Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf: Fragestunde
— Drucksache 12/2516 —
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Post und Telekommunikation. Die Beantwortung der Fragen nimmt der Parlamentarische Staatssekretär Wilhelm Rawe vor.
Ich rufe Frage 1 des Abgeordneten Eike Ebert auf:
Sind die Forderungen der Bundesregierung an eine volle Funktionsfähigkeit des Fernmeldewesens in Katastrophenfällen gesenkt worden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Ebert, nach Auskunft der Deutschen Bundespost Telekom sind die Anforderungen an die Funktionsfähigkeit des Fernmeldewesens in Katastrophenfällen nicht gesenkt worden.
Zur Sicherstellung der Funktionsfähigkeit der Netzersatzanlagen werden zweimonatliche Probeläufe, verbunden mit einer Reinigung der Kraftstoff-Zwischenbehälter und einer Kontrolle auf Verunreinigungen, vorgenommen. Eine alle drei Jahre bzw. jährlich vorzunehmende chemotechnische Überprüfung leistet in diesem Zusammenhang keinen nennenswerten Beitrag zur Sicherstellung der Funktionsfähigkeit und wurde deshalb eingestellt.
Ein Kraftstoffaustausch im Zusammenhang mit den gesetzlich vorgeschriebenen Überprüfungen der Tankanlagen reicht nach neueren Erfahrungen aus.
Herr Staatssekretär, können Sie mir sagen, in welchen Zeiträumen Sie diesen Austausch jetzt planen?
Wilhelm Rawe, Parl. Staatssekretär: Nach den Auskünften der Telekom ist eine 15jährige Überprüfungsfrist vorgesehen, und mit Ablauf der 15jährigen Überprüfungsfrist wird auch der Austausch vorgenommen.
Und diese Frist können Sie für alle Tankanlagen über das gesamte Bundesgebiet für
ausreichend halten, obwohl unterschiedliche Lieferanten beteiligt sind?
Wilhelm Rawe, Parl. Staatssekretär: Die Frage ist mit Ja zu beantworten. Die Unterschiedlichkeit der Lieferanten spielt ja deswegen keine Rolle, weil, wie ich Ihnen vorher gesagt hatte, mit den regelmäßigen Probeläufen sichergestellt wird, daß die Kraftstofflagerung eine solche ist, daß die Funktionsfähigkeit auch wirklich gegeben bleibt. Sie hatten ja die Befürchtung — wenn ich Sie richtig verstanden habe —, daß möglicherweise die Lagerbeständigkeit leiden könnte. Das wird also sichergestellt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen auf. Die Beantwortung der Fragen erfolgt durch den Parlamentarischen Staatssekretär Manfred Carstens.
Ich rufe die Frage 4 des Abgeordneten Friedhelm Julius Beucher auf:
Trifft es zu, daß bei der Spezialchemie Schönert GmbH i. L., Leipzig, ein Steuerberater eingesetzt wurde, der nicht Dipl.Kaufmann , nicht einmal Dipl.Betriebswirt (6 Semester Regelstudiumdauer), sondern nur Staatl. geprüfter Betriebswirt (4 Semester Regelstudiumdauer) ohne einschlägige Berufserfahrung ist und einen ganz anderen Beruf (Steuerberater, nicht beratender Volks- und Betriebswirt) ausübt, und wurden auch bei anderen Sanierungen in den neuen Bundesländern Leute beauftragt, die nach den in den alten Bundesländern gültigen Maßstäben für eine vergleichbare Aufgabe nicht herangezogen worden wären?
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Kollege Beucher, es trifft zu, daß der im Unternehmen Spezialchemie Schönert GmbH i. L. eingesetzte Liquidator von Beruf Steuerberater ist. Er verfügt über eine langjährige Berufserfahrung und hat bei der Betreuung des Unternehmens bisher erfolgreiche Arbeit geleistet.Es gibt keine allgemeingültigen Maßstäbe für die Auswahl eines Liquidators. Die Qualifikation ist nicht ausschließlich von einem Hochschul- oder Fachhochschulstudium abhängig. Es ist deshalb nicht zutreffend, daß der im Unternehmen Spezialchemie Schönert GmbH i. L. tätige Steuerberater in den alten Bundesländern mit einer vergleichbaren Aufgabe nicht hätte betraut werden können.
Metadaten/Kopzeile:
7364 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992
Können Sie sich vorstellen, daß der von Ihnen als gut qualifiziert ausgewiesene Steuerberater bisher „erfolgreich" verhindert hat, daß eine westdeutsche Firma diesen Betrieb übernehmen konnte und bisher auf Grund der Tätigkeit der Treuhand nicht in der Lage war, dort zu einem Abschluß zu kommen, und damit die Gefahr besteht, daß dort möglicherweise 50 bis 60 Arbeitsplätze zerstört werden?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich will aber doch zum Ausdruck bringen, daß es nach den mir gegebenen Informationen gelungen ist, die Firma im ersten Halbjahr 1992 in die Gewinnzone zu führen, daß es konkrete Verhandlungen zur Privatisierung gibt und daß die Privatisierung bald gelingt.
Herr Beucher, eine Zusatzfrage.
Sind Sie — wenn es sich um die gleiche Firma handelt — mit mir der Meinung, daß es unerträglich ist, daß sich solche Verhandlungen über ein Jahr hinziehen, und zwar auf Grund nachgewiesener unzureichender Informationen durch die Treuhand und durch den Liquidator?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Mir liegen derartige Informationen nicht vor. Es sieht so aus, daß der Liquidator als tüchtig bezeichnet werden muß. Aber wenn Sie hier die Meinung vertreten, daß es anders sei, bin ich gern bereit, anschließend ein Gespräch mit Ihnen darüber zu führen. Ich bitte dann aber darum, konkrete Unterlagen dabei zu haben; sonst müßte ich mich sehr gegen solche Vorwürfe wehren, was Sie verstehen werden.
Wir kommen zur Frage 5 des Abgeordneten Friedhelm Julius Beucher:
Trifft es zu, daß von der Treuhandanstalt auch in anderen Fällen als bei der Spezialchemie Schönert Gmbh i. L., Leipzig, für die Beurteilung, ob ein Unternehmen sanierungsfähig ist oder liquidiert wird, wobei Hunderte von Arbeitnehmern arbeitslos werden, Gutachten auf der Basis ausschließlich von Buchführungs- und Bilanzzahlen ohne Erstellung von entsprechenden Marktuntersuchungen erstellt und akzeptiert werden?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Die Entscheidung, ob ein Unternehmen sanierungsfähig ist oder abgewickelt werden muß, wird vom Vorstand der Treuhandanstalt auf der Grundlage einer Einschätzung durch den Leitungsausschuß der Treuhandanstalt, dem sachkundige Berater mit langjähriger Erfahrung angehören, getroffen. Dabei unterzieht der Leitungsausschuß das von der Geschäftsführung eines Unternehmens vorgelegte Unternehmenskonzept im Hinblick auf dessen Tragfähigkeit einer genauen Prüfung.
Selbstverständlich findet bei der Beurteilung des Unternehmenskonzepts neben den Bilanzdaten auch die jeweilige Marktsituation entsprechende Berücksichtigung.
Dann komme ich zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft.
Die Abgeordnete Regina Kolbe hat um schriftliche Beantwortung gebeten, Herr Staatssekretär. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Als nächstes rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf. Die Beantwortung der Fragen erfolgt durch den Parlamentarischen Staatssekretär Horst Günther.
Wir kommen zur Frage 8 der Abgeordneten Dr. Helga Otto:
Warum werden die Kriegsrenten in Ost und West verschieden berechnet, obwohl die Kriegsopfer von ein und demselben Staat in den Krieg geschickt wurden und bereits viele Jahre keine Entschädigung erhalten haben?
Frau Präsidentin, wenn die Fragestellerin einverstanden ist, würde ich die Fragen 8 und 9 gern gemeinsam beantworten.
Ja.
Wir kommen dann auch zu der Frage 9 der Abgeordneten Dr. Helga Otto:Besteht die Absicht, diese Kriegsrenten in kürzeren Zeitabständen anzupassen?Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Im Einigungsvertrag wurde festgelegt, daß die Kriegsopferversorgung mit allen ihren Leistungen auch im Gebiet der ehemaligen DDR eingeführt wird.Das Bundesversorgungsgesetz und die zu seiner Durchführung erforderlichen Rechtsvorschriften gelten deshalb ab 1. Januar 1991 auch in den neuen Bundesländern und im Ostteil Berlins.Damit soziale Verwerfungen zwischen Sozialrentnern und Erwerbstätigen auf der einen Seite sowie Kriegsopfern auf der anderen Seite vermieden werden, orientiert sich die Höhe der Rentenleistungen an den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen in den neuen Bundesländern. Dabei wird die verfügbare Standardrente der Rentenversicherung in diesem Gebiet mit der verfügbaren Standardrente im bisherigen Geltungsbereich des Bundesversorgungsgesetzes verglichen. Der maßgebliche Verhältniswert beträgt heute 56,7 % und wird ab 1. Juli 1992 bereits 62,26 % betragen. Sachleistungen werden selbstverständlich in vollem Umfang erbracht. Dies entspricht dem Grundsatz, daß die Leistungen der Kriegsopferversorgung den Ausgleich von schädigungsbedingten wirtschaftlichen Nachteilen des Kriegsbeschädigten selbst oder seinen Hinterbliebenen zum Ziel haben. Aus der Funktion des Nachteilausgleichs folgt notwendig, daß sich die Rentenleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz in ihrer Höhe am jeweiligen sozialen Umfeld orientieren müssen; denn ein schädigungsbedingter wirtschaftlicher Nachteil kann nur insoweit eintreten, als der Kriegsbeschädigte in seiner Einkommenssituation schlechter dasteht als die Nichtbeschädigten in ihrem sozialen Umfeld. Dementsprechend werden die Leistungen der Kriegsopferversorgung seit jeher im Rahmen eines Anpassungsverbundes zwischen Sozialrenten und Kriegsopferleistungen angepaßt.Nun zu Ihrer zweiten Frage. Durch die im Einigungsvertrag festgeschriebene Koppelung der Höhe
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992 7365
Parl. Staatssekretär Horst Güntherder Rentenleistungen der Kriegsopferversorgung an das jeweilige Nettorentenniveau in den neuen Bundesländern ist der bewährte Anpassungsverbund zwischen Sozialrentnern und Versorgungsberechtigten übertragen worden. Der für die Rentenleistungen der Kriegsopferversorgung maßgebende Vomhundertsatz wird daher — entsprechend der Lohn- und Rentenentwicklung in den neuen Bundesländern — automatisch ansteigen, so daß sich — abhängig vom Tempo dieser Entwicklung — die Rentenhöhe an die der westlichen Bundesländer angleichen wird.Auf Grund dieser Automatik ist eine Anpassung bisher jeweils halbjährlich erfolgt und hat zu dem bereits genannten Anpassungssatz von heute 56,7 % bzw. ab 1. Juli 1992 62,26 % geführt. Ein Abkoppeln der Kriegsopferleistungen von diesem Anpassungsverbund mit dem Ziel einer noch rascheren Anhebung würde die Leistungen der Kriegsopferversorgung zwangsläufig besser ausstatten als den übrigen Rentenbereich.
Danke schön. Zusatzfragen Frau Dr. Otto? — Keine.
Dann erteile ich das Wort zu einer Zusatzfrage Herrn Gansel.
Frau Präsidentin! Da zwei Fragen beantwortet wurden, stelle ich zwei Zusatzfragen.
Erstens. Herr Staatssekretär, finden Sie nicht, daß es absurd ist, daß der Unterschied in der Kriegsopferversorgung 40 % beträgt, je nachdem, ob ein Kriegsopfer, der oder die ein Bein oder beide Beine im Kriege verloren hat, in Berlin auf der linken Seite einer Straße wohnt, die heute zu Ost-Berlin gehört, oder auf der rechten Seite einer Straße wohnt, die heute zu West-Berlin gehört, weil zwischen Ost- und West-Berlin früher durch diese Straße die Mauer verlief? Finden Sie nicht, daß das in absurder Weise ungerecht ist?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Kollege Gansel, das trifft nicht den Kern der Ausgangsfrage. Ich will dennoch sagen, daß es sich mit allen übrigen Leistungen genauso verhält. Die Rentenbezieher im Ostteil der Stadt sind in gleicher Weise betroffen wie die Kriegsopfer. Ebenso verhält es sich beim Lohn- und Gehaltsgefüge. Das ist bei der Kriegsopferversorgung kein Sonderfall. Deshalb habe ich soeben ausführlich den Verbund der Kriegsopferversorgung mit den übrigen Rentensystemen dargestellt. Insoweit kann man es nicht als absurd empfinden, wenn dies auch für die Kriegsopfer zutrifft. Man kann dies anders beurteilen, wenn man den Gesamtrahmen der Lebensverhältnisse und der Einkommens- und Kostenverhältnisse in Gesamt-Berlin — aufgeteilt nach West und Ost — betrachtet. Aber das betrifft nicht die Fragestellung, die hier zur Rede steht.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß die Höhe von Löhnen etwas mit der Produktivität eines Arbeitsplatzes zu tun hat — übrigens auch mit der Stärke von Gewerkschaften —, daß die Höhe der Renten etwas mit den Beiträgen zu tun hat und daß eine Kriegsopferversorgung ausschließlich etwas damit zu tun hat, daß man im Kriege schwer
und dauerhaft beschädigt wurde? Sind Sie nicht bereit, als ein zusätzliches, differenzierendes Kriterium zu berücksichtigen, daß diese Opfer des letzten Weltkrieges nur noch eine kurze Lebenserwartung haben?
Des weiteren hätte ich gern gewußt: Wäre es nicht ehrlicher, der Kollegin Otto zu antworten, daß dies soundsoviel Milliarden D-Mark jährlich kostet und daß die Bundesregierung dafür zur Zeit kein Geld hat? Vielleicht könnte man das ja dann noch nachempfinden; wahrscheinlich eher als eine solche bürokratische, rechtstechnische Begründung, die mit der sozialen Wirklichkeit wenig zu tun hat.
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Kollege Gansel, ich kann Ihnen überhaupt nicht zustimmen. Ich habe Ihnen soeben sehr deutlich nicht nur rechtstechnisch, sondern auch von unserem Rentensystem her im Zusammenhang mit der Kriegsopferversorgung dargelegt, daß systematisch eine Anpassung erfolgt, im übrigen des gesamten Rentensystems. Bei der Kriegsopferversorgung handelt es sich insoweit um Folgewirkungen der gesamten Gesetzgebung. Es hat nichts damit zu tun, daß es so viel Geld kosten würde, wie Sie meinen, und daß die Bundesregierung nicht bereit wäre, dieses Geld zur Verfügung zu stellen. Ihr Vorschlag sprengt einfach den Rahmen der gesamten Gesetzgebung, der in diesem Hause im übrigen einvernehmlich beschlossen wurde.
Danke schön, Herr Günther.
Ich komme zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr. Die Fragen zu diesem Geschäftsbereich beantwortet der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Dieter Schulte.
Dabei ist es so, daß die Fragesteller Martin Göttsching, Frage 10, Willfried Böhm, Frage 11, und die Abgeordnete Elke Ferner, Frage 12 um schriftliche Beantwortung bitten. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 13 des Abgeordneten Norbert Gansel auf:
In welcher Weise hat der Bundesminister für Verkehr bei der Vergabe des Neubaus der Holtenauer Hochbrücke in Kiel an die Firma Weiß & Freytag AG Hamburg, die die 520 m lange Stahlbrücke in Südafrika fertigen lassen will, berücksichtigt, daß das konkurrierende Angebot einer einheimischen Bietergemeinschaft, bei der die Stahlbauteile von dem Kieler Unternehmen HDW hergestellt werden sollten, eine um sechs Monate frühere Übergabe an den Verkehr ermöglicht und eine vorzeitige Beendigung der gefährlichen und provisorischen Kanalquerung ermöglicht hätte, und in welcher Weise war der Bundesminister für Verkehr, Dr. Günther Krause, an der Vergabe oder Bekanntgabe des Projekts persönlich beteiligt?
Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Gansel, in die Prüfung und Wertung der Angebote der Bietergemeinschaft Krupp und andere ist auch die Verkürzung der Bauzeit um sechs Monate eingeflossen, die aber nicht von so ausschlaggebender Bedeutung sein
Metadaten/Kopzeile:
7366 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992
Parl. Staatssekretär Dr. Dieter Schultekonnte, um die Differenz von 8 Millionen DM Bundeshaushaltsmittel zugunsten des in Auftrag gegebenen Angebotes auszugleichen. Das in Auftrag gegebene Angebot erfüllt die ausgeschriebene Fertigstellungsbedingung von Juni 1995.Der Bundesminister für Verkehr, Prof. Dr. Krause, ist an der Vergabe des Auftrages persönlich nicht beteiligt gewesen.
Herr Gansel.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß die 520 m lange Stahlbaubrücke des Gesamtbauwerks Holtenauer Hochbrücke über den NordOstsee-Kanal von einer südafrikanischen Firma hergestellt und von Südafrika nach Kiel transportiert wird, weil dieses Angebot wenige Millionen DM niedriger war als das Angebot von HDW, die Holtenauer Hochbrücke vor Ort zu bauen und bei einem etwas höheren Preis sieben Monate vorher fertigzustellen und damit das gefährliche provisorische Nadelöhr über dem Nord-Ostsee-Kanal vorzeitig zu entschärfen? Stimmt es, daß eine südafrikanische Firma diese Hochbrücke von Südafrika über See hierher transportiert und daß sie den Zuschlag bekommen hat, obwohl die Firmen vor Ort die Brücke sieben Monate schneller bauen könnten?
Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wir können uns darüber unterhalten, wie Projekte dieser Größenordnungen ausgeschrieben werden sollen. Wir waren verpflichtet, eine europaweite Ausschreibung vorzunehmen. Den Zuschlag hat eine renommierte Hamburger Firma bekommen. Sie hat — neben anderen — einen Subunternehmer eingeschaltet, der aus Südafrika stammt.
Im übrigen muß ich sagen: Auch der von Ihnen favorisierte Bieter wollte mit Subunternehmern arbeiten, die außerhalb Deutschlands ihren Firmensitz haben. Es geht also um zweierlei: einmal darum, daß wir uns darüber unterhalten, ob die Ausschreibungspraxis in der EG richtig ist, und zweitens darum, ob es richtig ist, wenn schon die EG und nicht unbedingt ein weiterer Teil der Welt beteiligt sein muß, Subunternehmungen zuzulassen. Das ist nicht nur eine Frage der Verkehrspolitik. Uns berührt dies immer wieder, im übrigen sehr wenig zu meiner persönlichen Freude. Aber wir müßten das dann gesamtpolitisch aufgreifen. Mir wäre es z. B. noch lieber gewesen — ich sage das ganz offen —, wenn es eine Firma aus den neuen Bundesländern gegeben hätte, die den Auftrag erhalten hätte.
Herr Gansel, eine weitere Zusatzfrage.
Zweite Zusatzfrage: Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß die Hamburger Firma, die den Zuschlag erhalten hat und bei der Ausschreibung Leistungen von Unterlieferanten für die eigentliche Hochbrücke angeboten hat, die Chance erhalten hat, ihr Angebot nachzubessern, weil sich herausstellte, daß in ihrem Angebot keine Firmen genannt worden waren, die wirklich in der Lage sind, den Stahlbauteil zu konstruieren und zu bauen, und daß so im nachhinein die Hamburger Firma ein tschechisches, ein belgisches und ein südafrikanisches Unternehmen als zusätzliche Subunternehmer benennen konnte? Ist das mit der VOB Teil A § 25 Punkt 2 vereinbar?
Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, nach meiner Kenntnis und nach intensiver Vorbereitung auf diese Fragestunde muß ich Ihnen sagen, daß mir nicht bekannt ist, daß dort nachgeliefert worden sei
— nachgebessert worden sei. Ich will diese Frage aber gerne noch einmal überprüfen. Sie bekommen eine schriftliche Antwort dazu.
Ich gehe auch davon aus, daß es ein öffentliches Interesse daran gibt, zu klären, ob hier sauber gearbeitet wurde oder nicht. Ich habe dieses Interesse; das will ich ausdrücklich sagen.
Es gab im übrigen Nebengebote, wie die Brücke im einzelnen ausgestaltet werden soll. Das ist aber bei solchen Ausschreibungen üblich.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Nils Diederich.
Herr Staatssekretär, unterstellt den Fall, daß die Informationen richtig sind, daß die Brücke über die Kelte von Subunternehmen aus Südafrika geliefert wird, möchte ich fragen: Inwieweit kann die Bundesregierung bzw. deren Verwaltung beim Zuschlag solche Tatbestände, daß wesentliche Teile außerhalb der EG hergestellt werden, berücksichtigten, und würden Sie mit mir übereinstimmen, daß die Berücksichtigung von KostenNutzen-Erwägungen auf volkswirtschaftlicher Ebene bei der Bewertung von Angeboten auf jeden Fall dann eine Rolle spielen muß, wenn die gebotenen Gesamtpreise nicht so wesentlich voneinander abweichen, daß die Regel, daß man dem billigsten Gebot den Zuschlag geben muß, überzeugend zieht?
Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich glaube, Sie verkennen den Sinn einer EG-weiten, einer europaweiten Ausschreibung. Die von Ihnen angestellte restriktive, vielleicht national begrüßenswerte Einengung ist nicht die Rechtswirklichkeit. Wir würden auch Schwierigkeiten bekommen, würden wir nicht so verfahren, wie ich es gerade dargelegt habe.
Im übrigen verweise ich, was die Frage der Subunternehmer angeht, auf das, was ich vorher dem Kollegen Gansel gesagt habe: Dies müßte dann generell aufgegriffen werden. Heute ist es nach unserer Rechtsansicht und nach allgemein üblicher Praxis Rechtens.
Gibt es eine weitere Zusatzfrage?
Auch ich will da noch einmal einhaken: Ist die Bundesregierung nicht der Auffassung, daß 8 Millionen DM Ersparnis bei längerer Bauzeit durch die Vergabe an eine südafrikanische Firma auf der anderen Seite aber mehrfach dadurch ausgegeben werden, daß wir Werften subventionie-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992 7367
Ulrike Mehlren müssen, um Arbeitsplätze zu erhalten, oder Arbeitslose finanzieren müssen, die viel lieber arbeiten würden, als arbeitslos zu sein, und daß zumindest einmal darüber zu diskutieren ist, ob das, was so vorgeschrieben ist, wie Sie es eben darstellten, überhaupt sinnvoll ist?Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich glaube, bei dem zum Schluß zum Ausdruck gekommenen Vergabepreis von ca. 70 Millionen DM ist eine Preisdifferenz von 8 Millionen DM doch erheblich. Das sind, wenn ich noch richtig rechnen kann, mehr als 10 %.Im übrigen sieht die Vergabeordnung, die EG-weit gilt, nicht vor, daß Ihre Rechnungen angestellt werden. Ihre Rechnungen sind nicht direkt auf die Vergabe bezogen, sondern sind gesamtvolkswirtschaftlicher Art. Dies für die einzelne nationale Volkswirtschaft auszuschließen war gerade der Sinn der EG-Vergaberichtlinien.
— Herr Kollege Gansel, ich darf auf Ihren Zwischenruf antworten, wenn die Frau Präsidentin das zuläßt:
Ja.
Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Das Bieterangebot, das zum Zuge gekommen ist, liegt im Zeitrahmen dessen, was ausgeschrieben wurde.
Jetzt kommen wir zur Beantwortung der Frage 14 des Abgeordneten Dr. Nils Diederich:
Was hat den Bundesminister für Verkehr bewogen, die auf den Westberliner Havelgewässern seit 19 Jahren an jedem zweiten Wochenende im Monat geltenden Fahrverbote für Motorboote sowie die Geschwindigkeitsbegrenzungen dort aufzuheben, und ist er bereit, seine Entscheidung mit dem Ziel zu überprüfen, die bewährte und umweltfreundliche Regelung in modifizierter Form auf alle Havelgewässer in und um Berlin auszudehnen?
Herr Staatssekretär.
Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das an jedem ersten und dritten Wochenende von Mai bis September geltende Fahrverbot ist durch ein an jedem Wochenende zwischen 12 Uhr und 15 Uhr festgesetztes Fahrverbot ersetzt worden. Es wird Gesichtspunkten des Umweltschutzes mehr gerecht, weil das neue Verbot die Zeiten erfaßt, in denen ein vermehrtes Ruhebedürfnis besteht. Die Fahrverbotszeiten sind also nicht abgeschafft, sondern auf andere Zeiten gelegt worden.
Geschwindigkeitsbegrenzungen sollten nicht aufgehoben, sondern angepaßt werden. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 25 km/h galt nach der bisherigen West-Berliner Regelung bereits in Teilbereichen, auf Ost-Berliner und Brandenburger Gewässern betrug sie 40 bzw. 30 km/h. Eine Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h, die nur gelten sollte, soweit nicht lokal niedrigere Geschwindigkeiten vorgeschrieben sind, wurde daher mit Rücksicht auf vergleichbare Gewässer außerhalb Berlins in Übereinstimmung mit dem im Deutschen Sportbund vertretenen Wassersportverbänden für angemessen angesehen.
Nachdem von seiten des Berliner Senats neue Gesichtspunkte für die Regelung einer Höchstgeschwindigkeit vorgebracht wurden, ist der Bundesminister für Verkehr bereit, nach Gesprächen mit dem Berliner Senat die festzulegende Höchstgeschwindigkeit kurzfristig zu überprüfen.
Haben Sie eine Zusatzfrage?
Die Beantwortung der Frage war so, daß sie mich sprachlos läßt. Ich verzichte auf Nachfragen. Wir werden sehen, was die Praxis erbringt.
Herr Lüder.
Herr Kollege Schulte, da ich zu denen gehöre, die die Fahrverbotsregelung seinerzeit in anderer Eigenschaft, nämlich als auch für den Gewässerschutz zuständiger Berliner Senator, ausgehandelt habe, frage ich Sie: Warum ist in Ihrer Antwort nicht der Hinweis enthalten, daß aus dem „Bereich Grün" — Schilf-, Uferschutz und anderes — Überprüfungen angestellt wurden. Konkret: Haben Sie, bevor Sie diese Entscheidung getroffen haben, die Unterlagen des Berliner Senats von den beteiligten Senatsverwaltungen angefordert und geprüft, ob alles das bestehen bleiben kann oder ob das, was damals gemacht wurde, aufgehoben werden muß?
Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, zunächst einmal ging es darum, die Regelungen, die es bisher in West-Berlin, in Ost-Berlin und in Brandenburg gab, miteinander zu vereinbaren. Das war das ganze Motiv des Vorgehens.
Zweitens gibt es Sonderregelungen für den vom Ufer einzuhaltenden Abstand und für die dort zu fahrende Geschwindigkeit.
Drittens. Es gibt eine ganze Reihe von Gesprächen mit Betroffenen, bei denen die Unterlagen vorhanden waren. Das fing im Mai 1991 an und hat sich im April 1992 mit allein vier verschiedenen Verhandlungsrunden fortgesetzt. Wir sind bereit, eine weitere Verhandlungsrunde anzuschließen, wie ich das vorhin, in meiner ersten Antwort, gesagt habe.
Frau Klemmer.
Herr Staatssekretär, die Berliner hier erfreut es natürlich ganz besonders, daß Sie noch einmal in Verhandlungen mit dem Senat treten werden. Ist denn bei diesen Verhandlungen auch daran gedacht, die jetzt abgeschaffte ganz individuelle Kennzeichnungspflicht der Boote wieder rückgängig zu machen, so daß nicht 90 % der auf Berliner Gewässer fahrenden Boote „Havel" und die restlichen 10 % „Spree" heißen, sondern daß sie zu ihrer besseren Identifizierung wieder ganz individuell gekennzeichnet sein müssen?Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, das muß ich gesondert nachprüfen. Das führt ein bißchen weiter als die erste Frage. Sie bekommen von mir Antwort.
Metadaten/Kopzeile:
7368 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992
Damit ist der Bereich des Bundesministers für Verkehr abgeschlossen. Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Paul Laufs zur Verfügung.
Zunächst die Frage 15 der Abgeordneten Ulrike Mehl.
Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung ergriffen und wird sie ergreifen, um die amerikanische Bundesregierung zur Aufgabe ihrer starren Haltung bei der Reduzierung des Energieverbrauchs und der des Ausstoßes von klimaschädigenden Gasen zu bewegen, um die bevorstehende UNCED nicht scheitern zu lassen?
Frau Kollegin Mehl, die Bundesregierung hat sich seit Beginn der Verhandlungen über eine Weltklimakonvention im Februar 1991 dafür eingesetzt, daß bei der UN-Konferenz Umwelt und Entwicklung eine Konvention gezeichnet wird, die als oberstes Ziel die Stabilisierung der Konzentration von Treibhausgasen auf einem Niveau festschreibt, das gefährlichen Klimaveränderungen vorbeugt.
Dieses Ziel verlangt von allen Staaten eine Begrenzung der Emissionen klimarelevanter Spurengase. Insbesondere die Industrieländer als Hauptverursacher müssen spezielle Verpflichtungen eingehen. Die. Konvention soll sie verpflichten, als ersten Schritt CO2-Emissionen bis zum Jahre 2000 auf dem Niveau von 1990 zu stabilisieren.
Die Bundesregierung hält es insbesondere für notwendig, daß auch die USA eine solche effektive Konvention zeichnen, da sie rund 25 % des globalen Kohlendioxidausstoßes verusachen. Aus diesen Gründen hat die Bundesregierung in zahlreichen direkten Konsultationen im Verlauf der Vorbereitungsverhandlungen zu einer internationalen Klimakonvention wie auch bei zusätzlichen Delegationsreisen in die USA in diesem Sinne auf die USA eingewirkt. So ist noch in diesem Jahr, am 20. März 1992, der Bundeskanzler nach Camp David gereist, um u. a. mit US-Präsident Bush die Klimaproblematik zu erörtern. Der Bundesumweltminister hat zu dieser Frage in Washington mehrfach — zuletzt noch am 30. April 1992 — Gespräche geführt.
Zusatzfrage, Frau Mehl.
Was tut die Bundesregierung im Rahmen der EG, um mit ihren eigenen Beschlüssen, die über das hinausgehen, was Sie eben gesagt haben — nämlich bis zum Jahre 2005 25 bis 30 % CO2-Ausstoß einzusparen —, der UNCED diesem Ziel möglichst nahezukommen?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Mehl, ich kann zwar keinen Zusammenhang mit Ihrer Hauptfrage hier feststellen, aber ich möchte darauf hinweisen, daß erst gestern der EG-Minsterrat in Brüssel die bisherigen Beschlüsse zur Stabilisierung des CO2-Ausstoßes erneut bestätigt hat. Im übrigen ist die EG-Kommission beauftragt, einen Vorschlag zur
Einführung einer CO2- bzw. Energiesteuer vorzulegen. Das wird voraussichtlich noch in diesem Monat der Fall sein. Sie wissen, daß die Bundesregierung, da der Pro-Kopf-Ausstoß an CO2 in der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zu dem anderer EG-Mitgliedstaaten sehr hoch ist, hier ganz besondere Anforderungen an nationale Maßnahmen zur CO2-Reduktion sieht. Sie hat sich ja dieser Anforderung gestellt.
Zweite Zusatzfrage.
Dann frage ich noch einmal in bezug auf Ihre Antwort. Sie sagten, daß mehrmals Gespräche stattgefunden haben und verhandelt worden sei. Können Sie uns vielleicht sagen, was dabei herausgekommen ist?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Mehl, es ist grundsätzlich nicht zu erwarten, daß unsere Partner Positionen, die in einem mühsamen internen Prozeß abgestimmt sind, während solcher Gespräche ändern und entsprechende Zusagen geben, zumal wir uns in einem komplizierten Verhandlungsprozeß befinden. Hier spielen in hohem Maße auch taktische Gesichtspunkte eine Rolle. Wir haben aber den deutlichen Eindruck, daß unsere Argumente ernst genommen und in den Prozeß der Positionsfindung in den USA einbezogen werden.
Dann kommen wir zur Frage 16 der Abgeordneten Mehl:
Was gedenkt die Bundesregierung zur Sicherung eines Erfolges der UNCED zu tun, wenn die amerikanische Regierung bei ihrer starren Haltung bleibt?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Mehl, während der fünften Vorbereitungssitzung zu einer Weltklimakonvention am 27. Februar 1992 hat die USA Kompromißbereitschaft in der CO2-Stabilisierungsfrage angedeutet. Insofern geht die Bundesregierung derzeit nicht davon aus, daß die amerikanische Regierung bei ihrer starren Haltung bleibt. Die noch bis zum 8. Mai laufende Verhandlungsrunde wird eine Klärung erbringen. Insofern ist es verfrüht, Maßnahmen zu erwägen, die davon ausgehen, daß die USA keine effektive Konvention zeichnen werden.
Zusatzfrage.
Sie sagten soeben, daß sich die EG darauf einigen werde, bis zum Jahre 2000 eine Stabilisierung des CO2-Ausstoßes zu erreichen. Aller Voraussicht nach wird das nicht Linie der USA sein. Es ist uns aber bekannt, daß selbst dieser Schritt — nämlich eine Stabilisierung des CO2-Ausstoßes bis zum Jahr 2000 — eigentlich zuwenig ist, daß wir mehr erreichen müßten. Wie ist es denn um die Kompromißbereitschaft der Bundesregierung bestellt, wenn es um die Frage der Stabilisierung und des Zeitraumes geht? Denn es könnte ja sein, daß über das Jahr 2020 verhandelt wird. Wenn es vielleicht auch verfrüht ist, so würde mich doch sehr interessieren, welche Linie die Bundesregierung in dieser Frage verfolgt und an welcher Stelle sie sagt: Hier ist das Ende der Fahnenstange.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992 7369
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Zunächst, Frau Kollegin Mehl, möchte ich noch einmal betonen, daß es jetzt in New York und dann in Rio de Janeiro darum geht, möglichst konkrete Zielsetzungen in der Konvention selbst zu verankern, d. h. das Stabilisierungsziel im Jahre 2000 auf der Basis des Jahres 1990. Sie wissen, daß die Bundesregierung wiederholt beschlossen hat, bis zum Jahr 2005 eine Reduktion durch nationale Maßnahmen in der Größenordnung von 25 bis 30 % zu realisieren.Es ist bei der jetzigen Verhandlungssituation natürlich nicht davon auszugehen, daß sich dieses deutsche nationale Ziel im Hinblick auf die Konvention durchsetzen läßt. Es geht vielmehr darum, die Position der EG durchzusetzen. Die Verhandlungen, die gegenwärtig in New York laufen, sind in vollem Fluß und lassen die Ergebnisse noch weit offen.
Noch eine Zusatzfrage.
Wird die Bundesregierung nach der UNCED und nach der Einigung auf EG-Ebene ihre nationale Position verlassen, nämlich eine Einsparung um 25 bis 30 % bis zum Jahre 2005 zu erreichen, d. h. dann also auf einen niedrigeren Level gehen, oder wird sie bei diesem Einsparungsziel bleiben, und was will sie tun, um dieses Ziel zu erreichen.
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hat die Absichtserklärungen, die ich gerade dargestellt habe, nicht in dem Zusammenhang abgegeben, daß sie durch die Klimakonvention in Rio de Janeiro überschrieben werden könnten.
Über die Maßnahmen, die zur Erreichung dieses Zieles zu ergreifen sind, sind in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages ja bereits ausführliche Diskussionen geführt worden. Es gibt einen umfangreichen Maßnahmenkatalog, den es in den kommenden Jahren auch noch hier im Bundestag durchzusetzen gilt.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kubatschka.
Ich habe eine Zusatzfrage zu Frage 16. Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, daß die Bundesregierung nicht auf die US-Linie einschwenken wird und auch keinen faulen Kompromiß eingehen wird, der, wie Sie gesagt haben, die Absichtserklärung der Regierung unterläuft?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kubatschka, ich habe darauf hingewiesen, daß die Vereinigten Staaten etwa zu einem Viertel an dem globalen CO2-Ausstoß beteiligt sind und wir deshalb ein sehr großes Interesse daran haben, daß die Vereinigten Staaten zu den Mitunterzeichnern einer Klimakonvention gehören.
Es ist jetzt nicht der Zeitpunkt darüber zu diskutieren, welche Rückfallpositionen und Verhandlungsspielräume sich ergeben könnten, falls die USA doch bei ihrer sehr starren Haltung verbleiben würden.
Eine weitere Zusatzfrage von Frau Ganseforth.
Herr Staatssekretär, ich möchte sicherheitshalber noch einmal fragen: Bleibt die Bundesregierung — unabhängig davon, was die EG beschließt, und unabhängig davon, was auf weltweiter Ebene beschlossen wird — bei ihren Aussagen in der Regierungserklärung, bei den Beschlüssen des Bundestages und bei den verschiedenen Kabinettsbeschlüssen? Bleiben diese Aussagen und Beschlüsse unabhängig davon erhalten?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: So ist es.
Wir kommen jetzt zu Frage 17 des Abgeordneten Horst Kubatschka:
Warum hat die Bundesregierung erst jetzt die Überprüfung der Rohrleitungen im nuklearen Sicherheitsbereich in allen deutschen Leichtwasserreaktoren angeordnet, obwohl z. B. im Kernkraftwerk Würgassen seit Inbetriebnahme des Reaktors im Jahre 1971 der Herstellungsfehler der Rohrleitungen bekannt ist?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kubatschka, wiederkehrende Prüfungen von Rohrleitungen müssen von dem Betreiber eines Kernkraftwerks schon seit jeher innerhalb festgelegter Fristen durchgeführt werden. Die Methoden solcher Prüfungen richten sich nach dem ständig zu verbessernden Stand von Wissenschaft und Technik. Erst in jüngster Zeit steht für Rohrprüfungen ein Gerät zur Überprüfung des Innenrohres zur Verfügung.
Im Rahmen der Jahresrevision des Kernkraftwerks Würgassen gelangte diese Methode erstmals zum Einsatz. Dabei wurden im Juli 1991 bei routinemäßig wiederkehrenden Prüfungen im nicht absperrbaren Bereich des Nachkühlsystems Anrisse an zwei Schweißnähten einer Saugleitung des Kernflutsystems festgestellt.
Über das Vorkommnis wurde im dritten Quartalsbericht des Bundesumweltministers 1991 unter Ziffer 117 berichtet. Dieser Bericht ist vom Bundesumweltminister am 23. Dezember 1991 dem Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit des Deutschen Bundestages zugeleitet worden. Die Betreiber aller deutschen Leichtwasserreaktoren wurden vorab von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit, Köln, im Auftrag des Bundesumweltministers durch eine Weiterleitungsnachricht aufgefordert, zu überprüfen, ob bei sicherheitstechnisch wichtigen, nicht absperrbaren Rohrleitungssystemen, deren Versagen als einleitendes Ereignis zu einem Kühlmittelverluststörfall anzusehen ist und bei denen vergleichbare Verhältnisse wie bei der betroffenen Rohrleitung in Würgassen vorliegen, Fehler dieser Art ausgeschlossen sind. Gegebenenfalls sind einzelne Schweißnähte mit geeigneten Prüfverfahren nachzubewerten.
Herr Kubatschka.
Herr Staatssekretär, Sie sprechen immer von Würgassen. Gibt es noch andere Atomkraftwerke, wo ähnliche Fehler aufgetreten sind?
Metadaten/Kopzeile:
7370 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kubatschka, die sogenannten Treibwasserschleifen am Reaktor Würgassen sind in ihrer Art einmalig. An Schweißnähten dieser Treibwasserschleifen sind diese Fehler festgestellt worden, die bereits seit Beginn, also herstellungsbedingt, vorliegen.
Zweite Frage.
Wir haben also Materialfehler, die herstellungsbedingt sind. Ist es eigentlich üblich, Kernkraftwerken Betriebsgenehmigungen zu geben, bei denen Material eingesetzt wird, das aus dem Herstellungsprozeß schadhaft ist?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kubatschka, es ist richtig, daß die Rißbefunde seit zirka zwanzig Jahren vorliegen. Ich muß dazu feststellen, daß sich heute leider nicht mehr nachvollziehen läßt, warum diese sogenannten Heißrisse im Wurzelbereich der Schweißnähte damals in den Werkstätten der Hersteller bei den Fertigungskontrollen nicht entdeckt wurden. Selbstverständlich ist die sorgfältige Prüfung jeder Komponente die Voraussetzung für eine Betriebsgenehmigung.
Die Aufdeckung solcher Fehler im Rahmen der wiederkehrenden Prüfungen im Kraftwerk selbst ist eine Frage der verfügbaren Prüfverfahren. Hier habe ich angedeutet, daß sich der Stand von Wissenschaft und Technik immens weiterentwickelt hat, so daß im Jahre 1983 beim Einsatz eines wesentlich weiterentwickelten Ultraschallverfahrens hier erste Anzeichen an einer Schweißnaht festgestellt werden konnten. Im Zusammenhang mit der Prüfung deutscher Kernkraftwerke nach Tschernobyl hat der Bundesumweltminister später die Anforderungen an Materialprüfungen verschärft und beim TÜV Rheinland die Entwicklung eines Diagnosegeräts für Rohrinnenprüfungen in Auftrag gegeben. Dieser sogenannte Rohrmolch hat, zum erstenmal 1991 in Würgassen eingesetzt, diese Rißbefunde erbracht.
Sie sehen daran, wie kompliziert diese Materie ist und daß bei den älteren Kernkraftwerken mit diesen einmalig vorliegenden Techniken Probleme auftreten konnten, die unter Umständen erst jetzt vollständig geklärt werden können.
Zusatzfrage, Herr Stockhausen.
Herr Staatssekretär, der Kollege Fragesteller hat festgestellt, daß die Herstellungsfehler seit 1971 bekannt seien. Liegen Ihnen Erkenntnisse vor, was die damals zuständige Regierung unternommen hat, um die Inbetriebnahme zu verhindern?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Ich muß dies richtigstellen. Es liegt nicht seit 1971 die Erkenntnis vor, daß in diesen Schweißnähten Heißrisse entstanden sind, die vom Hersteller nicht behoben wurden. Diese Erkenntnis liegt erst seit 1991 vor, nachdem modernste Prüfverfahren verfügbar waren.
Zusatzfrage, Frau Klemmer.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß das Beispiel im Zusammenhang mit Würgassen und den praktisch erst nach zwei Jahrzehnten durch neue technologische Möglichkeiten feststellbaren Materialfehlern dazu geeignet ist, zu sagen, daß diese äußerst hohe Technologie dazu zwingt, der Meinung zu sein, daß schon jetzt aufgetretene Materialfehler durch eine dann entwikkelte Technologie erst in zehn Jahren entdeckt werden können, und müßte uns dies nicht alle deutlich darauf hinweisen, zu sagen „Finger weg von dieser gefährlichen Technologie! "?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Klemmer, zunächst möchte ich darauf hinweisen, daß, obwohl die Risse an einigen Stellen erhebliche Tiefen aufwiesen, ein Versagen der Leitung mit einem daraus resultierenden Kühlmittelverluststörfall nicht zu befürchten war. Bezüglich des Innendrucks wiesen die Rohrleitungen noch erhebliche Tragkraftreserven auf.
Ich muß weiter darauf hinweisen, daß die Anlage Würgassen sicherheitstechnisch gegen einen Bruch dieser Leitungen ausgelegt ist. Ein solcher Bruch ist ohne Gefahr für Mensch und Umwelt beherrschbar.
Drittens möchte ich bemerken, daß es seit 1971 in der Tat eine immense Entwicklung in Sachen Sicherheitstechnik, gerade auch was die Rohrleitungssysteme betrifft, gegeben hat. Ich darf darauf hinweisen, daß z. B. Anfang der 80er Jahre die Frischdampf- und Speisewasserrohrleitungssysteme in diesen alten Kraftwerken ausgetauscht worden sind und die Technologie der Basissicherheit eingeführt worden ist.
Herr Vergin.
Herr Staatssekretär, können Sie ausschließen, daß bei dem Leichtwasserreaktor Ohu 1 ähnliche Schäden wie in Würgassen auftreten?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Das ist insofern auszuschließen, als diese sogenannten Treibwasserschleifen nur in Würgassen eingesetzt sind. Gleichwohl wurden alle Kernkraftwerksbetreiber aufgefordert, zu prüfen, ob sie austenische Rohrleitungen in sicherheitstechnisch wichtigen Systemen verwenden, bei denen ähnliche Phänomene vorliegen könnten. Gegebenenfalls ist eine Nachbewertung der bisher eingesetzten Prüfverfahren und deren Ergebnisse vorzunehmen sowie stichprobenartig mit geeigneten Methoden erneut zu prüfen, ob Heißrisse im Wurzelbereich von Schweißnähten enthalten sind.
Keine Zusatzfragen mehr.Dann komme ich zur Frage 18 der Abgeordneten Siegrun Klemmer:Kann die Bundesregierung die Einschätzung des EG-Umweltkommissars Carlo Ripa di Meana bestätigen, daß dem einbetonierten „Unglücksreaktor" in Tschernobyl ein Durchschmelzen droht und hier sofortige Abhilfe nötig sei, die ukrainische Regierung aber statt dessen einen der vier stillgelegten anderen Blöcke wieder in Betrieb nehmen will, und was wird die Bundesregierung, auch auf europäischer und internationaler Ebene, dafür tun bzw. hat sie dafür getan, daß Durchschmelzen und Wiederinbetriebnahme verhindert werden?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992 7371
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Klemmer, die von Ihnen angesprochene Äußerung des EG-Umweltkommissars ist der Bundesregierung nicht bekannt. Die von Ihnen zitierte Einschätzung der Gefahrenlage am zerstörten Reaktor in Tschernobyl wird nicht bestätigt.Die gegenwärtige Situation in Tschernobyl stellt sich vielmehr wie folgt dar: Der „Unglücksreaktor" in Tschernobyl ist bereits durchgeschmolzen, d. h. flüssiger Brennstoff sowie Teile der Reaktorinnenkonstruktion sind unmittelbar nach dem Unglück aus dem Beton-Reaktorgefäß in die darunterliegenden Räume ausgetreten und dort erstarrt. Die Gefahr eines weiteren Durchschmelzens besteht nicht; die Temperatur im Innern der erstarrten Reaktorkernschmelze betrug im Oktober 1991 noch etwa 60 °C.Block 2 des Kernkraftwerks Tschernobyl wurde nach dem Brand im Maschinensaal, d. h. im Generatorbereich, am 11. Oktober 1991 nicht wieder in Betrieb genommen und soll nach dem Beschluß der ukrainischen Regierung vom 29. Oktober 1991 stillgelegt werden. Die verbleibenden Blöcke 1 und 3 sollen spätestens 1993 endgültig abgeschaltet und stillgelegt werden. Von 1993 bis 1995 sollen Pläne zur Vorgehensweise bei der endgültigen Stillegung erarbeitet werden, die nach 1995 umgesetzt werden können. Ein Beschluß der ukrainischen Regierung zur Wiederinbetriebnahme „eines der vier stillgelegten anderen Blöcke" ist der Bundesregierung nicht bekannt.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie etwas über den Zeitpunkt sagen, zu dem Sie das letzte Mal in dieser Frage mit der ukrainischen Regierung im Gespräch gewesen sind?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Klemmer, Sie wissen, daß es eine gemeinsame deutsch-ukrainische Erklärung vom vergangenen Jahr gibt. Die Kontakte bestehen. Ich darf darauf hinweisen, daß noch im Mai ein deutsch-ukrainisches Arbeitsgespräch — übrigens unter französischer Beteiligung — stattfinden wird, in dem Reaktorsicherheitsfragen erörtert werden.
Zweite Frage.
Herr Staatssekretär, ich darf also festhalten, daß Ihre letzten Gespräche mit der ukrainischen Regierung zu dem Problem Tschernobyl ein halbes Jahr alt sind?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Klemmer, das können Sie aus meiner Antwort nun wirklich nicht herauslesen. Ich möchte Ihnen noch einmal sagen, daß die Kontakte bestehen, seit es diese gemeinsame deutsch-ukrainische Erklärung von Ende 1991 gibt, und daß die Informationen, die ich Ihnen in Beantwortung Ihrer Frage gegeben habe, dem Stand der Dinge nach neuester Erkenntnis entsprechen.
Ich rufe Frage 19 der Abgeordneten Siegrun Klemmer auf:
Teilt die Bundesregierung die Ansicht, daß ein Weiterbau der drei im Bau befindlichen Atomreaktoren des Tschernobyl-Typs RBMK in der GUS ein unverantwortliches Sicherheitsrisiko
darstellt, und was gedenkt sie dagegen zu tun, daß diese Reaktoren fertiggestellt und in Betrieb genommen werden, auch hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von Energieeinsparmaßnahmen, dem Bau von Gasturbinenkraftwerken und anderen Maßnahmen zur Sicherstellung der Eigenversorgung, unter Ausschluß der Kernenergie?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Klemmer, die Bundesregierung geht nicht davon aus, daß die drei sich im Bau befindlichen RBMK-Blöcke in Rußland bzw. in Litauen — es handelt sich um Kursk-5, Smolensk-4, Ignalina-3 — jemals fertiggestellt und in Betrieb genommen werden. Der Weiterbau dieses Reaktortyps wäre in der Tat ein nicht verantwortbares Risiko. Der Bundesumweltminister hat diese Auffassung stets auch international vertreten.
Hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von Energieeinsparmaßnahmen bzw. Maßnahmen zur Sicherung der Energieversorgung aus eigenen Ressourcen verweise ich auf den Bericht des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit vom 31. März 1992 zum Störfall im Kernkraftwerk Sosnovy Bor — in der Nähe von St. Petersburg - vor dem Umweltausschuß des Deutschen Bundestages.
Erste Frage.
Herr Staatssekretär, können Sie auch hier etwas Genaueres zu den zeitlichen Abfolgen der Gespräche des Bundesumweltministers mit den dafür Verantwortlichen in den betreffenden Ländern der GUS bzw. in Litauen sagen?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Klemmer, es haben eine ganze Reihe von Gesprächen stattgefunden. Ich bitte Sie um Verzeihung, daß ich Ihnen die genauen Termine jetzt nicht aus dem Stand nennen kann; ich werde sie Ihnen gern schriftlich nachreichen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kubatschka.
Herr Staatssekretär, Sie bezeichnen zu Recht den Reaktortyp RBMK als nicht sicher. Wollen Sie sagen, daß die WWER-Reaktoren eine größere Sicherheit haben?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kubatschka, Sie wissen, daß es umfangreiche Sicherheitsanalysen im Hinblick auf diesen anderen Reaktortyp sowjetischer Bauart insbesondere deshalb gibt, weil die Bundesrepublik Deutschland an den Standorten Greifswald und Stendal im einzelnen Einblick in den Bau und die Betriebsweise dieser Reaktoren gewinnen konnte.
Frage 20 des Abgeordneten Dr. Klaus Kübler wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern. Die Beantwortung der Fragen übernimmt der Parlamentarische Staatssekretär Eduard Lintner.
Metadaten/Kopzeile:
7372 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthDie Fragen 32 und 33 der Abgeordneten Ingrid Köppe werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.Ich rufe Frage 34 des Abgeordneten Dr. Dietrich Mahlo auf. — Der Abgeordnete ist nicht anwesend. Es wird gemäß Geschäftsordnung verfahren.Frage 35 des Abgeordneten Wilfried Böhm wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Ich rufe Frage 36 des Abgeordneten Karl Stockhausen auf:Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, durch Änderung des geltenden Rechts die finanziellen Aufwendungen für Asylbewerber auf den im Durchschnitt von den übrigen Mitgliedsländern der Europäischen Gemeinschaft aufgewendeten Betrag abzusenken?Herr Staatssekretär.
Der Bundesregierung ist bekannt, daß sich die Regelungen für finanzielle Aufwendungen für Asylbewerber in den Mitgliedstaaten der EG voneinander unterscheiden. Es sind daher auf EG-Ebene Bestrebungen eingeleitet, die Sozialhilfemaßnahmen für diesen Personenkreis anzugleichen.
Unabhängig davon läßt die derzeitige Rechtslage einen Neuregelungsbedarf nicht erkennen. Nach dem geltenden Recht beschränkt sich der Sozialhilfeanspruch von Asylbewerbern während des Verfahrens auf die Hilfe zum Lebensunterhalt. Gemäß § 120 Abs. 2 Satz 3 und 4 des Bundessozialhilfegesetzes soll diese Hilfe, soweit möglich, als Sachleistung gewährt werden. Die Hilfe kann zudem auf das zum Lebensunterhalt Unerläßliche eingeschränkt werden.
Die Entscheidung über den Inhalt und den Umfang der Leistungen wird vom jeweiligen Sozialhilfeträger auf der Grundlage sozialhilferechtlicher Überlegungen im Einzelfall getroffen. Asylrechtliche Fragen werden dabei nicht berührt.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, könnte man einen Zeitrahmen erfahren, wann diese europäische Lösung realisiert werden kann?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Stockhausen, da ist eine konkrete Aussage nicht möglich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Fragestunde, die morgen nachmittag fortgesetzt wird, und danke den Parlamentarischen Staatssekretären.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf: Eidesleistung eines Bundesministers
Der Herr Bundespräsident hat mir folgendes mitgeteilt:
Gemäß Artikel 64 Absatz 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland habe ich auf Vorschlag des Herrn Bundeskanzlers Frau Bundesministerin Gerda Hasselfeldt auf ihren Antrag aus ihrem Amt als Bundesministerin für Gesundheit entlassen und heute Herrn Horst Seehofer zum Bundesminister für Gesundheit ernannt.
Nach Art. 64 Abs. 2 des Grundgesetzes leistet ein Bundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56 vorgesehenen Eid.
Herr Bundesminister Seehofer, darf ich Sie bitten, die Eidesleistung zu vollziehen.
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Herr Bundesminister, Sie haben den Eid gemäß Art. 64 Abs. 2 geleistet.
Ich möchte Ihnen ganz herzlich gratulieren und Ihnen im Namen des Deutschen Bundestages alles Gute wünschen. Viel Glück und Erfolg!
Herzlichen Dank.
Nachdem der Bundesminister sein Amt übernommen und den Eid geleistet hat, möchte ich der ausgeschiedenen Bundesministerin Frau Gerda Hasselfeldt ganz herzlich für ihre Tätigkeit danken und ihr für ihr weiteres politisches Wirken gute Wünsche sagen.
Meine Damen und Herren, ich komme jetzt zu den amtlichen Mitteilungen:Die Amtszeit der Mitglieder im Verwaltungsrat der Deutschen Ausgleichsbank läuft aus. Daher müssen gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 des Ausgleichsbankgesetzes vom Deutschen Bundestag fünf Mitglieder in den Verwaltungsrat der Deutschen Ausgleichsbank entsandt werden.Die Fraktion der CDU/CSU benennt die Abgeordneten Michael Glos und Bernhard Jagoda, die Fraktion der SPD die Abgeordneten Albert Pfuhl und Wolfgang Roth und die Fraktion der F.D.P. den Abgeordneten Martin Grüner. Sind Sie mit den Vorschlägen einverstanden? — Dazu höre ich keinen Widerspruch. Damit sind die genannten Kollegen als Mitglieder im Verwaltungsrat der Deutschen Ausgleichsbank bestimmt.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um einen Antrag der Gruppe der PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/2526 erweitert werden.Interfraktionell besteht auch Einvernehmen, daß IAO-Übereinkommen zum Arbeitsschutz im Bauwesen auf Drucksache 12/2472 nachträglich dem Aus-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992 7373
Präsidentin Dr. Rita Süssmuthschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu überweisen.Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 a und b, Zusatzpunkt 1 und Tagesordnungspunkt 6 auf:5. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwufs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 27. Februar 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit— Drucksache 12/2468 —Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß Rechtsausschußb) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDVertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit— Drucksache 12/1929 —Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß RechtsausschußZP1 Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/ Linke ListeVertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit— Drucksache 12/2526 —Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß Rechtsausschuß6. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 6. Februar 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Ungarn über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa— Drucksache 12/2469 —Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß RechtsausschußNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zu diesen Tagesordnungspunkten zwei Stunden vorgesehen. — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen, Herr Genscher.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Verträge mit der CSFR und mit Ungarn schließen sich an den Vertrag mitPolen vom Juni 1991 an. Der Prager Vertrag des Jahres 1973 konnte im Rahmen des seinerzeit Möglichen nur einige Grundfragen des beiderseitigen Verhältnisses lösen. Erst der Wandel in Mittel- und Osteuropa hat den Weg für einen Nachbarschaftsvertrag freigemacht, der Grundlage für eine zukunftsorientierte Gestaltung der deutsch-tschechoslowakischen Beziehungen sein kann.Die Föderalversammlung der CSFR hat dem deutsch-tschechoslowakischen Vertrag am 22. April mit großer Mehrheit zugestimmt.
Ich danke Präsident Havel und Außenminister Dienstbier für ihren Beitrag zum Zustandekommen des Vertrags und auch zu der breiten Zustimmung, die der Vertrag bei seiner Ratifizierung gefunden hat.
Der Freundschafts- und Partnerschaftsvertrag mit Ungarn gibt unseren Beziehungen eine neue Perspektive. Der historischen Freundschaft mit Ungarn wurde durch die Öffnung der Grenze für unsere Landsleute aus der früheren DDR im Spätsommer 1989 ein neues Kapitel hinzugefügt, das uns Deutschen für immer unvergeßlich bleiben wird.
Wir werden dem ungarischen Volk niemals vergessen, daß es als erstes den Eisernen Vorhang durchtrennt hat.
Die Verträge, die wir heute in erster Lesung behandeln, weisen — wie der schon in erster Lesung behandelte deutsch-bulgarische Vertrag und vor allem auch der deutsch-polnische Vertrag — über das jeweilige bilaterale Verhältnis hinaus. Sie verknüpfen unsere Beziehung en mit der gesamteuropäischen Entwicklung. Sie sind damit Elemente der gesamteuropäischen Architektur, die unserem Kontinent die Chance einer besseren, einer friedlichen Zukunft eröffnet. Diese Architektur wird nur dann Bestand haben, wenn sie sich auf die Achtung der Menschenrechte, der Minderheitenrechte und auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker gründet.Gerechtigkeit erhöht ein Volk; das gilt auch für die Gemeinschaft der Völker. Von besonderer Bedeutung ist deshalb für uns, daß die Rechte der deutschen Minderheiten in der CSFR und in Ungarn entsprechend dem geltenden KSZE-Standard der Minderheitenrechte von Helsinki verbindlich verankert wurden.Die in den Verträgen gefundenen Regelungen sind keine Endstufen. Sie sind für die Weiterentwicklung im Bereich der Minderheitenrechte offen. Der ausdrückliche Verweis in den Verträgen auf den KSZE-Streitbeilegungsmechanismus bedeutet schon eine Fortschreibung des europäischen Standards der Minderheitenrechte.Die Tschechoslowakei ist unser direkter Nachbar. Mit ihr haben wir die längste gemeinsame Grenze.
Metadaten/Kopzeile:
7374 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992
Bundesminister Hans-Dietrich GenscherUnsere Völker verbindet eine lange Geschichte, die immer auch europäische Geschichte war, in der Prag zu der europäischen Stadt wurde, die sie bis auf den heutigen Tag geblieben ist.Zu unserer gemeinsamen Geschichte zählen auch die dunklen Kapitel, vor allem in diesem Jahrhundert. Beide Seiten stellen sich in dem Vertrag auch diesen Erfahrungen. Sie tun das im Bewußtsein der historischen Wahrheit und in der Bereitschaft zum ehrlichen Umgang miteinander. Das geschieht nicht im Sinne einer gegenseitigen Aufrechnung von Schuld, sondern — ich zitiere die Präambel des Vertrages —:. . . in dem festen Willen, ein für allemal der Anwendung von Gewalt, dem Unrecht und der Vergeltung von Unrecht mit neuer Ungerechtigkeit ein Ende zu machen und durch gemeinsame Bemühungen die Folgen der leidvollen Kapitel der gemeinsamen Geschichte in diesem Jahrhundert zu bewältigen.Beide Seiten gedenken des Unrechts der Vertreibung, und das ohne jede Einschränkung. So bringt es der Vertrag zum Ausdruck. Keine andere Deutung findet in dem Vertrag eine Stütze. Keine andere Interpretation kann den Vertrag in dieser für das Rechtsbewußtsein so wichtigen Frage verändern.Staatspräsident Havel hat uns mehrfach in beeindruckender Weise vor Augen geführt, was es heißt, sich auch zur Schuld des eigenen Volkes zu bekennen und dabei in die Zukunft gerichtete Lösungen der Probleme zu suchen, mit denen wir die Vergangenheit hinter uns lassen können.Wir wollen auch in dieser Stunde nicht vergessen, was in deutschem Namen unseren Nachbarvölkern — auch in der CSFR — geschehen ist. Es gilt, was Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag zu unserer geschichtlichen Verantwortung gesagt hat. Vaclav Havel hat mit der Kraft des Geistes seinem Volk Hoffnung in schlimmer Zeit und auch die Kraft für Selbstbefreiung gegeben. Schon wenige Tage nach seiner Amtsübernahme hat er Deutschland besucht. Eindrucksvoller konnte dieser große Europäer den Willen zu einem neuen Anfang nicht bekunden.
Für diese Haltung zollen wir dem tschechoslowakischen Staatspräsidenten unseren Respekt. Wir wissen uns in dem Bemühen um die Bewältigung der Vergangenheit mit ihm einig.Nicht jede Frage konnte in dem Vertrag in einer Form gelöst werden, die alle Menschen zufriedenstellt; aber es ist gelungen, sie in einem zum gegenwärtigen Zeitpunkt bestmöglichen Sinne zu regeln. Auch hier hätten wir mit einer Politik des Alles-oder-Nichts eine historische Chance verspielt. Auch hier muß das Vertrauen in die Zukunft stärker sein als die Schatten der Vergangenheit.Eines der schwierigen Kapitel der Verhandlungen war die Frage vermögensrechtlicher Ansprüche. Angesichts der unterschiedlichen Auffassungen haben wir uns darauf verständigt, daß sich der Vertrag nicht mit Vermögensfragen befaßt. Dies ist in einemergänzenden Briefwechsel, der integraler Bestandteil des Vertrages ist, geschehen. Das entspricht der Regelung, die mit der Republik Polen getroffen wurde. Die Möglichkeit zur Niederlassung für Deutsche in der CSFR ist durch den ergänzenden Briefwechsel in der Perspektive der europäischen Einheit eröffnet worden. Beide Seiten sind sich einig, daß die fortschreitende Annäherung der CSFR an europäische Strukturen auch in diesem Punkt schon bald weitere Erleichterungen mit sich bringen kann.Meine Damen und Herren, wir wollen die kritischen Fragen, die in unserer, aber auch in der tschechoslowakischen Öffentlichkeit im Zusammenhang mit dem Vertrag gestellt wurden und werden, nicht übersehen. Alles das macht uns bewußt, wieviel noch aufgearbeitet werden muß. Das bleibt eine Herausforderung für die Zukunft. Wir wollen nicht vergessen, daß erst eine kurze Frist vergangen ist, seit wir wieder offen und frei über wesentliche Fragen unserer bilateralen Beziehungen reden können. Vor uns liegt jetzt die wichtige Phase der Verwirklichung der Vertragsbestimmungen. Dabei können wir schon heute an viele praktische Resultate der Zusammenarbeit auf allen Ebenen anknüpfen.Der nachhaltige Erfolg des Versöhnungswerks wird jedoch von der Bereitschaft aller Bürger abhängen, sich auch weiterhin an dieser Aufgabe entschlossen zu beteiligen. Gerade die Deutschen, die aus der angestammten Heimat vertrieben wurden, können auch in Zukunft einen Beitrag zum Werk der Versöhnung leisten. Ihren Willen zur Verständigung und Versöhnung haben sie schon in den bittersten Zeiten nach der Vertreibung bekundet. Sie haben dabei im Geist der jetzt vereinbarten Präambel des Vertrages gehandelt und so einen wichtigen Beitrag zu einem neuen Europa geleistet — in einer Zeit, als noch Kalter Krieg und ideologische Konfrontation unseren Kontinent beherrschten.
Sie sind Brücke der Verständigung durch ihre Verbundenheit zur alten Heimat.Besonders gefordert ist die junge Generation beider Länder. Ihr vor allem wird es obliegen, das Versöhnungswerk zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken zu einem guten Ende zu führen. Der Bundeskanzler hat der tschechoslowakischen Seite in Prag unsere Bereitschaft zur Gründung eines deutschtschechoslowakischen Jugendwerks mitgeteilt.Der Vertrag mit Ungarn knüpft an die traditionellen, freundschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschen und Ungarn an. Er würdigt Ungarns entscheidenden Beitrag, dem wir die Einheit Deutschlands in Freiheit mit verdanken. Das ungarische Volk hat niemals den Glauben an seine Freiheit aufgegeben. Es hat dafür große Opfer auf sich nehmen müssen.Es hat sich über alle West-Ost-Konfrontationen hinweg seine Freundschaft zu uns Deutschen stets bewahrt. Es hat unseren Mitbürgern aus der damaligen DDR in einer beispiellosen Solidarität geholfen. Es hat mit großer Tapferkeit und Menschlichkeit des ganzen Volkes eine Gasse durch den Eisernen Vor-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992 7375
Bundesminister Hans-Dietrich Genscherhang gebahnt. Das verbindet unsere Völker noch mehr miteinander.Dieses Gefühl hat unser Verhältnis sich in den vergangenen Jahren besonders eng entwickeln lassen. Die Regelung der Rechte der deutschen Minderheit in Ungarn kann als beispielhaft in Europa gelten. Die Ungarndeutschen nehmen heute eine Brückenfunktion im bilateralen Verhältnis ein. Auch dafür bietet der Vertrag eine solide Grundlage.Wir wollen durch umfassende Zusammenarbeit mit unseren Nachbarstaaten den Prozeß der demokratischen Stabilität und der wirtschaftlichen Erneuerung stärken. Die umfassenden Verträge mit der CSFR, mit Ungarn, aber auch mit Bulgarien und Rumänien sind in die Zukunft weisende Verträge. Sie tragen vielen wichtigen deutschen Anliegen und gleichzeitig den verständlichen Interessen unserer Partner an Unterstützung und an neuen vertraglichen Bindungen auf ihrem Weg nach Europa Rechnung.Vorrangiges Ziel der Außenpolitik unserer Vertragspartner in Mittel- und Südosteuropa ist ihre Entwicklung hin zur Europäischen Gemeinschaft. Der Abschluß der Assoziierungsverträge der Europäischen Gemeinschaft mit Polen, mit der CSFR und mit Ungarn im Dezember letzten Jahres war eine bedeutsame Etappe auf diesem Weg. Die Präambel der Assoziierungsverträge wie auch unsere bilateralen Verträge weisen auf das Ziel einer Vollmitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft hin. Mit der gleichen Zielsetzung müssen bald auch die Verhandlungen zwischen der EG und Bulgarien und Rumänien, aber auch den anderen Staaten Mittel- und Südosteuropas über Assoziierungsabkommen aufgenommen werden.Auch im Bewußtsein ihrer europäischen Zielsetzung, nicht nur wegen ihrer Bedeutung für das deutsch-tschechoslowakische und deutsch-ungarische Verhältnis, möchte ich Sie, meine Damen und Herren, bitten, den Gesetzentwürfen zu den Verträgen mit der CSFR und Ungarn Ihre Zustimmung zu geben.
Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren, mit der Einbringung der Verträge mit der CSFR und Ungarn spreche ich zum letztenmal in meiner Eigenschaft als Bundesminister des Auswärtigen vor diesem Hohen Hause. Ich habe dafür zu danken, daß ich in meiner Zeit als Außenminister immer auf die konstruktive Mitarbeit aller Seiten dieses Hauses rechnen konnte, auch, wenn um wichtige Entscheidungen hart gerungen werden mußte. Das hat gewiß den breiten Konsens über die Grundlinien der deutschen Außenpolitik ermöglicht, der gerade für ein Land in unserer Lage von so großer Bedeutung ist. Ich habe mich dabei um Fairneß gegenüber allen Kollegen bemüht. Diejenigen, bei denen mir das nicht gelungen ist, bitte ich um Nachsicht.Vor allem danke ich Ihnen allen für das Verständnis und für die Unterstützung der Angehörigen des Auswärtigen Dienstes, zuletzt bei der Verabschiedung des Gesetzes über den Auswärtigen Dienst.Mit meinem Rücktritt will ich einen Beitrag zur Glaubwürdigkeit unserer Demokratie, die Verantwortung in den höchsten Staatsämtern nur auf Zeit überträgt, leisten. Zu dieser Verantwortung gehört es auch, sich selbst in freier Entscheidung die zeitlichen Grenzen zu setzen. 18 Jahre, meine Damen und Herren, sind eine lange Zeit.In dieser Zeit hat sich Europa grundlegend verändert. Dafür, daß ich in diesen Jahren deutscher Außenminister sein durfte, empfinde ich tiefe Dankbarkeit. Daß in diese Zeit die staatliche Vereinigung Deutschlands fiel, macht meine Dankbarkeit vollkommen. Ich empfinde das genauso wie für die Überwindung der Trennung Europas.Ich habe das Ziel der Vereinigung Deutschlands immer im Herzen getragen. Es hat mein Handeln bestimmt. Ich habe es in jedem Jahr vor den Vereinten Nationen bekräftigt. Ich habe es immer als ein europäisches Ziel verfolgt. Jeder Versuch, dies im nationalen Alleingang zu erreichen, hätte Europa in neues Unglück gestürzt und uns Deutschen die letzte Chance für die Einheit genommen. Das dürfen wir, meine Damen und Herren, niemals vergessen.Die Ziele der deutschen Außenpolitik sind eindeutig formuliert. Sie sind durch unser Grundgesetz und durch unsere europäischen, transatlantischen und internationalen Einbindungen und Verpflichtungen vorgegeben. Die sich darauf gründende Berechenbarkeit und Verläßlichkeit der deutschen Außenpolitik, die auf einem weitreichenden Konsens beruht, sind ein kostbares Gut. Die Fortentwicklung dieser Politik in einer sich ständig verändernden Welt wird auch in Zukunft eine gemeinsame Herausforderung bleiben. An der Diskussion darüber will ich mich gerne beteiligen.Wir dürfen dabei niemals vergessen: Nicht nur die deutsche Einigung verlangte den europäischen Weg, auch das vereinte Deutschland kann immer nur als europäisches Deutschland sein eigenes Glück und seinen eigenen Frieden bewahren und zum Glück und Frieden der anderen Völker beitragen.Europa zu einen und dem Frieden der Welt zu dienen, so gibt es uns unser Grundgesetz auf. Es verlangt auch, daß wir die Gesinnung, die sich auf die Werte unserer Verfassung gründet, allen Menschen und Völkern entgegenbringen: welcher Kultur, Nationalität, welcher Hautfarbe sie auch sein mögen, ob sie in ihren Heimatländern leben oder bei uns. Nur wer zu innerem Frieden, Toleranz und Achtung vor dem Nächsten fähig ist, kann auch den äußeren Frieden bewahren.Wir Deutschen wollen europäisches Denken und Handeln gegen neuen Nationalismus setzen. Wir setzen auf Solidarität und Brüderlichkeit, gegen neuen nationalen Egoismus. Wir stellen europäische Gesinnung gegen neue Überheblichkeit. Die Geister von gestern lassen sich nicht durch Nachgiebigkeit und Opportunismus besänftigen, nicht bei uns und nicht anderswo.
Die Demokraten müssen ihnen überball mutig entgegentreten.
Metadaten/Kopzeile:
7376 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992
Bundesminister Hans-Dietrich GenscherDie deutsche Außenpolitik wird die Erwartung der Verläßlichkeit und der Berechenbarkeit am besten erfüllen, wenn sie die Grundwerte unserer Verfassung stets achtet. Dann ist die Wahrung der eigenen Interessen nicht Machtpolitik, sondern Politik der Verantwortung.Brüderlichkeit und Solidarität — nur so wird das neue Europa entstehen können, nur so werden wir den Menschen in der Dritten Welt gerecht werden. Brüderlichkeit und Solidarität, Menschlichkeit und Verständnis — wir werden sie auch brauchen, wenn wir Deutschen nach der staatlichen Vereinigung unsere innere Einheit finden wollen. Auch dabei möchte der Abgeordnete Hans-Dietrich Genscher in Zukunft mitwirken.Ich danke Ihnen.
Herr Bundesminister Genscher, Sie haben in diesem anhaltenden und spontanen Applaus den Dank nicht nur für viele Jahre, sondern auch für entscheidende Leistungen ihrer Amtstätigkeit entgegengenommen. Es ist allerdings heute nicht der Tag, Sie zu verabschieden oder Sie gar als Abgeordneten aus unseren Reihen zu entlassen. Deswegen lasse ich es heute dabei bewenden. Noch einmal herzlichen Dank.
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Peter Glotz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die sozialdemokratische Fraktion billigt und unterstützt die Vertragspolitik, die in den heute in Rede stehenden Verträgen zum Ausdruck kommt. Diese Politik ist erstens auf die Fortführung der Vertragspolitik der 70er Jahre und zweitens auf die Eingliederung unserer östlichen Nachbarländer in eine neue gesamteuropäische Struktur ausgerichtet.Man kann über Einzelschritte dieser Politik streiten. Die Grundrichtung ist richtig. Wir werden den Verträgen deswegen zustimmen und haben nicht das Bedürfnis, die Zustimmung zu diesen Verträgen durch irgendwelche Resolutionen abzuschwächen oder zu kommentieren. Es wäre begrüßenswert, meine Damen und Herren, wenn sich auch die Fraktionen, die diese Regierung tragen — alle Fraktionen! —, ebenso eindeutig verhielten.
Da dies Ihre letzte Rede war, Herr Bundesminister, will ich deutlich sagen: Sie waren ein Stabilitätsanker der deutschen Außenpolitik in unterschiedlich geführten Regierungen. Dafür gebührt Ihnen der Dank des Deutschen Bundestages, auch der sozialdemokratischen Fraktion.
Ich will nicht verhehlen — Herr Kollege Voigt wird das im einzelnen ausführen —, daß die Politik derletzten drei Jahre unsere Zustimmung nicht in gleichem Maß gefunden hat wie die der vorherigen fünfzehn. Die fragwürdige Art, wie der Golfkrieg, der serbisch-kroatische Krieg, der Konflikt mit der Türkei gehändelt wurde, sind Zeichen einer Unsicherheit deutscher Außenpolitik. Aber man kann 18 Jahre Amtszeit — ein ganz außergewöhnliches Faktum in der Parlamentsgeschichte — nicht nur nach den letzten drei Jahren, so wichtig sie waren, beurteilen. Mir als Person ist es so gegangen, daß ich Einwände der CSU gegen die Außenpolitik der Bundesregierung über viele Jahre meistens als abwegig betrachtet habe. Bei den allerletzten Äußerungen von Bundesminister Waigel in seiner Eigenschaft als CSU-Vorsitzender ist mir das nicht ganz so gegangen. Aber das mindert nicht die Gesamtwertung einer großen Leistung für den deutschen Parlamentarismus und für die deutsche Außenpolitik, die wir als Sozialdemokraten ausdrücklich würdigen.Ich konzentriere mich in dieser Rede auf den deutsch-tschechoslowakischen Vertrag — nicht weil er wichtiger wäre als der ungarische, sondern weil er Konflikte übriggelassen hat. Insbesondere aus der sudetendeutschen Volksgruppe kommt noch Kritik, die die Fraktion der CSU immer wieder aufnimmt.
Vom Entwurf einer Erklärung zur Abstimmung über diesen Vertrag ist immer wieder die Rede. Allerdings ist das wie das Ungeheuer von Loch Ness: Man weiß nicht, ob die Erklärung wirklich kommt oder ob sie nicht kommt.
Ich will zuerst einmal deutlich sagen, daß dieser Vertrag eine Reihe von eindeutigen Verbesserungen gegenüber der Situation von 1973 enthält. Diese Fortschritte sollten von uns gemeinsam gewürdigt werden, meine Damen und Herren.
Erstens enthält schon die Präambel einen wichtigen Schritt der beiden Völker aufeinander zu. Sie spricht von den Opfern, die Gewaltherrschaft, Krieg und Vertreibung gefordert haben. Das ist ein echter Fortschritt. Bis zu Vaclav Havel hat auf tschechischer Seite niemand das Wort „Vertreibung" in den Mund genommen. Wir wissen, welche Debatten die Bereitschaft Havels und auch die Bereitschaft der Regierung, diesen Begriff in die Präambel des Vertrages aufzunehmen, in der tschechischen Öffentlichkeit ausgelöst hat. Wir werten das als Ausdruck des Versöhnungswillens und sollten darauf als ganzes Parlament im gleichen Geiste antworten.In diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich den Dank unterstreichen, den Bundesminister Genscher dem tschechoslowakischen Präsidenten gerade dargebracht hat. Vaclav Havel hat — wohlwissend, daß er die Haltung vieler seiner Landsleute damit nicht trifft — die Vertreibung der Deutschen als zutiefst unmoralische Tat bezeichnet. Der Mut und die moralische Unbeugsamkeit, die darin zum Ausdruck
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992 7377
Dr. Peter Glotzkommen, sind beispielhaft. Wir verbeugen uns vor dieser Haltung.
Ich verweise zweitens auf den Art. 13 des Vertrages, mit dem der Weg der bilateralen und multilateralen Zusammenarbeit zwischen Regionen und anderen Gebietskörperschaften unserer beider Länder geebnet wird. Das eröffnet uns die Chance für das Wichtigste, was jetzt zu tun ist, nämlich praktische Zusammenführung, Herr Kollege Grünbeck, Zukunftsarbeit, die Herstellung tausendfacher alltäglicher Kontakte zwischen unseren beiden Völkern. Ich nenne als Beispiel die Euregio egrensis, die jetzt von beiden Seiten geplant ist und hoffentlich konsequent weitergeführt wird. Nicht in der Streiterei über Rechtskonzeptionen und Prinzipien, sondern in der konkreten Zusammenarbeit von jungen Menschen beider Völker werden wir die Konflikte der Vergangenheit überwinden.
Ich hebe drittens den Art. 20 hervor. Der deutschen Minderheit wird der volle Schutz des Gesetzes zugesagt. Der Bundesrepublik werden Förderungsmöglichkeiten für die deutsche Minderheit gestattet. Das heißt, meine Damen und Herren, der Entnationalisierungsdruck gegen tschechoslowakische Staatsbürger, die sich zu deutscher Kultur und deutscher Sprache bekennen, ist weg. Wer die tausendjährige Geschichte unserer beiden Völker in Böhmen und die vergleichbaren Probleme zwischen vielen Völkern in der Völker-Mischzone Mitteleuropa kennt, der weiß, daß dieser Artikel einen großen Fortschritt markiert. Wir sind für diesen Fortschritt dankbar.
Ich verweise viertens auf den Art. 25. Er verspricht Initiativen zur Gründung von zweisprachigen Schulen. In Eger gibt es bereits eine Initiative in dieser Richtung. Die Zusammenarbeit zwischen zwei Völkern wird nur funktionieren, wenn es Menschen gibt, die sich gegenseitig auch ohne Dolmetscher verstehen können. Deswegen sollten wir, wo es geht, möglichst an vielen Punkten zweisprachige Schulen schaffen. Das ist ein grandioses, ein wirklich gutes Mittel zur Europäisierung. Es betrifft nicht nur die Beziehungen unserer beiden Völker, sondern auch die Beziehungen der Deutschen zu anderen Völkern. Dies ist ein guter Artikel, ein wichtiger Artikel, der in die Zukunft führt.Ein paar andere Fortschritte habe ich gar nicht erwähnt: grenzüberschreitender Umweltschutz, Historikerkommissionen, Schulbuchkonferenzen, Schutz und Pflege der Gräber. Ich sage nur: Was wäre es für ein Erfolg, meine Damen und Herren, wenn das, was jetzt zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken auf Grund dieses Vertrages möglich wird, auchmöglich wäre zwischen allen Völkern und Minderheiten in Europa und vor allem in Mitteleuropa!
Es wäre ein unglaublicher Fortschritt. Aus diesem Grunde kann ich nur sagen, es wäre leichtfertig und töricht gewesen, wenn wir die Chancen, die dieser Vertrag bietet, nicht genutzt hätten und nicht nutzen würden.Natürlich sind auch Konflikte übriggeblieben. In der Föderalversammlung bei der Prager Ratifizierung haben Abgeordnete gerügt, daß im Art. 3 nur von der Grenze und nicht von der Staatsgrenze die Rede ist. Ich verstehe diese Zweifel, die mir erst gar nicht zugänglich waren, besser, nachdem ich in dem Rechtsgutachten von Professor Ermacora, das er für die Bayerische Staatsregierung erstattet hat, gelesen habe: Die Grenzanerkennung durch die Bundesrepublik sei gegenüber den Sudetendeutschen unwirksam, denn diese stellten einen selbständigen Inhaber des Selbstbestimmungsrechtes dar, der diese Eigenschaft auch durch die Vertreibung nicht verloren habe.Gegenüber solchen Argumentationsfiguren, meine Damen und Herren, sage ich für die Sozialdemokraten: Art. 3 bestätigt die tschechoslowakisch-deutsche Grenze und stellt fest, daß die Staaten gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche haben und auch keinerlei Gebietsansprüche erheben werden. Daran darf nicht gedeutelt werden.
Ein ungelöster Konflikt ist auch das Problem des enteigneten Besitzes der vertriebenen Sudetendeutschen. Als Angehöriger dieser Volksgruppe bitte ichBaus um Verständnis, daß die Sudetendeutschen rechtlich nicht anders behandelt werden wollen als enteignete Vertriebene, zur Flucht gezwungene Landsleute aus Dresden oder Frankfurt an der Oder oder woher immer. Aber ich mache mir den realistischen Satz meines Landsmannes Rudolf Hilf zu eigen, der gesagt hat: Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren. Die beiden Regierungen haben in einem Briefwechsel deutlich gemacht, daß mit diesem Vertrag Eigentumsfragen nicht berührt werden. Eine andere Regelung war nicht möglich. Wir müssen das verstehen, und wir akzeptieren diesen Pragmatismus.Ernster ist der Mangel, daß das Rechtsinstitut des Heimatrechts keinen Eingang in die Vereinbarung gefunden hat. Hier, Herr Bundesminister, kritisiere ich mit Schärfe die Bundesregierung. Als Präsident Vaclav Havel den Karlspreis in Aachen erhielt, hat er in Bonn persönlich dem Bundeskanzler den Vorschlag gemacht, daß alle Sudetendeutschen, die bis zum 8. Mai 1945 auf dem ehemaligen Staatsgebiet geboren wurden, auf bloßen Antrag hin die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft erhalten und die bundesdeutsche behalten können. Mag sein, daß dieser Vorschlag mit Bedingungen verknüpft war, die wir nicht hätten akzeptieren können. Aber daß die Bundesregierung, vor allem aus Angst vor der Doppel-
Metadaten/Kopzeile:
7378 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992
Dr. Peter Glotzstaatsbürgerschaft, diesen Vorschlag weder aufgegriffen noch mit den Sudetendeutschen besprochen, noch publik gemacht hat, ist eine kleinliche und schädliche Taktik, die die Versöhnung unserer Völker behindert.
Persönlich, ohne meine Fraktion dafür in Anspruch zu nehmen, füge ich hinzu: Die großen Umarmungskünstler unserer Außenpolitik werden bei dieser Debatte sagen: Im Art. 10 ist von der künftigen Eingliederung, der vollen Mitgliedschaft der Tschechoslowakei in der Europäischen Gemeinschaft die Rede. Irgendwann müssen wir nicht mehr über Heimatrechte reden; dann gibt es Niederlassungsrecht. Ich erlaube mir die Bemerkung — die mancher meiner Freunde bestreiten würde —, daß ich dies für eine der vielen luftigen, gutgemeinten, aber kaum realisierbaren Versprechungen halte, die seit 1989 allzu euphorisch in diesem sich wieder zerklüftenden Europa herumgereicht werden.Der einzig wirklich ernste Konflikt, der angesichts der Ratifizierung dieses Vertrages noch zwischen unseren Völkern steht, ist unmittelbar während der Ratifizierung des Vertrages in Prag entstanden. Im Motiven-Bericht der tschechoslowakischen Regierung an das tschechoslowakische Föderalparlament stehen die Sätze — ich zitiere das jetzt wörtlich in der deutschen Übersetzung —:Die Entscheidung über die Aussiedlung der Deutschen aus Polen, Ungarn und der CSSR trafen die großen Siegermächte im Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 im Namen der internationalen Gemeinschaft. Das Potsdamer Abkommen billigte auch die Aussiedlung. Die Aussiedlung sollte nach dem Potsdamer Abkommen ordnungsgemäß und menschlich durchgeführt werden und war in dieser Form völlig legitim.Ich verstehe das Motiv der tschechoslowakischen Regierung. Sie wollte den Vertrag durchbringen, gegen den sowohl böhmische Kommunisten als auch slowakische Nationalisten opponierten. Aber diese Interpretation, meine Damen und Herren, ist ganz und gar unhaltbar. Es ist der Versuch, die Vertreibung von 3 Millionen Menschen der sudetendeutschen Volksgruppe aus ihrer Heimat an sich zu legitimieren und nur die Verbrechen, die dabei begangen worden sind, zu verurteilen. Diese Haltung ist ganz und gar unakzeptabel und kann nicht hingenommen werden.
Ich begrüße es, daß der Bundesaußenminister dies in seiner Rede jetzt absolut klargestellt hat. Ich bin mit dieser Klarstellung zufrieden. Ich weiß, dieser Konflikt ist — gerade auch im tschechischen Volk tief verwurzelt. Ich habe tschechische Freunde — viele von uns aus allen Fraktionen sicher auch —, mit denen man viele Jahre zusammengearbeitet hat und die trotzdem solch eine Haltung einnehmen. Ich möchte ihnen von dieser Stelle aus sagen: Es geht in dieser prinzipiellen Frage ja nicht vor allem um das Schicksal von uns Sudetendeutschen, die vor fast 50 Jahren vertrieben worden sind. Es geht auch um das Schicksal von Millionen von Menschen in Europa, die heuteleben und morgen vertrieben werden könnten. Es geht um die türkische Minderheit in Bulgarien, um die Konflikte um Mazedonien, um die ungarischen Minderheiten in Rumänien, Serbien und der Slowakei. Es geht um die Russen in Lettland oder um die Polen in Litauen. Wenn wir Vertreibungen legalisieren, meine Damen und Herren, dann schaffen und begünstigen wir neues millionenfaches Unrecht in Europa, und das dürfen und wollen wir alle miteinander nicht tun.
Deswegen muß das so klar gesagt werden, wie Bundesminister Genscher es jetzt gesagt hat.Ich schließe mit einem Appell an die Kolleginnen und Kollegen der CSU. Ich sage: Stimmen Sie bitte diesem Vertrag ohne begleitende Resolutionen zu! Auch in Prag sind alle entsprechenden Entwürfe, die es ja gab, zurückgezogen worden. Ich bin — manche werden es wissen der Sohn einer tschechischen Mutter und eines deutschen Vaters. Ich komme aus Böhmen. Das Schicksal meiner Volksgruppe liegt mir so am Herzen wie Ihnen. Aber wir müssen jetzt die Zukunft bewältigen, nicht die Vergangenheit beschwören. Lassen Sie uns gemeinsam die Euregio egrensis schaffen. Lassen Sie uns gemeinsam, wie Bundesminister Genscher gesagt hat, ein deutschtschechoslowakisches Jugendwerk nach dem Muster des deutsch-französischen Jugendwerks schaffen. Lassen Sie uns dafür sorgen, daß im Bäderdreieck Franzensbad — Karlsbad — Marienbad investiert wird. Lassen Sie uns dafür sorgen, daß die Menschen zusammenkommen können. Das sind die Zukunftsaufgaben, die jetzt vor uns stehen.Es gibt noch immer furchtbar viel Gift zwischen unseren Völkern, immer noch, auf beiden Seiten. Wir entgiften unsere Beziehungen am ehesten endgültig, wenn wir diesen Vertrag beschließen und wenn wir ihn ohne Wenn und Aber beschließen.Herzlichen Dank.
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Karl-Heinz Hornhues.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Außenminister, lieber Herr Genscher, Sie haben heute Ihre letzte Rede als Außenminister hier im Parlament gehalten. Sie konnten dies tun als erster Außenminister des geeinten Deutschlands vor dem ersten frei gewählten Parlament des vereinten Deutschlands. Man spürte, wie stolz Sie waren, daß Sie an der deutschen Einheit mitgewirkt haben, so wie wir alle stolz sind, daß es in der Zeit, in der wir politisch handeln können, gelungen ist, dies alles zu erreichen.Lieber Herr Genscher, lieber Herr Außenminister, ich möchte Ihnen für meine Fraktion - dies sage ich jetzt im Blick auf die Jahre, in denen wir uns in der Opposition befanden — für jenen konstruktiv-kritischen Dialog danke sagen, den wir häufiger miteinander zu führen hatten, der aber nicht hinderte, daß
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992 7379
Dr. Karl-Heinz Hornhueswir später in zehn Jahren der Zusammenarbeit in der christlich-liberalen Koalition — wenn auch nicht immer konfliktfrei — in entscheidenden Fragen die Dinge gemeinsam durchgefochten haben.In diesen Tagen haben Sie viel Lob zu hören bekommen. Sie sind gerühmt worden — weitgehend zu Recht.
Mir ist nur aufgefallen, Herr Außenminister, daß einige Sie besonders heftig lobten und Ihren Rücktritt mit gewaltigen Beschreibungen versahen, die Ihren Eintritt in diese Koalition, der Sie jetzt zehn Jahre angehören, als etwas beschrieben haben, was für einen Politiker nicht schmählicher, schimpflicher und schlimmer sein konnte. Weil dem so ist und man Ihnen jetzt viele gute Worte mitgibt, möchte ich für mich — ich möchte niemanden sonst in Anspruch nehmen — an das erinnern, was ich an Ihnen am beeindruckendsten gefunden habe. Das war die Art und Weise, wie Sie jene Trennung aus der einen Koalition und den Übergang in die andere Koalition, bezogen auf eine Sachfrage, durchgestanden haben, als es darum ging, gemeinsam für unser Land die Basis dafür zu schaffen, daß all das, was wir jetzt haben, erreicht werden konnte. Ich meine jene Schlacht — so muß man beinahe sagen — um den NATO-Doppelbeschluß, von dem jeder, der heute den alten Falin in Moskau besucht, von diesem und anderen aus jener alten Zeit erfährt, daß er entscheidende Voraussetzung dafür war, daß sich die Sowjetunion wandelte und im Rahmen dieses Wandels alles das möglich wurde, was wir heute feiern, dessen wir uns freuen, belobigen und rühmen: die deutsche Einheit, gewaltige neue Perspektiven für Europa, von denen wir bis vor kurzem nur zu träumen wagten, und eben auch die beiden Verträge, über die wir heute zu sprechen haben.Herr Außenminister, ich möchte Ihnen dafür danken, daß Sie in jener schwierigen Zeit um dieser Frage willen einen Weg durchgestanden haben, der für Sie persönlich sehr hart war. Das hat heute mancher vergessen. Deswegen gestatte ich mir persönlich, Ihnen für jene Zeit und das, was da gewesen ist, Dank zu sagen, wo die Basis für vieles gelegt wurde, was wir heute, wie ich schon sagte, so gerne belobigen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit den Verträgen mit Ungarn und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik, mit denen wir uns heute beschäftigen, baut Deutschland das Netz bilateraler Verträge über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit mit seinen Nachbarn weiter aus. Deutsche, Ungarn, Tschechen und Slowaken wollen ihre Beziehungen zukunftsgewandt gestalten, ohne dabei gemeinsame, oft schmerzliche Geschichte zu vergessen, aber auch ohne für begangenes Unrecht aufzurechnen. Ungarn und die CSFR bedeuten für uns immer auch die Erinnerung an jenen Spätsommer und Herbst 1989, als Zehntausende deutscher Landsleute über Budapest und Prag in die Freiheit stürmten, ihren eigenen verhaßten Staat zum Einsturz brachten und indirekt ihren Beitrag zur sanften Revolution in Prag leisteten.Seit jenen Tagen hat ein tiefgreifender Wandel in Europa stattgefunden. Die politische Landschaft ist völlig verändert. Sie ist zum Guten verändert. Denn ohne diese Veränderung zum Guten könnten wir uns auf diese Art und Weise mit den anstehenden Verträgen nicht beschäftigen. Mittelosteuropa hat sich in die Arme der Freiheit gestürzt. Die Freiheit hat sich durchgesetzt. Die Völker des ehemals kommunistischen Machtbereichs sind auf dem Wege zur freiheitlichen Staats- und Gesellschaftsordnung und zur Marktwirtschaft. Sie sind auf dem Wege, mit uns gemeinsam in Europa die Zukunft zu gestalten. Herr Kollege Glotz, hier möchte ich anknüpfen. Ich glaube, es ist bei aller Skepsis, die man wegen des einen oder anderen haben kann, ob wir uns nicht übernehmen und manchmal zuviel versprechen, notwendig, deutlich zu sagen, daß es auch zutiefst in unserem und im europäischen Interesse liegt, daß wir tun, was wir können, um die Entwicklung zur Demokratie, die in jenen Ländern noch lange nicht abgeschlossen und gefestigt ist, zu unterstützen und zu stärken. Dazu gehört für uns eindeutig, diesen Ländern, vor allen Dingen den beiden, über die wir hier im Zusammenhang mit den Verträgen reden, eine ehrliche und realistische Perspektive zum Beitritt in die Europäische Gemeinschaft, den sie wollen, zu geben.Wer dies nicht will, soll es deutlich sagen. Ich bin aus Ihren Worten im Zusammenhang mit Ihrer Presseerklärung vom März dieses Jahres nicht ganz schlau geworden, wo Sie da die Grenze ziehen wollen. Ich weiß nicht, ob das nur ein Konflikt mit den Finanzpolitikern in Ihrer Fraktion gewesen ist. Ich wäre dankbar, wenn dies deutlich gemacht werden könnte.Wir meinen, diese Perspektive muß eröffnet werden, Diese Länder brauchen sie, und auch wir brauchen sie, weil wir stabile Demokratien und prosperierende Länder in unserer Nachbarschaft haben wollen. Denn die Menschen in diesen Ländern wollen eine Zukunft haben, und zwar, wenn es geht, in ihrem eigenen Land und nicht nur woanders, etwa bei uns.Wir möchten — deswegen brauchen diese Länder die europäische Perspektive —, daß wir nie wieder Sicherheit gegeneinander schaffen müssen, wie das vierzig Jahre lang der Fall war, sondern daß wir Sicherheit miteinander schaffen können.Insoweit liegt es zutiefst in unserem Interesse, daß diese bilateralen Verträge einen starken europäischen Bezug bekommen haben, daß sie ein Teil der Architektur zur Gestaltung eines neuen Europa, das wir wollen, sind.Bei allem, was man an Optimismus und Hoffnung in diese Entwicklung setzen mag, darf man nicht übersehen — das ist vom Außenminister, aber auch von Ihnen, Herr Kollege Glotz, hinreichend deutlich gesagt worden —: Wir haben noch vieles deutlich zu machen und aufzuarbeiten; wir müssen den Dialog verstärken. Ich gestehe — es fällt mir schwer, dies so deutlich zu sagen —: Das, was sich mit dem sogenannten Motiven-Bericht ereignet hat — ich weiß nicht, ob es vermeidbar gewesen wäre —, hat mich zweifeln lassen, ob wir manchmal nicht tatsächlich zu optimistisch sind. Das darf nicht das letzte Wort sein, und es ist auch glücklicherweise nicht das letzte Wort.7380 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung, Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992Dr. Karl-Heinz HornhuesIch bin froh, daß die Parteien des Bundesparlaments in Prag, die den Vertrag ratifiziert haben und die uns in besonderer Weise verbunden sind, sich nicht auf all die Interpretationskünste beleidigender Art eingelassen haben, die im sogenannten Motiven-Bericht enthalten sind, sondern sich von Vorschlägen ihnen Nahestehender freigemacht und klar und eindeutig sowie ohne Kompromisse zu diesem gemeinsamen Vertrag ja gesagt haben. Dies begrüßen wir mit allem Nachdruck.
Ich unterstreiche alles, was hierzu schon gesagt wurde; ich will es nicht wiederholen. Vertreibung darf nicht durch irgendwelche Arten von Juristen nachträglich legitimiert werden. Es könnte angesichts von Entwicklungen, die wir in Europa konkret haben — das Stichwort Jugoslawien liegt sehr nahe —, eine Legitimationsgrundlage für weiteres Verhalten sein. Dies darf nicht geschehen. Ich hoffe, daß sich dort die auf die Zukunft gerichteten Kräfte durchsetzen werden.Der Außenminister hat für die Bundesregierung deutlich gemacht, daß der Vertrag mit Ungarn ein problemloser Vorgang ist, der einen mit Freude erfüllt. Der Kollege von Schorlemer wird dazu noch Erläuterndes sagen. Ich möchte an dieser Stelle vor allen Dingen folgendes sagen. Es war Ungarn, das in einer hochsensiblen Frage, in der wir jahrelang bissigste Kämpfe mit den kommunistischen Machthabern geführt haben, schon in der Vergangenheit, als es noch sehr schwer war, bahnbrechend gewesen ist. Ich meine die Frage der deutschen Minderheit. Zu einer Zeit, als wir mit der kommunistischen Regierung in Polen nicht einmal über das Wort Minderheit diskutieren konnten, hat Ungarn beispielgebend für seine deutsche Minderheit Zeichen gesetzt, die heute beinahe wie normal in unsere Verträge eingehen und Gegenstand der KSZE-Konferenz geworden sind.Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, allen ungarischen Politikern, die daran mitgewirkt haben, herzlich für das zu danken, was sie schon taten, als es noch wesentlich schwieriger war, als es heute ist.
Der Vertrag mit der Tschechoslowakei kann — dies ist deutlich geworden — nicht alle Probleme lösen.
Für uns, für meine Fraktion, ist dieser Vertrag auch kein Endpunkt, ist dieser Vertrag der Anfang — ich hoffe, daß er gut gelingen wird eines gemeinsamen Weges, einer gemeinsamen Zukunft zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken, genauso wie die Verträge mit Polen und mit Ungarn Anfangspunkte für eine neue, auf die Zukunft hin orientierte Politik in einem gemeinsamen Europa sind.Die weit überwiegende Mehrheit meiner Fraktion wird dem Vertrag zustimmen. Manchem wird dies am Ende, so fürchte ich, wegen der besonderen Betroffenheit sehr schwerfallen. Da hat es manche Kritik — HerrKollege Glotz, Sie haben sich da heute erfreulicherweise zurückgehalten; ich hoffe, daß ihre Fraktionskollegen dies auch tun werden — in der Beurteilung dessen gegeben, was unser Bemühen in unserer Fraktion war und ist.Wir möchten, daß wir von den Menschen, die dort vertrieben worden sind, die Nachkommen der Vertriebenen sind, so viele wie irgend möglich mit auf diesen gemeinsamen Weg nehmen. Deswegen halte ich es für wichtig und richtig, daß wir uns bemühen und anstrengen, das Notwendige, Mögliche und Machbare zu tun. Dem dient auch unser Bemühen um einen gemeinsamen Entschließungsantrag. Ich hoffe, daß dies in diesem Sinne noch gelingen wird.Herzlichen Dank.
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Solms.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein weiteres Herzstück des Vertragswerkes mit unseren östlichen und südöstlichen Nachbarn steht zur Beschlußfassung an. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs und der unsäglichen Teilung Europas, die Folgen deutscher Schuld und der Verstrickung in Feindschaft, Vertreibung und Unrecht aller Art sollen für immer überwunden werden.Die Zukunft Europas konstruktiv zu gestalten, Vertrauen aufzubauen, statt Mißtrauen zu säen, dies ist der Sinn der Verträge mit der CSFR und Ungarn. Beide Verträge haben historische Bedeutung für die bilateralen Beziehungen und als gesamteuropäische Bausteine. Wir reichen unseren Nachbarn die Hand für den Aufbau eines friedlichen und prosperierenden gemeinsamen Europas.
Während mit Ungarn die traditionell guten Beziehungen um ein zusätzliches Fundament erweitert werden, gilt es, mit der CSFR die Schatten der Vergangenheit abzustreifen und den Weg in eine Zukunft als gute Nachbarn und Freunde freizumachen. Dabei wurde durch Kompromisse von beiden Seiten das Mögliche erreicht. Dies hatten wir im Sinn, als wir die Debatte des heutigen Tages angesetzt haben. Es sollte eine Debatte werden, wie wir sie in den letzten Jahren und Monaten mehrfach geführt haben.Nun steht sie unter einem besonderen Stern. Denn es ist der Tag, an dem Hans-Dietrich Genscher als Außenminister seine letzte Rede in diesem Hause hält, eine Gelegenheit, ihm, der dies alles maßgeblich mitgestaltet hat, Dank zu sagen. Die vorliegenden Abkommen tragen seine Handschrift. Ohne ihn wäre es nicht zu dieser Debatte, nicht zu diesem Erfolg gekommen.Der Gestalter Genscher ist sprichwörtlich geworden. Das Wort Genscherismus, am Anfang keineswegs schmeichelhaft gemeint, ist inzwischen Markenzeichen einer Außenpolitik, die nach Stresemann-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992 7381
Dr. Hermann Otto So1msscher Art das Wünschbare zum Machbaren werden läßt.
Bundespräsident von Weizsäcker hat den Begriff Genscherismus vor zwei Jahren anläßlich der Verleihung der Theodor-Heuss-Medaille als Ehrentitel bezeichnet. Pragmatismus und Flexibilität, Erfassen der richtigen Strömungen mit feinem Instinkt und mit einem Verstand, der immer ein Stück weiter denkt als die Neunmalklugen im In- und Ausland, das sind die Eigenschaften, die man Hans-Dietrich Genscher mit Recht nachsagt. Dank dieser Befähigung wurde er von Anfang an zum Motor der Öffnung und der Entkrampfung gegenüber dem Osten. Dadurch wurde eine Verständigungspolitik, wurden insbesondere die Realisierung und Umsetzung der Ostverträge der 70er Jahre erst möglich. Grundlagen seines Handelns waren dabei stets die Einbindung in den Westen, die Loyalität zum Bündnis und die Mitwirkung am Zusammenwachsen der Europäischen Gemeinschaft.Vom Beginn seiner Amtszeit an vor nunmehr 18 Jahren stand sein Name für den KSZE-Prozeß, den Beitritt beider deutschen Staaten zu den Vereinten Nationen und zum Atomwaffensperrvertrag, das unbeirrte Festhalten am ABC-Waffenverzicht, den NATO-Doppelbeschluß sowie den auf dieser Basis möglichen Fortschritt bei den Abrüstungsverhandlungen, den Vertrag über die Vernichtung der atomaren Mittelstreckenraketen und den Verzicht auf die sogenannte Modernisierung der Kurzstreckenwaffen.
Hervorzuheben ist vor allem auch die Weitsicht, beizeiten die Chancen zu erkennen, die sich in der Person Gorbatschows, in Perestroika und Glasnost boten.Untrennbar verbunden mit den Namen Kohl und Genscher sind der Vollzug der deutschen Einheit und die hierzu erforderlichen Weichenstellungen. Genscher ist als Erfinder des Zwei-plus-Vier-Prozesses der außenpolitische Architekt, man kann sagen: der Kunstschmied des Einigungswerkes.
Die Jazzband des Auswärtigen Amtes hat im übrigen, so höre ich, aus diesem Anlaß den Zwei-plus-VierBlues, ein bleibendes musikalisches Geschenk, gemacht.
Schaut man sich seine Erfolgsbilanz an, so entdeckt man mehrere rote — oder soll ich sagen blau-gelbe — Fäden, von denen zwei der wichtigsten unmittelbar auf die Präambel des Grundgesetzes zurückzuführen sind. Dort heiß es in der ursprünglichen Fassung:... von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk ... dieses Grundgesetz ... beschlossen. Es hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war. Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.
Genscher selbst hat gesagt, daß es ihm vergönnt war, den einen Teil dieser Vision, die Wiedervereinigung nämlich, mit zu verwirklichen und den anderen Teil, die Einigung Europas, spätestens nach Maastricht auf einen unumkehrbaren Weg zu bringen. Sein Verdienst war es, die untrennbare Verknüpfung beider Visionen zur politischen Maxime zu machen, aus der Erkenntnis heraus, daß ein vereintes Deutschland nur in einem geeinten Europa Akzeptanz und Zukunft finden kann. Er hat jedoch mehr auf den Weg gebracht. Vielen erscheint es heute so, als sei der Umsturz der Jahre 1989/90 wie eine glückliche Fügung des Schicksals über Europa hereingebrochen. Gewiß, den Zeitpunkt hat man nicht vorhersehen können, und keiner konnte ahnen, daß dann alles so schnell und plötzlich vor sich gehen würde. Aber es war nicht nur Schicksal. Es war auch Menschenwerk. Es war ein Geflecht von Handlungen und Interaktionen, ein Netzwerk menschlicher und politischer Kontakte, welche die Öffnung Europas erst möglich gemacht haben. Der Name Genscher ist hiermit untrennbar verbunden.Lassen Sie mich den Bogen zurückschlagen zu den beiden vorliegenden Verträgen. Auch in der Zeit, als der Kalte Krieg Ende der 70er Jahre wieder aufzuleben schien, haben Hans-Dietrich Genscher und Wolfgang Mischnick zusammen mit Fraktionskollegen und anderen Politikern die Kontakte zu Ungarn und zur Tschechoslowakei nie abreißen lassen. Da geschah manches, was, ohne an die große Glocke gehängt zu werden, Vertrauenstatbestände schuf und zugleich den Menschen Hoffnung gab, nicht zuletzt auch im anderen Deutschland. Diese Hoffnung besagte: Es gibt eine Alternative, und eines Tages werdet ihr die Freiheit haben, diese Alternative zu wählen.Wie hätte es zu den Szenen der Grenzöffnung in Ungarn, wie zu der die Menschen ergreifenden Balkonerklärung in Prag kommen können, wenn sich nicht schon über Jahre hinweg Veränderungen angebahnt hätten, die nunmehr greifbar wurden?Vor allem aber ist Genscher von Anfang an treibende Kraft des KSZE-Prozesses gewesen. Er hat dieses Schnittmuster eines kooperativen Europas entscheidend entworfen. Die Kräfte des Beharrens im Osten suchten in der KSZE lediglich ein Instrument, um die aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangene Scheinordnung zu stabilisieren. Für die meisten unserer westlichen Partner dagegen ging es vor allem darum, den Korb Menschenrechte und, wenn möglich, die Destabilisierung der östlichen Regime zu bewerkstelligen. Daß diesen im Konkurrenz-, wenn nicht sogar im Konfrontationsdenken verharrenden Kräften über Jahre hinweg dennoch ein kooperativer Prozeß abgerungen wurde, ist Genschers Werk. Daß der Zerfall der östlichen Systeme einerseits durch die Folgen des KSZE-Prozesses beschleunigt wurde, die neuen Demokratien andererseits sofort einen Bezugsrahmen fanden, ist doppeltes Verdienst der KSZE.Noch vor einem Zeitraum, der nach Monaten gezählt ist, galt vielen gerade im Westen die KSZE
Metadaten/Kopzeile:
7382 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992
Dr. Hermann Otto Solmswenn schon nicht als Ausgeburt des Genscherismus, so doch günstigstenfalls als ein nützliches Forum unter vielen anderen. Heute hingegen hat sie 52 Mitglieder und findet als überwölbendes gesamteuropäisches Modell einschließlich der auszubauenden Krisenmechanismen wachsende Anerkennung.
Auf Genscher ist auch der NATO-Kooperationsrat zurückzuführen, der den östlichen Nachbarn ein Stück Sicherheitsperspektive gibt. Die Hilfe für die GUS-Staaten, das Konzept für den Aufbau von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft in den neuen Demokratien tragen seine Handschrift.Schließlich hat Hans-Dietrich Genscher maßgeblich dazu beigetragen, daß durch die Aussicht auf einen EG-Beitritt für unsere unmittelbaren Nachbarn im Osten und Südosten und hier insbesondere für die beiden heute in unserem Blickfeld stehenden Staaten das Tor zum Europa der Zukunft weit aufgestoßen wurde.Lieber Herr Genscher, die Mitglieder der F.D.P.-Bundestagsfraktion freuen sich, daß Sie politisch aktiv bleiben wollen, wie Sie zum Ausdruck gebracht haben, und daß wir weiter auf Sie zählen können. Wir könnten uns auch noch gar nicht vorstellen, wie wir Politik betreiben ohne Ihre manchmal deutlich, manchmal weniger deutlich einwirkende Hand.
Denn es gilt sicherzustellen, daß die politische Linie, die mit Ihrem Vorgänger Walter Scheel begonnen hat, in einer Kontinuität liberaler Außenpolitik weitergeführt werden kann. Wer jetzt eine neue Außenpolitik fordert, hat die alte nicht verstanden oder nicht gewollt.
Die Leitlinien lauten unverändert: Deutschland darf nicht im Alleingang handeln, nur eine enge Abstimmung mit den Freunden in der Gemeinschaft und im Bündnis schafft Vertrauen und Handlungsspielraum. Dabei ist die Beziehung zu unserem transatlantischen Partner ebenso maßgeblich wie die unverbrüchliche Freundschaft mit Frankreich.
UNO und KSZE sind die Rahmen, innerhalb derer wir mitgestaltend wirken, die Instrumente verbessern und uns gegebenenfalls an Streitschlichtungen und friedenstiftenden Maßnahmen beteiligen wollen. Deutschland muß sich seiner gewachsenen Verantwortung stellen und darf gerade auch in diesem Bereich keine Sonderrolle beanspruchen.
Nur wenn wir schließlich unserer umfassenden Verantwortung für unsere eigene Umwelt und für die Dritte Welt gerecht werden, erweisen wir uns als unserer eigenen Zukunft würdig.Gerade auch durch die Verabschiedung der heute zur Debatte stehenden Verträge ohne jedes Wenn und Aber wird sicherlich der eingeschlagene Kurs einer Außenpolitik bewahrt, die von der Koalition gemeinsam fortzusetzen ist. In einer Welt im Umbruch, die nach neuen Orientierungspunkten sucht, müssen Kontinuität und Berechenbarkeit entscheidende Merkmale des politischen Handelns bleiben.Sie, lieber Herr Genscher, wollen jetzt Ihre ungebrochene Tatkraft den neuen Bundesländern, vor allem der inneren Vereinigung Deutschlands, widmen. Die F.D.P.-Fraktion wünscht Ihnen, daß der Erfolg bei dieser schönen und herausfordernden Aufgabe, einer Aufgabe, die allen Deutschen am Herzen liegt, Ihr Lebenswerk krönen möge.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hans Modrow.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem neuen Vertragswerk der Bundesrepublik mit den osteuropäischen Nachbarn werden mit den zur Ratifizierung vorgelegten Verträgen zwei weitere wichtige Bausteine hinzugefügt. Sie sind sowohl für die beteiligten Staaten als auch für die europäischen Belange wichtig und notwendig. Zum einen wird ausgefüllt, was mit dem Ausscheiden der DDR offenblieb, andererseits wird der in den Ländern selbst und in Europa entstandenen Situationen Rechnung getragen. Damit können auch diese Verträge die Beziehungen der Bundesrepublik mit diesen Staaten auf eine neue Grundlage stellen und zu dauerhafter Verständigung und echter Aussöhnung führen. Solche Anstrengungen finden unsere Zustimmung.Der Vertrag mit Ungarn unterscheidet sich in einer Hinsicht vom Vertrag mit der CSFR und entsprechenden Verträgen, die von der Bundesrepublik mit anderen ost- und südosteuropäischen Staaten abgeschlossen wurden: In ihm brauchten keine Probleme der Vergangenheit gelöst zu werden, und auch die bilateralen Beziehungen mit diesem Staat sind im Prinzip frei von Problemen. Selbst bei der auch für dieses Land komplizierten Frage der Minderheiten hat es für sie sehr weitgehende Rechte und Aufgaben im Rahmen der Selbstverwaltung festgelegt, die sich auch in dem vorliegenden bilateralen Vertrag widerspiegeln.Auch Ungarn hat heute nicht zu übersehende wirtschaftliche, soziale Probleme und Spannungen — und das, obwohl es mit seiner Reformpolitik weit früher als andere osteuropäische Staaten begonnen hat und sich weit enger an westliche Staaten angelehnt hat als andere.
Ich sage das ohne Polemik, möchte aber feststellen, daß jeder Druck von außen, gewünschte oder geforderte Modelle zu übernehmen, sich schon einmal als äußerst schädlich erwiesen hat. Dies gilt sinngemäß auch für andere ost- und südosteuropäische Staaten.Es sollte das Anliegen der Bundesrepublik Deutschland sein, alles in ihrer Kraft Stehende zu tun, um ein
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992 7383
Dr. Hans ModrowNetz der Kooperation auf allen Gebieten zur Verwirklichung des Vertrages zu knüpfen — ohne Einmischung in die inneren Angelegenheiten.
— Das ist wieder eine andere Problematik. Darüber haben wir ja heute im Ausschuß gesprochen.Was den deutsch-tschechoslowakischen Vertrag angeht, wurden bereits im Umkreis der Vertragsverhandlungen Uraltdebatten wiederbelebt. Die deutsche Seite ist dabei nicht frei von Schuld. Und der Bundeskanzler muß sich den Vorwurf gefallen lassen, dem nicht rechtzeitig und energisch genug entgegengetreten zu sein.So war es unvermeidlich, daß eine Reihe strittiger Punkte nicht gelöst wurde. Das ist um so bedauerlicher, als sie größtenteils mit dem leidvollen Kapitel des Nationalsozialismus und dem grenzenlosen Leid, das er den Völkern brachte, verbunden sind. Vor allem die offene Vermögens- und Eigentumsfrage läßt einen Freiraum für Forderungen, die bei unseren tschechischen und slowakischen Nachbarn, ob begründet oder nicht, Sorgen und Ängste auslösen müssen.Wie die Grenzfrage im Vertrag auch formuliert wurde, für uns ist es die bestehende Staatsgrenze ohne Einschränkungen. Vergangenes historisches Unrecht darf nicht mit neuem Unrecht wiedergutgemacht werden, und wiederaufkeimendem deutschem Nationalismus gilt es entschieden entgegenzutreten.
Ebenso bleibt die deutsche Weigerung, das Münchener Abkommen nach wie vor nicht als ungültig von Anfang an zu betrachten, eine Belastung für die staatlichen Beziehungen wie für das Verhältnis der Völker. Man kann nun einmal die Geschichte weder umschreiben noch kann man sie vergessen machen.
Es geht nicht darum, an diese schmerzliche Wahrheit immer wieder zu erinnern;
wir erwarten jedoch, daß diese offenen Fragen systematisch aufgearbeitet werden, damit alle Vorurteile aus dem Denken der Menschen abgebaut werden und eine Atmosphäre gegenseitigen Verständnisses und wirklichen Vertrauens entsteht.Es geht darum, in diesen gewiß komplizierten Fragen eine realistische Position einzunehmen. Vaclav Havel hat dies für seine Seite während der Vertragsunterzeichnung so benannt:Aus den Steinehen wahrhaftiger Erkenntnis und Selbsterkenntnis, der Reflexion der Schuld und des Willens zur Vergebung und Versöhnung müssen wir geduldig den Bau des friedlichen Zusammenlebens und der aufrichtigen Zusammenarbeit errichten.Eben diese Chance hat die Bundesregierung nicht hinreichend genutzt.Wir unterbreiten daher einen Antrag, der sicherstellen soll, daß mit der Verwirklichung des Nachbarschaftsvertrages auch das Ziel wirklicher Aussöhnung erreicht wird. Immer schon hatte das Zusammenleben von Tschechen, Slowaken und Deutschen als Nachbarn im Herzen Europas eine besondere, mitunter sogar schicksalhafte Bedeutung für den Gang der europäischen Dinge. Wir können uns, wenn wir es denn wollen, heute schon, trotz des Jahres 1968 — ich habe die Zwischenrufe wohl gehört —, auf viele Positionen stützen: eine jahrzehntelange Zusammenarbeit mit Betrieben in den jetzigen neuen Bundesländern, mit denen in der CSFR, viele hunderttausend Freundschaften zwischen Menschen, eine regionale Zusammenarbeit, die zu einem guten Beispiel europäischer Kooperation werden kann. Wir möchten deshalb alle gesellschaftlichen Gruppen unseres Landes dazu auffordern, auf diesem wertvollen Kapital des Vertrauens aufzubauen, Mißtrauen zu begegnen und durch eigene Anstrengungen und Initiativen zur weiteren gedeihlichen Zusammenarbeit und zur wirklichen Aussöhnung mit unseren östlichen und südöstlichen Nachbarn beizutragen.Was auch zur jüngsten bundesdeutschen Außenpolitik zu sagen wäre: Ich möchte Ihnen persönlich, Herr Außenminister Genscher, meinen Respekt erweisen und Ihnen Dank sagen.
Ich erteile dem Abgeordneten Gerd Poppe das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich beginne mit einer Erinnerung an den 15. März 1990; das war der Tag, an dem der Präsident der Bundesrepublik Deutschland den tschechoslowakischen Präsidenten in Prag besuchte. Richard von Weizsäcker sagte damals:Die Kerzen auf dem Wenzelsplatz und in den Straßen von Prag wurden für dieselben Ideale und Werte entzündet wie die, die die Bürger in Leipzig und Dresden bei ihren Demonstrationen vor sich hertrugen.Vaclav Havel sagte bei der gleichen Gelegenheit:Ganz Europa muß den Deutschen dankbar sein, daß sie begonnen haben, die Mauer niederzureißen, die sie trennt, weil sie damit auch die Mauer niederzureißen begannen, die Europa trennt.Ganz in diesem Sinne sollte die Diskussion über die Vertragswerke, die heute auf der Tagesordnung stehen, geführt werden. Sie gehören in das System bilateraler Verträge, mit denen das vereinigte Deutschland die Beziehungen zu den mittel- und osteuropäischen Ländern als gutnachbarliche festschreiben will. Nach Polen werden mit Ungarn und der CSFR — und demnächst auch mit Bulgarien — bereits vier der ehemals sozialistischen Staaten in ein Vertragssystem einbezogen, das Bestandteil einer neuen europäischen, das vereinigte Deutschland fest einbindenden Ordnung ist.
Metadaten/Kopzeile:
7384 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992
Gerd PoppeDen solchermaßen intendierten Verträgen stimmt die Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN deshalb vorbehaltlos zu, und auch wir möchten es uns nicht nehmen lassen, an dieser Stelle die Verdienste Hans-Dietrich Gensehers für die Neugestaltung des Verhältnisses zu den mittel- und osteuropäischen Staaten ausdrücklich zu würdigen.Es war ein langer und mühsamer Weg zu gehen, bis der Vertrag mit der CSFR formuliert werden konnte. Viele Probleme und auch traumatische Erfahrungen hatten sich auf beiden Seiten angestaut: das Münchener Abkommen einschließlich seiner bis heute immer noch zwiespältigen Bewertung, die Annexion des Sudetenlandes und später ganz Böhmens und Mährens, schließlich die bis heute anhaltenden Rückgabeforderungen seitens eines Teils der Heimatvertriebenen. Auf der anderen Seite steht das mit der Vertreibung verbundene Unrecht einschließlich seiner damaligen Festschreibung durch den sogenannten „Vertrag über Freundschaft und gegenseitige Zusammenarbeit" zwischen SED und KPC.Wir Deutschen sind aufgefordert, Ursache und Wirkung nicht zu verwechseln, die eigene Verantwortung auch angesichts des uns geschehenen Unrechts nicht zu verdrängen. Wenn uns dies gelingt, werden wir den Vertrag mit Leben erfüllen können. Beispielgebend für eine solche Haltung sind in besonderem Maße die Reden des tschechoslowakischen Präsidenten, z. B. wenn er in der schon erwähnten Rede vom 15. März 1990 auch unter Bezugnahme auf die Vertreibung sagt:Wir haben mit der Totalität so abgerechnet, daß wir ihren Keim in das eigene Handeln aufgenommen haben und so auch in die eigene Seele, was uns kurz darauf grausam zurückgezahlt wurde in der Form unserer Unfähigkeit, einer anderen und von anderswoher importierten Totalität entgegenzutreten.Nur indem wir die ausgestreckte Hand ergreifen und zugleich allen Versuchen entgegentreten, die neuen vertraglichen Bindungen des vereinten Deutschland zu seinen osteuropäischen Nachbarn zu unterlaufen oder gar Deutschland wieder als Großmacht zu etablieren, können wir dem Geist der Verträge gerecht werden. Dann können auch die deutschen Minderheiten in Osteuropa und auch die seinerzeit Vertriebenen eine neue Rolle spielen, eine Brücke zwischen den Völkern bilden.Meine Damen und Herren, auch noch so gut gemeinte Verträge vermögen wenig, wenn die Gesellschaften der vertragschließenden Staaten nicht ausreichend beteiligt und vorbereitet sind. In dieser Hinsicht verweist uns der Vertrag mit der CSFR auf einige Defizite bisheriger Politik.Zwischen der Bundesrepublik und Polen beispielsweise gab es eine lange Debatte, die unter anderem von Kirchen, von Schriftstellern und Journalisten über die Frage der deutschen Schuld, über gegenseitige Feindbilder, über die Rolle der deutschen Minderheit und über die Erfahrungen der Polen in Deutschland geführt wurde. Der deutsch-polnische Vertrag konnte auf dieser breit geführten Diskussion aufbauen.Im Verhältnis zwischen der Tschechoslowakei und Deutschland schien es vergleichbare Feindbilder nicht zu geben. In den letzten Monaten zeigte sich aber, daß das wohl eher damit zu tun hatte, daß die öffentliche Auseinandersetzung darüber in den Jahren zuvor nur in sehr geringem Maße geschah. Weder über das Münchener Abkommen gab es eine vergleichbar prägende Diskussion noch über die deutsche Schuld gegenüber der Tschechoslowakei in der Zeit der Besetzung. Weder waren die Gefühle der Slowaken im Staat CSSR ein Thema der deutschen Öffentlichkeit, noch wurde bisher die mögliche Aufgabe der vertriebenen deutschen Minderheit als Hilfe und Brücke für die Wirtschaftsreform diskutiert.Ergebnis dieses Defizits ist, daß wir uns jetzt, gleichzeitig mit der Verabschiedung des Vertrages, der das gegenseitige Verhältnis nachbarschaftlich regelt, mit besorgniserregenden Erscheinungen in beiden Gesellschaften konfrontiert sehen. So fordern manche Vertriebene — gänzlich unsensibel gegenüber den heute in ihrer früheren Heimat lebenden Menschen und ohne Berücksichtigung ihrer katastrophalen wirtschaftlichen Situation — die Rückgabe ihres Eigentums. Deutsche Touristen und Fußballfans randalieren in Prag und wecken schlimme Erinnerungen.
Andererseits werden über die Vertreibung der Deutschen in der Tschechoslowakei noch oftmals Meinungen geäußert, die im alten doktrinären Denken steckengeblieben scheinen. Angst vor deutscher Großmachtpolitik wird erzeugt, als hätte es die Bundesrepublik der letzten 40 Jahre nicht gegeben.Solche Erscheinungen auf der einen und der anderen Seite entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Mehrheiten. Aber wir sollten die immer noch bei vielen Europäern vorhandene Furcht vor dem vereinigten Deutschland ernstnehmen. Havel spricht von einer großen historischen Gelegenheit für die Deutschen. Es liege vor allem an ihnen, den Europäern die Furcht zu nehmen. An den Deutschen liegt es auch, ob ihre Vereinigung zu einem willkommenen Motor der Einigung ganz Europas wird oder im Gegenteil zu deren Bremse.Worum es also vor allem geht, ist die Suche nach Möglichkeiten, die Verträge mit Leben zu erfüllen. Viele Vorschläge sind dazu schon gemacht. Ich will stichwortartig nur zwei Beispiele erwähnen. Da ist zum einen die Bewältigung der ökologischen Katastrophe auf beiden Seiten des Erzgebirges, die keinen Aufschub duldet und nur in gemeinsamer Anstrengung beider Staaten gelingen kann. Ein anderes Beispiel ist die Förderung infrastruktureller Entwicklung in der Euroregion zwischen der CSFR, Polen und Deutschland im Dreiländereck Oberlausitz-Nordböhmen-Niederschlesien. Die Situation in dieser Region verdeutlicht, welche Formen der Konkretisierung auch die ökonomische Einbindung der osteuropäischen Staaten in die Europäische Gemeinschaft annehmen muß.Die demokratische Opposition in der damaligen CSSR hat schon vor Jahren die Vereinigung Deutschlands als Anstoß und Voraussetzung für die Vereini-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992 7385
Gerd Poppegung Europas gesehen. Ohne die Zustimmung seiner Nachbarn gäbe es bis heute zwei deutsche Staaten. Aber mit dem Ende der Teilung Deutschlands und Europas sind Folgen auch für den Westen verbunden. Die in der Denkschrift zum Vertrag mit besonderem Augenmerk bedachte Überwindung des Entwicklungsgefälles innerhalb Europas ist eine Aufgabe, die für die Bundesrepublik als eines der wohlhabendsten Länder Europas zur besonderen Verpflichtung wird. Dies sage ich durchaus im Bewußtsein der Größenordnung einer solchen Aufgabe.Ich habe Vaclav Havel mehrfach zitiert und möchte meine Rede mit einigen seiner Sätze beenden: „Die Tschechoslowakei kehrt nach Europa zurück", sagte er. Und damit Europa tatsächlich imstande ist, sich für diese Rückkehr zu öffnen, muß es seine Strukturen, so Havel in seiner Rede am 21. Februar 1990 in Washington, „die formell zwar europäisch, de facto jedoch westeuropäisch ausgerichtet sind, in dieser Richtung umwandeln. Allerdings so, daß es nicht auf seine Kosten geht, sondern ihm im Gegenteil Nutzen bringt." Am 9. April 1990 spricht er in Bratislava über die „Rückkehr nach Europa" . Dies ist vielleicht an beide Seiten gerichtet. Er findet den Begriff „Rückkehr nach Europa" nicht präzise; denn es geht nicht um einen Weg zurück, sondern um einen Weg nach vorn:Wollen wir also in ein Europa gleichsam zurückkehren, dann müssen wir in ein ganz anderes Europa zurückkehren als in das, in dem wir bis vor kurzem lebten. Das Nachdenken über unsere Rückkehr bedeutet für uns ein Nachdenken über ein Europa der Zukunft.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Ortwin Lowack.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Politik ist schlecht, die sich voller satter Selbstzufriedenheit keinen Fragen stellt. Ich bin kein Genscherist; ich habe auch nie einen Zweifel daran gelassen.
Ich möchte gerne ein paar Fragen stellen, weil ich glaube, daß sie auch in Zukunft eine ganz erhebliche Rolle spielen werden — ich äußere mich zum Vertrag mit der CSFR —: Warum schließt die Bundesregierung Verträge, mit denen krampfhaft historische Unwahrheiten festgeschrieben werden sollen, obwohl sie doch eigentlich wissen müßte, daß damit die Verträge von vorneherein auf einer falschen Geschäftsgrundlage aufbauen? Wie wird denn, um im Text der Präambel zu bleiben, an jahrhundertelangen fruchtbaren Traditionen gemeinsamer Geschichte angeknüpft, wenn die Deutschen aus einer gemeinsamen Gegenwart und Zukunft gerade ausgegrenzt werden?Was bedeutet denn, daß die zahlreichen Opfer von Gewaltherrschaft, Krieg und Vertreibung besonders in Erinnerung gebracht werden sollen, wenn keinerleiKonsequenzen daraus gezogen und die Opfer weiter verhöhnt werden? Welches Unrecht soll denn „ein für allemal" beendet werden, wenn in Wirklichkeit Unrecht fortgeschrieben wird, wobei schon lange vor diesen Verträgen die Betroffenen auf Gewalt verzichtet haben? Dafür hätte es dieses Vertrags nicht bedurft.Ist es nicht ein typischer Fall von Geschichtsklitterung, zu behaupten, daß ein Staat nie aufgehört habe, zu bestehen, wenn es ihn über sieben Jahre tatsächlich nicht gegeben hat und wenn er während langer Phasen seiner kurzen Geschichte tatsächlich oft nur eine Fiktion und schreiendes Unrecht war? Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, lesen Sie einmal in der Promotionsarbeit von Herrn Bene§ nach, was er selber zu seinem späteren Lebenswerk gesagt hat. Er hat es für unmöglich und unmenschlich gehalten, und er hat es später doch mit Gewalt versucht.Wäre nicht, wenn man die Nichtigkeit des Münchner Abkommens behauptet, dann in erster Linie der Vertrag zu nennen, der der Vorläufer war, nämlich der Vertrag von Versailles, der überhaupt nur unter dem Druck und der Androhung, sofort einen großen Teil Deutschlands zu besetzen, wenn er nicht unterzeichnet würde, zustande gekommen ist?
Warum wurden eigentlich die betroffenen Heimatvertriebenen, die Entrechteten und oft genug grausam Gequälten und Geschändeten bei dem Vertrag nicht beigezogen oder berücksichtigt? Warum hat man dieses unendliche Leid als Lappalie abgetan, gewissermaßer die Versöhnung völlig einseitig und voller Zynismus angeordnet?Kann es eine wirkliche Versöhnung geben, wenn Unrecht fortgeschrieben wird? Was bildet sich die Politik eigentlich ein, wenn sie über die Köpfe der betroffenen Bürger hinweg Entschädigungsrechte aufgibt?
Spielt da nicht eher politischer Größenwahn eine Rolle, der nicht mit der politischen Größe verwechselt werden darf?Warum ist es für die Bundesregierung undenkbar, daß viele der vertriebenen Sudetendeutschen zusammen mit Tschechen und Slowaken im Land ihrer Väter wieder siedeln und das Land aufbauen? Warum bekommen Sudetendeutsche nicht die Chance, die seit 1945 verwüstete Landschaft wieder zu kultivieren, wie es einmal in einer Überschrift der „FAZ" geheißen hat?Welche Perspektive hat dieser Vertrag? Welche geistige Substanz hat er? Vor 400 Jahren ist Comenius, einer der großen europäischen Denker und Erzieher, geboren worden. Warum gehen wir auf sein Werk nicht ein, wenn wir über eine gemeinsame Zukunft sprechen?Meine sehr verehrten Damen und Herren, ist es wirklich wahr, daß das wichtigste Ziel deutscher
Metadaten/Kopzeile:
7386 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992
Ortwin LowackPolitik sein müsse, zu verhindern, daß Deutschland ein „unverdaulicher Klotz in Europa" würde, wie es der Bundeskanzler formuliert hat?Warum ist Deutsch, trotz der ungeheuren Leistungen, die Deutsche nach dem Krieg zugunsten anderer erbracht haben, und trotz 47 Jahren Entzugs der Heimat auch bei Vorliegen persönlicher Schuldlosigkeit immer noch ein Stigma? Hat hier nicht vielleicht doch die Politik versagt? Wie erklärt sich, daß das Ansehen der Deutschen in der Welt und der Grad der Aussöhnung mit anderen Völkern schon vor 35 Jahren viel weiter entwickelt waren als heute?Bleibt somit nicht als einzige Konsequenz aus der Tatsache, daß so viele Fragen offen sind, das Ergebnis: Dieser Vertrag ist schlecht, er hat keine Perspektive, er kommt zur Unzeit, und er schadet nur?
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Dr. Jürgen Warnke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dies, Herr Kollege Genscher, war Ihre letzte Rede vor dem Deutschen Bundestag
in Ihrer Funktion als Außenminister, in der Sie heute gesprochen haben. Ich möchte Ihnen sagen: Das Schicksal gab den Deutschen die Chance, die Einheit unseres Vaterlandes herbeizuführen. Als diese Stunde kam, konnten Sie sie nutzen. Sie hatten zu einer Zeit vorgearbeitet, als das Wort Wiedervereinigung in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung in der Bundesrepublik Deutschland verpönt geworden war.
Sie konnten gemeinsam mit Helmut Kohl, Theo Waigel und Michail Gorbatschow im Kaukasus Geschichte schreiben. Daß wir heute über Verträge eines geeinten Deutschlands mit den Ländern Mittel- und Osteuropas beraten, ist Ihr Verdienst.Ich benutze auch diese Gelegenheit, Ihnen im Namen der CSU-Landesgruppe für Ihr politisches Lebenswerk Dank auszusprechen, das ein politisches Lebenswerk für Deutschland, für Europa und für eine Entwicklung in Frieden, in Achtung der Menschenrechte und in Freiheit weltweit gewesen ist.
Mit den Verträgen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit wird das zukünftige Verhältnis Deutschlands zur Tschechoslowakei, Ungarn und Bulgarien nach der wiedergewonnenen Freiheit Mittel- und Osteuropas im Sinne gemeinschaftlicher europäischer Verantwortung gestaltet.An dieser Stelle danke ich besonders dem ungarischen Volk und seinen verantwortlichen Politikern, die durch die Öffnung der Grenzen im Jahre 1989 nicht nur für die deutschen Botschaftsflüchtlinge eine neue Vision eröffneten, nicht nur die deutsche Einheit,sondern auch die Überwindung der europäischen Teilung für uns alle einleiteten.Ich werde mich besonders dem deutsch-tschechosloswakischen Vertrag zuwenden, weil die Gestaltung der Beziehungen zwischen uns und dem tschechoslowakischen Nachbarn eine besondere Herausforderung darstellt.Präsident Vaclav Havel kommt das geschichtliche Verdienst zu, durch die Anerkennung der Vertreibung der Sudetendeutschen als Unrecht einen entscheidenden und einen befreienden Schritt für eine neue Zeit unseres Zusammenlebens gegangen zu sein. Dafür danken wir ihm.
Es kann nicht um Aufrechnung des Unrechts der einen Seite gegen das der anderen Seite gehen. Beide Seiten müssen sich zu ihrer geschichtlichen Verantwortung bekennen. Daß die kommunistischen Machthaber von Prag bis Moskau über Jahrzehnte hinweg dazu nicht bereit waren, während die Deutschen ihre geschichtliche Verantwortung auf sich nahmen, war eine der unerträglichen Unwahrhaftigkeiten der Vergangenheit.Die CSU bedauert, daß ein Motivenbericht bei der Ratifizierung des deutsch-tschechoslowakischen Vertrages in Prag die klare Aussage Präsident Havels zu verwässern versucht hat. Für uns ist dies Anlaß, in einer Entschließung den eindeutigen Vertragstext zu bekräftigen. Wir schulden dies auch den sudetendeutschen Heimatvertriebenen, die seit mehr als vier Jahrzehnten auf der Grundlage der Charta der Vertriebenen von 1950 für Versöhnung und Ausgleich eingetreten sind.
Ich kann vielem von dem zustimmen, Herr Kollege Glotz, was Sie hier gesagt haben. Aber Sie würden Ihren Ausführungen mehr Wirksamkeit verleihen, wenn Sie und Ihre Fraktion eine solche Entschließung ebenfalls mittragen würden.
— Ich meine eine, in der das angesprochen wird, was Sie, Herr Kollege Glotz, hier in sehr eindrucksvoller Weise dargetan haben. Aber nun muß es umgesetzt werden!
Vermögensfragen sind in dem Vertrag offengeblieben. Dies hat seinen guten Grund. Es wäre damit aber nicht vereinbar, wenn nach Ratifizierung und Inkrafttreten des Vertrages einseitige Präjudizierungen fortgeführt würden. Der Bundestag sollte seine Erwartung aussprechen, daß auch und gerade die Entwicklung im Bereich der Vermögensfragen im Geiste freundschaftlicher Zusammenarbeit und guter Nachbarschaft geregelt wird, d. h. daß sie in Zukunft durch
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992 7387
Dr. Jürgen WarnkeBeratungen und nicht einseitig geregelt wird. Das gleiche gilt für die Möglichkeit, daß sich Deutsche bereits vor dem förmlichen Beitritt der CSFR zur Europäischen Gemeinschaft in der Tschechoslowakei niederlassen können. Die Sudetendeutschen haben übrigens — ich hätte das Herrn Kollegen Glotz gerne gesagt — sehr wohl über die Möglichkeit des Erwerbs der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft mit Bundeskanzler und Auswärtigem Amt gesprochen.
Herr Kollege Warnke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Duve?
Ja.
Herr Kollege, Sie haben mich etwas in Verwirrung gelassen. Welchen Charakter hat denn die von Ihnen eben angesprochene Entschließung?
Von wem kommt sie, wann kommt sie, und wer ist der Träger?
Es wird Aufgabe der Beratungen in den Ausschüssen, die anschließend an diese erste Lesung stattfinden, sein, diese Entschließung gemeinsam zu erarbeiten.
Diese Entschließung wird Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, Gelegenheit geben, das, was Sie hier im Plenum — ich gebe zu: eindrucksvoll — verkündet haben, dann auch mit dem Siegel der Glaubwürdigkeit zu bekräftigen.Zu den vielen zukunftsweisenden Gestaltungsmöglichkeiten gehört die Verankerung eines Minderheitenrechts für diejenigen tschechoslowakischen Staatsbürger, die deutscher Abstammung sind oder sich zur deutschen Sprache, Kultur und Tradition bekennen. Der Vertrag ermöglicht und erleichtert der Bundesrepublik Deutschland Förderungsmaßnahmen zugunsten der deutschen Minderheit und ihrer Organisationen.In diesem Zusammenhang möchte ich die Entscheidung unserer Kollegen vom tschechischen Nationalrat, die gegen starken Widerstand von innen und von außen getroffen worden ist, den heute noch in der CSFR lebenden Deutschen tschechoslowakischer Staatsbürgerschaft die ihnen weggenommenen Vermögensgegenstände wiederzugeben, ausdrücklich begrüßen. Ich danke unseren Kollegen für den Mut, mit dem sie eine solche Entscheidung wenige Wochen vor der Wahl getroffen haben.
Der Vertrag enthält ein gemeinsames Bekenntnis zur Marktwirtschaft und die Verpflichtung, zur wirtschaftlichen Entwicklung mit der EuropäischenGemeinschaft und den internationalen Institutionen zusammenzuarbeiten. Er enthält die Verpflichtung zum Schutz und zur Förderung privater Investitionen. Die Tschechoslowakei bietet hervorragende Voraussetzungen für den Erfolg dieses Programms. Sie ist ein Industrieland der ersten Stunde. Ihre Wirtschaftsleistung lag weltweit in der Spitzengruppe, bis der Kommunismus alles ruinierte. In den dreißiger Jahren besetzte sie in der Statistik des Bruttosozialprodukts pro Kopf die vierte Stelle im Weltmaßstab. Sie kann in der Qualifizierung der Arbeitskraft und in industriestaatlichen Denk- und Verhaltenskategorien auf dieses Erbe, dessen Quellen nicht verschüttet sind, zurückgreifen. Die Tschechoslowakei hat in den Jahren vor 1945 Marktwirtschaft praktiziert, und die Tschechoslowakei in den Zwischenkriegsjahren war eine funktionierende Demokratie. An diese Traditionen können ihre Menschen heute anknüpfen mit der Aussicht auf raschen Erfolg beim wirtschaftlichen und staatlichen Wiederaufbau, und das nicht nur zum eigenen Nutzen, sondern auch als eine Ermutigung für ihre Nachbarn im Osten und zum Vorteil auch für uns im Westen.Ich komme von der Grenze. Dort hat man nicht gewartet, bis der Vertrag ratifiziert ist. Man hat gehandelt. Die Euregio egrensis ist entstanden. Das sächsische Vogtland, das östliche Oberfranken, die nördliche Oberpfalz und die vier Bezirke des westlichen Böhmen — Eger, Karlsbad, Falkenau und Tachau — haben sich eine gemeinsame Organisation gegeben. Sie erwarten nun die volle Anwendung dieses Vertrages im Bereich des Umweltschutzes, im Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, in der Zusammenarbeit bei Bildung und Ausbildung und schließlich auch in der Zusammenführung der Jugend auf beiden Seiten. In der deutsch-französischen Aussöhnung hat neben den Städtepartnerschaften, dem sportlichen und kulturellen Austausch das Deutsch-Französische Jugendwerk eine ganz entscheidende Rolle gespielt. Ich meine, wir sollten unverzüglich mit dem deutschtschechischen Jugendwerk beginnen, und ich habe Grund zur Zuversicht.Als ich neulich meinen Kindern ankündigte: „Wir fahren heute ins Ausland", kam die Rückfrage: „Ach, wohl nach Österreich?". Auf den Hinweis: „Nein, in die Tschechoslowakei", hatten die 11jährigen eine klare Antwort: „Ach, die Tschechoslowakei, das ist doch kein Ausland, das sind doch unsere Nachbarn. " Und dies keine zwei Jahre, nachdem die Grenze aufgegangen ist! Die Jugend stellt sich darauf ein. Ein fremdsprachiges Nachbarland ist ihnen näherliegend, auch im rein menschlichen Bereich, als ein deutschsprachiges Land, das weiter entfernt ist.
Aus der Verantwortung für diese junge Generation tritt die CSU dafür ein, daß der Deutsche Bundestag in den Beratungen zur Ratifizierung die Voraussetzungen schafft, daß dieser deutsch-tschechoslowakische Vertrag mit einer hohen Stimmenzahl ratifiziert werden kann und daß er auch unter denjenigen Zustimmung findet, die dort ihre Heimat haben und auf deren Mitwirkung wir zur vollen Ausschöpfung der Mög-
Metadaten/Kopzeile:
7388 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992
Dr. Jürgen Warnkelichkeiten von guter Nachbarschaft und freundschaftlicher Zusammenarbeit nicht verzichten wollen.
Das Wort hat der Abgeordnete Günter Verheugen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es entspräche der historischen Wahrheit, wenn ich sagen würde: Hier spricht ein Genscherist der ersten Stunde. Das bezieht sich nicht nur auf den 18. Mai 1974 — ich habe das schon fast vergessen —, sondern schon auf frühere Jahre.
Ich bin ganz froh, daß wir heute ein Thema haben, das unter uns ganz unkontrovers ist; sonst hätte ich wahrscheinlich eine Beißhemmung.
— Herr Bötsch, ich muß mich ja nicht mit Ihnen auseinandersetzen. Da könnte es mir vermutlich nicht passieren.
Meine Damen und Herren, in den Verträgen, über die wir heute hier diskutieren, spiegelt sich der ungeheuerliche europäische Umbruch der letzten Jahre. Man muß sich vielleicht doch noch einmal ins Bewußtsein rufen, daß diese beiden Verträge vor drei Jahren überhaupt noch nicht denkbar gewesen wären. Wir sind Zeugen geworden von welthistorischen Veränderungen in so kurzer Zeit, wie das selten vor uns der Fall gewesen ist.Ich glaube, es ist ganz richtig zu versuchen, aus diesen großen Veränderungen auch Lehren zu ziehen. Ich meine z. B., daß es richtig ist, daraus die Lehre zu ziehen, daß man Unrecht und Unterdrückung, wenn wir sie irgendwo auf der Welt erleben, auch wenn sie schon noch so lange dauern und noch so fest gegründet scheinen, eben doch nicht für ewig halten darf. Wir sollten daraus auch lernen — gerade hier bei uns in Europa —, wie stark der nationale Gedanke, die starke prägende Kraft in der Geschichte, eben doch ist und wie nahe wir immer wieder der Gefahr sind, daß dieser nationale Gedanke in Europa in Nationalismus umschlägt.Nationalismus ist nicht die Selbstverwirklichung der Völker, sondern ist, wie wir es jetzt im ehemaligen Jugoslawien erleben — ich hoffe, daß wir es nicht auch bei anderen Nachbarn erleben werden —, die wirkliche Geißel der Völker. Die Frage ist, was man tun kann, um dem Nationalismus die giftigen Zähne zu ziehen. Ich denke, daß die richtige Antwort darin liegt, genau solche Verträge abzuschließen, wie sie hier abgeschlossen worden sind, wie sie uns heute vorliegen, weil nur darin die Chance besteht, daß wir in Europa auf Dauer zu einem friedlichen, ja freundschaftlichen Miteinander kommen.Der Vertrag mit der CSFR spiegelt ganz speziell aber auch ein Stück der deutschen Geschichte und der gemeinsamen Geschichte des deutschen und des tschechischen Volkes wider. Ich will hier — wie es in einer anderen Debatte schon einmal geschehen ist — daran erinnern, daß dies ja nicht nur eine Geschichte von Leid und Unrecht und von Vertreibung und von Mord und Totschlag gewesen ist, sondern daß es über viele Jahrhunderte eine Geschichte gemeinsamer Kultur, der Zusammenarbeit, des friedlichen Zusammenlebens gewesen ist, und genau daran wollen wir wieder anknüpfen.Es zeigt sich aber — auch in dieser Debatte, in der zum erstenmal, seit ich im Bundestag bin, das Wort „Versailles " im Zusammenhang mit Erklärungen zum derzeitigen Zustand oder zur derzeitigen Rolle unseres Landes in der Welt gebraucht worden ist —,
wie unnormal doch eigentlich der außenpolitische Zustand, in dem wir uns befinden, noch ist und daß auch nach der Einheit und nach der Revolution in Europa der Ausdruck „Normalität" für das, was wir vorfinden, gar nicht angemessen ist; denn eigentlich ist es ja wohl unnormal, daß ein Vertrag zwischen zwei Nachbarn mit so vielen historischen Hypotheken belastet ist wie dieser. Darüber ist gesprochen worden.Im Umfeld der Vertragsdiskussion ist — besonders von tschechischer Seite, auch von Präsident Havel — gelegentlich das Wort vom „Schlußstrich" verwendet worden. Die Bundesregierung wollte das nicht aufnehmen. Sie hat Gründe dafür gehabt. Ich nehme an, der Grund war, daß sie befürchtet, daß das Wort vom „Schlußstrich" ein Mißverständnis bei denjenigen auslösen könnte, die dann befürchten müssen, daß das Unrecht, das ihnen zugefügt worden ist, nachträglich legalisiert wird und daß sie dann Heimat und Eigentum endgültig verlieren, ja daß sie nicht einmal mehr den Anspruch aufrechterhalten könnten. Ich nehme an, daß das der Grund dafür gewesen ist, warum das Wort vom „Schlußstrich" nicht aufgenommen wurde.Ich meine aber, daß es von der Seite unserer tschechoslowakischen Partner gar nicht so gemeint war, sondern daß gemeint war, daß wir aufhören wollen mit dem gegenseitigen Aufrechnen, daß wir Schluß machen wollen mit einer Politik und einer Lebenssituation, in der die Gefühle der einen die Gefühle der anderen verletzen, und daß wir Toleranz und Mitmenschlichkeit üben und aufeinander zugehen wollen.Wir kennen ja die Gefühle der heimatvertriebenen Sudetendeutschen, und wir achten sie. Wir verstehen, daß diese Menschen die Sorge bewegt, für sie sei nun alles vorbei und die Heimat sei endgültig verloren. In einer Welt, in der Flüchtlinge unser tägliches Bild bestimmen, in der wir jeden Tag mehr Flüchtlinge erleben, können wir ermessen, was es heißt, die Heimat zu verlieren. Aber wir müssen auch sehen, daß die Menschen auf der anderen Seite der Grenze, von der ich hoffe, daß sie bald nicht mehr als eine solche empfunden wird, die Sorge bewegt, der schreckliche Kreislauf von Unrecht und Gegenunrecht, von Gewalt und Gegengewalt könne doch noch einmal wieder in
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992 7389
Günter VerheugenGang gesetzt werden. Wir wissen ja, daß das eine unbegründete Sorge ist. Wir wissen, daß niemand in diesem Hause sitzt, der einer solchen Politik die Hand reichen würde. Wir wissen aber auch, daß es in diesem Land andere gibt, die eine andere Sprache führen und die zu solcher Sorge Anlaß geben.Darum, meine Damen und Herren, kommt es jetzt darauf an, was wir aus den Verträgen machen. Kollege Warnke aus dem für mich benachbarten Wahlkreis Hof hat mit Recht auf die beachtlichen Schritte hingewiesen, die in der regionalen Zusammenarbeit bereits erfolgen. Das ist in diesem Haus vielleicht nicht so bekannt, muß es auch gar nicht sein. Das ist eine regionale Sache. Das läuft ganz selbstverständlich und ganz normal. Was an Unterstützung geleistet werden kann, sollte geschehen. Der Vertrag bietet jedenfalls die Möglichkeit dazu.Ich halte das deutsch-tschechoslowakische Jugendwerk für ganz besonders wichtig. Ich selbst bin zum erstenmal 1968 als 24jähriger in Prag gewesen, kurz vor dem Einmarsch, an dem auch deutsche Truppen beteiligt waren, Herr Modrow.
— Leider. — Ich habe noch lebhaft in Erinnerung und werde nie vergessen, wie wir als junge deutsche Studenten mit Studenten aus Prag — Studentinnen natürlich auch — in dieser wunderschönen Stadt die Abende verbracht haben, auch mit großen Hoffnungen, was aus dieser Situation für Europa entstehen könnte. Ich möchte gerne, daß das wiederkommt, daß diese Begegnungen gefördert werden, so gut es nur irgend geht.Ich möchte ein Drittes erwähnen, was heute noch nicht gesagt worden ist. Zwischen uns steht immer noch — es wird vielleicht nicht mehr lange so sein, weil die betroffenen Menschen nicht mehr so lange leben werden — das Problem, daß Opfer des Nationalsozialismus in der Tschechoslowakei, KZ-Opfer, Zwangsarbeiter, für das, was sie erlitten haben, nicht entschädigt wurden. Jeder weiß, daß eine wirkliche Entschädigung nicht möglich ist, aber wenigstens eine Geste. Wir setzen uns sehr dafür ein, daß, ähnlich wie im Falle Polen, eine Stiftungslösung für diese Menschen gefunden wird. Es kommt gerade hier sehr darauf an, das schnell zu tun.
Wer hier schnell hilft, hilft doppelt. Sonst haben diejenigen, um die es uns geht, nichts mehr davon.Ich möchte noch einmal um Konsens in diesen Fragen werben. Denn ich glaube, daß der deutsche Wille zur Versöhnung hier in der Mitte Europas um so überzeugender sein wird, je allgemeiner er in diesem Deutschen Bundestag ausgedrückt wird und je breiter er Zustimmung findet, auch in Form der Zustimmung zu diesem Vertrag, der eben nicht von Vorbehalten oder irgendwelchen Einschränkungen begleitet sein soll.Mein Kollege Glotz hat darauf hingewiesen, was es an Irritationen auf der tschechoslowakischen Seite und an Erklärungen dort gegeben hat, die uns irritieren könnten. Ich glaube nicht, daß es sinnvoll wäre,dem etwas entgegenzusetzen oder etwas draufzusetzen, was nun wiederum dort zu Irritationen führen müßte. Ich denke, es ist das beste, wir nehmen den Vertrag, wie er ist, und sagen: Wir wollen ihn mit Leben erfüllen.Meine Damen und Herren, das Stichwort „Konsens" führt mich ganz zwanglos zu dem anderen Thema, vielleicht dem eigentlichen Thema dieser Debatte, jedenfalls dem, was die Öffentlichkeit vermutlich stärker interessiert, zu Hans-Dietrich Genscher. Ich habe sehr beeindruckend gefunden, was Sie, Herr Genscher, uns am Schluß Ihrer Rede noch gesagt haben. Das war nicht ein außenpolitisches Programm oder ein Konzept, sondern eigentlich Ausdruck einer inneren Haltung, mit der wir an die Gestaltung unserer Rolle in der Welt herangehen wollen. Ich denke, daß Außenpolitik natürlich kein konfliktfreier Raum sein darf, obwohl Sie das immer gerne so gehabt haben. Schon früher war es Ihnen lieber, wenn die Außenpolitik aus dem Streit der Parteien herausgehalten wurde. Ich kann das auch gut verstehen. Sie kann aber auf Dauer kein konfliktfreier Raum sein. Über Prioritäten wird man immer streiten müssen. Aber daß die Haltung, mit der wir an die Außenpolitik herangehen, einem breiten Konsens unterliegen sollte, glaube ich schon auch.
Das, was Sie mit Stichworten wie Brüderlichkeit und Solidarität gegenüber der Dritten Welt, Behutsamkeit, aber auch Verantwortung in Europa über das gesagt haben, was uns auferlegt ist, nämlich nicht Muskeln, sondern immer eine helfende Hand zu zeigen, sind Grundsätze, an die wir uns halten können, an denen wir uns leicht orientieren können und von denen ich hoffe — und ich weiß, daß es so sein wird —, daß sich auch Ihr Nachfolger im Amt, der aus der gemeinsamen Schule kommt, sicherlich daran orientieren wird. Herr Kinkel ist nicht mehr hier; sonst hätte ich ihm gern gesagt, daß er, was dies angeht, auf die konstruktive Zusammenarbeit auch mit der Opposition rechnen kann.
Herr Genscher, Sie haben uns ja versprochen oder angedroht, daß es nicht Ihre letzte Rede hier war.
Wir werden also noch die Möglichkeit haben, diese Gedanken zu vertiefen. Ich würde mich jedenfalls darüber freuen.Vielen Dank.
Der Kollege Reinhard von Schorlemer hat das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor dem Vertrag mit der CSFR wurde am 6. Februar 1992 in Budapest der Vertrag über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa mit Ungarn auf deutscher Seite von Bundes-
Metadaten/Kopzeile:
7390 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992
Reinhard Freiherr von Schorlemerkanzler Kohl und von Ihnen, Herr Außenminister Genscher, unterschrieben. Es war für mich, der ich ja zur Zeit Vorsitzender der deutsch-ungarischen Parlamentariergruppe bin, eine besondere Freude, bei dieser Unterzeichnung anwesend sein zu dürfen.Ich möchte zu Beginn meiner Ausführungen - ich möchte nur zum deutsch-ungarischen Vertrag sprechen — einige Daten, die mich damals bewegten und die mich auch heute noch im Zusammenhang mit diesem Vertrag bewegen, ansprechen.Ich denke, für viele von uns sind die Radioberichte mit der ausklingenden ungarischen Nationalhymne im Hintergrund noch in Erinnerung, als der UngarnAufstand 1956 durch die Kommunisten in Moskau niedergewalzt wurde. Es ist uns auch in Erinnerung, daß wir dabei die Ohnmacht des Westens erfahren haben. Ich glaube, daß dies für viele —vielleicht sogar viele in diesem Raum — Anlaß und Anfang des eigenen politischen Engagements war.
Ich möchte zweitens erwähnen, daß es für mich und die deutsche Delegation anläßlich der Frühjahrskonferenz der IPU im Jahre 1989 in Budapest bewegend war zu sehen, wie hunderttausend Menschen über den Burgberg zogen und dort mit Kerzen und der ungarischen Flagge — schon ohne kommunistische Symbole, mit dem alten und jetzigen Staatswappen — für Freiheit und Demokratie demonstrierten.Unvergessen sind — das ist in dieser Debatte schon öfters angesprochen worden — für uns Deutsche die Tage im Sommer und im Frühherbst 1989, als die Ungarn den Eisernen Vorhang durchschnitten und tausenden unserer deutschen Landsleute aus der damaligen DDR die Ausreise in die Bundesrepublik ermöglichten.
Daher ist die Grundlage des Vertrages nicht nur die in Jahrhunderten gewachsene traditionelle Freundschaft, sondern auch die tiefe Dankbarkeit der Deutschen gegenüber den Ungarn, die gleichsam den ersten Stein aus der die Deutschen trennenden Mauer gebrochen haben.Dieser Vertrag bezieht sich besonders auf unsere Zusammenarbeit in Europa. Dies muß bedeuten, daß wir uns besonders verpflichtet fühlen, die von Ungarn gewünschte Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft zu fördern, zu unterstützen und gemeinsam mit unseren EG-Partnern zu erreichen.Die Geschichte dieses Jahrhunderts hat uns und den anderen Europäern schmerzlich deutlich gemacht: Dort, wo Minderheitenprobleme nicht für alle Betroffenen befriedigend in Freiheit und in Achtung vor den anderen gelöst worden sind, gab und gibt es Terror, Krieg und Elend. In der Nachbarschaft Ungarns wird dies jetzt noch täglich grausam sichtbar.Ungarn macht uns deutlich, wie vorbildlich, wie beispielhaft Minderheitenprobleme verfassungs- und gesetzmäßig geregelt worden sind. Dies gilt insbesondere auch für die deutsche Minderheit.Wir denken dabei auch in Sorge an die Ungarn, die als Minderheiten in benachbarten Ländern Ungarns leben. Wir hoffen, daß diesen ungarischen Minderheiten in Nachbarländern Ungarns bald jene Rechte zuteil werden, die die Ungarn selber in ihrem Land den Minderheiten gewähren.
Dieser Vertrag bietet große Möglichkeiten für den kulturellen Austausch. Schon in der Vergangenheit — dies kann jetzt weiter ausgebaut werden — dienten doch zahlreiche Städte- und Landkreispartnerschaften dazu, diesen großen Austausch zu ermöglichen. Es sei hier auch erwähnt, daß die Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im kulturellen Bereich hier große und langjährige Beziehungen haben.
Die Ungarn gehen in der Wirtschaft genau den gleichen und schweren Weg wie die Deutschen in den neuen Bundesländern: den Weg von einer zentralistischen, sozialistischen Planwirtschaft zu einer voll entwickelten Sozialen Marktwirtschaft. Dieser Vertrag zeigt zahlreiche unterstützende Maßnahmen dazu auf. Er eröffnet auf nahezu allen Ebenen und Bereichen Formen der Zusammenarbeit. Lassen Sie mich drei Beispiele dieser Möglichkeiten herausgreifen.Erstens. Das deutsch-ungarische Forum soll jährlich die Möglichkeiten des Austausches von Informationen bieten. Dabei sollen unter Einbeziehung aller repräsentativen politischen und gesellschaftlichen Kräfte in Deutschland und in Ungarn Konzepte für die Weiterentwicklung entworfen werden. Das erste Forum hat im vergangenen Jahr in Anwesenheit des Herrn Bundesaußenministers in Budapest stattgefunden. In diesem Jahr wird es in Deutschland sein. Ich appelliere an alle, die aufgefordert werden, an und in diesem Forum mitzuarbeiten, hier ihren Beitrag zu leisten.Zweitens. Dieser Vertrag legt Wert auf enge und umfassende Kontakte zwischen der deutschen und der ungarischen Jugend. Ich denke, daß es gerade mit unserer Möglichkeit der internationalen Jugendarbeit hier zu verstärkten Begegnungen kommen wird und auch kommen muß.Drittens. Dieser Vertrag beinhaltet die Kontakte zwischen unseren Parlamenten. Ich glaube, daß die Zusammenarbeit zwischen ungarischen und deutschen Parlamentariern seit zwei Jahren zeigt, wie notwendig dies auf der einen Seite für unsere Information ist. Besonders aber für die ungarischen Kolleginnen und Kollegen, die ja, bis auf ganz wenige Ausnahmen, erstmalig parlamentarische Demokratie in schwierigsten wirtschaftlichen, sozialen und rechtspolitischen Umfeldern erleben, ist es wichtig, Rat und praktische Hilfe zu erfahren.Nicht nur durch die deutsch-ungarische Parlamentariergruppe — übrigens eine der stärksten in diesem Hause —, sondern gerade bei den Gedanken- und Informationsaustauschen zwischen den Ausschüssen wird die notwendige Unterstützung gewährt. Diejenigen, die öfter an diesen Beratungen und Besprechun-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992 7391
Reinhard Freiherr von Schorlemergen teilgenommen haben, wissen, mit welch großem Dank die Ungarn diese Auskünfte und Informationen würdigen.Dies ist ein problemloser Vertrag, weil es zwischen Deutschland und Ungarn traditionell keine Probleme gibt. Dieser Vertrag weist in die Zukunft: Zwei Völker und zwei Staaten wollen hier in freundschaftlichen Beziehungen ihre Partnerschaft in Europa vertraglich regeln. Ich gehe davon aus, daß dieser Vertrag nicht nur im Deutschen Bundestag, sondern auch im ungarischen Parlament nahezu einmütig verabschiedet wird. Dies macht ja auch die Güte dieses Vertrages, die Wichtigkeit und die Richtigkeit dieses Vertrages deutlich.Wir wissen, daß die freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Ungarn vor allem auch eine Sache unserer Herzen ist. Und daher ist dieser Vertrag nicht nur ein guter Vertrag, sondern auch ein Vertrag, den Bürger unserer beiden Länder mit viel mehr Inhalten ausfüllen werden, als wir dies uns jetzt schon vorstellen können.Ich bedanke mich.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Karsten Voigt.
Als der deutschtschechoslowakische Vertrag in Prag beraten wurde, konnte ich bei den Beratungen zuhören. Manche der dort vorgebrachten Argumente haben mich traurig gemacht. Um so mehr hat mich erfreut, mit welch breiter Mehrheit dieser Vertrag schließlich von der Föderalversammlung ratifiziert worden ist. Ich füge hinzu: Es ist erfreulich, daß hier alle Fraktionen und — bis auf einen — alle Redner den Vertrag unumstritten akzeptiert haben. Um so mehr gilt das natürlich auch für den deutsch-ungarischen Vertrag.Sie, Herr Genscher, haben in dieser Debatte zum letztenmal das Wort ergriffen. Ich möchte Ihnen aus diesem Anlaß für die Jahre der guten und fairen Zusammenarbeit, anfangs in der gemeinsamen Regierungskoalition und später im konstruktiven Wechselverhältnis zwischen Regierung einerseits und Opposition andererseits, nachdrücklich danken.
Die von uns gemeinsam begonnene und später in der Koalition mit der CDU/CSU im Grundsätzlichen kontinuierlich fortgesetzte Entspannungspolitik hat sich mit der Überwindung des Ost-West-Konflikts und mit dem Fall der Mauer in Berlin als konzeptionell weitsichtig und zugleich als realistisch erwiesen. Dies sage ich all denen, die jetzt die Entspannungspolitik im nachhinein in Frage stellen wollen. Aber mit den heute zur Beratung anstehenden Verträgen wird zugleich die erfolgreiche Vollendung wie auch der Abschluß der Entspannungspolitik symbolisiert.Es geht nicht um einen Kurswechsel in der deutschen Außenpolitik. Im Gegensatz zur CSU sind wir der Meinung, daß ein außenpolitischer Kurswechsel die in den vergangenen Wochen im In- und Ausland lautgewordenen Zweifel an der Berechenbarkeit und Seriosität deutscher Politik nur noch verstärkenwürde. Es geht also nicht um einen Kurswechsel, wohl aber um eine konzeptionelle Erneuerung und einen neuen Realismus in der deutschen Außenpolitik.Das vereinigte Deutschland trägt mehr Verantwortung als bisher. Es widerspricht dieser gewachsenen Verantwortung, wenn die Diskussion über Verträge, wie jetzt über den deutsch-tschechoslowakischen Vertrag, vorher über den deutsch-polnischen Vertrag, von Teilen der Regierung und der Regierungskoalition primär unter dem Gesichtspunkt der Rücksichtnahme auf relativ kleine Wählergruppen geführt wurde und geführt wird.
Einen derartigen außenpolitischen Provinzialismus darf sich das vereinigte Deutschland künftig nicht mehr leisten. Ich muß ganz offen sagen: Diejenigen, die jetzt am meisten einen Kurswechsel fordern, sind in den letzten Wochen und auch beim deutschpolnischen Vertrag am meisten Ausdruck dieses außenpolitischen Provinzialismus gewesen.Die Außenpolitik Deutschlands ist in der letzten Zeit auch durch parteitaktische Schachereien ins Trudeln geraten. Die Art des Entscheidungsprozesses über die Nachfolge von Bundesaußenminister Genscher war ebenfalls Ausdruck einer besorgniserregenden Zunahme der innenpolitischen und parteitaktischen Motive bei außenpolitisch relevanten Entscheidungen.
Was wir jetzt aber nach dem erfolgreichen Abschluß der Entspannungspolitik und am Beginn einer neuen Phase der deutschen Außenpolitik brauchen, ist eine Kultur der außenpolitischen Debatte, in der jenseits von parteitaktischen Verengungen und ohne politische Scheuklappen die neuen Herausforderungen, die neuen Chancen, aber auch die neuen Risiken nüchtern analysiert werden, woraus dann praktische Schlußfolgerungen, möglichst im Konsens, gezogen werden.Es gibt die Notwendigkeit zu einer solchen Debatte; es gibt die Notwendigkeit zu einer solchen Bestandsaufnahme; es gibt die Notwendigkeit zu einer solchen konzeptionellen Erneuerung; und es gibt die Notwendigkeit zur Verbesserung der Kultur der außenpolitischen Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland. Kontinuität ist gut, aber eine konzeptionelle Ermüdung und Erstarrung wäre gerade auch in der Außenpolitik äußerst problematisch und gefährlich.Die bis Ende 1990 noch verständliche Konzentration auf die außenpolitische Absicherung des deutschen Einigungsprozesses hat dazu geführt, daß die deutsche Außenpolitik konzeptionelle Ermüdungserscheinungen gezeigt hat. Nach dem Ende der Entspannungspolitik geht es darum, nüchterner als bisher die neuen Risiken für Frieden, Demokratie und Umwelt in Europa und in der Dritten Welt zu erkennen und sich diesen Herausforderungen auch zu stellen. Es ist lobenswert, wenn in der Außenpolitik das Wünschbare machbar gemacht wird. Es wäre aber verhängnisvoll, wenn in der Außenpolitik das
Metadaten/Kopzeile:
7392 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992
Karsten D. Voigt
Wünschbare mit dem Machbaren oder mit der nüchternen Realität verwechselt würde.
Osteuropa und die Mitgliedstaaten der GUS werden nach dem Ende des Ost-West-Konflikts durch die KSZE, den Nordatlantischen Kooperationsrat und durch Verträge mit der Europäischen Gemeinschaft erfolgreich mit westlichen Institutionen vernetzt, aber es wäre ein verhängnisvoller Irrtum, in der Unterschrift unter KSZE-Verpflichtungen bereits eine Garantie für pluralistische Demokratie, Gewaltfreiheit, Menschenrechte und Minderheitenrechte zu sehen. Der große Krieg zwischen Ost und West als Risiko ist beseitigt, aber es gibt in Europa zur Zeit mehr Tote durch Kampfhandlungen und Kriege als in den vergangenen 40 Jahren. Und deshalb ist es zwar wichtig, außenpolitische Visionen zu haben, aber es ist noch wichtiger, dieser ernüchternden Realität nach dem Abschluß einer kurzen Phase einer Schönwetterperiode ins Auge zu sehen und sich darauf einzustellen, damit man die Probleme, wenn man sie schon nicht löst, wenigstens verringert.
Gerade in bezug auf die GUS-Staaten darf sich die deutsche Außenpolitik weniger dem Selbstbetrug auf dauerhafte Schönwetterperioden hingeben. Visionen können nur Wirklichkeit werden, wenn die wirtschaftlichen Krisen, die Nationalitätenkonflikte und die Grenzkonflikte als Gefahren für eine stabile demokratische Entwicklung realistischer als bisher analysiert werden. Die Bonner Außenpolitik darf noch weniger als bisher, um es vorsichtig zu formulieren, nicht jedem alles versprechen und in Kommuniques mit unterschiedlichen Regierungen und zu gegensätzlichen Auffassungen gleichermaßen Übereinstimmung bekunden.
Die Finanzkrise hat nicht nur in Washington, sondern auch in Bonn die außenpolitische Handlungsfähigkeit drastisch verringert. Die Bundesregierung rühmt sich zu Recht der größten finanziellen Hilfen für die GUS-Staaten. Aber die knappen Finanzmittel zwingen künftig zu klaren und noch klareren Prioritätensetzungen. Die Bundesregierung sollte sich bei den GATT-Verhandlungen gegen den Agrarprotektionismus und für die legitimen Reformwünsche Osteuropas entscheiden.
Dies bedeutet, daß in dieser Frage in Kommuniques nicht gleichermaßen Übereinstimmung mit Washington und mit Frankreich verkündet werden kann, weil das nicht der Realität entspricht.Die Bundesregierung muß endlich begreifen, daß es nach der Ratifizierung der Verträge von Maastricht keinen weiteren Fortschritt bei der EG-Integration geben wird — ich sage: leider —, wenn diese Prozesse nicht von einer grundlegenden Verbesserung der parlamentarischen Kontrolle in der EG bis in den Bundestag und durch das Europäische Parlament begleitet werden. Das bedeutet, daß das Zentrum unserer Außenpolitik, die EG-Integration und unsereeuropäische Integration, die wir Sozialdemokraten nicht nur bejahen, sondern fördern wollen, in seiner Weiterentwicklung nach der Ratifizierung der Verträge von Maastricht in eine Krise gerät, die ich sehe — und darin werde ich wahrscheinlich von allen Parteien unterstützt —, wenn nicht die Konzeption der europäischen Integration von einer Demokratisierung und Föderalisierung begleitet wird. Das würde für Europa eine Krise der weiteren Entwicklung bedeuten, und es bedeutet gleichzeitig, daß die von uns bejahte Mitgliedschaft in der Nordatlantischen Verteidigungsorganisation, in der NATO, die gerade das Bündnis zwischen den USA und Westeuropa deutlich macht, bei aller Bedeutung der Verteidigungspolitischen Zusammenarbeit in eine Krise geraten wird, wenn wir nicht solche Fragen wie GATT und andere lösen. Deshalb müssen wir auch hier neben dem Bewahren eine Neugestaltung der deutsch-amerikanischen und der europäisch-amerikanischen Beziehungen anstreben, gerade um sie zu festigen.
Herr Kollege Voigt, sosehr natürlich die Vertragswerke in die allgemeine Außenpolitik eingebaut worden sind, der Tagesordnungspunkt heißt: deutsch-tschechoslowakischer und deutsch-ungarischer Vertrag.
Ich betrachte dies noch nicht als einen Ruf zur Sache, nur als eine kleine Erinnerung, vielleicht wieder in die Nähe des Tagesordnungspunktes zu kommen.
Ich versuchte, die Würdigung dessen, was Bundesaußenminister Genscher mit uns gemeinsam und mit der CDU gemeinsam gestaltet hat, und die Perspektive seiner eigenen Äußerungen über seine Außenpolitik insgesamt, die ich für die Vergangenheit sehe, mit dem Ansatz zu verbinden für den Versuch des Beginns eines Dialoges über die Gestaltung einer neuen Phase der Außenpolitik, die nicht nur erforderlich ist, weil eine neue Person dort ist, sondern weil ein neuer Abschnitt der deutschen Außenpolitik beginnt. Ich hoffe, daß dieser Dialog mit dem dann Nichtmehraußenminister genauso wie mit allen anderen Fraktionen des Hauses und dem neuen Außenminister möglich sein wird. Aber, Herr Präsident, ich respektiere natürlich sofort Ihren Hinweis, sage jedoch darüber hinaus — ich komme damit zu meinem Augangspunkt zurück —, daß die beiden Verträge die wir heute hier beraten, Ausdruck des Höhepunkts, der Vollendung, aber auch des Abschlusses einer von mir geforderten außenpolitischen Konzeption, nämlich der Entspannungspolitik, waren und daß es so, wie es damals nach dem Bau der Mauer nötig war, daß sich Egon Bahr und Willy Brandt in Berlin hinsetzten, um eine neue Konzeption nach dem Vollzug des Baus der Mauer zu entwickeln, heute nötig ist, daß sich nicht nur Sozialdemokraten, sondern auch Christdemokraten und Freie Demokraten hinsetzen und nachdenken, welche Konsequenzen der Fall der Mauer und das Ende der Ost-West-Spaltung für die außenpolitische Konzeption haben.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992 7393
Karsten D. Voigt
Niemand im Ausland wird uns abnehmen, wenn wir neben dem Bekenntnis zur Kontinuität in den Grundwerten, zum Bündnis und zur EG nicht diese Frage mitbeantworten, weil Nichtdiskussion dieser Probleme im Ausland als Unklarheit oder Verschleierung wahrgenommen wird, während wir Klarheit im Konzeptionellen und Diskussion in der Sache brauchen, um einen neuen Konsens zu formulieren.Vielen Dank.
Ich erteile dem Abgeordneten Herbert Werner das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen und Slowaken berühren in besonderem Maße die vertriebenen Sudetendeutschen, die ja in ihrer alten Heimat so eng, wie dies in kaum einem anderen Staat bei Nationalitäten der Fall war, miteinander gelebt haben. Man braucht sich nur an die großartige deutsche Literatur um die Jahrhundertwende, die ihre Keimzelle mit in Prag hatte, zu erinnern; dann wird dies voll und ganz deutlich.Es ist verständlich, wenn vor diesem Hintergrund gerade die Sudetendeutschen von unterschiedlichen Gefühlen bewegt werden. Die Erlebnisgeneration ist gewiß in weiten Teilen voller Wehmut und Trauer um die alte Heimat; denn sie hat ja unmittelbar erlebt, wie unterschiedslos, planmäßig und kollektiv, ohne Rücksicht auf Schuldige oder Nichtschuldige die Vertreibung stattfand. Sie hat erlebt, wie in brutalster, grausamster Weise Freunde und Verwandte zu Tode kamen. Ich erinnere an den Brünner Todesmarsch.Diese Generation hat in ihrer neuen Heimat in Deutschland von der ersten Stunde an zugepackt, Aufbauarbeit geleistet. Gleichwohl sind bei manchen damals noch eine lange Zeit die Wehmut und der „Blick zurück" geblieben. Immer noch, auch heute noch, gibt es Sudetendeutsche, die mit Trotz und Zorn unsere heutige Diskussion verfolgen; denn sie haben zuweilen das Gefühl, als ob die Nachkriegsgeschichte auf Grund ihrer Friedfertigkeit, auf Grund ihrer Geduld über ihre Interessen hinweggegangen sei.
Mancher zieht sich in das allzu trotzige nebulöse „Jetzt erst recht! " zurück. Aber ich sage es ganz deutlich: Ich bin davon überzeugt, daß die größere Zahl der Sudetendeutschen trotz der teilweise vorhandenen Bedenken den heutigen Vertrag mit Zuversicht sieht und annimmt, auch wenn sich diese — im Gegensatz zu manch anderen — nicht lautstark äußern.
Ich bin davon überzeugt, meine Damen und Herren, daß wir, wenn wir zugeben, daß noch viel Trennendes zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken steht, unsere Aufgabe sehr wohl bewältigen können, allen diesen betroffenen Gruppierungen deutlich zu machen, daß es heute gilt, den Blick nicht nur in dieVergangenheit, sondern vor allen Dingen in die Zukunft zu richten. Wir müssen lernen, daß Geschichte nicht punktuell, sondern nur im Gesamtzusammenhang beurteilt werden kann. Deswegen kann es einen Schlußstrich oder einen absoluten Neubeginn auch gar nicht geben.Auf beiden Seiten stellt sich meines Erachtens die Frage, die gemeinsam erfahrene Geschichte auf der Grundlage der Wahrhaftigkeit neu zu beurteilen. Dies bedingt, daß wir und die Sudetendeutschen auf der deutschen Seite einsehen, welch hohes Maß an Halsstarrigkeit am Ende des vergangenen Jahrhunderts zu Verhärtungen in der Tschechoslowakei geführt hat; daß wir einsehen, welch hohes Maß an militärischer Drohung und an politischem Druck sowohl seitens des Dritten Reiches als auch seitens der damaligen Westmächte 1938 gegen die Tschechoslowakei geübt wurde; daß wir zugeben, was während der Zeit der Besetzung und des Protektorats geschehen ist.Es gehört aber auch dazu, daß man auf tschechischer Seite endlich offener darüber diskutieren müßte, wie in den Jahren 1918 und 1919 den Deutschen das Selbstbestimmungsrecht — entgegen den Zusagen auch Masaryks von 1917 — vorenthalten wurde und die Deutschen im Widerspruch zu der Verfassung der Ersten Republik keine Gleichberechtigung erfahren haben.Man sollte endlich auch — und es gibt dazu erste Ansätze — in Prag unbefangen und offen darüber diskutieren, daß es eben tschechoslowakische Politiker waren, die während der Kriegszeit im Ausland psychologisch und politisch die Vertreibung vorbereitet haben, die dann mit Billigung der Drei Mächte in Potsdam durchgeführt, aber doch im Widerspruch zu allem seit der Haager Landkriegskonvention herangebildeten Völkerrechts durchgeführt wurde.Ich stimme dem Herrn Außenminister absolut zu: Es muß unsere Aufgabe sein, deutlich zu sagen, daß jede Vertreibung, jede zwangsweise Umsiedlung ein Verbrechen ist. Wenn wir uns um Wahrhaftigkeit bemühen, dann müssen wir also auf beiden Seiten zugeben, daß wir uns nicht beliebig punktuell aus der gemeinsamen Geschichte davonstehlen können.Deswegen — ich wiederhole es — gilt es, dem mutigen Vaçlav Havel Dank zu sagen, der wirklich sehr viele Hindernisse beiseite geräumt hat.Ich glaube, es wird in Zukunft auf der Grundlage dieses Vertrages auch der tschechoslowakischen Seite leichterfallen, auch jene Fragen, in denen wir noch im Dissens miteinander verblieben — offen anzusprechen, vielleicht einvernehmlich einer Lösung zuzuführen. Insbesondere bin ich dem Außenminister auch für seine klare Abwehr dessen, was in dem sogenannten Motivenbericht in Prag dargestellt worden war, dankbar. Aber auch hier warne ich davor, so zu tun, als sei damit die Auffassung der Tschechen und der Slowaken und die Auffassung des tschechoslowakischen Parlaments oder der Regierung insgesamt einfach unveränderlich wiedergegeben.Ich glaube, daß es unsere Aufgabe sein wird, gemeinsam mit Deutschen in der Tschechoslowakei, mit den Tschechen und den Slowaken daranzugehen, jenen, die auf Grund des Motivenberichts sagen „da
Metadaten/Kopzeile:
7394 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Mai 1992
Herbert Werner
seht Ihr es, die wollen ja gar nicht", gemeinsam zu zeigen, daß das Gegenteil der Fall ist. Wir haben — das wurde schon angesprochen — hoffnungsvolle Ansätze in der Tschechoslowakei, was die deutsche Minderheit anbelangt.Ich selbst konnte gemeinsam mit dem tschechoslowakischen Minister Šabatta vor kurzem in Iglau einen Kongreß durchführen, auf dem zum erstenmal sämtliche deutsche Gruppierungen aus der gesamten Tschechei und Slowakei zusammengetroffen sind, sich zum erstenmal ausgesprochen haben, sich zum erstenmal frei mit den Tschechen und den Slowaken an einen Tisch gesetzt haben und wo in diesen Gesprächen natürlich eine Vielzahl von Erwartungen an uns gerichtet worden ist.Damit bin ich bei dem letzten Punkt, den ich ansprechen möchte. Eine Vielzahl von Erwartungen wird an uns gerichtet; denn es wird primär von uns, den Deutschen hier in Deutschland, abhängen, inwieweit es gelingen wird, der deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei wieder eine echte Zukunftschance zu vermitteln. Dies wird davon abhängen, ob auch wir hier, auch die Haushalter in diesem Haus, bereit sein werden, dazu einen Beitrag zu leisten, daß Begegnungsstätten zwischen Deutschen und Deutschen, aber auch zwischen Deutschen und Tschechen und Slowaken Wirklichkeit werden, daß deutschtschechoslowakische Häuser eingerichtet werden und daß eine Vielzahl von Austauschmöglichkeiten im Bereich der Ausbildung, des Lehrer- und des Schüleraustauschs Wirklichkeit werden wird.Ich meine: Ein guter Anfang ist gemacht worden, als der Bundeskanzler in Prag spontan ja zur Schaffung eines deutsch-tschechoslowakischen Jugendwerks gesagt hat. Hier haben wir ein konkretes Beispiel, eine konkrete Maßnahme, wie wir ganz konkret dieses Vertragswerk Schritt für Schritt ausfüllen müssen. Ich möchte an alle appellieren, hierzu ihren Beitrag zu leisten.Zum Schluß möchte ich auch ganz deutlich sagen, Herr Glotz, daß ich nicht nur für Ihre Worte dankbar bin, sondern ich möchte auch für den großen Kreis der Sudetendeutschen sagen — —
Herr Kollege Werner, Sie sind weit über die Grenze Ihrer Rednerzeit!
— — , daß sie bereit sind, in diesem Versöhnungs- und Verständigungsprozeß durchaus auch ihren eigenen Beitrag einzubringen.
In diesem Sinne bitte ich Sie alle um Zusammenarbeit und Mitarbeit im Ausschuß.
Es ist immer schlecht, wenn man am Schluß einer solchen Debatte noch sagen muß, daß der Redner seine Rednerzeit weit überschritten hat. Aber wenn sich keine „Landungssignale" abzeichnen, dann bleibt dem Präsidenten keine andere Wahl.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 12/2468, 12/2469 und 12/1929 entgegen dem Überweisungsvorschlag in der Tagesordnung zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Rechtsausschuß zu überweisen. Der Antrag auf Drucksache 12/2526 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Damit sind wir am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 7. Mai 1992 um 9.00 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.