige Arbeit ist und daß dies auch entsprechend bewertet wurde — in diesem Zusammenhang, was die Arbeit anlangt —, daß dies aber nicht immer heißen muß, daß eine Identifizierung mit der Arbeit entsprechender Organisationen in Einzelbereichen vorgenommen wird. Im übrigen ist dies, was Sie fragen, auch Gegenstand dieses Grußworts. Ich habe dem überhaupt nichts hinzuzufügen. Auf den einen Punkt, der in der Frage des Kollegen Jäger angesprochen wird, bin ich in meiner Antwort bereits eingegangen, nämlich auf die Wertung der Arbeit dieses Vereins in diesem speziellen Fall. Hier kann es durchaus unterschiedliche Bewertungen geben. Das war nicht Gegenstand dieses Grußworts. Aber ich habe auch darauf hingewiesen, daß es wichtige Arbeiten im Beratungsangebot von Pro Familia gibt und auch zum Inhalt dieser Beratung positiv Stellung genommen wurde.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209119000
Ich bitte, auch nicht ganz außer acht zu lassen, daß die ursprüngliche Frage sich darauf bezog, ob das Bundeskanzleramt die Dinge billigt. Das heißt, sobald wir in die inhaltliche Diskussion dieser Frage kommen, könnten möglicherweise andere Ministerien zuständiger sein als das Bundeskanzleramt, ohne an der Kompetenz desselben von dieser Stelle aus Zweifel anmelden zu wollen.
Herr Abgeordneter Schily.

Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1209119100
Herr Staatssekretär, hängt das schwache Bild, das die Bundesregierung gegenwärtig abgibt, damit zusammen, daß sich das Bundeskanzleramt auch noch mit der Korrektur von Grußworten abgeben muß?
Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Herr Kollege, Sie können sicher sein, daß wir uns angesichts der



Staatsminister Bernd Schmidbauer
drängenden Probleme, vor denen wir stehen, mit dieser Arbeit nicht beschäftigen.

(Norbert Gansel [SPD]: Sie haben immerhin schon die Prioritäten erkannt!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209119200
Frau Kollegin Mascher!

Ulrike Mascher (SPD):
Rede ID: ID1209119300
Zeigt die Bewertung dieses Grußwortes durch das Bundeskanzleramt die Würdigung der Bedeutung des pluralen Beratungsangebotes von Pro Familia durch die Bundesregierung?
Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Ich möchte der ersten Antwort nichts mehr hinzufügen. Ich habe auf das, wonach wir gefragt wurden, deutlich geantwortet. Ich glaube, es gibt keine Notwendigkeit, das noch im einzelnen zu interpretieren.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209119400
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs. Herr Staatsminister Schmidbauer, ich möchte mich bei Ihnen bedanken.
Ich darf, bevor ich den nächsten Geschäftsbereich aufrufe, die Fraktionen darauf aufmerksam machen, daß wir wegen der nicht mehr allzu großen Anzahl von Fragen, die vorliegen, nicht zu häufige Zusatzfragen unterstellt, vermutlich etwas eher mit der Fragestunde fertig sein werden. Ich möchte darum bitten, daß die Fraktionen prüfen, ob wir dann etwas eher mit der Aktuellen Stunde anfangen können. Bejahendenfalls mögen sie bitte dafür Sorge tragen, daß die entsprechenden Redner unterrichtet werden.
Nunmehr rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Staatsministerin Frau Seiler-Albring steht für die Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Die Frage 21 des Abgeordneten Lowack wird auf dessen Wunsch schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Dann kann ich die Frage 22 der Abgeordneten Frau Bock aufrufen:
Wie beurteilt die Bundesregierung die politische Lage in Burma/Myanmar, und welche Konsequenzen hat sie daraus gezogen?
Frau Staatsministerin, Sie haben das Wort.

Ursula Seiler-Albring (FDP):
Rede ID: ID1209119500
Vielen Dank, Herr Präsident.
Frau Kollegin, die birmanischen Militärs hatten 1988 die Demokratiebewegung niedergeschlagen und regierten seither das Land diktatorisch und unter völliger Mißachtung der Menschen- und Bürgerrechte. Das Ergebnis der Parlamentswahl vom Mai 1990 wurde von den Militärmachthabem ignoriert. Die Mitglieder der National League for Democracy, also des Wahlsiegers von 1990, wurden von den Militärs seither verfolgt. Die Vorsitzende der NLD und Nobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi steht seit 1989 permanent unter Hausarrest.
Ende April 1992, also vor ganz kurzer Zeit, gab es Veränderungen in der birmanischen Regierung und an der Spitze der Militärjunta. Der neue Juntachef, General Than Shwe, hat bisher 38 politische Häftlinge
entlassen und die Offensive gegen das Hauptquartier der Karen, einer ethnischen Minderheit im birmanisch-thailändischen Grenzgebiet, eingestellt. Außerdem wurden die Aufnahme von Gesprächen mit der Opposition innerhalb von zwei Monaten und die Einberufung einer nationalen Versammlung in weiteren sechs Monaten angekündigt. Mit der Regierung von Bangladesch wurde ein Abkommen über die Rückführung der über 200 000 nach Bangladesch geflüchteten moslemischen Birmanen geschlossen. Schließlich konnte die Nobelpreisträgerin jetzt, Anfang Mai, Besuch von ihren Familienangehörigen erhalten.
Die Bundesregierung nutzt alle ihr zu Gebote stehenden Einwirkungsmöglichkeiten, um das birmanische Militärregime zu Fortschritten im Demokratisierungsprozeß zu bewegen. Die Entwicklungszusammenarbeit wurde eingefroren. Sie wird mit einem Auslaufprogramm zur Übergabe laufender Projekte beendet. Seit 1988 wurden keine Ausfuhrgenehmigungen für Exporte von Rüstungsgütern nach Binna erteilt.
Die Bundesregierung hat außerdem auch an einem Waffenembargo der Europäischen Gemeinschaft gegen Birma mitgewirkt.
Die Bundesregierung hat bilateral und mit ihren europäischen Partnern die birmanische Militärregierung wiederholt zur Einhaltung der Menschenrechte und zur Übertragung der Verantwortung an eine zivile Regierung aufgefordert. Die Bundesregierung begrüßt die jüngsten positiven Maßnahmen der birmanischen Regierung. Sie ist aber der Ansicht, daß diesen ersten wichtigen Schritten weitere folgen müssen, um demokratischen Wandel und Achtung der Menschenrechte in Birma zu gewährleisten. Die Bundesregierung wird ihre Einwirkungsmöglichkeiten in diesem Sinne nutzen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209119600
Eine Zusatzfrage? — Frau Abgeordnete, bitte.

Thea Bock (SPD):
Rede ID: ID1209119700
Frau Staatsministerin, welchen Kontakt unterhält die Bundesregierung zur gewählten Opposition?

Ursula Seiler-Albring (FDP):
Rede ID: ID1209119800
Sie unterhält die Kontakte, die ihr im Rahmen der vor Ort herrschenden Gegebenheiten möglich sind. Sie wissen, wir haben unsere Botschaft dort voll besetzt. Die Kontakte werden, wenn sie möglich sind, genutzt. Aber Sie wissen selber, daß dies auf Grund der Hausarreste nur bedingt möglich ist.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209119900
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.

Thea Bock (SPD):
Rede ID: ID1209120000
Teilen Sie meine Einschätzung, daß dann, wenn offiziell auf höchster Ebene, auch vom Auswärtigen Amt, mit den Vertretern der verschiedenen Gruppen der Opposition Kontakt aufgenommen wird, auch Einladungen in die Bundesrepublik ausgesprochen werden, auch der Druck auf die Militärjunta wachsen könnte, den Demokratisierungsprozeß zu beschleunigen?




Ursula Seiler-Albring (FDP):
Rede ID: ID1209120100
Frau Kollegin, wir nehmen alle nur denkbaren Möglichkeiten gern in Anspruch, diese Demokratisierungsbewegung, diesen Demokratisierungsprozeß voranzutreiben. Ich selber habe auf verschiedenen Konferenzen, die z. B. mit den ASEAN-Staaten stattgefunden haben, Gelegenheit genommen, unsere Position zur Achtung der Menschenrechte auch in Myanmar bzw. Birma sehr deutlich zu machen. Ich glaube auch, daß in dieser Region diese Ansichten über Menschenrechte, über Minderheitenrechte mehr an Gewicht gewinnen, und hoffe, daß der gesamte Druck dazu beitragen wird, daß dieser Demokratisierungsprozeß, der einige erste Schritte getan hat, zu einem positiven Ende kommt.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209120200
Herr Abgeordneter Kübler, bitte.

Dr. Klaus Kübler (SPD):
Rede ID: ID1209120300
Frau Staatsministerin, Sie haben zu Recht gesagt, daß dort legitime Wahlen stattgefunden haben und Abgeordnete gewählt worden sind, die jetzt zum Teil im Gefängnis, im Exil oder im Untergrund sind. Ist die Bundesregierung bereit, legitim gewählte Abgeordnete bei einem Besuch in der Bundesrepublik Deutschland zu Gesprächen zu empfangen?

Ursula Seiler-Albring (FDP):
Rede ID: ID1209120400
Herr Kollege Kübler, es kann doch gar keinen Zweifel daran bestehen, daß Vertreter der Bundesregierung mit demokratisch gewählten Kollegen in der ganzen Welt Gespräche führen, wenn dies möglich ist.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209120500
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Ganseforth.

Prof. Monika Ganseforth (SPD):
Rede ID: ID1209120600
Frau Staatsministerin, die Änderungen, die sich in Birma andeuten, hängen sicher auch mit dem öffentlichen Druck und mit den Boykottmaßnahmen zusammen. Es sind ja in erster Linie Ankündigungen, und es besteht großes Interesse daran, sie auch zu realisieren. Glauben Sie nicht, daß, wenn Kontakte mit der Oppositionsregierung — so möchte ich es eigentlich gar nicht sagen —, mit der Parallelregierung, die es ja vom Ministerpräsidenten bis zu den Ministern gibt, auf einer etwas hochrangigeren Ebene stattfinden würden, wie dies andere Länder auch machen würden, dies für den Prozeß eher hilfreich wäre? Wie würden Sie diese Kontakte beurteilen?

Ursula Seiler-Albring (FDP):
Rede ID: ID1209120700
Wie ich vorhin schon ausgeführt habe, bin ich dafür, alles, was dazu beitragen kann, diese Möglichkeiten tatsächlich zu beschleunigen, auch zu tun. Wie das im Einzelfall gehen kann, ohne daß man möglicherweise das Gegenteil erreicht, kann ich im Moment von hier aus nicht beurteilen. Ich würde Sie immer dabei unterstützen, diese Kontakte zu fördern und zu intensivieren; da bin ich ganz auf Ihrer Linie.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209120800
Abgeordneter Dr. Mahlo, bitte.

Dr. Dietrich Mahlo (CDU):
Rede ID: ID1209120900
Frau Staatsministerin, ich habe großes Verständnis für Ihre grundsätzliche Position. Ist es aber nicht so, daß diese unterschiedslose Politik der zugeschlagenen Tür im Einzelfalle eben dazu führt, daß etwa im Bereich der humanitären Hilfe oder im Bereich der Ausbildungshilfe das absolute Kappen der Zusammenarbeit nicht diejenigen trifft, die es eigentlich treffen soll, sondern die langfristigen Zukunftschancen dieses Landes und gerade die Ärmsten in diesem Land? Ist es nicht richtig, daß man daher die generelle Politik, die Sie vorhin umschrieben haben, im einzelnen noch einmal auf ihre Treffsicherheit überprüfen sollte?

Ursula Seiler-Albring (FDP):
Rede ID: ID1209121000
Herr Kollege, es ist bei Sanktionen ja immer der Fall, daß man sich überlegen muß, ob man genau diejenigen trifft, die man treffen will, nämlich die Verursacher dieser Situation, oder ob man möglicherweise die doppelt trifft, die aus dieser Situation Leid tragen.
Ich kann auch Ihre Bewertung nicht ganz teilen, daß es die Bundesregierung abgelehnt hätte, sich im Bereich von humanitären Hilfsmaßnahmen zu engagieren. Das kann — wie überall in der Welt — natürlich nicht die Politik der Bundesregierung sein. Allerdings muß auf das Regime in Birma, das, wenn ich es einmal so sagen darf, ganz besonders verstockt gewesen ist, wirklich ein nennenswerter Druck ausgeübt werden, um dieses schöne Land endlich wieder zu befreien und den Demokratisierungsprozeß zu einem guten Ende zu führen. Die Gratwanderung hier ist sicher sehr schwierig. Aber ich bleibe bei meiner Haltung und der Haltung der Bundesregierung, daß wir einen Druck, wie ich ihn beschrieben habe, sehr wohl aufbauen müssen, urn das von uns gemeinsam mit allen anderen Mitgliedern der EG angestrebte Ziel zu erreichen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209121100
Frau Staatsministerin, wir kommen nunmehr zur Beantwortung der Frage 23 der Abgeordneten Thea Bock:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß es aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzungen in Myanmar mittlerweile fast 70 000 Flüchtlinge in unterversorgten Flüchtlingscamps auf thailändischem Boden gibt, und wird die Bundesregierung dort Soforthilfe leisten, um die Versorgungssituation der Flüchtlinge zu verbessern?

Ursula Seiler-Albring (FDP):
Rede ID: ID1209121200
Frau Kollegin, der Bundesregierung ist bekannt, daß infolge der kriegerischen Auseinandersetzungen im thailändisch-birmanischen Grenzgebiet eine große Zahl von Birmanen nach Thailand geflohen ist, darunter 48 000 Angehörige der Karen und 12 000 Angehörige der Mon. Die Flüchtlinge sind in 40 Lagern untergebracht. Sie werden von der thailändischen Regierung mit Nahrungsmitteln versorgt.
Die medizinische Betreuung hat die französische Nichtregierungsorganisation „Médecins sans Frontières" übernommen. Durch die inzwischen erfolgte Einstellung der birmanischen Offensive auf das Hauptquartier der aufständischen Karen-Minderheiten dürfte sich die Flüchtlingssituation in Thailand in naher Zukunft entspannen. Die Bundesregierung wurde bisher von keiner Seite, auch nicht von der thailändischen Regierung, um humanitäre Hilfe gebeten. Anträge auf humanitäre Hilfe wird die Bundesregierung sorgfältig prüfen und nach Möglichkeit positiv bescheiden.



Staatsministerin Ursula Seiler-Albring
Ich kann noch hinzufügen, daß die Europäische Gemeinschaft die von mir genannte Organisation mit 750 000 Ecu für zwei Jahre bezuschußt. Nachfragen unserer Botschaft haben ergeben, daß seitens der NGOs zur Zeit keine weiteren Mittel erbeten werden.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209121300
Herr Abgeordneter Kübler, bitte.

Dr. Klaus Kübler (SPD):
Rede ID: ID1209121400
Frau Staatsministerin, wäre die Bundesregierung bereit, in Überlegungen einzutreten, aus diesem Flüchtlingstrom auch Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, in überschaubarer Zahl zu Ausbildungszwecken oder auch zu Studienaufenthalten in die Bundesrepublik zu kommen, damit diese Jugendlichen nicht zwei oder drei Jahre völlig aus ihrem Werdegang herausgeworfen werden?

Ursula Seiler-Albring (FDP):
Rede ID: ID1209121500
Herr Kollege Kübler, das ist sicher ein sehr wichtiger Gedanke. Man müßte sich nur klar darüber werden, welche Organisation so etwas vermitteln könnte. Im Prinzip ist die Bundesregierung sicherlich immer bereit, Menschen aus der Dritten Welt, auch und gerade Jugendlichen, im Rahmen der ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten — nicht zuletzt auch finanzieller Art — zu helfen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209121600
Frau Abgeordnete Ganseforth, bitte.

Prof. Monika Ganseforth (SPD):
Rede ID: ID1209121700
Frau Staatsministerin, ist der Bundesregierung bekannt, daß Stipendiaten und Stipendiatinnen aus Birma, die über den Deutschen Akademischen Austauschdienst hierherkommen, große Schwierigkeiten haben, ihre Ausbildung abzuschließen? Im Augenblick ist z. B. eine junge Frau, die in Mathematik promoviert, in Trier betroffen, weil die Verträge immer nur über ein Jahr gehen und die birmanische Regierung solche Verträge nach einem Jahr nicht verlängert. Eine Promotion ist aber nicht nach einem Jahr abgeschlossen. Da gibt es also immer wieder Schwierigkeiten. Ist der Bundesregierung bekannt, daß es junge Leute gibt, die hier zur Ausbildung sind, diese aber auf Grund der angesprochenen organisatorischen Schwierigkeiten nicht zu Ende führen können?

Ursula Seiler-Albring (FDP):
Rede ID: ID1209121800
Frau Kollegin, dieser konkrete Fall ist mir nicht bekannt. Ich würde Sie aber bitten und würde anregen, daß Sie uns diesen konkreten Fall darlegen. Wir werden dann in diesem Fall und vielleicht auch in ähnlichen Fällen versuchen, im Rahmen unserer Möglichkeiten zu helfen, damit diese Studenten ihr Studium bzw. ihre Promotion ordnungsgemäß beenden können. Ich bin gern bereit, Ihnen in dieser Angelegenheit zu helfen.

Prof. Monika Ganseforth (SPD):
Rede ID: ID1209121900
Vielen Dank!

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209122000
Die Fragen 24 und 25 werden auf Wunsch des Abgeordneten Harries schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 26 des Abgeordneten Koschyk auf. — Der Kollege ist nicht da. Somit wird verfahren wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Die Frage 27 wird auf Wunsch des Abgeordneten Stiegler schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zur Frage 28 des Abgeordneten Schily:
Wie vielen Studentinnen und Studenten aus den USA wird ein Studium an den Hochschulen der Bundesrepublik Deutschland durch Stipendien öffentlicher oder privater deutscher Institutionen ermöglicht?

Ursula Seiler-Albring (FDP):
Rede ID: ID1209122100
Herr Kollege Schily, nach den dem Auswärtigen Amt vorliegenden Unterlagen erhielten im Jahre 1991 ca. 400 amerikanische Studentinnen und Studenten — sowohl Studierende als auch Graduierte — ein Stipendium aus deutschen öffentlichen Mitteln, um an einer deutschen Hochschule zu studieren. Diese Zahl läßt sich nach den wichtigsten Stipendiengebern und Stipendienarten wie folgt aufschlüsseln:
a) Im Bereich des DAAD gibt es 215 Stipendien, davon 98 Jahresstipendien, 26 Kurzstipendien, 40 Sommerkursstipendien und 51 Sprach- und Hochschuls ommerkursstipendien.
b) Im Bereich der politischen Stiftungen gibt es 31 Betroffene; davon entfallen auf die Konrad-Adenauer-Stiftung 10, auf die Friedrich-Ebert-Stiftung 16, auf die Friedrich-Naumann-Stiftung 3 und schließlich auf die Hanns-Seidel-Stiftung 2.
In einer dritten Gruppe, nämlich im Bereich der Fulbright-Kommission, die zu mehr als der Hälfte aus deutschen öffentlichen Mitteln finanziert wird, gibt es 147 Fälle, davon 92 Vollstipendien, 25 Reisestipendien und 30 Fremdsprachenassistentenstipendien.
Humboldt-Forschungsstipendiaten und Hochschullehrerstipendiaten sind bei diesen Zahlen, Herr Kollege, nicht berücksichtigt. Die Zahl der aus privaten deutschen Mitteln geförderten amerikanischen Studentinnen und Studenten, z. B. durch Unternehmensstiftungen, deutsch-amerikanische Clubs u. a., ist dem Auswärtigen Amt nicht bekannt.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209122200
Zusatzfrage? — Bitte.

Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1209122300
Ich darf mich zunächst einmal sehr herzlich für eine sehr detaillierte Antwort bedanken. Das sage ich, weil ich mich sonst häufiger über inhaltslose Antworten beklage.
Ich habe eine Zusatzfrage: Wie verhält sich die Zahl der in die USA eingeladenen deutschen Studentinnen und Studenten und deren Stipendien, die sie dort für dieses Studium erhalten, zu den Zahlen, die Sie uns jetzt hier in der anderen Richtung genannt haben?

Ursula Seiler-Albring (FDP):
Rede ID: ID1209122400
Ich hoffe, Herr Kollege Schily, daß ich Ihre Zufriedenheit noch weiter steigern kann, indem ich Ihnen nun auch diese Zahlen gern bekanntgebe: Hauptförderer aus öffentlichen Mitteln sind in diesem Bereich auch der DAAD und die Fulbright-Kommission. Der DAAD meldet für 1991 u. a. 125 Jahresstipendien für Graduierte und Promovierte, 54 Stipendien für Amerikanisten und



Staatsministerin Ursula Seiler-Albring
46 Kurzstipendien zur Vorbereitung von Dissertationen. Die Fulbright-Kommission vermeldet für den gleichen Zeitraum u. a. 10 Vollstipendien, 160 Teilstipendien und 70 Fachhochschulstipendien.
Ich könnte mir vorstellen, daß es Sie auch interessiert, wie viele Stipendiaten aus den östlichen Teilen Deutschlands daran teilnehmen. Dies ist zur Zeit nicht zu übersehen, aber die Zahl nimmt stetig zu, ist also im Wachsen begriffen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209122500
Danke schön. Zusatzfragen liegen nicht vor.
Ich rufe die Frage 29 des Abgeordneten Dr. Kübler auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Lage der Menschenrechte und den Demokratisierungsprozeß in der Côte d'Ivoire, insbesondere die Situation der Opposition, und welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, die Demokratie in diesem Land zu fördern?
Frau Staatsministerin, Sie haben das Wort.

Ursula Seiler-Albring (FDP):
Rede ID: ID1209122600
Herr Kollege Kübler, in der Côte d'Ivoire ist die pluralistische Demokratie 1990 eingeführt worden. Es wurden anerkannt freie Präsidenten- und Parlamentswahlen abgehalten, aus denen Präsident Houphuët-Boigny und seine Partei erfolgreich hervorgingen.
Seit der Einführung der pluralistischen Demokratie hat sich die Achtung der Menschenrechte in der Côte d'Ivoire verbessert. Die Regierung hat das Existenzrecht von Oppositionsgruppen und einer wachsamen und kritischen Presse akzeptiert. Die Hauptoppositionspartei FPI ist allerdings zur Zeit nur beschränkt handlungsfähig. Ihre Führung ist wegen Ausschreitungen während der von der FPI organisierten Demonstration vom 18. Februar dieses Jahres zu Haft-und Geldstrafen verurteilt worden. Die Bundesregierung hofft jedoch, daß Präsident Houphuët-Boigny von seinem Recht zur Begnadigung der Verurteilten Gebrauch machen wird.
Die Bundesregierung wird weiterhin den intensiven Dialog mit allen politischen Kräften in der Côte d'Ivoire pflegen und dabei den Zusammenhang zwischen partnerschaftlicher Zusammenarbeit und dem Stand der Festigung der Demokratie in der Côte d'Ivoire unterstreichen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209122700
Zusatzfragen? — Bitte schön, Herr Dr. Kübler.

Dr. Klaus Kübler (SPD):
Rede ID: ID1209122800
Sie, Frau Staatsministerin, haben selbst erwähnt, daß verschiedene gewählte Abgeordnete einschließlich des Oppositionsführers in Gefängnissen sitzen, und zwar — Sie haben auch das erwähnt — nach Verfahren. Teilt die Bundesregierung politisch die Auffassung, daß diese Verfahren korrekt abgelaufen sind?

Ursula Seiler-Albring (FDP):
Rede ID: ID1209122900
Herr Kollege Kübler, nach dem in Côte d'Ivoire geltenden französichen Recht sind nach unseren Einsichten die Verfahren korrekt abgelaufen, so daß man von einer politischen Gerichtsbarkeit so nicht sprechen kann. Uns liegen dahingehend keine weiteren Informationen vor.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209123000
Weitere Zusatzfrage? — Bitte schön.

Dr. Klaus Kübler (SPD):
Rede ID: ID1209123100
Ich bitte um Nachsicht, Frau Staatsministerin, wenn ich nachfasse. Wenn man nach Ihrer Formulierung von politischen Prozessen „so" nicht sprechen kann, kann man dann „anders" von politischen Prozessen sprechen?

Ursula Seiler-Albring (FDP):
Rede ID: ID1209123200
Ich sagte, von einer politischen Gerichtsbarkeit könne man, wenn man die Verfahren betrachtet, die exakt nach dem dort geltenden französischen Recht abgelaufen sind, wohl nicht sprechen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209123300
Danke schön.
Die Fragen 30 und 31 des Abgeordneten Gernot Erler werden auf dessen Wunsch schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Frau Staatsministerin, ich bedanke mich bei Ihnen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung auf. Hier steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Wilz zur Verfügung.
Die Frage 39 des Abgeordneten Lowack wird auf dessen Wunsch schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe Frage 40 der Frau Abgeordneten Ganseforth auf:
Wann kann der Bundesminister der Verteidigung im Interesse der Beschäftigten und der Region Klarheit über den Zeitpunkt der Verlegung des LTG 62 (Lufttransportgeschwader) schaffen, nachdem sich abzeichnet, daß sich Verzögerungen ergeben, weil inzwischen auch das Bundesministerium der Verteidigung die nicht zeitgerechte Infrastruktur in Brandenburg-Briest festgestellt hat, auf die Gegner der Verlegung frühzeitig hingewiesen haben?

Bernd Wilz (CDU):
Rede ID: ID1209123400
Im Zuge der Realisierungsplanung für die Infrastruktur am künftigen Standort des gemischten Lufttransportgeschwaders 62 in Brandenburg-Briest haben sich wasserrechtliche Probleme ergeben, die eine Stationierung des Verbandes an diesem Standort in Frage stellen. Das gesamte Flugplatzgelände liegt in einer Wasserschutzzone. Ein in unmittelbarer Flugplatznähe befindliches Wasserwerk beliefert die Stadt Brandenburg mit Trinkwasser.
Eine Wassergewinnungsanlage und ein Flugplatz an einer Stelle können nicht ohne gegenseitige Nachteile und Einschränkungen betrieben werden. Da die Wasserversorung nicht aufgegeben oder verlegt werden kann und bauliche Sicherungsmaßnahmen für die Wasserversorgung sehr kostenintensiv und in ihrer Wirksamkeit mit Risiken behaftet sind, werden zur Zeit Alternativen zur Stationierung in BrandenburgBriest untersucht.
Auch an einem neuen Standort müßte aber erst die notwendige Infrastruktur geschaffen werden, so daß die Verlegung des Verbandes zeitlich in Verzug geraten kann. Das Ergebnis weiterer Prüfungen bleibt abzuwarten.




Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209123500
Zusatzfrage? — Bitte schön, Frau Abgeordnete.

Prof. Monika Ganseforth (SPD):
Rede ID: ID1209123600
Da liegt natürlich die Frage nahe: War das Vorhandensein des Wasserschutzgebietes der Bundesregierung und dem Bundesverteidigungsminister nicht bekannt, als nach langer Prüfung gegen den Protest verschiedenster Stellen diese Verlegung beschlossen wurde, oder sind es irgendwelche neuen Ergebnisse, die da eine Rolle spielen? Oder liegt das daran, daß wir einen neuen Verteidigungsminister haben?

(Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Der hat sich als erstes darum gekümmert!)

Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär: Die erste Feststellung ist, daß Detailinformationen zu einem späteren Zeitpunkt bekanntgeworden sind, die zweite, daß im letzten Jahr die Planungen im Hinblick, auf den Abbau der Bundeswehr auf 370 000 Soldaten, aber auch im Hinblick auf Planungssicherheit zügiger vorangehen mußten, um ein fertiges Konzept, nämlich das vorgelegte Stationierungskonzept, präsentieren zu können.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209123700
Weitere Zusatzfrage? — Bitte schön, Frau Abgeordnete Ganseforth.

Prof. Monika Ganseforth (SPD):
Rede ID: ID1209123800
Sie haben gesagt, daß sich die Entscheidung verschiebt. Könnte es sein, daß die Entscheidung — vielleicht auch durch den neuen Verteidigungsminister — so aussieht, daß das Lufttransportgeschwader Wunstorf gar nicht mehr verlegt wird, sondern an Ort und Stelle bleibt?
Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär: Sie werden Verständnis dafür haben, Frau Kollegin, daß ich jetzt nicht spekulieren möchte. Ich habe eben darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung den Sachverhalt sehr gewissenhaft prüft und daß wir so früh wie möglich zu einer entsprechenden Entscheidung kommen, wenn diese notwendig wird.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209123900
Herr Dr. Knaape, bitte schön.

Dr. Hans-Hinrich Knaape (SPD):
Rede ID: ID1209124000
Hat die Bundesregierung denn nicht zur Kenntnis genommen, daß unmittelbar nach der Wende Bürgerproteste in Brandenburg-Briest auf dieses Wasserschutzgebiet hingewiesen haben?
Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, selbstverständlich wird zur Kenntnis genommen, wenn es Bürgerproteste gibt. Auf der anderen Seite habe ich eben verdeutlicht, daß die Bundesregierung verpflichtet war, das Stationierungskonzept im letzten Jahr aus Gründen der Planungssicherheit und der Reduzierung der Bundeswehr vorzulegen.
Wenn sich nun Bürgerproteste als in jeder Hinsicht und auch im Detail richtig herausstellen, so ist die Bundesregierung natürlich gehalten, das, was wir tun, noch einmal zu überprüfen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209124100
Da mir keine weitere Zusatzfrage zu Frage 40 vorliegt, rufe ich die Frage 41 der Abgeordneten Ganseforth auf:
Stimmt die Aussage des stellvertretenden Kommodore des Fliegerhorstes Wunstorf, Oberstleutnant Claus Häußler (LeineZeitung vom 29. April 1992, „LTG 62 bleibt doch in Wunstorf"), daß neue Pläne für den Ausbau des Flugplatzes BrandenburgBriest frühestens nach Ausmusterung der Transall C 160 greifen, und daß das voraussichtlich nicht vor dem Jahre 2010 sein wird?
Herr Staatssekretär!
Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär: Zu der von Ihnen zitierten Aussage des stellvertretenden Kommodore des Lufttransportgeschwaders 62 in der „LeineZeitung" vom 29. April 1992 ist festzustellen, daß der Zeitpunkt der Ausmusterung des Transportflugzeuges Transall in keinerlei Zusammenhang mit der Verlegung des Geschwaders steht.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209124200
Zusatzfrage? — Bitte.

Prof. Monika Ganseforth (SPD):
Rede ID: ID1209124300
Wenn selbst die Fachleute vor Ort so wenig genau wissen, wie die Zusammenhänge sind, muß ich doch fragen: Findet die Bundesregierung diese Art der Information in Entscheidungsfindungen sowohl für die betroffenen Beschäftigten, also die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, als auch für die Region zumutbar?
Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, zunächst ist festzustellen, daß der Kommodore vom Bundesministerium für Verteidigung nicht beauftragt worden ist, eine solche Erklärung abzugeben.
Zweitens habe ich darauf hingewiesen, daß ja die Vorgänge im Detail überprüft werden. Sie dürfen sicher sein: Sobald wir zu einem neuen Ergebnis kommen sollten, werden wir es so schnell wie möglich den betroffenen Soldaten, dem zivilen Personal, den Familienangehörigen und der Öffentlichkeit mitteilen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209124400
Eine weitere Zusatzfrage? — Bitte!

Prof. Monika Ganseforth (SPD):
Rede ID: ID1209124500
In welchem Zeitraum ist mit einer wirklich endgültigen Entscheidung zu rechnen?
Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, da die Vorgänge gerade geprüft werden, kann ich hier nicht endgültig sagen, dies werde in soundsoviel Wochen oder Monaten abgeschlossen sein. Wir werden, sobald das Ergebnis vorliegt, dies sofort der Öffentlichkeit und den Betroffenen bekanntgeben.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209124600
Danke schön.
Ich rufe die Frage 42 des Abgeordneten Dr. Knaape auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung den Flugplatz Briest bei Brandenburg für die Bundesluftwaffe in den kommenden Jahren wesentlich auszubauen, oder nimmt sie wegen der hohen Kosten von diesem Projekt Abstand?



Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär: Hierzu verweise ich, Herr Kollege, auf die Antwort der Bundesregierung auf Frage 40, die ich soeben gegeben habe.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Das war eine klare Antwort!)


Dr. Hans-Hinrich Knaape (SPD):
Rede ID: ID1209124700
Dürfte ich dann die Frage stellen, wie lange die Bundesregierung diesen Flugplatz noch zu nutzen beabsichtigt?
Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär: Ich darf zunächst feststellen, daß sich ja an den bisherigen Planungen nichts geändert hat, sondern daß gegenwärtig geprüft wird. Wenn die Prüfung zu einem anderen Ergebnis zwingt, werden wir dies mitteilen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209124800
Weitere Zusatzfrage? — Bitte sehr.

Dr. Hans-Hinrich Knaape (SPD):
Rede ID: ID1209124900
Liegt der Flugplatz Briest und damit auch das Stadtgebiet von Brandenburg in der Einflugschneise, die für Tiefflüge im Land Brandenburg genutzt wird?
Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich empfehle Ihnen, darauf zu warten, daß wir das neue Truppenübungsplatzkonzept und außerdem das neue Konzept für die Ausbildung an strahlengetriebenen Flugzeugen vorlegen. Dies wird voraussichtlich noch vor der Sommerpause im Verteidigungsausschuß geschehen, und dann kann diese Frage eindeutig beantwortet werden.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209125000
Danke schön.
Ich teile dem Hause mit, daß die Frage 43 des Abgeordneten Stiegler, die Fragen 44 und 45 des Abgeordneten Toetemeyer sowie die Fragen 46 und 47 des Abgeordneten Jungmann (Wittmoldt) auf deren Wunsch schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Herr Staatssekretär, ich bedanke mich bei Ihnen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Familie und Senioren. Hier steht uns die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Verhülsdonk zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 48 des Abgeordneten Habermann auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, daß es in der Bundesrepublik Deutschland eine wachsende Armut gibt, und wenn nicht, auf welche Daten stützt die Bundesregierung ihre gegenteilige Auffassung?
Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort.

Roswitha Verhülsdonk (CDU):
Rede ID: ID1209125100
Herr Präsident, ich würde gern den Kollegen Habermann fragen, ob er einverstanden ist, daß ich die beiden Fragen nacheinander, aber im Zusammenhang beantworte. Sie stehen nämlich in einem inneren Zusammenhang. Ist Ihnen das recht, Herr Kollege?

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209125200
Herr Kollege Habermann, Ihr Zusatzfragerecht wird dadurch nicht beeinträchtigt.

(Michael Habermann [SPD]: Einverstanden!)

Dann rufe ich auch die Frage 49 des Abgeordneten Habermann auf:
Aufgrund welcher Daten bezeichnet die Bundesministerin für Familie und Senioren, Hannelore Rönsch, die im Bericht zur bedarfsorientierten Grundsicherung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes genannte Anzahl der Sozialhilfeempfänger in 1992 als unseriös?
Bitte sehr, Frau Staatssekretärin.

Roswitha Verhülsdonk (CDU):
Rede ID: ID1209125300
Herr Kollege Habermann, für eine wachsende Armut in der Bundesrepublik Deutschland — wie wir wissen, einem der entwickeltsten Sozialstaaten der Welt — gibt es keine fundierten Belege. Das Ansteigen der Zahl der Sozialhilfeempfänger ist als Indikator für wachsende Armut ungeeignet. Die Sozialhilfe garantiert einen soziokulturellen Mindestbedarf, der über der vom Ministerrat der Europäischen Gemeinschaften definierten Grenze der relativen Armut liegt.
Ausweitungen von Sozialhilfeleistungen führen jeweils zu einer Vergrößerung der Anzahl der Berechtigten. Sie können aber nicht zu einer Vergrößerung der Zahl der Armen führen.
Die Leistungsverbesserungen der letzten zehn Jahre in der Sozialhilfe haben den Hilfeempfängern im übrigen eine größere Kaufkraftsteigerung eingebracht, als die Lohn- und Gehaltsentwicklung sie den Arbeitnehmern eingebracht hat.
Es gibt Armut in Deutschland, aber es führt in die Irre, durch nicht belegte Zahlen das Ausmaß des Problems zu überzeichnen. Die sogenannte Dunkelziffer der Personen, die ihren Sozialhilfeanspruch nicht geltend machen, ist wissenschaftlich nicht belegbar. Es gibt auch keine Wege, wie man sie exakt ermitteln könnte.
Die Sozialhilfestatistik selbst erfaßt sämtliche Empfänger von Sozialhilfe eines Jahres, auch wenn diese nur kurzfristig oder gar mehrfach im Jahr kurzfristig Sozialhilfe in Anspruch genommen haben. Eine solche Addition, wie sie in der Statistik aufgeführt ist, vermittelt also ein unrichtiges Bild.
Zutreffend wären — wie etwa bei den Arbeitslosenzahlen — Stichtagsangaben, die nach der Statistik jedoch nicht möglich sind. Im Rahmen der vorgesehenen Novellierung des Bundessozialhilfegesetzes — ich habe darüber ja im Ausschuß schon einiges gesagt — sollen deshalb die rechtlichen Grundlagen für eine deutlich aussagefähigere Sozialhilfestatistik geschaffen werden.
Im übrigen, Herr Kollege: Etwa ein Viertel derjenigen, die Hilfe zum Lebensunterhalt in Anspruch nehmen, sind Ausländer. Es kann aber doch keinen Sinn machen, hier mittellos eintreffende Asylbewerber als Indikator für wachsende Armut in der Bundesrepublik Deutschland anzusehen.
Die Ursachen des Anstiegs der Zahl der Sozialhilfeempfänger sind vielfältig. Allein daraus auf wachsende Armut zu schließen ist unzulässig. Es gibt keine fundierten Untersuchungen, die dies erlauben. Viel-



Parl. Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonk
mehr ist die soziale Situation speziell in den alten Bundesländern im allgemeinen durch ein hohes Niveau gekennzeichnet.
Infolge des langanhaltenden wirtschaftlichen Aufschwungs und der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte waren in den letzten Jahren zahlreiche Leistungsverbesserungen möglich. So belief sich die Summe aller Sozialleistungen 1990 auf 678,5 Milliarden DM. Im Vergleich zu den Ausgaben im Jahre 1982, also acht Jahre vorher, bedeutet dies eine Zunahme von 151,1 Milliarden DM. Im übrigen war der Anstieg der Zahl der Sozialhilfebezieher 1990 mit 3,5 % der geringste seit 1982. — Dies zur ersten Frage.
Die zweite Frage möchte ich wie folgt beantworten: Nach der amtlichen Statistik bezogen 1989 insgesamt 3,62 Millionen Menschen Sozialhilfe. 1990 waren es 3,75 Millionen. Hieraus zu schließen, heute läge die Zahl der Sozialhilfebedürftigen bei vermutlich knapp 6 Millionen in den alten Bundesländern, ist in keiner Weise begründet. Vielmehr bezogen im Jahr 1990 in den alten Bundesländern insgesamt etwa 2,85 Millionen Menschen laufende Hilfe zum Lebensunterhalt. Daneben gibt es noch die Hilfe in besonderen Lebenslagen, die man getrennt davon sehen muß.
Hierbei handelt es sich aber, wie bereits in der Antwort auf die erste Frage ausgeführt, um eine Jahreszahl, die durch Fluktuation beeinflußt ist und in der z. B. auch Mehrfachbezüge von kurzfristiger Dauer — ich sagte das schon — oder auch Mehrfachzählungen infolge von Ortswechsel enthalten sind.
Maßgebend für eine sachgerechtere Beurteilung, auch was die Dunkelziffer angeht, sind deshalb, wie eben schon gesagt, Stichtagszahlen, wie dies z. B. bei der Darstellung der Arbeitslosigkeit selbstverständlich ist. Diese liegen deutlich niedriger. Ende 1990 gab es 1,76 Millionen Empfänger von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt, eine Zahl, die um rund 30 v. H. niedriger ist als das summierte Jahresergebnis.
Über das Verhältnis der Nichtinanspruchnahme zu der genannten Stichtagszahl gibt es, wie ich schon sagte, keine wissenschaftlich gesicherten Aussagen. Die vom Paritätischen Wohlfahrtsverband angestellten Vermutungen entbehren daher nach Meinung der Bundesregierung jeglicher objektiven Begründung.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209125400
Sie haben nun bis zu vier Zusatzfragen, Herr Abgeordneter Habermann. Bitte!

Michael Habermann (SPD):
Rede ID: ID1209125500
Frau Staatssekretärin, Sie haben in der Antwort auf meine erste Frage erwähnt, daß die Sozialhilferegelsätze in den vergangenen Jahren gegenüber der Lohnentwicklung überdurchschnittlich gestiegen seien. Von 1977 bis 1990 hat die reale Anhebung insgesamt 4,7 %, also pro Jahr umgerechnet 0,36 % betragen. Würden Sie dies als Ihre Begründung dafür ansehen, daß die Anzahl der Sozialhilfeempfänger so dramatisch gestiegen ist?

Roswitha Verhülsdonk (CDU):
Rede ID: ID1209125600
Man muß ja sehen, daß die Sozialhilfe brutto gleich netto ausgezahlt wird. Deswegen kann man sie nicht mit Bruttoanstiegen von Löhnen vergleichen, sondern
muß sie wohl mit den verfügbaren Einkommen vergleichen. Ich habe ja von der Kaufkraftsteigerung gesprochen, nicht von einer Bruttoentwicklung.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209125700
Eine weitere Zusatzfrage.

Michael Habermann (SPD):
Rede ID: ID1209125800
Sie haben erwähnt, die Bundesregierung beabsichtige, das Bundessozialhilfegesetz zu novellieren. Trifft es zu, daß Sie in diesem Zusammenhang auch daran denken, die Sozialhilfestatistik in der Form, wie Sie sie eben als notwendig beschrieben haben, zu verändern?

Roswitha Verhülsdonk (CDU):
Rede ID: ID1209125900
Das ist ein völlig unstreitiger Punkt. Bei den Verhandlungen mit den Wohlfahrtsverbänden und den Ländern, die ja im Vorfeld einer Gesetzesänderung notwendig sind, ist dieses Bedürfnis allgemein bestätigt worden.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209126000
Weitere Zusatzfrage.

Michael Habermann (SPD):
Rede ID: ID1209126100
Zu meiner zweiten Frage beziehe ich mich auf das Interview, das Frau Rönsch am 13. März im Deutschlandfunk gegeben hat. Dort hat sie erwähnt, daß 1990 2,8 Millionen Sozialhilfeempfänger gezählt wurden, davon 1,76 Millionen mit Hilfe zum laufenden Lebensunterhalt. Wie erklären Sie sich, daß der Bundessozialminister in der von ihm herausgegebenen Übersicht allein für das Jahr 1989 die Zahl von über 3,6 Millionen Sozialhilfeempfängern — diese Zahl nannten Sie eben auch schon — erwähnt hat?

Roswitha Verhülsdonk (CDU):
Rede ID: ID1209126200
Herr Kollege, ich habe eben schon in einer Art Parenthese darauf hingewiesen, daß man bei den Sozialhilfeempfängern zunächst diejenigen sehen muß, die Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten, die also dieses gesetzliche Mindesteinkommen bekommen. Das hat am ehesten etwas mit der Wirklichkeit, der Kaufkraft und der Lebenssituation zu tun. Daneben gibt es die große Gruppe der Sozialhilfeempfänger, die Hilfe in besonderen Lebenslagen erhalten. Diese tritt z. B. bei Heimpflege und bei Heimaufenthalt ein. Man muß also diese beiden Personengruppen auseinanderrechnen. Deswegen stimmt die Zahl, die Frau Rönsch genannt hat, daß 1990 1,76 Millionen Empfänger laufende Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten haben.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209126300
Weitere Zusatzfrage.

Michael Habermann (SPD):
Rede ID: ID1209126400
Bestätigen Sie aber gleichzeitig die Zahl des Bundesarbeitsministers, der 3,6 Millionen Sozialhilfeempfänger für das Jahr 1989 angegeben hat?

Roswitha Verhülsdonk (CDU):
Rede ID: ID1209126500
Ich habe ja eben selbst diese Zahl genannt und gesagt, wie sie sich zusammensetzt. Sie setzt sich aus allen Personen zusammen, die irgendwann im Laufe eines Jahres einmal irgendeine Leistung der Sozialhilfe erhalten haben. Wenn dieselben Personen sie mehrfach erhalten haben, sind sie jeweils wieder gezählt



Parl. Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonk
und addiert worden. Wenn eine Person von der Stadt X in die Stadt Y zieht, wird sie zweimal gezählt, weil sie in der neuen Stadt wieder einen neuen Antrag stellen muß. Damit ist aber nicht die Zahl der Personen, die Hilfe zum Lebensunterhalt bekommen, gesteigert worden, sondern es ist lediglich ein weiterer Antrag gezählt worden. Derzeit zählt die Statistik ja Anträge, nicht Personen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209126600
Bitte sehr.

Erika Reinhardt (CDU):
Rede ID: ID1209126700
Frau Staatssekretärin, heißt Ihre letzte Antwort, daß man nicht nur einmal oder zweimal zählt, sondern daß es sogar passieren kann, daß der gleiche Sozialhilfeempfänger vier- bis fünfmal gezählt wird?

Roswitha Verhülsdonk (CDU):
Rede ID: ID1209126800
Das ist theoretisch durchaus möglich.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Das kann doch wohl nicht sein!)

Bei Personen, die, aus welchen Gründen auch immer — etwa Asylbewerber, die einem anderen Bundesland zugewiesen werden —, noch einmal in eine andere Stadt gehen, tritt das ohne weiteres ein. Sie alle sind in der von Herrn Blüm herausgegebenen Gesamtstatistik enthalten.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209126900
Die Fragen 50 und 51 der Abgeordneten Frau Dr. Lucyga, Frage 52 des Abgeordneten Kubatschka und Frage 53 des Abgeordneten Dr. Knaape sowie die Fragen 54 und 55 des Abgeordneten Klaus Kirschner werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit ist die Fragestunde beendet.
Ich rufe Zusatzpunkt 5 der Tagesordnung auf: Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zur Frage ihrer Handlungsfähigkeit angesichts von Meinungsunterschieden zum Beispiel in der Forderung nach einer „neuen" Außenpolitik, zu ungeklärten Finanzproblemen, zu Kürzungen von Renten und anderen sozialen Leistungen
Die Fraktion der SPD hat diese Aktuelle Stunde verlangt.
Ich erteile dem Abgeordneten Klose das Wort.

Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1209127000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit Schreiben vom 7. April habe ich den Herrn Bundeskanzler gebeten, nach der Osterpause eine Regierungserklärung zur Lage der Nation abzugeben. Er hat uns jetzt wissen lassen, er werde dies nicht tun. Ich finde das bedauerlich und der Lage nicht angemessen.

(Beifall bei der SPD)

Die Lage ist objektiv schwierig, und noch schlechter ist die Stimmung in der Bevölkerung. Verzweifelt ist die Lebenssituation für viele Menschen in den neuen Bundesländern, vor allem für die Hundertausende, die von Arbeitslosigkeit betroffen oder bedroht sind. Schwierig ist die Lage für die Menschen in Ost und
West, die dringlich eine Wohnung brauchen, aber keine finden, weil diese Bundesregierung den Wohnungsbau über Jahre hintangestellt hat. Wir haben das immer kritisiert und kritisieren es auch heute.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Die Stimmung ist schlecht, weil sich die Menschen im Westen und im Osten in gleicher Weise betrogen fühlen: die im Osten, weil ihnen fahrlässig die schnelle Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse und blühende Landschaften versprochen worden sind, die im Westen, weil ihnen wider besseres Wissen gesagt wurde, die Einheit sei ohne Opfer, gewissermaßen aus der Westentasche, zu finanzieren. Zweimal Versprechungen jenseits der Wahrheit. Die Verantwortung trägt der Bundeskanzler. Dieser Verantwortung hätte es entsprochen, jetzt endlich die Wahrheit zu sagen.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Statt dessen werden der Öffentlichkeit zwei Papiere des Bundesfinanzministers präsentiert, die sich vor allem durch penetrantes Eigenlob auszeichnen.

(Wolfgang Roth [SPD]: Sehr wahr! — Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Was wahr ist, muß wahr bleiben!)

Den psychologischen Mechanismus, der dem zugrunde liegt, kennen wir, die politische Methode auch: Die Lage wird schöngeredet, die Chancen werden groß, die Risiken klein geschrieben. Im übrigen: Am besten nimmt man es mit den Zahlen nicht gar so genau. Dazu ein Beispiel.
Die Schulden der Treuhand würden auf 250 Milliarden DM anwachsen, und zwar bis Ende 1994, liest man in dem einen Papier. In dem gleichen Papier heißt es an anderer Stelle, dies werde bis Ende 1995 der Fall sein. In dem zweiten Papier liest man: Es ist für Ende 1994 mit Schulden bei der Treuhand in Höhe von 200 Milliarden DM zu rechnen, denen 50 Milliarden Aktiva gegenüberstehen. — Eine wirklich tolle Präsentation!

(Beifall bei der SPD)

Der Bundesfinanzminister hat sich angewöhnt, über Milliarden zu reden wie andere über Millionen. Zehn Milliarden mehr oder weniger, was macht das schon? Hier aber sind es 50 Milliarden DM, die rauf und runter gerechnet werden. Das ist ungefähr so solide wie die sonstigen Vorschläge zur Finanzierung der deutschen Einheit.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

Ein einziger Sparvorschlag findet sich in den Papieren des Finanzministers, und zwar — wie nicht anders zu erwarten — zu Lasten der Arbeitnehmer: Zwangsläufige Mehrausgaben bei der Bundesanstalt für Arbeit müßten durch Leistungsbegrenzung gedeckt werden. Na klar, dort, bei dem viel zitierten kleinen Mann wird angesetzt, die anderen, die mit Vermögen, dürfen sich auf Steuersenkungen freuen.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)




Hans-Ulrich Klose
Nein, meine Damen und Herren von der Koalition, auf dieser Basis ist mit unserer Zusammenarbeit nicht zu rechnen. Das machen wir nicht mit.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Wir wissen, daß die deutsche Einheit Solidaritätsopfer erfordert. Wir glauben auch, daß die Menschen zur Solidarität bereit sind. Aber gerecht muß es zugehen. Die starken Schultern müssen stärker tragen als die schwachen.

(Beifall bei der SPD)

Der Prozeß der Entsolidarisierung muß endlich aufgehalten werden. Statt den Gewerkschaften öffentlich Vorwürfe zu machen, sollten Sie darüber nachdenken, welche verheerende Wirkung es hat, wenn der Bundeskanzler mit großer Geste eine fünfprozentige Kürzung der Ministergehälter vorschlägt — das verschwindet dann schnell in der Schublade — und dann, so legitimiert, den Arbeitnehmern bei den Tarifverhandlungen Mäßigung predigt. Selbst wenn die Geste ehrlich gemeint sein sollte — woran ich zweifele —, die Wirkung ist und bleibt verheerend.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

Die Verantwortung für die schlechte Stimmung im Lande liegt bei Ihnen. Der Schwarze Peter liegt bei der Bundesregierung, nicht bei den Gewerkschaften. Deshalb ist es unangemessen und ungerecht, auf die Gewerkschaften einzuprügeln. Der Bundeskanzler sollte lieber für Ordnung im eigenen Haus sorgen.

(Beifall bei der SPD)

Die Koalition kann er jedenfalls nicht schönreden. Die ist kaputt, wenn sie kaputt ist. Sie sollten es einsehen und abtreten.

(Anhaltender Beifall bei der SP, dem Bündnis 90/GRÜNE und der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209127100
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Rüttgers.

(Peter Conradi [SPD]: Was ist das für eine Art, uns hier mit dem Geschäftsführer abzuspeisen! Das ist eine Mißachtung des Parlaments! — Weitere Zurufe von der SPD — Glocke des Präsidenten)

— Meine Damen und Herren, die SPD-Fraktion hat noch drei Redner, die ihren Protest in aller Ruhe zum Ausdruck bringen können. Sie können sich mäßigen.
Herr Abgeordneter Dr. Rüttgers, Sie haben das Wort.

Dr. Jürgen Rüttgers (CDU):
Rede ID: ID1209127200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin mir nach diesem Beginn gar nicht mehr sicher, ob Sie eigentlich hier diskutieren wollen oder ob Sie hier einen Krawall wollen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Lärmen!)

Ich meine, wenn Sie hier schon eine Aktuelle Stunde beantragen mit dem Titel „Haltung der Bundesregierung zur Frage ihrer Handlungsfähigkeit

(Zuruf von der SPD: Unfähigkeit!)

angesichts von Meinungsunterschieden . . ." — — Meine Damen und Herren, wahrlich ein Wortungetüm! Ich glaube, für diese Formulierung gilt der Satz: Der Titel verrät, was man gewollt hat; der Inhalt verrät, was man nicht gekonnt hat.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn es eines Beweises bedurft hätte, Herr Klose, dann haben Sie diesen mit Ihrem Beitrag geliefert. Wer so agiert, hat zur Sache anscheinend nichts Substantielles beizusteuern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Widerspruch bei der SPD)

Ich gebe zu, die Abläufe in der F.D.P. haben in der vergangenen Woche nicht nur das Ansehen der deutschen Politik belastet, sie haben auch das Bild der Koalition in Mitleidenschaft gezogen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Aber es gibt, meine Damen und Herren, eben Beispiele für gelungene und für mißratene Generationswechsel in politischen Parteien.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der SPD: Da haben Sie recht!)

Es ist auch verständlich, daß die Opposition versucht, daraus politisches Kapital zu schlagen. Aber ich meine, das ist zuwenig für eine demokratische Opposition. Die SPD ist bisher schon im Ansatz einen Beitrag zur Problemlösung schuldig geblieben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie kneifen vor Gesprächen über Sachfragen. Schon morgen hätten Sie Gelegenheit gehabt, im Gespräch mit dem Bundeskanzler Kompetenz und den Willen zur wirklichen Problemlösung zu beweisen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Statt dessen läuten Sie den Rückzug ein und fliehen vor den notwendigen Antworten.

(Anhaltende Zurufe bei der SPD)

Da fordern Teile Ihrer Fraktion, Herr Klose, eine große Koalition. Das SPD-Präsidium meldet: Kein Diskussionsbedarf. SPD-Vize Lafontaines Anhang fordert sofortige Neuwahlen. Das Präsidium stellt fest: Wir können das Thema nicht auf die Tagesordnung setzen. Fazit: Alle ziehen in der SPD an einem Strang, und jeder läuft in eine völlig andere Richtung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es ist kein Wunder, daß die SPD Sachgespräche scheut. Wer nicht weiß, was er will, der weiß auch nicht, worüber er reden soll.

(Zuruf von der CDU/CSU: Siehe Klose!)

Der Umgang der SPD mit dem Gesprächsangebot des Bundeskanzlers zeigt doch sehr deutlich, wie heillos zerstritten die SPD mit ihrer Rolle in der deutschen Politik ist. Es ist doch richtig, meine Damen und Herren, daß wir in wichtigen Fragen, bei den Finanzbeziehungen von Bund und Ländern etwa,



Dr. Jürgen Rüttgers
beim Asylrecht oder bei den Verfassungsänderungen im Zusammenhang mit Maastricht, nur gemeinsam weiterkommen. Es ist doch auch richtig, daß die Wahl vom 5. April ein deutliches Signal dafür war, daß die Bürger jetzt schnelle Entscheidungen erwarten.

(Detlev von Larcher [SPD]: Eine andere Regierung!)

Aber ich meine, Herr Klose, so wie Sie bis jetzt agiert haben, treiben Sie das Verwirrspiel auf die Spitze. Zuerst werfen Sie der Bundesregierung fehlende Kooperationsbereitschaft vor,

(Zuruf von der SPD: Richtig!)

im gleichen Atemzug stellen Sie das Gesprächsangebot in Frage. Fazit: Wenn es ernst wird, tritt die SPD den Rückzug an und flieht vor den notwendigen Antworten.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Die scheinheilige Klage der SPD über mangelnde Unterlagen, die Sie jetzt wiederholt haben, Herr Klose, kann ich nur noch als tragisch bezeichnen. Fast täglich rechnet Frau Matthäus-Maier der Öffentlichkeit ungeniert falsch, aber immer detailliert die Finanzlage des Bundes vor, während Sie sich hier über unzureichende Unterlagen beschweren. Beides paßt nicht zusammen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Was wollen Sie denn eigentlich? Wollen Sie die Konjunkturlage oder die Steuerprognose für 1994, 1995, 1996, 1997? Wollen Sie die Arbeitsmarktstatistik oder die Zahl der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nur für den Rest des Jahrhunderts oder bereits für das Jahr 2010?

(Zurufe von der SPD)

Alle Unwägbarkeiten berechnen, alle Risiken ausschließen, das kann niemand, und das wissen Sie. Wer so tut, als ob dies zu leisten sei, sät falsche Erwartungen und wird neue Verdrossenheit ernten.
Die Finanzplanung von Theo Waigel operiert nicht mit euphorischen Annahmen über Wirtschaftswachstum und Steuereinnahmen. Sie läßt Spielraum für unvorhersehbare Ereignisse, und sie ist klar auf eine Begrenzung des Ausgabenwachstums auf 2,5 % festgelegt.
Aber es geht jetzt nicht nur um klare Antworten von seiten des Bundes. Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen haben ihre Beschlüsse gefaßt. Es ist Aufgabe der SPD-regierten Länder, jetzt zu sagen, ob sie bereit sind, sich an dieser Operation zu beteiligen. Dazu bedarf es keiner Gespräche. Das können sie in eigener Verantwortung entscheiden.
Meine Damen und Herren, wer Sparapostel und Spendieronkel zugleich sein will, der versucht einen Spagat, an dem er letztlich selbst zerbricht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zurufe von der SPD)

Es ist erst wenige Wochen her, Herr Klose, als Sie eingestehen mußten, die Wirklichkeit wohl nicht immer richtig eingeschätzt zu haben. Offensichtlich gilt das für die ganze SPD.
Sicher, die Koalition hat Fehler gemacht. Aber niemand sollte unseren Willen und unsere Entschlossenheit unterschätzen, die anstehenden Probleme zu lösen. Und wir werden sie im Interesse unseres Landes lösen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209127300
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Weng das Wort.

Dr. Wolfgang Weng (FDP):
Rede ID: ID1209127400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer den heutigen Aufmarsch der sozialdemokratischen Prominenz zu einer Aktuellen Stunde sieht, der muß an eine Schicksalsstunde der Nation glauben. Man muß sich beinahe wundern, daß nicht noch Willy Brandt und Helmut Schmidt aktiviert worden sind. Dabei dient das Ganze — das ist nach dem Vortrag des Kollegen Klose überdeutlich geworden — nur der öffentlichen Mitteilung, daß man sich seiner Verantwortung entziehen will.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

Meine Damen und Herren, ich meine, eine Rede zur Handlungsfähigkeit der Bundesregierung bezüglich ungeklärter Finanzprobleme kann am heutigen Tag nicht anders als mit einem dringenden Appell an die Tarifparteien im öffentlichen Dienst beginnen:

(Beifall bei der F.D.P. — Lachen bei der SPD — Detlev von Larcher [SPD]: Immer die anderen!)

Einigen Sie sich und verhindern Sie, daß durch Fortführung oder Ausweitung des Streiks die Lage für unser Land in einer schwierigen Situation tatsächlich dramatisch wird!
Bei allem Verständnis für die Arbeitnehmerseite: Das Entgegenkommen der Arbeitgeber sollte unbedingt honoriert werden, und die öffentlich Bediensteten in ihrer besonderen Treuepflicht gegenüber dem Staat und allen Bürgern sollten sich nicht vor den politischen Karren mancher Gewerkschaftsfunktionäre spannen lassen.

(Beifall bei der F.D.P. — Zurufe von der SPD)

Die Erklärung des DGB, die heute morgen vor dem „Langen Eugen" verteilt worden ist, kann ich nicht mehr nachvollziehen: Anstatt ehrlich die ja immer wiederkehrende und auch notwendige Kontroverse zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern darzustellen — die natürliche Interessenkollision akzeptiert doch jeder —, wird von einem Versuch der Arbeitgeberseite gesprochen, den Beschäftigten im öffentlichen Dienst Lohnverzicht aufzuzwingen. Meine Damen und Herren, paßt die Forderung nach über 10 % Steigerung in Kenntnis der Haushaltslage der öffentlichen Gebietskörperschaften tatsächlich in die tarifpolitische Landschaft? Ich meine nein.
Zuerst haben wir beim öffentlichen Dienst die schnelle Anpassung der Einkommen in den neuen Bundesländern akzeptiert, und zwar schneller als ursprünglich in der Finanzplanung konzipiert, dann haben wir eine größere als die notwendige Zahl



Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen)

öffentlicher Bediensteter in den neuen Bundesländern akzeptiert, und jetzt muß die Solidarität des öffentlichen Dienstes auch die eigenen Kolleginnen und Kollegen betreffen: Zu hohe Abschlüsse werden gerade bei den personalintensiven Länder- und Kommunalhaushalten — das haben auch die Sozialdemokraten begriffen — ganz zwangsläufig Arbeitsplätze gefährden.

(Zuruf von der SPD: Thema!)

— Das ist ein sehr guter Einwurf. Ich fahre jetzt fort mit dem Teil meines Beitrages, der sich mit der etwas diffusen und dubiosen Fragestellung der SPD-Fraktion beschäftigt:
Die Bundesregierung und — für sie — der Bundesfinanzminister haben gerade in dieser Woche ein wichtiges Signal finanzpolitischer Handlungsfähigkeit gegeben.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Zurufe von der CDU/CSU)

Die Sparvorstellungen, die Theo Waigel in den Koalitionsfraktionen vorgetragen hat, zeigen den richtigen Weg. Mein Hinweis, daß diese Vorstellungen jetzt präzisiert werden müssen, beinhaltet nicht von vornherein Skepsis. Ich bin überzeugt, daß diese Präzisierung gelingen kann. Meine Fraktion hat ja mit ihrem einstimmigen Beschluß am Dienstag abend auch deutlich gemacht, daß wir an Waigels Seite stehen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Dr. Peter Struck [SPD]: Das will er doch gar nicht! — Zuruf von der SPD: Das wird ihn freuen! — Weitere Zurufe von der SPD)

Meine Damen und Herren, es wird auch keine Vertretung von Interessen einzelner Ministerien durch unsere Fraktion geben. Für uns spricht die Regierung in den finanz- und haushaltspolitischen Fragen gerade in Kenntnis der Schwierigkeiten mit einer Stimme, und dies ist die Stimme des Bundesfinanzministers.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir erwarten die abgestimmte Vorlage und natürlich auch den Haushaltsentwurf derart, daß durchaus mögliche Ausgabenerhöhungen in einzelnen Bereichen durch Einsparungen in anderen Bereichen ausgeglichen werden. Entscheidend ist das Gesamtvolumen. Natürlich hält sich unsere Fraktion in Zusammenarbeit mit den Partnern der CDU/CSU-Fraktion die Möglichkeit offen, dann im Haushaltsverfahren wie gewohnt Änderungen durchzuführen. Unsere Vorschläge werden aber das gemeinsame Ziel nicht verlassen.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Den Jäger 90 streichen wir gleich!)

Ich gebe zu, daß ich bedauerlich finde, daß eine Reihe von Kollegen der Union schon im Vorfeld und ohne genaue Kenntnis der konkreten Pläne des Bundesfinanzministers mit lautem Wehgeschrei begonnen haben. Ich finde es eigentlich schade und peinlich, daß der Regierung und dem Bundesfinanzminister Waigel von diesen Kollegen nicht einmal die
Chance gegeben wird, ihre Vorstellungen zu konkretisieren.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist typisch, ausgesprochen typisch!)

Wir werden uns dadurch nicht beirren lassen. Die Regierung hat für das Konzept Theo Waigels die Unterstützung der F.D.P.-Fraktion.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209127500
Nun erteile ich dem Herrn Abgeordneten Dr. Schumann das Wort.

Dr. Fritz Schumann (PDS/LL):
Rede ID: ID1209127600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Handlungsunfähigkeit der Bundesregierung ist für uns nur schwerlich zu erkennen. Die Voraussetzungen dafür, daß gehandelt werden kann, sind doch allgemein gegeben: Im Parlament verfügen die Koalitionsparteien über eine satte Mehrheit, die heute leider nicht zu sehen ist. Alle Ministerien sind mit Ministern und ausreichend Staatssekretären und weiteren Beamten besetzt, und Probleme, die ein Handeln verlangen, sind mehr als genug da.
Warum wird also nun immer stärker von einer Regierungskrise gesprochen? Da kommt schon mehr der Verdacht auf, daß es sich um eine Handlungsunwilligkeit handelt. Die Bundesregierung möchte sich nicht eingestehen, daß eine Korrektur ihres Kurses unvermeidlich ist. Der Anschluß Ost liegt schwer im Magen, Milliarden werden zur Finanzierung der Arbeitslosigkeit verbraucht ohne Effekte für eine wirkliche Wende. „Das Tal der Arbeitslosigkeit im Osten ist noch nicht erreicht, ein endogener Wachstumsprozeß in den fünf neuen Ländern ist nicht erkennbar" — so Staatssekretär Beckmann gestern vor dem Wirtschaftsausschuß. Ich habe ihn fast wörtlich zitiert.
Das finanzielle Korsett der Bundesregierung wird immer enger, und schon trägt man sich mit dem Gedanken einschneidender sozialer Maßnahmen, wie von Bundesfinanzminister Waigel zu hören ist. Wir sind auch dafür, die perspektivlose Situation der 3 Millionen Arbeitslosen in Ost und West zu beenden und nicht einfach über Finanztransfers sozial oder vielleicht für die Regierungskoalition politisch verträglich zu machen. Dieser Weg führt weiter in die Sackgasse.
Die Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 28. 4. 1992 spricht eine deutliche Sprache. Sowohl in West wie in Ost ist die Anzahl der im verarbeitenden Gewerbe einschließlich Bergbau Beschäftigten gegenüber dem gleichen Vorjahresmonat zurückgegangen, in Ostdeutschland allein um 1 Million Arbeitsplätze. Das ist auf die Dauer mit Sicherheit so nicht mehr zu finanzieren, und wir sind einmal mehr der Meinung, daß eine Wende nur durch eine aktive Wirtschaftspolitik mit entsprechenden Elementen einer Struktur- und Industriepolitik herbeigeführt werden kann.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zuruf von der CDU/CSU: Planwirtschaft!)




Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt)

Diese Worte stammen übrigens nicht von mir, sondern aus Ihren Regierungskreisen. Diese Worte sollten Sie einmal nachlesen. Die genannte Forderung ist nicht neu. Wir haben sie von unserer Seite natürlich schon viel länger erhoben, z. B. am 31. Januar 1991 anläßlich der Regierungserklärung von Hans Modrow, was nur mit sinnlosen Zwischenrufen von Ihrer Seite bedacht wurde.
Den Unwillen zur Kurskorrektur kann ich aus Zeitgründen nur mit einigen Beispielen belegen.
Erstens. Die Bundesregierung setzt beim Aufschwung Ost in den neuen Ländern nicht zu Unrecht vor allem auf privates Kapital. Das sehen wir auch so. Das übt aber vornehme Zurückhaltung. Oder wie soll man sonst verstehen, daß im Osten, wo der Bedarf am höchsten ist, im Pro-Kopf-Vergleich nur etwa 60 % der Investitionen getätigt werden? An Kapitalmangel kann es nicht liegen, wenn durch die Bundesbank eingeschätzt wird: So reichlich war das Liquiditätspolster der westdeutschen Produktionsunternehmen bisher noch nie. Runde 670 Milliarden DM liquider oder rasch mobilisierbarer Geldanlagen würden völlig ausreichen, die gesamte Wirtschaft in den neuen Ländern zu modernisieren.
Bleibt die Feststellung: Das bisherige Instrumentarium zur Investitionsankurbelung hat versagt. Außerdem laufen am 30. Juni 1992 auch noch die Investitionszulagen aus. Heute, weniger als acht Wochen vor diesem Termin, ist zu hören, daß der Bundeswirtschaftsminister für die Verlängerung ist, sich aber mit dem Finanzminister noch nicht einigen kann. Das wird Investoren nicht sonderlich anregen, in die neuen Länder zu investieren.
Zweitens. Die fehlende Finanzkraft der Betriebe in den neuen Ländern ist bekannt. Mit drohender Zahlungsunfähigkeit sind Arbeitsplätze gefährdet. Zugleich gibt es aber bedeutende Rückstände bei der Auszahlung von Fördermitteln, u. a. auch der Investitionszulage. Bei der Forderung nach einer beschleunigten Auszahlung wird auf das noch nicht intakte Finanzwesen verwiesen. Von einem Investitionshilfegesetz will man nichts wissen.
Drittens. Von den Hermes-Bürgschaften, auf die nicht wenige Betriebe in den neuen Bundesländern bei ihren Ostexporten angewiesen sind, wurden bis heute 100 Millionen DM wirksam. Anträge für 70 Milliarden DM liegen der Bundesregierung vor. 5 Milliarden DM sollten genehmigt werden. Ein Drittel des Jahres ist bereits um. Die Hermes-Bürgschaften wären geeignet, in Betrieben aus den neuen Bundesländern Arbeitsplätze zu sichern und in osteuropäischen Ländern wirksame Hilfe zu leisten.
Die Bundesregierung zuckt die Schultern, wenn sie nach den Kriterien der Sanierung der Treuhandbetriebe gefragt wird, und verweist auf die Treuhand. Auch von dort ist keine Antwort zu bekommen. Es zeigt sich, daß die Treuhand-Betriebe über keinerlei Entscheidungsspielräume verfügen. Sie erhalten kaum eine Chance, selbst zu Erfolgen zu kommen. Erforderlich wäre aber, daß jedes Unternehmen die Voraussetzung bekommt, sich am Markt zu behaupten. Die zwischen Sachsens Wirtschaftsminister Kajo Schommer und der Präsidentin der Treuhand geschlossene Vereinbarung über die Sanierung
kommt viel zu spät, und ihre Wirksamkeit steht ohnedies in den Sternen.
Der Bundesfinanzminister schlägt die Reduzierung der Zuschüsse für die Bundesanstalt für Arbeit vor. Zugleich beschneidet er die Möglichkeiten, diese Zuschüsse mittelfristig überflüssig zu machen. Auch der Vizepräsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie kommt zu dem Schluß, daß die Arbeitskosten der ostdeutschen Unternehmen lieber durch staatliche Zuschüsse zeitweilig minimiert werden sollten, anstatt immer mehr Arbeitslosigkeit zu finanzieren.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209127700
Herr Abgeordneter, ich bin gezwungen, auf die Einhaltung der Zeit zu achten. Sie haben Ihre Zeit jetzt überschritten.

Dr. Fritz Schumann (PDS/LL):
Rede ID: ID1209127800
Das ist auf die Dauer sehr viel teurer und menschlich unerträglich, so der Vizepräsident. Wir können uns dieser Schlußfolgerung nur anschließen.
Danke schön.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209127900
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Schulz, Berlin, das Wort.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Der redet heute schon zum zweiten Mal! — Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Der kommt gar nicht mehr nach Hause!)


Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1209128000
Ich rede so oft, bis Sie das nicht mehr ertragen können.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jeder blamiert sich so gut er kann. Wenn die Regierung nur wenig beherrscht, Herr Rüttgers, diesen Grundsatz beherrscht sie jedenfalls mit Bravour.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Eigentlich steht die Regierung, steht der Bundeskanzler genau dort, wo er 1989 schon einmal gestanden hat: am Ende seines Lateins. Das einzige, was ihm im Moment zunutze kommt, ist, daß es damals offenbar eine starke Opposition gab. In der Opposition aber scheint im Moment mehr die Nachdenklichkeit von Pfeifesaugern bestimmend zu sein.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Die Öffnung der Mauer kam für den Kanzler wie ein Deus ex machina, der ihn vor dem Absturz bewahrte. Doch die Geschichte wiederholt sich bekanntlich nicht. Auf eine zweite Sternstunde darf man nicht hoffen. Aus Faust zitierend, läßt sich sagen: Der Bundeskanzler hält die Teile in der Hand, allein, ihm fehlt das geistig Band.

(Heiterkeit bei der SPD — Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Es reimt sich zwar, aber es dichtet nicht!)

CDU/F.D.P.-Koalition, der Kanzler und sein Außenminister vor allem, der in seiner politischen Karriere



Werner Schulz (Berlin)

einen Spürsinn für Schiffsuntergänge entwickelt hat, haben die deutsche Einheit genutzt, um Emotionen und Hoffnungen zu forcieren, und damit Wahlen gewonnen. Seitdem stehen Täuschung und Selbsttäuschung in einem verhängnisvollen Verbund. Sie haben es versäumt, den Bürgerinnen und Bürgern die Wahrheit zu sagen. Das ist nicht wiedergutzumachen.
Die Euphorie der Vereinigung hätte genutzt werden müssen, um den Menschen in Ost und West die harte, aber ertragbare Wahrheit zu sagen, nicht um den Machterhalt zu sichern. Diese Wahrheit hätte gelautet: Ihr im Osten müßt leiden, wir im Westen müssen opfern; euer Leiden wird erträglich sein und zeitlich verkürzt, weil wir in der Lage sind zu opfern, und wir werden das auch tun.
Die Bereitschaft, diese Wahrheit anzunehmen, war vorhanden. Statt dessen wurde geschönt, gelogen und verschwiegen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Regierung steht jetzt vor der Stunde der Wahrheit. Explodierende Staatsverschuldung, erhöhte Zinsen, wirtschaftliche Problemberge, Dauerarbeitslosigkeit, enorme Preissteigerungen, reales Minus bei Renten und Löhnen, kletternde Mieten, Defizite im Wohnungsbau, erbitterter Streit ums Eigentum, ausstehende Pflegeversicherung und Gesundheitsreform, fehlendes Bundeswehr- und Abrüstungskonzept, eine irrational geführte Asyldebatte, der sich vertiefende Graben zwischen Ost und West — Sie bemerken, ich bekomme kaum noch Luft, so bedrückt mich das

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

— und vor allem Konzeptionslosigkeit prägen das Bild. Streik im Westen, Betriebsbesetzung im Osten; die einen kämpfen gegen die anderen um schlecht bezahlte Arbeitsplätze, und der Kanzler setzt das ein, was er am meisten hat: Sitzfleisch — in der Hoffnung, daß der Kelch an ihm vorübergeht. Durchwursteln ist die oberste Staatsmaxime. In der deutschen Politik haben nicht die Gestalter, sondern die Verwalter im Moment das Sagen, und ihre Kreativität, ihr Instrumentarium hat sich mit dem Aufbau der alten Bundesrepublik in den 70er Jahren erschöpft. Ihnen fehlt die Kompetenz für die Lösung einer einzigartigen Jahrhundertaufgabe.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Und jetzt kommen Sie!)

Der Vorrat an Gemeinsamkeiten in dieser Koalition ist verbraucht. Aus der Union tönt es, der Bundeswirtschaftsminister sei ein politisches Ozonloch, ein Adam Riese des Nullsummenspiels; das bayerische Echo lautet, daß sich unter diesem neuen Vizekanzler das Kabinett zum Karnevalszug formiere.

(Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!)

Der „Bayern-Kurier" moniert sogar den Hundenamen der neuen Justizministerin.

(Heiterkeit)

Die Regierungskoalition hat sich in dieser kritischen
Situation offenbar nichts anderes vorgenommen als
das Drehbuch von Ingmar Bergmann „Szenen einer Ehe" aufzuführen.
Was bleibt von dieser Regierung Kohl? Der strapazierte Geschichtsmantel, eine doppelte Nullrunde, auch im übertragenen Sinne, ein Rücktrittsrekord in Einzelressorts — drei Minister in vier Wochen —, also fast freie Fallgeschwindigkeit eines Kabinetts!

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

Der Bundeskanzler hat angekündigt, bis zur Sommerpause zu sagen, wie die Regierung die Probleme lösen will. Das soll er nun endlich tun. Wenn er es nicht kann, wenn er seine Richtlinienkompetenz nicht wahrzunehmen weiß, muß er zurücktreten.

(Beifall bei der SPD)

Das ist nicht weiter schlimm; schlimmer wäre es, eine gescheiterte Politik zu verlängern, die viele Bürgerinnen und Bürger teuer zu stehen kommt.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Jetzt kommt die Alternative!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209128100
Das Wort hat Herr Minister Dr. Bohl.

Friedrich Bohl (CDU):
Rede ID: ID1209128200
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal muß ich darauf hinweisen, daß es in diesem Hause bei Aktuellen Stunden bisher üblich war, daß die Regierung zunächst den Fraktionen Gelegenheit gegeben hat, ihre Auffassung zu dem Gegenstand der Aktuellen Stunde vorzutragen. An dieser guten Übung wollte ich auch heute festhalten, und insofern ist für Mutmaßungen, wie sie hier lautgeworden sind, keinerlei Raum, so daß es vielleicht auch möglich ist, den Kollegen Conradi wieder hereinzubitten, zumal es immer stimulierend ist, auf seine Zwischenrufe hin entsprechende Bemerkungen in der Aktuellen Stunde machen zu können.
Zunächst, meine sehr verehrten Damen und Herren, möchte ich doch schlicht und einfach den Sachverhalt darstellen. Wir haben durch den Herrn Bundeskanzler der SPD und den anderen Parteien Gespräche über drei wichtige Themen angeboten, und zwar zu dem Thema Asyl, zu dem Thema Maastricht und zu dem Thema Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Der Bundeskanzler war und ist der Auffassung,

(Zurufe von der SPD: Warum sagt er das nicht selber? — Wo ist er denn?)

daß es richtig ist, daß man sich zu diesen drei Fragen, die Grundgesetzänderungen implizieren, so daß Zweidrittelmehrheiten gefordert sind, zusammen an einen Tisch müsse setzen können. In der Demokratie muß, so glaube ich, ein solches Gespräch im Bereich des Normalen sein, und, Herr Kollege Klose, ich habe Sie eigentlich bisher auch so verstanden, daß Sie einen solchen Stil pflegen möchten.
Dieses Angebot ist an die SPD ergangen. Die SPD hat mir dann mitgeteilt, daß zu dem Thema Asyl ein solches Parteiengespräch nicht notwendig sei, weil zwischen den Fraktionen des Hohen Hauses dazu



Bundesminister Friedrich Bohl
Gespräche stattfänden, so daß ein Parteiengespräch nicht nötig sei. Mir ist ferner mitgeteilt worden, daß auch zu dem Vertrag von Maastricht kein Parteiengespräch notwendig sei, weil der Bundeskanzler mit den Ministerpräsidenten spreche und man nach den Vorberatungen davon ausgehen könne, daß es auch hier zu einer Einigung kommt.
Wenn die Opposition also schon bei drei Komplexen, bei denen es sogar um Grundgesetzänderungen geht, der Meinung ist, daß es keines Parteiengesprächs bedarf, weil wir einer Lösung nahe sind, dann kann ich nicht erkennen, wie in dieser Debatte der große Hammer der Handlungsunfähigkeit der Regierung geschwungen werden kann.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Zumindest ist das nicht sehr redlich.
Meine Damen und Herren, der Kollege Dreßler,

(Rudolf Dreßler [SPD]: Hier, bei der Arbeit!)

der in die Debatte vielleicht auch noch eingreifen wird, hat bei der Bundeskonferenz der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen folgendes gesagt — Zitat —:
Die SPD ist dabei, zu einer Problembenennungspartei zu werden. ... die SPD kennt alle Probleme. Und vor allem: Wir bekämpfen sie — mit entscheidenden Resolutionen.

(Rudolf Dreßler [SPD]: Jawohl!)

Das halten manche für Politik ... Wir müssen erkennen, daß wir mit unserer Sucht zur Problembenennung am Bewußtsein, an der Leistung und vor allem am Leben von Millionen von Menschen einfach vorbeigehen. Die haben nämlich nicht nur Probleme, denen geht es nämlich auch noch gut, die sind auch noch zufrieden und freuen sich auch noch an ihrem Leben — bei allem, was sie sonst beschwert ... Diesen Menschen geht die SPD zu oft schlicht auf die Nerven.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU — Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Jetzt wollen wir einmal Ihre Lösung hören!)

Herzlichen Dank, Herr Kollege Dreßler. Wo Sie recht haben, haben Sie recht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn die SPD hier die Handlungsunfähigkeit der Regierung anmahnt, dann ist das ungefähr so, als wenn sich Frau Wulf-Mathies in diesen Tagen darüber beschwert, daß ihr Briefkasten nicht gefüllt ist.

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Dafür hat sie eine um so größere Mülltonne!)

Die SPD hat in den vergangenen Wochen und Monaten ja eine ganz bemerkenswerte Blockadepolitik betrieben: Die SPD hat in Sachen Asyl Blockadepolitik betrieben.

(Zuruf von der SPD: Da sind wir einig!)

Die SPD hat bei der Verabschiedung des Steuerpakets
eine Blockadepolitik betrieben. Die SPD betreibt bei
der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte eine
Blockadepolitik, weil die SPD-regierten Länder die öffentlichen Haushalte weit über das verantwortbare Maß hinaus steigert,

(Detlev von Larcher [SPD]: So eine Frechheit!)

so in Schleswig-Holstein mit 6,9 % und in Niedersachsen mit 5,4 %. Wer nicht in der Lage ist, den eigenen Laden in Ordnung zu bringen, hat bei Gott keine Veranlassung, der Bundesregierung am Zeuge zu flicken. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben gerade dazwischengerufen, beim Asyl seien Sie einer Meinung. Ich habe hier gerade eine Meldung von heute, 12.58 Uhr, vorliegen. Dort heißt es:
Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Schnoor (SPD) hat die Vielstimmigkeit der Sozialdemokraten in der Asyldebatte kritisiert. „So mancher springt auf einen Zug auf, der noch gar nicht lange fährt. Und nicht alles, was gesagt wird, ist von großer Klugheit geprägt", meinte Schnoor.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich kann es ja nicht ändern, wenn Sie sich selbst ein solches Testat ausstellen.
Die Bundesregierung wird am kommenden Mittwoch den Nachtragshaushalt für dieses Jahr verabschieden. Die Bundesregierung wird die Eckdaten für 1993 verabschieden. Die Bundesregierung wird Mitte Juli im Kabinett den Haushalt 1993 verabschieden. Mit diesen Daten wird die Konsolidierung der öff entlichen Haushalte fortgesetzt. Sie sind herzlich eingeladen, sich daran zu beteiligen, insbesondere an dem Gespräch am 27. Mai, bei dem es um die Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden geht, teilzunehmen und sich nicht zu versagen. Wenn Sie sich versagen sollten, dann werden Sie das zu verantworten haben. Ich glaube, die Bürger draußen im Lande hätten dafür kein Verständnis. Die Bürger des Landes wollen keinen Streit, wollen nicht solche Schauspiele, wie sie heute bei der Aktuellen Stunde von Ihnen veranstaltet werden, sondern wollen, daß sich Demokraten auch zusammensetzen und dort ihre Aufgaben erfüllen, wo sie gemeinsame Verantwortung tragen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, kann ich Ihnen nur zurufen: Entwickeln Sie Alternativen, statt weiterhin Problemgemälde zu entwickeln und zu gestalten, und bitte, hören Sie damit auf, das Land schlechter zu reden, als es ist. Die Menschen draußen im Lande wissen sehr wohl, daß wir ein Gemeinwesen haben, das auf die Leistungen stolz sein kann, die alle Bürgerinnen und Bürger zusammen erbracht haben.
Diese Regierung wird den Auftrag, den sie am 2. Dezember 1990 erhalten hat, für vier Jahre unser Land zu führen und zu regieren, wahrnehmen. Diese Regierung hat nicht nur eine Mehrheit im Parlament, diese Regierung hat nicht nur ein Koalitionsprogramm, das trägt.




Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209128300
Herr Bundesminister, darf ich Sie unterbrechen? Ich werde Ihnen nicht das Recht nehmen, hier zu reden. Aber ich mache Sie darauf aufmerksam: Wenn Sie die Zeit von zehn Minuten überschreiten, wird die allgemeine Debatte eröffnet. Ich möchte Sie vorsorglich darauf aufmerksam machen: Wenn Sie allzulange fortfahren, kann ich das nicht verhindern.
Friedrich Bohl, Bundesminister: Herr Präsident, ich bedanke mich für die Belehrung und schließe mit dem Satz: Diese Regierung, diese Koalition ist ohne Alternative in diesem Hause.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Lachen und Zurufe von der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209128400
Meine Damen und Herren, nunmehr erteile ich der Abgeordneten Ingrid Matthäus-Maier das Wort.

Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1209128500
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir stehen in der Bundesrepublik Deutschland vor schwierigen, ungelösten Problemen. Ich will nur die wichtigsten benennen. Die Staatsverschuldung nimmt dramatisch zu. Allein im laufenden Jahr zahlen alle öffentlichen Hände zusammen über 120 Milliarden DM Zinsen für die vielen Schulden, die hier aufgehäuft worden sind.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Zweitens. Die neuen Länder stehen mitten in einem dramatischen Entindustrialisierungsprozeß und hoher Arbeitslosigkeit.
Drittens. Es fehlen nach Schätzung aller Fachleute 2,5 Millionen Wohnungen. Viele Bürgerinnen und Bürger haben Angst, daß die Notwendigkeit eines Umzugs auf sie zukommt, weil dann gleich die Miete mit mehrere hundert DM in den neuen Wohnungen steigt.
Viertens. Ungelöst ist das Problem, daß immer mehr ältere Menschen, obwohl sie ihr Leben lang in die Rentenversicherung eingezahlt haben, im Alter Pflegefälle und dann Sozialhilfefälle werden.
Fünftens. Die soziale Schieflage bei der Verteilung der Kosten der deutschen Einheit ist dramatisch. Während die Menschen mit den starken Schultern finanziell unter dem Strich seit Beginn der deutschen Einheit Steuerentlastung erhalten haben, wird die breite Masse der niedrigen Einkommensbezieher und der Rentner mit schweren Steuer- und Abgabenerhöhungspaketen belastet, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und beim Bündnis 90/GRÜNE)

Die Menschen warten darauf, daß diese Probleme gelöst werden. Sie warten wenigstens auf Vorschläge. Aber was erleben sie hier bei der Bundesregierung mit? Tagelang geht es um das Verschachern von Posten, um die Verteilung von Regierungsämtern. Mal tritt der eine zurück, mal der andere. Sie haben die Regierung auf 81 Mitglieder aufgebläht, obwohl
Sie nicht einmal die Hälfte qualifiziert besetzen können, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und beim Bündnis 90/GRÜNE — Julius Louven [CDU/CSU]: Man stelle sich vor, Sie hätten ein Regierungsamt!)

Mit diesem unwürdigen Vorspiel, statt Probleme zu lösen — und wir sind bereit, dies auch gemeinsam zu tun —, sich tagelang über Posten zu streiten, verstärken Sie die Verdrossenheit der Bürger, die das Gefühl haben, Politik hat nur noch mit Posten und nicht mit Sachproblemen zu tun.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und beim Bündnis 90/GRÜNE)

Vorschläge legen Sie nicht auf den Tisch. Einig sind Sie sich nur darin, die Vorschläge der SPD abzulehnen.

(Dr. Alexander Warrikoff [CDU/CSU]: Weil sie schlecht sind!)

Zum Aufbau in den neuen Ländern haben wir Umkehr des Prinzips Rückgabe vor Entschädigung und die Festlegung eines Sanierungsauftrages für die Treuhand gefordert. Sie sagen nur nein.
Zur Pflege haben wir einen konkreten Gesetzentwurf für eine Pflegefallversicherung vorgeschlagen. Sie zanken sich bis heute darüber und kommen nicht zu Potte.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Zur Beseitigung der Wohnungsnot haben wir eine kräftige Verbesserung der Mittel für den sozialen Wohnungsbau und eine ökonomisch und sozial richtige steuerliche Eigenheimförderung vorgeschlagen. Beides lehnen Sie ab. Frau Schwaetzer kommt zwar jeden Tag mit neuen Vorschlägen; aber sie löst die Probleme nicht.
In der Finanzpolitik sind Ihre wichtigsten Kennzeichen seit Jahren Unwahrhaftigkeit und Ungerechtigkeit.

(Beifall bei der SPD)

Herr Rüttgers, Sie sagen, die Zahlen der SPD stimmten nicht. Ich wäre ja froh, wenn die Zahlen nicht so schlimm wären, wie wir sie darstellen. Aber was sagen Sie denn dazu, daß die Bundesbank, daß das Ifo-Institut und daß die Sachverständigen alle die gleichen Zahlen vortragen und vor Ihrer maßlosen Schuldenpolitik warnen?
Finanzminister Waigel hat eine knallharte Sparpolitik angekündigt. Herausgekommen ist ein butterweiches Darumherumreden. Es gibt keinen einzigen konkreten Sparvorschlag. Ich sage Ihnen: Ein Finanzminister, der sparen will und auf dessen Liste nicht ganz oben

(Zuruf von der CDU/CSU: Jäger 90!)

das Stoppen des Jäger 90 steht, hat das Geld nicht verdient, das ihm die Bundeskasse überweist, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)




Ingrid Matthäus-Maier
Die soziale Ungerechtigkeit Ihrer Finanzierungsvorschläge und -beschlüsse ist offensichtlich. Wer im Jahre 1993 allein 4,5 Milliarden DM übrig hat, um die Vermögensteuer und die Gewerbesteuer zu senken, der hat kein Recht, zu kritisieren, daß die Krankenschwester, daß der Pförtner und daß der Postbote streiken, damit sie endlich ihren Reallohn erhalten.

(Anhaltender Beifall bei der SPD, der PDS/ Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Sie haben in diesem Hause eine Mehrheit. Ich halte es für zutiefst bedauerlich, daß Sie diese Mehrheit nicht nutzen, um die angesprochenen Probleme wenigstens anzugehen. Aber auf eines können Sie sich verlassen: Wir werden Sie jeden Tag und jede Woche mit unseren, besseren Alternativen konfrontieren. Vielleicht kommen Sie irgendwann zur Besinnung.

(Anhaltender Beifall bei der SPD — Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209128600
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Uldall das Wort.

Gunnar Uldall (CDU):
Rede ID: ID1209128700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Matthäus-Maier, ich habe schon viele Reden von Ihnen gehört.

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Selbst schuld! — Zuruf von der F.D.P.: Hören müssen!)

Aber dies war eine Rede, die Sie ohne jede Lust gehalten haben; so kann ich nur sagen.

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Die weiß doch überhaupt nicht, was Lust ist! — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Den Lustgewinn habe ich woanders!)

Frau Matthäus-Maier, Sie haben ja überhaupt keinen neuen Gedanken vorgebracht. Aber das Minimum an Kreativität muß auch einmal von Ihnen verlangt werden. Im Gegenteil, Sie haben sogar ein Lieblingsthema ausgespart. Hat irgend jemand das Wort „Jäger 90" heute von ihr gehört?

(Zurufe von der SPD: Ja!)

Also, liebe Frau Matthäus-Maier, so geht es nicht. Sie dürfen nicht nur Alternativen für die Zukunft ankündigen, sondern Sie müssen sie auch einmal bringen.
Das war eben auch das Trauerspiel bei der Rede von Herrn Klose. Es wird erwartet, daß der Führer der größten Oppositionspartei Alternativen vorlegt, und diese sind von Ihnen eben nicht gekommen.

(Detlev von Larcher [SPD]: Wir erwarten Vorschläge von der Regierung! — Weitere Zurufe von der SPD)

Meine Damen und Herren, wenn die SPD nur verhindert, dann betreibt sie nicht Opposition, sondern dann betreibt sie — —

(Anhaltende lebhafte Zurufe von der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209128800
Also, meine Damen und Herren, bei der Intensität von Zwischenrufen nehmen Sie sich die Möglichkeit, dem
Redner zuzuhören. Das sollte man nicht ganz vergessen.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU — Lachen und Zurufe von der SPD)


Gunnar Uldall (CDU):
Rede ID: ID1209128900
Meine Damen und Herren, wenn die SPD keine Alternativen liefert, dann betreibt sie nicht Opposition, sondern Destruktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will das an einem typischen Beispiel zeigen. Sowohl Herr Klose als auch Frau Matthäus-Maier haben die Wohnungsprobleme angesprochen. Die Regierung hat rechtzeitig Vorschläge zur Ankurbelung des Wohnungsbaus vorgelegt. Die Abschreibungen sollten von 5 auf 6 % angehoben werden. Wir haben einen Schuldzinsenabzug in Höhe von 12 000 DM vorgeschlagen. Die SPD blockiert und verhindert, statt zu forcieren. Die Opposition hätte in dieser Situation der Regierung eigentlich Dampf machen müssen, anstatt diese Vorschläge im Bundestag und im Bundesrat zu verhindern.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Bereits im Dezember wäre es möglich gewesen, diese Vorschläge über die parlamentarischen Hürden zu bringen. Sie haben das ein Vierteljahr lang verhindert. Ein Vierteljahr bedeutet Attentismus im Wohnungsbau; es bedeutet, daß die Leute ein Vierteljahr später in die Wohnungen einziehen. Das ist die Destruktion der SPD, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will dies auch an anderen Fällen zeigen. Die SPD klagt vollmundig die Finanznot an. Es ist Blockade, was die SPD hier praktiziert. Wir haben versucht, den Mißbrauch steuerlicher Vorteile durch ausländische Beteiligungsgesellschaften — 250 Millionen DM — abzuschaffen. Die SPD hat es blockiert.

(Widerspruch bei der SPD)

Wir haben versucht, den steuerlichen Mißbrauch von Vorteilen durch Unterstützungskassen — 700 Millionen DM — zu beseitigen. Die SPD hat das blokkiert.

(Widerspruch bei der SPD)

Wir haben versucht, den Mißbrauch von Lebensversicherungen zur Unternehmensfinanzierung — 1 500 Millionen DM — zu beseitigen. Die SPD hat es blokkiert.

(Widerspruch bei der SPD)

Und dann, nach einem Vierteljahr, ist die SPD darauf eingegangen und hat es schließlich doch akzeptiert. Das ist nicht sachlich begründet; das ist parteitaktisches Verhalten.
Wenn Herr Klose meint, daß die Bürger in schlechter Stimmung sind, dann deswegen, weil es keine sachliche Politik ist, die Sie betreiben, sondern weil es Parteitaktik ist, Herr Klose!

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, wir sind uns alle einig, daß die Familienpolitik besondere Aufmerksamkeit erfordert. Deswegen haben wir gesagt: Wir erhöhen



Gunnar Uldall
das Kindergeld von 50 auf 70 DM; wir erhöhen den Kinderfreibetrag um 1 100 DM. Die SPD blockiert das im Bundesrat. Und die Folge war Unsicherheit für Hunderttausende von Familien.

(Unruhe bei der SPD)

Hunderttausende von Familien wußten nicht, ob diese Verbesserungen kommen oder nicht.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie kriegen gleich einen Herzinfarkt!)

Meine Damen und Herren, die Sozialdemokraten müssen als Oppositionspartei langfristig eine solide, seriöse Finanzpolitik betreiben. Wer nicht einmal die Rolle als Oppositionspartei beherrscht, ist erst recht nicht geeignet für die Regierung.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir werden dafür sorgen, daß die SPD noch viele, viele Jahre in der Opposition ihr Rollenspiel lernt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zuruf von der SPD: Das war schwach!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209129000
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Wolfgang Thierse das Wort.

Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1209129100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Vorbemerkung zu Ihnen, Herr Bohl, und auch zu Herrn Uldall. Ich halte es für eine billige Methode: Wir reden über die Regierung, und was machen Sie? Einen Entlastungsangriff, indem Sie auf die Opposition eindreschen. Das macht Sie nicht besser! Das hilft nicht!

(Beifall bei der SPD)

Und ein bißchen Fähigkeit zur Selbstkritik — das haben Sie beim Abgeordneten Dreßler gerade zitiert — wünsche ich auch Ihnen, und zwar hörbare.

(Beifall bei der SPD)

Handlungsfähigkeit bestimmt sich sicher durch viele Faktoren. Einer davon ist die Überzeugungskraft einer Regierung und die entsprechende Zustimmung der Menschen zur Politik. Der Befund in dieser Hinsicht ist schlechthin katastrophal. Es ist dieser Regierung, dieser Koalition in eineinhalb Jahren gelungen, eine Atmosphäre der Verunsicherung und der Überforderungsängste im Westen, der Enttäuschung und der wütenden Resignation im Osten zu erzeugen.
Vor allem ist es Ihnen auf fatale Weise gelungen, das Klima und die Bereitschaft, zu teilen, schwer zu beschädigen. Dies macht, was am Einigungsprozeß schwer ist und was wir Ihnen wahrhaftig nicht vorwerfen, auf eine Weise schwerer, die so nicht nötig wäre.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Was ist das für eine Regierung, die seit ihrem Amtsantritt — von den abenteuerlichen Wahlversprechen davor will ich schweigen — sich nicht in der Lage sieht und nicht die Courage aufbringt, der Bevölkerung die Wahrheit zuzumuten, den Westdeutschen, daß die deutsche Einigung problemreicher, opfer-
reicher, teurer sein wird als angekündigt, aber daß jetzt energisch für den Osten Deutschlands Opfer zu bringen sich am Schluß nicht nur moralisch, sondern auch ökonomisch und sozial bezahlt macht. Was ist das für eine Regierung, die nicht den Mut hat, den Ostdeutschen zu sagen, daß der Prozeß der Angleichung der Lebensverhältnisse viel länger dauern wird als versprochen und ersehnt, aber daß sich Geduld und ausdauernder Fleiß und Engagement am Schluß nicht als vergeblich erweisen werden!

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Es ist das Wechselbad zwischen Beschönigungen, Beschwichtigungen, Versprechungen und den dann regelmäßig folgenden Belastungen, die die Bürger in Form von Steuern und Abgaben, von Inflation und Arbeitslosigkeit, von Kaufkraftverlusten und Reallohneinbußen erfahren. Es ist diese Diskrepanz zwischen Worten und Taten, die Mißtrauen und Zweifel an der Glaubwürdigkeit und Problemlösungskompetenz der Politiker erzeugt und antipolitische, ja, antidemokratische Affekte provoziert.

(Beifall bei der SPD)

Was ist das für eine Regierung, die Chancen und die Lasten der deutschen Einigung auf derart empörende Weise sozial ungerecht verteilt? Der Bundeskanzler hat gemahnt, jetzt sei keine Zeit für Verteilungskämpfe.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Recht hat er!)

Die Regierung betreibt aber diesen Verteilungskampf durch ihre Ungerechtigkeit selber.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Sie betreibt kaltherzige Umverteilungspolitik von unten nach oben. Dies spaltet die Nation.

(Zuruf von der SPD: So ist es!)

Die in den letzten Wochen vorgestellten Leistungsbeschneidungen wirken sich ja geradezu ausschließlich auf Arbeitslose, Umschüler und Sozialhilfeempfänger aus. Das ist ein Schlag gegen die soziale Einheit unseres Landes. Es ist unerträglich, nur von den kleinen Leuten zu verlangen, mit den Schwachen in Ostdeutschland zu teilen. Wer am wenigsten hat, soll am meisten geben. Das spaltet die Nation.

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist schon rein rechnerisch nicht möglich!)

— In der Masse schon.
Ich rechne trotz allem mit der Bereitschaft zum Teilen. Sie ist noch vorhanden. Sie wächst in dem Maße, in dem wirklich alle zum Teilen herangezogen werden, also mit der sozialen Gerechtigkeit. Sie wächst in dem Maße, in dem bewußt wird, was auf Westdeutschland zukommt, wenn es jetzt nicht zum Teilen bereit ist.
Die Ideologie des Marktes, die eilfertige Rücksichtnahme auf die Besserverdienenden und die Gefährdung des sozialen Friedens sind heute Ihre Markenzeichen. Sie gefährden den Einigungsprozeß. Die deutsche Einigung wird ohne Wahrhaftigkeit in der



Wolfgang Thierse
Problembeschreibung und ohne soziale Gerechtigkeit bei der Lösung der Probleme nicht gelingen. Allerdings bedarf es dazu des Mutes, der — um eine berühmte Gedichtszeile von Ingeborg Bachmann zu variieren — Tapferkeit vor dem eigenen Volke. Die wünsche ich Ihnen und uns allen.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209129200
Das Wort hat der Abgeordnete Schmidt (Fürth).

Christian Schmidt (CSU):
Rede ID: ID1209129300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da stehe ich nun und will auf den Text — Thema der Aktuellen Stunde —, zu der Forderung nach einer neuen Außenpolitik antworten und habe nur noch auf Herrn Dreßler zu warten, der zu diesem Thema möglicherweise Vorstellungen der Opposition darbieten will.

(Zurufe von der F.D.P.: Das kann der auch!)

Ich weiß nicht, ob das der Fall ist. Mir ist nicht bekannt, daß Herr Dreßler die Außenpolitik übernimmt. Sofern das aber Herr Thierse getan haben sollte, will ich doch am Stichwort der Problemlösungskompetenz noch einen Augenblick verweilen.
Problemlösungskompetenz — das größte Problem bzw. die größte Herausforderung deutscher Außenpolitik war bis vor kurzem die Wiedererlangung der deutschen staatlichen Einheit. Bei dieser Problemlösungskompetenz war nicht nur im Jahr 1990 ein dramatisches Versagen einer großen demokratischen deutschen Partei festzustellen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Jawohl! Die SPD! — Widerspruch bei der SPD)

Hier liegen erhebliche Ursache für manche Verdrossenheit.

(Zurufe von der SPD: Unwahr!)

— Wir brauchen uns doch nur vorzustellen, was gewesen wäre, wenn Herr Lafontaine mit der historischen Chance der Vereinigung hätte umgehen müssen.
Damit Sie aber hören, welche Probleme nun auf der Tagesordnung stehen, bitte ich Sie, meinen Ausführungen zu folgen. Es gibt durchaus neue Probleme, die auch neue Lösungen erfordern. Die dazu erforderliche Problemlösungskompetenz wird von dieser Koalition aufgebracht werden, und zwar in ihrer Gesamtheit.
Die Einigung Europas — auf dem währungspolitischen Sektor vorangetrieben — bedarf einer Ergänzung im Rahmen der politischen Union. Nach wie vor gilt, daß wir in das westliche Bündnis eingebunden sind, das EG und NATO unsere Stabilitätsanker sind. Des weiteren gilt aber auch, daß unser Land nur in dieser Integration einen nachhaltigen Beitrag zur Verbesserung der Lage in Osteuropa schaffen kann. Wir sind klug beraten, wenn in Zukunft deutlich gemacht wird, daß unser außenpolitischer Handlungsspielraum als nationaler Staat begrenzt ist und wenn sich auch die Forderungen im Innern im Rahmen des Möglichen und Machbaren halten.
Fatal wäre es, Vorstellungen und Hoffnungen zu wecken, ohne diese Schecks einlösen zu können. Absicherung des deutschen Interesses nach Stabilität und wirtschaftlicher Prosperität in Europa kann nur durch gemeinsames Handeln erfolgen. Gar nicht zu reden von der sicherheitspolitischen Notwendigkeit, im Bereich des Auftrags der Bundeswehr, der NATO, der europäischen sicherheitspolitischen Integration und der Vereinten Nationen auch von der Opposition staatspolitische Verantwortung zu fordern, so daß sie dort zustimmt, wo Zweitdrittelmehrheiten notwendig sind. Sie kennen die Problematik genau.

(Zurufe von der SPD)

Natürlich muß der Blick über Europa hinaus gerichtet werden, beispielsweise nach Asien. Die globale Situation verlangt tatsächlich, daß stärkerer bilateraler Kontakt mit Japan gesucht wird.

(Zurufe von der SPD)

— Ja, ich versuche Sachpolitik darzustellen. (Beifall bei der CDU/CSU)

Ich habe doch richtig verstanden, daß Fragen nach Politik gestellt worden sind und daß wir Antworten geben sollen? Und die geben wir doch wohl!

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deutsches Interesse verlangt, über eine Steigerung der Präsenz auch in der südostasiatischen Wirtschaftszone nachzudenken. Das ist für mich ein sehr wichtiger Punkt. Und natürlich muß auch der, wenn auch durchaus kritische, Dialog mit China fortgesetzt werden.

(Anhaltende Zurufe von der SPD)

Einer der wesentlichen Punkte ist auch die regionale Entwicklung im südlichen Afrika, wenn Afrika überhaupt noch eine Option für die Zukunft haben soll.
Diskussionen über neue Ziele und Formen der Außenpolitik, die stattgefunden haben und die zwangsläufig nach diesem markanten personellen Einschnitt in der deutschen Außenpolitik stattfinden müssen, sind somit heute ein Zeichen der Lebenskraft der Koalition in Sachfragen und nichts anderes.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209129400
Das Wort hat der Abgeordnete Rudolf Dreßler.

Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID1209129500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir eine Vorbemerkung, sozusagen als Warnung für Herrn Waigel: Soeben hat der F.D.P.-Abgeordnete Weng vor dem Hohen Hause erklärt, die F.D.P. stehe nach ihrer Beschlußlage einstimmig an der Seite von Waigel. Ich möchte Herrn Waigel daran erinnern, daß das F.D.P.-Präsidium vor ein paar Tagen auch einstimmig an der Seite von Irmgard Schwaetzer stand, als sie noch Außenministerin werden sollte.

(Heiterkeit bei der SPD)




Rudolf Dreßler
Herr Weng, mir Ihren Versprechungen ist das so eine Sache. Sie bergen gewissermaßen ein Stück Drohpotential in sich.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Meine Damen und Herren, der Regierung allein den Vorwurf zu machen, sie betreibe eine falsche Politik, wäre nicht die Wahrheit. Sie betreibt, wie festgestellt wurde, in vielen Bereichen überhaupt keine Politik. Es herrscht Stillstand. Die Regierung beschäftigt sich mit sich selbst, sie ist gestaltungsunfähig.
Anlaß für diese Aktuelle Stunde ist die Konzeptionslosigkeit der Regierung, ob auf den Feldern der Gesellschaftspolitik, der Wirtschafts-, der Finanz-, der Sozial- oder der Gesundheitspolitik. Wir stehen — das ist übereinstimmende Auffassung — vor gewaltigen Problemen. Dem verfassungsmäßigen Auftrag, diese Probleme gemeinsam mit dem Parlament zu lösen, zeigt sich die Regierung nicht gewachsen. Nein, sie entzieht sich — wie wir sehen — diesem Auftrag.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

In allen wesentlichen Zukunftsfragen ist sie inhaltlich zerstritten; sie ist gelähmt durch parteipolitische Rankünen, ausgelaugt, ohne politische Führung. Einst gestartet mit dem hochmütigen Anspruch einer geistig-moralischen Erneuerung, ist das Regierungsbündnis offenkundig politisch am Ende oder — wie es die „Süddeutsche Zeitung" in dieser Woche formulierte — „verrottet bis ins Mark".

(Beifall bei der SPD)

Der Bundeskanzler, meine Damen und Herren, kündigte eine Kabinettsumbildung an, und dann fand deren erster Teil auch tatsächlich statt, allerdings ohne ihn! Seine Rolle beschränkte sich auf die des politischen Weisungsempfängers. Ich darf Ihnen mitteilen, daß ich das nicht für Führung halte. Übrigens steht das auch nicht in der Verfassung unserers Staates.

(Zuruf von der SPD: So ist es!)

Nun hat der Finanzminister gestern versucht, durch eine haushalts- und finanzpolitische Rahmenvorgabe den Eindruck zu erwecken, als wäre die Regierung dabei, sich endlich wieder auf ihre Aufgaben zu besinnen und ihre Zerstrittenheit zu überwinden. Die Absichtserklärung, meine Damen und Herren, das Haushaltswachstum in den nächsten Jahren auf 2,5 % zu begrenzen, bleibt allerdings eine leere Hülse, solange jede inhaltliche Festlegung fehlt, wie diese Absicht denn verwirklicht werden soll. Noch nicht einmal die Mitglieder des Bundeskabinetts nehmen allerdings diese Ankündigung ernst. Herr Möllemann — nicht erst seit seinem gescheiterten Versuch zum Subventionsabbau dem Grundsatz „Was schert mich mein Geschwätz von gestern?" verpflichtet — läßt verlauten, die 2,5prozentige Steigerung gelte natürlich nicht für jeden Einzeletat. Er meint dabei natürlich vor allem seinen eigenen. Man fragt: Wer hat denn nun recht, Waigel oder Möllemann? — Beide geben keine Antwort.
Herr Blüm, dem der Finanzminister die Zuweisungen an die Bundesanstalt für Arbeit kräftig streichen
will — das wären 1993 voraussichtlich über 8 Milliarden DM —, forderte statt dessen gestern eine Erhöhung seines Haushaltes um 7,9 %; das wären 6 Milliarden DM. Sage und schreibe über 14 Milliarden DM liegen also zwischen den Auffassungen der Herren Waigel und Blüm. Wie wollen Sie das auflösen, Herr Blüm? — Wir haben keine Antwort. Das Rednerpult steht für Sie zur Verfügung.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Was ist mit dem Wohnungsbau? — Das einzige, was sich dort nach oben bewegt, sind die Mieten. 600 000 neue Wohnungen brauchen wir jährlich, um der Wohnungsnot wenigstens langfristig erfolgreich zu begegnen. 317 000 Wohnungen wurden 1991 fertiggestellt. Wie will Frau Schwaetzer diese Lücke unter Einhaltung der 2,5 %igen Begrenzung der Steigerung für den Bundeshaushalt füllen? — Abermals keine Antwort.
Die Rahmenvorgabe des Finanzministers, die als taktischer Schachzug gedacht war, offenbart lediglich erneut die Zerstrittenheit der Koalition; denn jede genauere inhaltliche Festlegung von Herrn Waigel hätte den mühsam verdeckten Streit in der Koalition abermals offen entzündet.
Es mag ja sein, daß die Einschränkungen der gesetzlichen Leistungen, die Sie planen, nicht Haushaltssicherungsgesetz heißen werden; gleichwohl wird es ein solches sein. Ich frage Sie: Warum führen Sie die Öffentlichkeit erneut hinters Licht?

(Beifall bei der SPD)

Auch Ihre Existenzangst, die Sie von der Koalition erfaßt hat, rechtfertigt nicht ein abermaliges Täuschungsmanöver der deutschen Öffentlichkeit.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Uns schlottern die Knochen!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1209129600
Das Wort hat der Abgeordnete Scharrenbroich.

Heribert Scharrenbroich (CDU):
Rede ID: ID1209129700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin eigentlich davon ausgegangen, daß alle Parteien verstanden haben, welche Lektion ihnen die Protestwähler am 5. April erteilt haben. Wenn ich allerdings sehe, daß die Opposition, weil es einige Diskussionen in der Koalition gab, jetzt bereits scheinheilig nach der Handlungsfähigkeit der Bundesregierung fragt, dann glaube ich, daß Sie nicht verstanden haben, daß nicht nur die Regierung handlungsfähig ist, sondern dieses Parlament handlungsfähig bleiben muß. Wir tun uns keinen Gefallen damit, wenn wir dieses jetzt schon in Frage stellen.

(Detlev von Larcher [SPD]: Der Geißler macht schon unsere Vorschläge!)

(Vors i t z : Vizepräsidentin Renate
Schmidt)
Ich will auch zu dem Erscheinungsbild der F.D.P. etwas sagen. Wenn die Fraktion der F.D.P. und der Bundesvorstand dienstags eine andere Meinung als



Heribert Scharrenbroich
das Präsidium äußern, dann halte ich das zunächst für einen sehr demokratischen Vorgang.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Diejenigen, die ihre Autorität überschätzt haben, waren das Präsidium der F.D.P.. Aber ich halte es für ausgesprochen vorbildlich, daß eine Fraktion ganz klar sagt: Wir lassen uns nicht alles vorschreiben. Wir bitten, daß sich die Führung nach uns richtet.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Das würde der SPD nie einfallen! — Rudolf Dreßler [SPD]: Herr Scharrenbroich, wann hören wir Ihre Stimme in der CDU/CSU-Fraktion?)

— Wir haben die Vorschläge des Finanzministers in der Fraktion über fünf Stunden lang diskutiert.

(Rudolf Dreßler [SPD]: Ja, und dann habt ihr sie bejubelt! Das dicke Ende kommt noch!)

Ich komme zu dem Ergebnis, daß Ihre Frage nach den Finanzproblemen so nicht richtig ist.

(Rudolf Dreßler [SPD]: Ach ja!)

Wenn Sie feststellen, daß die Ausgaben des Bundes in den 80er Jahren um 2,5 % gestiegen sind, aber die Länder — da haben wir doch, wie ich erfahren habe, mehrere sozialdemokratisch regierte Länder —

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Zu viele!)

eine Ausgabensteigerung von 3,2 % haben, dann empfehle ich den Sozialdemokraten: Kehrt vor den Türen eurer Landesregierungen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich stelle fest, daß der Schuldenanteil am Bruttosozialprodukt— das ist doch die entscheidende Frage — im Jahre 1989 21,8 % betrug und im Jahre 1992 nach der Haushaltsplanung nur noch 20,5 % beträgt.

(Rudolf Dreßler [SPD]: Also keine Probleme? — Eike Ebert [SPD]: Wie ist es mit den Schattenhaushalten?)

Die Finanzlage ist schwierig

(Zurufe von der SPD)

— wir sollten ehrlich miteinander umgehen —, aber überhaupt kein Anlaß, jetzt nach der Handlungsfähigkeit der Regierung zu fragen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Lachen bei der SPD — Rudolf Dreßler [SPD]: Kein Problem?)

Handlungsfähigkeit der Regierung — da fällt mir der Juni oder Juli 1982 ein, wo der Bundeskanzler Helmut Schmidt vor der sozialdemokratischen Fraktion sagte: Ihr wollt mir nicht folgen, wenn ich jetzt in das soziale Netz reinschneiden muß, und ihr wollt die Schulden weiter erhöhen. — Das war Handlungsunfähigkeit! So weit sind wir überhaupt nicht.
Frau Matthäus-Maier hat sich eben beschwert, daß nicht genügend Kürzungsvorschläge gemacht worden sind. Also der Finanzminister, der Bundeskanzler brauchen überhaupt nicht in das soziale Netz hineinzuschneiden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir haben damals einen Haushalt übernommen, in dem 50 Milliarden DM Schulden drohten. Wir haben das saniert, und wir werden auch jetzt wieder so verfahren.
Meine Damen und Herren, wenn diese Aktuelle Stunde überhaupt einen Sinn hat, dann den — und das möchte ich zum Schluß sagen —, um den Rentnern ganz klar zu sagen, daß von einer Rentenkürzung überhaupt keine Rede ist.
Wir hatten Konsens bei Koalition und SPD

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Und Herr Bötsch? — Detlev von Larcher [SPD]: Herr Bötsch und Herr Geißler, die haben Konsens!)

in der Rentenreform 1992.

(Erneute Zurufe von der SPD)

— Der Bundesfinanzminister und der Bundeskanzler haben ganz klar gesagt: Die Renten werden nicht gekürzt. Ich bitte Sie jetzt wirklich: Hören Sie doch auf, die alten Menschen weiter zu verunsichern!

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Rudolf Dreßler [SPD]: Haben wir nicht gesagt! Haben die gesagt; aus deiner Organisation kommt das doch!)

Wir haben einen niedrigen Beitragssatz und trotzdem eine Rücklage von 2,7 Monatsausgaben. Und vor allen Dingen — das erscheint mir sehr wichtig —: Die alten Menschen, die jetzt Rentner sind, haben Lasten getragen wie wohl hoffentlich keine Generation mehr. Deswegen sollte man aufhören, sie zu verunsichern.
Sagen Sie den Rentnern in den jungen Bundesländern: Nach der Rentenerhöhung im Sommer 1992 sind die Renten in Ostdeutschland doppelt so hoch wie am Tage der Wiedervereinigung! — Ich glaube, das ist eine gute Botschaft. Die sollten wir überbringen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209129800
Nun hat das Wort die Kollegin Dr. Gisela Babel.

Dr. Gisela Babel (FDP):
Rede ID: ID1209129900
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es kann bezweifelt werden, ob eine Aktuelle Stunde für die Opposition der richtige Zeitpunkt ist, ihre tiefgreifende Kritik auch wirklich auszumalen. Das ganze läuft ein bißchen in Stakkato, und selbst die brillanten Redner der Fraktion kommen ein bißchen ins Gedränge, habe ich den Eindruck.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Herr Dreßler, Sie beherrschen ja nun die Kunst, nicht genau hinzuhören und zu lesen. Ich darf Sie daran erinnern, daß das, was in der F.D.P.-Fraktion vorging, eine Abstimmung, ein Wahlvorgang über einen Vorschlag war. Daß man in einer Fraktion Wahlen auch verlieren kann, werden auch Sie nicht bestreiten können. Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.

(Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Daß der Opposition nun die Themen ausgehen, zeigt sich schon daran, daß sie Sonntagsäußerungen prominenter Koalitionsvertreter als Anlaß nimmt.



Dr. Gisela Babel
Sieht man sich nun diese Äußerungen an, so kann man feststellen, daß einige ganz unbestritten richtig sind. Es sollte doch wohl unstrittig sein, daß Patienten nicht über das Wochenende im Krankenhaus zu behalten sind, um Krankenhausbilanzen zu schönen. Oder es ist sicher auch unstrittig, daß wir Mißbräuche beim Bezug von Arbeitslosengeld vermeiden wollen.
Die Forderung, die Zumutbarkeit bei Arbeitslosigkeit streng zu regeln, ist eine populäre Forderung. Wir haben in mehreren Koalitionsarbeitsgruppen, auch in der vergangenen Legislaturperiode, dieses Thema ausführlich diskutiert. Dabei wurde deutlich, daß weniger die Verschärfung der gesetzlichen Regelung, sondern stringente und einheitliche Handhabung des geltenden Rechts das entscheidende Problem ist. Ich hoffe, daß die Bundesanstalt für Arbeit — wie zugesichert — dem auch nachkommt.
Entschieden muß man sich dagegen wehren, daß gesagt wird, es sei eine große Zahl von Arbeitslosen, die das soziale Netz ausnutzten.
Hinsichtlich der Renten darf ich daran erinnern, daß wir hier über alle Parteien hinweg in den vergangenen zwei Jahren einen breiten Konsens bei ganz wichtigen rentenpolitischen Entscheidungen hatten.

(Zuruf von der SPD: Ich denke, wir blockieren immer!)

— Nein. Ich will ganz ausdrücklich sagen, daß Sie bei den Renten nicht blockieren und daß wir das immer anerkannt haben und für sehr gut halten.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Der Ordnung halber sei darauf hingewiesen, daß dabei Fehlentwicklungen im sogenannten Fremdrentenrecht, also auch bei Aussiedlern, beseitigt wurden.
Für meine Fraktion erkläre ich ausdrücklich, daß wir weiter zum Rentenkonsens stehen und daß wir hoffen, daß sich in diesem Hause daran auch nichts ändern wird.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich weiß, daß es in den neuen Bundesländern angesichts der jetzt geltenden Bestimmungen beim Rentenüberleitungsgesetz weitergehende Wünsche gibt. Bei allem Verständnis für diese Wünsche weise ich darauf hin, daß es in den neuen Bundesländern keine Rentenleistungen geben darf, die über denen liegen, die heute im westlichen Bundesgebiet maximal zu erreichen sind. Die breite Mehrheit in diesem Hause hat die Renteneinheit gewollt, und dazu stehen wir.
Wir begrüßen ausdrücklich die Klarstellung des Bundesfinanzministers, daß die Bundeszuschüsse zur Rentenversicherung nicht gekürzt werden

(Rudolf Dreßler [SPD]: Das kann er doch gar nicht! Frau Babel, das kann er doch gar nicht mehr!)

— Moment, aber es gab Vorschläge — und diese, wie beschlossen, voll ausgezahlt werden.

(Rudolf Dreßler [SPD]: Nun wollen wir doch mal ehrlich bleiben!)

— Ich habe nicht gesagt, daß er die Zuschüsse kürzt, sondern daß sie nicht gekürzt werden sollen.
Die vorgestern gefaßten Beschlüsse, im Haushalt 1993 die Zuschüsse für die Bundesanstalt für Arbeit zu streichen, sind nicht leicht umzusetzen

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Was sind sie?)

— sie sind nicht leicht umzusetzen —, Herr Bundesarbeitsminister.

(Rudolf Dreßler [SPD]: Hört! Hört!)

Der Bundesarbeitsminister, der dieses voll mitträgt, wird sicher konkrete Vorschläge in der Tasche haben, die eine sinnvolle Konzentration der Leistungen nach Priorität erlauben.
Wenn die Opposition heute den Vorwurf wiederholt, die Beitragszahler hätten die Kosten der deutschen Einheit zu tragen, überrascht mich das nicht.

(Rudolf Dreßler [SPD]: Das ist auch die Wahrheit!)

Eher hätte mich das Gegenteil überrascht.

(Rudolf Dreßler [SPD]: Nichts ist erregender als die Wahrheit!)

Aber wenn wir eine einheitliche, solidarische Absicherung gegen Arbeitslosigkeit im gesamten Bundesgebiet haben, so ist es systemgerecht, daß auch die Lasten des gesamtdeutschen Arbeitsmarktes gemeinsam bewältigt werden, zumal die Sozialversicherung von dem einigungsbedingten Aufschwung auch durch Pendler und Übersiedler profitiert hat.

(Rudolf Dreßler [SPD]: Frau Babel, Sie bringen die Arbeitgeberverbände in Harnisch mit dem, was Sie da sagen!)

Die Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. hat vorgestern vor dem Hintergrund der gewaltigen finanziellen Aufgaben und Transferleistungen, die die Herstellung der deutschen Einheit mit sich bringt, noch einmal nachhaltig die Notwendigkeit der Konsolidierung der öffentlichen Finanzen bekräftigt. Dies ist nicht nur aus finanzpolitischen und wirtschaftspolitischen, sondern auch aus sozialen Gründen unerläßlich.

(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.])

Nur so können wir rezessiven Tendenzen widerstehen und das für den Wiederaufbau in Ostdeutschland und das wirtschaftliche Zusammenwachsen in ganz Deutschland notwendige Florieren unserer Wirtschaft sichern.
Ich komme mit zwei kurzen Bemerkungen noch zur Außenpolitik.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209130000
Aber wirklich nicht — —

Dr. Gisela Babel (FDP):
Rede ID: ID1209130100
Lieber wirklich nicht. — Frau Präsidentin, ich schließe.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)





Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209130200
Nun hat der Kollege Dietrich Austermann das Wort.

Dietrich Austermann (CDU):
Rede ID: ID1209130300
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unterstellt, die Aktuelle Stunde wäre eine aktuelle Fragestunde gewesen, dann wäre es denkbar, daß man das, was Sie dort in Form einer Aussage erklären wollten, in verschiedenen Fragen formuliert hätte. Diese Fragen lassen sich eindeutig mit Nein beantworten.
Zur ersten Frage. Es gibt keine neue Außenpolitik, und zwar deshalb, weil die Regierung bisher Gesamtverantwortung für die Außenpolitik getragen hat und weil es keinen Grund gibt, sie zu ändern.
Zur zweiten Frage. Es gibt keine ungeklärten Finanzprobleme. Selbst Frau Matthäus-Maier erzählt jeden Tag, wie hoch bestimmte Ausgaben geworden sind. Sie weiß ganz genau, wie die Zahlen liegen. Der Bundesfinanzminister hat am vergangenen Dienstag letzte Klarheit gegeben.

(Detlev von Larcher [SPD]: Da haben Sie ja gehört, wie klar das war!)

Zur dritten Frage. Es gibt keine Kürzung der Renten — selbstverständlich nicht. Es gibt auch keine Kürzung der anderen sozialen Leistungen.

(Rudolf Dreßler [SPD]: Beifall bei der CDU/ CSU?)

Dann könnte man natürlich noch die Frage stellen: Wie sieht es denn nun mit der Führungsfähigkeit aus?

(Rudolf Dreßler [SPD]: Traurig, traurig!)

Daraus sollten ja bestimmte Schlüsse gezogen werden.
Ich sage: Die SPD, die nicht einmal in der Lage ist, in wesentlichen Fragen der deutschen Nation gemeinsame Positionen zu vertreten,

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

ist wohl kaum berechtigt, der Regierung vorzuwerfen, sie führe nicht richtig. Wie ist denn die gemeinsame Position in Sachen Asyl, in Sachen NATO, in Sachen Europa, in Sachen Rente und in Sachen Osthilfe? Hier sitzt Frau Hildebrandt als sichtbares Zeichen dafür, daß es im Bundesrat am 14. Februar dieses Jahres äußerst unterschiedliche Positionen gab: auf der einen Seite die Ostländer und die CDU und auf der anderen Seite die Westländer; Engholm auf der einen Seite, Stolpe auf der anderen. In welcher Frage gibt es denn übereinstimmende Positionen in der SPD?

(Rudolf Dreßler [SPD]: Was hat das mit den Renten zu tun?)

Meine Damen und Herren, die Unredlichkeit beginnt dann, wenn versucht wird, die Schulden der öffentlichen Hand insgesamt mit den Schulden der Bundesrepublik gleichzusetz en und daraus persönliche Vorwerfbarkeit gegenüber der Regierung abzuleiten. Das erinnert ein bißchen an Annoncen, die es früher in der Zeitung gab, wenn undankbare Ehemänner inserierten: Ich komme für die Schulden meiner Frau nicht mehr auf. — So verhalten Sie sich, wenn Sie
sagen: Wir kommen für die Schulden nicht auf, die durch den Einigungsprozeß bedingt sind.

(Eike Ebert [SPD]: Sie sollten sich schämen, hier so etwas von sich zu geben!)

Ein wesentlicher Teil der neuen Schulden, die in den letzten zwei Jahren gemacht worden sind und bis Ende 1992 gemacht werden, sind ausschließlich bedingt durch die Situation in den neuen Bundesländern und die vorausgehende falsche Politik dort über 40 Jahre hinweg. Betrachtet man die Situation ernsthaft, muß man feststellen, daß die Bundesrepublik ohne den Wiedervereinigungsprozeß in der Lage gewesen wäre, effektiv, netto, Schulden zurückzuzahlen. Das ist die Wahrheit des Kassensturzes. Das ist die Situation aus dem Jahr 1989. Die ist ganz klar.
Nun will ich nicht leugnen, daß die Bürger beunruhigt sind, weil sie befürchten, daß in nächster Zeit Opfer gebracht werden müssen. Dazu habe ich etwas gesagt.
Soziale Einschnitte wird es nicht geben.
Berechtigte Kritik an den hohen Zinsen ist sicher angebracht. Allerdings muß man feststellen, daß die Zinsen bereits vor dem Wiedervereinigungsprozeß in die Höhe gegangen sind.
Berechtigte Kritik an der Inflationsrate kann natürlich nur der üben, der durch sein Gerede nicht dazu beiträgt, daß die Forderungen steigen und damit die Risiken für den Staatshaushalt in die Höhe getrieben werden.
Wie falsch die weitergehenden Sorgen sind, wird an wenigen Punkten aus diesem Jahr deutlich.
Wenn wir in diesem Jahr entschieden haben, die Familien um 7 Milliarden DM zu entlasten, die Betriebe im nächsten Jahr, was im Interesse der Arbeitnehmer liegt, um 4,4 Milliarden DM zu entlasten, die Wohnungsbauer stärker zu unterstützen, wenn wir den Rentenversicherungsbeitrag abgesenkt haben, den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung abgesenkt haben und wenn am 1. Juli die Solidarabgabe abgeschafft wird — um 10 Milliarden DM werden die Bürger entlastet —, gibt es doch keine Veranlassung, die Behauptung aufzustellen, wir schlitterten in eine Situation, in der das, was der Staat zu verantworten habe, nicht mehr zu bezahlen sei.
Wir haben in der Fraktion der CDU/CSU in dieser Woche ganz klare Feststellungen getroffen. Dies läßt sich in wenigen Stichworten deutlich machen.
Die Konsolidierung wird konsequent weitergeführt, Steuererhöungen sind nicht zu erwarten, Forderungen des Auslands wird entschiedener begegnet, die Neuverschuldung wird konsequent zurückgeführt, die Maßnahmen zur Entlastung der Wirtschaft werden fortgesetzt, reale Einkommenssteigerungen wird es vorläufig nicht geben können; wir arbeiten für sinkende Zinsen, steigenden Geldwert und steigendes Wachstum.

(Detlev von Larcher [SPD]: Aber fruchtlos!)

Die SPD stand beim Thema Wiedervereinigung im Abseits. Sie hat inzwischen, was die gesamtdeutsche Solidarität betrifft, das Spielfeld gänzlich verlassen.



Dietrich Austermann
Sie mag bei Forderungen und Ansprüchen die Regierung übertreffen,

(Rudolf Dreßler [SPD]: Die Redezeit ist abgelaufen!)

in Sachen Sparen — das begann mit der Rede von Herrn Klose und zog sich dann über alle anderen Redner der Opposition weiter fort — ist kein einziger konkreter Vorschlag gekommen, kein einziger alternativer Punkt.
Meine Damen und Herren, die gegenwärtige Situation enthält selbstverständlich Risiken, aber gleichzeitig auch eine großartige Chance, Prioritäten neu zu setzen. Es geht nicht darum, einfach an das alte Haus Bundesrepublik einen Anbau rauszuklatschen. Wir bauen ein neues Haus, in dem jeder seinen Platz finden muß.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209130400
Jetzt aber ganz schnell mit dem Haus.

Dietrich Austermann (CDU):
Rede ID: ID1209130500
Das neue Haus wird schneller fertig und schöner als das alte, wenn alle ihre Aufgaben wahrnehmen, auch die Opposition.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209130600
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 und den Zusatzpunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd Andres, Hans Büttner (Ingolstadt), Konrad Gilges, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Sofortmaßnahmen zur Arbeitsmarktpolitik — Drucksache 12/2212 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Frauen und Jugend
Haushaltsausschuß
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG-Änderungsgesetz)

— Drucksache 12/1985 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Frauen und Jugend
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Debatte zwei Stunden vorgesehen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste hat Frau Ministerin Hildebrandt das Wort.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1209130700
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muß Ihnen gestehen: Ich bin hier ein bißchen hilflos.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Nicht nur hier!)

Ich komme, wie Sie wissen, aus den Ostländern, gestern noch in Sachsen, sonst immer in Brandenburg. Ich komme mit dem Auftrag aus Krisenregionen, heute im Bundestag, wenn hier über die Finanzierung von Arbeitslosigkeit und das Schaffen neuer Arbeitsplätze diskutiert wird, unsere Interessen zu artikulieren, bei Ihnen Verständnis für die Situation zu erzeugen, zu erzählen, wie es dort wirklich ist, damit das Ausmaß des Zusammenbruchs begriffen wird. Nun gucken Sie einmal, wer hier ist, wer von der Regierung da ist und wer von den Abgeordneten da ist.

(Lebhafter Beifall bei der SPD, bei der PDS/ Linke Liste und beim Bündnis 90/GRÜNE)

Es ist wirklich zum Verzweifeln, wenn man bedenkt, daß in diesem Parlament die Weichen für politische Entscheidungen gestellt werden, daß hier Mittel verteilt werden, Konzepte für die Beherrschung der Situation im Osten gemacht werden.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209130800
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1209130900
Ja, bitte schön.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1209131000
Darf ich Sie fragen: Wäre das nicht auch ein wichtiges Thema für die Bundesländer? Wo sind denn die Vertreter der Bundesländer heute bei dieser Debatte?

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1209131100
Ich bin hier

(Dr. Wolfang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Einmal im Leben!)

— zum erstenmal im Leben, in der Tat; denn auch wir haben wirklich wahnsinnig viel zu tun.
Aber das ist ein maßgebliches Problem, das erst einmal hier angegangen werden muß. Es geht jetzt um die Kürzungen, von denen hier die Rede ist. Sie haben es doch gehört: Jetzt wird der Zuschuß für die Bundesanstalt für Arbeit gestrichen. Doch wie soll es dann weitergehen und mit wem? Das ist doch zum Verzweifeln! Erst einmal sollen die Regierung und die Mitglieder des Parlaments hier anwesend sein; um den Bundesrat kümmern wir uns schon.

(Beifall bei der SPD)

Für mich ist das Problem deswegen so bedrückend, weil Sie die Zahlen seit geraumer Zeit kennen. Es häuft sich ein Bericht über den anderen.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Ihr Gejammer kennen wir auch!)

— Ja, klar, bloß, dann tun Sie doch etwas!

(Beifall bei der SPD — Dr. Alexander Warrikoff [CDU/CSU]: Vorschläge! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Dann machen Sie doch auch einmal etwas!)




Ministerin Dr. Regine Hildebrandt (Brandenburg)

— Deswegen bin ich ja hier. Aber die Frage ist, ob ich nicht lieber in Brandenburg sein sollte, wo heute der Kanzler ist; dann hätte ich ihm das einmal direkt berichten können.

(Dr. Alexander Warrikoff [CDU/CSU]: Nur Polemik bisher! Bringen Sie einmal Vorschläge!)

— Nur Polemik? Ich sage Ihnen: Aus CDU-regierten Ländern, z. B. aus Sachsen, habe ich diesen Auftrag mitgebracht. Und damit Sie wissen, was Polemik ist: Dort ist mir erzählt worden — in der DDR, um Dresden herum, gab es ein Tal der Ahnungslosen, weil sie dort kein West-Fernsehen empfangen konnten —, nun haben sie den Eindruck, es gibt wieder ein Tal der Ahnungslosen: um Bonn herum.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Zuruf von der CDU/CSU: Vorschläge wollen wir hören! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Unverschämtheit! Entschuldigen Sie, ich wollte mich auf eine solche Basis überhaupt nicht begeben, weil ich es für unwürdig halte, daß man zu einem für CDUund SPD-regierte Länder existentiell bedrohlichen Problem nicht die Ohren aufsperrt und wirklich hinhört. (Zuruf von der CDU/CSU — Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Wir sind bereit, wir hören ja zu!)


(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Kommen Sie wenigstens einmal herüber! Gehen Sie wenigstens einmal in einen Betrieb!

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Wir sind dauernd da!)

Ich möchte Ihnen zum Anfang ein kleines Beispiel von einem Fliesenwerk im Norden Brandenburgs, Karlstedt, erzählen, damit Sie die Lage dort ungefähr kennen: In einer Situation wo der Bauboom kommen soll, würde man denken, daß man Fliesen braucht, daß es mit dem Betrieb aufwärts gehen muß. Die vorhandenen Technologien sind früher importiert worden und sind auf Weltniveau. Die Verhandlungen zur Privatisierung bei der Treuhand laufen so, daß man auf den französischen Investor ein Jahr wartet, er dann ungünstigerweise absagt. Jetzt ist dieser Betrieb in Liquidation. Er hat beste Technologie, ein Brennofen fehlt, und es wird nicht investiert. Und das in einer Gegend, wo auf Grund der Tatsache, daß es sich um einen ländlichen Raum handelt, die Arbeitslosigkeit ohnehin schon bei 30 % liegt, kommt nun auch der einzige Industriestandort zu Fall.
Wenn Sie dort durch die Hallen gehen, wo gute Technologie steht, zum Teil italienische Spezialmaschinen, und wenn Sie dann sehen, daß nicht gearbeitet wird, sondern liquidiert wird, dann können Sie doch verzweifeln.
Die Menschen kennen die Arbeitslosenzahlen; sie geht auf 20 % zu. Daß wir sie jetzt noch nicht haben, ist bloß eine Frage der zeitlichen Verzögerung. Die Frauenarbeitslosigkeit liegt jetzt schon bei über 20 %, während die der Männer bei etwas über 11 % liegt. Es ist eine Tatsache, daß der Anteil der Frauen an der Arbeitslosigkeit über 60 % beträgt. Die Frauen wollen arbeiten. Über 90 % haben gearbeitet, und sie wollen jetzt weiter arbeiten, aber es gibt keine Chancen für sie.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Damit wir in diesem Punkt klar sehen: Die Umverteilung der Arbeit ist so erfolgt, daß jetzt schon fast die Hälfte der Menschen vom Arbeitsmarkt verdrängt worden ist. Wenn wir alle zusammenzählen, auch die Empfänger von Altersübergangsgeld — das sind jetzt fast 1 Million in den fünfeinhalb neuen Ländern —, wenn wir daran denken, daß Pendler und Abwanderer verschwunden sind, wenn wir die Kurzarbeiter, diejenigen, die in ABM beschäftigt sind, und die in Fortbildung und Umschulung mitrechnen, haben wir in der Tat schon 40 % weg vom Arbeitsmarkt, in manchen Gegenden 50 % und mehr.

(Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) Nun ist die Frage: Wie gehen wir damit um?

Eines möchte ich noch zum Lebensstandard sagen, nur als Klarstellung: Das mittlere Arbeitslosengeld in Brandenburg im dritten Quartal des letzten Jahres lag bei 682 DM — im Monat, nicht daß Sie denken, in der Woche.

(Detlev von Larcher [SPD]: Davon kann man fürstlich leben!)

— Davon kann man fürstlich leben, in der Tat. Vor allen Dingen muß man da überlegen, wie man eventuell zur Einsparung von Mitteln auch noch das Arbeitslosengeld senkt. Das ist eine geniale Idee.

(Beifall bei der SPD)

Wie sieht es nun wirtschaftspolitisch aus? Wir haben Aufschwung-Ost-Mittel in einem wirklich großzügigen Maße zur Verfügung gestellt bekommen. Wie sind sie investiert und eingesetzt worden?
2,35 Milliarden DM Aufschwung-Ost-Mittel wurden für die regionale Wirtschaftsstruktur in Brandenburg eingesetzt. Davon wurden 16 900 neue Arbeitsplätze geschaffen, 35 000 erhalten. Wenn man es umrechnet, dann sind dies 140 000 DM an Zuschüssen für jeden erhaltenen Arbeitsplatz. Wenn wir die Arbeitslosigkeit auf die Art und Weise einigermaßen in den Griff kriegen wollen, sie nur um ein Viertel verringern wollen, dann brauchen wir für die fünfeinhalb neuen Länder 35 Milliarden DM. Das heißt also, auf diesem Weg können wir offensichtlich nicht in ausreichendem Maße Arbeitsplätze schaffen.
Die Frage ist also: Gibt es neue Wege? Gibt es hier nicht Experten, die in der Lage sind, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik zu kombinieren? Müssen erst die Ostler kommen, um Strukturförderungsprogramme



Ministerin Dr. Regine Hildebrandt (Brandenburg)

zu entwickeln, damit Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanziert wird?

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

In diesem Jahr gehen 22 Milliarden DM allein zur Finanzierung von Arbeitslosigkeit in den Osten. Ein Viertel, zum Teil schon ein Drittel der Menschen sind Langzeitarbeitslose, auch in den Ostländern. Sie wissen, was das für Probleme mit sich bringt. So geht es nicht.
Wir müssen hier mit den Erkenntnissen und auch im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten — das will ich ohne weiteres akzeptieren — wirklich nach neuen, effektiveren Wegen suchen.

(Zuruf von der CDU/CSU)

Haben Sie den Eindruck, daß die Zeit — die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion ist ja nun schon seit fast zwei Jahren in Kraft — genutzt worden ist?

(Zuruf von der SPD: Nein!)

— Nein. Denken Sie an den Treuhand-Auftrag. Immer noch geht Privatisierung vor Sanierung.

(Beifall bei der SPD)

Man hat fast den Eindruck eines sozialistischen Wettbewerbs. In der DDR mußte man nämlich immer alles abrechnen, abhaken und Berichte schreiben. Ich haben den Eindruck, die Treuhand muß jetzt auch privatisieren, so wie wir unseren sozialistischen Wettbewerb abgerechnet haben. Sie muß ein bestimmtes Soll schaffen. Wenn sie nicht an produzierendes Gewerbe verkaufen kann, dann muß sie eben die Immobilie vermarkten. Aber abgehakt ist abgehakt.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Die Treuhandanstalt ist immer noch dem Finanzministerium unterstellt, obwohl es sich um Wirtschaft handelt, obwohl das Wirtschaftsministerium vielleicht günstiger wäre. Aber nein, es geht um die Gewinnmaximierung. Damit können wir Strukturpolitik im Osten nicht machen.

(Beifall bei der SPD)

Jetzt aber zur Frage der Finanzen. Wenn Sie immer sagen, Finanzen sind nicht da, dann muß man sich doch fragen: Wo sind denn die Quellen, die man noch erschließen könnte? Wer finanziert denn letztlich die Einheit im Moment? Für einen Strukturumbruch ungeahnten Ausmaßes, für den natürlich das Arbeitsförderungsgesetz nicht andeutungsweise eingerichtet war, nehmen wir die Instrumentarien des Arbeitsförderungsgesetzes und lassen sie natürlich weitestgehend bezahlen von den Trägern der Arbeitslosenversicherung, von den Arbeitern und Angestellten und den Arbeitgebern. Die Frage ist doch: Wo bleiben denn die Besserverdienenden? Es handelt sich doch hier sichtbar nicht um die normale Arbeitslosenversicherungsleistung, sondern es handelt sich wirklich um die Bewältigung eines wirtschaftlichen Strukturumbruchs in einem Maße, wie wir ihn noch nicht hatten. Da müssen alle ran.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Da brauchen wir endlich die Arbeitsmarktabgabe von den Besserverdienenden, da brauchen wir sie von den Beamten, von den Selbständigen. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Verstehen Sie, wir können, nachdem wir großzügig mit den Maßnahmen begonnen haben, ABM praktisch nicht fortführen. Im letzten Jahr waren es 400 000; in diesem Jahr sind es 150 000. Wir können die ABM, die wir im vergangenen Jahr begonnen haben, in diesem Jahr nicht in gleicher Höhe fortführen. Da müssen wir schon sehr trickreich und mit den letzten Kompromissen, die unser Drängeln erwirkt hat, vorgehen, denn sonst geht nichts mehr. Das kann doch nicht sein!
Im vergangenen Jahr, als wir 10 % Arbeitslosigkeit hatten, sind diese Instrumentarien eingeführt worden. Jetzt haben wir 20 % Arbeitslosigkeit, und dann wird der Hahn zugedreht. Na, die Logik möchte ich einmal begreifen!

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

In dem Zusammenhang sei nur noch einmal darauf verwiesen, daß die Ankündigung von Waigel, die Bundesregierung werde der Bundesanstalt für Arbeit im nächsten Jahr überhaupt keine Zuschüsse mehr dazugeben, dann natürlich wie ein Blitz einschlägt. Das kann nicht sein, das darf nicht sein! Deswegen stehe ich hier und berichte es Ihnen und den leeren Bänken.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Und noch ein weiterer Punkt, bei dem ich wirklich um Ihr Verständnis bitte. Es geht um die Information über gewisse Dinge und die Wahrnehmung derselben. Bonn ist weit weg. Verschiedene Dinge kommen hier als Information, als Balkenüberschriften an und werden geglaubt.
Ich möchte Ihnen zwei Beispiele nennen: Bauboom. 17 000 Arbeitsplätze in der Bauwirtschaft drüben sind unbesetzt, weil alle in AB-Maßnahmen beschäftigt sind, dort behütet sind, bessere Löhne bekommen und angeblich nichts tun. Jetzt hat das Landesarbeitsamt Berlin/Brandenburg — ausgehend von dieser Information — 500 Baubetriebe bereist und festgestellt, daß in 500 Baubetrieben in Berlin/Brandenburg 600 Arbeitskräfte gebraucht werden. Davon ist aber auch nur die Rede, wenn das Arbeitsamt vorbeikommt; bei den normalen Arbeitsämtern hat nie jemand einen Bedarf angemeldet. Es stimmt nicht, daß es einen solchen Bauboom gibt. Die Mittel sind schon weg. Es stimmt auch nicht, daß die Arbeitskräfte dort fehlen, weil sie in AB-Maßnahmen beschäftigt sind.

(Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Warum machen Sie nichts? Sie haben doch Einfluß!)

Die Konkurrenz von ABM und Handwerk wird immer wieder beschworen. Der Bundesarbeitsminister hat eine Befragung durchgeführt. Er meldet mir Fälle; ich schicke eine Kommission hin. Er hat zehn Fälle zusammengestellt und seine Kommission in die Ost-Länder geschickt. Was ist herausgekommen?



Ministerin Dr. Regine Hildebrandt (Brandenburg)

Nicht ein einziger Fall von Mißbrauch konnte festgestellt werden. Entweder der Betrieb, dem angeblich geschadet werden sollte, existierte überhaupt nicht, oder es gab die ABM, die geschadet haben sollte, nicht, oder es stellte sich heraus, daß dort alles eigentlich einvernehmlich lief.

(Zuruf von der CDU/CSU: Liefern Sie die Fälle!)

Das wird auch noch als Argument dafür verwandt, um das ABM-Programm zu drücken. Man kann verzweifeln im Osten! Wir sind hier, um das zu erzählen.
Wir haben in Brandenburg seit geraumer Zeit Vergabe-ABM, eine Übereinkunft mit Handwerkskammern, Industrie- und Handelskammern und der Landesregierung, um gerade diesen Widersprüchen von Anfang an entgegenzutreten. Es nützt nichts. Seit dem vergangenen Jahr ist es so, daß jeder ABM beim Arbeitsamt von seiten der Handwerkskammer zugestimmt werden muß, sonst wird sie überhaupt nicht bewilligt. Trotzdem geht dieses Gerede vom Mißbrauch weiter.
Auf einen Arbeitsplatz, der angeboten wird, entfallen in Brandenburg 39 Bewerber. Jetzt können Sie sich ungefähr vorstellen, wie bei der Vermittlung von Arbeitskräften die Konkurrenz zu ABM aussieht. 39 Bewerber, und da sollen nun gerade die beiden, die in AB-Maßnahmen beschäftigt sind, die entsprechende Konkurrenz darstellen und sollen die Existenz des Handwerks gefährden. Bitte nehmen Sie bloß einmal diese Gesichtspunkte zur Kenntnis!
Ich möchte noch zwei Dinge klarstellen. Es ist notwendig, daß wir alle uns wirklich bewußt sind, daß eine neue Form von Solidarität nötig ist, um die Probleme zu bewältigen. Ich bitte Sie dringlich darum. Diese Solidarität ist notwendig. Ich möchte mich ausdrücklich für vielfältige Hilfe bedanken, die uns von Menschen zuteil wird, die in den Osten gekommen sind, die dort helfen, die dort arbeiten, die auch sehen, wie schwer es dort ist, und die sich entsprechend engagieren. Dafür möchte ich mich ausdrücklich bedanken.

(Beifall bei der SPD)

Aber das reicht noch nicht aus. Es müssen insgesamt neue Konzepte entwickelt werden. Es muß längerfristig Planungssicherheit geschaffen werden. Arbeitsmarktpolitik und Strukturpolitik müssen verzahnt werden. Deswegen müssen wir über Vorstellungen diskutieren, die auf dem Tisch liegen.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit den Antrag der SPD ausdrücklich befürworten. Die darin geforderte Verlängerung der Bezugsdauer des Altersübergangsgeldes bis zum Jahresende ist nötig. Wir bewerkstelligen sonst die Situation der älteren Bürger nicht. Die Probleme sind nicht beherrschbar zu machen ohne solche Regelungen.
Wir brauchen eine Erhaltung des ABM-Kontingents und Fortbildung und Umschulung in qualifizierter Art und Weise. Die Arbeitsförderung muß erhalten bleiben.
Darüber hinaus ist es notwendig, sich neue Instrumentarien zu überlegen: Unser Strukturförderprogramm, von der Landesregierung Brandenburg vor-
geschlagen, von der SPD-Fraktion aufgenommen und durchgearbeitet, haben wir in der Kanzlerrunde vorgestellt. Wir wollen 500 000 neue Arbeitsplätze schaffen, die der Bund lohnkostenfinanziert. Wir haben mit dem Programm nachgewiesen: Die Finanzierung von Arbeit ist billiger als die Finanzierung von Arbeitslosigkeit.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU] — Zuruf von der CDU/CSU: Haben wir doch!)

— „Haben wir doch!" Aber wir haben es auf dem Tisch.
Da möchte ich Ihnen schnell noch zum Abschluß sagen: „Machen wir doch", sagen Sie. Zweimal in der Ostministerpräsidentenrunde beim Kanzler hat unser Ministerpräsident Stolpe dieses Programm eingebracht. Beim zweiten Mal hat er erreichen können, daß zugesagt wurde: Es wird geprüft. Dann kam leider die Osterpause, und alle waren sie weg. Wir haben immer versucht, wenigstens einen Termin auszumachen. Mit viel Mühe haben wir, nachdem die Entschlackungskuren nun zu Ende sind,

(Heiterkeit bei der SPD)

erreichen können, daß jetzt zum 8. in der LudewigRunde, die ohnehin besteht, dieses Programm zum Thema gemacht wird. Also nun sagen Sie mir nicht: „Machen Sie mal etwas!" Was wir machen können, das tun wir. Aber es ist leider beschränkt, weil wir bloß eine Landesregierung sind.

(Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Warum läuft es dann in Sachsen besser?)

Meine Bitte ist nun zum Schluß noch, obwohl die Atmosphäre dafür sicher selbst bei denen, die hier sind, nicht günstig ist: Kommen Sie rüber, nehmen Sie sich einen Patenkreis im Osten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Haben wir!)

— Dann kennen Sie doch die Verhältnisse. Dann ist die Frage, wieviel Wirtschaftsförderung Sie da schon bewirkt haben. Das ist ja auch wie im Osten. Da hatten wir auch einmal im sozialistischen Wettbewerb Patenschaften. Sie müssen etwas tun! Sie müssen dasein und müssen etwas ändern!

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Zuruf von der CDU/CSU: In meinem Patenkreis ist in den letzten zwei Jahren mehr passiert als in den zehn Jahren vorher!)

Zum Abschluß möchte ich noch sagen: Wir versuchen in den Ostländern zu tun, was wir können, um tatsächlich den Menschen die Situation überhaupt überlebbar zu machen. Ich möchte Sie dringend bitten, daß Sie hier, wo viele Weichen gestellt werden für die Dinge, die uns nachher die Grenzen setzen oder die Möglichkeiten eröffnen, dies wirklich annehmen. Noch einmal: Mehr in den Osten gehen, sehen, was dort los ist, und die Weichen hier entsprechend stellen, die Bundesregierung — in Klammern: nicht vorhanden oder wenig vorhanden — und die Abgeordneten.



Ministerin Dr. Regine Hildebrandt (Brandenburg)

Danke.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209131200
Als nächster hat das Wort der Kollege Julius Louven.

Julius Louven (CDU):
Rede ID: ID1209131300
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Minister Hildebrandt, das war schon starker Tobak, den Sie hier abgelassen haben,

(Zuruf von der SPD: Das war die Wahrheit!)

und ich wundere mich, warum Ihre Fraktion Sie für diese Rede so feiert. Wenn Sie hier sagen, in Bonn seien Politiker im Tal der Ahnungslosen, dann muß ich Ihnen sagen: Sie zählen mit Sicherheit dazu.

(Zuruf von der SPD: Das war ein Zitat!)

Sie haben hier die Unverschämtheit besessen, zu sagen, wir hörten nicht zu. Ich weiß überhaupt nicht, wieso Sie zu dieser Frechheit kommen. Ich habe Ihnen sehr aufmerksam zugehört und sicherlich die hier anwesenden Kollegen auch.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Aber gelohnt hat es sich nicht!)

Wenn Sie sagen, niemand von uns sei hier, dann ist es vielleicht jetzt Zufall, daß die SPD stärker vertreten ist als die CDU,

(Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Die ganze Führungsspitze der SPD ist weg!)

aber der zuständige Minister ist hier, und auch der Kanzleramtsminister hat Ihnen zugehört.
Ich hätte mir gewünscht, Sie hätten sich mit dem Antrag der SPD-Fraktion auseinandergesetzt und hätten vor allem einmal konstruktive Vorschläge gemacht, wie wir die Probleme in den neuen Ländern besser lösen können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich frage Sie: Wo sind denn die Programme der neuen Länder? Ich bekomme ab und zu Post von Ihrem Kollegen Wirtschaftsminister. Da liest sich die Situation völlig anders, als Sie sie hier dargestellt haben. Danach setzt der Aufschwung ein. Sie sagen, es gibt keinen Bauboom. Lesen Sie heute einmal die „Frankfurter Allgemeine Zeitung". Sie schreibt: Starke Aufschwungsignale im Osten erkennbar.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209131400
Herr Kollege Louven, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Detlev von Larcher?

Julius Louven (CDU):
Rede ID: ID1209131500
Sie halten die Uhr aber bitte an.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209131600
Ja, selbstverständlich.

Detlev von Larcher (SPD):
Rede ID: ID1209131700
Herr Kollege, schämen Sie sich nicht, auf eine solche Rede, auf einen Hilferuf so zynisch zu reagieren?

(Zurufe von der CDU/CSU)


Julius Louven (CDU):
Rede ID: ID1209131800
Ich schäme mich nicht und möchte fortfahren, Frau Hildebrandt.
Wir haben es heute mit einer Situation zu tun, wie niemand sie einschätzen konnte. Wir haben Zahlen von der Regierung de Maizière bekommen — dort haben Sie für den sozialen Bereich mitgearbeitet —, die in keiner Weise stimmen. Ich werfe Ihnen das gar nicht vor. Aber Sie müssen einmal anerkennen, daß niemand die Situation so einschätzen konnte, wie wir sie letztlich angetroffen haben. Frau Hildebrandt, sind Sie nicht die Sozialministerin gewesen, die drüben die Arbeitsverwaltung mit aufgebaut und die Arbeitsamtleiter eingesetzt hat, die wir anschließend auf Grund ihrer besonderen Vergangenheit aus dem Amt entfernen mußten?

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Weil es Altkommunisten waren!)

Frau Hildebrandt, Sie sollten hier nicht so markige Worte finden. Wir sollten versuchen, die Probleme sachlich miteinander zu erörtern.

(Zuruf von der SPD: Das muß gerade die CDU sagen!)

Sie, meine Damen und Herren von der SPD, haben offensichtich ein sehr schlechtes Gedächtnis. Sie haben nicht nur verdrängt, was Sie uns vor zehn Jahren hinterlassen haben, sondern Sie verdrängen auch, daß all Ihre Prognosen zur Arbeitslosigkeit im Westen wie im Osten bislang nicht eingetreten sind. Sie tun so, als hätten Sie das Instrument der Arbeitsmarktpolitik erfunden. Ich erinnere Sie daran, daß Sie zu Ihrer Zeit ein Sonderprogramm nach dem anderen gefahren haben. Ich glaube, es waren achtzehn. Die Folge: höhere Verschuldung, höhere Inflationsrate, höhere Arbeitslosigkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Heute empfehlen Sie uns immer noch die falschen Rezepte. Nichts, aber auch gar nichts haben Sie gelernt.

(Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Die können nicht anders!)

Immer wieder wollen Sie die deutsche Öffentlichkeit glauben machen, diese Regierung betreibe keine Arbeitsmarktpolitik. Dabei sprechen die Zahlen doch dagegen. Wir praktizieren seit 1983 eine erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik und haben sie voll auf die neuen Länder übertragen. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt Ost ist weiß Gott nicht gut, aber auch nicht so katastrophal, wie Sie sie darstellen. Ihr Katastrophengemälde ist bei weitem überzeichnet.
Nun zu den Zahlen. Über 400 000 Menschen sind bis zum Jahresende in AB-Maßnahmen. Über 500 000 befinden sich in Weiterbildungsmaßnahmen. Rund 800 000 Bürger der neuen Bundesländer profitieren von den Vorruhestandsregelungen bzw. vom Altersübergangsgeld, einer Brücke für die älteren Bürger zum Übergang in die Altersrente. Ohne unsere gezielten Arbeitsmarktmaßnahmen wären 1,8 Millionen Menschen in den neuen Bundesländern mehr in der Arbeitslosigkeit. 36 Milliarden DM — Frau Hildebrandt, das ist doch kein Pappenstiel — werden ausschließlich für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen



Julius Louven
in den neuen Bundesländern in diesem Jahr zur Verfügung gestellt. Ich hätte mir wirklich gewünscht, Sie hätten einmal die Chance genutzt, sich auch bei den Bürgern im Westen dafür zu bedanken, daß sie bereit sind, zu Gunsten der Bürger in den Ostländern Lasten zu tragen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD: Hat sie doch gemacht! — Sie haben nicht zugehört!)

Ganz wichtig ist natürlich, daß in den neuen Bundesländern bald mehr neue produktive Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, als alte und unproduktive wegfallen.

(Abg. Ottmar Schreiner [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209131900
Herr Kollege Louven, lassen Sie eine weitere Zwischenfrage zu?

Julius Louven (CDU):
Rede ID: ID1209132000
Von dem liebenswerten Kollegen Schreiner immer.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1209132100
Herr Kollege Louven, nachdem Sie soeben an die Frau Ministerin den Vorwurf gerichtet haben, sie habe sich insbesondere bei der westdeutschen Bevölkerung wegen der bislang erwiesenen Solidarität nicht bedankt, möchte ich Sie fragen, aus welchen Gründen Ihnen der eben von der Frau Ministerin ausdrücklich ausgesprochene Dank entgangen sein mag. Die Frau Ministerin hat sich eben in mehreren Wendungen ausdrücklich für die bisher erfolgten solidarischen Hilfeleistungen bedankt.

Julius Louven (CDU):
Rede ID: ID1209132200
Lieber Herr Kollege Schreiner, ich will das noch einmal nachlesen, aber gehört habe ich es nicht, und ich meine wirklich, es hätte ihr gut zu Gesicht gestanden, einmal einen freundlichen Satz zu den Menschen zu sagen, die wirklich bereit sind, für den Aufbau etwas zu tun.

(Detlev von Larcher [SPD]: Das hat sie doch getan!)

— Ich lese es noch einmal nach.
Ich denke, jetzt ist verstärkt die Wirtschaftspolitik gefragt, und ich möchte mir wünschen, daß wir wirtschaftspolitisch so schnell vorankommen, wie manche Wirtschaftspolitiker reden. Hier kann sicherlich mehr getan werden. An die Adresse des Wirtschaftsministeriums muß auch ich sagen, daß ich über das eine oder andere enttäuscht bin, weil es nicht schneller läuft.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, daß in den neuen Bundesländern trotz der Probleme, die ein Quartalsende für den Arbeitsmarkt in der Regel bringt, die Arbeitslosenzahl auch im letzten Monat leicht — lediglich um 20 % — zurückgegangen ist — —

(Ministerin Dr. Regine Hildebrandt [Brandenburg]: Um 20 %?)

Um 2 %, Entschuldigung!

(Zurufe von der SPD)

— Haben Sie sich noch nie in Ihrem Leben versprochen, Frau Kollegin? Ich erinnere Sie beim nächsten Versprecher daran. Jedenfalls beweist diese Tatsache, daß auf dem Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern Bewegung ist. Auch die Kurzarbeiterzahl ging zurück.
Wir sind noch längst nicht über den Berg. Wer das behaupten würde, betriebe Schönfärberei, und ich glaube auch, daß der eigentliche Höhepunkt noch vor uns liegt. Ich gehe aber davon aus, daß wir ab Mitte 1993 zu deutlich günstigeren Zahlen kommen werden.
Ein wichtiger Faktor, um weiter zu kommen, ist die Entwicklung der Produktivität, und ich sage, obwohl ich weiß, daß es nicht allen gefällt: Hier ist Behutsamkeit und Vernunft auch der Tarifpartner gefordert. Ich frage mich schon manchmal, was die Menschen, was die Bürger in den neuen Bundesländern denken, wenn hier für 25 oder 30 DM mehr Monatsgehalt gestreikt wird, während die Stituation drüben für die Menschen weitaus schlechter ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, Betriebe künstlich am Leben zu erhalten, kann kein geeignetes Rezept sein. Wichtig ist, daß in den neuen Bundesländern in moderne, zukunftsträchtige Arbeitsplätze investiert wird. Auch hier könnte nach meinem Geschmack wirtschaftspolitisch manches schneller gehen, und ich appelliere auch an die deutsche Wirtschaft, sich nicht hinter administrativen Schwierigkeiten zu verbergen
— die es natürlich auch gibt —, sondern zügig zu investieren.

(Zuruf von der SPD: Wenn Sie appellieren, macht die das!)

— Vielleicht appellieren Sie mit; dann haben wir noch mehr Erfolg.
Die Lage auf dem Arbeitsmarkt der Bundesrepublik (West) ist im Moment in der Tat von einer gewissen Stagnation gezeichnet, aber auch nicht so dramatisch zu beurteilen, wie Sie es hier tun. Gegenüber dem letzten Jahr haben wir in der Beschäftigung ein Gesamtplus von über 400 000. Das ist eine Rekordzahl, die Sie vor zwei Jahren nicht für möglich gehalten hätten.
Ich halte trotz des Durchhängers im Westen die Kürzungen im ABM-Bereich für vertretbar und bin der festen Überzeugung, daß die allermeisten Träger von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen durchaus in der Lage sind, einen höheren Eigenanteil zu leisten, was bedeuten würde, daß die Zahl der AB-Kräfte nicht zurückgehen muß. Aus meinem Arbeitsamtsbereich kann ich jedenfalls entsprechendes berichten.

(Petra Bläss [PDS/Linke Liste]: Dann fahren Sie mal in die neuen Länder!)

— Ich spreche doch jetzt von den Ländern im Westen; vielleicht hören Sie bitte zu.
An Ihrem Antrag, meine Damen und Herren von der SPD, den wir heute beraten, ist nach meiner Auffassung von Arbeitspolitik fast alles falsch. Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, Neueintritte in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mit einer grundsätzlichen Laufzeit von mindestens einem Jahr vorzusehen, und auch bei



Julius Louven
den Sachkostenzuschüssen dürfen keine starren Regelungen gelten, wie Sie sie fordern. Die Entgelte für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen noch zu erhöhen, hört sich gut an, und ich würde es den Menschen auch wünschen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie, sollten Sie einmal Verantwortung tragen, so etwas ernstlich in Erwägung ziehen können.
Zustimmen möchte ich Ihnen bei dem Punkt, daß Regelungen eingebaut werden müssen, die den Frauenanteil bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen erhöhen. Hier sind wir, so denke ich, auf einem guten Weg.

(Zuruf der Abg. Renate Rennebach [SPD])

Wir haben doch in der letzten Woche — Sie waren doch dabei, Frau Rennebach — in der Bundesanstalt gerade diese Probleme besprochen, und es ist Ihnen dargestellt worden, was hier an Sondermaßnahmen geschieht. Auch ich halte die Frauenarbeitslosigkeit in den neuen Ländern für viel zu hoch.
Das Schlimmste an Ihrem Antrag, meine Damen und Herren von der SPD, ist, daß Sie lauter Forderungen stellen, aber nicht einen einzigen Satz zur Finanzierung der Maßnahmen sagen.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das haben wir schon so oft gemacht!)

— Eine staatstragende Partei — die wollen Sie ja sein, Herr Kollege — sollte sich hier verantwortlicher verhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie gehen in Starbesetzung zum Zentralverband des Deutschen Handwerks, und hinterher heißt es in einer Presseerklärung, daß die Beitragsbelastung für die Arbeitnehmer und die mittelständischen Betriebe nicht weiter steigen darf.

(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Ach nein!)

Sie legen hier aber etwas vor, was unweigerlich zu Beitragssteigerungen führen muß.

(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Sehr wahr!)

Ich vermute einmal, daß dies auch der Hintergrund dafür ist, daß der für Sozialpolitik zuständige stellvertretende Fraktionsvorsitzende und sozialpolitische Sprecher Ihrer Fraktion, der Kollege Dreßler, diesen Antrag nicht eigens unterschrieben hat.

(Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Deshalb fehlt er auch jetzt!)

In diesem Zusammenhang möchte ich Frau Engelen-Kefer zitieren. In einem Hearing zum Thema „Standort Deutschland" vor der CDU/CSU-Fraktion in der letzten Woche hat sie erklärt, daß weitere Beitragssteigerungen für Arbeitnehmer und mittelständische Wirtschaft nicht zu vertreten seien, sondern Umschichtungen vonnöten seien, wenn man Neues wolle. Ich denke, dem ist nichts hinzuzufügen.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209132300
Kollege Louven, der Kollege Schreiner hat noch eine Zwischenfrage.

Julius Louven (CDU):
Rede ID: ID1209132400
Bitte.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1209132500
Kollege Louven, nachdem Sie nun die Finanzierungsseite angesprochen haben, wollte ich Sie fragen, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, daß das Bundesarbeitsministerium in dem abgelaufenen Jahr in Publikationsbroschüren mehrfach dargestellt hat, daß die Finanzierung von Arbeit nicht teurer sei als die Finanzierung von Arbeitslosigkeit? Wenn dem so ist, welchen Sinn machen dann Ihre Ausführungen zur Finanzierungsfrage in Richtung Opposition?
Wir versuchen ausdrücklich, das Bundesarbeitsministerium — in Übernahme von entsprechenden Gutachten aus dem IAB in Nürnberg und entsprechenden Erklärungen des Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit, Herrn Franke — zu unterstützen. Warum fallen Sie dem Bundesarbeitsminister, der ja nun dahinten sitzt, ins Kreuz?

Julius Louven (CDU):
Rede ID: ID1209132600
Ich falle ihm weiß Gott nicht in den Rücken. Herr Kollege Schreiner, ich muß schon dabei bleiben: Wenn Sie hier einen derartigen Antrag vorlegen, muß man von Ihnen erwarten, daß Sie auch zur Finanzierung etwas sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Kollege Büttner hat gerade gesagt, Sie hätten das laufend getan. Nur kann ich mich an keinen Finanzierungsvorschlag erinnern.

(Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Nur Jäger 90!)

Aber Sie haben ja dazu noch in der Ausschußsitzung Gelegenheit. Vielleicht haben Sie dann die Freundlichkeit, mit Finanzierungsvorschlägen zu kommen.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209132700
Gestatten Sie noch eine weitere Zwischenfrage der Abgeordneten Renate Rennebach?

Julius Louven (CDU):
Rede ID: ID1209132800
Nein, ich möchte jetzt zum Ende kommen. — Meine Damen und Herren, ich möchte noch einmal auf die Ost-Bundesländer zu sprechen kommen. Wir haben es geschafft, auch hier eine leistungsfähige Arbeitsverwaltung aufzubauen. Ich hätte mir hierfür ein Wort des Dankes und der Anerkennung gewünscht. Dies hat Frau EngelenKefer neulich in einem Fernsehinterview in sehr deutlicher Form getan.

(Renate Rennebach [SPD]: Was erwarten Sie denn von einer Frau, die die Not der Leute von morgens bis abends sieht?)

Ihr ist dafür zu danken. Wir sollten allen Damen und Herren, die daran mitgearbeitet haben, unseren herzlichen Dank aussprechen.
Abschließend noch einen Satz zu dem vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines AFG-Änderungsgesetzes. Ich denke, diese Problematik kann man als erledigt betrachten. Der erste Teil ist verwirklicht, und der zweite Teil ist mit unserer Arbeitsmarktpolitik nicht in Einklang zu bringen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209132900
Als nächste hat Frau Petra Bläss das Wort.




Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1209133000
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unsere heutige Debatte ist längst überfällig — nicht nur weil der vorliegende SPD-Antrag schon seit sechs Wochen auf seine Behandlung wartet, sondern auch weil sich die Ausgangslage dramatisch verändert hat, die Zeichen auf Sturm stehen.
Die heutigen Arbeitslosenzahlen, die deutliche Konjunktureinbrüche im Westen signalisieren, die vom Bundesfinanzminister angekündigten Eckwerte einer unsozialen Rotstiftpolitik und die aktuellen Streikauseinandersetzungen sind dafür beredter Ausdruck. Der soziale Friede steht auf dem Spiel, aufgekündigt von einer Bundesregierung, die in einer Situation, wo Hunderttausende auf die Straße gehen und dafür kämpfen, nicht länger um ihr Arbeitsergebnis betrogen zu werden, Öl ins Feuer gießt durch Sparbeschlüsse, die einseitig von den Arbeitnehmerinnen und -nehmern, den Arbeitslosen, den Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern getragen werden sollen. Großverdiener und Anschlußprofiteure bleiben erneut ungeschoren.
Das ist sicher nicht der soziale Ausgleich, zu dem die Bundesregierung durch das im Grundgesetz fixierte Sozialstaatsgebot verpflichtet ist. Ich jedenfalls stelle mir darunter etwas anderes vor und kann schon allein aus diesem Grunde die gegenwärtigen Streikauseinandersetzungen nur begrüßen und solidarisch begleiten.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)

Meine Damen und Herren, als wir am 19. März hier im Hause darüber diskutiert haben, ob nicht Anlaß genug bestünde, den SPD-Antrag für Sofortmaßnahmen zur Arbeitsmarktpolitik auf die Tagesordnung zu setzen, wurde dies von der Regierungsmehrheit unter anderem mit der Begründung abgelehnt, man wolle sich nicht — Zitat — „mit sinnlosen Anträgen aufhalten, und eigentlich ginge es der SPD lediglich darum, kurzfristige und scheinsoziale Lösungen zu etablieren bzw. kontraproduktiv wirkende Sonderregelungen aufrecht zu erhalten".
Ich fand Ihre Haltung, meine Damen und Herren, damals schon reichlich borniert angesichts der dramatischen Einbrüche auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt, vor allem aber ignorant gegenüber den Menschen, die immer noch die Erwartung haben, daß von hier — und da ist Bonn gefragt — Hilfe und Unterstützung für ihre Lage kommt. Und die AB-Maßnahmen, so kritisch ihre Anwendung auch zu bewerten ist, haben als arbeitsmarktpolitisches Instrumentarium wenigstens gegriffen. Für mehr als 400 000 Menschen bedeuten sie Arbeit für wenigstens ein Jahr. Und in vielen Bereichen konnten Strukturen und soziale Netze erhalten bzw. neu aufgebaut werden.
Heute nun hat der vorliegende Antrag einen ganz anderen Hintergrund. Ihre ablehnende Haltung vom März macht jetzt einen Sinn. Mit einem rigorosen Sparkurs soll der marode Staatshaushalt saniert werden, und dies einmal mehr durch Umverteilung von unten nach oben. Die von den Koalitionsfraktionen beschlossenen Rahmendaten des Sparpakets, so unkonkret sie auch sind, lassen keinen Zweifel daran aufkommen, daß der Rotstift dort angesetzt wird, wo es um die Arbeits- und Existenzsicherung derjenigen
geht, die sowieso schon am Ende der Einkommensskala rangieren. Die von Ihnen angekündigten Sparmaßnahmen lassen tiefe Einschnitte in unser soziales Gefüge erwarten und legen die Vermutung nahe, daß Sie dabei sind, sich von einer aktiven Arbeitsmarktpolitik zu verabschieden. Oder wie sonst sollen wir die angekündigte Streichung der Zuschüsse an die Bundesanstalt für Arbeit verstehen? 5 Milliarden DM wollen Sie hier zur Konsolidierung der Staatsfinanzen einsparen. Das ist ungeschminkte Sozialdemontage, ausgerechnet in dem Bereich, der zur Zeit noch am ehesten gewährleistet, daß sich vor allem in den neuen Bundesländern die beschäftigungspolitische Katastrophe nicht zu einer sozialen ausweitet.

(Beifall der Abg. Barbara Weiler [SPD])

Nicht sozialer Ausgleich ist Ihr Konzept. Mit dem angekündigten Sparkurs bewirken Sie das Gegenteil. Der soziale Friede in diesem Land ist einmal als Standortvorteil gepriesen worden. Es dürfte Ihnen schwerfallen, den Gewerkschaften den Schwarzen Peter zuzuschieben, wenn sich dies ändern sollte.
Meine Damen und Herren, 5 Milliarden DM Kürzung für die Bundesanstalt kann natürlich verschiedenes heißen, eines aber gewiß nicht, daß nämlich diese Kürzung nicht automatisch zur Reduzierung der Leistungen der Bundesanstalt führen müßte, weil ja gar nicht immer alle Bundeszuschüsse abgerufen würden, und die könnten dann schlicht wegfallen. Dies jedenfalls wollte uns der Parlamentarische Staatssekretär Günther gestern im Frauenausschuß weismachen. Seine verharmlosende Erklärung steht jedenfalls im krassen Gegensatz zu den Befürchtungen des Präsidenten der Bundesanstalt.
Vor dem Arbeits- und Sozialausschuß vergangene Woche in Nürnberg erklärte Franke, daß er mit weiteren Arbeitsmarktrisiken rechne, die eine Erhöhung von Ausgaben dringend erforderlich machten. Und auch die Aussagen Finanzminister Waigels, daß die Zuschußkürzungen bei der Bundesanstalt nicht durch Beitragserhöhungen aufgefangen werden sollen, sondern allein durch Ausgabeneinsparungen, deuten ja wohl eindeutig darauf hin, daß hier ein dickes Haushaltsloch gerissen wird, wenn die Sparüberlegungen des Finanzministers so beschlossen werden.
Meine Damen und Herren, der Bundesanstalt fehlen dann 5 Milliarden DM, und sie selbst darf nun entscheiden, wo sie Löcher reißt, um das neu entstehende zu stopfen. Der Handlungsspielraum ist eng genug, und jede denkbare Variante bedeutet massiven Abbau sozialer Leistungen.
Kürzungen im Personalhaushalt würden die defizitäre Lage in den Arbeitsämtern weiter verschärfen, Vermittlungs- und Beratungstätigkeit zwangsläufig einschränken. Kürzungen bei den Leistungen für Arbeitslose wären eine wirkliche Katastrophe, wenn man bedenkt, daß schon heute in den alten Bundesländern, aber noch auffallender in den neuen, Arbeitslosigkeit als Hauptgrund für den Bezug von Sozialhilfe angegeben wird. Kürzungen beim Arbeitslosengeld oder bei der Hilfe provozieren ein Abrutschen in die Sozialhilfe und damit noch mehr Menschen auch und vor allem in den neuen Bundesländern ein Leben



Petra Bläss
unterhalb der Armutsschwelle. Lassen Sie mich in bezug auf die Fragestunde anmerken: Daß die Bundesregierung genau vor diesem Problem nach wie vor die Augen verschließt, bewies wohl die Antwort der Parlamentarischen Staatssekretärin Verhülsdonk in der heutigen Fragestunde.
Es bliebe schließlich noch die Variante, die Ausgaben für arbeitsmarktpolitische Instrumente zu reduzieren; Subventionsabbau, der auch vor dem sozialen Bereich nicht haltmacht, heißt es in der Diktion Minister Möllemanns schon seit Monaten, damals noch wortreich von anderen Regierungsvertretern dementiert. Was Mittelkürzungen bei arbeitsmarktpolitischen Instrumenten bedeuten, ist bereits durch die Streichung von 560 Millionen DM für ABM in den westlichen Bundesländern vorgeführt worden. Hier stehe ich in der Einschätzung im Widerspruch zu meinem Kollegen Louven. In manchen Bundesländern müssen bis zu zwei Drittel angelaufener und geplanter Maßnahmen gestrichen werden; betroffen sind vor allem Projekte zur Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen und Maßnahmen für benachteiligte Gruppen. Um ihre Existenz bangen aber auch Initiativen im sozialen Bereich, der Dritten-WeltArbeit, Projekte, die als öffentliche Aufgabe bisher immer vernachlässigt wurden, wie Frauennotrufe, Kinderzufluchtstätten, Drogen- und Suchtberatung, Obdachlosenarbeit, Gesundheitswesen. Natürlich fallen gerade in den Kommunen der neuen Bundesländer massenhaft öffentliche Pflichtaufgaben unter den Tisch, die weitgehend durch ABM-Mittel finanziert werden.
Unbestritten ist jedenfalls, daß der drastische Beschäftigungsabbau in den neuen Bundesländern durch aktive Elemente der Arbeitsmarktpolitik teilweise sozial abgefedert werden konnte; hier machen die AB-Maßnahmen den größten Brocken aus. Es ist schwer genug, auf diese Weise neue Beschäftigungsfelder aufzubauen, um damit wenigstens in bescheidenem Umfang der Deindustrialisierung und dem beschäftigungspolitischen Kahlschlag entgegenzuwirken. Hier mit finanziellen Restriktionen einzugreifen hätte fatale Wirkungen, insbesondere für den Kreislauf Langzeitarbeitslosigkeit — Sozialhilfe — Armut und seine negativen Folgen.
Notwendig ist demgegenüber eine aktive Arbeitsmarktpolitik, insbesondere für die neuen Bundesländer. Die heutigen Arbeitslosenzahlen sowie die Presseveröffentlichungen über Massenentlassungen in der Automobilindustrie und in anderen Bereichen deuten an, daß wir auch im Westen mit schweren Einbrüchen zu rechnen haben. Die ohnehin seit Jahren bestehende Langzeitarbeitslosigkeit trat angesichts der Probleme im Osten ein bißchen in den Hintergrund.
Notwendig ist also — diese Intention des SPD-Antrags unterstützen wir —, an dem arbeitsmarktpolitischen Kurs festzuhalten, wie er für die neuen Bundesländer eingeschlagen wurde. Wir denken allerdings, daß es aus sozial-, aber auch aus strukturpolitischen Gründen geboten ist, die Mittel für ABM aufzustocken und dabei vor allem solche Maßnahmen zu fördern, die Problemgruppen auf dem Arbeitsmarkt zugute kommen: Frauen, insbesondere allein-
erziehende, und über 45jährige sowie Jugendliche bis 25 Jahren.
Ich denke, daß wir uns hier in voller Übereinstimmung mit dem Bundesarbeitsminister befinden, der in seiner Haushaltsrede im November 1991 angekündigt hat, daß es statt 5,2 Milliarden DM für ABM in diesem Jahr im nächsten Jahr 10 Milliarden sein werden. Ich kann nur hoffen, Herr Blüm, daß sich hier nicht die beabsichtigte Kürzung des Zuschusses an die Bundesanstalt für Arbeit verbirgt.
Ich bin also — auch im Namen meiner Gruppe — für die von der SPD geforderten Beschlüsse, will aber auch noch einmal betonen: Arbeitsmarkpolitik, die noch so gut ausgestattet ist, ersetzt keine Strukturpolitik; und daran mangelt es entschieden.

(Vorsitz: Vizepräsident Helmuth Becker)

Lassen Sie sich zum Schluß noch sagen, daß ich über die Reaktionen auf die Rede der Ministerin Hildebrandt aus Brandenburg sehr enttäuscht bin. Ich denke, ihre ungeschminkte Wahrheit hier als Frechheit zu deklarieren und die Tatsachen, die sie aus Brandenburg und aus den neuen Ländern so ergreifend geschildert hat, als ein Katastrophengemälde zu beschreiben, steht unserem Haus überhaupt nicht gut zu Gesicht.

(Julius Louven [CDU/CSU]: Die Art und Weise war eine Frechheit!)

Ich hoffe, daß wir die Materialien über diese Debatte in den neuen Ländern verbreiten können, um sichtbar zu machen, wie dieser Bundestag über das brisante Thema diskutiert.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei SPD sowie des Abg. Dr. Ulrich Briefs CSU: Sie wissen aber auch, was Sie hier angerichtet haben!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1209133100
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserer Frau Kollegin Dr. Gisela Babel das Wort.

Dr. Gisela Babel (FDP):
Rede ID: ID1209133200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der SPD-Antrag verrät schon in seinem ersten Satz, mit welchen Rezepten die Verfasser wirtschaftlichen Krisensituationen begegnen wollen. Die Bundesregierung soll mit arbeitsmarktfördernden Mitteln dem noch stockenden wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern neuen Auftrieb geben.

(Beifall des Abg. Ludwig Eich [SPD])

Dann folgen die Vorschläge nach dem Motto „Viel bringt viel": Sicherung der Haushaltsvolumen für die AB-Maßnahmen, Finanzierung der Sachkosten in Höhe von 30 %, Erhöhung der Regelentgelte auf 90 %, Verlängerung des Altersübergangsgelds.
Sozialpolitisch kann ich diese Forderungen noch verstehen; daß sie wirtschaftspolitisch wirksam sind, daß sie Arbeitsplätze schaffen, ist schon sehr viel schwerer zu begründen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)




Dr. Gisela Babel
Ich muß fairerweise sagen: Die SPD versucht es erst gar nicht.
Die Lage ist nach wie vor angespannt; das ist wahr. Ohne reguläre Beschäftigung sind in den neuen Bundesländern derzeit 2,6 Millionen Männer und Frauen. Etwa die Hälfte sind aufgefangen in Maßnahmen der Weiterbildung — es waren im April 1992 507 000 —; Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gibt es für 404 000, in Kurzarbeit sind 466 000. Der leichte Rückgang der Arbeitslosenzahlen in den neuen Bundesländern auf 15,2 % ergibt ein zu positives Bild, wenn man von den Beschäftigungszahlen ausgeht.
Sozialpolitisch ist es vertretbar und geboten, mit den Instrumenten der Arbeitsmarktpolitik zu helfen und zu fördern.

(Ludwig Eich [SPD]: Na also!)

Arbeitslosigkeit wird im persönlichen Leben jedes einzelnen als Einbruch empfunden. Unsicherheit, Angst, Verbitterung sind Empfindungen, die der Verlust des Arbeitsplatzes auslöst und die sich bei länger andauernder Arbeitslosigkeit auch in Hoffnungslosigkeit steigern können.

(Ludwig Eich [SPD]: So ist das!)

Eine vorübergehende Beschäftigung, Weiterbildung, Umschulung, Kurzarbeit sind, auch in diesen Zusammenhang gestellt, wirksame, lebenspraktische Hilfsmaßnahmen.
Aber im Hinterkopf, meine Damen und Herren, muß der Gedanke erhalten bleiben, daß diese Hilfe nur eine Zeitlang gewährt wird und nicht die eigentliche Heilung bedeutet.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Dem sozialen Anliegen, der Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken, wird man durch Maßnahmen gerecht, die Arbeitsplätze entstehen lassen, und indem man Arbeitslose in den ersten Arbeitsmarkt zurückholt. Jede Firmengründung, jedes Sanierungsvorhaben ist damit ein Sozialprojekt, ist wirksamer stabilisierend als die schmerzlindernden Mittel der AB-Maßnahmen.
Erhalten bleiben muß auch die Vorstellung, daß die sozial wichtigen Beschaffungsmaßnahmen den Übergang zu regulärer Beschäftigung nicht hindern sollen,

(Beifall bei der F.D.P.)

daß sie ihn fördern und erleichtern sollen. Lassen Sie mich einmal unter diesem Aspekt die Vorschläge der SPD überprüfen.
Zunächst zur Laufzeit der AB-Maßnahmen von mindestens einem Jahr: Hier war beschlossen worden, die Laufzeit auf ein halbes Jahr zu begrenzen und mit Qualifikation zu verbinden. Darüber wollen wir erst einen Bericht hören und erfahren, ob sich das bewährt hat.
Sachmittel sind schon vom letzten Jahr her ausgegeben und verbucht worden. Wahrscheinlich ist der Gedanke richtiger, daß wir die Investitionsmittel erhöhen und für den ersten Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen, als sie im zweiten Arbeitsmarkt auszugeben.
Die SPD fordert, daß die Träger von AB-Maßnahmen 90 % der Mittel ersetzt bekommen sollen. Derzeit gibt es das nur bei Problemfällen. Dieser Vorschlag ist meines Erachtens kontraproduktiv; denn aus dem Topf werden damit weniger gefördert. Wenn man die sozialpolitische Komponente bedenkt, muß es darum gehen, mehr Leute in diese Beschäftigungsmaßnahmen zu bringen.
Das Altersübergangsgeld zu verlängern ist eine besonders populäre Strategie, meist positiv für die Betroffenen, annehmbar für die Unternehmer, gut für die Statistik. Aber, meine Damen und Herren, egal, ob es sozialpolitisch Sinn macht — und das bezweifle ich —,

(Ludwig Eich [SPD]: Das ist Ihre Haltung!)

wirtschaftspolitisch muß das keineswegs immer Sinn machen. Gerade ältere Arbeitnehmer sind bewährte und erfahrene Kräfte, von denen sich das Unternehmen nicht trennen sollte. Wir diskutieren bei der Rente über eine längere Lebensarbeitszeit und wollen diese im Zusammenhang mit dem Strukturwandel im Osten verkürzen. Das macht keinen Sinn.

(Beifall bei der F.D.P.)

Daß wir für Frauen besondere Anstrengungen unternehmen müssen, damit sie ihre Arbeitsplätze nicht verlieren oder, falls das der Fall ist, für andere Arbeitsplätze qualifiziert werden, ist unstrittig. Der Grund, warum wenige Frauen in Arbeitsbeschaffung vermittelt werden, liegt aber weniger an der Vermittlung als an der Arbeit selbst. Es handelt sich bei den AB-Maßnahmen, die wir heute haben, oft um schwere körperliche Arbeit im Sanierungsbereich und im Baugewerbe. Hier werden eben mehr Männer genommen. Es müßte mehr für Frauen geeignete Maßnahmen geben. Hier denke ich auch an den sozialen Bereich.
Wer heute der Orientierungslosigkeit der Jugend wirksam begegnen will — der wachsende Rechtsradikalismus ist ein Symptom für Orientierungslosigkeit —, muß auch bereit sein, Erziehungsberatung und Jugendarbeit in Gemeinden zu fördern. Für die Zwischenzeit sind hier auch für Frauen geeignete AB-Maßnahmen dringend und sinnvoll. Besonders aber bei der Qualifizierung sollte der Anteil der Frauen sichergestellt werden.
Nun zum letzten Vorschlag: Kurzarbeitergeld. Die SPD will das Kurzarbeitergeld auf das Niveau des regulären Entgelts heraufsetzen. An der Kombination mit der beruflichen Qualifikation will sie aber festhalten.
Der SPD ist in einem Punkt zuzustimmen: Die Proportionen zwischen den Maßnahmen — Kurzarbeitergeld plus Qualifikation auf der einen Seite und AB-Maßnahmen auf der anderen Seite — stimmen nicht. Die in einer AB-Maßnahme Beschäftigten stehen sich besser als Kurzarbeiter. Die SPD zieht die Konsequenz, daß die Entgelte heraufgesetzt werden sollen. Die F.D.P. hingegen will konsequent und richtigerweise sparsamer mit den Mitteln bei den AB-Maßnahmen umgehen. Dazu mache ich gleich einen Vorschlag.




Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1209133300
Frau Dr. Babel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Grünbeck?

Dr. Gisela Babel (FDP):
Rede ID: ID1209133400
Ja, bitte.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1209133500
Bitte, Herr Kollege Grünbeck.

Josef Grünbeck (FDP):
Rede ID: ID1209133600
Frau Kollegin Dr. Babel, würden Sie mir zustimmen, daß der Vorschlag der SPD allenfalls durch die Vielfalt der einzelnen Maßnahmen glänzt, weniger durch den Sinn der Maßnahmen,

(Dr. Peter Struck [SPD]: Na, na, na!)

und müßten wir nicht bei der jetzigen Situation darauf hinarbeiten, die bescheidenen Finanzmittel darauf zu konzentrieren, solche Arbeitsplätze zu schaffen, die dem Wettbewerb standhalten und damit Dauerarbeitsplätze werden?

(Beifall bei der F.D.P. — Zurufe von der SPD: Macht mal! — Ottmar Schreiner [SPD]: Lieber Vielfalt als Einfalt!)


Dr. Gisela Babel (FDP):
Rede ID: ID1209133700
Ich stimme Ihnen vollkommen zu. Das, was Sie formuliert haben, kann ich mir jetzt ersparen, lieber Herr Grünbeck.

(Josef Grünbeck [F.D.P.]: Ich danke Ihnen sehr! — Ottmar Schreiner [SPD]: Lieber Vielfalt als Einfalt!)

Meine Damen und Herren, ich will auf zwei Vorschläge zu sprechen kommen, die hier vielleicht weiterführen. Es geht ja auch um Vorschläge, die ein bißchen Fantasie zeigen. Sie kommen teilweise auch aus den neuen Bundesländern. Es geht um eine Wirtschaftsförderung, die eng an Regionen gebunden ist. Träger sind Landkreise, die sich zusammenschließen und westliche Beratungsfirmen mit der Aufgabe betreuen, für ihre Region die richtige Mischung von mittelständischen Gewerbebetrieben zu erarbeiten. Hier sollen nicht nur die Arbeitskräfte aus den neuen Bundesländern Arbeit finden, sondern vor allem soll das Management ebenfalls aus den neuen Bundesländern kommen. Das heißt: Der Betrieb bleibt im Lande und wird im Lande gemanagt.

(Beifall bei der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1209133800
Frau Dr. Babel, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Weiler?

Dr. Gisela Babel (FDP):
Rede ID: ID1209133900
Nein, lassen Sie mich bitte zum Ende kommen.
Dieses Rezept ist schon erfolgreich erprobt worden und müßte nach näherer Prüfung auch Unterstützung erfahren.
Ein weiterer Punkt: Es erscheint mir sinnvoll, in viel größerem Umfang als bisher — vielleicht sogar im Regelfall — die AB-Maßnahmen für eine verkürzte Arbeitszeit anzubieten; also AB-Maßnahmen mit in der Regel nur 30 Stunden.
Der Anreiz, auch während der Dauer einer AB-Maßnahme zu einem regulären Arbeitsplatz zu wechseln, bliebe damit erhalten. Eine höhere Fluktuation käme denen zugute, die nicht bedacht werden könnten. Zu beachten wäre hier lediglich, daß dieses Entgelt im Vergleich zum Arbeitslosengeld natürlich höher liegen muß, damit sich dies ökonomisch für den Einzelnen auch rechnet. Eine 30-Stunden-AB-Maßnahme muß für den Betroffenen immer noch interessanter sein, als Arbeitslosengeld zu beziehen.
Meine Damen und Herren, damit würde aber auch die Kurzarbeitergeldregelung mit ihrer Qualifizierung im Verhältnis aufgewertet. Insofern begrüße ich die heutige Diskussion. Wir können dabei nicht nur die engagierte Politik der Bundesregierung würdigen
— was ich hiermit tue —,

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

sondern auch gemeinsam darüber nachdenken, wie wir ohne AB-Maßnahmen zumindest die Großprojekte auf einer gesicherten Grundlage in eine Beschäftigung führen können.
Ich bedanke mich, meine Damen und Herren. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1209134000
Meine Damen und Herren, jetzt hat das Wort der Bundesarbeitsminister Dr. Norbert Blüm.

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1209134100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn über den Arbeitsmarkt gesprochen wird, steht niemand hier am Rednerpult mit Erfolgs- und Zufriedenheitsgefühlen. Es bedrückt uns alle. Wir brauchen hier doch keine Olympiade zu veranstalten, wer betroffener ist. Laßt uns einen Wettbewerb veranstalten, wie wir am besten helfen können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zurufe von der SPD)

— Ich finde, in diesem Zusammenhang lohnt sich eine Zusammenarbeit. Es sollte keine wechselseitigen Unterstellungen geben, die dahin gehen: der eine will, der andere nicht. Wir wollen alle helfen. In diesem Wettbewerb geht es darum, wie wir am besten helfen können.

(Zuruf von der SPD: Dann nehmen Sie unsere Ideen doch auf!)

— Wenn ich aber unsere Vorschläge für besser halte, dann muß ich ja Ihre nicht aufgreifen.
In vielen Punkten stimmen wir überein. Stellt doch hier keine Front her, die gar nicht vorhanden ist. Es gibt eine breite Übereinstimmung dahin gehend, daß wir auf Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nicht verzichten können. Ich habe niemanden gehört, der hier eine Kahlschlagpolitik betreiben will.

(Barbara Weiler [SPD]: Herr Waigel!)

— Darauf komme ich gleich zu sprechen.
Die Frage ist nur, wie diese Brücke so genutzt wird, daß sie wirklich an ein neues Ufer führt und nicht ein Dauerzustand bleibt; denn wir wollen doch keine



Bundesminister Dr. Norbert Blüm
ABM-Gesellschaft haben, sondern wir wollen normale Arbeitsplätze.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Was die Darstellung der Misere angeht, so ergreift mich das auch. Frau Hildebrandt und ich verstehen uns sehr gut. Das will ich hier einmal zu Protokoll geben. Auch mich ergreift die Lage Arbeitslosen, Müttern, Vätern, Familien, die Angst haben um ihre Zukunft. Nur, liebe Frau Hildebrandt, mit der Darstellung haben wir das Problem noch nicht gelöst. Da stimmen wir sicherlich überein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wenn Ihnen ein Arzt sagt, daß Sie eine Lungenentzündung haben, hat er noch nicht dazu beigetragen, daß Sie die Lungenentzündung verlieren. Es kommt auf die Therapie an. Darüber wollen wir gemeinsam diskutieren. Je mehr Gemeinsamkeit wir herstellen, desto besser. Es geht schließlich um Menschen. Es geht nicht um SPD, CDU/CSU, F.D.P., sondern es geht um die, die auf unsere Antwort warten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zuruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste])

— Ich komme ja gleich dazu.
Wir haben auch einen gespaltenen Arbeitsmarkt. Im Westen haben wir einen Beschäftigungsgewinn. Niemand redet heute darüber, daß wir beispielsweise im letzten Jahr hier im Westen in 12 Monaten 740 000 neue Arbeitsplätze geschaffen haben. Das ist doch auch ein Erfolg. Ich bin dafür, daß man immer Licht und Schatten darstellt. Im übrigen: die Nachrichten über die Schattenseiten verbreiten sich von selber. Es kommt darauf an, auch die positiven Entwicklungen zu würdigen, sonst verlieren die Menschen den Mut.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich weiß, daß 25 000 Arbeitslose weniger — mein Kollege Louven hat schon darauf hingewiesen — nicht der Durchbruch sind. Aber immerhin: Was vorausgesagt wurde, nämlich daß am Quartalsende der große Zusammenbruch stattfindet, ist nicht eingetroffen. Der große Zusammenbruch hat nicht stattgefunden, sondern wir haben 25 000 Arbeitslose und 27 000 Kurzarbeiter weniger.
Ich stelle das nicht so dar, als ob wir uns jetzt beruhigt in den Sessel fallen lassen könnten, aber es gibt doch, wenn auch nur millimeterweise, Fortschritte. Es gibt Fortschritte in Sachen Langzeitarbeitslose. Warum redet niemand darüber? Wir bauen die Zahl der Langzeitarbeitslosen ab.

(Ludwig Eich [SPD]: Auf!)

— Wenn jemand richtige Zahlen bestreitet, dann bin selbst ich machtlos.
Lassen Sie mich die Zahlen darstellen: Im September 1990 gab es 513 000 Langzeitarbeitslose, ein Jahr später 454 000. Das sind nach meiner Rechnung 59 000 weniger. Die Mathematik muß doch noch gelten; nehmt das parteipolitische Brett nicht als Brille, es taugt wirklich nicht als Brille!

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1209134200
Eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Weiler, bitte.

Barbara Weiler (SPD):
Rede ID: ID1209134300
Herr Minister Blüm, darf ich zwei Fragen stellen?

(Zurufe von der CDU/CSU: Nein!)


Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1209134400
Bitte.

Barbara Weiler (SPD):
Rede ID: ID1209134500
Wir waren in der letzten Woche bei der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg. Wir haben dort vom Präsidenten gehört, daß die bisherigen Möglichkeiten und Instrumente des AFG für die neuen Länder eben so nicht ausreichen, daß man neue Wege beschreiten muß, um die überproportionale Arbeitslosigkeit und das Problem Frauen in AB-Maßnahmen zu lösen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Die Frage!)

Wenn wir diese neuen Wege brauchen, wie Herr Franke es sagt, müßten Sie doch auch unseren Vorschlägen für neue Wege und für neue Modelle zustimmen.

(Julius Louven [CDU/CSU]: Wo sind die?)

— Sie sind auch in dem Antrag erwähnt. Das ist meine erste Frage.
Die zweite Frage: Sie haben eben sehr schön gesagt, daß es auch Profiteure der deutschen Einheit gibt. Das ist ja auch unsere Auffassung. Sind Sie nicht mit uns der Meinung, daß diese Gruppe, die davon profitiert und Geschäfte gemacht hat, gerechterweise zur Finanzierung und zur Unterstützung des Kampfes gegen die Arbeitslosigkeit herangezogen werden muß?

(Zustimmung bei der SPD)


Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1209134600
Zur ersten Frage. Herr Präsident, meinetwegen braucht Frau Weiler zur Entgegennahme der Antwort nicht stehenzubleiben. — Herr Präsident, ich habe immer solche Hemmungen, ich bin doch kein Schullehrer.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1209134700
Aber das sind unsere Regeln, und die wollen wir beibehalten.

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1209134800
Gut; ich würde mich nie getrauen, mit dem Herrn Präsidenten eine Diskussion zu beginnen.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Der Präsident entscheidet!)

Was die Modelle insgesamt anbelangt: Ich meine, wir sollten uns die Sehnsucht abgewöhnen, von Bonn müßten pausenlos Modelle gestrickt werden. Das ist so eine zentralwirtschaftliche Vorstellung. Ich glaube, viel stärker muß man vor Ort

(Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Kreativität!)

kreativ sein, denn die Situation wird in Mecklenburg ganz anders sein als in Sachsen. Ich bin mehr für maßgeschneiderte Schritte und nicht für alte zentralstaatliche Wege. Insofern sind der Kreativität, was



Bundesminister Dr. Norbert Blüm
man mit ABM machen kann, wie man sie mit einer Qualifikation kombinieren kann, überhaupt keine Grenzen gesetzt. Wir sind ja dafür, daß ABM mit einer Qualifikation verbunden wird. Das AFG läßt das ausdrücklich zu.

(Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Auch in Brandenburg!)

Insofern bin ich dafür: Laßt uns die Instrumente nicht vom Stellwerk Bonn aus, sondern vor Ort feinsteuern, weil ich glaube, daß die Umstände höchst unterschiedlich sind.

(Ludwig Eich [SPD]: Wir brauchen neue Wege!)

Zweitens. Was das Thema Frau anbelangt, bin ich der Meinung, daß es auch bei ABM weniger auf Quotenregelungen ankommt, sondern darauf, solche ABM-Projekte anzubieten, die frauenspezifische Angebote enthalten. Wenn natürlich ABM-Plätze in klassischen Männerberufen angeboten werden, werden die Frauen immer die Benachteiligten sein. Bei der Organisation — das macht doch nicht Bonn; das wird doch auch wieder vor Ort gemacht — muß man auch ABM-Plätze schaffen, die gerade der Berufs- und Nachfragestruktur der Frauen, die arbeitslos sind, gerecht werden.
Bei Fortbildung und Umschulung stimmt die prozentuale Beteiligung der Frauen an den Fördermaßnahmen einigermaßen — ungefähr, nicht ganz —, jedenfalls viel besser als bei ABM. Ich teile ausdrücklich die Kritik, daß bei ABM Bedarf und Angebot auseinanderklaffen und daß das Angebot den Frauen nicht gerecht wird.
Wiederum sage ich: Wartet nicht pausenlos auf Bonn, als würde da der liebe Gott regieren. Nein, vor Ort muß Kreativität entwickelt werden. Es ist das alte planwirtschaftliche Denken: Irgendwo gibt jemand das Kommando, und alle marschieren. In einer sozialen Martkwirtschaft müssen die Initiativen auch von unten ergriffen werden. Ich gebe zu, daß wir dazu Rahmenprogramme und die Finanzierung brauchen. Insofern mogeln wir uns ja gar nicht aus der Verantwortung heraus.
Was den dritten Punkt, die Finanzierung, angeht, will ich zu Protokoll geben: Wenn jetzt der Solidaritätszuschlag wegfällt, bleiben 50 Milliarden DM in der Sozialversicherung Transfer von West nach Ost. Das sind rund 30 Milliarden DM unter dem Dach der Arbeitslosenversicherung und 20 Milliarden DM unter dem Dach der Rentenversicherung. Die werden von den Beitragszahlern aufgebracht — das sind bekanntlich nicht alle —, aber nur von denjenigen, die unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze liegen, also nicht von den Höherverdienenden. Insofern glaube ich schon, daß wir gemeinsam der Frage nachgehen müssen, wie wir dem Petitum Gerechtigkeit besser zum Zuge verhelfen können.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Sag das mal der F.D.P.!)

— Nein, das ist unsere gemeinsame Aufgabe.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Ergänzungsabgabe!)

In schweren Zeiten — ich bin für Sparen — ist das Prinzip Gerechtigkeit noch wichtiger als in Zeiten des Wohlstandes und der vollen Kassen. Ich bin deshalb, wie ich gleich hinzufügen will, für Sparen, weil nämlich die Hauptleidtragenden bei der Inflation die kleinen Leute sind. Die Inflation ist der Taschendieb der Rentner und der kleinen Leute.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sparen heißt eben, eine Politik zu betreiben, die den Menschen das Geld, das sie mit der einen Hand bekommen haben, mit der anderen Hand nicht wieder aus der Tasche zieht. Soviel Verbandskästen kann die Sozialpolitik gar nicht haben, wie die Inflation Wunden schlägt.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Wer ist denn Wirtschaftsminister?)

Wenn wir also sparen, eine solide Haushaltspolitik betreiben, dann ist das kein Selbstzweck, sondern dann heißt das, daß wir die Preissteigerung gerade im Interesse der sozial Schwachen zurückdrängen wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich will wieder zum Thema Arbeitsmarkt zurückkommen. Noch einmal, Frau Hildebrandt: Ich akzeptiere Ihr großes Engagement. Akzeptieren Sie aber auch auf unserer Seite: Obwohl ich für flapsige Bemerkungen viel Sinn habe

(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das wissen wir!)

und sie auch gerne verteile, hat mir der Kalauer mit dem „Tal der Ahnungslosen" ein bißchen weh getan.

(Julius Louven [CDU/CSU]: Nicht nur er!)

Da strampeln sich ganze Kompanien auch von Beamten und von Bundestagsabgeordneten Tag für Tag ab. Wir sitzen hier nicht in der Hängematte. Sie treiben mit solchen Bemerkungen die Politikverdrossenheit der Bürger nur noch weiter. Sie können uns kritisieren und sagen, wir machten es falsch. Nur: Zum Faulenzer und Ahnungslosen lasse ich mich wirklich nicht gerne machen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das kann natürlich populär sein und viel Beifall finden. Ich würde meine Arbeit auch für weniger Geld machen. Aber ich verdiene mir mein Geld mindestens so ehrlich wie mancher andere. Ich lege mich auch krumm und buckelig, um meine Aufgaben zu erfüllen. Ich lasse mir auf Dauer den Vorwurf nicht bieten, als regierten in Bonn nur die Versager und Ahnungslosen. Das halte ich für einen Beitrag zur Zerstörung der politischen Kultur.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ihr könnt ja hier Rambazamba machen, daß wir es falsch machen. Ich würde nie sagen, daß wir alles richtig machen. Ich weiß auch, wo wir vieles besser machen können.
Und noch so ein Satz, verehrte Frau Hildebrandt, ich habe ihn mir aufgeschrieben: „Macht mal wat! " — Wissen Sie, was wir machen? 36 Milliarden DM Arbeitsmarktpolitik! Da sagen Sie: „Macht mal wat! "



Bundesminister Dr. Norbert Blüm
Das hört sich ja an, als hätten wir bisher nichts gemacht.

(Horst Günther [Duisburg] [CDU/CSU]: Die redet schon ein halbes Jahr so!)

Im letzten Jahr 27 Milliarden DM, in diesem Jahr 36 Milliarden DM! Da reden Sie von Kürzungen? Wir haben in diesem Jahr sowohl ABM ausgedehnt als auch Fortbildung und Umschulung. Sie dürfen doch die Sache nicht auf den Kopf stellen. Sagen Sie meinetwegen, es wird nicht langen. Aber Sie dürfen in der Öffentlichkeit nicht den Eindruck erwecken, als wären wir zurückgefahren. — Ich komme richtig in die Stimmung, in der Sie auch waren.
1991 — jahresdurchschnittlich in Zahlen, Frau Hildebrandt — 180 000 AB-Maßnahmen mit Ausgaben von 5,5 Milliarden DM. Das ist nachweisbar und doch nicht meine Erfindung des Haushaltsplanes.
Dieses Jahr sind es durchschnittlich 400 000 Maßnahmen für 10,3 Milliarden DM. Frau Hildebrandt hat behauptet, wir wären auf 150 000 zurückgefahren. Sie verwechselt möglicherweise die Zahl der Neueintritte mit der Gesamtzahl der AB-Maßnahmen. Aber es ist und bleibt so, daß wir jahresdurchschnittlich die Ausgaben für ABM verdoppelt haben von 5,5 Milliarden DM auf 10,1 Milliarden DM.
Ich mache nicht gerne diese Zahlenspiele; übersetzt in das Leben des einzelnen sind die Milliarden so anonym. 36 Milliarden DM geben wir aus, und da sagt Frau Hildebrandt: „Macht mal wat! " Das muß doch alles aufgebracht werden! Ist das nichts?

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Bei Fortbildung und Umschulung gab es 1991 900 000 Eintritte und 800 000 in diesem Jahr. Allerdings muß man auch wissen, daß man irgendwo mal eine Kurve ziehen muß. Denn wenn wir so weitermachen würden, wäre bald jeder in Fortbildung und Umschulung gewesen. Da stellt sich aus meiner Sicht die Qualitätsfrage bei Fortbildung und Umschulung, und man stößt auch an quantitative Grenzen.
Es geht bei Fortbildung und Umschulung ja nicht um einen Selbstzweck, es geht auch um eine sinnvolle Fortbildung und Umschulung. Es geht nicht um abstrakte Zahlen. Wenn Sie sagen „Macht mal wat! ", kommt natürlich wieder der Parteipolitiker bei mir hervor. Wissen Sie, was die Genossen, Ihre Genossen, 1982 an ABM hatten? 0,9 Milliarden und 29 000. Wir haben jetzt 10,1 Milliarden DM. Für Fortbildung und Umschulung wurden 1982 3,9 Milliarden DM bereitgestellt:
Das hören Sie noch bis zum Jahre 2010, so lange, wie Sie sagen, wir würden nichts machen, weil wir mehr gemacht haben, als ihr jemals daran gedacht habt, liebe Genossen:

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir hatten damals im Westen eine Arbeitslosenquote von 6,3 %. Wir haben eine von rund 7 %. Das ist fast deckungsgleich. Wenn Sie auch da die Mathematik nicht beherrschen: Ich bin heute nachmittag nicht
dazu da, um mathematischen Nachhilfeunterricht zu erteilen.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU — Ottmar Schreiner [SPD]: Jetzt zieht er gleich noch die Wurzel!)

— Wenn ich bei Ihnen die Wurzel ziehen würde, käme ich auf einen hohlen Zahn!

(Beifall bei der CDU/CSU)

Frau Hildebrandt, an folgender Stelle stehen wir wieder Seite an Seite: Bei dem Gerede und der pausenlosen Kampagne gegen ABM stelle ich mich mit Frau Hildebrandt vor die ABM-Plätze. Man muß wissen, welche Stimmung wir gegenüber diesen Projekten erzeugen, wenn wir pausenlos sagen, das sei eine große Mißbrauchsveranstaltung.
Bei 400 000 ABM-Plätzen wird es auch solche geben, bei denen mal was falsch sitzt. Etwas anderes wäre völlig unnatürlich. Wir werden jedem einzelnen Fall nachgehen. Aber richtig ist — ich bestätige das —: Den großen Ankündigungen, daß der Mißbrauch jetzt bewiesen würde, folgte nur heiße Luft.
Richtig ist, es gibt keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme ohne Zustimmung der Handwerkskammer, und es geht nicht, vor Ort zuzustimmen und in Bonn an der Klagemauer die Regierung zu beschimpfen. Da bin ich mit Ihnen einer Meinung, auch um der ABM-Plätze willen.
Richtig ist auch, daß wir irgendwann einmal die Kurve beim Aufbau neuer Arbeitsplätze wieder ziehen müssen, eine ganz sachte Kurve. Ich bin für eine sachte Kurve, nach unten, denn sonst würden wir eine Politik ansteuern, die irgendwo einen Crash macht.
Ich sehe auch, daß wir ABM qualitativ verbessern müssen, mit Qualifikation verbinden müssen, und daß es noch viele neue Wege gibt. Dabei stellt sich immer die Frage — und das ist richtig —, wie das zu finanzieren ist. Ideen müssen eben auch materialisiert werden.
Nun noch zum Defizit und zu dem, was alles an Schrecken heute mittag wieder verbreitet wurde. Wer kennt das Defizit der Bundesanstalt für Arbeit im Jahre 1993 genau? Den bitte ich jetzt einmal, sich zu melden. Ich würde ihn nämlich bestaunen. Ich habe jedenfalls die Erfahrung gemacht — darum macht mich das Ganze im Rückblick schon etwas ärgerlich —, daß wir das Soll, also die geplanten Ausgaben, immer höher eingeschätzt haben, als es notwendig war. Wir haben hier immer große Kämpfe um den Bundeszuschuß geführt, und am Ende des Jahres sind Gelder zurückgezahlt worden. 1989 wurden 1,9 Milliarden DM, 1990 2,4 Milliarden DM zurückgezahlt. Im letzten Jahr, 1991, hatten wir 2,3 Milliarden DM angesetzt. Wir haben nur 1 Milliarde DM gebraucht, 1,3 Milliarden DM wurden zurückgezahlt.
Deshalb bin ich vorsichtig, jetzt auf Grund von Annahmen ein Szenario zu bilden, das mit Ängsten verbunden ist. Freilich: Es bedarf der Anstrengung, damit die Instrumente richtig eingesetzt werden. Doch man kann Haushaltspläne nicht ignorieren. Sonst ist keine parlamentarische Verantwortung mehr möglich.



Bundesminister Dr. Norbert Blüm
Ich will nun noch ein paar Punkte ansprechen. Ich sehe schon, daß wir den berühmten § 128 AFG nicht so lassen können, wie er jetzt ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Denn viele Großbetriebe — ich will jetzt einmal das Sopo-Deutsch beiseite lassen — machen Personalpolitik auf Kosten der Solidarkassen.

(Karl Josef Laumann [CDU/CSU]: So ist es!)

Sie schicken die Arbeitnehmer mit 58 Jahren in die Arbeitslosigkeit, zahlen ihnen den Unterschied zum letzten Nettoverdienst, und so sind die Arbeitnehmer mit 60 in Rente. Jedem Arbeitnehmer sei das gegönnt. Nur, ein Kleinbetrieb kann das nicht. Das ist betriebliche Personalpolitik, die von den Beiträgen der Handwerker und Arbeitnehmer bezahlt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

So etwas muß gemeinsam abgestellt werden. Das würde ich nicht als Sparmaßnahme, sondern als sinnvolle Verwendung von Geld begreifen. Wenn unser Geld schon knapp ist — ich bekenne mich ausdrücklich zur Aufgabe des Sparens —, dann muß man doch jede Mark zweimal herumdrehen, bevor sie einmal ausgegeben wird.
Ich will aber auch hier im Bundestag meine Enttäuschung über das mangelnde Engagement der westdeutschen Wirtschaft bei Investitionen in den neuen Bundesländern zum Ausdruck bringen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich verstehe unter „Unternehmer" nicht „Unterlasser" . Es wäre zuwenig, die neuen Bundesländer nur als Absatzmärkte zu betrachten. 33 Milliarden DM Investitionen im letzten Jahr aus Westdeutschland sind aus meiner Sicht kein kraftvolles Zeugnis von sozialer Verantwortung.
Ich weiß, daß wir nicht alle Fragen nur mit Geld beantworten können, sondern daß wir — ich sage es erneut — gemeinsam dafür sorgen müssen, daß das Genehmigungsrecht, das wir hier in Westdeutschland überdimensioniert haben, bei Gelegenheit der deutschen Einheit entrümpelt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dieses Genehmigungsrecht ist zu einem Verhinderungsrecht geworden. Bis hier in Deutschland jemand überhaupt einen Stein auf den anderen setzen kann, hat es in Italien schon die erste Betriebsfeier gegeben.

(Julius Louven [CDU/CSU]: Aber das Land Brandenburg stimmt gegen solche Regelungen!)

— Ich wollte ganz zaghaft die Kurve zu Frau Hildebrandt ziehen.
Könnten wir an dieser Stelle nicht einmal eine kleine „Bürokratierevolution" machen? Es geht doch nicht um Paragraphen als Selbstzweck. Es geht doch um Arbeit. Während die Anträge jahrelang hin- und hergewälzt werden, warten die Arbeitnehmer auf einen Arbeitsplatz. Es geht also nicht nur um Geld, sondern um die Entrümpelung einer überdimensionierten, ausgefieselten und ausdifferenzierten Genehmigungstechnik, und dazu gehört ein bißchen Mut. Selbst wenn manches in den Sand gesetzt würde, wäre mir Initiative immer noch lieber als die Oberängstlichkeit, die sich in nur 33 Milliarden DM niederschlägt, wobei von jeder Mark, die investiert wird, 40 Pfennig staatlich gefördert werden.
Es gibt 200 Töpfe, aus denen man Förderung erfahren kann. Es muß einer erst mehrere Jahre „Subventiologie" studiert haben, damit er auch jeden Topf kennt. Große Firmen mit ihren Stabsabteilungen haben da keine Probleme. Der kleine Schlosser aber kann das nicht. Deshalb erreicht er gar nicht alle Töpfe, die angeboten werden. Daher bin ich für eine Topfkonzentration, für einen Abbau der vielen Töpfe. Daran mitzuwirken lade ich uns und die Länder ein.
Ich bin auch dafür, daß die Ämter, in denen Genehmigungen zu erteilen sind, besser ausgestattet werden. Insgesamt besagen die Statistiken, daß der öffentliche Dienst in den neuen Bundesländern sogar besser besetzt ist als in Westdeutschland. Aber möglicherweise ist er an den falschen Stellen besetzt. Ich meine, es müßte jetzt alles — ich will es nicht so militärisch ausdrücken, sonst würde ich sagen: Investitionsfront — dorthin, wo die Investitionsentscheidungen getroffen werden.
Meine Damen und Herren, ich teile einerseits mit Ihnen die Sorge um die Bewältigung der Probleme, stimme aber andererseits nicht einer Politik zu, die nur „Untergang, Untergang" schreit. Daraus entwickelt sich keine Initiative, die eine Initiative vor Ort wird. Ich ringe mit Ihnen darum, daß wir ausreichend Geld für neue und altbekannte Wege haben. Bei aller Sehnsucht nach Neuem — hier bricht schon Langeweile aus, wenn nicht jeden Tag ein neuer Vorschlag gemacht wird — gehört vielleicht auch ein bißchen Ausdauer dazu, die Instrumente, die wir haben, Tag für Tag sinnvoll anzuwenden und nicht Tag für Tag in Frage zu stellen. ABM sind ein geeignetes Mittel. Ohne ABM, ohne Fortbildung und Umschulung — auch das hat der Kollege Louven schon gesagt — hätten wir 1,8 Millionen Arbeitslose mehr. Deshalb weise ich die Behauptung zurück, wir hätten nichts gemacht. Im Gegenteil: Wir haben die Ärmel hochgekrempelt, auch wenn wir vielleicht nicht alles richtig gemacht haben. Aber daß wir nur dagesessen hätten und nur Zuschauer gewesen wären, stimmt nicht. Das weise ich zurück.
Ich will weiter mit allen Gutwilligen — ich lade Sie ausdrücklich dazu ein — gegen die Arbeitslosigkeit kämpfen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1209134900
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Adolf Ostertag das Wort.

Adolf Ostertag (SPD):
Rede ID: ID1209135000
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben zwei bemerkenswerte Reden gehört: eine sehr engagierte einer aus der Praxis heraus betroffenen Frau und die eines



Adolf Ostertag
Bundesarbeitsministers, der die Probleme verharmlost, so wie er es auch heute

(Horst Günther [Duisburg] [CDU/CSU]: Er ist mindestens genauso praxisorientiert wie die Frau Minister!)

mit der Beurteilung der veröffentlichten Arbeitslosenzahlen gemacht hat. Er meinte, sie würden positive Signale setzen.

(Horst Günther [Duisburg] [CDU/CSU]: Selbstverständlich! Das ist doch logisch!)

Ich glaube, man sollte genau hingucken. Diese Zahlen sind nicht positiv, sondern sie zeigen den Abschwung auf dem Arbeitsmarkt West und Ost ganz eindeutig an. Man kann nicht nur die bloßen Ziffern nehmen, sondern muß auf die Langzeitarbeitslosigkeit schauen, die sich aufbaut.
Diese Regierung hat offensichtlich darauf keine Antworten. Sie verfügt über keine Perspektiven. Ich glaube, in der Debatte vorhin ist auch deutlich geworden, daß sie nicht mehr die Kraft hat, wirksame Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik fortzusetzen.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das glauben Sie doch selber nicht! — Horst Günther [Duisburg] [CDU/CSU]: Es ist doch noch nichts abgestoppt worden! — Zuruf von der F.D.P.: 10 Milliarden DM!)

Der Bundesarbeitsminister hat soeben wieder von der Brückenfunktion der Arbeitsmarktpolitik geredet. Aber offensichtlich bereitet er die Sprengung einiger dieser Brücken vor, nämlich Brücken für Arbeitslose, Brücken für ABM-Beschäftigte und deren Träger und für ältere Arbeitnehmer. Durch diese unsinnigen Kürzungen — die in unserem Antrag gegeißelt werden — bei Arbeitsförderungsmaßnahmen hat die Bundesregierung in den letzten Monaten die Lage nur verschlimmert, und in den nächsten Monaten wird sich dieses Problem sicherlich noch verschärfen. Das, was an Geldern bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen scheinbar eingespart wird, muß an anderer Stelle, zu einem großen Teil für Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe, schlimmstenfalls für Sozialhilfe durch die Kommunen, aufgebracht werden.
Für uns sind die neuen Ankündigungen von Finanzminister Waigel völlig inakzeptabel. Sein Motto „Entweder wird bei der Bundesanstalt gespart, oder die Beitragszahler werden wieder zur Kasse gebeten" ist eine starke Zumutung.

(Beifall bei der SPD)

Wenn der Bund keine Zuschüsse mehr an die Bundesanstalt für Arbeit bezahlt, bedeutet dies nach heutigem Sachstand für den Haushalt 1993 Einsparungen von ungefähr 8 Milliarden DM. Ich glaube, das kann auch das Bundesarbeitsministerium nachvollziehen und nachrechnen.
Wir haben vergangene Woche in Nürnberg gehört, daß schon bald ein Nachtragshaushalt beraten werden soll. Von daher wundert es mich schon sehr, wenn der Arbeitsminister jetzt von der Rückgabe von Milli-
arden spricht. Da stimmt irgend etwas nicht in seinem eigenen Haus.

(Julius Louven [CDU/CSU]: Er hat auf die letzten Jahre hingewiesen! — Ottmar Schreiner [SPD]: Das Tal der Ahnungslosen!)

Arbeitslose und Kurzarbeiter sollen anscheinend die durch die deutsche Einheit verursachten Mehrkosten bezahlen, wobei teilweise sogar die Kommunen mit der Sozialhilfe einspringen müßten. Ich glaube, das ist kontraproduktiv. Kontraproduktiv sind erst recht die Einsparungen bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik, etwa bei der beruflichen Bildung oder den ABM-Maßnahmen. Noch mehr Arbeitslose und noch mehr Arbeitslosengeldbezieher wären die logische und konsequente Folge, die wir in den letzten Monaten nachvollziehen konnten.
Die Waigelsche Alternative zur Einsparungspolitik und zum Leistungsabbau ist eine Beitragserhöhung für Arbeiter und Angestellte. Gleichzeitig verspricht er: keine weiteren Steuererhöhungen. Ich sage nur: Die Steuerlüge des vergangenen Jahres läßt bei solchen Ausführungen grüßen.

(Beifall bei der SPD)

Erneut zeigt sich, Politik gegen die sozial Schwächeren gehört zum Markenkennzeichen dieser Regierung. Der Taschendieb der kleinen Leute, Herr Blüm, ist diese Regierung und nicht die Preissteigerungsrate, wie Sie es soeben gesagt haben. Dort sitzt der Taschendieb, und die Abgabenpolitik, die Steuerpolitik der letzten Monate ist die Ursache dafür.
Die SPD sagt auf jeden Fall ein klares Nein zu diesen Maßnahmen.
Wir haben vorhin gehört, es solle einen Wettstreit der Ideen geben; auch Frau Babel hat darauf hingewiesen. Wir haben sinnvolle Vorschläge gemacht. Wir haben Deckungsvorschläge vorgelegt. Ich nenne sie noch einmal: Neben Arbeitern und Angestellten sollen auch die Selbständigen und die Beamten mit einem Arbeitsmarktbeitrag einen Teil der Arbeitsmarktkosten im Osten solidarisch mitfinanzieren. Auch die Arbeitgeber unterstützen inzwischen diesen Vorschlag. Ich glaube, mit diesen Maßnahmen sind wir auf dem richtigen Weg.
Zweitens bin ich der Meinung, die Beitragsbemessungsgrenze darf kein Tabu sein, wenn es um die solidarische Finanzierung geht.
Drittens. Politisch nicht hinnehmbar ist es natürlich, daß viele Betriebe, vor allem die Großbetriebe, unkündbare ältere Arbeitnehmer quasi auf Kosten der Solidarkasse vorzeitig in den Ruhestand schicken und wir das zu bezahlen haben. Es kostet Hunderte von Millionen Mark; das ist schon gesagt worden.
Herr Blüm, im Herbst des vergangenen Jahres haben Sie in Berlin eine Nachfolgeregelung für § 128 AFG angekündigt. Wo ist sie denn? Ich muß sagen: Es gibt nur Sprechblasen, es folgen keine Fakten. Die Arbeitgeber, vor allen Dingen die großen, die gute Gewinne einfahren, sind die Nutznießer.

(Beifall bei der SPD)

Die zentralen Forderungen unseres Antrages sind bekannt; ich brauche sie nicht zu wiederholen. Ich bin



Adolf Ostertag
der Meinung, diese Forderungen sind das absolute Minimum. Das Niveau der Arbeitsmarktpolitik muß zumindest so lange beibehalten werden — das sei insbesondere Frau Babel gesagt —, bis die wirtschaftliche Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt durchschlägt. Wenn es überhaupt Hoffnungen im Osten gibt, dürfen sie nicht durch zu kurz greifende Maßnahmen zerstört werden.
Ebensowenig können wir zulassen, daß im Westen bewährte Trägerstrukturen zerschlagen werden. Herr Louven, auf Grund von Erfahrungen aus meinem Wahlkreis kann ich sagen: Die Trägerstrukturen der christlichen Verbände, der Arbeiterwohlfahrt, der Caritas und anderer, brechen zusammen, wenn wir dieses Streichungskonzept in den nächsten Jahren fortführen.

(Beifall bei der SPD)

Die zwangsläufige Folge wäre, daß wir nicht einmal die Hälfte der AB-Maßnahmen im Westen finanzieren könnten.
Der Titel unseres Antrags heißt ganz bewußt: Sofortmaßnahmen zur Arbeitsmarktpolitik; er ist schon über sechs Wochen alt. Ich glaube, die Verschleppungstaktik der Koalition ist angesichts der dramatischen Entwicklung vor allen Dingen im Osten ein Skandal.

(Beifall bei der SPD)

Von daher ist eine schnelle Verabschiedung unseres Antrags geboten.
Beispielsweise würde ohne gesetzliche Initiative ab 1. Juli dieses Jahres die Möglichkeit des Eintritts in den Vorruhestand im Osten entfallen. Welche Folge das für die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hätte, sollen die Abgeordneten der CDU aus dem Osten hier einmal schildern. Ich glaube, Sie erfahren das doch tagtäglich. Dann wissen wir, wie katastrophal es ist, wenn wir die Verschleppungstaktik weiter hinnehmen.

(Beifall bei der SPD)

Sinnvolle und notwendige Arbeiten im öffentlichen Interesse gibt es genug; das ist hier schon gesagt worden. Aber diese Regierung ist weder lernfähig noch in der Lage, die notwendigen Maßnahmen einzuleiten oder sie auch nur fortzuschreiben, wie wir in einigen Punkten fordern.
Einen Punkt möchte ich noch unterstreichen, den auch Frau Hildebrandt angesprochen hat: Die Frauenarbeitslosigkeit hat in den neuen Ländern inzwischen eine Quote von 20 % erreicht. Sie ist nahezu doppelt so hoch wie bei den Männern. Die jüngste Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung weist nach, daß auch bei der Qualität der Arbeitsplätze die Frauen den kürzeren ziehen. Hierzu muß man sagen: Das Recht auf Arbeit darf nicht geschlechterspezifisch sein; es gilt auch für die Frauen. Hier müssen wir besondere Anstrengungen unternehmen.

(Beifall bei der SPD)

Ich appelliere bewußt über die Fraktionsgrenzen hinweg, sich nicht mehr mit unverbindlichen Absichtserklärungen oder mit Hinhaltetaktik zu
begnügen, wie es der Bundesarbeitsminister soeben gemacht hat. Wir brauchen schnelle und konkrete Fördermaßnahmen durch den Bund. Die Länder allein, insbesondere die im Osten, können das sicherlich nicht leisten.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, so notwendig unsere Sofortmaßnahmen sind, sie allein reichen nicht aus. Wir bekennen uns zur Sozialen Marktwirtschaft. Aber der Markt allein wird es eben nicht richten, wenn es um die Arbeitsmarktpolitk geht. Hier hat der Staat gezielt soziale Hilfen zu geben. Regine Hildebrandt hat schon auf die Notwendigkeit eines Strukturförderungsprogramms hingewiesen, das über das Arbeitsförderungsgesetz hinausgeht. Aber auch das Arbeitsförderungsgesetz selbst ist reformbedürftig. Davon sind wir überzeugt.
Einige Stichworte sollen das verdeutlichen: Das Ziel der Vollbeschäftigung konnte mit dem AFG bisher nicht erreicht werden. Die passive Finanzierung von Arbeitslosigkeit hat ein Übergewicht gegenüber den aktiven Maßnahmen. Das AFG-Instrumentarium ist zu sehr auf individuelle Überbrückungshilfen zugeschnitten.
In der Arbeitsverwaltung wird — wie wir wissen — intensiv über das Projekt „Arbeitsamt 2000" nachgedacht. Ich bin der Meinung, wir sollten auch intensiv — das ist der Wettstreit der Ideen — über ein „AFG 2000" nachdenken, das die Zukunftsaufgaben der Arbeitsmarktpolitik bewältigt.
Wir Sozialdemokraten sind mit unseren Überlegungen dazu noch nicht fertig. Aber ich glaube, wir werden sie sehr phantasievoll in die Debatten des Bundestages einbringen. Ich darf das jetzt schon ankündigen. Ich hoffe, daß wir dann für eine beschäftigungspolitische Initiative der SPD-Bundestagsfraktion mehr Unterstützung durch diese Regierungskoalition bekommen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1209135100
Frau Abgeordnete Nolte ist unsere nächste Rednerin. Bitte, Frau Nolte.

Claudia Nolte (CDU):
Rede ID: ID1209135200
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte der SPD-Fraktion für ihren Antrag „Sofortmaßnahmen zur Arbeitsmarktpolitik" danken. Mit dem vorliegenden Antrag wird nämlich belegt, daß die Opposition keine eigenen Konzepte vorzuweisen hat.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Jetzt werden Sie aber unverschämt! Vorsichtig!)

Sie machen es sich recht einfach: Sie nehmen die Programme der Koalition, legen noch ein bißchen drauf — und fertig. Woher Sie das Geld für die Zuschüsse nehmen, ist zumindest aus Ihrem Antrag nicht ersichtlich.

(Ottmar Schreiner [SPD]: Sie treiben einen ja in die Raucherpause!)

Sie verzichten auf eigene, neue Vorschläge und
gestehen damit indirekt, daß die arbeitsmarktpoliti-



Claudia Nolte
schen Maßnahmen der Bundesregierung richtig sind.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das hat nicht einmal Herr Blüm behauptet!)

Für die neuen Bundesländer sind in der Tat umfangreiche Maßnahmen ergriffen worden: Wie 1991 können auch 1992 durchschnittlich 400 000 ABM-Kräfte eingesetzt werden. Das Altersübergangsgeld wurde von mehr als einer halben Million Personen in Anspruch genommen, und auch die Weiterbildungsangebote und die Kurzarbeiterregelung brachten eine spürbare Entlastung des Arbeitsmarktes. Insgesamt blieben dadurch 1,8 Millionen Menschen vor Arbeitslosigkeit bewahrt.
Es ist wahr, der Arbeitsmarkt ist weiterhin sehr angespannt. Die jüngsten Daten aus Nürnberg zeigen, daß der Abbau der Arbeitslosigkeit und die dazu notwendige wirtschaftliche Entwicklung Thema Nummer eins in den jungen Bundesländern bleiben.
Über 60 Prozent der Arbeitslosen sind Frauen. Es ist leider immer noch so: Frauen sind die ersten, die entlassen werden, und die letzten, die man wieder einstellt.

(Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Nur unter dieser Regierung!)

Hier besteht eine besondere Herausforderung.

(Zuruf von der SPD: An wen?)

Schon vor mehreren Monaten hat die Bundesregierung — und hier vor allem Angela Merkel — spezielle Regelungen ausgehandelt, die auch Sie jetzt fordern, um Frauen verstärkt den Zugang zu ABM-Stellen zu ermöglichen. So beträgt der Zuschuß zum Arbeitsentgelt beim Einsatz arbeitsloser Frauen bis zu 100 Prozent der Lohnkosten. Des weiteren sind die Arbeitsämter gehalten, der Entwicklung des Frauenanteils ihr besonderes Augenmerk zu schenken und im Rahmen der Fachaufsicht — bei nicht plausiblen Abweichungen des Frauenanteils vom Durchschnitt — auf eine gezielte Änderung der Zuweisungspraxis im jeweiligen Arbeitsamt hinzuwirken.
So konnte eine Steigerung des Frauenanteils an ABM auf etwa 40 Prozent erreicht werden. Natürlich ist das bei der Höhe der Frauenarbeitslosigkeit noch nicht zufriedenstellend. Die Zuweisung von Frauen
— auch in nichtfrauentypische Berufe — muß noch mehr genutzt sowie der Bereich der sozialen Dienste verstärkt werden.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was wollen Sie denn da tun?)

— Ihre Vorschläge sind ja auch nicht sehr konkret; das muß man in dem Zusammenhang einmal sagen.

(Zuruf von der SPD: Wieso „auch"?)

Erfreulich ist jedoch der über 60%ige Anteil von Frauen an Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen. Die Motivation von Frauen zur Weiterbildung und ihr Interesse an einer qualifizierten Arbeit erhöhen ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Es war richtig, der Qualifizierung im Rahmen der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen ein solches Gewicht
beizumessen. Insgesamt nutzen allein in den neuen Ländern über 380 000 Frauen und Männer die beruflichen Weiterbildungsmöglichkeiten. Es ist sinnvoll, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mit Weiterbildung zu kombinieren. Dies wird gerade von jungen Menschen gern genutzt. Für sie ist es entscheidend, nicht ohne Tätigkeit auf sich allein gestellt zu sein. Auch hier wird die Bedeutung einer aktiven Arbeitsmarktpolitik sichtbar.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, 40 Jahre sozialistische Kommandowirtschaft sind die Ursache unserer heutigen Probleme. Das muß immer wieder gesagt werden, auch wenn es einige von Ihnen nicht gerne hören. Es hat sich ja inzwischen herumgesprochen, daß sich Lafontaine irrte, als er sagte, die DDR gehöre zu einer der zehn führenden Industrienationen. Wer — wie ich — mehrmals in verschiedenen Kombinaten arbeitete, war oft genug erstaunt darüber, daß überhaupt noch etwas funktionierte. Die SED hat die deutschen Länder zwischen Elbe oder Oder/Neiße ökologisch und ökonomisch zerstört.
Für den Aufbau einer leistungsfähigen Wirtschaft in den neuen Bundesländern bedarf es deshalb einer Vielzahl von Maßnahmen. Dafür gibt es keine einfachen Rezepte. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind nicht das Allheilmittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Es ist bekannt, daß sie nur übergangsweise eingesetzt werden sollten und daß man durchaus darauf achten muß, daß ABM-Kräfte neu entstehenden kleinen und mittelständischen Unternehmen nicht schaden. Dazu kommt, daß man eine Mark nur einmal ausgeben kann und daß Mittel, die ausschließlich in staatliche Beschäftigungspolitik fließen, nicht für dringend notwendige Investitionen eingesetzt werden können.
Wir begrüßen die sozial flankierenden Maßnahmen des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung und der Bundesanstalt für Arbeit ausdrücklich. Aber damit Dauerarbeitsplätze geschaffen werden können, bedarf es auch des verstärkten Engagements der Wirtschaft und des zuständigen Ministeriums. Staatliche Beschäftigungspolitik ersetzt nicht die notwendigen privaten Investitionen und die Schaffung neuer, sicherer Arbeitsplätze — vor allem im Mittelstand.
Noch bestehende Hemmnisse, z. B. Bürokratismus, müssen abgebaut werden. Ich bezweifle, ob es zu dem, was man das deutsche Wirtschaftswunder nennt, gekommen wäre, wenn es damals das Niveau des heutigen gesetzlichen Bestimmungswerkes gegeben hätte.
Aber auch vor Ort, in den Kommunen, ist Entscheidungsfreude gefragt. Wer nur wartet, bis von oben eine Weisung kommt, darf sich nicht wundern, wenn sich nichts bewegt. Ebenso können die Länder ihren Beitrag zu einer positiven Entwicklung leisten, z. B. durch Landesentwicklungspläne und eigene Fördermittel. Bei meiner Wahlkreisarbeit wird mir immer wieder bewußt: Wir können nicht alles von Bonn aus regeln.

(Zuruf des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD])




Claudia Nolte
— Ich kann mir vorstellen, daß Sie Wahlkreisarbeit nicht kennen; tut mir leid.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ihre kenne ich nicht!)

Die Herausforderungen in den neuen Bundesländern sind groß. Durch Miesmachen schafft man keinen neuen Arbeitsplatz. Auch Investoren wird man nicht gewinnen. Mehr als staatliche Beschäftigungsprogramme ist die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Deutschland Voraussetzung für die Schaffung zukunftsfähiger Arbeitsplätze.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1209135300
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Dr. Ulrich Briefs.

Dr. Ulrich Briefs (PDS/LL):
Rede ID: ID1209135400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ständige konzeptionslose Herumfummeln der Bundesregierung an Arbeitsmarktförderungsmaßnahmen — zuletzt die bekanntgewordenen Sparpläne von Minister Waigel — ist verfehlt, kontraproduktiv, unsozial. Der Antrag der SPD „Sofortmaßnahmen zur Arbeitsmarktpolitik" ist allein schon deshalb völlig berechtigt. Sofortmaßnahmen zur Arbeitsmarktpolitik sind angesichts der nach wie vor auf hohem Niveau verstetigten Dauerarbeitslosigkeit im Westen zweckmäßig und angebracht.

(Julius Louven [CDU/CSU]: Treten Sie dieser Partei bei?)

Sie sind aus vielfältigen Gründen, insbesondere aus sozialen und psychologischen Gründen, im Osten Deutschlands, der in eine völlig perspektivlose Beschäftigungskatastrophe hineingaloppiert, völlig unerläßlich. Was soll aus den vielen Menschen werden, die derzeit nur durch AB-Maßnahmen — und das höchstens für Monate, ein Jahr oder wenig mehr — überhaupt Arbeit und Einkommen haben? Viele von ihnen — das weiß ich aus eigenen Kontakten im Osten — wissen aber auch jetzt bereits kaum mehr, wie sie mit rasch steigenden Mieten und sonstigen steigenden Lebenshaltungskosten mit dem Einkommen aus einer AB-Maßnahme zurechtkommen sollen. AB-Maßnahmen, sonstige Beschäftigung schaffende Maßnahmen wie etwa die Beschäftigungsgesellschaften sind „Kinder der Not" . Sie sind im Westen entstanden. Wenn die Not am Arbeitsmarkt allerdings so rasch und folgenschwer zunimmt wie jetzt und wie mit den nächsten Entlassungswellen etwa der Treuhand-Anstalt im Osten, dann müssen diese „Kinder der Not" am Leben gehalten werden. AB-Maßnahmen müssen ausgebaut, dürfen nicht zusammengestrichen werden, wie die Bundesregierung es jetzt plant.

(Zustimmung bei der SPD)

Wer sie zusammenstreicht, vergeht sich insbesondere an den Menschen im Osten.
Zu unterstützen ist auch besonders die Forderung, den Frauenanteil an AB-Maßnahmen, durch gezielte Maßnahmen zu erhöhen. Frauen sind ja bekanntlich in besonderer Weise — und das mehrfach — die Opfer des plan- und konzeptionslos abgewickelten deutschen Einigungsprozesses.
Marktwirtschaftliche Folklore, wie wir sie soeben gehört haben,

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Wie ist das denn in Holland?)

platte Beschwörungsformeln der Dynamik der Marktwirtschaft, wie sie hier seitens der Koalitionsparteien sehr häufig zu hören sind, helfen nicht weiter. Ein Blick in die Geschichte: Trotz eines erheblichen Wirtschaftswachstums von real 4 % im Durchschnitt der Jahre 1976 bis 1979 ist die 1974/75 in Westdeutschland mit einem Spitzenwert von 1,3 Millionen Arbeitslosen im Winter 1974/75 entstandene Massenarbeitslosigkeit in diesen Jahren des hohen Wachstums nicht nennenswert gesenkt worden.
Noch alarmierender: Auch die längste ununterbrochene Wachstumsphase der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik von 1983 bis 1990 hat die Massenarbeitslosigkeit im modernen Westen nicht verschwinden lassen. Infolge der im Zusammenhang mit neuen Technologien rapide steigenden notwendigen Kapitalintensität — da kostet ein Arbeitsplatz in den klassischen Industrien eben inzwischen 500 000 bis 1 Million DM und zum Teil noch mehr — und infolge der sie wegen des damit einhergehenden Fixkostendrucks begleitenden Rationalisierungsmaßnahmen im Rahmen der sogenannten „systemischen Rationalisierung" nähern wir uns dem „no-job-growth", dem Wachstum ohne Arbeitsplätze.
Angesichts dieser und anderer düsterer Perspektiven für den Arbeitsmarkt in der Zukunft sind AB-Maßnahmen, ist die Bereitschaft zu entsprechenden Ausgaben durch dieses Parlament notwendig, sie ist sinnvoll, sie ist sozial. Aber es sind Notmaßnahmen. Sie sind nicht hinreichend. Aufgabe einer auf geklärten, langfristig konzipierten Beschäftigungs- und Industriepolitik wäre vielmehr die Förderung — direkt und indirekt — von ganz überwiegend niedrig- und mittelkapitalintensiven Arbeitsplätzen in ökologisch und sozial nützlichen Bereichen wie etwa dem Umbau des Verkehrssystems oder Teilen davon, der Wohnumfeldverbesserung, der Modernisierung und Instandhaltung von Alt- und Neubauten, dem Umbau der Energieerzeugung und Energieversorgung, der Schaffung einer gesundheitlich verantwortbaren Nahrungsmittelerzeugung und -verarbeitung usw. usf. Da lassen sich eben mit durchschnittlich 50 000 oder 100 000 DM Investitionen pro Arbeitsplatz Arbeitsplätze schaffen, die noch zudem helfen, wichtige Aufgaben zu lösen, vor allem im Rahmen der Herausforderung des 21. Jahrhunderts: der Lösung der globalen ökologischen Probleme.
Wenn wir dieser Logik folgen, dann möchte ich Ihre Aufmerksamkeit zum Schluß auf eine andere positive Entwicklung lenken. In Westdeutschland haben sich — ebenfalls als „Kinder der Not" — am Arbeitsmarkt und zugleich als Versuch, mit der umweltzerstörerischen Logik der kapitalistischen Produktionsweise zu brechen, in größerer Zahl Alternativprojekte und Alternativbetriebe gebildet. Diese Alternativprojekte und diese Alternativbetriebe geben, denke ich, einen weiteren Schlüssel für die Lösung der Arbeitsmarktprobleme und auch zugleich der ökologischen Probleme. Ich meine, wir sollten überlegen — das möchte ich anregen —, ob wir nicht regelrecht so etwas wie



Dr. Ulrich Briefs
eine Vorökonomie schaffen müssen, wo aus öffentlichen Töpfen Mittel bereitgestellt werden, damit Menschen, die auf sich selbst gestellt, aus eigener Initiative sinnvolle Produktionskonzepte im lokalen und regionalen Bereich entwickeln, durch entsprechende Förderungsmaßnahmen in die Situation versetzt werden, die Probleme zu lösen. Das Streichkonzert 1992, das die Bundesregierung offensichtlich in Verlängerung ihrer Sozialabbaupolitik gerade im Bereich der Arbeitsmarktförderungsmaßnahmen plant, hilft jedenfalls auf diesem Weg keinen Schritt weiter.
Danke.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1209135500
Nächster Redner ist jetzt unser Kollege Hans Büttner.

Hans Büttner (SPD):
Rede ID: ID1209135600
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich heute zu Beginn dieser Debatte hier zugehört habe, habe ich gemeint, der Antrag, den wir hier vorgelegt haben, würde bei allen, zumindest bei den Sozialpolitikern, auf breite Zustimmung stoßen, denn er beinhaltet genau das, was Sie, Herr Minister, mit Recht unterstrichen haben: daß wir in der Arbeitsmarktpolitik die bewährten Mittel einsetzen und sie dann, wenn es notwendig ist, wenn nämlich die Arbeitslosigkeit zunimmt, wenn sie sich stabilisiert, ausbauen, um zu verhindern, daß die Menschen aus dem Arbeitsleben, aus der Kommunikation mit anderen hinausgedrängt werden.
Genau dieses Konzept steht hinter diesem Antrag: ein Nützen der bewährten Mittel, um die Probleme anzugehen. Was halten Sie dagegen, Frau Dr. Babel? Leider wieder die alte Leier, die nicht sehr von Kenntnis getrübt ist, daß nämlich ABM Menschen vom Arbeitsmarkt fernhalten würden.

(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das habe ich gar nicht gesagt! Da haben Sie nicht zugehört!)

Es gibt keine AB-Maßnahme, in der jemand dauerhaft bleibt. AB-Maßnahmen haben vielmehr das Ziel, Menschen wieder in reguläre Arbeitsverhältnisse zu führen. Wenn wir mehr Arbeitslose haben und nicht genügend Arbeitsplätze, brauchen wir vorübergehend mehr AB-Maßnahmen, um diese Brückenfunktion auch sinnvoll wahrnehmen zu können.

(Beifall bei der SPD — Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das war ein bißchen schwach!)

Ein Zweites. Herr Minister, Sie haben vorhin darauf hingewiesen, daß die AB-Maßnahmen mit Mitteln vor Ort phantasievoll ausgestaltet werden können und müssen. Das ist richtig. Das setzt aber voraus, daß die Mittel dafür solidarisch aufgebracht werden. Das geschieht nun einmal zentral in unserem Staate. Ich hoffe, es bleibt auch so, und es wird in diesem Falle nicht regionalisiert. Wenn das aber so ist, ist es mehr als kontraproduktiv und sehr gefährlich, wenn man gleichzeitig der Arbeitsverwaltung, die schon jetzt für jeden Arbeitnehmer sichtbar die Hauptlast der Arbeitsmarktpolitik dieser Regierung trägt und die damit deutlich macht, daß es die Beitragszahler sind, die Arbeitnehmer und Unternehmer, die diese Lasten tragen, jetzt auch noch den Anteil, der aus Steuermitteln und damit von allen aufgebracht wird, streichen will und in Kauf nimmt, daß im nächsten Jahr 8 Milliarden DM in diesem Haushalt fehlen. Wenn man das tut, setzt man in dieser sehr prekären Situation ein neues schlimmes Signal für die jetzt laufende Tarifrunde. Denn die Menschen wissen sehr genau, daß ihnen angesichts der Belastung über Beiträge im letzten Jahr und auch in diesem Jahr nicht einmal die Abschlüsse, wie sie jetzt vom Schlichter vorgesehen gewesen sind, einen realen Kaufkraftzuwachs gebracht hätten. Sie hätten nach wie vor netto draufgezahlt. Gleichzeitig sind Sie nicht bereit, die Unternehmer, Selbständigen und andere wenigstens etwas mit heranzuziehen.
Ich gebe Ihnen recht, Herr Minister, wenn Sie sagen, man müßte Investitionen drüben fördern. Aber dann würde ich darum bitten, hier genau die gleiche Sorgfalt anzulegen und das gezielter zu tun, als es bisher geschehen ist. Bisher wurde nämlich nach dem schlimmen Gießkannenprinzip verfahren. Ich will Ihnen nur zwei Beispiele nennen. Ich beziehe mich auf meinen Wahlkreis und denke an zwei Unternehmen, ein Bauunternehmen und eine Fahrschule. Sowohl die Fahrschule wie auch das Bauunternehmen verlagern einen kleinen Teil ihres Betriebs — der eine mit einem Wagen, der andere mit wenigen Arbeitern — in die neuen Bundesländer und verlegen ihren Firmensitz nach dort, mit dem Ergebnis, daß alle Investitionen — auch für die alten Bundesländer — auf einmal steuerbegünstigt abgewickelt werden können. Das halte ich auch für einen Mißbrauch von Leistungen, und den halte ich für schlimmer, als wenn jemand vielleicht einmal — und auch das ist meist nicht nachgewiesen — im Bereich der Arbeitslosigkeit und der Not eine Angabe nicht macht, weil es sonst die Arbeitslosenhilfe, die gering genug ist, nicht gibt. Ich bin bereit, darüber zu reden; aber dann muß man da anfangen, wo die Großen betroffen sind, und nicht bei den Kleinen.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Ich habe, als wir heute angefangen haben, gehofft, daß unser Antrag, der sich, wie gesagt, auf die bewährten Mittel der Arbeitsmarktpolitik stützt, Ihre Unterstützung finden wird. Meine Kollegen haben vorher bereits darauf hingewiesen, daß wir auch bereit sind, mitzuhelfen, die nötigen Finanzmittel durch entsprechende Umschichtung aufzubringen. Ich war schon etwas enttäuscht, als ich die ersten Pressemeldungen über den sehr grandiosen Plan von Finanzminister Waigel hörte — wenn man in diese prekäre Tarifsituation mit einer solchen Botschaft hineingeht, könnte man fast vermuten, man wollte diese Tarifsituation weiter anheizen, um einen Sündenbock zu finden —, daß unser Anliegen zunächst von den Sozialpolitikern in den Reihen der CDU und der CSU und auch von Ihnen wenig gehört worden ist. Ich habe zur Kenntnis genommen, daß sich inzwischen Widerstand regt und anscheinend die Vernunft einkehrt; denn so können wir die Aufgaben der deutschen Einheit in der Tat nicht weiter lösen, daß wir nur den einen Teil — diejenigen, die arbeiten, die Rentner, die kleinen Leute — zum Finanzieren heranholen und die anderen abkassieren lassen — bis hin



Hans Büttner (Ingolstadt)

zu Spekulationsgewinnlern und all denen, die drüben ihre Geschäfte mit Versicherungen usw. machen. Das sind zwar Existenzgründungen — man kann sie so bezeichnen —; aber vieles ist auch ganz gravierender Mißbrauch, der an dieser Stelle deutlich angeprangert werden muß und bei dem die Regierung handeln könnte, um auch ein soziales Zeichen zu setzen.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Die Ministerin von Brandenburg hat am Anfang sehr eindrucksvoll die Probleme der Menschen dort aufgezeigt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Am Ende ging es; aber am Anfang war es schlimm!)

— Wenn man ihr Engagement und ihren Einsatz kennt und weiß, wie nah sie noch an den Menschen ist, dann muß man auch Verständnis dafür haben, daß sie das mit Engagement und manchmal auch mit Zorn und Wut hier deutlich macht.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Ich glaube, es stünde uns allen ganz gut an, wenn wir, sobald wir über die Fragen der Menschen reden, mehr Engagement zeigen und weniger Zahlen auf den Tisch legen würden.
Wenn wir das tun, dann würden wir auch erkennen, daß wir mit solchen ersten Schritten, wie wir sie vorgeschlagen haben, in der momentanen Situation die Verdrossenheit der Bürger im Westen, die Angst der Bürger im Westen und unserer Bürger im Osten besser auffangen und steuern können als mit Durchhalteparolen und Schuldzuweisungen an die Gewerkschaften. Dieser Vorschlag entspricht den Vorstellungen der Gewerkschaften und auch eines großen Teils der Arbeitgeber, die mitbeteiligt waren und mitbeteiligt werden sollen, wenn wir diesen Aufschwung gemeinsam schaffen wollen. Dann ist es verteufelt schlecht, wenn man zur gleichen Zeit diesen Teil, die Gewerkschaften und ihre Mitglieder, die ihren Beitrag geleistet haben, nun in einen unnötigen Arbeitskampf zwingt, wie diese Regierung es vorgegeben hat.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sind die Länder nicht beteiligt?)

Ich meine, wir hätten eine gute Chance. Es wäre ein Signal, das ich von Ihnen eigentlich erwartet hätte, daß Sie zu diesem Antrag uneingeschränkt ja sagen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Was ist mit den Ländern?)

Es ist ein kleiner erster Schritt, Verbesserungen durchzuführen, ein Signal, eine Symbolik, auf die die Menschen hoffen, die bereit sind, zu teilen, aber die es nicht hinnehmen werden, daß die Lasten der Einheit ständig nur die Kleinen zu tragen haben, nämlich die Arbeitnehmer, und die Gewinne von der Kapitalseite eingezogen werden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1209135700
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Jürgen Türk.

Jürgen Türk (FDP):
Rede ID: ID1209135800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum Antrag der SPD möchte ich folgendes bemerken: Es ist unumstritten, daß zusätzliche Sofortmaßnahmen zur Erhaltung und Schaffung effizienter Arbeitsplätze erforderlich sind. Das ist unumstritten. Natürlich ist auch folgendes notwendig: Verknüpfung von ABM und Qualifzierung, Anreize für ABM-Beschäftigte zur Aufnahme regulärer Beschäftigungsverhältnisse,

(Barbara Weiler [SPD]: Die bleiben doch nicht in ABM, wenn es andere Beschäftigungen gibt!)

Projektfinanzierung bei auslaufender ABM, Qualitätserhöhung bei Weiterbildungsmaßnahmen und — weil ich wie Frau Hildebrandt aus Brandenburg komme, bin ich natürlich auch dafür — Vergabe-ABM.

(Beifall bei der SPD)

Es ist aber fraglich, ob eine Beschleunigung nur und hauptsächlich bei den sogenannten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen erfolgt. Es ist auch mir klar, das ABM und Umschulung besser als bezahlte Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe sind. Das ist unumstritten. Es besteht aber die Gefahr — das betone ich —, daß eine so verstandene Arbeitsmarktpolitik Illusionen weckt, daß die öffentliche Hand die Menschen mittel- und längerfristig mit Arbeit versorgen kann. Davor muß man tatsächlich warnen. Wenn dieser zweite Arbeitsmarkt überbetont wird, besteht die Gefahr, daß bei pauschaler Forderung der Mittelerhöhung individuelle Initiativen und damit das Entstehen von Dauerarbeitsplätzen verhindert werden.
Für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen im herkömmlichen Sinne sollten also nur so viel Mittel als unbedingt nötig, für die Schaffung von effizienten Dauerarbeitsplätzen so viel Mittel als möglich bereitgestellt werden.

(Beifall bei der F.D.P.)

Es können also keine absoluten Summen gefordert werden, wie das hier immer wieder gemacht wird. Der jeweilige Bedarf für sogenannte arbeitsmarktpolitische Maßnahmen muß im Rahmen einer komplexen Wirtschaftspolitik ermittelt und nachgewiesen werden. Hier müssen sich in der Tat Wirtschaftspolitiker und Arbeitsmarktpolitiker zusammensetzen und die Sache einmal gemeinsam ausrechnen.

(Beifall bei der F.D.P.)

Ich verstehe überhaupt nicht, daß man das voneinander abkoppelt.

(Bundesminister Dr. Norbert Blüm: Sehr gut!)

Dabei muß die Erhaltung und Neuschaffung von wettbewerbsfähigen Dauerarbeitsplätzen das vorrangige Ziel der Länder und des Bundes sein. Vor allen Dingen muß hier zügig gearbeitet werden, weil mit der Arbeitsplatzbeschaffung die Grundlage für Steuereinnahmen und damit für Einnahmen des Staates geschaffen wird.



Jürgen Türk
Was ist also sofort notwendig? — Erstens: die sofortige Aufstockung der Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe ,,Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" im Bundeshaushalt 1992 um mindestens 2 Milliarden DM, entsprechend der Forderung des Bundeswirtschaftsministers. Das hat bisher noch keiner gesagt, aber ich glaube, das ist schon eine wichtige Sache.

(Ottmar Schreiner [SPD]: Wie heißt denn der Herr?)

— Haben Sie das schon vergessen?

(Dr. Peter Struck [SPD]: Wo ist denn der Herr?)

Ich gehe davon aus, daß dafür beim Finanzminister Verständnis besteht, zumal, wie ich glaube, Übereinstimmung darüber herrscht, daß kein Investitionsstau entstehen darf. Ich sprach bewußt von „mindestens 2 Milliarden DM Aufstockung", weil nur damit z. B. in Brandenburg die bereits eingegangenen Verpflichtungen abgedeckt werden können. Es bleibt in Brandenburg also ein Antragsvolumen von ca. 0,5 Milliarden DM übrig, das ohne höhere Aufstockung des Bundes nicht bewilligt werden kann.
Erst heute habe ich wieder den Hilferuf eines Existenzgründers aus Guben in der Nähe der polnischen Grenze erhalten. Er schafft in diesem Grenzbereich eine hochmoderne Lackiererei mit einem Auftragsvolumen von ca. 0,7 Millionen DM im ersten Jahr und kann jetzt nicht die eingehenden Rechnungen bezahlen. Wenn die Aufstockung der Mittel nicht kurzfristig erfolgt, bleibt eine Investitionsruine zurück, und mindestens 15 Dauerarbeitsplätze können nicht geschaffen werden. Der Gubener Fall ist kein Einzelfall. Die Mittel der Gemeinschaftsaufgabe müssen also kurzfristig aufgestockt werden, damit der entsprechende Investitionszuschuß gezahlt werden kann; denn ERP, Hausbankkredit und Eigenkapital sind bereits ausgeschöpft.
Zweitens. Umgehend muß auch die Investitionszulage von 12 % über den 30. Juni 1992 hinaus verlängert werden; denn ostdeutsche Existenzgründer haben in der Regel kein nennenswertes Eigenkapital.
Drittens muß ebenfalls kurzfristig eine Regelung über die Gewährung von Investitionskrediten erfolgen. Ostdeutschen Unternehmen wird kaum oder nur zögerlich Kredit gewährt. Hier muß gegebenenfalls über Bundes- bzw. Landesbürgschaften nachgedacht werden.
Viertens zu Hermes-Bürgschaften für Verträge mit Osteuropa: Wenn es auch verständlich ist, daß die Bundesregierung eine Deckung durch Staatsgarantie fordert, sollte man meines Erachtens etwas risikobereiter sein, da hierdurch eine große Anzahl entwicklungsfähiger ostdeutscher Unternehmen und damit auch Arbeitsplätze gerettet werden können. Das heißt, diese Unternehmen brauchen diese Überbrükkungshilfe.
Fünftens. Ebenfalls erforderlich ist die drastische Erhöhung des Anteils an privaten Investitionen. Minister Blüm hat es schon kritisiert: Es ist in der Tat unbefriedigend, um es einmal gelinde auszudrücken,
daß bisher nur 60 % des Westniveaus pro Kopf in Ostdeutschland erreicht wurden, obwohl ein immenser Nachholbedarf besteht. Neben objektiven Gründen und eventuelle unzureichenden Anreizen besteht immer noch Voreingenommenheit durch ungenügende Information über tatsächlich vorhandene Standortvorteile, die wir nämlich haben. Das hat mir z. B. folgendes bewiesen. Bei meiner permanenten Suche habe ich u. a. auch den ersten Botschaftssekretär der US-Botschaft zu einer Befahrung vor Ort eingeladen. Nach erfolgter Besichtigung einiger Standorte in Brandenburg schätzte er ein, daß er viel eher hätte kommen müssen. Aber ich glaube, es ist noch nicht zu spät. Inzwischen ist die US-Botschaft dabei, ihre Investoren von vorhandenen Standortvorteilen zu überzeugen. Diese Einladung hatte ich allerdings auch an die deutsche Industrie geschickt. Aber, bitte schön, wenn die Amerikaner oder die Japaner schneller sind, dann soll es uns recht sein.
Sechstens. Eine weitere Sofortmaßnahme ist erforderlich, nämlich die verbilligte Abgabe bundeseigener Liegenschaften einschließlich nicht umweltgeschädigter Armeeobjekte und nicht betriebsnotwendiger Treuhandliegenschaften.
Über die bestehende Regelung hinaus müssen umgehend diese Liegenschaften auch für Gewerbe- und Industrieansiedlungen zu günstigen Konditionen abgegeben werden. Das dürfte dann auch ein gemeinnütziger Zweck sein.
Es macht keinen Sinn, auf vorhandene Möglichkeiten zu verzichten und an Stelle dessen auf grüner Wiese für zu errichtende Infrastruktur bis zu 90 % Fördermittel aus dem entsprechenden Bundestopf zu entnehmen. Hier sind über die verbilligte Abgabe hinaus Regelungen über das Erbbaurecht, d. h. 99 Jahre Pacht, Belastung mit Grundschuld, Gewinnabführung usw. möglich. Da ist also sicher das geeignete Instrumentarium zu finden. Es muß zum Prinzip werden, daß auf solchen nicht betriebsnotwendigen Flächen an Stelle der wegbrechenden Arbeitsplätze alternative neue Arbeitsplätze aufgebaut werden. Potentielle Investoren sind vorhanden.
Natürlich müssen diese Aktivitäten zur Schaffung von Rahmenbedingungen für Gewerbe- und Industrieansiedlungen koordiniert werden. So z. B. hat wieder einmal Brandenburg über die regionalen Aufbaustäbe hinaus ein Netz von regionalen Entwicklungsgesellschaften für aktive Strukturpolitik geschaffen. Jetzt geht es darum, daß diese Entwicklungsgesellschaften sofort wirksam werden. Die Koordinierung muß die Privatisierung durch die Treuhand einschließen; das kann also kein losgelöster Prozeß sein.
Aber zu diesem Wirksamwerden gehört natürlich auch wieder Geld, eine finanzielle Unterstützung, und damit auch eine Unterstützung zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Das heißt also, wir sind für eine weitere Beschleunigung auf dem Arbeitsmarkt. Das kann aber nicht nur die in Ihrem Antrag aufgeführten Instrumente beinhalten, sondern muß vor allen Dingen Investitionen — und darauf kommt es mir hier an — und damit Dauerarbeitsplätze fördern.



Jürgen Türk
Im übrigen bin ich davon überzeugt, daß die hier wieder einmal an den Tag gelegte Polemik keinem weiterhilft.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Das soll sich Norbert Blüm mal merken! — Ottmar Schreiner [SPD]: Der fängt immer an, der macht das immer!)

— Das kommt von beiden Seiten des Hauses. Er hat diesmal nicht angefangen; das stimmt nicht.
Ich bin tatsächlich davon überzeugt vielleicht
können die Sozialpolitiker einmal zuhören —, daß hier nur konstruktive Zusammenarbeit hilft, in welcher Form auch immer: runder Tisch oder konzertierte Aktion, egal, wie man das nennt. Ich bin davon überzeugt, daß es sinnlos ist, wenn man gegeneinander agiert.
Draußen versteht das keiner mehr, was wir hier drin machen.
Schönen Dank.

(Beifall bei der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1209135900
In dieser Debatte erteile ich jetzt noch einmal der Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen, Dr. Regine Hildebrandt, das Wort.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1209136000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich schließe mich diesem Antrag mit Vergnügen an. Wir wollen nicht zu große Worte in den Mund nehmen, aber unsere Brandenburger Toleranz, von der wir immer reden, und eine konstruktive Zusammenarbeit haben einen ganz anderen Stil als die Zusammenarbeit hier, wie ich sie heute erleben mußte.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Ich hoffe, das hält sich bei uns noch eine Weile und nützt uns allen zusammen.
Ich möchte — deswegen bin ich noch einmal hierhergekommen, lieber Herr Blüm — zu dem Thema „Macht mal was" kurz noch etwas sagen. Jeder hat hier in diesem Gemeinwesen seine Aufgabe. In den Ländern, in den Kommunen und in den einzelnen Arbeitsförderungsgesellschaften, bei den einzelnen Betrieben versucht man, mit der nötigen Flexibilität und Kreativität wirksam zu werden. In Brandenburg haben wir mit viel Mühe z. B. über 100 Arbeitsförderungsgesellschaften gegründet. Wir haben für über 600 ABM-Kräfte an den unterschiedlichen Stellen sinnvolle, gut kontrollierte professionell arbeitende ABM einzurichten. Das haben wir jetzt geschafft; das war unsere Flexibilität.
Nun ist das ABM-Volumen, das uns zur Verfügung steht und das wir jetzt brauchen, nicht mehr da. Verstehen Sie, daß ich dann sage: Wir haben doch versucht, alles zu tun. Wir hatten im vergangenen Jahr auch schon ein Sofortprogramm „Arbeit für Brandenburg"; wir haben jetzt spezielle Projekte für Frauen, speziell für Frauen über 50, für Jugendliche. Wir sind bereit, dies alles mit Landesmitteln in Höhe von 300 Millionen DM zu unterstützen, zu initiieren, ebenso die ESF-Komplementierung. Das machen wir alles. Aber dann stoßen wir an unsere Grenzen. Die
Grenzen sind da, wo Bundeskompetenz oder Bundesgeldtöpfe betroffen sind. Darauf beruht meine Verzweiflung, und ich sage dann: Machen Sie doch einmal etwas.
Wenn die ABM insgesamt eingeschränkt werden, dann können wir noch so flexibel und angepaßt vor Ort die originellsten Konzepte entwickeln: Dann geht es nicht mehr; dann ist die Grenze bei den Arbeitsämtern erreicht.
Bei dem „Macht mal was" und bei der Einschätzung der Situation ist für mich immer noch ganz wichtig: Das, was die Kollegin aus Ostdeutschland hier erzählt hat, wie viele ABM, Fortbildungen und Umschulungen schon organisiert worden sind, wieviel Kurzarbeit noch möglich war, ist richtig. Es ist auch richtig, wenn Herr Blüm von 400 000 Maßnahmen spricht. Man muß nun einmal schauen: Reicht das schon? Was bleibt denn übrig? Ist die Situation dann erträglich oder immer noch nicht?
Vorhin habe ich Ihnen gesagt, daß die ABM bei einer Arbeitslosenquote von 10 % beschlossen worden sind; jetzt haben wir trotz dieser Maßnahmen in Kürze eine Arbeitslosenquote von mehr als 20 %. Lassen wir uns durch die Arbeitsmarktzahlen vom April nicht täuschen. Die Bundesanstalt für Arbeit sagt auch: Das ist nicht das Zeichen dafür, daß die Arbeitslosenquote jetzt stagniert; der Anstieg kommt später. Jetzt haben wir eine Arbeitslosenquote von 20 %. Haben wir dafür die Möglichkeiten?
Herr Blüm, es nützt mir auch nichts, wenn ich jetzt vorrechne, wie viele Milliarden aufgewendet werden. Es sind furchtbar viele. Die Arbeitslosigkeit steigt trotzdem immer noch weiter, und wir müssen noch etwas machen.
Die Frage des lauten Äußerns dieser Schwierigkeiten steht wirklich als eine Möglichkeit auf dem Wege zur Bewältigung der Probleme im Raum.
Vor einem Jahr ist es uns mit Beginn der Montagsdemonstrationen in den neuen Ländern, durch diese Form der Öffentlichmachung der Schwierigkeiten, gelungen, den Aufschwung Ost tatsächlich mit zu initiieren, anzuschieben. Wenn hier weiter darüber geredet, wie viele Milliarden DM es schon sind, die in den Osten gebracht werden, wie viele Instrumentarien schon entwickelt worden sind, ohne daß beachtet wird, wie man die Arbeitslosigkeit und die Schwierigkeiten bewältigen kann — trotz des hohen Umfangs an Mitteln konnte noch keine Lösung erreicht werden —, werden die Leute wieder auf die Straße gehen. Deswegen meine Bitte: Tun wir jetzt etwas, und zwar mit dem SPD-Antrag und mit dem Strukturförderprogramm, das in der Kanzlerrunde diskutiert wird; tun wir einen weiteren Schritt, solange die Arbeitslosigkeit weiter eskaliert, zumal die Langzeitarbeitslosigkeit bereits einen Großteil der Menschen ergriffen hat. Deswegen meine Bitte: Macht etwas.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE)





Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1209136100
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Dr. Norbert Blüm.

(Zuruf von der SPD: Woher hat er die Redezeit? Als Minister hat er nichts zu sagen!)


Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1209136200
Es ist doch der Sinn des Parlaments, Dialog zu ermöglichen. Wenn die Debatte dazu beiträgt, etwas zu entkrampfen, ist doch auch etwas gewonnen.
Mein Vorschlag ist: Jeder an seinem Platz. Wir kommen nämlich nicht weiter, wenn jeder Vorschläge macht, was der andere machen soll. Ich nehme die Vorschläge auch an, daß wir uns anstrengen sollten. Wogegen ich mich etwas wehre, ist, alles über die Bundesanstalt für Arbeit zu machen und zu finanzieren, die ganze Arbeitsmarktpolitik. Ich wehre mich dagegen auch aus Gründen der Gerechtigkeit.
Wissen Sie, warum? Wenn die Beiträge steigen, zahlen das sogar die Rentner mit, denn dann ist die nächste Rentenanpassung geringer.
Was ich mir wirklich wünschen würde, ist, daß die Länder auch von West nach Ost etwas mehr Solidarität zeigen. Nach meiner Auffassung haben sich die westdeutschen Länder im Zusammenhang mit der deutschen Einheit nicht ausreichend solidarisch gezeigt. Viele AB-Maßnahmen sind in Wirklichkeit kommunale Aufgaben, und den Kommunen fehlt das Geld, weil es eine Blockade in Solidarität gegeben hat.
Es darf nicht passieren, daß ABM so langsam die Finanzierungsquelle für alle staatlichen Aufgaben wird. Das ist eine Zweckentfremdung. Deswegen mein Vorschlag, in die hier vorgeschlagene Solidarität auch sehr viel stärker die westdeutschen Länder einzubeziehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1209136300
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Franz Romer.

Franz Romer (CDU):
Rede ID: ID1209136400
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dem vorliegenden Antrag spricht die SPD von Stop and go und meint damit die Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung. Wenn der Antrag nicht vom 11. März datiert wäre, müßte man vermuten, die Antragsteller hätten bei der Formulierung unter dem Schock der augenblicklichen Staus auf der B 9 gestanden.

(Lachen bei der SPD — Zuruf von der SPD: Ist das eine Besoldungsgruppe?)

Frau Hildebrandt, zu Ihrer Rede. Ich glaube, es war eine Frechheit und eine Beleidigung für die westlichen Arbeitnehmer. Wer unvoreingenommen die Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung studiert, wird feststellen, daß neben dem stetigen Fortschritt in Westdeutschland im Osten Kontinuität im Übergang geschaffen wurde. Die aktive Arbeitsmarktpolitik Ost hat in diesem Übergang von der Planwirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft einige zentrale Funktionen übernommen. Hier sind zu nennen: die Vorbereitung der Arbeitnehmer auf neue Aufgaben, die soziale
Abfederung unumgänglicher Arbeitsplatzverluste und vor allem die Brückenfunktion zwischen Arbeitsplatzverlust und Wiedereinstieg in ein neues Arbeitsverhältnis.
Nun beschäftigt sich der SPD-Antrag vor allem mit den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Gerade hier aber hat die Arbeitsmarktpolitik Vorbildliches geleistet. In Ostdeutschland werden in diesem Jahr weit über 10 Milliarden DM für die ABM zur Verfügung gestellt. Im Jahresdurchschnitt wird sich die Zahl der ABM-Beschäftigten bei 400 000 einpendeln. Das ist eine Verdoppelung im Vergleich zu 1991. Die monatlichen Kontingente verschaffen dabei den Vermittlern Planungssicherheit und den Vermittelten Existenzsicherung.
Meine Damen und Herren von der SPD, im Gegensatz zu dem, was Sie sich wohl unter Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen vorstellen, ist unsere Arbeitsmarktpolitik nicht einfach Ausschüttung von Geldern nach dem Gießkannenprinzip. Unsere ABM-Politik zielt darauf ab, Dauerarbeitsplätze zu schaffen.

(Ottmar Schreiner [SPD]: Das geht zu weit! Ich beantrage Schmerzensgeld!)

Dazu gehört die Konzentration auf Maßnahmen, die die wirtschaftliche und soziale Infrastruktur oder die Umwelt verbessern und so die Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Ostdeutschland erhöhen.

(Ottmar Schreiner [SPD]: Wo habt ihr denn den aufgetrieben?)

Wenn Sie so wollen, zielen wir darauf ab, daß ABM sich so schnell wie möglich selbst überflüssig machen, weil neue, dauerhafte Arbeitsplätze durch den ABM-Einsatz möglich gemacht wurden. Dazu soll auch beitragen, daß seit Anfang dieses Jahres die Verbindung von Teilzeit-ABM mit Teilzeit-Bildungsmaßnahmen stark gefördert wird. Auch hier werden ABM-Beschäftigte durch gleichzeitige bessere Qualifizierung dafür sorgen, daß sie aus den ABM ausscheiden können.
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen können von ihrem Wesen her nur der Übergang zwischen Arbeitslosigkeit und Wiedereinstieg in einen Dauerarbeitsplatz sein. Daher wäre es falsch, durch Dauerförderung der ABM-Träger über das vernünftige Maß hinaus in den Arbeitsmarkt einzugreifen. Das würde ja auch nur bedeuten, daß der Staat eine zweite Wirtschaft errichten würde. Das darf nicht sein!
Auch hier, meine Damen und Herren von der SPD, zielt Ihr Antrag daneben.

(Zurufe von der SPD)

Solange aber ABM für den Übergang sinnvoll sind, werden Maßnahmen für Frauen und für schwer vermittelbare Arbeitslose die Schwerpunkte bilden. So ist z. B. der Frauenanteil bei den ABM weiter gesteigert worden, und zwar von 35,3 % im Jahresdurchschnitt 1991 auf heute knapp 43 %. Er wird sich noch weiter erhöhen, da hier eine hundertprozentige Bezuschussung möglich ist. Das gleiche gilt übrigens für die Zuschüsse bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für ältere und Schwerbehinderte Arbeitslose sowie für Langzeitarbeitslose und für jüngere Arbeitslose ohne abgeschlossene Berufsausbildung. Hier ist



Franz Romer
es vernünftig und sozial angemessen, den ABM-Zuschuß, der sonst aus Gründen der Wirtschaftlichkeit möglichst unter 90 % des Arbeitsentgelts liegt, in einen Vollzuschuß umzuwandeln. Auch hier stößt die Kritik, die die Opposition in ihrem Antrag äußert, ins Leere.
Meine Damen und Herren, die ABM sind ein wertvoller Bestandteil der aktiven Arbeitsmarktpolitik Ost. Allerdings dürfen wir nie vergessen, daß die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nur Hilfskonstruktionen sein können und nur Überbrückungsfunktionen haben können. Die Arbeitsmarktpolitik kann bei dem gewaltigen Umstrukturierungsprozeß nur flankieren. Die Schaffung neuer Arbeitsplätze ist dagegen in erster Linie Aufgabe der Wirtschaft, die hierin durch die Wirtschafts-, Finanz- und Geldpolitik unterstützt werden muß.

(Albert Pfuhl [SPD]: Das haben wir vor drei Jahren schon einmal gelöst!)

Noch eines, meine Damen und Herren von der Opposition: Gerade angesichts der großen Lasten, die die deutsche Einheit mit sich bringt, müssen wir dafür sorgen, daß unsere arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen im Osten wie im Westen gesamtwirtschaftlich verträglich bleiben. Man kann hier nicht immer weiter nach zusätzlichen Mitteln rufen. Daß nämlich 1991 und 1992 Bundesmittel aus dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost für ABM genutzt wurden, lag an der Notwendigkeit, zu Beginn die Wirkung dieser Programme zu verstärken. Aber prinzipiell müssen ABM aus Beitragsmitteln der Bundesanstalt für Arbeit finanziert werden. Das bleibt der Grundsatz für die Zukunft.
Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang noch ein Wort zu Ihrer Kritik an den Mittelkürzungen bei ABM im Westen. Eine aktive Arbeitsmarktpolitik muß auch flexibel sein. Angesichts der im Westen deutlichen Verbesserung der Beschäftigungssituation einerseits und der angespannten Finanzlage des Bundes andererseits mußten hier Einsparungen gemacht werden. Da aber z. B. die Langzeitarbeitslosigkeit weiterhin mit gezielten Sonderprogrammen bekämpft wird, werden soziale Härten vermieden.

(Widerspruch bei der SPD)

Verehrte Kollegen von der SPD, es kann doch nicht Ihr Ziel sein, durch Kritik an solchen vertretbaren Einsparungen sozialen Neid zu erzeugen. Genau den erwecken Sie aber, wenn Sie in solch unzulässiger Weise west- und ostdeutsche Realitäten vermischen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich gehe davon aus, daß dahinter keine Absicht lag,

(Julius Louven [CDU/CSU]: Na, da habe ich meine Zweifel!)

sondern ein unausgereifter Gedankengang, ähnlich wie bei Ihrem Vorschlag, das Kurzarbeitergeld stärker mit beruflicher Bildung bei 90 % der Nettobezüge zu verzahnen. Merken Sie denn nicht, daß Sie mit diesem Vorschlag jeden Arbeitslosen, der sich in Fortbildungsmaßnahmen befindet und je nach Familienstand zwischen 63 und 67 % der Nettobezüge bekommt, vor den Kopf stoßen?
Nun zum Gesetzentwurf des Bundesrates, der mich vor allem in einem Punkt irritiert hat. Wir hatten den Antrag — Verlängerung der Regelung des § 63 Abs. 5 AFG — ja schon einmal im Bundestag. Ich habe damals in meiner Rede am 5. Dezember 1991 versucht, klarzumachen, daß sich diese Sonderregelung zwar bis dahin als arbeitsmarktpolitisches Instrument bewährt hat, aber sich bereits zu diesem Zeitpunkt auch schon überlebt hatte.
Zudem greifen bei Kurzarbeitern noch weitere Regelungen. Die Bezugsdauer von Kurzarbeitergeld für konjunkturellen Arbeitsausfall haben wir gerade erst am 1. April 1992 in Westdeutschland von sechs auf zwölf und in Ostdeutschland auf 18 Monate verlängert. Selbst dann können die Betriebe nach einem Zeitraum von mindestens drei Monaten, in denen kein Kurzarbeitergeld gezahlt wird, nötigenfalls wieder eine neue Frist bezüglich des Bezuges von Kurzarbeitergeld beginnen.
Darüber hinaus bleibt ja auch noch das soeben angesprochene Kurzarbeitergeld für strukturelle Arbeitsausfälle, das noch bis zum 31. Dezember 1995 bis zu einer Zeit von 24 Monaten bezogen werden kann. § 63 Abs. 5 ist also gar nicht mehr nötig. Daher ähnelt dieser Teil der Drucksache einer sozialpolitischen Geisterbeschwörung.
Meine Damen und Herren von der SPD, ich weiß, daß sich viele Kollegen unter Ihnen ernsthaft bemühen, beim Wiederaufbau mitzuhelfen. Das merkt man in den Ausschüssen. Aber das muß doch durch seriöse Überlegungen geschehen,

(Ottmar Schreiner [SPD]: Und welche?)

nicht durch ständige Wiederholung populär erscheinender, aber finanziell nicht verantwortbarer Maßnahmen. Besinnen Sie sich also wieder zurück auf das, was Ihre Aufgabe als Opposition ist: möglichst konstruktive Kritik. Und wenn Ihre Kritik nicht berechtigt ist, unterlassen Sie bitte das Störfeuer.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Die aktive Arbeitsmarktpolitik der Regierung Kohl ist das richtige, weil auch gesamtwirtschaftlich ausgewogene Konzept.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Der vorliegende Antrag der SPD hingegen bedeutet keine Ergänzung, sondern eine unzulässige Aufblähung des Instruments der Arbeitsmarktpolitik. Ich bitte deshalb den Bundestag, diesen Antrag abzulehnen.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1209136500
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind am Ende der Aussprache über diesen Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/1985 und 12/2212 — das sind der Gesetzentwurf des Bundesrates und der Antrag der SPD zur Arbeitsmarktpolitik — an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre und



Vizepräsident Helmuth Becker
sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Bevor wir zum nächsten Punkt der Tagesordnung kommen, möchte ich noch etwas mitteilen: Der Ältestenrat hat vereinbart, daß in der 93. Sitzung des Deutschen Bundestages am Mittwoch, dem 20. Mai 1992, in Berlin keine Fragestunde stattfindet. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 50 zu Petitionen

(Straftaten gegen die persönliche Freiheit) — Drucksache 12/2094 —

Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile unserem Kollegen Martin Göttsching das Wort.

Martin Göttsching (CDU):
Rede ID: ID1209136600
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion der SPD hat eben jene Aussprache über diese Petitionen beantragt, unterstützt von mehreren tausend Unterschriften gegen den sogenannten Nötigungsparagraphen, also § 240 StGB. Sie beantragt, diesen Paragraphen zu streichen.
Was beinhaltet dieser § 240? Ich zitiere:
Wer einen anderen rechtswidrig, mit Gewalt . . . nötigt, wird ... bestraft. Auch der Versuch ist strafbar.
Worum geht es? Es geht um Sitzblockaden, von den Petenten euphemistisch als „Sitzdemonstrationen" bezeichnet. Anders ausgedrückt: Es geht um die Bildung von menschlichen Barrieren, um Massenvernichtungswaffen abzuschaffen. Was hat dies mit Nötigung zu tun?
Zur Nötigung gehört, daß der Täter einem oder mehreren anderen ein bestimmtes Verhalten aufzwingt. Der Gesetzgeber zählt alle Sitzblockaden, auch wenn sie verhüllend als „Sitzdemonstrationen" bezeichnet werden, die z. B. Kraftfahrer zum Halten zwingen, sie am Weiterfahren hindern,

(Horst Peter [Kassel] [SPD]: Das sind immer die Fernfahrer!)

oder auch die, die jemanden behindern, wenn er in ein öffentliches Gebäude gehen will, Herr Kollege Peter, zur Ausübung von Gewalt. Der Gesetzgeber sieht dies so, weil diese Handlungen eine körperliche Zwangswirkung auf den Genötigten ausüben.
Die Gegenargumente sind bekannt. Gerade im Zusammenhang mit Blockaden durch Kernkraftgegner wird argumentiert, daß das schlichte Sitzen und
Sitzenbleiben keine Gewalt sein könne. Aber ich halte dies für eine verharmlosende Interpretation.

(Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Wenn man einen Krieg vorbereitet, ist das auch Nötigung!)

— Hören Sie doch bitte zu, Herr Seifert.

(Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Das mache ich ja die ganze Zeit!)

Wenn ich mich demonstrativ an einer Sitzblockade beteilige, mißachte ich die Grundrechte anderer. So ist es nun einmal. Das wird nämlich leicht außer acht gelassen, so auch bei dem Zwischenruf des Herrn Seifert. Der Genötigte muß sich fremdem Willen beugen, oder er muß denjenigen wegtragen, der z. B. die Straße blockiert.
Zur Rechtslage: Das Bundesverfassungsgericht hat 1986 klargestellt, daß verfassungsrechtliche Bedenken gegen die geltende Nötigungsstrafvorschrift nicht greifen. 1988 hat ja der Bundesgerichtshof in dieser Sache ein Urteil gefällt.
Dennoch ist die kriminalpolitische Diskussion nicht beendet. Es bestand nach wie vor eine Unsicherheit bei der Gesetzesauslegung. Da bringen auch die jüngsten Gesetzentwürfe der Kollegen von der SPD und der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE keine Klarheit. Eine Blockierung des Verkehrs oder die Störung einer Veranstaltung im Rahmen friedlicher Demonstrationen ist nur strafbar — ich zitiere aus dem Entwurf der SPD —, „wenn die Blockierung oder die Störung zu dem angestrebten Zweck unter Berücksichtigung der Folgen für die Rechte anderer und der Beweggründe des Täters in erheblichem Maße als verwerflich anzusehen sind".
Ich möchte nicht in der Haut des Polizisten stecken, der diese Vorschrift anwenden soll. Danach dürfte er nur einschreiten und die Straße von Blockierern räumen, wenn er nach seiner Prüfung zu dem Urteil kommt, daß die Blockierung oder Störung „in erheblichem Maße" verwerflich sei. Meiner Ansicht nach kann dies allenfalls ein Richter prüfen, und auch dann erst nach eingehender Verhandlung.
Wie würde die Polizei reagieren, wenn dieser Gesetzentwurf der SPD Gesetz würde? Die Polizei würde die Blockierer auf Grund der komplizierten Bestimmungen ungehindert gewähren lassen müssen. Rechtsklarheit bestünde in diesem Fall noch immer nicht. Es würde vielmehr einer Streichung des § 240 aus dem Strafgesetzbuch gleichkommen und den Petenten zufriedenstellen. Dem widerspricht meine Fraktion.
Ebenso muß ich der Auffassung des Petenten widersprechen, daß die Justiz ihre Verfolgungspraxis nach § 240 des Strafgesetzbuches opportunistisch-selektiv auf Demonstranten aus Friedens- und Ökologiebewegungen anwende, während andere nicht berücksichtigt würden. Ich beziehe mich dazu auf die Antwort der Bundesregierung aus dem Jahre 1989, Bundestagsdrucksache 11/5422.
Gleichfalls kann ich nicht befürworten, daß der Petent die Aussetzung aller laufenden Verfahren gegen Blockierer und die Rehabilitierung aller wegen Nötigung Verurteilten einklagen will. Denn



Martin Göttsching
allein die Auffassung, die Verurteilung oder Verfolgung von Sitzblockaden sei Unrecht, ist noch kein Grund für eine Amnestie. Das im Grundgesetz verankerte Rechtsstaatsprinzip verpflichtet den Gesetzgeber, Amnestien nur in Ausnahmefällen zuzulassen, wenn nämlich alle anderen Mittel für eine gerechte Lösung versagen.
Würden wir der Forderung des Petenten zustimmen, den Nötigungsparagraphen aus dem Strafgesetzbuch zu streichen, wäre ein Ziel erreicht, das namentlich Systemverächter seit langem im Auge haben: Blockaden und Störungen von Veranstaltungen würden zum legalen politischen Massensport. Das politische Geschehen würde dann auf die Straße verlagert und wäre noch weiter weg von Regierung und Parlament, als es schon der Fall ist.
Erinnern wir uns, was politische Auseinandersetzungen nach dem Grundgesetz sein sollen: ein Kampf, der mit Argumenten und Meinungen ausgefochten wird, auf keinen Fall aber dadurch, daß man andere durch körperlichen Einsatz hindert, die Straße zu nutzen.
Würden wir den Nötigungsparagraphen streichen, wäre unsere Demokratie noch störungsanfälliger. Die CDU/CSU-Fraktion bleibt bei dem im Ausschuß gefaßten Votum, das Petitionsverfahren abzuschließen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1209136700
Ich erteile jetzt unserem Kollegen Horst Peter das Wort.

Horst Peter (SPD):
Rede ID: ID1209136800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Göttsching, ich bedaure den letzten Satz Ihrer Ausführungen, weil ich glaube, daß Sie sich eine Chance entgehen lassen, etwas, was in unserer Rechtsordnung längst repariert sein müßte, jetzt tatsächlich zu reparieren.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Wenn die Debatte Mitte der 80er Jahre stattgefunden hätte, in der Zeit, da sich viele Tausende und Hunderttausende in der Bundesrepublik mit Mitteln des demokratischen Demonstrationsrechtes für den Abzug der Atomraketen eingesetzt haben, dann hätte ich Verständnis dafür, daß man hier auch — bezogen auf den materiellen Punkt der Auseinandersetzungen — unterschiedliche Auffassungen vertritt. Aber nachdem wir in der DDR erlebt was dort Demonstranten gemacht haben, was dort die Bürgerbewegung an Möglichkeiten, demokratisch Meinung zu äußern, praktiziert hat,

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das kann auch jeder hier machen!)

dann kann ich einfach nur den Kopf darüber schütteln, daß man zu dem Ergebnis kommt, es müßte sich bei dem § 240, dem Nötigungsparagraphen, nichts ändern. Ich habe dafür, ehrlich gesagt, kein Verständnis.

(Beifall bei der SPD)

Man kann wie bei Menschenrechten auch bei demokratischen Freiheitsrechten nicht selektieren
und unterscheiden, lieber verehrter Kollege Göttsching, ob dieses Freiheitsrecht nun in einem Staat wie der damalien DDR ausgeübt wurde oder ob dieses Freiheitsrecht zur Durchsetzung politischer Meinung in der alten Bundesrepublik ausgeübt worden ist. Es geht um die Wahrung und die Wahrnehmung von demokratischen Demonstrationsrechten, um die Ausübung des Rechtes auf freie Meinungsäußerung.
Diese Petition, die uns jetzt vorliegt, und die von 12 000 Unterzeichnern unterstützt wird, ist in mehrfacher Hinsicht eine Petition, die symbolbehaftet ist, einmal, von dem Petenten beabsichtigt, am 6. August 1990, am 45. Jahrestag des Bombenabwurfs in Hiroshima, eingebracht und damit bewußt in den Kontext der Friedensbewegung gestellt, dann allerdings in bezug auf die von Ihnen zitierte höchstrichterliche Entscheidung vom 14. Juli 1988 mit einer negativen Symbolik versehen. Das war der Jahrestag des Sturms auf die Bastille. Das, was dort der Bundesgerichtshof entschieden hat, hatte mit diesem Durchbruch einer bürgerlich-demokratischen Revolution relativ wenig zu tun.
Schließlich diskutieren wir darüber heute zu einem Zeitpunkt einer wichtigen Tarifauseinandersetzung, wo Streikende deutlich machen, was es bedeutet, von ihrem verfassungsmäßigen Streikrecht Gebrauch zu machen, das schließlich bis Anfang des vorigen Jahrhunderts mit harten Gefängnisstrafen belegt war. Heute ist das nicht mehr so, aber ich staune immer wieder, daß auch der öffentliche Arbeitgeber dazu kommen muß, den Einsatz von Beamten als Streikbrechern vorzunehmen. Insofern ist es auch eine Symbolik für das, was wir im Moment an Tarifauseinandersetzung wahrnehmen: auf der einen Seite Menschen, die demokratische Rechte ausweiten wollen, auf der anderen Seite der Staat, der das etwas anders sieht.

(Martin Göttsching [CDU/CSU]: Diesen Gedankengang kann ich nicht nachvollziehen!)

Symbol dafür, daß sich demokratische Grundrechte weiterentwickeln lassen, ist das Streikrecht, auch Symbol dafür, das jeder Weiterentwicklung die konservative Grundidee des kontrollierten Umgangs mit dem Bürgerwillen entgegensteht. Ich habe deshalb Verständnis dafür, wenn die Petenten meinen, anführen zu müssen, daß § 240 des Strafgesetzbuches im Zusammenhang mit der Unterdrückung der Ausbreitung grundrechtlich garantierter Formen des Demonstrationsrechts Ende der 80er Jahre wiederentdeckt worden ist.
Es ist in der Tat so: Ende der 60er Jahre und in den 80er Jahren gab es eine massive Auseinandersetzung über die Frage: Was können Bürger demokratisch tun, um ihrer Meinung Ausdruck zu verleihen, und wie unbequem dürfen sie gegenüber staatlicher Obrigkeit sein? Dieser § 240 des Strafgesetzbuches mit seinem beliebig festlegbaren Gewaltbegriff macht es möglich, gewaltfreie und friedliche Verhaltensweisen als Gewalt umzudefinieren: gewaltfreie Gewalt gewissermaßen. Es darf in unserer gegenwärtigen Situation doch nicht wahr sein, daß das die rechtliche Grundlage bleiben soll.
Der Generalklauselcharakter des Verwerflichkeitsbegriffs macht es eben möglich, friedenspolitische



Horst Peter (Kassel)

Absicht von Tausenden von engagierten Bürgerinnen und Bürger als Verwerflichkeit — nach meiner Ansicht ehrenwerte Verwerflichkeit — umzuinterpretieren.
Das Ganze führte dazu, daß wir in der Tendenz eine weitgehende schematische Aburteilung von Demonstrationstätern erlebt haben, ohne dem Auftrag der höchstrichterlichen Entscheidung nachzukommen, den Einzelfall ausführlich zu prüfen. Erst in den letzten Monaten hat das Oberlandesgericht in Stuttgart endlich eingesehen, daß das, was sich als gängige Rechtsprechung eingeschliffen hatte, bei der gesellschaftlichen Entwicklung in der gegenwärtigen Zeit nicht mehr haltbar ist.
Das sollte man im Kontext dieser Debatte mitsehen, weil nämlich die Beibehaltung dieser Praxis im Ergebnis Kriminalisierung von Menschen bedeutet, die ihr Demonstrationsrecht wahrnehmen. Dagegen wehren wir uns.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Ich möchte an dieser Stelle aus dem Urteil vom 14. Juli 1988 nur eine Passage zitieren:
Soweit die gegensätzliche Beurteilung von Sitzdemonstrationen durch das Bundesverfassungsgericht und durch die Strafgerichte Unklarheiten und Unsicherheiten ausgelöst hat, beruhen diese letztlich auf der vielfach kritisierten Fassung des § 240 Strafgesetzbuch und können nur von dem Gesetzgeber beseitigt werden.
Wenn das in dem Spruch eines höchsten Gerichtes steht, dann, meine ich, ist die Petition jetzt tatsächlich Gelegenheit dafür, die bisherigen Versäumnisse des Gesetzgebers nachzuholen. Das ist dann auch die Ursache dafür, daß wir hier nicht etwa auf Berücksichtigung plädieren, also nicht jede der Einzelforderungen der Petenten in die Änderung des § 240 des Strafgesetzbuches übernommen haben bzw. dem Votum der Streichung voll nachgeben wollen, sondern „Erwägung" sagen, weil wir wünschen, daß die Bundesregierung diese Chance ergreift und nach Möglichkeiten der Abhilfe sucht, wie dem Begehren der Petenten tatsächlich entsprochen werden kann.
Dabei hat die SPD-Fraktion mit ihrem Gesetzentwurf zur Änderung des § 240 des Strafgesetzbuches eine Formulierung gewählt, die von den Petenten sicherlich kritisiert werden kann, die sich aber an den Setzungen des Bundesverfassungsgerichts orientiert und die aus dem Spannungsverhältnis zwischen freier Meinungsäußerung, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit einerseits und dem Recht auf ungehinderte Bewegungsfreiheit andererseits — wobei ich meine, daß bei diesem Spannungsverhältnis endlich einmal eine Priorität für die demokratischen Rechte gesetzt werden sollte — eine Schlußfolgerung zieht.
Sie haben § 240 Abs. 3, den wir als Ergänzung vorschlagen, zitiert:
Eine Blockierung des Verkehrs oder die Störung einer Veranstaltung im Rahmen friedlicher Demonstrationen ist nur strafbar, wenn die Blokkierung oder die Störung zu dem angestrebten Zweck unter Berücksichtigung der Folgen für die
Rechte anderer und der Beweggründe des Täters in erheblichem Maße als verwerflich anzusehen sind.

(Martin Götsching [CDU/CSU]: Genau das ist der Punkt!)

Daraus wollen wir die Schlußfolgerung ziehen, daß all diejenigen, die unter der alten Formulierung verurteilt worden sind oder gegen die noch Verfahren laufen, von der Bestrafung freigesetzt werden. Wir meinen, daß dieses Erwägungsurteil auch Ihnen die Gelegenheit bietet, doch noch einmal darüber nachzudenken, ob es nicht noch andere Formen und Möglichkeiten gibt, dem notwendigen Änderungsbedürfnis nachzukommen. Wir bitten sie deshalb, auch wenn Sie sich bedauerlicherweise schon vorher festgelegt haben, sich noch einmal einen Stoß zu geben und unserem Antrag nachzukommen.
Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1209136900
Meine Damen und Herren, nächste Rednerin ist unsere Frau Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann.

Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1209137000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion der SPD hat einen grundsätzlich unterstützungswürdigen Gesetzentwurf zur Änderung des § 240 des Strafgesetzbuchs vorgelegt, der beweist, daß eine juristische Bewältigung der von den Petenten aufgezeigten Probleme sehr wohl möglich ist. Konsequent wäre dann aber ein Straffreiheitsgesetz.
In der Geschichte der Bundesrepublik gab es schon einmal eine ähnliche Situation, in der politisches Strafrecht geändert und weniger restriktiv gestaltet wurde, ganz entsprechend den großen Protesten Ende der sechziger Jahre, die unter anderem durch das bis dahin geltende politische Strafrecht und die daraus hervorgegangen politischen Verfolgungen ausgelöst wurden. Nach jahrelangen Auseinandersetzungen wurde dieses Strafrecht Ende der sechziger Jahre in wesentlichen Punkten verändert.
Die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa hat erneut zu heftigen politischen Auseinandersetzungen geführt, auch zu Blockaden, die aber im Rahmen friedlicher Demonstrationen und stets in begrenztem Maß stattfanden. Der § 240 des Strafgesetzbuchs wurde erneut als Waffe gegen diese Demonstrationen eingesetzt. Eine politische Auseinandersetzung, in die alle Schichten der Bevölkerung einbezogen waren, wurde als verwerflich im strafrechtlichen Sinne verurteilt. Sie wurde kriminalisiert.
Es stimmt, das Bundesverfassungsgericht hat den § 240 im Jahr 1986 für nicht verfassungswidrig erklärt. Das sollte uns aber nicht daran hindern, 1992 über seine Änderung bzw. Streichung intensiv zu beraten. Das Problem liegt meines Erachtens wesentlich tiefer. Es liegt dort, wo sich die Bundesregierung nach wie vor weigert, die Geschichte der Bundesrepublik auf-



Dr. Dagmar Enkelmann
zuarbeiten und offensichtliche politische Fehler einzugestehen sowie zu korrigieren.

(Beifall des Abg. Horst Peter [Kassel] [SPD])

Hier werden auch weiterhin juristische Formalien vorgeschoben. Es geht nicht nur um Bewältigung von 40 Jahren DDR. Die Gruppe PDS/Linke Liste im Bundestag ist der Auffassung, daß der § 240 vor allem wegen seiner unrühmlichen Vergangenheit während der faschistischen Diktatur und seiner gegenwärtigen Auslegung ganz gestrichen werden müßte und daß die Betroffenen rehabilitiert werden müßten.
Der vorgelegte Gesetzentwurf der SPD bereitet uns insofern Probleme, als er nach wie vor eine Hintertür für politische Tagesüberlegungen zum Thema „Strafbarkeit von Demonstrationen" offenläßt. Hier muß, wenn der Entwurf endlich im Bundestag eingebracht worden ist, in den Ausschüssen weiterberaten werden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der SPD)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1209137100
Ich erteile jetzt unserem Kollegen Konrad Weiß das Wort.

Konrad Weiß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1209137200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie alle werden, wie ich, die Bilder vor Augen haben, die Sitzblockaden hier in der alten Bundesrepublik, Heinrich Böll in Würde im Widerstand. Sie werden auch die Bilder vom Herbst 1989 in Berlin und in anderen Städten der DDR vor Augen haben: Menschen auf der Straße, Menschen, auf der Straße sitzend, in der Schönhauser Allee, die von ihrem Recht, Widerstand zu leisten, Gebrauch machten.
Hätten im Herbst 1989 die ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger nicht den Mut gehabt, sich durch diese Aktionen, durch Aktionen des zivilen Ungehorsams, der Übermacht von Partei und Staat entgegenzustellen, hätte es in der DDR keine Demokratisierung gegeben, und es hätte auch die deutsche Einheit nicht gegeben. Es waren Aktionen des zivilen Ungehorsams, die dem Recht in Ostdeutschland zum Durchbruch verholfen haben.
Diese Erfahrung ist für mich in der heutigen Debatte das wichtigste. Die großen Veränderungen in einer Gesellschaft nahmen und nehmen ihren Anfang eben nicht in den Ministerien und Bürokratien und auch leider viel zuwenig in den Parlamenten, sondern gehen von den kritischen Bürgerinnen und Bürgern aus. Ihr Zusammenschluß zu Bürgerinitiativen und Bürgerbewegungen und — ich sage es zwar ungern, aber ich sage es — auch zu Parteien bündelt die Kräfte derer, die nach Alternativen für die Gestaltung unseres Gemeinwesens suchen und die bereit sind, dafür verantwortlich zu handeln, Verantwortung auf sich zu nehmen, mündig zu sein.
Das Bewußtsein für die Zerbrechlichkeit unserer Lebensgrundlage verdanken wir dem unermüdlichen Einsatz von Menschen, die mit den Mitteln der gewaltfreien Kundgebung andere wachgerüttelt haben.
Wie aber dankt der Staat den Bürgerinnen und Bürgern diesen wahrhaft staatstragenden und staatserhaltenden Einsatz? Er will sich der unbequemen Mahner entledigen und bedient sich dabei zweifelhafter Strafvorschriften, so des Nötigungsparagraphen 240.
Ich möchte dem Komitee für Grundrechte und Demokratie ausdrücklich für seine Petition danken, erinnert sie uns doch an die bis heute ungenügend bewältigte Aufgabe, das Recht endgültig und gänzlich von seinen braunen Flecken zu befreien und die Kriminalisierung und Stigmatisierung von Bürgerprotesten zu beenden. Aus diesem Grund hat das Bündnis 90/DIE GRÜNEN vorgeschlagen, den § 240 gänzlich zu streichen.
Ich befürworte, daß die Petition, über die wir hier sprechen, in die weitere Behandlung des Antrags der SPD und des Bündnisses 90 aufgenommen wird und bin deshalb gegen eine Beendigung dieser Petition.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1209137300
Meine Damen und Herren, letzter Redner in dieser Debattenrunde ist unser Kollege Burkhard Zurheide.

Burkhard Zurheide (FDP):
Rede ID: ID1209137400
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!

(Albert Pfuhl [SPD]: Jetzt kommt der liberale Touch!)

— Sie haben völlig recht. Sie haben auf den liberalen Touch lange genug warten müssen; jetzt kommt er.

(Beifall bei der F.D.P.)

In keinem der drei Punkte, die mit der Petition angesprochen werden, besteht Handlungsbedarf. Es ist weder rechtlich noch politisch geboten, die Vorschrift des § 240 StGB abzuschaffen, eine Rehabilitierung, wie es die Petenten nennen, derjenigen, die nach Maßgabe des § 240 StGB wegen Teilnahme an Sitzblockaden verurteilt worden sind, durchzuführen oder etwa auf Grund dieser Vorschrift eingeleitete Verfahren einzustellen.
Die Petenten führen aus, § 240 StGB sei ein — ich zitiere dies einmal wörtlich — „restriktives Mittel gegen die Ausbeutung grundrechtlich garantierter Formen der Demonstration". Wenn sie dies so vortragen, dann haben sie die Bedeutung und Tragweite dieser Vorschrift gründlich mißverstanden.
§ 240 StGB behindert nämlich nicht die freiheitliche demokratische Betätigung; im Gegenteil, die Nötigungsvorschrift des Strafgesetzbuches schützt gerade die Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung einzelner und Gruppen.

(Beifall bei der F.D.P.)

Wenn daher unsere Rechtsordnung gewaltsame Einwirkungen auf die freie Willensentschließung und Willensbetätigung unter Strafe stellt, dann erfüllt sie damit ein Erfordernis eines liberalen Rechtsstaates. Wenn es richtig ist, daß die Freiheit des einzelnen dort endet, wo die Freiheit des anderen beginnt, so hat



Burkhard Zurheide
dieser andere einen Anspruch darauf, daß sein Raum geschützt wird.

(Beifall bei der F.D.P.)

Umfassender Schutz kann aber nur erreicht werden, wenn die diesem Zweck dienende Strafrechtsnorm relativ abstrakt ist.
Das Verfassungsgericht hat in dem bereits zitierten Urteil aus dem Jahre 1986 festgestellt, daß das Bestimmtheitsgebot des Grundgesetzes nicht verletzt werde, wenn § 240 StGB Nötigungen mit dem Mittel der Gewalt unter Strafe stelle.
Wir sollten in diesem Zusammenhang auch einmal daran denken, welche Rolle der Straftatbestand der Nötigung bei der Ahndung von z. B. mißbilligendem Verhalten im Straßenverkehr spielt. Gäbe es diese Strafvorschrift nicht, so könnte der Autofahrer, der, die Lichthupe betätigend, auf der Überholspur den vor ihm Fahrenden bedrängt, genausowenig bestraft werden wie derjenige Autofahrer, der nach vollzogenem Überholmanöver auf die Bremse tritt und den hinter ihm Fahrenden ausbremst. Solche Taten wären dann nur als Ordnungswidrigkeit verfolgbar.
Aber auch die hinter dieser Petition eigentlich stehende spezifische Frage nach der Strafbarkeit sogenannter Sitzblockaden erfordert keine andere Antwort. Wenn die Rechtsprechung Sitzblockaden als Nötigung im Sinne des § 240 StGB einstuft, ist dies nach meiner Ansicht aus rechtspolitischer Sicht nicht zu beanstanden.
Wenn hier gesagt worden ist, daß eine solche Vorschrift daran hindere, daß demokratische Demonstrationen stattfinden, wie sie in der DDR stattgefunden haben, dann kann ich nur sagen, Herr Weiß — es tut mir leid —, dann sind Ihnen die Maßstäbe gründlich durcheinandergeraten.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Es ist doch wohl etwas anderes, ob unser Demonstrationsrecht in einem demokratischen Staat mit demokratischen Mitteln ausgeübt wird oder ob ich mich gegen ein Unrechtsregime, gegen das ich ganz andere Möglichkeiten habe, zur Wehr setze. Ich will nur darauf hinweisen, daß wir sogar in unserer Verfassung ein Widerstandsrecht festgeschrieben haben, wo es von Verfassung wegen sogar erlaubt ist, Widerstand zu leisten gegen denjenigen, der ein Unrechtsregime einführen wollte.

(Peter Conradi [SPD]: Eine läppische Argumentation!)

— Herr Conradi, das ist keine läppische Argumentation, das ist die einzig richtige Argumentation.

(Beifall bei der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, es ist ja auch nicht so, daß etwa ein Sanktionsautomatismus einträte. Der Rechtsprechung sind für den Einzelfall vielerlei Möglichkeiten gegeben, individuell auf die Schuld des Täters einzugehen.

(Horst Peter [Kassel] [SPD]: Das Gericht sagt, der Gesetzgeber soll etwas tun!)

— Das sagt das Gericht eben nicht.

(Horst Peter [Kassel] [SPD]: Ich habe es Ihnen doch vorgelesen!)

Es besteht die Möglichkeit, bei Geringfügigkeit das Verfahren einzustellen. Der Besonderheit des Einzelfalles kann dadurch Rechnung getragen werden, daß Vorschriften zur Irrtumsproblematik oder sogar zur Schuldfähigkeit des Täters angewandt werden. Das erkennende Gericht hat die Möglichkeit, bei der Strafzumessung etwaige Fernziele des Täters strafmildernd zu berücksichtigen. Letztlich kann der Täter sogar versuchen, über ein Gnadengesuch Strafaussetzung oder ähnliches zu bekommen. Schon deswegen bedarf es keiner Rehabilitierung der Täter. Dies geht auch begrifflich schon nicht; denn Rehabilitierung setzt voraus, daß überhaupt unrechtmäßig verurteilt worden wäre.
Ich halte es nicht für denkbar, Verkehrs- bzw. Sitzblockaden von einer Bestrafung auszunehmen, falls man Zweck und Beweggründe des Täters für akzeptabel hielte. Warum soll es in einem Rechtsstaat demjenigen, dem hehre Motive unterstellt werden — von wem eigentlich? —, geradezu erlaubt sein, gewaltsam auf Freiheitsrechte anderer einzuwirken, warum sollte so jemand privilegiert werden?
Zum anderen hätte ich gegen eine solche Regelung auch verfassungsrechtliche Bedenken, weil nämlich eine solche Privilegierung den erkennenden Richter verpflichtete, eigene politische Ansichten zum Maßstab zu machen. So etwas kann und darf Gerichten in einem Rechtsstaat nicht abverlangt werden.
Was soll denn eigentlich der Polizeibeamte tun, der sich Straßenblockierern gegenübersieht? Soll ihm tatsächlich abverlangt werden, die Motive der Blockierer zu prüfen, bevor er einschreitet? Soll die Strafbarkeit von Sitzblockaden von der Sympathie der jeweiligen Parlamentsmehrheit gegenüber den Anliegen, die die Sitzblockierer verfolgen, abhängen? Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich ein Beitrag zur Erhaltung der Demonstrationskultur wäre, wenn infolge einer Privilegierung von Sitzblockaden der demokratische Meinungskampf im wahrsten Sinne des Wortes auf die Straße verlagert würde. Demokratie heißt Meinungskampf, Austausch von Argumenten und nicht die physische Behinderung anderer. Diese Kultur sollten wir pflegen und schützen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209137500
Und das nächste Mal die Freiheitsrechte dieses Parlaments durch Einhalten der Redezeit auch irgendwie fördern.
Damit ist die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt geschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 12/2094. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/2544 vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Änderungsantrag abgelehnt.



Vizepräsidentin Renate Schmidt
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist damit angenommen.
Ich rufe nun den Punkt 12 der Tagesordnung auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Peter Conradi, Achim Großmann, Dr. Eckhart Pick, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes
— Drucksache 12/1856 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß (federführend)

Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Achim Großmann, Albert Pfuhl, Dr. Eckhart Pick, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verbesserung des Schutzes für gewerbliche Mieter
— Drucksache 12/1488 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß (federführend)

Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Wirtschaft
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. Dagegen gibt es keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Die erste Wortmeldung kommt vom Kollegen Dr. Pick.

Prof. Dr. Eckhart Pick (SPD):
Rede ID: ID1209137600
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion bringt heute zwei Initiativen ein, die äußerlich verschiedene Sachgebiete betreffen: das Wohnungseigentumsgesetz einerseits und das Mietrecht andererseits. Aber es gibt doch eine gewisse Verknüpfung. Beide Fälle haben im Grunde mit dem Mangel an geeigneten Räumlichkeiten zu tun, an Wohnräumen einerseits und an Geschäftsräumen andererseits. In beiden Fällen handelt es sich auch um ein soziales Problem, bei unterschiedlichen Ursachen, aber mit ähnlichen Wirkungen auf die Existenz der Betroffenen.
Ich werde mich dem ersten Gesetzantrag der SPD, dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes, zuwenden. Zu der anderen Initiative der SPD werden noch Kollegen von mir sprechen. Ich möchte im Rahmen der Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes das Problem der Umwandlung, mit dem wir uns hier auseinandersetzen wollen, an einem Beispiel beleuchten.
Ein kapitalkräftiger Interessent erwirbt in einer Großstadt ein älteres Mietshaus, in dem Mietparteien zum Teil schon seit Jahrzehnten leben. Da der Erwerber dieses Anwesens von vornherein keine Absicht hat, sich mit den Mietern über Mieterhöhungen herumzustreiten, beschließt er, das Gebäude in Wohnungseigentum aufzuteilen und die Wohnungen dann an Interessenten zu veräußern. Er rechnet sich dabei mit Sicherheit einen schönen Gewinn aus.
Aber bevor es soweit ist, braucht er zunächst von der Baubehörde eine sogenannte Abgeschlossenheitsbescheinigung nach dem Wohnungseigentumsgesetz, eine Bescheinigung — ich drücke das hoffentlich unbürokratisch aus —, daß jede Wohnung auch als eine separate Einheit existieren kann. Die Baubehörde prüft den Antrag und entscheidet: Die Baugenehmigung wird nicht erteilt, und zwar mit der Begründung, daß die Bausubstanz nicht den heutigen Anforderungen an Wärmedämmung, Schall- und Lärmschutz entspricht.
Unser Eigentümer ist aber hartnäckig. Er bleibt bei der Aufteilung in Wohnungseigentum und geht nun zum Grundbuchamt und stellt dort einen entsprechenden Antrag auf Eintragung und Anlage der Wohnungsgrundbücher. Das Grundbuchamt seinerseits schaut sich den Aufteilungsplan an und verfährt dann auch wie geheißen, d. h. es läßt das Wohnungseigenturn trotz der gegenteiligen Entscheidung der Baubehörden entstehen.
Was ist nun die Erkenntnis aus diesem Sachverhalt? Es gibt — das müssen wir festhalten — eine gegensätzliche Rechtsprechung zur Frage der Abgeschlossenheit zwischen der Verwaltungsgerichtsbarkeit auf der einen Seite und der ordentlichen Zivilgerichtsbarkeit auf der anderen Seite.

(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Deswegen heißt es „ordentlich"!)

— Richtig. Die ordentliche Gerichtsbarkeit stellt
— das ist höchstrichterlich entschieden — geringere Anforderungen an die Abg eschlossenheitsbescheinigung als die Baubehörde, die ja eigentlich dafür zuständig ist.
Nun hat der Bundesgerichtshof den Gemeinsamen Senat der Obersten Bundesgerichte angerufen, weil er von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes abzuweichen gedenkt — ein Vorgang, der in unserer höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht allzuoft vorkommt.
Meine Damen und Herren, wir wollen mit diesem Antrag zweierlei erreichen: Wir wollen erstens Rechtssicherheit schaffen. Wir wollen zweitens verhindern, daß Wohnungseigentum entsteht, das diesen Namen nicht verdient, weil es nach dieser Rechtslage auch an heruntergekommenen Baulichkeiten mit hohem Instandsetzungsbedarf entstehen kann.

(Beifall bei der SPD)

Wir wollen auch die Wohnungseigentümer schützen, insbesondere wenn Mieter vor der Frage des Erwerbs ihrer Wohnung stehen, z. B. in unserem Fall, weil sie sonst Gefahr laufen, aus ihrer Wohnung verdrängt zu werden, da die Wohnungen veräußert werden und dann andere — die Erwerber — entsprechend Bedarf geltend machen. Es ist also unser Ziel, auch die Erwerber vor dem Erwerb eines Fasses ohne Boden zu schützen.
Es ist schon eine Merkwürdigkeit — man kann es auch als Skandal bezeichnen —, daß dieses Umwandlungsunwesen auch noch staatlich durch Steuererleichterungen bei jedem einzelnen Verkaufsfall belohnt wird,

(Zuruf von der SPD: Sehr richtig!)




Dr. Eckhart Pick
und zwar ohne Rücksicht auf den Zustand der Wohnung und ungeachtet der Tatsache, daß kein einziger Quadratmeter neuen Wohnraums entsteht. Das ist eine der Ungereimtheiten unserer Wohnungsbauförderung. Die neue Broschüre des Bundesfinanzministers „Bauen, Kaufen, Steuern sparen" ist heute auf meinen Tisch gekommen; darin ist die Anleitung und sogar die Anweisung dazu enthalten, das so zu praktizieren.

(Zuruf von der F.D.P.: Das ist auch richtig so!)

Ich möchte, um Mißverständnisse auszuräumen, ausdrücklich sagen: Unser Antrag, der das Wohnungseigentum betrifft, hat nicht in erster Linie den Schutz von Mietern ganz allgemein zum Ziel, weil das WEG das einerseits gar nicht leisten kann. Dafür haben wir das Mietrecht, insbesondere § 564 b Abs. 2 BGB, der ja die Mieter vor Umwandlungen und Verdrängung in einem bestimmten Zeitraum schützen kann.
Natürlich gibt es mit unserem Antrag auch einen gewissen mittelbaren Schutz der Mieter, denn die Aufteilung in Wohnungseigentum soll erschwert werden, soweit es Altbauten betrifft, die nicht die entsprechenden Voraussetzungen bieten, wie wir sie von einer modernen Wohnung verlangen können.
In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, daß dieses Umwandlungsunwesen auch dazu führt, daß große strukturelle Änderungen in den Quartieren der Großstädte mit den negativen Folgen für die alteingesessenen Mieter erfolgen. Auch die Verbände und, ich darf sagen, sogar die Makler verfolgen diese Entwicklung mit großer Sorge, denn diese Strukturveränderungen gehen nicht nur zu Lasten der Mieter, sondern im Grunde auch zu Lasten einer geordneten Stadtentwicklung.
Mieter sind ebenfalls betroffen; das sagte ich schon. Aber es geht uns im Grunde um den Mißbrauch der Grundidee, die in dem Wohnungseigentum enthalten ist: daß hier ein anständiges, modernes, den Anforderungen an Schall- und Wärmedämmung entsprechendes Wohnungseigentum begründet wird. Wir wollen nicht, daß hier ein Wohnungseigentum zweiter Klasse entstehen kann.

(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Aber die Mieter dürfen darin wohnen bleiben?)

Wir erwarten, meine Damen und Herren, daß sich die anderen Fraktionen mit unseren Vorschlägen auseinandersetzen, und wir hoffen, daß wir eine lebhafte Diskussion in den Ausschüssen führen können.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209137700
Als nächster hat nun das Wort der Kollege Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten.

Dr. Freiherr Wolfgang von Stetten (CDU):
Rede ID: ID1209137800
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich werde zunächst auch nur zu dem Antrag zum Wohnungseigentumsgesetz Stellung nehmen. Es stellt sich die
Frage, ob überhaupt ein Handlungsbedarf besteht, wie Professor Pick hier kundgetan hat. Das Wohnungseigentumsgesetz hat in § 3 nur die Abgeschlossenheit verlangt und sogar in Abs. 2 eine Soll-Bestimmung daraus gemacht. Die entsprechende Bescheinigung ist gemäß § 7 Abs. 4, von der zuständigen Baubehörde ausgestellt, Voraussetzung für die Eintragung im Grundbuch. Wenn sie nicht ausgestellt wird, Herr Kollege, erfolgt keine Eintragung.
Nun haben die Verwaltung und die Rechtsprechung aus der Soll-Vorschrift zunächst eine Muß-Vorschrift gemacht, was sicher auch ganz vernünftig und bei der allgemeinen Abgeschlossenheitsvoraussetzung zu begrüßen ist. Aber es wurden auch andere Vorkehrungen und Voraussetzungen oft willkürlich, unterschiedlich von Ort zu Ort, festgesetzt, insbesondere die Anforderungen an Schall- und Wärmedämmung und an feuerpolizeiliche Sicherheit. Diese Beschränkungen wurden dann im Beschwerdeverfahren des Bundesverwaltungsgerichts, das damit ein Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs bestätigte, für Rechtens befunden, indem eine Ablehnung der Abgeschlossenheitsbescheinigung wegen fehlender Wärme- und Schallschutzvoraussetzungen abgelehnt wurde.
Das Bundesverfassungsgericht hat dann diese Entscheidung nicht beanstandet, aber es führte aus, daß diese Entscheidung nicht die Eigentumsgarantie des Art. 14 einschränke, weil der Hauseigentümer nicht unzumutbar beeinträchtigt sei, da er das Haus weiterhin vermieten, verpachten oder benutzen könne. Diese Entscheidung ist in sich richtig und schlüssig, hat sich aber eben nicht auf den Tatbestand der Prüfung der Auffassung der Behörde bezogen.
Der Bundesgerichtshof — Herr Pick hat es schon gesagt — vertritt nun eine andere Auffassung. Es kommt tatsächlich relativ selten vor, daß der Gemeinsame Senat der obersten Gerichte angerufen ist. Ich glaube, auch wenn die Entscheidung noch aussteht, daß diese Entscheidung so ausfällt, wie die Gesetzeslage ist, und nicht die Meinung des Bundesverwaltungsgerichts bestätigt. Dies dürfte auch richtig sein.

(Peter Conradi [SPD]: Wer macht denn die Gesetze, die Richter oder wir?)

— Die Richter haben hier wohl falsch gehandelt. Das Wohnungseigentumsgesetz ist ein Zivilgesetz.

(Peter Conradi [SPD]: Deswegen wollen wir ein Gesetz machen!)

— Gut, okay. Aber das Zivilgesetz konnte eben nicht von den Verwaltungen und Verwaltungsgerichten ausgeführt werden. Es ist noch einmal zu prüfen, ob Ihr Antrag oder der modifizierte Bundesratsantrag politisch und wirtschaftlich wünschenswert ist.
Die Gesetze — das ist bei Ihnen vorgesehen — bringen zweifellos eine Erschwerung der Umwandlung von Wohnungseigentum bei Altbauten, aber auch Bauten, die nach dem Kriege relativ schlecht gebaut wurden. Sie machen dies teilweise unmöglich, weil selbst bei Einbau von Schall- und Wärmedäm-
Deutscher Bundestag — 12, Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1992 7511
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
mung nicht der Standard erreicht wird, den ich heute bei Neubauten erreichen kann.

(Peter Conradi [SPD]: Dann wird es auch zu teuer!)

Wenn man nicht an die Schallschutzvoraussetzungen geht, gibt es zweierlei Stufen von Eigentum. Sie nehmen zweierlei Mietwohnungen in Kauf. Sie nehmen in Kauf, daß sinnvolle Modernisierungen und Ausbauten von Altbauten verhindert werden, die nur vorgenommen werden, wenn der Renovierer entweder in seinem Eigentum renoviert oder durch Refinanzierung die Investition verkaufen kann.
Dem hat der Bundesratsentwurf teilweise Rechnung getragen, indem die Länder ermächtigt werden, durch Verordnungen die Kriterien für bestimmte Wohnräume, Denkmalschutz und ähnliches zu ergänzen oder aufzuheben. Aber ich verkenne nicht, daß mit der Aufteilung von Mietwohnungen oder Mietwohnkomplexen gerade in Verdichtungs- und Ballungsgebieten Mißbrauch betrieben wurde und sicher auch noch betrieben wird. Ich glaube aber nicht, daß das die Gesetzentwürfe rechtfertigt.
Wenn Sie heute mit wachen Augen durch die Großstadt fahren, können Sie unschwer erkennen, ohne ins Grundbuch zu schauen, wo Sanierungsmaßnahmen zum Teil mit erheblichem Aufwand verrufene Wohngegenden zu lebens- und liebenswerten Wohnplätzen ausgebaut haben, und werden feststellen: Dort gibt es Wohnungseigentum. Diese Entwicklungen werden gestoppt werden, etwas weniger beim Bundesrat. Wenn solche Häuser nicht in Wohnungseigentum aufgeteilt werden, erleben wir, daß sie verfallen, daß die Mieter mit Sicherheit in einem schlechteren Standard wohnen und auf Dauer ausziehen müssen, weil sie diesen „Komfort" oder Standard nicht mehr mitmachen.
Es wird dadurch nicht mehr guter Wohnraum geschaffen, sondern es wird mehr schlechter Wohnraum erhalten. Die gutgemeinte Absicht des Gesetzes schlägt in ihr Gegenteil um. Die Städte veröden, werden zu Slums und ähnlichem.
Mit Recht wird verlangt, daß Mieter von Eigentumswohnungen geschützt werden. Das kann aber nicht durch die vorgeschlagene Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes geschehen, sondern richtigerweise, wie bereits im Ansatz geschehen, durch Verlängerung von fünf Jahren Kündigungsfristen bei Eigenbedarf, gegebenenfalls durch andere Mißbrauchsklauseln.
Ich habe schon ausgeführt: Mit den vorgeschlagenen Regelungen könnten Investoren in manchen Dingen nicht investieren, insbesondere das ist das Schlimmere — auch nicht in leerstehenden Häusern, weil eben auch dort die Sanierung nicht den heutigen Ansprüchen genügen kann.
Zudem glaube ich — aber das ist eine Sache, die berichtigt werden könnte —, daß es auch an dem Bestimmtheitserfordernis des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes für die Ermächtigung fehlt. Aber das sind Dinge, die ausformuliert werden können.
Besonders bedenklich ist das Gesetz aber auch deshalb, weil bauordnungsrechtliche Anforderungen
jederzeit geändert werden können und damit die jeweils früher gebauten Wohnungen von der Umwandlung zu Wohneigentum ausgeschlossen werden könnten. Auch das kann so nicht gewollt sein und bedarf der Überlegung.
Wir sollten daher das Anliegen nicht aus den Augen verlieren, dennoch zunächst aber die Entscheidung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichte des Bundes abwarten und gegebenenfalls auch von dort aus aufgeführte Gründe und Anregungen übernehmen, um die entsprechenden Gesetze vorzubereiten, sei es zur Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes oder entsprechender Regelungen zum Mieterschutz im BGB bei Umwandlung alter Wohnbausubstanz zu Wohnungseigentum.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209137900
Nun hat der Kollege Ernst Schwanhold das Wort.

Ernst Schwanhold (SPD):
Rede ID: ID1209138000
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich rede zum zweiten Teil dieser Debatte und möchte eingangs bemerken, daß Mieter von dieser Bundesregierung nichts zu erwarten haben, es sei denn Mieterhöhungen — weder die Mieter von Wohnungen noch die Mieter von Gewerberäumen. Die Bundesregierung ist in diesem Bereich genau wie in anderen Bereichen handlungsunfähig, auch da, wo es um den dringend notwendigen Schutz der Mieter vor explodierenden Mieten geht.
Bei den Gewerbemieten herrscht totale Fehlanzeige, was die Handlungen angeht. Dabei weiß auch diese Bundesregierung, daß die wirtschaftliche Existenz von immer mehr Selbständigen und von kleinen Betrieben durch völlig überzogene Mietforderungen vernichtet wird. Diese Entwicklung hat übrigens nicht erst gestern begonnen, sondern läuft schon seit längerer Zeit.
Inzwischen sind nicht nur mehr die großen Ballungsräume davon betroffen, sondern auch kleine und mittlere Städte. Schauen Sie sich die Städte an! Ob Sie Osnabrück nehmen, ob Sie Aurich nehmen oder ob Sie Frankfurt nehmen: Überall sind die gleichen Filialisten, weil nur noch sie in den Innenstädten die exorbitanten Gewerbemieten bezahl en können.
In den neuen Bundesländern bleiben die einheimischen Gewerbetreibenden angesichts astronomischer Mietforderungen häufig auf der Strecke. Der notwendige Aufbau einer gesunden mittelständischen Wirtschaftsstruktur wird dadurch massiv behindert, und dies von Ihnen, mit Ihrer Billigung und Ihrer Duldung.
Das bei der Koalition beliebte Spiel, immer dann von Schwarzmalerei zu reden, wenn wir die tatsächlichen Probleme in diesem Land benennen, können Sie hier nicht spielen. Selbst der Präsident des Industrie- und Handelstages, Hans-Peter Stihl, hat von existenzbedrohenden Steigerungen bei den Gewerbemieten gesprochen; der Berliner Senat — dem übrigens ein CDU-Politiker als Regierender Bürgermeister vorsitzt —, die Berliner Handelskammern, die Mittelstandsvereinigung der CDU in den neuen Bun-



Ernst Schwanhold
desländern fordern ebenfalls Maßnahmen gegen die Mietexplosion bei den Gewerberäumen.

(Dr. Walter Hitschler [F.D.P.]: Die Unvernunft ist weit verbreitet! — Gegenruf des Abg. Peter Conradi [SPD]: Aber die Gewinnsucht noch stärker!)

— Ich finde es bezeichnend, daß Sie die Aussagen des Herrn Stihl als Unvernunft bezeichnen, und ich denke, dies sollte im Protokoll festgehalten werden.
Die Bundesregierung kann dieses Problem also nicht einfach wegdefinieren oder ignorieren, wie Sie das sonst gern tun oder wie der Bundeskanzler das im September 1991 in seiner Rede vor dem Bundesverband der Selbständigen getan hat. Er fand viele schöne Worte für den Mittelstand, für die Selbständigen und für unsere Wirtschaft. Das drängende Problem exorbitanter Gewerbemieten fand er nicht einmal einer Erwähnung wert. Hohle Worte, keine Taten — wir in anderen Fällen auch!
Das geltende Recht bietet gewerblichen Mietern keinen ausreichenden Schutz gegen Mieterhöhungen. Wir fordern deshalb folgende Regelungen:
Erstens. Der Mieter kann bei Kündigung die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn dessen Beendigung eine erhebliche Gefährdung seiner wirtschaftlichen Lebensgrundlage mit sich bringt. Das ist in der Praxis meist dann der Fall, wenn eine unangemessene Mieterhöhung gefordert wird. Eine Mieterhöhung gilt als angemessen, wenn die geforderte Miete die ortsübliche Miete nicht übersteigt. In den neuen Bundesländern — dort ist die Situation etwas schwieriger — soll für eine Übergangszeit die ortsübliche Vergleichsmiete aus einem Mischwert von Alt- und Neuverträgen ermittelt werden.
Zweitens. Die Kündigungsfrist für unbefristete Mietverträge wird auf sechs Monate verlängert. Dem Mieter ist in begründeten Fällen eine angemessene Räumungsfrist im Anschluß an den Ablauf der Kündigungsfrist von bis zu zwölf Monaten zu gewähren, weil nur dann auch ein Fortbestand des Unternehmens des Mittelständlers garantiert werden kann.
Drittens. Diese Regelungen werden sinngemäß auch für befristete Mietverträge angewendet.
Viertens. Bei Neuvermietungen ist die Miethöhe grundsätzlich frei vereinbar. Der Wucherparagraph des Wirtschaftsstrafgesetzes muß künftig auch beim Abschluß von Gewerbemietverträgen gelten.

(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Das ist aber abenteuerlich, Herr Kollege!)

— Wir halten dies für eine sinnvolle Regelung. Häufig liegen Abenteuer und sinnvolle Regelung, je nach individueller Betrachtung, auseinander oder nebeneinander. Ich denke, Sie sollten einmal in die Städte Ostdeutschlands hineingehen und mit denen sprechen, die plötzlich doppelte Mieten zahlen und ihre gerade gegründete Existenz wieder schließen müssen, weil sie die Gewerbemieten nicht tragen können. Dann würden Sie solche Sprüche nicht machen.

(Beifall bei der SPD)

Fünftens. Die Beratung gewerblicher Nutzer in Mietvertrags- und Mieterschutzfragen muß verbessert werden.
Mit den vorgeschlagenen Regelungen können kleine und mittlere Gewerbetreibende zielgenau vor existenzbedrohenden Mietforderungen geschützt werden. Es wird gefordert, daß die Schutzregelungen dann in Anwendung kommen, wenn die wirtschaftliche Lebensgrundlage erheblich gefährdet wird. Das heißt, eine Kündigung, mit der eine unangemessene, existenzvernichtende Miete durchgesetzt werden soll, ist unwirksam.
Für den, der sich mit diesem Thema etwas näher befaßt hat, sind diese Formulierungen übrigens nicht neu. Sie stammen aus dem Geschäftsraummietengesetz von 1952, das übrigens von der CDU stammt, und die Situation ist durchaus vergleichbar.

(Zuruf von der SPD: Da war die CDU noch etwas!)

Die Einwände, daß diese Regelungen auch Kaufhausketten begünstigen oder Investoren abschrecken würden, sind gegenstandslos, weil es hier in erster Linie darum geht, Selbständige zu schützen, deren wirtschaftliche Existenz unmittelbar von der Ausübung ihres Gewerbebetriebes abhängt. Filialisten sind davon überhaupt nicht betroffen; sie zahlen nahezu jeden Preis, auch 500 DM pro Quadratmeter, auch in Mittelstädten.

(Dr. Walter Hitschler [F.D.P.]: Das müssen sie aber verdienen!)

Die Kündigungsfrist bei gewerblichen Mietverhältnissen muß verlängert werden. Die bisher geltende Dreimonatsfrist läßt Gewerberaummietern keine Chance, Ersatzräume zu finden.

(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CSU]: Darüber kann man reden!)

Diese Frist reicht nicht einmal bei einer Wohnung, die man sucht. Eine Verlängerung der Kündigungszeiten und die Gewährung einer Räumungsfrist in begründeten Fällen geben kleinen und mittleren Selbständigen eine faire Chance, ihr Gewerbe in anderen Räumen fortführen zu können. Durch die von uns vorgeschlagenen Regelungen wird kein Schutzraum für kleine und mittlere Unternehmen errichtet oder der Strukturwandel behindert. Wir bitten Sie deshalb, in den Beratungen unseren Vorschlägen zuzustimmen.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209138100
Nun hat der Kollege Dr. Walter Hitschler das Wort.

Dr. Walter Hitschler (FDP):
Rede ID: ID1209138200
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Opposition hat hier einen Gesetzentwurf zur Änderung des Wohneigentumsgesetzes vorgelegt, mit dein sie — wie in der Begründung angegeben — die strittigen Fragen um die Abgeschlossenheitsbescheinigung gesetzlich klarstellen möchte. In Wirklichkeit aber geht es ihr im Ziel um eine Verhinderung der Umwandlung bestehender Mietwohnungen in Wohneigentum.



Dr. Walter Hitschler
In einem fast gleichgelagerten Entwurf des Bundesrates wird diese Zielsetzung wenigstens beim Namen genannt. Ginge es wirklich nur um die Rechtsklarheit, Herr Kollege Pick, bräuchte man das Votum des angerufenen Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes, der nun hoffentlich auch bald eine Entscheidung herbeiführen wird, nur abzuwarten.

(Zuruf von der SPD: Nein, wir wollen als Gesetzgeber entscheiden!)

In der Sache ist das Mittel ungeeignet. Eine Abgeschlossenheitsbescheinigung, die zur Begründung von Wohneigentum erforderlich ist, soll nach diesem Entwurf der SPD nur dann erteilt werden können, wenn die Wohnungstrennwände und -trenndecken den baurechtlichen Anforderungen an den Schall-, Wärme- und Brand schutz entsprechen.

(Zuruf von der SPD: Das ist doch vernünftig!)

Dies würde insonderheit für den gesamten Altbaubestand in den alten wie in den neuen Bundesländern Bedeutung gewinnen und eine Umwandlung in Wohneigentum verhindern. Dies ist rechtlich bedenklich; denn an Eigentumswohnungen sollen sowieso baurechtliche Anforderungen geknüpft werden, die für Mietwohnungen nicht gelten sollen. Bei Änderung der baurechtlichen Vorschriften entstünde ein hohes Maß an Rechtsunsicherheit, welches sogar die Begründung von Wohneigentum oder Teileigentum an neuen bzw. noch nicht fertiggestellten Wohnungen unter Umständen unmöglich machen würde. Im Ergebnis würde eine derartige gesetzliche Regelung zu anderen Umgehungsmodellen führen — die Wirtschaft ist da bekanntlich durchaus erfinderisch — und somit letztlich auch ihr Ziel verfehlen.
Wir halten ein solches Vorgehen für rechtlich bedenklich und unzulässig und werden daher diesem Antrag unsere Zustimmung versagen müssen. Wir möchten kein völliges Umwandlungsverbot mit Hilfe technischer Standards; denn wir meinen, daß die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen in vielen Fällen sinnvoll ist und von den Mietern selbst begrüßt und gewünscht wird.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir möchten baurechtliche Anforderungen nicht mit dem Erwerb von Eigentumsrechten verknüpfen, sie sozusagen als ideologische Vehikel mißbrauchen, weil beides nichts miteinander zu tun hat.

(Zustimmung bei der F.D.P. und der CDU/ CSU)

Die Begründung von Wohneigentum ist nach unserer Auffassung ein an sich erfreulicher Vorgang privater Vermögensbildung.

(Dr. Franz-Hermann Kappes [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

In Ballungszentren ist der Erwerb von Eigentumswohnungen meist die einzige Möglichkeit, Wohneigenturn zu bilden, weshalb diese Chance nicht ausgeschlossen werden darf.

(Beifall bei der F.D.P.)

Der erforderliche Schutz der Mieter vor kurzfristiger Verdrängung wird im übrigen in Gebieten mit besonderem Wohnungsmangel durch die Kündigungssperrfrist des § 564b Abs. 2 BGB gewährleistet, welche wir erst im letzten Jahr von drei auf fünf Jahre verlängert haben, d. h. dem Mieter kann in solchen Gebieten vorn Erwerber der Wohnung erst nach fünf Jahren gekündigt werden. Erst von diesem Zeitpunkt an beginnt die Kündigungsfrist zu laufen, so daß der Mieter — je nach Dauer des Mietverhältnisses — unter Umständen sechs Jahre Zeit hat, sich nach einer neuen Wohnung umzusehen. Dies kommt schon fast einem verfassungsrechtlich bedenklichen Eingriff in das Eigentumsrecht gleich; so weit ist der Mieterschutz vor Umwandlungen — nicht wenige sagen: über Gebühr — ausgeweitet worden.
Mit diesem Gesetzentwurf entlarvt sich die SPD als eigentumsfeindliche Partei.

(Beifall bei der F.D.P. Lachen bei der SPD)

Sie möchte, daß Mieter Mieter bleiben und der Mieterbund keine Mitglieder verliert. Sie will keine Wohneigentumsbildung, weder in den alten noch in den neuen Bundesländern. Deshalb hintertreibt sie alle Privatisierungsbemühungen in den neuen Ländern und versucht, alle Tricks auszuschöpfen, um die Wohneigentumsbildung bei uns zu erschweren. Die Mieter sollen abhängig bleiben, denn Abhängige sind leichter zu beeinflussen.

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Wo haben Sie denn das schon wieder her?)

Wir hingegen möchten aus Mietern Eigentümer machen. Wir wollen ihnen dazu auch die Gelegenheit verschaffen; denn man muß nein sagen können, um wirklich frei zu sein. Wohneigentümer kennen nicht die Angst des Mieters.

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Mein Gott, was schüren Sie da bloß?)

— Das war aus einer Denkschrift der Evangelischen Kirche zitiert. —

(Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P.)

Fehlende Ängste kann man auch nicht mobilisieren.

(Peter Conradi [SPD]: Sie sorgen für die Angst der Mieter!)

Im zweiten uns hier vorliegenden Antrag möchten Sie Elemente des für Wohnraum gültigen Rechts auf den Bereich der Vermietung von Gewerberäumen übertragen. Sie möchten eine Begrenzung der Gewerbemieten durch Einführung des Gewerbemietspiegels und einer ortsüblichen Vergleichsmiete für gewerbliche Räume erreichen. Sie wollen die Kündigungsfristen gesetzlich verlängern und Kündigungen erschweren, ja, Sie wollen sogar den Paragraphen 5 des Wirtschaftsstrafrechts auf gewerbliche Mietverhältnisse anwenden. Doch fast wie immer, wenn sich Sozialdemokraten um Gewerbetreibende kümmern, kommt nichts Gescheites dabei heraus.

(Beifall bei der F.D.P.)

Sie sollten dieses Geschäft wirklich denen überlassen, die etwas davon verstehen, und nicht meinen, Sie könnten einer bestimmten Gruppe dadurch helfen,



Dr. Walter Hitschler
daß sie reglementieren, reglementieren, reglementieren. Das Reglementieren ist zum Credo der Sozialdemokratie geworden.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209138300
Kollege Hitschler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pfuhl?

Albert Pfuhl (SPD):
Rede ID: ID1209138400
Herr Kollege Hitschler, würden Sie mir zustimmen, wenn ich hier feststelle, daß gerade der Mittelstand auf Ihrer Seite heute sehr „stark" vertreten ist und damit Interesse an den Problemen zeigt, die wir heute diskutieren?

Dr. Walter Hitschler (FDP):
Rede ID: ID1209138500
Natürlich, ich bestätige Ihnen das ausdrücklich, daß es auch in diesen Kreisen diese Bemühungen gibt. Dennoch ist das nicht richtig.

(Peter Conradi [SPD]: Wo sind sie denn?) Die wissen, daß ich hier für sie rede.


(Peter Conradi [SPD]: Das merken wir!)

Die Wirtschaft, meine sehr verehrten Damen und Herren, verträgt die Art Ihrer Reglementierungsvorstellungen nicht. Mit Ihren Vorschlägen erweisen Sie der Marktwirtschaft einen Bärendienst. Denn die Marktwirtschaft steht und fällt mit der Vertragsfreiheit der Marktpartner. Die Vertragsfreiheit, die Sie beschneiden wollen, ist, wie Walter Eugen es formuliert hat, ein konstitutives Prinzip einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Was Sie beantragen, sind Beschneidungen dieser Vertragsfreiheit, die sich als Marktzutrittsbeschränkung für leistungsfähigere Marktteilnehmer auswirken würden. Sie wollen mit gesetzlichen Regeln über Marktchancen befinden, über die im gewerblichen Bereich ausschließlich der Markt und die freie Entscheidung seiner Partner befinden sollten, von denen Sie erwarten müssen, daß sie selber in der Lage sind, die Vertragsbedingungen bei Abschluß eines Mietvertrages einzuschätzen und gegebenenfalls Vorsorge für den Fall seiner Beendigung zu treffen.
Wenn Sie in Ihrer Begründung des Gesetzentwurfs neben dem angeblich schutzwürdigen Mieterinteresse darauf abheben, daß Sie aus wirtschafts- und städtebaupolitischen Gründen eine gemischte Unternehmensstruktur erhalten möchten, was ein durchaus sinnvolles und ordnungspolitisch wichtiges Ziel ist, so streben Sie auch dieses Ziel mit den falschen Instrumenten an. Die Nutzungsart gewerblicher Immobilien ist in der Bauleitplanung zu bestimmen, und wenn das Angebot an Räumlichkeiten für bestimmte Nutzungsarten zu gering ist, müssen durch eine entsprechende Bebauungsplanung der wirtschaftlichen Entwicklung angepaßt Nutzungs- und Standortalternativen entwickelt werden.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Die Wirtschaft braucht nicht in Watte gebettet und vor Wettbewerb geschützt zu werden. Dies gilt auch für den Markt von Gewerbeimmobilien. Unsere Wettbewerbswirtschaft bedarf der Gewerbefreiheit, auch beim Zugriff auf Gewerberäume. Die Miete übernimmt die Markträumungsfunktion. Natürlich kann es dabei zu Entwicklungen und Verdrängungen kommen, die wir als hart, manchmal als unschön empfinden. Es kann zu Veränderungen im Straßenerscheinungsbild kommen, ja, ganze Stadtteile können ihr Gesicht verändern. Manche Entwicklung findet dabei nicht den Gefallen eines jeden von uns. Und manchmal erweist sich die Verwirklichung kurzfristigen Gewinnmaximierungsdenkens der Vermieter als mittel- und langfristige Fehleinschätzung; denn der unstreitige Verlust an Lebensqualität in Geschäftsstraßen, in denen Mc Donald, Wimpy, Spielhallen und Sex-Shops dominieren, führt über den Attraktivitätsverlust zu Veränderungen der räumlichen Einkaufsgewohnheiten der Bürger und damit zur Regelung der Miethöhe. Solange sie aber florieren, sind sie doch wohl bedürfnisgerecht. Diesen Prozeß durch staatliche Interventionen steuern zu wollen ist marktinkonform. Über die Fähigkeit, höhere Mieten zu zahlen, entscheiden die Käufer täglich per pedes. Wir sollten es ihnen überlassen, die gewerbliche Tüchtigkeit zu belohnen oder zu mißachten.
Was Sie vorschlagen, ist eigentlich ein Eingriff in die Bedürfnisskala unserer Mitbürger. Und dazu muß man sagen: Hände weg! Hände weg von Freiheitseinschränkungen! Wir können daher auch zu diesem Antrag unsere Ablehnung signalisieren, weil wir freiheitsliebend sind und staatliche Bevormundung, die besser wissen will, was gut für uns ist, scheuen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209138600
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Ilja Seifert.

Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1209138700
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Hitschler sagte gerade, daß es ein erfreulicher Zustand wäre, wenn Grundeigentum gebildet würde.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ja!)

Herr Hitschler, unter einem erfreulichen Zustand verstehe ich, wenn jeder und jede in diesem Lande eine menschenwürdige Wohnung hat.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist auch sehr gut!)

Das ist etwas anderes als Wohneigentumsbildung, noch dazu aus dem Bestand. Es ist leider so.
Gesetzliche Maßnahmen zum verbesserten Schutz der Mieterinnen und Mieter sowie der gewerblichen Mieter sind, betrachtet man die gegenwärtige Lage und auch die sich abzeichnende Entwicklung, sehr dringend angezeigt. In diesem Sinne unterstütze ich
und mit mir die Gruppe PDS/Linke Liste — die hier vorgelegten Anträge der SPD.
Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des Wohneigentumsgesetzes — wohlgemerkt ein Entwurf vom 17. Dezember des vergangenen Jahres; das Hohe Haus hat sich also sehr viel Zeit gelassen, diesen Entwurf überhaupt in die Beratung zu bringen — ist angesichts der Bemühungen der Bundesregierung, kommunales Wohneigentum hemmungslos zu privatisieren, dringend erforderlich.
Durch die Bundesregierung wird den Bürgerinnen und Bürgern in Ostdeutschland gegenwärtig sugge-



Dr. Ilja Seifert
riert, daß sie eine sichere und auf Dauer bezahlbare Wohnung nur durch den Kauf einer Wohnung gewährleisten können. Gegen diese Privatisierungsvorhaben der Bundesregierung in dieser Form möchte ich an dieser Stelle Widerspruch erheben und dazu drei Gründe anführen.
Erstens widerspricht es der Sozialpflicht des Staates, wenn Menschen ihr Grundrecht auf Wohnung nur realisieren können, wenn sie eine Eigentumswohnung haben. Das Menschenrecht auf Wohnung für jede und jeden erfordert nun einmal neben dem Eigentum und neben der Eigentumswohnung einen nicht unbeträchtlichen Bestand an kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungen, die man mieten kann. Ohne einen ausreichenden Wohnungsbestand können weder der Bund noch die Städte und Gemeinden eine Wohnungspolitik betreiben.
Zweitens. Nimmt man sowohl die Sparguthaben als auch die Einkommen der Menschen in Ostdeutschland, dann wird deutlich, daß viele völlig überfordert wären, wenn sie die Wohnung kaufen würden. So geht das bekanntlich auch nicht wenigen Alt-BRD-Bürgern. Außerdem muß man schließlich sehen, daß wenig finanzkräftige Wohnungsbesitzer Gefahr laufen, ihr Eigentum zu verlieren; es ist nicht so, daß es für immer und ewig gegeben wäre.
Drittens wird durch den Verkauf des kommunalen Wohnungsbestandes nicht ein einziges Wohnungsproblem gelöst. Es wird nicht eine einzige neue Wohnung geschaffen und auch nicht das Geld freigesetzt, welches es ermöglicht, den Fehlbestand an Wohnungen in Deutschland — und zwar in Deutschland-Ost und in Deutschland-West —radikal abzubauen. Deswegen halte ich das gegenwärtige Konzept der Bundesregierung, Fördermaßnahmen zur Sanierung, Modernisierung oder Altschuldentilgung in Ostdeutschland direkt mit der Privatisierungspflicht kommunaler Wohnungen zu koppeln, für fatal.
Ich fordere die Bundesregierung auf, die Menschen in Ostdeutschland über die Konsequenzen ihrer Privatisierungsvorhaben umfassend und ehrlich aufzuklären und das Gesamtkonzept der Wohnungsprivatisierung zu überdenken, zu überarbeiten und es schließlich zu verwerfen.
Ich bin es ja gewöhnt, Herr Günther, daß weder Sie noch die Frau Ministerin hier meine Frage beantworten. Mit Unhöflichkeit kann ich inzwischen leben. Aber das verbietet Ihnen natürlich nicht, meine Anregung — meinetwegen auch ohne Nennung des Autors — im Interesse der Menschen aufzugreifen.
Es ist noch nicht so lange her, da hat die Bundesregierung blühende Städte im Osten Deutschlands und 500 000 neue Arbeitsplätze im Mittelstand prophezeit.

(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Das kommt noch!)

Die Realität ist eine andere: Allein im Berliner Stadtbezirk Friedrichsheim, einem Teil meines Wahlkreises, sind in den letzten zweieinhalb Jahren von 60 000 Arbeitsplätzen rund 40 000 vernichtet worden. Davon sind in diesem traditionellen Arbeiterbezirk nicht nur große Industriebetriebe wie das Glühlampenwerk NARVA betroffen, sondern auch viele Handwerker, Händler und Gewerbetreibende mußten im letzten Jahr ihr Geschäft aufgeben. In der KarlMarx-Allee, Berlin, beispielsweise haben sich inzwischen fast alle in Deutschland existierenden Banken etabliert. Dafür sind alle Lebensmittelgeschäfte abgewickelt. Der Fuhrunternehmer Pohl beispielsweise hat die Weltwirtschaftskrise, den Zweiten Weltkrieg und auch 41 Jahre DDR gut überstanden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das will was heißen!)

Nun, in der Sozialen Marktwirtschaft angekommen, ist Feierabend.
Es ist bedrückend, wenn diese Menschen u. a. durch explodierende Gewerberaummieten oder durch Kündigung ihres Gewerberaumes durch neue Hausbesitzer zur Aufgabe ihrer Existenz gezwungen werden.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209138800
Kollege Seifert, würden Sie bitte zum Schluß kommen.

Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1209138900
Ja, es tut mir leid, daß die Zeit für uns immer so knapp ist. Aber ich muß mich natürlich den Gepflogenheiten des Hauses beugen.
Ich bitte Sie, Herr Staatssekretär, denken Sie an die Menschen! Sie haben gestern vor der Architektenkammer eine Rede gehalten, der ich weitgehend zustimmen kann. Tun Sie das, was Sie dort gesagt haben, und Sie werden mich auf Ihrer Seite haben.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste und der SPD)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209139000
Nun hat ein weiteres Mal der Kollege Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten das Wort.

Dr. Freiherr Wolfgang von Stetten (CDU):
Rede ID: ID1209139100
Meine Damen und Herren, Sie haben zwei Anträge gestellt, und Sie haben zweimal dazu gesprochen. Auch ich werde mir erlauben, dazu zu sprechen.
Es ist in der Tat ein Ärgernis, daß zeitweise in den Innenstädten die gewerblichen Mieten explosionsartig ansteigen und kleinere Unternehmungen, insbesondere Einzelhandelsgeschäfte, nicht mehr in der Lage sind, die geforderten oder von anderen gewährten Mietpreise für Gewerbeflächen aufzubringen. Dies kann aber nicht dazu führen, daß in einer Marktwirtschaft — auch in einer Sozialen Marktwirtschaft — quasi eine Mietpreisbindung für die gewerbliche Wirtschaft festgezurrt wird. Auch Berlin sollte sich nicht beklagen. Keine Boni ohne Mali. Sie sind Hauptstadt und müssen auch die negativen Seiten in Kauf nehmen.
Auch ein Herr Stihl — das kann ich Ihnen versichern — bejammert das zwar, aber er würde niemals einer Mietpreisbindung für gewerbliche Räume zustimmen.
Es ist eine Binsenwahrheit, daß der wirtschaftliche Erfolg in den letzten 40 Jahren nicht durch Planwirtschaft, sondern durch freie Preisentwicklung nach



Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
Angebot und Nachfrage zustande gekommen ist. Es wäre ein Rückfall in alte, längst schon abgestorben geglaubte Wirtschaftskategorien der sozialistischen Planwirtschaft, wollte man nunmehr den gewerblichen Mieter mit einem Schutzwall umgeben.
Wir können doch wohl kaum in den neuen Ländern Privatisierung forcieren, in den früheren UdSSR-Ländern ständig Ratschläge geben und hier zur Planwirtschaft zurückkehren! Wünschenswerte strukturpolitische Maßnahmen das hat mein Vorredner schon ausgeführt — kann man auch durch Instrumente des Bundesbaugesetzes, nämlich durch Veränderungssperren, Nutzungssatzung und Bebauungspläne, durchsetzen — gegen Peepshows, gegen Spielhöllen und ähnliches. Aber nicht regeln kann man und sollte man jedoch, wer wann welche Miete glaubt fordern und wer wann welche Miete glaubt leisten zu können — bei Kaufleuten auf beiden Seiten.
Für völlig abwegig halte ich daher den Vorschlag, § 5 des Wirtschaftsstrafgesetzes künftig auch bei Gewerbemietverträgen gelten zu lassen, unabhängig davon, daß es eine ortsübliche Miete fast nicht gibt. Der Gesetzesvorschlag übersieht, daß jeder Gewerbetreibende frei ist, einen angebotenen Mietvertrag zu unterschreiben oder es auch sein zu lassen. Und wenn ein Geschäftsmann nicht weiß, in welcher Höhe er die Miete eines Gewerbebetriebes oder einer Gewerbefläche erwirtschaften kann, wenn er sich „überwuchern" läßt,

(Zuruf von der SPD: Dann macht er den Laden dicht!)

dann taugt er nicht als Geschäftsmann und muß über die in den Gesetzen vorgesehenen Wege, Liquidation oder Konkurs, seine Geschäftstätigkeit wieder beenden.

(Zuruf von der SPD: Das ist ja ManchesterKapitalismus!)

Da braucht man auch mit niemandem Mitleid zu haben, Das ist der Wirtschaftskreislauf. In ihn sollten wir nicht unnötig eingreifen.
Dabei verkenne ich nicht den Grundgedanken Ihres Antrags, den ich an sich für gut halte: die Sicherung der wirtschaftlichen Existenz insbesondere kleiner Unternehmen und Gewerbe in den Innenstädten, um eine bunte Vielzahl von Anbietern zu erhalten.

(Zuruf von der SPD: Aber Sie wollen nichts dafür tun!)

Wir sind auch grundsätzlich bereit, Vorschläge zu unterstützen, die Kündigungsfrist für unbefristete Mietverträge zu verlängern, gegebenenfalls in begründeten Fällen eine angemessene Räumungsfrist im Anschluß an den Ablauf der Kündigungsfrist zu gewähren.

(Unruhe bei der SPD)

Über die Länge der Kündigungsfrist — wir halten
gegebenenfalls sechs Monate für angemessen und
der Räumungsfrist hier halten wir aber die zwölf
Monate für viel zu lang kann man sich unterhalten.
Nicht wünschenwert ist eine weitere Forderung, nämlich die Aufnahme von Beratungen über Mietverhältnisse im gewerblichen Bereich für Fördermaßnahmen. Wer sich für Mietverhältnisse über Fördermaßnahmen beraten und beraten lassen muß, der ist nicht in der Lage, sich als freier Unternehmer oder Gewerbetreibender zu betätigen. Wer diese Grundvoraussetzungen nicht überblickt, sollte nicht erst das Feld des Unternehmertums betreten; denn wenn er diese Grundvoraussetzungen nicht beherrscht, dann fängt er besser erst gar nicht an.
Meine Damen und Herren, wir sind nicht dafür da, dem Unternehmer das Händchen zu halten. Wir schaffen den Rahmen. Das andere muß der Unternehmer selber machen. Wir von der CDU/CSU-Fraktion bitten die Bundesregierung, den Antrag der SPD-Fraktion nur reduziert zu behandeln und Vorschläge für die Verlängerung von Kündigungsfristen gegebenenfalls in begründeten Fällen von angemessenen Räumungsfristen zu erstellen.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209139200
Nun hat das Wort der Herr Abgeordnete Peter Conradi.

Peter Conradi (SPD):
Rede ID: ID1209139300
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich zitiere:
Sie haben gewonnen, ich weiche. Ich habe im Kühlschrank eine Flasche Hochgewächs kaltgestellt, damit Sie auf Ihren Erfolg anstoßen können.
Diesen Abschiedsbrief fand die Kriminalpolizei in Stuttgart neben der Leiche von Otto K. Der 69 Jahre alte alleinstehende Mann hatte sich in seiner Wohnung erhängt, in der er seit 35 Jahren gelebt hatte. Ein Anwalt hat ihn dort nach 35 Jahren herausgedrückt. Der alte Mann sah keine andere Möglichkeit mehr. Er wußte nicht mehr aus noch ein.
Das ist die Situation, über die wir zu reden haben. In vielen Städten werden alte Menschen rücksichtslos unter Mißachtung der Sozialpflichtigkeit des Eigentums aus ihren Wohnungen herausgedrängt.

(Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Das ist ein Skandal erster Ordnung!)

Die Bundesregierung ist unter dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes verpflichtet, hier etwas zu tun. Die Städte haben versucht, sich mit der Abgeschlossenheitserklärung zu helfen. Das Bundesverwaltungsgericht hat dazu ja gesagt. Das Bundesverfassungsgericht hat dazu ja gesagt. Der Bundesgerichtshof will das jetzt ändern.
Deswegen kommt dieser Gesetzentwurf, der sowohl vom Bundesrat als auch von uns eingebracht worden ist, um das, was hier von den Gerichten offenbar bezweifelt wird, gesetzgeberisch zu klären.
Unsere erste Frage ist: Wollen Sie das gesetzlich klären? Halten Sie das für notwendig oder nicht?
Die Bundesbauministerin hat sich aus dem Konsens aller Bauminister verabschiedet; denn alle Bauminister, egal, von welcher Fraktion oder von welcher Partei auch die Bauminister Ihrer Partei —, haben gesagt: Dies ist notwendig; das muß gemacht werden.



Peter Conradi
Die Kommunalpolitiker — auch Ihrer Partei— sind weithin der Auffassung, daß dies die einzige Möglichkeit sei, eine Verdrängung von Leuten aus ihren Wohnungen zu unterbinden. Aber die Bauministerin sagt: Wir warten; mal sehen, wie die Gerichte entscheiden werden.
Hier liegt folgende Vermutung nahe: Sie will in Wirklichkeit, daß die Möglichkeit, die Verdrängung zu verhindern, durch die Gerichte beendet wird. Ich sage aber: Es ist Sache des Gesetzgebers, Gesetze zu machen.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

Wir haben es nicht den Richtern zu überlassen, Gesetze zu machen. Wir sind aufgefordert, das zu tun. Deswegen bringen wir diesen Gesetzentwurf ein und wollen das geklärt haben.
Nun hat die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zu dem vom Bundesrat verabschiedeten Entwurf eine Menge von Argumenten der Beamten aufgeführt. Das ist ordentlich. Das haben die Beamten so zu machen. Vieles von dem wußten auch wir. Das hätte ich auch selber aufschreiben können. Nur, Herr Göhner, nach drei Monaten halte ich es für eine dürftige Stellungnahme, nur das einzureichen, was die Beamten an Bedenken angeführt haben; denn die Frage ist: Halten Sie das Problem für ernst? Wenn ja: Wie wollen Sie es regeln?
In diesem Zusammenhang begnüge ich mich nicht mit Anmerkungen, die dahin gehen, daß der Gesetzentwurf die und die Schwächen habe, daß da systematisch einiges falsch sei oder daß es nicht sachdienlich sei, technische Standards einer Wohnung mit Fragen des Mietrechts zu verknüpfen.

(Zuruf von der CDU/CSU)

— Das weiß auch ich. Auch ich hätte lieber eine andere Regelung. Aber was schlagen Sie denn vor? Oder wollen Sie gar nichts tun? Das ist doch die Frage.
Das Land Baden-Württemberg hat zwar im Bundesrat gegen die Vorlage gestimmt. Es hat aber immerhin gesagt, es sei doch möglich, durch Gesetz den Ländern eine Möglichkeit zu geben, in Gebieten mit erhöhtem Wohnungsbedarf die Teilungsgenehmigung grundsätzlich nicht zu teilen; also keine Rede von Abgeschlossenheit, sondern von Wohnungsbedarf und von Wohnungsnot. In diesen Regionen wird eine Genehmigung nicht erteilt. Wenn Sie etwas anderes vorschlagen, dann ist dies mit uns möglich. Wir sind bereit, etwas zu tun. Wir wollen hier als Gesetzgeber etwas gegen diesen menschenverachtenden Umwandlungs- und Spekulationsprozeß in den Städten tun. Aber uns hier mit ein paar Beamtenbemerkungen einfach abzutun, dies ist zuwenig.

(Zustimmung bei der SPD und beim Bündnis 90/GRÜNE)

Das Fazit ist: Sie, die CDU/CSU und die F.D.P., haben diese Wohnungsnot durch Ihre unzureichende Wohnungspolitik mit herbeigeführt,

(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Es gibt 700 000 leerstehende Wohnungen!)

aber die Koalition tut nichts, die Wohnungsnot zu mildern. Vor allem die F.D.P., die Bau- und Justizminister stellt, blockiert alle sozialen Ansätze, die Wohnungsnot zu mildern. Wir sagen der Union sehr deutlich: Sie sollten Ihre dramatischen Stimmeneinbußen in den Großstädten bedenken, und Sie sollten Ihr Gewicht — —

(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Sie haben auch nicht viel besser abgeschnitten!)

— Die Verluste, die wir in den Großstädten hatten, waren böse, aber was Sie haben, ist verheerend. Bedenken Sie das, und setzen Sie Ihr Gewicht ein gegen die unbarmherzige Kälte dieser F.D.P.. Ich denke an das, was Herr Hitschler hier vertreten hat. Ich habe es immer gern, wenn Staatsbeamte, wenn Lehrer hier ganz groß von der Marktwirtschaft und vom Risiko reden, selbst aber dick abgesichert sind. — Er ist ja jetzt nicht mehr da. Das ist auch eine Art der Debattenführung, die ich schätze: erst die Sozialdemokraten anmosern, wir seien eigentumsfeindlich, und dann verschwinden; das ist keine feine Debattenführung.

(Zustimmung bei der SPD)

Also wehren Sie sich, nehmen Sie die Eiseskälte der F.D.P. nicht hin, sondern lassen Sie uns gemeinsam hier eine vernünftige Regelung finden, um den Menschen zu helfen. Es geht nicht um die Sache, um die Wohnung, es geht um die Menschen, denen hier geholfen werden muß.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE])


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209139400
Nun hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Reinhard Göhner das Wort, der Sie um die Zustimmung bittet — und diese Zustimmung möchte ich zuerst haben —, einen Teil seiner Rede, nämlich zur Frage des Schutzes der gewerblichen Mieten, zu Protokoll geben zu dürfen *). Gibt es damit Einverständnis? — Dann haben Sie das Wort, Herr Staatssekretär.

Dr. Reinhard Göhner (CDU):
Rede ID: ID1209139500
Frau Präsidentin! Ich freue mich, daß ich damit zur Beschleunigung der Debatte beitragen kann. Ich möchte nur ein paar Anmerkungen zur Frage des Wohnungseigentumsgesetzes machen.
Herr Kollege Conradi, es geht hier nicht um irgendwelche Beamtenanmerkungen, sondern in der Tat um eine grundsätzliche ordnungspolitische Frage. Sie tun so, als ob es technischer Anforderungen bedürfe, die Sie an Wohnungseigentumsbildung stellen, um Mieterschutz zu gewährleisten. Sie tun so, als ob es gar keine von der Rechtsprechung mittlerweile unter
*) Anlage 2



Parl. Staatssekretär Dr. Reinhard Göhner
sozialen Kriterien sehr gefestigte Position mit den Anforderungen an eine Eigenbedarfskündigung gäbe. Sie tun so, als ob es gar keinen Räumungsschutz gebe. Es gibt aber einen sehr intensiven Mieterschutz in der Gesetzgebung und in der Rechtsprechung. Das, was Sie jetzt machen, ist nun einmal in der Tat der Versuch — Kollege Professor Pick hat das ja hier sehr offen dargelegt , technische Anforderungen zu setzen, um damit Mieterschutz zu erreichen.
Wozu führt das? Es führt zunächst einmal dazu, daß Sie einen je nach unterschiedlicher technischer Ausstattung der Räume unterschiedlichen Mieterschutz haben. Die vorgeschlagene Regelung würde die Mieter nicht schützen, wenn die Wohnungstrennwände und Wohnungstrenndecken den bei Begründung des Wohnungseigentums geltenden bauordnungsrechtlichen Anforderungen entsprechen. Es ist aber doch überhaupt nicht einsehbar, warum die Mieter in solchen Fällen gegebenenfalls weniger Schutz haben sollten als in Fällen, in denen diese Anforderungen verfehlt werden.
Wichtiger noch ist die umgekehrte Situation. Darauf haben Kollege von Stetten und Herr Hitschler schon hingewiesen: Auch wenn Wohnungseigentumsbildung Interessen von Mietern überhaupt nicht beeinträchtigt werden, würden Sie mit Ihrer Regelung ein Hindernis bilden, eben in der Tat ein eigentumsfeindliches Hindernis aufstellen. Ich denke z. B. an die Begründung von Wohnungseigentum oder Teileigenturn an Häusern, die gar nicht vermietet sind, weil sie beispielsweise, wie vielfach in den neuen Ländern, in einem so schlechten Zustand sind, daß wir erst einmal jemanden brauchen, der das kauft, dort investiert und dann zu Wohnzwecken wirklich zur Verfügung stellen kann. Das hilft den Mietern, weil es zugleich auch dem Wohnungsmarkt hilft.

(Peter Conradi [SPD]: Das ist eine unehrliche Diskussion!)

Oder ich denke — und das ist ein noch wichtigerer Punkt — an die Begründung von Wohnungseigentum, um die Wohnung an erwerbswillige Mieter zu veräußern. Ihre Vorstellung ist nämlich nicht nur eigentumsfeindlich, sondern auch noch mieterfeindlich, weil Sie in all den Fällen, wo der Mieter selbst sagt, er wolle das erwerben, sagen: Die technischen Anforderungen sind hier nicht erfüllt; deshalb ist der Erwerb ausgeschlossen.
Sie wollen zwar nach dem Gesetzentwurf die Länder — Sie meinen sicherlich die Landesregierungen — durch Rechtsverordnungen ermächtigen, Ausnahmen von dem strengeren Abgeschlossenheitsbegriff zu erlassen, aber es ist doch offensichtlich nicht der richtige Weg, zunächst die Begründung von Wohnungseigentum in den in Betracht kommenden Fällen gesetzlich zu unterbinden und dann wieder Ausnahmen durch Rechtsverordnungen zuzulassen, von denen nicht voraussehbar ist, ob und mit welchem Inhalt im einzelnen sie erlassen werden.
Wenn man wie Sie den Zweck der vorgeschlagenen Regelung im Schutz der Mieter sieht, so ist der Gesetzesvorschlag auch deshalb bedenklich, weil für das jeweilige Bauordnungsrecht der Länder, an das angeknüpft werden soll, ganz andere Maßstäbe gelten als Grundsätze des Interessenausgleiches zwischen Vermieter und Mieter. Das ist nicht ein Gegenstand von Technik, sondern ein Gegenstand von Mieterschutz.
Noch etwas: Erst vor zwei Jahren haben wir uns im Bundestag mit der Frage des Schutzes der Mieter bei der Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen beschäftigt.

(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Und einen guten Schutz gefunden!)

Es ist damals das Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstellung des Mieters bei Begründung von Wohnungseigentum an vermieteten Wohnungen erlassen worden. Dieses Gesetz und die zu seiner Durchführung erforderlichen Rechtsverordnungen der Landesregierungen bewirken einen zusätzlichen Schutz für die Mieter in Gebieten mit besonderem Wohnungsmangel.

(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Sehr richtig!)

Ich finde, zumindest unter Rechtspolitikern sollte Klarheit darüber bestehen, daß man nicht schon das nächste Gesetz produziert, solange die Tinte der Unterschrift unter dem ersten Gesetz kaum trocken ist.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209139600
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlagen auf den Drucksache 12/1856 und 12/1488 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
a) Erste Beratung des von dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfristen von DDR-Unrechtstaten
— Drucksache 12/2332 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß (federführend) Innenausschuß
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hans de With, Hermann Bachmaier, Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Zur Verfolgungsverjährung von Unrechtstaten in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik
— Drucksache 12/2132 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß (federführend) Innenausschuß
Im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine Runde von 10-Minuten-Beiträgen vereinbart



Vizepräsidentin Renate Schmidt
worden. — Dagegen besteht kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster hat das Wort der Kollege Dr. Wolfgang Ullmann.

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1209139700
Meine Damen und Herren! Die letzten Tage der Menschheit, der Humanität sah Karl Kraus mit dem Ausbruch des Weltkrieges 1914 gekommen. Das war mehr als eine poetische Floskel. Es war eine realistische Konstatierung der Tatsache, daß seit dem Ausbruch dieses Krieges der Gebrauch von Gewalt nicht mehr durch die Notwehrsituation in der unmittelbaren Konfrontation der Kombattanten eine Art von moralischer Legitimität gewann.
Seit dem Beginn der Weltkriege galt die Verbindung von Gewalt mit Heimtücke, Grausamkeit und Feigheit als gerechtfertigt. Der Kampf gegen Wehrlose wurde die Regel. So wurden die Weltkriege Einfallstor einer ganz neuen, gegenüber allen Traditionen bisher bekannten Rechtes inkommensurablen Art von Kriminalität, die, von Staaten und im Namen staatlicher Autorität begangen, nach der Niederwerfung des Nationalsozialismus 1945 als Tatbestand erstmalig durch das denkwürdige Kontrollratsgesetz Nr. 10 formuliert werden konnte, wo es in Art. 2 heißt:
Jeder der folgenden Tatbestände stellt ein Verbrechen dar: Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Es handelt sich jetzt nicht darum, zu erörtern, welche Rolle dieses Kontrollratsgesetz in der deutschen Nachkriegsrechtsprechung gespielt hat. Aber es muß auf das provozierende Faktum aufmerksam gemacht werden: Auch dort, wo die Festlegungen des Kontrollratsgesetzes zu Normen der staatlichen Gesetzgebung wurden, hat das nicht verhindern können, daß erneut und ungeahndet all das getan wurde, was in jedem Gesetz als Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt worden ist.
Die DDR hatte die wesentlichen Inhalte des Kontrollratsgesetzes sowohl in ihre Verfassungen wie in die §§ 84 und 91 ihres Strafgesetzbuches übernommen, wobei § 84 ausdrücklich eine Erweiterung auf Verbrechen gegen die Menschenrechte vornahm. Haben wir diese unser Rechtsbewußtsein in seinen Fundamenten erschütternde und provozierende Paradoxie in ihrem vollen Ausmaß überhaupt schon wahrgenommen? Eine der Mächte der Anti-Hitler-Koalition und der von ihr gegründete Staat in den östlichen Ländern Deutschlands bekannten sich selbst in ihren Gesetzen und deren Handhabung feierlich zu den Prinzipien des Friedens, der Menschlichkeit und der Menschenrechte. Aber das hat sie nicht gehindert, die Geschichte dieses Jahrhunderts um ein weiteres dunkles Kapitel politischer Unmenschlichkeit zu vermehren. Die klaren verfassungsrechtlichen Festlegungen und ihr eigenes Strafrecht haben die DDR nicht an der Destruktion ihrer eigenen Länderverfassung 1952, an der Beseitigung der Meinungsfreiheit und des Präsidentenamtes und an der völkerrechtswidrigen Beseitigung der CSSR-Regierung 1968 gehindert und auch
nicht daran, an demokratiefeindlichen Konspirationen in Äthiopien und anderswo teilzunehmen.
Und was dabei keineswegs vergessen werden darf: Die dabei praktizierten Unmenschlichkeiten haben keineswegs immer die Form der physischen Auslöschung gehabt. Mehr und mehr trat an ihre Stelle die moralische Liquidation der Menschenwürde, deren bestürzendstes Symbol die zielbewußt vergewaltigten Frauen von 1945 und die Kette der Schauprozesse in den 30er und 50er Jahren gewesen sind.
Der vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Berechnung der Verjährungsfrist will darum nicht lediglich ein technisches Problem aus dem Allgemeinen Teil des Strafrechts nach der deutschen Vereinigung lösen. Er will vielmehr klarstellen: Alle Aktenvernichtungen, politischen Verschleierungen, Frontwechsel, alles Renegatentum kann nichts daran ändern, daß die von den kommunistischen Regimen begangenen Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit aller Welt bekannt sind und damit ihrer rechtskräftigen Verurteilung harren. Allein ihre Opfer sprechen eine unmißverständliche Sprache.
Darüber hinaus aber besteht auch ein strafrechtlicher Regelungsbedarf. In Anlage I Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt 2 wird das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch durch einen § 315a ergänzt, der feststellt, daß im Falle bis zum Wirksamwerden des Beitritts nicht eingetretener Verfolgungs- oder Vollstreckungsverjährung auf dem Boden der DDR es dabei bleibt: Die Verfolgungsverjährung gilt als am 3. Oktober 1990 unterbrochen, unbeschadet von § 78c StGB.
Nicht beantwortet bleibt hier die Frage, wie es mit den Straftaten gehalten werden soll, deren Verjährung vor dem 3. Oktober 1990 nur deswegen eintreten konnte, weil sie aus politischen Gründen von den Gerichten der DDR nicht verfolgt worden sind.
Der Gesetzentwurf gibt eine Antwort, die auf dem bis 2. Oktober 1990 geltenden § 83 Abs. 2 StGB (DDR) beruht. Die Verjährung hat in dem bezeichneten Zeitraum wegen Nichtverfolgung aus politischen Gründen geruht.
In der Vorbereitung des Entwurfes hat ein Entwurf des Landes Thüringen für ein Gesetz zur Verjährung von SED-Unrechtstaten eine Rolle gespielt. Wenn unser Entwurf andere Wege geht., dann, weil er nicht, wie der Thüringer, NS-Taten und die ihrer Gegner allezu mechanisch parallelisieren oder gar gleichsetzen und die vorgesehene Regelung aus Tatbestandsmerkmalen ableiten will.
Anders als der SPD-Antrag, der tendenziell mit dem unseren übereinstimmt, verlangen wir eine Regelung per Gesetz; denn es muß festgestellt werden, daß das Ruhen der Verfolgung in der DDR genauso gesetzwidrig war wie die Vernichtung von Akten, die Verantwortlichkeiten verschleiern und unkenntlich machen wollte.
Tun wir, verehrte Kollegen und Kolleginnen, einen weiteren Schritt und tun wir ihn gemeinsam, um nicht nur für unser Land klarzustellen: Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind Verbrechen, von wem auch
7520 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 91. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1992
Dr. Wolfgang Ullmann
immer sie begangen werden, und sie müssen als Verbrechen bestraft werden, wo auch immer sie ans Tageslicht kommen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall im ganzen Hause)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209139800
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Hans de With.

Dr. Hans de With (SPD):
Rede ID: ID1209139900
Frau Präsidentin! Meine sehr vehrehrten Damen und Herren! Strafgerichte mögen bei der Frage, was sie zur Aufarbeitung der Geschichte beitragen können, über- oder unterschätzt werden. Zunächst sind sie berufen, in dem an sie herangetragenen Einzelfall den Sachverhalt so objektiv wie möglich zu klären und, darauf gestützt, eine strafrechtliche Beurteilung vorzunehmen, eben ein Urteil zu fällen. Über das Urteil mögen die Betroffenen unzufrieden sein.
Unerträglich bleibt es, wenn vermeintliche oder gar als offenkundig empfundene Straffälle überhaupt nicht aufgegriffen werden: eine Körperverletzung im Amt gegenüber Gefangenen in Bautzen, eine Verfolgung offensichtlich Unschuldiger aus politischen Gründen, nur weil sie sich als Sozialdemokraten gegen die Zwangsvereinigung zur SED gesträubt haben, oder ganz einfach, aber makaber, eine Rechtsbeugung bei Urteilen wegen angeblich versuchter Republikflucht.
Derartige Straftaten darin sind wir uns einig —
müssen verfolgt werden, auch wenn sie geraume Zeit rückliegen; denn unter dem SED-Regime war eine Anklage solcher Delikte nicht möglich, ja nicht einmal die Vornahme einer Anzeige. Betroffene riskierten eine zweite unberechtigte Strafe.
Bei solchen Taten, die in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik aus politischen Gründen nicht verfolgt wurden, wird nun generell angenommen, daß die Verjährung in der Zeit der SED-Herrschaft geruht hat. Bei Verbrechen und Vergehen, die im Dritten Reich aus politischen Gründen nicht verfolgt wurden, geht die höchstrichterliche Rechtsprechung davon aus, daß der Lauf der Verjährung in der Zeit von Januar 1933 bis Juni 1945 geruht hat. Das wird auf die heutige Situation übertragen. Es bestehen deshalb keine ernstzunehmenden Zweifel daran, daß diese Grundsätze auch auf DDR-Unrechtstaten anzuwenden sind. Deswegen wird die Strafverfolgung — dabei sollten wir uns einig sein — auch in den neuen Ländern insoweit weiterhin möglich sein.
Nur, es sind in drei Punkten Zweifel aufgetaucht:
Erstens. Es hat vereinzelte Entscheidungen von Staatsanwaltschaften gegeben, die entsprechende Straftaten für verjährt gehalten haben. Das kann zwar repariert werden, solche Maßnahmen aber setzen Zweifel in die Rechtsstaatlichkeit der unter vielen Opfern gerade erst erworbenen Demokratie. Auf solche Handlungsweisen mag sich Bärbel Bohleys Wort gründen: Ich dachte, wir kriegen Gerechtigkeit, und wir bekamen den Rechtsstaat.
Zweitens. Es ist unklar, von welchem Zeitpunkt an die Beendigung des Ruhens der Verjährung anzunehmen ist. Der federführende Rechtsausschuß und
der Ausschuß für innere Angelegenheiten des Bundesrates nehmen an, daß mit den ersten demokratischen Wahlen zur Volkskammer am 18. März 1990 die Voraussetzung für den Aufbau einer rechtsstaatlichen Justiz gegeben war und damit die Nichtverfolgung von SED-Unrechtstaten ein Ende hatte. Der entsprechende Gesetzesentwurf vom Bündnis 90/GRÜNE — wir haben das gerade von Herrn Ullmann gehört — setzt den Zeitpunkt zum 2. Oktober 1990 an, also auf den Vorabend des Wirksamwerdens des Beitritts. Auch wir nehmen an, daß mit dem Beitritt am 3. Oktober 1990 eine normale Strafverfolgung gewährleistet war. Nur, wenn es schon im Bundestag Unklarheiten gibt, gibt es erst recht bei der Strafverfolgung Unklarheiten.
Drittens. Bis eine höchstrichterliche Entscheidung hierzu Klarheit schaffen kann, wird sehr wahrscheinlich viel Zeit vergehen mit der Folge, daß die Unsicherheit in der Bevölkerung in den neuen Ländern weiter wächst.
Um diese Rechtsunsicherheit zu beseitigen und gleichzeitig ein Signal zu setzen, haben wir Sozialdemokraten den vorliegenden Antrag eingebracht, nach dem der Deutsche Bundestag die Auffassung vertritt — ich zitiere wörtlich —, „daß die Verfolgungsverjährung von Straftaten, die in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik unter Mißachtung rechtsstaatlicher Maßstäbe aus politischen Gründen nicht verfolgt wurden, bis zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Beitritts (3. Oktober 1990) geruht hat". Wir Sozialdemokraten meinen, daß eine solche Erklärung des Deutschen Bundestages bei Anerkennung der Unabhängigkeit der Gerichte als ausreichende Maßnahme zur Beseitigung der Rechtsunklarheit ausreicht. Man soll nicht ohne Not ein Gesetz machen, wenn es auch anders geht. Dafür gibt es viele Beispiele.
Ich sage aber auch, Herr Kollege Ullmann: Wir sträuben uns keineswegs bis zum Nein gegen ein Gesetz mit einer deklaratorischen Feststellung entsprechender Art, wie Sie es hier vorgeschlagen haben. Wesentlich ist allein — da sind wir uns, meine ich, wiederum einig —, daß möglichst umgehend Klarheit geschaffen wird.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Daß im übrigen die Vielzahl der zu erwartenden Gerichtsentscheidungen über bisher nicht abgeurteiltes SED-Unrecht mehr Licht in das System dieses Unrechtsstaates bringen wird, dürfte wohl kaum bestritten werden. Nur, die richterliche Erhellung wird freilich kaum ausreichen. Erst recht bringt die richterliche Aufklärung keine Aufarbeitung der Vergangenheit. Das haben wir selbst zu leisten.
Und dennoch, nur der konsequente Aufbau des Rechtsstaates und dessen tagtägliche Arbeit können Gerechtigkeit möglich machen. Absolute Gerechtigkeit wird ein Wunschtraum bleiben, Die alte Frage bleibt auch: Was ist Gerechtigkeit? Aber die Chance hierzu haben wir immer und immer wieder zu schaffen. Das gilt insbesondere für die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern, denen gegenüber wir uns doppelt verpflichtet fühlen sollten, weil es uns



Dr. Hans de With
besser geht und weil sie die größeren Opfer gebracht haben.
Vielen Dank.

(Beifall im ganzen Hause)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209140000
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Michael Luther.

Dr. Michael Luther (CDU):
Rede ID: ID1209140100
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Schon wieder reden wir heute zum gleichen großen Themenbereich, welcher sich mit unserem rechtsstaatlichen Standpunkt kaum oder nur sehr schwer erfassen und bewältigen läßt. Wir müssen uns mit der DDR-Vergangenheit, dem Unrecht, welches uns eine Diktatur hinterlassen hat, beschäftigen. Das Thema der Verfolgungsverjährung von politisch motivierten Straftaten reiht sich ein in die Themenbereiche der Regierungskriminalität und des Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes, welches sich mit der strafrechtlichen Rehabilitierung befaßt. Bei der Beschäftigung mit dem letzteren Gesetz wurde uns deutlich, daß politisch motivierte Straftatbestände geschaffen wurden, drakonische Strafen verhängt wurden, Opfer geschaffen wurden, die heute auf Rehabilitierung und Entschädigung warten. Hier — das möchte ich deutlich sagen — ringen wir um eine gute Lösung im Sinne der Opfer, und das ist schwerer, als man gemeinhin annimmt.
Aber es gibt auch Täter, und diese werden heute auch angeklagt, und der Rechtsstaat muß feststellen: Die Unrechtstaten sind teilweise verjährt, weil sie auch von bundesdeutschem Boden aus verfolgbar waren. Kein Wunder, wenn das die Betroffenen erregt und wenn sie sich dann an den Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages mit der Bitte wenden, gesetzliche Regelungen zu schaffen, die die Verjährung von Straftaten im Zusammenhang mit ergangenen Unrechtsurteilen in der ehemaligen DDR ausschließen.
Nach diesem Sachvorgang beschäftigte ich mich intensiver mit der Verjährungsproblematik. Da stieß ich für mich auf das Phänomen, daß nach dem Strafgesetzbuch schon immer nach westdeutschem Strafrecht unabhängig vom Recht des Tatorts Fälle der Verschleppung und der politischen Verfolgung zu beurteilen waren. Oft wurde kein Strafantrag gestellt, und somit ist Verfolgungsverjährung eingetreten. Auch der Umstand, daß westdeutsche Strafverfolgungsbehörden trotz des Legalitätsprinzips in derartigen Fällen häufig kein Ermittlungsverfahren eingeleitet haben, weil Ermittlungshandlungen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ohnehin nicht möglich waren, führt zu keinem Ruhen der Verjährung. Allerdings bestand für die weitaus meisten Straftaten der DDR, die aus politischen Gründen in der DDR nicht verfolgt wurden; vor der Wiedervereinigung keine Verfolgungskompetenz westdeutscher Behörden, da diese Straftaten nicht dem westdeutschen Recht unterlagen. In der DDR wurden solche Straftaten nicht verfolgt, weil sie politisch motivierte Straftaten und zum Teil staatlich verordnet waren. Es ist heute davon auszugehen, daß nach § 83 StGB der DDR die Verjährung der Strafverfolgung geruht hat, weil aus gesetzlichem Grunde die Strafverfolgung nicht eingeleitet werden konnte.
Nun gibt sich ein rechtsstaatswidriges System, wie es die DDR war, kein ausdrückliches Gesetz, welches die Strafverfolgung staatlichen Unrechtshandelns hindern soll. Letzteres hätte ja das Eingeständnis des Staates vorausgesetzt, daß er selber rechtsstaatswidrig handelt.
Es belegen aber die Informationen des obersten Gerichts der DDR, welchen Stellenwert der Wille der Staats- und Parteiführung für die Strafverfolgungsorgane der ehemaligen DDR hatten. So waren z. B. die Beschlüsse des XI. Parteitages der SED verbindliche Grundlage für die Tätigkeit der Gerichte und Richtschnur ihres Handelns. Der Wille der Staats- und Parteiführung wurde also gesetzlich geachtet.
Hier lassen sich Analogien zu entsprechenden Taten während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft herstellen. Dabei hat der BGH festgestellt, daß die Verfolgung von solchen Straftaten auf Grund des als Gesetz geachteten Führerwillens nicht erfolgt ist. Damit ist auch während der Herrschaft des SED-Regimes ebenso wie während der NS-Zeit von einem Ruhen der Verjährung für Taten auszugehen, die aus politischen Gründen nicht verfolgt wurden. Letzteres klingt optimistisch und gebietet für den Gesetzgeber keinen primären Handlungsbedarf.
Hinzu kommt, daß praktisch mit dem Einigungsvertrag festgestellt wird, daß bis zum Tag der Wiedervereinigung nicht verjährte Tatbestände unterbrochen werden und somit die Verjährungsfrist erneut beginnt.
Unbefriedigend ist jedoch, daß es nach wie vor Fälle gibt — die erstgenannten Fälle zeigen es —, in denen die Verjährungsfrist abgelaufen ist.
Das Ruhen der Verjährung kann nur im Einzelfall und nur von den zuständigen Staatsanwaltschaften festgestellt bzw. von den Gerichten verbindlich entschieden werden. Damit entsteht die Gefahr, daß die Staatsanwaltschaften und Gerichte in vergleichbaren Fällen unterschiedlich urteilen.
Ein solches Ergebnis ist jedoch nach meiner Überzeugung aus politischen sowie aus rechtlichen Gründen untragbar. Die Menschen in der ehemaligen DDR haben einen Anspruch auf eine vorbehaltlose und uneingeschränkte strafrechtliche Verfolgung des an ihnen begangenen Unrechts.
So bin ich wie der Petitionsausschuß der Meinung, daß der Erlaß eines entsprechenden, alle Strafverfolgungsbehörden bindenden Gesetzes unerläßlich ist. Nur dadurch kann für die Opfer Rechtssicherheit geschaffen werden.
Nun zu den Vorschlägen im einzelnen: Die Gruppe Bündnis 90/GRÜNE macht mit ihrem Gesetzesentwurf einen solchen Versuch. In § 1 Abs. 1 wird der in der Rechtspraxis aus meiner Sicht sowieso bekannte Tatbestand festgestellt, daß politisch motivierte Vergehen und Verbrechen während der Existenz der DDR ruhten. Mit § 1 Abs. 2 zeigt dieser Gesetzentwurf jedoch an, daß auch er keine Lösung für die von mir vorhin benannten Probleme bietet.



Dr. Michael Luther
Der Antrag der SPD beschreibt ebenfalls nur, daß das Ei nicht eckig ist; denn sie stellt im Punkt 1 lediglich fest, daß es eine wichtige Aufgabe des demokratischen Rechtsstaates ist, die politisch motivierten Straftaten zu verfolgen und zu ahnden. Im Punkt 2 bringt sie den hinlänglich bekannten Wunsch und die in der Rechtsliteratur bekannte Auffassung zum Ausdruck, daß für politisch motivierte Straftatbestände die Verfolgungsverjährung geruht hat. Es fehlt aber auch hier eine praktikable gesetzliche Lösung.
Das Dilemma bleibt; der gute Wille aller demokratischen Parteien dieses Hauses, etwas zu unternehmen, steht.
Gestatten Sie mir deshalb, weitere Ideen zu betrachten. Für mich ist der allerdings noch nicht in den Bundestag eingebrachte Gesetzesantrag des Bundesrates auf der Bundesratsdrucksache 141/92 interessant. Hier wird zum einen von einem Ruhen der Verjährungsfrist dann ausgegangen, wenn Taten, die während der Herrschaft des SED-Unrechtsregimes begangen wurden, entsprechend dem ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willen der Staats- und Parteiführung der ehemaligen DDR aus politischen oder sonst mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbaren Gründen nicht geahndet worden sind. Zum anderen wird eine Verjährung ausgeschlossen, wenn bundesdeutsches Strafrecht im Beitrittsgebiet auch vor dem Tag des Wirksamwerdens des Beitritts gegolten hat.
Der Vorteil der Formulierung besteht zum einen darin, daß die Formulierungen des Ersten SEDUnrechtsbereinigungsgesetzes verwendet werden. Zum anderen wird der Zwiespalt aufgelöst, daß für politische Straftaten, die in der DDR begangen wurden, Verjährungen dadurch zustande gekommen sind, daß diese vom Boden der damaligen Bundesrepublik Deutschland aus verfolgt werden konnten. Aber auch der Bundesrat diskutiert zur Zeit noch über dieses Gesetz.
Ungeachtet dessen sehe ich den politischen Willen aller demokratischen Parteien dieses Hauses und den dringenden Handlungsbedarf. Somit werden wir unter Einbindung des heute Gesagten den Versuch unternehmen müssen, eine verfassungskonforme, aber auch problemlösende und praktikable Gesetzesvorlage zu erarbeiten.
Lassen Sie mich zum Schluß noch ein paar Gedanken anfügen, mit denen sich auch schon die Presse der letzten Tage auseinandergesetzt hat. Dieser Wust von Unrecht, den dieser Staat hinterlassen hat, erfordert eine unheimliche Kraftaufwendung unsererseits und bringt nicht eine einzige Investition, nicht einen einzigen Arbeitsplatz. Der Mensch ist so ausgestattet, daß er häßliche Dinge des Lebens verdrängen möchte. Aber mit einem Verdrängungsmechanismus läßt sich die DDR-Vergangenheit nicht bewältigen. Sie muß, auch wenn es schmerzlich ist, wie seit Monaten der Fall Stolpe beweist, aufgearbeitet werden. Schlußstrich ziehen, das heißt ja auch, dem Stasi-Schnüffler und Stasi-Gangster stillschweigend Amnestie einzuräumen. Das kann nicht im Sinne der unzähligen Opfer sein. Wir kommen nicht darum herum: Was die DDR unmenschlich machte, muß ans Tageslicht; denn wenn wir die Vergangenheit der DDR-Untaten nicht
restlos klären, kommen wir mit unserer gemeinsamen deutschen Zukunft nicht zurecht.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und beim Bündnis 90/GRÜNE)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209140200
Nun hat das Wort der Kollege Jörg van Essen.

Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1209140300
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Luther, gestatten Sie mir zunächst eine Vorbemerkung. Es hat mich schon ein bißchen geschmerzt, daß Sie deutschen Staatsanwälten vorgeworfen haben, unter Verstoß gegen das Legalitätsprinzip Fälle der politischen Verdächtigungen nicht verfolgt zu haben. Ich war selbst zwei Jahre für diesen Bereich zuständig und weiß, wieviel Mühe wir uns gegeben haben, gerade wegen der Schicksale, die wir da erfahren haben, insbesondere von Häftlingen, die aus Bautzen kamen. Sie können sicher sein, daß wir gerne verfolgt hätten, aber es waren uns eben die Hände gebunden, weil diese Täter vom SED-Regime geschützt wurden.

(Dr. Michael Luther [CDU/CSU]: Das habe ich auch gesagt!)

Wir haben sorgfältig vernommen und alle diese Vernehmungen nach Salzgitter abgegeben. Ich hoffe, daß die eine oder andere Vernehmung auch noch zu Konsequenzen führen wird.
Ich komme nun zu meinem Beitrag. „SED-Unrecht darf nicht verjähren". — Dieser Überschrift über dem Gastkommentar in der Februarausgabe der „Deutschen Richterzeitung" wird kaum jemand — der bisherige Verlauf der Debatte hat das ja deutlich gezeigt — widersprechen. Die F.D.P.-Fraktion steht jedenfalls voll hinter dieser Forderung.
Eineinhalb Jahre nach der deutschen Widervereinigung müssen wir erkennen, wie schwierig die strafrechtliche Aufarbeitung des vielen Unrechts ist, das im DDR-Staat begangen worden ist. Man beobachtet zwar überall den guten Willen der politisch Verantwortlichen, alles zu tun, was erforderlich ist. Aber es fehlt an allen Ecken und Kanten. Die Zahl der Richter und Staatsanwälte in den neuen Ländern ist viel zu gering. Sie wird es trotz der Abordnungen, Neueinstellungen und Fortbildungsmaßnahmen für übernommene Juristen noch lange bleiben; denn gerade die Justiz in den neuen Bundesländern unterliegt zusätzlichen Belastungen. Neben der auch dort schon immer vorhandenen Alltagskriminalität muß sie sich mit dem SED-Unrecht, mit der Rehabilitierung der politisch Verfolgten und der sogenannten Vereinigungskriminalität auseinandersetzen; alles Bereiche, die oft zeitraubende Ermittlungen und die Lösung schwieriger Rechtsfragen erfordern.
Dies macht deutlich, daß die Aufarbeitung nicht so schnell geschehen kann, wie die Opfer es zu Recht erwarten. Bei der Fülle von Anträgen auf Einsicht in die eigenen Opferakten der Stasi wird es Jahre dauern, bis die Opfer von Straftaten, die gegen sie gerichtet waren, erfahren. Es ist eben kein Beitrag zum Rechtsfrieden, wenn wir ihnen dann erklären müssen, daß durch die Verjährung ein Verfahrenshin-



Jörg van Essen
demis bei deren Verfolgung eingetreten ist. Insbesondere ein Beitrag zum Rechtsfrieden soll das Institut der Verjährung ja sein. Sie ist der Verzicht auf den staatlichen Strafanspruch, weil nach einem bestimmten Zeitablauf Schuld in einem anderen Licht erscheint. Der Volksmund sagt es plastisch: die Zeit heilt alle Wunden. Heilt sie wirklich alle?
Dieses Haus hat Debatten auf hohem Niveau erlebt, als es um die Frage ging, ob nationalsozialistisches Unrecht, ob nationalsozialistische Gewaltverbrechen, verjähren dürfen. Es hat sich zu Recht gegen die Verjährung von Mord und Völkermord ausgesprochen. Bei vielen anderen Delikten der NS-Zeit ist die strafrechtliche Ahndung dagegen unterblieben. Mir klingen heute noch die Ohren von den berechtigten Vorwürfen, die der bundesdeutschen Justiz deswegen auf der Festveranstaltung „40 Jahre dritte Gewalt" in der Frankfurter Paulskirche gemacht worden sind. Wir stehen in der Verantwortung, daß bei dem 40. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung nicht ein ähnlicher Vorwurf gegen uns erhoben wird.
Diese Gefahr droht aus den dargestellten tatsächlichen Gründen. Es ist aber zweifelhaft, ob sie auch aus rechtlichen Gründen besteht. Ich war ursprünglich der Auffassung, daß es hier keinen Regelungsbedarf gebe. Der Einigungsvertrag sieht nämlich vor, daß die Verfolgungsverjährung bei allen noch nicht verjährten Straftaten mit dem Tag der deutschen Wiedervereinigung als unterbrochen gilt, so daß insoweit alle Verjährungsfristen am 3. Oktober 1990 neu begannen.
Dies bedeutet, daß bei Straftaten der mittleren Kriminalität — hier ist der Schwerpunkt der politisch gedeckten Delikte zu vermuten — die Verjährung erst 1995 eintreten wird und wir noch etwas Zeit haben. Bei anderen Straftaten, die aus politischen Gründen in den vergangenen Jahrzehnten dagegen nicht verfolgt wurden — ich nenne als Mitglied des Schalck-Untersuchungsausschusses nur das Plündern von Postsendungen durch die Stasi —, gibt es eine klare Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht. In der Debatte ist ja schon darauf hingewiesen worden.
Danach ruht die Verjährung, wenn von einem Unrechtsregime Verbrechen und Vergehen aus politischen Gründen nicht verfolgt werden. Dennoch haben einige staatsanwaltliche und gerichtliche Entscheidungen in den vergangenen Monaten zu Unsicherheiten und zu Besprechungen in der juristischen Literatur geführt. Dies kann uns als Gesetzgeber nicht kalt lassen.
Ich danke hier insbesondere unserem Kollegen Herbert Helmrich, dem neuen Justizminister von Mecklenburg-Vorpommern, daß er meine Sensibilität in dieser Frage erhöht hat. Ich bin mit ihm nun der Auffassung, daß wir aus Gründen der Rechtssicherheit deklaratorisch deutlich machen sollten, daß die Verjährung während der Zeit des SED-Unrechtsregimes geruht hat.
Im Gegensatz zu den beiden Entwürfen, die uns heute vorgelegt worden sind, meine ich allerdings, daß das Ende des SED-Unrechtsstaates schon mit den ersten demokratischen Wahlen im März 1990 gekommen ist. Wir müssen uns darüber unterhalten, wo wir diese Grenze setzen. Wir sollten daher — jedenfalls nach meiner Auffassung — auf diesen Termin und nicht auf den der deutschen Wiedervereinigung abstellen.
Wir müssen ebenso sorgfältig diskutieren, ob diese Regelung nur diejenigen Taten erfassen soll, die ausschließlich DDR-Recht unterlagen, oder auch solche, für die schon vor der deutschen Wiedervereinigung bundesdeutsches Strafrecht galt. Beispiele für letztere sind ja ebenfalls schon genannt worden, nämlich die politische Verdächtigung und die Verschleppung. Wir sollten hier zu einer verfassungsgemäßen und sauberen Lösung kommen.
Sorgfältig nachgedacht werden sollte auch, ob die Verjährungsfrist von fünf Jahren für die mittlere Kriminalität nicht durch eine längere von acht Jahren ersetzt werden könnte.
Zu welchem Ergebnis im einzelnen wir auch kommen werden, eines ist klar — ich stimme mit meinen Vorrednern darin überein —: Der Rechtsfriede in unserem Land darf keine zusätzliche Belastung dadurch erfahren, daß SED-Unrecht nicht wirkungsvoll verfolgt werden kann.
Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE])


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209140400
Nun hat der Kollege Dr. Uwe-Jens Heuer das Wort.

Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS):
Rede ID: ID1209140500
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Uns liegen zwei Vorlagen zu einer sehr komplizierten Materie vor. Ich möchte meine Bemerkungen zu den beiden Vorlagen in folgenden Punkten zusammenfassen:
Erstens: Für die SPD-Fraktion ist es selbstverständlich, daß die Verfolgungsverjährung während der Existenz der DDR für solche Straftaten in der DDR ruhte, die aus politischen Gründen nicht verfolgt wurden. In der Begründung ihres Antrags verweist sie auf eine entsprechende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. September 1952. Es bestünden keine ernstzunehmenden Zweifel daran, erklärt sie, daß diese Grundsätze auf DDR-Unrechtstaten zu übertragen seien.
Die SPD-Fraktion widerspricht sich aber in gewisser Weise in ihrer Begründung; denn anscheinend gibt es einige Staatsanwälte und Richter — das ist hier ja auch mehrfach erwähnt worden —, bei denen man nicht so sicher sein kann, daß auch sie ohne ernsthaften Zweifel eine ruhende Verjährung in den genannten Fällen annehmen. Sie will deshalb mit einem Entschließungsantrag des Bundestages zur Klarstellung und Verdeutlichung — so wörtlich — ein Signal gegenüber diesem offenbar durchaus zweifelnden Personenkreis setzen.
Der Bundestag hat sich bisher hinsichtlich der Äußerung von Rechtsauffassungen gegenüber den Gerichten zurückgehalten, insbesondere wenn es um laufende Verfahren ging. Er setzte sich ansonsten dem Verdacht aus, Gerichte für eine bestimmte Rechtsauf-



Dr. Uwe-Jens Heuer
fassung vereinnahmen oder gar unter Druck setzen zu wollen. Ich habe aus diesem Grunde Bedenken gegenüber diesem Antrag der SPD als Versuch zur Aushebelung des Prinzips der Gewaltenteilung.
Sie begründet weiter ihre Rechtsposition mit dem bereits angeführten Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1952. Die SPD-Fraktion unterstellt dabei, daß vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Grundsätze Grundrechte einschränken können. Das Grundgesetz läßt bekanntlich nur gesetzlich bestimmte Einschränkungen zu. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts haben zwar unter Umständen Gesetzeskraft, aber nur soweit ein Gesetz als mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht unvereinbar oder gar für nichtig erklärt wurde.
Die von der SPD genannten Grundsätze in der Entscheidung vom 18. September 1952 könnten gar nicht die Verjährungsregelung verfassungsmäßig für die Bürger neu fassen. Erforderlich ist vielmehr ein Gesetz. Solche Gesetze hat es nach 1945 in allen Bundesländern gegeben, und sie wurden vom Bundesverfassungsgericht 1952 für rechtmäßig erklärt.
Zweitens. Bündnis 90/DIE GRÜNEN hat jetzt einen solchen Gesetzentwurf vorgelegt, und auch seitens des Bundesrates ist auf Initiative Thüringens ein solches Gesetz in Vorbereitung; das wurde hier schon erwähnt. Zugleich erklärt aber die Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN, daß ihr Gesetzentwurf nur der Klarstellung diene, ansonsten aber bereits eine gesetzliche Regelung vorhanden sei, nämlich in Gestalt des § 83 Ziff. 2 des Strafgesetzbuches der DDR. Nach dieser Bestimmung ruht die Verjährung der Strafverfolgung, solange ein Strafverfahren wegen schwerer Erkrankung des Täters oder aus anderem gesetzlichen Grunde nicht eingeleitet oder fortgesetzt werden kann.
Sie begründen nun, daß trotz dieses Wortlauts der § 83 Ziff. 2 anwendbar sei, weil angeblich die genannten Grundsätze der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einen gesetzlichen Grund darstellten. Ich halte dieses Argumentation für juristisch merkwürdig. Sie erklärt, daß das Fehlen einer gesetzlichen Regelung über das Ruhen der Verjährung bei Nichtbestrafung aus politischen Gründen kennzeichnend für Staaten sei, die rechtsstaatswidrig handeln. Dabei wird allerdings übersehen, daß es auch im Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland keine derartige Bestimmung gibt.
Drittens. Es ist nun zu überlegen, inwieweit der Gesetzentwurf der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN trotz dieser nach meiner Ansicht widersprüchlichen und zum Teil falschen Begründungen verfassungsmäßig den Ablauf der Verjährungsfrist neu regeln kann oder soll. Ich habe dagegen drei Einwände.
Erstens. Zunächst steht das Problem des rückwirkenden Eingriffs. Sowohl Bündnis 90/DIE GRÜNEN als auch SPD berufen sich zur Begründung ihrer Anträge in erster Linie auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. September 1952. Es hatte sich damals unter anderem mit der Rückwirkung auseinanderzusetzen und hielt Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes nicht für anwendbar. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom
26. Februar 1969 findet jedoch das allgemeine Rückwirkungsverbot Anwendung, auch für Fälle einer rückwirkenden Regelung zur Verjährung. Die Verjährungsfristen dürfen dann nicht nachträglich geändert werden, wenn die Verfolgung beim Inkrafttreten des Gesetzes bereits verjährt war.
Zweitens. Das entscheidende Problem scheint mir jedoch folgendes zu sein: Man muß nach meiner Meinung schon sehr schwerwiegende Gründe vorzuweisen haben, wenn man einen derartigen Eingriff für zum Teil schon mehr als 40 Jahre zurückliegende Handlungen rechtfertigen will. Das Bundesverfassungsgericht hatte 1952 seine Entscheidung zur Verjährung nazifaschistischer Straftaten mit der straflosen Ermordnung vom Millionen jüdischer Menschen, mit der radikalen Verfolgung politischer Gegner begründet. Ihnen allen wurden menschlicher Wert und menschliche Würde gänzlich abgesprochen. Auf diese ungeheuerlichen und einzigartigen Verbrechen wurde diese außerordentliche Entscheidung gestützt. Sie waren die Grundlage dafür, daß die Verbrechensverfolgung den rechts- und kriminalpolitischen Zielen der Verjährung, darunter der Wiederherstellung des Rechtsfriedens, übergeordnet wurde. Für das Bundesverfassungsgericht gab es damals in bezug auf den nazifaschistischen Staat derartige Gründe.
Für die SPD ist es nun selbstverständlich, daß Unrecht während des Dritten Reiches mit Unrecht während des DDR-Staates gleichzusetzen ist. Sie stellt lapidar fest: Es bestehen keine ernstzunehmenden Zweifel, daß diese Grundsätze auf das Unrechtssystem der DDR zu übertragen sind.
Bündnis 90/DIE GRÜNEN führen dagegen zunächst die wesentlichen, entscheidenden Unterschiede zwischen dem Dritten Reich und der DDR auf. Art und Ausmaß des angerichteten Unheils waren völlig unterschiedlich. Die DDR habe kein Auschwitz und keinen Weltkrieg hinterlassen. Aber dennoch gehen sie im Ergebnis dazu über, diese Regelung vollständig auch auf die DDR anzuwenden. Sie wollen Vergehen, soweit aus politischen Gründen in vierzig Jahren DDR-Geschichte nicht strafrechtlich geahndet, nunmehr verfolgen. Das bedeutet eine flächendeckende Überprüfung aller politischen Handlungen, aller Handlungen von Staatsorganen in der DDR auf ihre strafrechtliche Relevanz. Im Ergebnis erfolgt hier eine totale Gleichsetzung. Das ist auch in Reden von Herrn Dr. Ullmann wie von Herrn Dr. Luther deutlich geworden.
Wir bestreiten nicht Unrecht in der DDR, nicht die Notwendigkeit seiner Verfolgung mit rechtsstaatlichen Mitteln. Ich habe hier mehrfach erklärt, daß trotz aller unbestreitbaren Fortschritte die DDR bis zum Schluß kein Rechtsstaat war. Das aber rechtfertigt nach meiner Meinung nicht ihre Charakterisierung als Unrechtstaat. Der Begriff des Unrechtstaates erweist sich als fragwürdiger Kampfbegriff.
Unrecht als juristische Kategorie ist von Land zu Land verschieden. Als moralische Kategorie sehen es soziale und politische Gruppen wesentlich unterschiedlich. Zum Unrechtstaat hat Otto Kirchheimer in der „Politischen Justiz" geschrieben, daß man nur dann davon sprechen dürfe, wenn die in vielen Staaten vorhandenen Inseln des Unrechts nicht mehr



Dr. Uwe-Jens Heuer
unter Kontrolle gehalten werden könnten. Er fällt dieses Urteil schließlich über den nazifaschistischen Staat.
Ich möchte auf einen weiteren, letzten Einwand hinweisen. Der Antrag ändert in nicht akzeptierbarer Weise den zweiten Staatsvertrag. Er stellt den Regelungsmechanismus der deutschen Einheit in Frage. Der Antrag gefährdet den Rechtsfrieden im real noch nicht vereinigten Deutschland.
Der Einigungsvertrag hat klar und unzweideutig die Frage der Verjährung geregelt, und zwar in der Neuregelung des § 315a des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch. Nach dieser Regelung bleiben die Gesetze der DDR wie der BRD zur Verjährung von Änderung unberührt.
Dort ist festgelegt worden, daß gerichtliche Entscheidungen wirksam bleiben, soweit sie nicht durch Kassation ausdrücklich aufgehoben werden. Ich meine, daß das eine bewußte Entscheidung der Vertragsparteien war, die Verjährungsregelungen des Strafgesetzbuchs der DDR nicht anzutasten. Den Vertragspartnern des Einigungsvertrages und den verhandlungsführenden Personen war die Problematik durchaus bekannt. Sie kannten die Aktivitäten des Ministeriums für Staatssicherheit, die politische Haft, die Zwangsumsiedlungen und auch die Tötungen an der Mauer.
Es erscheint mir absurd, wie das in der Antragsbegründung von Bündnis 90/DIE GRÜNEN der Fall ist, von Nachgiebigkeit der westlichen Verhandlungsführung gegenüber der Nomenklatura der ehemaligen DDR zu sprechen. Die Verhandlungsparteien, auch die Verhandlungsführer auf Seiten der Bundesrepublik, waren sich der Problematik auch bewußt, und sie haben sich bewußt so entschieden.
Mit dem Einigungsvertrag haben die Vertragsparteien klargestellt, daß sie Ungerechtigkeiten und Unrechtmäßigkeiten in der ehemaligen DDR nicht als derart massenhaft und tiefgreifend ansahen, um eine so radikale Maßnahme wie das Ruhen der Verjährung für vierzig Jahre zu rechtfertigen.
Für mich besteht mit diesem und anderen Gesetzentwürfen, wie dem Entwurf eines Rechtsanwaltszulassungsüberprüfungsgesetzes, ein ganz grundlegendes Problem. Die Krise der ökonomischen Anpassung in Ostdeutschland hat sich als weit schwerwiegender erwiesen, als selbst von uns angenommen wurde. Abwicklungsmaßnahmen haben tief in das Schicksal von Hunderttausenden Menschen eingegriffen. Schon heute laufen Tausende von Ermittlungsverfahren. Zehntausende sollen demnächst hinzukommen. Ist es wirklich zu verantworten, diesen Prozeß durch die Möglichkeit weiterer Hunderttausender von Strafverfahren bis ins Unerträgliche eskalieren?
Wir unterstützen sehr die Bemühungen der Bundesregierung, mit der RAF eine „Versöhnung" — so wörtlich der scheidende Bundesjustizminister — herbeizuführen. Hier handelt es sich immerhin um Menschen, die als erklärte Staatsfeinde andere Menschen vorsätzlich getötet haben. Wie aber steht es um Menschen, die ihrem eigenen Staat, der DDR, gedient
haben und jetzt in den Augen eines anderen Staates als Kriminelle dastehen, selbst wenn sie vor Jahrzehnten Sachbeschädigungen oder Hausfriedensbruch begangen haben sollten?

(Zuruf von der CDU/CSU: Auch in den Augen der Menschen!)

Wieso soll es mit ihnen keine Versöhnung geben?
Wir sind, wie schon mehrfach betont, für die Verfolgung in der DDR begangenen Unrechts entsprechend dem damals geltenden Strafrecht. Wir wissen uns in Übereinstimmung mit 61 % der Bundesbürger im Osten Deutschlands — so eine jüngste Meinungsumfrage der „Frankfurter Rundschau" vom 5. Mai —, im Rahmen der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit nur wirklich schwere Verbrechen zu verfolgen. Die hier vorgelegten Gesetzentwürfe zielen jedoch auf etwas anderes ab. Sie sind keine Angebote zur Versöhnung, zur Herstellung des dringend benötigten inneren Friedens.
Ein solches Gesetz würde die mit dem zweiten Staatsvertrag geschaffene Geschäftsgrundlage für die Einigung und für ein Zusammenwachsen der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland in Frage stellen.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209140600
Nun hat das Wort zu einer Kurzintervention Herr Kollege Michael Luther.

Dr. Michael Luther (CDU):
Rede ID: ID1209140700
Herr van Essen, es tut mit leid, daß Sie meine Bemerkung zum Legalitätsprinzip falsch verstanden haben. Ich habe Hochachtung vor den Staatsanwaltschaften und wollte in meiner Rede nur zum Ausdruck bringen, daß es eine Reihe von Fällen gab, die nicht entschieden wurden.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1209140800
Herr Kollege Dr. Reinhard Göhner, der Parlamentarische Staatssekretär, bittet um Zustimmung, seine Rede zu Protokoll geben zu dürfen. Besteht Einverständnis? — Dieses scheint der Fall zu sein.
Mir liegen weitere Wortmeldungen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/2332 und 12/2132 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Besteht Einverständnis? — Dieses ist der Fall. Dann sind die Überweisungen beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen früh, Freitag, den 8. Mai 1992, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.