Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.Vor Eintritt in die Tagesordnung haben wir zweier Verstorbener zu gedenken.
Wir trauern heute um unseren Kollegen Hubert Doppmeier, der am 8. März 1992 im frühen Alter von 48 Jahren an den Folgen einer schweren Krankheit gestorben ist.Hubert Doppmeier wurde am 19. Februar 1944 in Langenberg, Kreis Gütersloh, geboren. Er ergriff zunächst den Beruf eines Sperrholzfacharbeiters und erarbeitete sich dann über den zweiten Bildungsweg den Zugang zum Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Münster. Danach ließ sich Hubert Doppmeier als Rechtsanwalt nieder.Schon während des Studiums war Hubert Doppmeier politisch aktiv. Er gehörte dem Verwaltungsrat des Studentenwerks der Universität Münster an und zog im Jahre 1975 in den Kreistag von Gütersloh ein. Von 1980 bis 1990 gehörte er dem Landtag von Nordrhein-Westfalen an, zum Schluß als stellvertretender Vorsitzender der Fraktion der CDU.Bei der Bundestagswahl 1990 konnte Hubert Doppmeier den Wahlkreis Gütersloh direkt gewinnen. Im Deutschen Bundestag gehörte er dem Verkehrsausschuß als ordentliches Mitglied an.Fest in Ostwestfalen verwurzelt, verstand sich Hubert Doppmeier als Anwalt der Bürger und Bürgerinnen seiner Region. Darüber hinaus galt sein politisches Engagement dem Zusammenwachsen Deutschlands.Unsere Anteilnahme gilt ganz besonders seinen Angehörigen, vor allem seiner Frau und seinen vier — zum Teil noch kleinen — Kindern.Der Deutsche Bundestag wird Hubert Doppmeier ein dankbares und ehrendes Gedenken bewahren.In der Nacht zum Montag, dem 9. März 1992, ist der ehemalige israelische Premierminister Menachem Begin im Alter von 78 Jahren nach längerer Krankheit verstorben.Menachem Begin war von 1977 bis 1983 Ministerpräsident Israels; 1980 und 1981 war er zugleich Verteidigungsminister.Das persönliche und auch das politische Leben waren durch die Schrecken des Holocaust geprägt. Nach dem Ende der nationalsozialistischen Schrekkensherrschaft in Europa hat Begin an vorderster Stelle für das Entstehen des jüdischen Staates als Heimat und Zuflucht gekämpft.Zu den Höhepunkten des politischen Wirkens gehört der Friedensschluß von Camp David zwischen Israel und Ägypten. Die weltweite Anerkennung dieser großen friedenspolitischen Leistung hat in der Verleihung des Friedensnobelpreises, der Menachem Begin 1978 — gemeinsam mit dem ägyptischen Präsidenten Sadat — zuerkannt worden ist, Ausdruck gefunden.Das israelische Volk verliert mit Menachem Begin einen großen Staatsmann. Die Bundesrepublik Deutschland hat seinem politischen Wirken viel zu verdanken.Sie haben sich zu Ehren der Toten erhoben. Ich danke Ihnen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich nun Geburtstagsglückwünsche aussprechen: Der Kollege Dr. Bruno Menzel feierte am 25. Februar 1992 seinen 60. Geburtstag. Ebenfalls ihren 60. Geburtstag feierte die Kollegin Anni Brandt-Elsweier am 2. März 1992. Ich gratuliere beiden im Namen des Hauses nachträglich sehr herzlich.Der Kollege Dr. Jürgen Rüttgers scheidet als ordentliches Mitglied der Gemeinsamen Verfassungskommission aus. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt als seinen Nachfolger den Kollegen Dr. Lutz Stavenhagen vor. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Damit ist der Kollege Dr. Lutz Stavenhagen als ordentliches Mitglied der Gemeinsamen Verfassungskommission bestimmt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Aktuelle StundeDie Freigabe des Drogenkonsums als Antwort auf über 2 000 Drogentote im Jahre 1991
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6708 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth2. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P.Einsetzung einer Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur"— Drucksache 12/2230 —3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Markus Meckel, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDEinsetzung einer Enquete-Kommission „Politische Aufarbeitung von Unterdrückung in der SBZ/DDR"— Drucksache 12/2152 —Überweisungsvorschlag: Enquete-KommissionAufarbeitung SED-Diktatur4. Beratung des Antrags der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNENEinsetzung einer Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Dikatur" und Förderung außerparlamentarischer Initiativen zum gleichen Thema— Drucksache 12/2220 —Überweisungsvorschlag:Enquete-KommissionAufarbeitung SED-Diktatur5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Lederer, Dr. Fritz Schumann , Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke ListeEinsetzung einer Enquete-Kommission „Politische Aufarbeitung der DDR-Geschichte"— Drucksache 12/2226 —Überweisungsvorschlag:Enquete-KommissionAufarbeitung SED-Diktatur6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Adam, Anneliese Augustin, Jürgen Augustinowitz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Jörg van Essen, Heinz-Dieter Hackel, Dirk Hansen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Aufgaben der Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur"— Drucksache 12/2229 — Überweisungsvorschlag: Enquete-KommissionAufarbeitung SED-Diktatur7. Aktuelle StundeLage der öffentlichen Finanzen und Pläne der Bundesregierung für ein Haushaltssicherungsgesetz nach den Äußerungen von Mitgliedern der Bundesregierung vom Wochenende 7./8. März 19928. Beratung des Antrags des Abgeordneten Konrad Weiß und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN Humanitäre Hilfe und Unterstützung von Friedensinitiativen für Somalia— Drucksache 12/2159 —Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Günther Toetemeyer, Brigitte Adler, Rudolf Bindig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDUnterstützung des Friedensprozesses in Angola— Drucksache 12/2211 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Auswärtiger Ausschuß10. Aktuelle StundeKonzeption der Bundesregierung zur Sicherung der Arbeitsplätze in der Werftindustrie und ihren Zulieferindustrien im Land Mecklenburg/Vorpommern11. Erste Beratung des von den Abgeordneten Achim Großmann, Iris Gleicke, Dr. Eckhart Pick, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch — Artikel 232
— Drucksache 12/2194 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau12. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Georg Brunnhuber, Werner Dörflinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Walter Hitschler, Lisa Peters, Uwe Lühr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Einsetzung einer unabhängigen Expertenkommission zur Überprüfung der Instrumente der Wohnungspolitik — Drucksache 12/2231 —13. Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Entschädigungsrenten für Opfer des Nationalsozialismus im Beitrittsgebiet
— Drucksache 12/1790 —a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 12/2224 —Berichterstattung:Abgeordnete Julius Louven Ulrike MascherDr. Gisela Babelb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 12/2225 —Berichterstattung:Abgeordnete Karl DillerHans-Gerd StrubeIna Albowitz
Des weiteren ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 6 — 4. Bundesbankänderungsgesetz — abzusetzen sowie den Tagesordnungspunkt 10 — Rechtspflege-Anpassungsgesetz — ohne Aussprache im vereinfachten Verfahren an die entsprechenden Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen.Die Fraktion der SPD hat fristgemäß eine Erweiterung der Tagesordnung betreffend die Beitragssätze zur gesetzlichen Krankenversicherung beantragt. Dieser Antrag wird nach Tagesordnungspunkt 5 aufgerufen.Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 3a bis e und 10:3. Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans Wallow, Dr. Liesel Hartenstein, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDEntscheidungsrichtlinien für Entwicklungsprojekte und Sektorkredite der Weltbank und anderer Entwicklungsbanken in Tropenwaldgebieten— Drucksache 12/1646 —
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6709
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthÜberweisungsvorschlag:Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Auswärtiger AusschußFinanzausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. R. Werner Schuster, Brigitte Adler, Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDFörderung von Nichtregierungsorganisationen— Drucksache 12/1977 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Haushaltsausschußc) Beratung des Antrags der Abgeordneten Reinhard Weis , Walter Kolbow, Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDZivile Nutzung des Truppenübungsplatzes Colbitz-Letzlinger-Heide nach dem Abzug der Westgruppe der ehemaligen sowjetischen Streitkräfte— Drucksache 12/1997 —Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für GesundheitAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitd) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische ParlamentEntschließung zur institutionellen Rolle des Wirtschafts- und Sozialausschusses— Drucksache 12/1786 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft EG-Ausschuß 1. mb Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnunge) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische ParlamentSchlußerklärung und Entschließungen der Zweiten Konferenz Europäisches Parlament/Regionen der Gemeinschaft— zum wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt in der Gemeinschaft— zur Aktion der Strukturfonds und der Darlehensinstrumente der Gemeinschaft— zu einer Raumordnungs- und Raumnutzungspolitik der Gemeinschaft im Interesse einer ausgewogenen und umweltschonenden Entwicklung— zur Vertretung der Regionen und zu ihrer Beteiligung an der Ausarbeitung, Durchführung und Bewertung der Strukturpolitiken und gemeinsamen Politiken— zu einer Charta der Regionen der Gemeinschaft— zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit: ihr Beitrag zur Entwicklung und zur Annäherung zwischen der Bevölkerung, einschließlich derjenigen der osteuropäischen Länder— zur interregionalen Zusammenarbeit— Drucksache 12/1815 —Überweisungsvorschlag:EG-Ausschuß
Auswärtiger AusschußRechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für VerkehrAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für FremdenverkehrHaushaltsausschuß10. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Rechtspflege im Beitrittsgebiet
— Drucksache 12/2168 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
InnenausschußAusschuß für Arbeit und SozialordnungInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Die Überweisungen sind so beschlossen.Ich rufe auf Tagesordnungspunkt 4a bis j: Abschließende Beratungen ohne Aussprachea) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Zweiten Fakultativprotokoll vom 15. Dezember 1989 zu dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe— Drucksache 12/937 —Beschlußempfehlung und Bericht desRechtsausschusses
— Drucksache 12/2172 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Jürgen Schmude Heinrich Seesing
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Erstreckung von gewerblichen Schutzrechten
— Drucksache 12/1399 —
Beschlußempfehlung und Bericht desRechtsausschusses
— Drucksache 12/2171 —
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6710 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthBerichterstattung:Abgeordnete Sabine Leutheusser-SchnarrenbergerLudwig StieglerCornelia Yzer
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Empfehlung einer Entscheidung des Rates über die Aufnahme von Verhandlungen zwischen der Gemeinschaft und Drittländern über Regeln für die Fracht- und Passagierbeförderung im Binnenschiffsverkehr zwischen den Vertragsparteien— Drucksachen 12/1339 Nr. 2.16, 12/1854 —Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Rolf Niesed) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses
I. zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 89/299/EWG über die Eigenmittel von KreditinstitutenII. zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Durchführung der Richtlinie 89/299/EWG über die Eigenmittel von Kreditinstituten— Drucksachen 12/1122 Nr. 3.2, 12/1838 Nr. 3.1, 12/2008 —Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Karl H. Felle) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über den Schwefelgehalt von Gasöl— Drucksachen 12/1174 Nr. 2.24, 12/2107 —Berichterstattung:Abgeordnete Herbert Frankenhauser Klaus LennartzBirgit Homburgerf) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 51 zu Petionen — Drucksache 12/2124 —g) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Überplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1991 bei Kapitel 10 04 Titel 682 04 (vonden EG nicht übernommene Marktordnungsausgaben)— Drucksachen 12/1613, 12/2128 —Berichterstattung:Abgeordnete Bartholomäus Kalb Dr. Sigrid HothKarl Dillerh) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1991 bei Kapitel 10 04 Titel 683 21
— Drucksachen 12/1620, 12/2129 —Berichterstattung:Abgeordnete Bartholomäus Kalb Dr. Sigrid HothKarl Dilleri) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 13 Titel 646 09 — Aufwendungen für Leistungen auf Grund zusätzlicher Altersversorgung in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet —— Drucksachen 12/1889, 12/2131 —Berichterstattung:Abgeordnete Karl Diller Hans-Gerd StrubeIna Albowitzj) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 11 02 Titel 682 01— Erstattung von Fahrgeldausfällen —— Drucksachen 12/1844, 12/2130 —Berichterstattung:Abgeordnete Karl Diller Hans-Gerd StrubeIna AlbowitzTagesordnungspunkt 4 a: Zweite Beratung und Schlußabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem internationalen Pakt zur Abschaffung der Todesstrafe, Drucksache 12/937. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/2172, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 4 b: Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den Regierungsentwurf eines Gesetzes über die Erstreckung von gewerblichen Schutzrechten, Drucksachen
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6711
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth12/1399 und 12/2171. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist auch dieser Gesetzentwurf einstimmig angenommen und die zweite Beratung abgeschlossen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkte 4 c bis 4 e: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr zu einer Empfehlung der EG über Regeln für die Fracht und Passagierbeförderung, Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zu Vorschlägen der EG über die Eigenmittel von Kreditinstituten, Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu einem Vorschlag der EG über den Schwefelgehalt von Gasöl, Drucksachen 12/1854, 12/2008 und 12/2107. Ich gehe davon aus, daß wir über diese drei Beschlußempfehlungen gemeinsam abstimmen können. — Das ist der Fall.Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlungen sind bei zwei Enthaltungen der PDS angenommen.Tagesordnungpunkt 4 f: Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 12/2124. Das ist die Sammelübersicht 51. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkte 4 g bis 4 j: Es handelt sich um vier Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses zu überplanmäßigen Ausgaben im Haushaltsjahr 1991, Drucksachen 12/2128 bis 12/2131. Ich gehe davon aus, daß wir darüber gemeinsam abstimmen können. Ich bitte diejenigen, die den Beschlußempfehlungen zuzustimmen wünschen, um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit sind die Beschlußempfehlungen bei zwei Enthaltungen der PDS/Linke Liste angenommen worden.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 und die Zusatztagesordnungspunkte 2 bis 6 auf:5. Beratung von Anträgen auf Einsetzung einer Enquete-KommissionZP2 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und F.D.P.Einsetzung einer Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur"— Drucksache 12/2230 —ZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Markus Meckel, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDEinsetzung einer Enquete-Kommission „Politische Aufarbeitung von Unterdrückung in der SBZ/DDR"— Drucksache 12/2152 —Überweisungsvorschlag: Enquete-KommissionAufarbeitung SED-DiktaturZP4 Beratung des Antrags der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEinsetzung einer Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur" und Förderung außerparlamentarischer Initiativen zum gleichen Thema— Drucksache 12/2220 —Überweisungsvorschlag: Enquete-KommissionAufarbeitung SED-DiktaturZP5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Lederer, Dr. Fritz Schumann , Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke ListeEinsetzung einer Enquete-Kommission „Politische Aufarbeitung der DDR-Geschichte"— Drucksache 12/2226 —Überweisungsvorschlag: Enquete-KommissionAufarbeitung SED-DiktaturZP6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Adam, Anneliese Augustin, Jürgen Augustinowitz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Jörg van Essen, Heinz-Dieter Hackel, Dirk Hansen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.Aufgaben der Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur"— Drucksache 12/2229 —Überweisungsvorschlag: Enquete-KommissionAufarbeitung SED-DiktaturNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache fünf Stunden vorgesehen. — Ich sehe keine Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Rainer Eppelmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unsere Vergangenheit holt uns immer wieder ein. Sie ist stark und lebendig, und wir sind Zeugen dafür — wir alle —, daß sie uns tagtäglich wieder einholt. Sie ist uns — zumindest noch — nahe. Und das ist gut so; denn unsere Vergangenheit ist ein Schatz, weil sie auch unsere Erfahrungen einschließt — die, die uns freuten und uns fröhlich machten, und die, die uns weh taten oder uns traurig und wütend stimmten.Unsere Vergangenheit umfaßt zugleich unsere Einsichten, das, was wir gelernt haben, und das, was uns gelehrt wurde. Darum tun wir gut daran, uns unserer
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6712 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Rainer EppelmannVergangenheit zu stellen — gemeinsam als Ostdeutsche und Westdeutsche, als ein Volk.Wir würden bei dieser Aufarbeitung versagen, wenn wir uns bei der Beschäftigung mit 45 Jahren deutscher Geschichte — schwergewichtig der DDR-Geschichte — nur auf den Bereich der Staatssicherheit beschränken würden.
Die Erfahrungen, die wir in und mit 45 Jahren DDR gemacht haben, hat unser ganzes Leben und alle Menschen umfaßt und nicht nur die vielleicht 500 000 offiziellen und inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit und ihre unmittelbaren Opfer. Darum wünschte ich mir, daß sich möglichst viele der 80 Millionen Deutschen mit den Fragen und Problemen unserer Vergangenheit intensiv befaßten. Es kann dabei gar nicht zu viele geben, sondern immer nur zu wenige.Jeder Mensch, jede Gruppe, jede Partei, jede Interessenvertretung könnte und sollte sich danach fragen: Was haben wir in den letzten 45 Jahren erfahren? Was haben wir falsch gemacht, was richtig? Was haben wir zugelassen, was unterstützt, was nicht gesehen? Was lehrt uns das? Wo müssen wir Gesetze verändern, Verordnungen neu erlassen, wo möglicherweise Verhaltensweisen korrigieren, um nicht wieder in die dumme Situation eines Kindes zu kommen, das zum drittenmal die heiße Ofentür anfaßt und sich erneut die Finger schmerzhaft verbrennt?Es geht also darum, bewußt, differenziert, sensibel, gerecht und verständnisvoll den Blick zurückzuwenden, damit wir Zukunft gewinnen können. Das heißt für mich z. B.: Ich stelle fest, daß viele Grundsatzentscheidungen und Detailentscheidungen von den Verantwortlichen und Regierenden der DDR falsch getroffen worden sind; nicht nur mangels Wissens und Einsicht, sondern auch gegen Sitte und Moral, zum Teil gegen geltendes Recht.Das alles muß festgestellt, auf- und abgearbeitet werden; denn wir wollen nicht nur faire Prozesse, sondern auch ehrliche und objektive Geschichtsbücher, geschrieben aus der Optik der Betroffenen, der Opfer.Gerade die Fehlentscheidungen und die Arroganz der Regierenden der DDR haben dazu geführt, daß wir im Grunde in den letzten Jahren von der Substanz gelebt haben und daß darum der Zusammenbruch, den wir jetzt haben, so total und so schlimm ist — mit Millionen von Arbeitslosen, mit Tausenden von Kurzarbeitern, mit vergiftetem Wasser, verseuchter Erde, mißbrauchten Menschen. Wir Deutschen täten ein erstes wichtiges Werk der Aufarbeitung unserer Vergangenheit, wenn wir die Schwierigkeiten von heute als das sehen, was sie sind: Folgen der Untaten von gestern, Folgen von sozialistischer Enge und parteipolitischer und ideologischer Arroganz der SEDKommunisten und ihrer Helfer.Zu dem ersten Schritt der Aufarbeitung gehört aber auch die Erkenntnis, daß die Elbe als deutscher Strom zwar für eine gewisse Zeit zwei deutsche Staaten voneinander trennte, aber nicht die Deutschen unterschieden hat in fleißige und erfolgreiche, mutige und intelligente auf der einen Seite und faule, dumme, ungeschickte und feige auf der anderen Seite. Die Elbe hat aber auch nicht, wie in den letzten Tagen immer wieder zu hören war, in Plattmacher, Egoisten und Rücksichtslose auf der einen Seite und ganz liebe, ganz nette und solche Menschen, die höchstens nur einmal am Sonntag an sich und sonst immer nur ans Gemeinwohl denken, auf der anderen Seite getrennt.
Was wir gegenwärtig erleben — auch mit uns und zwischen uns —, ist das oft mühselige und schmerzhafte Bemühen, die deutsche Teilung zu überwinden, ist das Bemühen, erlebte Geschichte zu begreifen und Neues aufzubauen mit großer Kraftanstrengung und mit der Bereitschaft zur Geduld und zum Teilen. Das hat auch eine ganz allgemein menschliche Dimension; denn wir erkennen dabei: Faule sowie Fleißige gibt es beiderseits der Elbe, ebenso Mutige und Feige, aber auch Egoisten mit besonders ausgebildeten Ellenbogen und solche, die bereit sind abzugeben, zu helfen und zu teilen. Laßt uns darum bitte mit dem leichtsinnigen und unverantwortlichen spalterischen Gerede vom Ost-West-Gegensatz aufhören.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir käme es bei der Aufarbeitung unserer Geschichte durch den Deutschen Bundestag in einer Enquete-Kommission darauf an, daß wir uns den Betroffenen zuwenden. Wir müssen bei unserem Blick in die Vergangenheit meiner Meinung nach zwei Erkenntnisse aufarbeiten. Erstens. Wir alle, d. h. alle 80 Millionen Deutschen, sind Betroffene dieser deutschen Geschichte. Zweitens. Es kann sich keiner aus seiner, aus dieser Geschichte herausstehlen.Aber wir sind sicher unterschiedlich betroffen: zum einen als Opfer oder als Täter, als Mitregierende, Mitmachende oder Mitleidende. Zum zweiten ist der in Düsseldorf Geborene von den letzten 45 Jahren deutscher Teilungsgeschichte sicher anders betroffen gewesen als z. B. der West-Berliner in Wedding, der zwar auch zum freien Teil Deutschlands gehörte, aber auf einer Insel in der DDR lebte. Er wurde eben auch zweimal oft hart kontrolliert, bevor er sein Stammland erreichte.Noch ganz anders ist es zum dritten sicherlich für einen Menschen gewesen, der in der DDR lebte. Auch hier sehe ich viele Unterschiede. Es kommt z. B. darauf an, ob er Mitglied oder Funktionär der SED gewesen ist, ob er gar Spitzenfunktionär war oder ob er anders parteipolitisch organisiert gewesen ist, ob er einer war, der nach dem typischen DDR-Motto „Nur nicht auffallen und zurechtkommen" große und kleine Kompromisse einging, oder ob er jemand war, der das Unglück hatte, unangenehm aufzufallen, sich unbeliebt zu machen, mit Karriereknick bestraft wurde oder dafür sogar ins Gefängnis kam.Bei ihrer Arbeit darf die Enquete-Kommission vor allem aber die Opfer der DDR-Diktatur niemals aus
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6713
Rainer Eppelmannden Augen und aus dem Herzen verlieren. Wer ist denn alles Opfer des Unrechts und der Unmenschlichkeit der DDR-Diktatur gewesen? Nach meiner Meinung sehr viel mehr DDR-Bürger, als man im ersten Moment denkt. Sehr viele von uns sind ÜberwiegendOpfer und nicht Überwiegend-Täter gewesen.Ich denke da z. B. an die Kinder, die zur Doppelzüngigkeit erzogen worden sind, oder an die christlichen Eltern, die sich nicht trauten, ihr Kind zur Konfirmation zu schicken, und sich darum oft genug schämten. Wie lebt es sich denn mit einem schlechten Gewissen?Ich denke an die Jugendlichen und Erwachsenen, die außer dem ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat und ein bißchen sozialistischem Ausland weiter nichts kennenlernten, erblicken und begreifen konnten von unserer so interessanten, vielfältigen und bunten Welt. Wie sollten sie sich in einer solchen räumlichen und inhaltlichen Enge entfalten und entwickeln?Ich denke aber ganz besonders an die Vergessenen, an die Opfer, die es in der DDR nicht geben durfte, weil die Regierenden dieses Staates Wert darauf legten, ein Staat zu sein, in dem angeblich der Mensch im Mittelpunkt steht, in dem aber das Menschliche tatsächlich auf der Strecke blieb. So denke ich z. B. an die Menschen, die das Unglück hatten, an der deutsch-deutschen Grenze in Ostdeutschland zu wohnen, und die von Haus und Hof vertrieben und enteignet wurden.Ich denke an die Tausenden, die wegen einer mißliebig geäußerten Meinung für Jahre in DDRGefängnissen oder anfangs sogar in Sibirien verschwanden und in Sibirien oder in den Gefängnissen und Lagern der marxistisch-leninistischen Kampfpartei oft umkamen.Ich denke auch an die Bauern, die bei der Bildung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften ihr Bodenreformland oder ihren kleinen Familiensitz verloren, an die enteigneten Eigentümer von kleinen und mittelständischen Betrieben. Das war staatlich betriebener und sanktionierter Raub und Diebstahl.
Wie lebt man mit solchem erlittenen Unrecht und der Trauer und der Wut, sich nicht richtig dagegen wehren zu können? So mancher Bedrängter wußte keinen Ausweg mehr und floh in den Westen oder nahm sich verzweifelt das Leben.Ich denke an die vielen, die ihre Sehnsucht nach Freiheit mit Gefängnis oder mit dem Tod an der Mauer bezahlen mußten.Ich denke an die Träger des Aufnähers „Schwerter zu Pflugscharen", die zwischen 1980 und 1982 von der Schule flogen oder die Ausbildung beenden mußten, weil sie durch das Tragen dieses Aufnähers öffentlich zum Ausdruck brachten, daß sie mit der Politik Erich Honeckers nicht einverstanden waren.Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns auch das Intellektuell-Verführerische und das Unmenschliche und das Brutale dieses sozialistischenSystems herausarbeiten. Lassen Sie uns danach fragen, warum so viele mitmachten, daran glaubten oder — auch aus dem Westen — nur zu- oder gar wegschauten. Lassen Sie uns die ideologischen Baumeister und die großen und kleinen Handlanger der DDR-Diktatur entlarven. Lassen Sie uns aber auch die vielen Opfer, die vielen Ehrlichen und Fleißigen in Schutz nehmen.Lassen Sie uns die wichtigste Lehre unseres Jahrhunderts für uns Deutsche formulieren: Nie wieder Diktatur! Egal, welche Bezeichnung sie auch immer tragen mag: national, religiös, nationalsozialistisch, sozialistisch oder kommunistisch — nie wieder Diktatur!
Lassen Sie uns Bedingungen schaffen, damit in Deutschland nie wieder ein System entstehen kann, das Menschen in so unwürdige Situationen brachte, daß erwachsene Menschen die Polizei fragen mußten, ob sie ihren Vater oder ihre Mutter, ihren Bruder oder ihre Schwester zum Geburtstag besuchen durften. Nie wieder soll es ein System geben, das Menschen nötigt, um Erlaubnis zu bitten, den verstorbenen Vater oder Freund auf seinem letzten Weg begleiten zu dürfen, und das dies oft noch untersagte.Lassen Sie uns Gerechtigkeit wiederherstellen: helfen und unterstützen, heilen und erklären, begreifen, verstehen, versöhnen. Lassen Sie uns, soweit wir das überhaupt vermögen, dazu die gesetzlichen Rahmenbedingungen schaffen.Ich verschweige es an dieser Stelle nicht: Kein Verständnis habe ich für diejenigen, die dieses — zum Glück vergangene — diktatorische System noch immer für akzeptabel und — wenngleich modifiziert — für erstrebenswert halten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele Fragen warten auf eine Antwort, Fragen nach den Grundlagen und den Strukturen, nach den Ängsten und Versuchungen der 16 Millionen Ostdeutschen und den Einwirkungen und dem Desinteresse der 64 Millionen Westdeutschen. Es sind zugleich Fragen nach dem ganz alltäglichen Verhalten der Deutschen, speziell —aber nicht nur — in der DDR in den letzten 45 Jahren.Wir werden die Gründe für ihre und unsere Lebensversuche zwischen Verführtwerden, Gleichgültigkeit und Unterdrückung erforschen müssen. Wir werden dabei vermutlich feststellen, daß es nur ganz, ganz wenige Helden und leider mehr schuldige Täter und deren Handlanger gegeben hat. Wir werden aber auch erkennen, daß die meisten weder Helden noch Verbrecher waren, sondern einfach darum bemüht gewesen sind, möglichst aufrecht und möglichst ehrlich, vielleicht auch möglichst bequem mit ihren kleinen und großen Kompromissen durchs Leben zu kommen, oft genug eingeengt, gepeinigt, gebrochen.
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6714 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Rainer EppelmannWir werden uns alle gemeinsam und gesamtdeutsch fragen müssen, was wir mit unserer Geschichte machen. — Mit einer hoffentlich ganz allgemeinen und ganz unterschiedlichen Auseinandersetzung in vielen Bereichen unserer Gesellschaft sorgen wir dafür, daß die leidvollen Erfahrungen dieser letzten 45 Jahre für uns sogar noch zu etwas Helfendem und Heilendem werden könnten.Die große und wichtige Aufgabe dieser Enquete-Kommission kann nur gelingen, wenn wir sie partnerschaftlich und nicht zänkisch, verständnisvoll und ehrlich angehen. Viele Menschen werden erwartungsvoll, gespannt und hoffentlich voller Vertrauen auf uns schauen. Erweisen wir uns dieses Vertrauens würdig.Danke schön.
Als nächster spricht der Abgeordnete Willy Brandt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Weg zur Verwirklichung der deutschen Einheit ist steiniger und wird, wie wir alle wissen, auch teurer, als die meisten angenommen hatten. Ich bin darüber hinaus gewiß nicht der einzige, der den Eindruck hat: Die immateriellen Folgen der Spaltung und die Nachwirkungen des SED-Regimes könnten die Kräfte stärker und länger binden, als dies zu verantworten wäre.Ich füge mit Bedacht hinzu: Das Denken vieler — dies kann gar nicht anders sein, zumal in dem, wie wir früher sagten, anderen Teil Deutschlands — konzentriert sich auf die Zukunft. Sie sehen nicht ein, warum ihnen rückwärtsgewandt ein schlechtes Gewissen verordnet werden sollte. Das muß man sehen, und man muß es respektieren.Das Zusammenwachsen jedenfalls ist ein widerspruchsvoller Prozeß. Damit er gut verläuft, darf man einerseits nicht zulassen, daß der Mantel des Verschweigens über gravierendes Unrecht ausgebreitet wird, auf der anderen Seite aber auch nicht hinnehmen, wenn dem vergangenen System durch grassierende Verdächtigung und langwirkende Vergiftung nachträgliche Triumphe beschert werden.
„Vergangenes" — ich zitiere — „ist immer ein Stück des Gegenwärtigen. Erinnerung darf nicht selektieren, sie muß alles umfassen." Manchmal haben es auch kleine Bücher in sich. Das, in dem dies steht, ist von einem Teilnehmer am Rußlandkrieg. Wer wollte dem widersprechen? Und dennoch: Wer könnte von sich behaupten, daß er immer alles bedacht, „alles umfaßt" habe?Wir können wohl immer nur Annäherungswerte erzielen. Das gilt auch für Kommissionen. Ob es der Enquete-Kommission, die wir heute gemeinsam einsetzen wollen, gelingen wird, einen wesentlichen Beitrag zu dem zu leisten, was hier „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur"genannt wird, das muß sich in dem Umfang zeigen, in dem diese Kommission versucht, möglichst viel Wesentliches zu umfassen, wobei Wesentliches natürlich auch im Detail enthalten sein kann, jedenfalls im Leben der vielen einfachen Menschen, nicht nur solcher, die für prominent gehalten werden oder sich selbst dafür halten.Inwieweit diese Kommission, meine Kolleginnen und Kollegen, einen wichtigen Beitrag zur Vorbereitung über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe leisten kann, wie in unserer Geschäftsordnung der Auftrag solcher Kommissionen umschrieben ist, das wird aus meiner Sicht stark davon abhängen, wie deutlich sie sich vom gängigen Begriff des Untersuchungsausschusses lösen kann. Es sollte gerade dieser Kommission gelingen, sich mehr im Wortsinn der französischen „Enquete" als einer ernsthaften, gründlichen Rundfrage zu entfalten, also möglichst viele gute Quellen zu erschließen, um zu hilfreichen Schlüssen zu gelangen.Dies wird im hohen Maße davon abhängen, wie es den Mitgliedern der Kommission gelingt, so ehrlich wie irgend möglich mit der Vergangenheit umzugehen. Meine Freunde sind dazu bereit. Mein Freund Markus Meckel wird unseren Antrag speziell begründen. Ich möchte Sie um Aufmerksamkeit für einige generelle Erwägungen bitten.Möglichst viel Aufdeckung und Aufklärung muß her, zumal wo es um die Machtzentren von Partei, Staat und sogenannter Staatssicherheit geht, und wo es sich um das Ausmaß der unterschiedlich festzumachenden Verantwortung handelt. Gerade hierzu wird ein Beitrag von der Kommission erwartet, die einzusetzen der Bundestag heute eingeladen ist.Das Aufarbeiten des SED-Erbes sollte — hier folge ich meinem Vorredner — als gesamtdeutsche Aufgabe verstanden werden, auch als Beitrag zu jener Aussöhnung, die Wahrhaftigkeit voraussetzt. Nicht zuletzt sollte sie als Hilfe für die junge Generation verstanden und, wenn wir einigermaßen gut beraten sind, weithin parteiübergreifend wahrgenommen werden. Da finde ich mich, wenn ich es richtig verstanden habe, weitgehend in Übereinstimmung mit dem, was der Kollege Eppelmann vor mir vorgetragen hat.Wir haben wahrlich genug, worüber zu streiten sich lohnt. Wir brauchen einander nicht auch noch im Weg zu stehen, wo es um das Unglück geht, das dem anderen Teil Deutschlands widerfuhr, als wir miteinander die Nazi-Herrschaft hinter uns hatten.
Ich halte gerade nach den Jahren 1933 bis 1945 wenig oder nichts von der Therapie des Gras-wachsen-Lassens. Es kann aber auch nicht darum gehen, Schuld dort abzuladen, wo sie nicht hingehört.
Es kann jetzt schon gar nicht angehen, daß die Landsleute in den mißverständlich so genannten neuen Ländern alleingelassen werden, wo es darum geht, das ihnen unter sowjetischer Herrschaft und
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Willy Brandtkommunistischer Diktatur auferlegte bedrückende Kapitel deutscher Geschichte aufzuarbeiten und so ordentlich wie möglich hinter sich zu bringen.Dabei füge ich noch einmal hinzu: Viele halten den Blick nach vorn für noch wichtiger. Ich würde die nicht tadeln, die so denken und das sagen. Ich würde ihnen aber gerne nahebringen wollen, daß es sich leichter und besser arbeitet, wenn das eigene, wenn das innere Gleichgewicht in Ordnung ist.
Was dürfen wir von der Enquete-Kommission erwarten? Nicht, daß sie anderen, die unabhängig forschen und dann — sicher nicht immer übereinstimmend — urteilen, die Aufgaben der Geschichtsschreibung abnimmt. Dazu ist das Parlament nicht da; damit wäre es überfordert. Aber einen wichtigen Beitrag zum Verständnis dessen, was wirklich war und was nicht in Vergessenheit geraten darf, das mag eine Enquete-Kommission leisten können. Das wäre wichtig genug, und dafür möchte ich den mit dieser Aufgabe betrauten Kollegen gemeinsam mit den zu benennenden Sachverständigen jeden möglichen Erfolg wünschen.Die Kommission kann auch nicht das leisten, was nach unserer Rechtsordnung der unabhängigen Justiz obliegt.
Ich komme darauf zurück. Sie darf sich nicht die mancherorts zu verzeichnende Einengung auf die Stasi-Thematik zu eigen machen.
Es ist aus meiner Sicht ein besonders bedrückender Teil dessen, womit wir es zu tun haben, verbunden mit der mancherorts zu verzeichnenden Verzerrung, die die Hauptverantwortlichen fast aus dem Blickfeld verschwinden läßt.
Nun sind die Auseinandersetzungen um oder über die DDR-Vergangenheit im Gange, kaum daß wir von Vergangenheit sprechen mögen. Das wird einige Zeit in Anspruch nehmen, mindestens so lange, wie einschlägige Medien meinen, Echo zu finden und mit Hilfe einstiger Übeltäter ihr Geschäft zu machen.Ich meine, wir dürfen uns nicht damit abfinden, daß die schwer genug errungene Demokratie zum Spielball unverantwortlicher Elemente wird und daß StasiLeute, zu Wahrheitszeugen hochstilisiert, sogar zu Profiteuren ihrer Verdächtigungen werden können.
Es ist bedauerlich, wenn auch sehr verständlich, daß sich in der Ex-DDR ein erhebliches Maß an Frustrationen, seelischen Verkrampfungen und Neigungen zur Flucht aufgestaut hat. Die überwinden zu helfen ist alle Anstrengung wert. Da wird man versuchen müssen, den Blick zu weiten, nicht nur in Richtung auf das neu zusammenwachsende Deutschland und das sich qualitativ weiterentwickelnde Europa, zu dem wir gehören, sondern auch hin zu jenen Entwicklungen, die der Umbruch in den verschiedenen Teilen des früheren sowjetischen Imperiums ausgelöst hat. Nicht um Nabelschau kann es also gehen, sondern um die Ausweitung des Gesichtskreises. Es geht auch darum, Neigungen zur Selbstgerechtigkeit zu widerraten und erst recht Tendenzen der Selbstzerfleischung nachdrücklich zu widersprechen.Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wichtiger als manches andere ist jetzt, daß unsere Landsleute in den alten deutschen Ländern, die man die neuen nennt, sich nicht zu Gefangenen der Vergangenheit machen lassen, sondern den Blick freibehalten oder freibekommen für die großen Aufgaben, die vor ihnen, vor uns miteinander liegen. Wichtig ist auch, daß jenen bei uns hier im Westen widersprochen wird, die sich zu Moralrichtern aufwerfen möchten über Landsleute, die sich unter der SED-Herrschaft haben zurechtfinden müssen.
Takt ist insoweit ebenso anzumahnen wie ein wenig Nachdenken darüber, wie man sich wohl selbst zurechtgefunden haben würde. Auch insoweit können Findungen der Enquete-Kommission eine Hilfe sein.Mein besonderer Respekt — und ich denke, ich darf sagen, unser besonderer Respekt — galt und gilt jenen Personen und Gruppen, die den Mut zur friedlichen, gleichwohl gefahrvollen Opposition auf brachten. Dies kann freilich nicht das Verständnis für die vielen mindern, die aus ihren Nischen das Bestmögliche für sich und ihre Familien zu machen versuchten. Wir sollten uns miteinander hüten, den Stab über Landsleute zu brechen, die in die Maschen des Unrechtsregimes verstrickt wurden und es nun nicht immer ganz leicht haben, Vergangenes auf anständige Weise hinter sich zu bringen.
Das gilt ausdrücklich auch für viele der seinerzeitigen SED-Mitglieder, die unter Druck, ihrer Kinder wegen oder auf Grund von Illusionen — natürlich hat es auch das gegeben — eine engere Bindung zum Regime eingegangen waren, als es ihnen im nachhinein selbst verständlich erscheinen mag.Wer sich daran erinnert, daß es nicht die erste Diktatur war, der sich unser Volk in diesem Jahrhundert unterworfen hatte, wird wenig Neigung verspüren, mit Steinen zu werfen. Ich bin sicher nicht der einzige, der gestern in der „Süddeutschen Zeitung" gelesen hat, was Hans Heigert zum Thema zu sagen hat. Ich habe mir den Satz angestrichen, der da lautet:
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6716 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Willy BrandtAber es war nun einmal ihr Staat, und kaum einer von den 17 Millionen Deutschen hat 20, 30 Jahre lang zu hoffen gewagt, daß sich an diesen Verhältnissen irgend etwas ändern werde. Also hat man sich eingerichtet. Es war nun einmal das vorgegebene System. Kein Mensch kann leben ohne eine solche Vorgabe.Soweit der nicht parteigebundene Hans Heigert.Meine Damen und Herren, für ganz und gar unmöglich halte ich es mit meinen Freunden, jetzt über Personen, zumal aus dem kirchlichen Bereich, herzufallen, die viel Mühe darauf verwandten, mitmenschliche Hilfe zu leisten, und die einen wesentlichen Beitrag dazu beisteuerten, daß die voneinander getrennten Teile unseres Volkes nicht noch weiter auseinanderdrifteten. Die Kirchen in der ehemaligen DDR haben wahrlich dazu beigetragen, daß der Kontakt zwischen den Teilen Deutschlands nie ganz abzureißen drohte. Viele mühten sich in unsäglicher Kleinarbeit, für in Bedrängnis Geratene Anlaufstellen zu sein oder abgestimmtes Verhalten zu vereinbaren — bis hin zu den Tagen, wie wir uns erinnern, in denen sich die schon nicht mehr vereinzelte Opposition unter schützenden Kirchendächern zusammenfand. Nur Weltfremdheit kann vermuten lassen, daß mancherlei Hilfe ohne Kontakte mit Repräsentanten des Unrechtsregimes möglich gewesen wäre. Für mich ist es deshalb schwer, manche Vorwürfe zu verstehen, die heute erhoben werden.Erinnern wir uns im übrigen: Im Osten wie im Westen hatten wir — jedenfalls muß ich das für mich sagen, aber ich weiß, es gilt für die allermeisten — mit einer langen Perspektive der Zweitstaatlichkeit gerechnet und zu rechnen. Zumindest einige menschliche Erleichterungen — wenn auch noch so begrenzt wie im Falle der Reisemöglichkeiten — sollten bewirken, daß der Graben zwischen Deutschland und Deutschland nicht noch tiefer würde. Das steckte hinter dem Berliner Passierscheinabkommen vom Jahre 1963, das steckte hinter dem Grundlagenvertrag des Jahres 1972 und anderen Elementen einer Deutschlandpolitik aller Bundesregierungen; einer Politik, die, da wir jetzt dabei sind, aufzuarbeiten, gewiß auch kritisch hinterfragt werden darf.Dennoch ist es wert, sich der internationalen Zusammenhänge von damals zu erinnern. Unsere Bemühungen, so unzulänglich sie gewesen sein mögen, waren in die westliche Entspannungspolitik eingebettet, die auf die Sicherung des Friedens und, wo es irgend ging, auf die Wahrung der Menschenrechte abzielte und die einen gesamteuropäischen Bezugspunkt schaffen sollte. Das war der Sinn der Schlußakte von Helsinki vom Sommer 1975. Es darf inzwischen davon ausgegangen werden, daß Wirkungen dieser Politik in nicht unwesentlichem Maße zur Überwindung der kommunistischen Regime — nicht nur bei uns — beigetragen haben.
Hierfür gibt es jedenfalls starke Zeugnisse aus dem nichtdeutschen Osten.Ich denke, ich weiß selbst etwas — und andere mit mir — von der Gratwanderung verantwortungsbewußter Menschen in Diktaturen, übrigens auch davon, wie einen Verdächtigungen quälen können, die aus einem vom Schema abweichenden Lebenslauf abgeleitet werden. Doch würde es mich sehr wundern, wenn sich so rasch übergehen ließe, daß jemand wie der, der hier spricht, nicht erst 1989, sondern 40 Jahre zuvor, 1948 und 1949, von Berlin aus die internationale Presse mit nicht sonderlichem Erfolg darüber aufzuklären versuchte, was an Verfolgungen in der Sowjetischen Besatzungszone schon sehr früh und sehr brutal im Gange war.Muß ich uns daran erinnern, daß wir nicht nur diplomatisiert haben, sondern daß wir uns, wo es darauf ankam, auch nach Kräften unserer Haut gewehrt haben? Den Umbruch haben wir gewollt, nicht erst 1989. Dies sage ich ganz besonders im Rückblick auf die frühen Berliner Nachkriegsjahre mit dem Kampf gegen Zwangsvereinigung, der dort möglich war, und gegen die Blockade, dann gegen Panzer, Ultimaten und Einmauerung. Jene Deutschlandpolitik, die ich mitzuverantworten habe, hatte ihre diplomatische Seite — einschließlich des in Moskau 1970 deponierten Briefes zur deutschen Einheit. Zugleich war sie auf Selbstbehauptung gerichtet: menschlich, national und europäisch. Wer die Geschichte erst 1989 oder kurz davor anfangen läßt, kann gedanklich nicht anders als zu kurz springen.
1987 war man halt noch nicht so schlau wie 1989.
Sonst wären vermutlich die Aufmerksamkeiten für den Staatsratsvorsitzenden der DDR bescheidener ausgefallen.
Damit wir uns nicht mißverstehen: Ich war nicht gegen, ich war für jenen Besuch.
Er hat dem Besucher mehr Probleme bereitet als vom Hals geschafft.
Wenn die Geschichte der SED-Herrschaft aufgearbeitet wird, interessiert gewiß auch die Frage, ob die westliche Politik, wie manche meinen, oder jedenfalls sagen, dazu beigetragen haben könnte, die Lebensdauer der kommunistischen Regime unnötig zu verlängern. Ich glaube das nicht. Aber warum nicht offen darüber sprechen? Hätten wir im deutschen Fall beispielsweise die Wirtschaftsverbindungen kappen sollen? Ich meine das nicht, obwohl ich unter dem Schock des Mauerbaus von 1961 auch diese Frage aufgeworfen habe und mich aus Bonn eines besseren belehren lassen mußte. Übrig blieben damals wie bei einer späteren Gelegenheit, nämlich nach der Inva-
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Willy Brandtsion in Afghanistan, Sanktionen zu Lasten des deutschen Sports. Als ob das politisch irgend etwas hätte bewegen können!Das Aufarbeiten der Erfahrungen, die mit der innerdeutschen Politik gemacht wurden, darf nicht vom eigentlichen Problem ablenken. Die Sache der Einheit, die über uns kam und die wir zu einem Gutteil immer noch vor uns haben, heißt: zusammenfügen, neu zusammenwachsen lassen, was willkürlich und gewaltsam voneinander getrennt worden war. Ich trete keinem der furchtlosen Demonstranten vom Deutschen Herbst 1989 zu nahe, auch keinem Leidtragenden der hinter uns liegenden Jahrzehnte, wenn ich daran erinnere: Die Sache wurde spruchreif, als sich die Welt veränderte und Deutschland mit ihr. Den Zusammenbruch des sowjetischen Herrschaftssystems hat uns mit zuverlässiger Terminierung niemand voraussagen können, auch nicht, daß uns der Zerfall der östlichen militärischen Machtstrukturen so glimpflich davonkommen lassen würde. Wir sind allerdings auch insoweit noch nicht am Ende des Weges. Was ins Rutschen gekommen ist, kann weiter abgleiten und neue Unsicherheiten bewirken.Inzwischen war fast schon vergessen — bis es am Wochenende im schönen Bayern wieder wachgerufen wurde —, mit wieviel Freude man in den letzten Jahren Beifall spendete, wenn der Name Gorbatschow fiel. Er hatte es sogar verdient. Denn er ließ uns nicht nur rascher, als irgendwer noch in jenem Herbst 1989 vermutete, zur Einheit kommen. Er sorgte auch dafür, daß die Dinge auf einem friedlichen Weg geregelt wurden und keiner mehr ernsthaft daran dachte, militärische Mittel einzusetzen. Er scheiterte — aber was heißt hier schon „scheitern"? —, weil die Verhältnisse den eigenen Reformprojekten nicht hold waren und diese, zumal auf wirtschaftlichem Gebiet, viel zu kurz griffen.Daß man ihm applaudierte, wird den Beteiligten hoffentlich nicht irgendwann vorgehalten. Er war bekanntlich Kommunist.
Wenn wir ehrlich mit der Vergangenheit umgehen wollen, sollten wir die internationalen Zusammenhänge jedenfalls nicht aus dem Auge verlieren.
Es bleibt aus meiner Sicht wichtig, daß wir uns nicht zu Opfern von zuviel Pharisäertum und verlängertem Spitzelwesen machen lassen.
Ein vergeblicher Versuch, mag man fragen? Ich will das nicht glauben, sondern ich setze weiter darauf, daß wir über den bitteren Erfahrungen aus beiden Diktaturen den Sinn von Demokratie nicht vergessen.Damit wir uns richtig verstehen: Wer zurechenbares Unrecht begangen hat, muß dafür geradestehen. Er wird geltend machen können, auf welche Weise er in welche Verstrickung geriet. Er muß sich jetzt in einem Rechtsstaat verantworten, der keine wie auch immervom Recht abgehobene Legitimität zu beanspruchen hat.Ich beneide nicht die Justiz und hielte es für fatal, wenn sie sich — unbenommen ihrer eigenen unabhängigen Prüfung des Einzelfalls —, was die Wertung der nationalpolitischen Zusammenhänge angeht, allein gelassen fühlte.Allein kann die Justiz der großen Aufgabe gewiß nicht gerecht werden. Ihre am Einzelfall normierten Verfahren könnten sich, wie schon unterschiedliche Urteile zum gleichen Sachverhalt zeigen, für eine Gesamtbewältigung als untauglich erweisen. Eine bewährte Rechtsordnung darf nicht Schaden nehmen, indem der Eindruck entsteht, es würden die Untergebenen hinter Gitter geschickt und die Vorgesetzten ungeschoren davonkommen.
Aber ich hielte es für ungerecht, überforderte Staatsanwälte und Richter zur Zielscheibe von Groll über den Stand der Dinge zu machen, einen Stand der Dinge, von dem wir wissen, daß er von vielen im Osten, aber auch im Westen, mit Enttäuschung und Irritation begleitet wird. Eher wäre danach zu fragen, ob genug darüber nachgedacht worden war, wie sie mit dem fertig werden sollen, was ihnen aufgeladen wurde, und ob nicht ganz andere Vorkehrungen hätten getroffen werden müssen, vielleicht noch getroffen werden können, um im Länder-Bund-Verhältnis neue und wirksame Formen kooperativer Rechtshilfe zu entwickeln.Für unseren deutschen Neubeginn wäre es unnötig belastend, würde ein Aufarbeiten der Vergangenheit in dem Sinne betrieben, daß der rechtlich, politisch oder moralisch zur Verantwortung Gezogene sich wie zwischen zwei Spiegeln befindlich fühlte, um ein Bild eines tschechoslowakischen Schriftstellers, der jetzt auch Diplomat ist, zu gebrauchen: Er, der mit der Verantwortung Konfrontierte, meint, wenn er in den Spiegel vor sich schaut, er blicke in die neue Richtung, und doch ist es in Wirklichkeit die alte.Mit opportunistischem Verdecken oder voreiligem Vergessen haben solche Erwägungen nichts zu tun. Daß allein mit den Mitteln des Rechtsstaats die Vergangenheit nicht aufgearbeitet werden kann, wissen wir alle. Sorgfältig vorbereitete Foren, ein vieltausendfaches offenes Gespräch der Bürger und gerade auch die Kommission des Deutschen Bundestages können dabei helfen. Was wir dabei vor allem brauchen, ist die Kraft zur Differenzierung.
Aus dieser Kraft zur Differenzierung kann Konsens erwachsen. Und der Blick nach vorn darf dann nicht durch Gespenster der Vergangenheit verstellt werden. In diesem Sinne darf ich der Kommission eine überzeugende Arbeit wünschen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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6718 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Das Wort hat der Bundeskanzler Helmut Kohl.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war nicht meine Absicht, in dieser Debatte das Wort zu ergreifen, weil ich glaube, es ist wichtig, daß vor allem Kolleginnen und Kollegen aus den neuen Bundesländern — das ist jetzt der Ausdruck, Herr Brandt — hier sprechen und wir aufmerksam zuhören.
Aber nachdem ich auf Grund einer Bemerkung des Kollegen Brandt hier das Wort ergriffen habe, will ich zunächst einmal für die Bundesregierung sagen, daß wir im Rahmen unserer Möglichkeiten alles tun werden, um die Arbeit der Enquete-Kommission zu unterstützen. Ich halte diese Arbeit — hier stimme ich dem Kollegen Brandt zu — für einen der wichtigsten historischen Aufträge an unsere Generation. Denn ich bin weiterhin davon überzeugt, daß es uns gelingen wird, die materiellen Verhältnisse in den neuen Bundesländern in Ordnung zu bringen, daß wir jedoch sehr viel länger — hier stimme ich wiederum dem Kollegen Brandt zu — daran zu tragen haben werden, die seelischen Verwundungen dort zu heilen.
Herr Kollege Brandt, weil Sie den Vergleich gezogen haben: Ich erinnere mich noch sehr gut an die Diskussion — ich war damals noch Schüler —, als die Entnazifizierung begann. Damals haben manche im westlichen Teil unseres Vaterlandes, in der späteren Bundesrepublik, geglaubt, das sei in ein paar Jahren abgeschlossen. Wenn Sie heute die internationale Diskussion betrachten, stellen Sie jedoch fest, daß gerade jetzt, gegenüber dem wiedervereinten Deutschland, dies alles wiederkommt — und das wird so bleiben, solange Menschen leben, die die NS-Zeit ganz persönlich erlebt haben. Diese Erfahrung ist, glaube ich, wichtig auch im Blick auf das, was wir jetzt gemeinsam tun wollen.
Ich will meinen besonderen Respekt dem Kollegen Eppelmann bezeugen, der hier in einer sehr einfühlsamen Weise eine Richtung für diese Arbeit gewiesen hat. Ich möchte hoffen, daß wir das so begreifen.
Gemeldet habe ich mich, Herr Kollege Brandt, weil Sie eine Bemerkung machten, von der ich hoffe, daß sie nur mißverständlich formuliert war. Denn das, was Sie zum Besuch des damaligen Staatsratsvorsitzenden der DDR 1987 sagten, läßt sich natürlich so nicht halten, es sei denn, es soll eine Legendenbildung begründen.
Deswegen will ich das hier auch sehr präzise ansprechen.
Müssen wir diese Debatte jetzt hier so führen?
Meine Damen und Herren! Im Vorfeld des Besuches des damaligen Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker waren viele Gespräche darüber geführt worden, was für die Menschen in der damaligen DDR wie auch in der damaligen Bundesrepublik psychologisch erträglich sein würde. Ich stehe nicht an zu erklären, daß unter den vielen Entscheidungen in den beinahe zehn Jahren meiner Amtszeit für mich, Herr Kollege Brandt — Sie wissen dies —, die Entscheidung über den Ablauf dieses Besuches eine der schwierigsten war. Der Besuch mußte so ablaufen, denn sonst wäre er nicht zustandegekommen.Herr Kollege Brandt, was war nun das Ziel des Besuches? Ziel des Besuches war für uns doch, alles zu tun, um die Mauer etwas durchlässiger zu machen.
Ziel dieses Besuches war aus meiner Sicht, das, was wir nach meiner Amtsübernahme als Bundeskanzler eingeleitet hatten — ich sage das gerne einmal bei dieser Gelegenheit: auch tatkräftig unterstützt von Franz Josef Strauß —, fortzusetzen und mittels der Gewährung einer Kreditgarantie die Mauer durchlässiger zu machen. Daß es zu den Ereignissen des Jahres 1989, zum 9. November 1989, zum Fall der Mauer, kommen konnte, hat viele Gründe, die ihren Ursprung nicht in Deutschland hatten — aber auch Gründe, die ihren Ursprung in Deutschland hatten. Zu den wichtigen Gründen, die ihren Ursprung in unserem Land hatten, gehörte, daß bis zum Fall der Mauer viele Millionen Landsleute aus der damaligen DDR zu Besuch in die Bundesrepublik kommen
und bei dieser Gelegenheit erleben konnten, daß die ganze SED-Propaganda über die Verhältnisse in der Bundesrepublik verlogen und falsch war, und daß sie neue Hoffnung geschöpft haben, auch neue Hoffnung auf die Einheit unseres Vaterlandes.Wenn ich auf etwas von dem stolz bin, was in den vergangenen Jahren geleistet wurde, dann darauf, daß am Abend des 7. September 1987 —
— Das werden Sie nie verstehen, das weiß ich. Schon die Tatsache, daß Sie in diesem Augenblick diesen Zwischenruf machen, zeigt, daß Sie nicht in der Lage sind, überhaupt einmal etwas Bedenkenswertes von einem anderen zu akzeptieren.
— Ich denke nicht daran, die Frage jetzt zu beantworten.
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Bundeskanzler Dr. Helmut KohlFür mich war es an diesem Abend wichtig — darauf bin ich in der Tat stolz —, daß ich vor dem Forum der deutschen Öffentlichkeit in Ost und West — und nicht hinter verschlossenen Türen — und in Anwesenheit von Herrn Honecker sagen konnte, daß die Mauer fällt, daß die Einheit unseres Vaterlandes kommt. Daran habe ich, Herr Kollege Brandt, immer geglaubt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte den Bundeskanzler bitten, sich das Protokoll genau anzuschauen. Dann wird er feststellen, daß ich ausdrücklich gesagt habe: Ich war nicht gegen, sondern für den Besuch. Zweitens habe ich der Vermutung Ausdruck gegeben, daß der Bundeskanzler ebensowenig wie wir anderen 1987 hat wissen können, was 1989 passieren würde. Ich denke, das bleibt richtig.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Schmieder.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Mit der Einsetzung einer Enquete-Kommission unternimmt der Deutsche Bundestag einen Versuch, seinen Teil zur Aufhellung der Vorgänge und Zusammenhänge in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR beizutragen.
Herr Schmieder, wenn Sie einen Augenblick warten, bis wieder Ruhe eingekehrt ist. Ich darf die Kollegen bitten, wieder Platz zu nehmen.
Bitte.
Hierbei geht es um eine politische Aufarbeitung, Erklärung und Darstellung der Geschichte, um eine Verdeutlichung der Folgen der Diktatur der SED und der deutschen Teilung. Es geht um die Untersuchung der Lebens- und der Verhaltensweisen der Menschen und deren Befindlichkeiten. Es geht auch darum, die Formen der Unterdrückung zu analysieren.Durch die Unterdrückungsherrschaft der SED und durch die ständig expandierende Machtausübung unter verfeinerten Methoden waren Bedingungen entstanden, unter denen die Menschen im Osten leben mußten, denen sie sich anpaßten — einige willfährig, andere widerwillig —, wo einzelne Freiräume schufen und Widerstand leisteten und so die Voraussetzungen für die politische Wende herbeiführten. Es gilt, das Befinden der Menschen gestern und heute zu ergründen und Chancen für eine Rehabilitierung der Opfer und für eine Bestrafung der Täter zu schaffen.Gerade die Kenntnis der konkreten Lebensumstände der Menschen in der ehemaligen DDR würde meiner Meinung nach den Prozeß des eigenen Erkennens und der gegenseitigen Akzeptanz im Verhältnis der Bürger Ost/West im jetzt vereinten Deutschland wesentlich unterstützen.Dabei wird natürlich deutlich, daß die Menschen angesprochen sind. Die Geschichte kann eine einzelne Kommission nicht aufarbeiten. Und es sind die Menschen in Ost und West angesprochen. Es geht zwar vorrangig um die Offenkundigmachung der Geschichte der sowjetischen Besatzungszone und der DDR, aber es geht selbstverständlich auch um deren Einordnung in die gesamtdeutsche Geschichte und die Darstellung der Wechselbeziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten.Denn auch hier gilt der Grundsatz „actio gleich reactio": Eine Aktion auf der einen Seite bedingte, forderte oder ermöglichte bzw. begünstigte eine Aktion auf der anderen Seite. Deshalb müssen beide Seiten betrachtet werden.Bei aller Sorgfalt bei der Ergründung der einzelnen sachlichen Vorgänge und Zusammenhänge, die die Kommission leisten muß, bleibt natürlich der Mensch im Vordergrund; denn die Politik wird von Menschen gemacht. Also sind auch die Auswirkungen auf die Menschen in die Betrachtungen einzubeziehen, und die Empfindungen und das Denken über diese oder jene politische Darstellung bzw. Zwangssituation sind gleichfalls von Interesse.Es gilt zu ergründen, wo die Ursachen für Erscheinungen wie Desinteresse und Lethargie lagen. Es gab ja unbestritten eine Resignation vor den allgegenwärtigen Auswirkungen der Volksverdummung, vor den Potemkinschen Dörfern und den kommunistischen Losungen, die von einer Großtat zur anderen Wegbegleiter sein und zu Selbstverpflichtungen Anlaß geben sollten.Viele Bürger sahen diese Sachen einfach nicht mehr: die kommunistischen Losungen am Werktor, die roten Fahnen, die Verherrlichung der sowjetischen Filme und Sportler. Das war eben so, und damit gut. Nur wenige fanden die Kraft zum offenen Widerstand. Andere taxierten den Spielraum der Gesetze aus und gerieten damit auch in das Gesichtsfeld der Stasi. Die meisten aber hatten die Gegebenheiten zur Kenntnis genommen und versucht, den eigenen Lebensraum aufzubauen. Man zog sich zurück in die Familie, in seine eigenen vier Wände oder in seinen Garten.Die ersten drei bzw. vier Buchstaben des Namens eines bekannten, von vielen wie die Pest gehaßten Moderators des DDR-Fernsehens galten als Maß für Schnelligkeit, nämlich für Schnelligkeit beim Umschalten des Fernsehsenders, wenn man aus Versehen beim DDR-Sender gelandet war. Es gab aber auch noch andere Maßeinheiten für Schnelligkeit. Man war da erfinderisch. Ein „HON" z. B. entsprach etwa einem Viertel „SCHNI". Damit hatte sich das Problem. Man schaltete um, bzw. man schaltete eben ab oder auf Durchgang, z. B. bei den montäglichen „Roten Schulungen".Doch man konnte der SED nicht entfliehen. Alles war von deren Seite wohlorganisiert und kontrolliert — zum Wohle des Volkes selbstverständlich — und schließlich war außen ja noch ein Zaun drum herum.
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6720 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Dr. Jürgen SchmiederViele von denen, zu deren Wohl angeblich alles geschah, sahen mit zunehmender Deutlichkeit das drohende Ende. Durch den Überwachungsstaat eingeschüchtert, verspürten erst nur wenige die Kraft der Gleichgesinnten; andere kämpften für sich allein und sahen keine Chance für die Aktivierung der Masse. Eines aber einte alle und reihte auch viele von den einfach nur Unzufriedenen ein: Man war fertig mit dem Staat DDR und mit dessen Führung.Der Volksmund hatte seine eigene Interpretation der Symbolik der DDR-Flagge, nämlich: „An einem schwarzen Tag versprachen die Roten goldene Zeiten; doch jetzt haben wir einiges zu zirkeln, daß wir nicht unter den Hammer kommen und wieder Ähren lesen müssen. "Diese Erkenntnis, der erneute Wahlbetrug zu den Kommunalwahlen 1989 und das hochgestochene Jubelfest im Oktober 1989 gaben dann den letzten Anstoß: Die Zurückhaltung, die Angst vor der eigenen Courage und die Angst vor dem Unterdrückungsregime wurden überwunden. Oppositionelle Gruppen, allen voran das Neue Forum, riefen, und der Funke sprang über.All diese Prozesse gilt es jetzt zu ergründen und zu analysieren: Wie gelang es der SED, rund 16,5 Millionen Menschen zu beeinflussen, mitzumachen oder wenigstens stillzuhalten? Wie gelang es einigen, Kraft und Mut zu finden, um Auswege aus der gelähmten, weitestgehend neutralisierten Situation zu finden und ein ganzes Volk zu aktivieren?Hier hat die Enquete-Kommission ein reiches Betätigungsfeld. Es muß motiviert werden; und es wäre wünschenswert, wenn erreicht werden könnte, daß sich viele Bürger angesprochen fühlen und an der Erkennung und Identifikation der deutschen Geschichte teilhaben.Neben der Aufarbeitung im Bundestag mit parlamentarischen Mitteln — ich denke, die Enquete-Kommission ist dazu ein hervorragendes Instrument — muß es weitere Formen der Aufarbeitung und der Beschäftigung mit dieser Problematik geben. Einige Vorstellungen hierzu sind bereits bekannt, und man hört auch von ersten Aktivitäten. Es gibt Foren, Gesprächskreise an runden Tischen, Arbeitsgemeinschaften, Zirkel. Das ist gut so. Man kann hierbei keinen einzigen Tag auslassen und sollte, ja, man muß beim 8. Mai 1945 beginnen.
Es wäre nicht gerechtfertigt, das Aufgabenfeld der Kommission erst mit der Gründung der DDR beginnen zu lassen; denn auch und gerade in den Anfängen der sowjetischen Besatzungsherrschaft liegen die Wurzeln und Ansätze für viele spätere Fehlentwicklungen. Ebenso bestand keine Möglichkeit, durch die Besatzungsmacht verübtes Unrecht aufzuarbeiten und öffentlich darzustellen. Diese Chance bietet sich jetzt. Es geht hier nicht nur darum, nicht weiter Gras darüber wachsen zu lassen, sehr geehrter Herr Brandt, sondern — ich möchte das erweitern — man muß auch das Gras wachsen hören. Man muß hellhörig sein, auf bestimmte Probleme eingehen und natürlich allen Befindlichkeiten hier Rechnung tragen.Ein wesentlicher Punkt in diesem Zeitabschnitt ist die Erforschung des Wechselspiels und des Ausprägens der politischen Kräfte, allem voran die Parteienlandschaft, ausgehend von vier Parteien über die Drei- bis hin zur Fünf-Parteien-Landschaft. Wo lagen die Beweggründe, wo die Triebkräfte, welches waren die äußeren und inneren Zwänge? Hätte es sein müssen, oder wäre dieses oder jenes zu verhindern gewesen?Vor der Kommission, über deren Einsetzung wir heute beschließen, liegt eine umfangreiche und schwierige Aufgabenstellung; aber die Besetzung der Kommission sollte es ermöglichen, daß man auch unter Ansetzung eines relevanten Zeitumfanges erste gesicherte und inhaltsreiche Zwischenergebnisse erwarten kann. Ich gehe davon aus, daß die Kommission Ende 1993 einen ersten Zwischenbericht vorlegen sollte.In Punkt 5 des Antrages zur Einsetzung der Enquete-Kommission wird formuliert, daß sich die Enquete-Kommission den Inhalt des Auftrages zunächst selbst erarbeiten soll und ihn dann dem Bundestag bis zum 20. Mai als Beschlußempfehlung vorzulegen hat. Die Arbeit der Kommission beginnt also mit der Erledigung von Hausaufgaben. Es geht um die Ausgestaltung des Auftrages und meiner Meinung nach auch um die Fixierung eines geeigneten Arbeitstitels dieser Enquete-Kommission. Die jetzt gefundene Formulierung — Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der deutschen Teilung und der SED-Diktatur — wirft doch zumindest die Frage auf: Welche Geschichte soll denn hier aufgearbeitet werden? Auf der anderen Seite steht die Frage: Kann es sich denn hierbei schlechthin nur um Aufarbeitung handeln, Aufarbeitung eines Stapels von Geschichte, den man nach der Aufarbeitung zur Seite legt? Die Kommission kann aus meiner Sicht nur Erfolg haben — das darf ich hier noch einmal in aller Deutlichkeit sagen —, wenn jede Frage gestellt werden darf und versucht wird, auf jede gestellte Frage Antworten zu finden. Ich schließe mich da Herrn Eppelmann an, daß man keine parteitaktischen Spielereien zulassen darf und daß keine gegenseitigen Schuldzuweisungen stattfinden dürfen.
Die Enquete-Kommission darf nicht instrumentalisiert werden; denn andernfalls wäre ihre Arbeit umsonst.Durch meine Einführung ist hier gerade deutlich geworden, daß es eben nicht nur um Aufarbeitung geht, sondern im wesentlichen um Erkennung und Darstellung, Offenlegung und Identifizierung mit eben dieser Geschichte. Hier ist die Kommission gefordert. Die Kommission sollte sich zum Ziel setzen, die diktatorischen Machtstrukturen, die repressiven Unterdrückungsmechanismen dieser Macht einschließlich der Auswirkungen auf die Verhaltensweisen der Menschen im Osten Deutschlands vom 9. Mai 1945 an bis zur friedlichen Revolution sowohl in allgemeingültiger Art, aber auch exemplarisch und dokumentarisch aufzuzeigen.Zwischen 1945 und 1949 wurde im Osten Deutschlands an der Entstehung eines diktatorischen, politischen Systems gearbeitet, das in seinem Kern die
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Dr. Jürgen SchmiederErhaltung und den Ausbau der Machtstrukturen einer kommunistischen Partei — der SED — hatte. Unter dem Vorwand, es handele sich um Diktatur des Proletariats, wie man im nachhinein festzustellen wußte, bereitete sich die SED dort den Boden für ihre künftigen Machtstrukturen. Im Prinzip legte sie den Grundstein für ihr Machtpotential bereits bei der Vereinigung von KPD und SPD, zumindest in der Quantität.War diese Vereinigung wirklich Zwang, war sie Mittel zum Zweck, war sie notwendig? Auf all diese Fragen gilt es Antworten zu suchen. Die tatsächlichen Machtstrukturen blieben bisher vielfach verborgen. Diese aufzudecken und in ihrer wirklichen Durchdringung wichtiger gesellschaftlicher Bereiche deutlich zu machen, muß Ziel der Untersuchungen sein.Natürlich wird die Kommission hier schnell an den Rand des Machbaren, des in eigener Regie Machbaren. stoßen. Man muß sich zwangsläufig um die Zusammenarbeit mit anderen Forschungseinrichtungen bemühen. Ja, man sollte vielleicht gezielt Forschungsaufträge vergeben.Es gilt hier, unter dem Stichwort „Machtstrukturen" die Aufdeckung der eigentlichen Machthierarchie vorzunehmen und den Aufbau und die Arbeitsweise der SED zu ergründen. Gleichzeitig gilt es, die Differenzierung der einzelnen Machtbereiche innerhalb dieses Apparates, das Zusammenwirken mit anderen Parteien und Massenorganisationen, die Werbungsmethoden sowie Beitrittsmotive und die internen Motivierungsmechanismen zu eruieren.Es geht um eine Untersuchung der Einflußnahme der SED auf andere gesellschaftliche Bereiche hinsichtlich der Mittel, Methoden und Intensität der Einflußnahme, natürlich insbesondere gegenüber der Volkskammer, gegenüber den Staatsorganen auf Landes-, Bezirks- und Kreisebene, gegenüber dem Ministerium für Staatssicherheit, gegenüber der Justiz und gegenüber einzelnen Personen. Es geht um die Ergründung und Untersuchung der Einflußnahme der SED und des Staates auf die Kirche. Es geht um die Aufdeckung der tatsächlichen Funktionen der Blockparteien und Massenorganisationen sowie um die Ergründung ihres Umfangs der Teilhabe an der Macht.Zur Absicherung ihrer umfassenden politischen Herrschaft war es für die SED lebensnotwendig, Unterdrückungsapparate aufzubauen, die es ihr ermöglichten, selbst nicht als Unterdrückungsorgan in Erscheinung treten zu müssen. Hier geht es für die Kommission vorrangig darum, den Umfang, die Formen der Repressionen und die Vielfalt der Repressionsorgane zu ergründen und deren Arbeitsweise aufzudecken.Eine Aufgabe der Kommission muß folglich darin bestehen, diese Repressionsmechanismen darzustellen und hierbei folgende Sachverhalte aufzuklären und zu ergründen: Strukturen und Arbeitsweise des Ministeriums für Staatssicherheit in der Innen- und Außenwirkung; Repressionen durch die Organe der Justiz, insbesondere Mißhandlungen und Haftbedingungen; Menschenrechtsverletzungen, selbstverständlich unter Einbeziehung der Unterlagen von Salzgitter; Maßnahmen der Repression an den Grenzen durch alle dort tätigen Organe; Strukturen bzw. Organisationsstrukturen der Organe des nationalen Verteidigungsrates; Auftrag und Arbeitsweise der Sonderabteilung K 1 der Kriminalpolizei; repressive Funktionen der Kampfgruppen, der Zivilverteidigung und der Nationalen Volksarmee.Des weiteren geht es um die Klärung der Informations- und Kontrolltätigkeit der Kaderleitungen in den Betrieben, um Untersuchungen der Auswirkungen der Repressionsfunktion von politischen Schulungen, Kampagnen sowie von politischer Agitation und Propaganda. Es geht um die Ergründung der Rolle der SED-dominierten Bereiche wie Bildung, Kultur, Sport und Medien. Und es geht schließlich um die Ergründung der Rolle untergeordneter Strukturbereiche wie der Wohngebietsausschüsse und der Nationalen Front.Neben der Kenntnis der SED-Strukturen, der Hierarchie in dieser Partei, der Organisationsstrukturen untergeordneter Organe, neben dem Wissen um einzelne Unterdrückungsmechanismen geht es natürlich, wie eingangs schon gesagt, um die spezifischen Auswirkungen auf das Leben der Menschen. Diese Bedingungen haben die Mitbürger über 40 Jahre geprägt und deren Lebensinhalte bestimmt. Eine Untersuchung der Bedingungen ist für das eigene Erkennen und gegenseitige Akzeptieren von außerordentlicher Bedeutung. Deshalb sollte die Kommission einen wesentlichen Teil ihrer Arbeit gerade dieser Untersuchung widmen.Es geht hier, wie schon geschildert, um die Offenlegung des Umfangs und der Form des politischen Widerstandes, der politischen Verfolgung. Es geht um Beziehungen zwischen politischem Widerstand und Kirche, zwischen Kirche und Staat — denn schließlich reifte die friedliche Revolution unter dem Dach der Kirche —, und es geht um die Darstellung des Lebens in der Diktatur, insbesondere um die Klärung bestimmter Phänomene, die durch Anpassung, Desinteresse, Lethargie, Mitläufertum, Fanatismus, Verhetzung und Verdummung geprägt waren.Die Beschäftigung mit der Geschichte der letzten 40 Jahre Ostdeutschlands läßt sich eben nicht nur auf die Stasi-Frage und den Umgang mit dem riesigen Aktenberg, den diese Behörde hinterlassen hat, reduzieren. Vielmehr geht es bei der Beschäftigung mit der Geschichte darum, die von der SED maßgeblich und dominant gestalteten Prozesse im Osten unseres Vaterlandes zu ergründen, ihre Auswirkungen auf die Menschen darzustellen und die Geschichte von der Vergewaltigung und der Zwangsdeutung durch die SED zu befreien.Die Geschichte des Lebens der Bürger in der ehemaligen DDR in ihren inneren Zusammenhängen und in ihrer Wechselbeziehung innerdeutsch und mit dem Umland ist eigentlich eine weitestgehend unbekannte Geschichte. Helfen Sie mit, meine Damen und Herren, diese Geschichte ehrlich aufzuarbeiten, zu analysieren und damit transparent zu machen. Die F.D.P. ist dazu bereit. Es ist unsere Geschichte, ein Bestandteil der Geschichte des deutschen Volkes.
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Dr. Jürgen Schmieder Danke.
Das Wort hat der Abgeordnete Gerd Poppe.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Geschichte hat das Urteil über die SED-Diktatur gesprochen. Jedoch mit der bloßen Feststellung des Zusammenbruchs eines mehr als 40 Jahre aufrechterhaltenen Herrschafts- und Unterdrückungssystems können wir nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, sprich, den mühevollen Weg zur demokratischen Erneuerung der neuen Bundesländer und zur Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland gehen. Das können wir schon deswegen nicht, weil es sich um einen Vorgang von weltpolitischer Dimension handelt, in seiner Bedeutung bei aller Unterschiedlichkeit allenfalls vergleichbar mit dem Ende des NS-Regimes und dessen Folgen.Das Verschwinden der DDR von der politischen Weltkarte ist ein Bestandteil des Niedergangs des gesamten sowjetischen Imperiums, der Beendigung der Blockkonfrontation und des mit ihr verbundenen politischen und militärischen Status quo. Für die Deutschen brachte der Zerfall des östlichen Imperiums die langersehnte, wenngleich etwas hastig vollzogene Einheit, für die europäischen Völker des vormals sowjetischen Einflußbereiches immerhin die Aussicht auf eine baldige Rückkehr nach Europa. Und selbst die Menschen in der Dritten Welt, so weit sie in ihrer großen Mehrheit auch von einem menschenwürdigen Dasein noch entfernt sind, könnten nun, da sie nicht mehr Spielball der geopolitischen Interessen zweier Supermächte sind und sich darüber hinaus im Westen eine zunehmende Sensibilisierung in Menschenrechtsfragen anzudeuten scheint, vielleicht neue Hoffnung schöpfen.Was jedoch im Herbst 1989 in Leipzig und in Berlin, in Prag und Budapest so friedlich begann, was schließlich in Moskau und Sankt Petersburg den Versuch widerlegte, das poststalinistische System zu restaurieren, ist seitdem in eine lange Reihe gewaltsamer Auseinandersetzungen eingemündet, die uns jetzt täglich aufs neue erschrecken und die uns allesamt, gestandene Föderalisten, Demokraten und Politprofis aus dem Westen ebenso wie die mitunter belächelten Amateure oder die mit leicht unwilligem Kopfschütteln bedachten Moralisten aus dem Osten, reichlich hilflos aussehen lassen.Wollen wir den auf Grund der weltpolitischen Veränderungen entstandenen neuen Herausforderungen und Gefahren gerecht werden, wollen wir verantwortungsvoll und in Kenntnis der Befürchtungen anderer Völker unsere Rolle als Deutsche neu bestimmen, so werden wir darin um so glaubwürdiger, je offener und konsequenter wir mit unserer eigenen Vergangenheit umgehen.Darüber hinaus kann uns vieles, was wir an analytischer Arbeit zur Aufklärung der Strukturen und Mechanismen der SED-Diktatur leisten, den Blick für die Probleme Osteuropas öffnen. So viele Unter-schiede gegenüber der DDR es dort auch gab, so viel war andererseits an Analogien und Gemeinsamkeiten vorhanden. Die Aufarbeitung der DDR-Geschichte kann schon wegen der weltpolitischen Dimension der deutschen Einheit keineswegs nur als ein Problem der Ostdeutschen angesehen werden, und mitnichten ist sie gar ein den Ostdeutschen aufgezwungenes Produkt einer westdeutschen Siegerpose. Ich wehre mich ganz entschieden gegen die anläßlich der StasiAkten-Diskussion betriebenen Verkürzungen und Verballhornungen, seien sie nun aus einer Verunsicherung heraus oder in demagogischer Absicht entstanden, die dem Muster folgen: Der Wessi macht den Ossi platt.
Um ein deutsch-deutsches Problem handelt es sich schon deswegen, weil sich beide deutsche Nachkriegsstaaten aus der gemeinsamen Vergangenheit der NS-Diktatur und des von dieser verursachten Weltkrieges und seiner Folgen ableiteten und sich überdies auch permanent aufeinander bezogen. Die West- und die Ostdeutschen sind, wenngleich auf ganz unterschiedliche Weise, mit der Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit gescheitert. Die alten Verdrängungsleistungen mögen auch heute noch so manche daran hindern, sich allzu intensiv mit der Repression in der DDR zu beschäftigen. Vielleicht kann nun aber die gegenwärtige Diskussion neue Impulse auslösen, daß sich Deutsche in Ost und West offener als bisher auch jenem verdrängten Teil deutscher Geschichte zuwenden.
Ich erwähne dies nur als Möglichkeit, weil es ja auch nicht Gegenstand der heutigen Debatte ist.Durchaus aktuell scheint mir aber jene im Zusammenhang mit der Rolle der Kirchen aufgeworfene brisante und für manchen hier im Plenum sicherlich auch unbequeme Fragestellung zu sein, ob denn nun zu allen Zeiten die bundesdeutsche Politik gegenüber der DDR so und nicht anders nötig und richtig gewesen sei, ob der DDR nicht zu lange eine Stabilität zuerkannt wurde, die sie nicht besaß, ob es sich nicht gelohnt hätte, eher und aufgeschlossener auf die — wenn auch zahlenmäßig kleine — Opposition zuzugehen. Diese — so wird dem entgegengehalten — hätte sich erst im Zuge der Entspannungspolitik formieren können, da nur durch sie das Regime zu einem moderateren Verhalten gegenüber Andersdenkenden Anlaß gehabt hätte.Die jeweiligen Argumente sind hinlänglich bekannt. Manche meiner Zweifel bleiben jedoch — sowohl am roten Teppich für Honecker als auch an den Versuchen der ideologischen Koexistenz. Von den Zweistaatlichkeitsthes en mancher unserer potentiellen Bündnispartner will ich gar nicht erst reden. Ich will damit sagen: Die Untersuchung des Problems lohnt sich — ohne Blauäugigkeit, aber auch ohne Geschichtsfatalismus. Vielleicht vermittelt sie uns Einsichten über den Umgang mit heutigen Diktaturen. Soviel zur deutsch-deutschen Dimension.Sie werden feststellen, daß ich mit der Auflistung der Probleme vom jeweils größeren und vielleicht
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Gerd Poppepolitisch bedeutsameren zum jeweils bescheideneren und für uns überschaubareren komme. Die notwendige Einschränkung macht die Aufgabe, vor der wir stehen, trotzdem nicht leicht. Der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Aber ich schließe mich denjenigen an, die sagen, die Aufgaben einer Enquete-Kommission sollten präzise formuliert und in einem absehbaren Zeitraum abzuschließen sein. Eine Überfrachtung birgt das Scheitern in sich.Niemand aber wird uns verwehren, die Umrisse des Gesamtbildes im Hinterkopf zu bewahren, bevor wir uns der sorgfältigen Darstellung des Details zuwenden.Wenn nun über die konkrete Aufgabenstellung der Enquete-Kommission nachgedacht wird, so wird natürlich vor allem vom Leben der Ostdeutschen die Rede sein, von den Herrschaftsstrukturen, denen sie unterworfen waren, von den Repressionsmechanismen, den Opfern und Tätern, aber auch von den Auswirkungen im Alltag und den Möglichkeiten, dem scheinbar übermächtigen Apparat zu widerstehen.Ich hoffe, Sie sind in allen Fraktionen mit mir der Meinung, daß aus Gründen der Sachkenntnis und der elementaren Betroffenheit Abgeordnete und Sachverständige aus den neuen Bundesländern im Vergleich zur prozentualen Zusammensetzung des Bundestages überproportional in der Enquete-Kommission mitarbeiten sollten —
allen genannten deutsch-deutschen Gemeinsamkeiten zum Trotz.Ich meine, daß es der Sache dient und daß wir einen Anspruch darauf haben. Schließlich sind 1989 trotz aller Anpassung Hunderttausende aus ihren Nischen gekommen und haben mit Hilfe derer, die in Osteuropa viel eher als wir zum Protest fähig waren, mit Hilfe auch derjenigen, die mit den Füßen abstimmend dem Staat den Rücken kehrten, dazu beigetragen, daß das nur scheinbar stabile System ohne nennenswerte Gegenwehr in sich zusammenfiel.Die gewaltlosen Revolutionäre des Herbstes 1989 haben eine wichtige Vorleistung für die heute mögliche Analyse der Diktatur erbracht, indem sie deren Hauptwerkzeug, das Ministerium für Staatssicherheit, zerschlugen, auflösten, den größten Teil der Akten sicherten und seit jener Zeit mit großer Energie die Akteneinsicht für die Betroffenen forderten — an Runden Tischen, in Bürgerkomitees und in Parlamenten. Wenn ich an dieser Stelle die ostdeutschen Bürgerbewegungen ausdrücklich erwähne, so unternehme ich damit nicht wie in letzter Zeit mehrfach unterstellt wurde, einen Profilierungsversuch, den wir auf Grund einer uns im vereinten Deutschland drohenden Bedeutungslosigkeit angeblich nötig hätten. Weil es sich für uns nach wie vor um ein existentielles Problem handelt, ist das für uns vielmehr eine Frage der Selbstachtung und letztlich auch der Demokratiefähigkeit.An dieser Stelle möchte ich einige Anmerkungen zu den ersten Erfahrungen mit den Akten der Staatssicherheit machen. Es ist seit der Öffnung der betroffenen Akten einige Unruhe entstanden. HysterischeÜberreaktionen sind ebenso zu bedauern wie die mitunter zu vermutende bewußte Vernebelung von Fakten. Neue Legenden entstanden, wie z. B. die von der angeblichen Steuerung der Wende durch die Stasi. Unerträglich finde ich es, wenn die Opfer von einst nunmehr zu Denunzianten erklärt werden, einige Erfüllungsgehilfen des Regimes sich dagegen ihrerseits als Opfer darstellen.
Unerträglich finde ich es auch, wenn Stasitäter als Kronzeugen aufgerufen werden, um je nach Interessenlage andere zu be- oder entlasten,
wenn sie als glaubwürdig gelten, die von ihnen selbst angelegten Akten aber als unglaubwürdig
oder wenn sie sich andererseits unter Berufung auf eine ihnen von anderen Tätern auferlegte Schweigepflicht weiterhin in ihren Villen verschanzen.
Die Fortsetzung der öffentlichen Auseinandersetzung darf nicht behindert werden. Jedoch sind eindeutigere Feststellungen und zugleich eine sehr viel differenziertere Betrachtungsweise als bisher nötig. Nach der Durchsicht meiner mehr als 10 000 Blatt umfassenden „Sammlung" in den letzten zehn Wochen darf ich sagen, daß das Stasi-UnterlagenGesetz vorerst hinreichende Voraussetzungen für die Aufarbeitung dieser Akten bietet. Es gibt keine zwingenden Gründe für eine schnelle Novellierung des Gesetzes, erst recht nicht für eine Schließung der Akten.
Wichtig ist aber die vollständige Umsetzung des Gesetzes, vor allem die schnellstmögliche Einsetzung des vorgesehenen Beirats und die Schaffung der Benutzerordnung.Auch die Gauck-Behörde hat ihre prinzipielle Eignung unter Beweis gestellt. Allerdings bedarf sie größerer Unterstützung, um die Flut der Anträge in angemessener Zeit bewältigen zu können.Die Akten selbst sind durchaus geeignet, zur Aufklärung des gesamten Repressionsmechanismus beizutragen. Sie beschreiben nicht die ganze, aber immerhin einen Teil der Wahrheit. Es handelt sich um pedantische, meist in einer entsetzlich bürokratischen Sprache verfaßte Faktensammlungen monströsen Ausmaßes, die zu ihrer Bewertung unbedingt der Erinnerung der Betroffenen bedürfen. Erst dadurch werden sie für die Darstellung des Geschehenen verwendbar.Unangebracht wäre es aber andererseits, die von den stalinistischen Denkschablonen der Täter geprägten Fehlinterpretationen als Fälschungen anzusehen. Die übergroße Bereitwilligkeit der vielen Hel-
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Gerd Poppefershelfer machte ein solches Vorgehen überflüssig. Entscheidend war auch nicht die Bezeichnung als Inoffizieller Mitarbeiter, die Unterschriftenleistung oder die Annahme von Geld. Einzig entscheidend, gemäß den Intentionen der Stasi, für meine Begriffe auch entscheidend für die heutige Bewertung war die anhaltende Bereitschaft zur geheimgehaltenen Zusammenarbeit,
aus welchen Motiven auch immer.Die in den letzten Wochen in der Öffentlichkeit entstandenen Mißverständnisse und Spekulationen erweisen sich schon mit unserer heutigen Kenntnis als völlig unnötig. Eine Versachlichung erscheint dringend geboten. Ich habe die Hoffnung, daß die Enquete-Kommission dazu beitragen kann. Insbesondere gilt dies für die Benennung der eigentlich Verantwortlichen für die Bespitzelung und Unterdrükkung. So unverzichtbar die vielen Zuträger für das Gesamtgefüge auch waren, verantwortlich für Maßnahme- und Zersetzungspläne waren die Offiziere des Mf S
und ihre Auftraggeber in den verschiedenen Entscheidungsgremien der SED.
Die Entscheidungsmechanismen zur Durchsetzung des Machtmonopols der SED in allen gesellschaftlichen Bereichen harren bis heute der detaillierten Aufdeckung. Vor allem hierin sehe ich eine wesentliche Aufgabe der Kommission.Neben der Analyse der innerparteilichen Hierarchien kommt es darauf an, die formelle und personelle Entscheidungsgewalt des SED-Apparates auf allen staatlichen Ebenen sowie in der Wirtschaft darzustellen und zu verdeutlichen, in welcher Weise sie alle gesellschaftlichen Bereiche einschloß, von den repressiven Institutionen der Staatssicherheit, der Justiz, der Polizei, der Armee, des Strafvollzugs über die Betriebe, über das Gesundheits- und Bildungswesen bis hin zum Kindergarten.Zu untersuchen sind die Methoden der politischen Indoktrination u. a. mit Hilfe der Blockparteien, der Gewerkschaften und der Massenorganisationen. Die Abhängigkeit sämtlicher Institutionen von den Entscheidungen des SED-Apparats muß untersucht und dokumentiert werden, ebenso die besondere Rolle der Ideologie als Herrschaftsinstrument, transportiert u. a. über die Massenmedien, die Bildungseinrichtungen, den staatskonformen Kunst- und Kulturbetrieb.
Es wird vor allem auch darum gehen, die offenen und verdeckten Methoden der Repression offenzulegen. Für das Gros der Bevölkerung war die mittelbare Unterdrückung erlebbarer und wirksamer als die eher als exotisch angesehene unmittelbare Verfolgung durch Stasi und Justiz. Meist ging es nicht um dienackte Existenz, sondern um die Disziplinierung durch Gewährung kleiner Privilegien sowie durch deren Entzug. Mangelnde Anpassung wurde im allgemeinen durch ein abgestuftes System von Schikanen bestraft. Dazu gehörten beispielsweise die Verhinderung einer angemessenen Ausbildung, der Abbruch von Karrieren, Berufs- und Reiseverbote.Nun ist festzustellen, daß sich durchaus eine Mehrheit in diesem Gefüge von Anpassung und Disziplinierung einrichtete. Wer will heute darüber richten? Zweifellos gelten in einer Diktatur andere Verhaltensnormen als in einer Demokratie.Aber gerade, weil das so ist, wundere ich mich in diesen Tagen häufig darüber, in welcher Weise Menschen in den alten Bundesländern über eigenes Anpassungsverhalten in Extremsituationen spekulieren und wie sie daraus mitunter mehr Verständnis für die kleinen und mittleren Täter ableiten als für die Opfer.
Ich finde, das ist ein fragwürdiges Gedankenexperiment. Nicht die Selbstzweifel an der eigenen Widerstandsfähigkeit werden die Westdeutschen dazu bringen, die Ostdeutschen besser zu verstehen, sondern ganz im Gegenteil.Das eigentliche Phänomen, das letztlich auch den Herbst 1989 ermöglichte, ist die Widerstandsfähigkeit der Ostdeutschen trotz insgesamt 56 Jahren Diktatur, auch wenn sie vorwiegend nur in Form des privaten Rückzugs oder einer mühsam verschleierten Verweigerung bestand.
Schon die uns bisher vorliegenden Stasi-Akten belegen eindrucksvoll die Vielfalt solcher Widerstandsformen bis hin zu beeindruckenden Versuchen des aufrechten Ganges.Wir waren kein Volk von Widerständlern, aber noch weniger eines von Denunzianten.
Die Akten beschreiben nicht die Allmacht der Staatssicherheit, sondern die lange Geschichte ihres Scheiterns. Schon um dieses Nachweises willen müssen sie geöffnet bleiben.
Zur Aufarbeitung der Geschichte der SED-Diktatur gehört zwingend die Darstellung ihrer Grenzen. Deshalb müssen auch das Alltagsleben, die Bedeutung der Privatsphäre, die Rolle von Individuen und Gruppen und der Umgang des einzelnen mit der Macht gezeigt werden. Die Prüfung konkreter Fallbeispiele könnte dabei den zweifellos erheblichen Aufwand minimieren. Überhaupt könnten wir uns zur Arbeitsmethodik vorstellen, daß parallel zur Analyse der hier angedeuteten grundsätzlichen Themen Untersuchungsgruppen zur Behandlung exemplarischer Vorgänge in der DDR-Geschichte gebildet werden. Damit könnte eine möglichst große Anschaulichkeit der
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Gerd PoppeProblemfelder erreicht werden, was die öffentliche Diskussion auch schon vor Beendigung der Arbeit der Kommission erleichtern und möglicherweise schon in einem relativ frühen Stadium der Arbeit Anregungen für das Verfahren der Gesetzgebung wie auch für die Arbeit der Justizbehörden liefern könnte.Derartige Einzeluntersuchungen sollten sich sowohl auf die frühe DDR-Geschichte beziehen, z. B. auf die politischen Prozesse der fünfziger Jahre, die Zwangskollektivierung oder auch die Zwangsumsiedlung von Bewohnern der grenznahen Gebiete,
als auch auf die jüngere Geschichte, z. B. die Behandlung von denjenigen, die einen Antrag auf Ausreise stellten, möglicherweise im Zusammenhang mit den Ereignissen im Januar und Februar 1988 infolge der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration.Hier findet sich vielleicht schon eine Erklärung für den späteren Zusammenbruch des Regimes. Darüber hinaus würde eine große Gruppe von Menschen angesprochen, deren Handeln auf die Untrennbarkeit der Geschichte der beiden deutschen Staaten verweist, und es würde zugleich der Zusammenhang zwischen der Aufgabe der Kommission und der unmittelbaren Betroffenheit einzelner Menschen deutlich.Soll die Arbeit der Enquete-Kommission erfolgreich sein, so müßte sie sich aus zwei essentiellen Grundvoraussetzungen entwickeln. Die erste lautet: Die Geschichte des SED-Staates ist nicht hinreichend beschreibbar, wenn sie sich vordergründig auf früheres Herrschaftswissen bezieht, sondern nur, wenn sie aus der Sicht der Betroffenen nachvollziehbar wird. Die zweite Voraussetzung: Die Arbeit der Kommission kann nicht isoliert von anderen Formen der Aufarbeitung betrieben werden. Schlußfolgerungen aus der Stasi-Akteneinsicht, wissenschaftliche Forschung, rechtsstaatliche Verfahren, die vielfältigen Formen von bürgernahen Initiativen und Foren, die Arbeit von Betroffenenverbänden und die parlamentarische Arbeit sollten aufeinander Bezug nehmen und sich ergänzen.
Ich bin mir darüber im klaren, daß schon der hier nur angedeutete Katalog möglicher Aufgaben die Kapazität einer Enquete-Kommission bei weitem übersteigt. Die Überwindung parteipolitischer und eventuell noch vorhandener Ost-West-Barrieren vorausgesetzt, sollte uns jedoch eine sinnvolle Auswahl von Themen gelingen.Meine Damen und Herren, das Vorhaben einer umfassenden Aufklärung und Erneuerung verpflichtet uns dazu, die weißen Flecken der jüngeren deutschen Geschichte so vollständig wie möglich auszufüllen und zugleich die Flecken auf den weißen Westen der Täter sichtbar zu machen. Der Deutsche Bundestag wird seinen Beitrag dazu leisten. Wenigstens dies schulden wir den Opfern, in dem schmerzlichen Bewußtsein, daß volle Gerechtigkeit für sie immer unerreichbar bleiben wird.Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit lenkt uns nicht ab von den aktuellen Aufgaben der Vollendung der deutschen Einheit, sondern schafft erst eine ihrer unabdingbaren Voraussetzungen: die Erlangung des inneren Friedens.Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat nach der ersten Runde der Abgeordnete Duve.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich beziehe mich auf die Intervention des Herrn Bundeskanzlers und auf den Zorn, den ich mir während seiner Rede anscheinend zugezogen habe.
— Hören Sie mir doch bitte zu.
Es hat 1982/83 keine Wende in der Deutschlandpolitik gegeben.
Wir Deutschen können dankbar dafür sein, daß es diese Wende nicht gegeben hat.
Wir haben großen Respekt davor gehabt, daß Sie sich in die Kontinuität der Deutschlandpolitik Willy Brandts gestellt haben. Das war für uns alle sehr wichtig.
Dieser Fragestellung galt mein Zwischenruf, obwohl ich gesagt habe: Und Sie standen, Herr Bundeskanzler, damit in der Tradition Willy Brandts. — Wir haben großen Respekt gehabt, meine Kollegen von der Union, für den Weg, den Sie von der Ablehnung Helsinkis zu dieser Kontinuität zurückgelegt haben. Davor haben wir Respekt. Dieser Respekt bleibt auch. Aber wir haben keinen Respekt vor Versuchen, Geschichte jetzt umdeuten zu wollen. Das würde uns allen schaden.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Wolfgang Schäuble.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich werde auf die Kurzintervention des Kollegen Duve bei passender Gelegenheit noch eingehen.
— Dafür führen wir ja Debatten, damit wir auf daseingehen, was der Vorredner sagt. Wenn Sie das nicht
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Dr. Wolfgang Schäublewollen, sollten Sie eigentlich parlamentarische Debatten nicht führen wollen.
Lassen Sie mich an der Stelle nur eines sagen, Herr Kollege Duve. Es gibt vielleicht schon einen Unterschied, nämlich den, daß die Union an dem Ziel der Einheit in Frieden und Freiheit in diesen 40 Jahren, auch in den 80er Jahren, festgehalten hat
und daß dieses nicht bei allen Mitgliedern Ihrer Partei und Ihrer Fraktion in gleicher Weise der Fall gewesen ist, um eine sehr zurückhaltende Formulierung zu gebrauchen.
Herr Schäuble, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Schmude, bitte sehr.
Vielen Dank, Herr Schäuble. Würden Sie denn wenigstens zugestehen, daß bei allen Mitgliedern der SPD und ihrer Fraktion Übereinstimmung darin bestand, daß wir die Deutschen in beiden getrennten Staaten immer mehr zusammenführen, daß wir das weitere Umsichgreifen der Teilung und Trennung nicht zulassen durften und daß wir an der einheitlichen deutschen Nation als einer politischen Lebenswirklichkeit festhalten und diese stärken mußten? Würden Sie das bitte zugestehen?
Herr Kollege Schmude, das ist wahr, aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Sie haben eben auch die eine deutsche Staatsangehörigkeit zur Disposition gestellt.
Sie haben die Wiedervereinigung als Lebenslüge erklärt.
Sie haben nach der Öffnung der Mauer gesagt, man solle jetzt nicht von Einheit und solchem reden,
auch nicht von der Hauptstadt Berlin. Deswegen ist die ganze Wahrheit eben komplizierter, als sie sich in Ihrer Zwischenfrage erschließt.
Aber, Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich würde gerne dafür werben, daß wir diese Debatte nicht nur im Sinne einer Fortsetzung unserer westdeutschen politischen Auseinandersetzungen führen.
Herr Schäuble, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Nein, Frau Präsidentin, ich möchte im Augenblick zum Thema kommen. Aber ich bitte doch, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, sich nicht darüber zu beklagen, daß ich auf das eingehe, was der Kollege Brandt und was der Kollege Duve hier gesagt haben. Das muß wohl noch möglich sein.Gleichwohl finde ich, daß wir uns bewußt sein müssen, daß wir diese Debatte in einer Zeit führen, in der vielfältige Verletzungen spürbarer werden als zuvor, Verletzungen aus eben diesen 40 Jahren totalitärem Sozialismus und Teilung und auch als Folge des schnellen Wechsels zur Einheit, zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Sozialer Marktwirtschaft, wie wir sie in diesen 40 Jahren im Westen entwickelt haben.Bei den Diskussionen, die sich aus dem Zugang zu den Stasi-Akten ergeben, zerfließen die Grenzen zwischen Tätern und Opfern. Während auf der einen Seite das System der Stasi-Bespitzelung in seiner konkreten menschlichen Ausformung immer bedrükkender sichtbar wird, wächst auf der anderen Seite auch die Einsicht, daß nicht jeder Kontakt mit dem System schon zu einer Stigmatisierung führen darf und daß die Motive und Zwänge zu solchen Kontakten vielfältig waren und eben die ganze Skala zwischen Edelmut und Niedertracht ausfüllen konnten.Mich bewegt übrigens auch die Sorge, daß bei der medienwirksamen Konzentration auf einige wenige Personen, auf einige wenige Fälle von Opfern und Tätern sich eine Mehrheit vor allem der Menschen in den östlichen Bundesländern zunehmend unbeachtet, in ihrem persönlichen Schicksal vergessen sehen könnte, über 40 Jahre ausweglos unter einem totalitären System gelebt zu haben, in dem Bestreben, das Beste daraus zu machen, unter dem Zwang, sich anzupassen, für die eigene Lebensplanung oder für die Zukunftsperspektiven der Kinder Kompromisse einzugehen, aber eben auch in dem Willen, so anständig zu bleiben, wie es uns Menschen allgemein gegeben und möglich ist.Gerät nicht über diesem Schicksal einiger weniger, die jetzt im Vordergrund öffentlicher Aufmerksamkeit stehen, das Schicksal der vielen anderen zunehmend in Vergessenheit, die zumal in den ersten Jahren und Jahrzehnten unter der SED-Diktatur im Osten Deutschlands zu leiden hatten? Ich meine das Schicksal z. B. derer, die zwangsweise umgesiedelt, zwangsweise enteignet wurden, das Schicksal der Bauern, die in die LPGs gepreßt wurden, das Schicksal der zwangskollektivierten Gewerbetreibenden und Handwerker in den Städten. Wie viele Hausbesitzer wurden auf kaltem Wege enteignet, indem man ihnen systematisch die Mittel vorenthielt, um ihr Eigentum instand halten zu können! Wie vielen Menschen hat das SED-Regime die Möglichkeit genommen, sich ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen einzurichten, indem es ihnen etwa die gewünschte Ausbildung, den gewünschten Beruf reglementierte oder verweigerte! Wie vielen Menschen hat dieser Zwangsstaat das Recht genommen, sich frei zu ihrer Konfession zu bekennen und danach zu leben!
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6727
Dr. Wolfgang SchäubleDeshalb dürfen nach meiner Überzeugung über den noch so spektakulären Einzelschicksalen die nach Hunderttausenden zählenden Fälle der Unterdrükkung, Benachteiligung und Diffamierung nicht vergessen werden, die sich im täglichen Leben abspielten, das Hundertausendfache alltägliche Unrecht unter diesem Regime.
Wird denn die Diskussion zwischen denen, die die damalige DDR vor dem Mauerbau 1961 und wieder zunehmend in den 80er Jahren verlassen haben, und denen, die blieben, wirklich geführt — eine Diskussion, von der jeder weiß, wie notwendig sie ist, der sich noch erinnert, wie viele zwischen Gehen und Bleiben schwankten oder sich Vorwürfe machten oder machen lassen mußten, weil sie die Chance vor dem Mauerbau nicht genutzt hatten?Manche Diskussion, die derzeit scheinbar zwischenOst und West geführt wird, ist in Wahrheit Auseinandersetzung zwischen Menschen, die gingen, und Menschen, die blieben.Schon deshalb darf diese Debatte nicht nur zwischen den Deutschen im Osten geführt werden, obwohl ich Ihnen, Herr Kollege Poppe zustimme, daß Sie sich in dieser Debatte natürlich besonders engagieren müssen. Ich nehme an, daß Sie selber sagen müssen, daß Sie es mit mir zusammen als einen Skandal empfinden, daß während Ihrer Rede, Herr Kollege Poppe, nicht einmal ein einziges Mitglied der Gruppe Bündnis 90 bei dieser Debatte anwesend gewesen ist.
Das hat mit dem Anspruch Ihrer Kolleginnen und Kollegen nichts mehr zu tun. Auch das muß hier ausgesprochen werden, weil es zur Wahrheit gehört.
— Ja gut, aber auf diese Weise werden Sie nicht mehr, sondern überhaupt nicht mehr dasein; denn nur reden und überhaupt keinen mehr zum Zuhören zu stellen geht in parlamentarischen Debatten auch nicht.
Jedenfalls müssen auch wir im Westen uns an dieser Debatte beteiligen, weil wir ebenfalls betroffen sind. Die Teilung war unser gemeinsames Schicksal. So einfach konnte sich keiner selbst aussuchen, ob er in Freiheit oder Unfreiheit zu leben hatte. Es ist unsere gemeinsame Vergangenheit, um die wir uns gemeinsam mühen, unsere gemeinsame Last, unsere gemeinsame Verantwortung. Nur wenn wir das begreifen und uns danach verhalten, wird aus dieser Diskussion auch Einheit wachsen.Wir wollen eine sachbezogene Aufarbeitung dieser Vergangenheit, nicht die Jagd nach Enthüllungen. Nicht die DDR als Skandalgeschichte soll im Vordergrund stehen, sondern die systematische Aufarbeitung, Aufklärung der Zusammenhänge der ehemaligen DDR und ihre Auswirkungen auf Personen, gesellschaftliche Organisationen, das Staatsgefügeund auf die innerdeutschen und internationalen Beziehungen.Es scheint ja, als würde derzeit das Ausmaß von Elend und Unterdrückung erst richtig sichtbar: die Perfektion des Bespitzelungssystems, der Mißbrauch der Psychiatrie, um Unliebsame zu vernichten, Zwangsumsiedlungen, Zwangsadoptionen, die menschenverachtende Behandlung von Frühgeburten oder die Todestrakte in Bautzen, um nur einige der Perversionen eines der Menschenwürde des Individuums nicht verpflichteten Systems zu nennen.Aber sind alle diese schrecklichen Erkenntnisse wirklich so neu? Hatten wir das meiste nicht wenigstens in Umrissen auch schon in früheren Jahren gehört und wissen können, wenn wir es denn wissen und glauben wollten? Ist es vielleicht also so, daß manches an Wahrheiten in den letzten Jahren und Jahrzehnten zunehmend verdrängt wurde, und zwar in beiden Teilen Deutschlands gleichermaßen?
Verdrängt, vielleicht weil in den 70er und 80er Jahren die Scheußlichkeiten nach Zahl und Brutalität tatsächlich weniger wurden, wie überhaupt in der öffentlichen Diskussion vielleicht die 80er Jahre zu einseitig im Vordergrund stehen, obwohl die größeren Verletzungen ja schon lange zuvor zugefügt wurden? Aber verdrängt vielleicht auch, weil es unbequem, inopportun war, die Scheußlichkeiten zur Kenntnis zu nehmen, auszusprechen, weil von innen wie von außen der Versuch unternommen wurde, auf Besserung der Verhältnisse hinzuwirken?Dazu gab es ja kaum eine verantwortbare Alternative, solange jedenfalls Teilung und totalitärer Sozialismus auf Grund der weltpolitischen Konstellation einstweilen unabänderlich zu sein schien. Aber es könnte schon sein, daß dabei diejenigen, die immer noch auf menschenverachtendes Unrecht hinwiesen, leiser oder weniger gehört wurden.Deshalb gilt es um so mehr, sorgfältig und wahrhaftig zu prüfen und vor allzu eilfertiger Überheblichkeit zu warnen. Ich will einige Bemerkungen dazu beitragen: Einmal zu den Wirkungen, die von der Deutschlandpolitik der Bundesrepublik Deutschland ausgingen, weil wir uns ja auch mit den wechselseitigen Einflüssen im geteilten Deutschland beschäftigen, und zum anderen zu der jetzt intensiv diskutierten Rolle der Kirchen.Die Politik der Bundesregierung, für die ich von 1984 bis 1989 als für die deutsch-deutschen Beziehungen zuständiger Chef des Kanzleramtes Verantwortung tragen durfte, war, die Folgen der Teilung zu lindern, Verbindungen im geteilten Deutschland aufrecht zu erhalten, möglichst viele Begegnungen zwischen Menschen aus beiden Teilen Deutschlands zu ermöglichen. Das konnte nur in Zusammenarbeit mit denen erreicht werden, die für die Menschen in der damaligen DDR Verantwortung trugen, und das bleibt meines Erachtens auch aus heutiger Sicht im Ziel wie in der Methode richtig.Das war übrigens auch außergewöhnlich erfolgreich, wenn ab Mitte der 80er Jahre — ausgehend von
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Dr. Wolfgang Schäubleden Gesprächen des Bundeskanzlers Kohl, die er im März 1985 beim Amtsantritt Gorbatschows in Moskau mit Honecker führte, übrigens umgesetzt in meinen Verhandlungen mit Schalck-Golodkowski — statt ein paar tausend jüngerer Menschen jedes Jahr Millionen aus der damaligen DDR zum Besuch der Bundesrepublik Deutschland reisen konnten. Was das am Ende zum Wandel in der damaligen DDR im Herbst 1989 und zur Einheit Deutschlands beigetragen hat, sollte gewiß auch nicht so leicht unterschätzt werden.
Dem entsprach im Prinzip auch vieles an den Bemühungen, insbesondere in der evangelischen Kirche. Sie war von Teilung und totalitärem Sozialismus — und ist es sinngemäß auch in der aktuellen Diskussion — stärker betroffen, als die katholische Kirche, die in ihrer Diasporasituation leichter abgrenzbar war, für sich selbst wie für das totalitäre System. Ich will mir mein Urteil über die unterschiedliche Rolle und Betroffenheit beider Kirchen nicht anmaßen. Aber wer sich damit beschäftigt, darf gewiß nicht übersehen, daß die evangelische Kirche schon wegen der konfesionellen Grundstruktur mehr Kontakte im geteilten Deutschland aufrechterhielt, was Dienst an der Einheit war und bleibt.
Die evangelische Kirche schuf auch Freiräume für viele, die nicht immer nur aus Glaubensgründen solche Freiräume bei der Kirche suchten. Daß damit die Gefahr wechselseitiger Ansteckung zwischen Kirche und sozialistischem System größer war, ist wohl auch kaum zu bestreiten, aber das galt eben in beiden Richtungen. Jedenfalls haben das auch die Machthaber der damaligen DDR so gesehen. Deshalb war die evangelische Kirche mehr als andere Objekt von Infiltration und Bespitzelung.Für jeden, der sich an einer solchen Politik beteiligte — ob er nun aus dem Westen oder aus der DDR kam —, war das immer eine Gratwanderung, vielleicht zwischen Wandel und Annäherung. So wird sich jeder prüfen müssen, ob die notwendige Balance auch immer eingehalten wurde, ob insbesondere die grundsätzlichen Unterschiede im Werteverständnis wie im Ziel hinreichend deutlich bewußt blieben, wenn man sich mit den Mächtigen des sozialistischen Systems einließ, um eine mißliche Lage zu verbessern, solange man sie denn nicht grundsätzlich beseitigen konnte, ob man sich mit Teilung und Sozialismus nicht doch abgefunden hatte, ob der Wunsch, Linderung für die Opfer zu erreichen, bestimmend blieb oder ob diejenigen, die vom Regime verfolgt wurden, nicht eher als störend, lästig empfunden wurden.Ich habe z. B. die Prozessionen westdeutscher Politiker zu Honecker, etwa anläßlich der Leipziger Messe, immer eher als peinlich empfunden.
Auch bei dem Empfang für den Volkskammerpräsidenten Sindermann war es mir der Ehre eher zuviel.Umgekehrt habe ich dem Bundeskanzler Helmut Kohlgeraten, Honecker im September 1987 so zu empfangen, wie es geschah.Ich kann auch heute die Gefühle der Resignation und der Verbitterung vieler Opfer des SED-Unrechtsregimes gerade in jenen Tagen gut verstehen. Ich bleibe dabei, daß dies in der Abwägung aller Gesichtspunkte pro und kontra richtig war, etwa weil mit Honeckers Besuch die Öffnung im Reiseverkehr unumkehrbar wurde oder weil als Gegengewicht zu Fahne und Hymne eben jene auch im Fernsehen der DDR live übertragene unvergeßliche Rede Helmut Kohls stand.
Schonungsloseres zum Unrecht von Teilung und Unterdrückung mußte sich Honecker bis zu seinem Sturz niemals anhören.Die Regierung Kohl jedenfalls hielt am Ziel der Einheit in Freiheit fest, auch wenn sie dafür als reaktionär gescholten wurde. Über die Geraer Forderungen war mit uns nicht zu verhandeln. Wir waren in den Grundsatzpositionen unverrückbar fest. Vielleicht haben wir gerade deshalb in der praktischen Zusammenarbeit mehr erreicht, als es andere und als es insbesondere viele Sozialdemokraten für möglich hielten.
Die SPD jedenfalls muß sich fragen, was aus Deutschland geworden wäre, wenn wir eine eigene DDR-Staatsangehörigkeit akzeptiert hätten.
Oder wie wollen Sie den Opfern des SED-Unrechts heute erklären, daß sich sozialdemokratisch regierte Bundesländer seit Januar 1988 an den Kosten für die Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter nicht mehr beteiligt haben?
Sie reden immer von anderen Zeiten, aber Sie haben in der Endphase der Geschichte der DDR die größten Fehler in Ihrer Deutschlandpolitik gemacht.
Ich will hier wirklich keine parteipolitische Auseinandersetzung führen.
Nur, wenn wir uns unter dem Gebot der Wahrheit bezüglich der Geschichte von Teilung und SED-Unrecht beschimpfen, dann kann man die Unterschiede nicht so wegwischen; denn das ist gelogen und nicht die Wahrheit.
Die Aufarbeitung der Geschichte von SED-Diktatur und Teilung ist nötig, um Wirkungszusammenhänge zu verstehen, Verhaltensweisen zu bewerten, Maßstäbe zu finden und vor allem auch um Verantwortlichkeiten und Betroffenheiten offenzulegen. Das Unrecht von über 40 Jahren kann nicht oder allenfalls nur sehr unvollkommen wiedergutgemacht werden.
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Dr. Wolfgang SchäubleAber die Feststellung von Unrecht, Opfer und Verantwortung kann immerhin heilsam wirken. Vielleicht wird so auch das Verständnis wachsen oder erhalten werden, wie unter den Bedingungen von totalitärem Sozialismus und Teilung die Menschen in Deutschland lebten: zwischen Anpassung und Widerstand in Zeiten weltpolitischer Konfrontation und in Zeiten der Entspannung. Die Einsicht, wie man sich damit in Ost und in West arrangiert hat, kann auch Gemeinschaft stiften, kann helfen, die Teilung zu überwinden.Auch die Justiz, die Strafgerichtsbarkeit, muß ihren Beitrag zur Aufarbeitung leisten. Allerdings wissen wir und müssen immer wieder sagen, daß die Möglichkeiten im Rechtsstaat sehr begrenzt sind, mehr jedenfalls, als die Opfer von Unrecht und Unterdrükkung verstehen können. Aber so wie die Grenzen des Rechtsstaats unbedingt einzuhalten sind, so müssen auch die Möglichkeiten innerhalb dieser Grenzen ausgeschöpft werden.
Da Strafverfolgung nach dem Grundgesetz grundsätzlich Ländersache ist, finde ich nicht in Ordnung, wie sich die Bundesländer insgesamt bei der Verfolgung von Regierungs- und Vereinigungskriminalität verweigern bzw. wie sie das mit dieser Aufgabe allein überforderte Land Berlin im Stich lassen.
Zu dem Ausschöpfen der rechtsstaatlichen Grenzen gehört für mich auch, daß wir gesetzgeberisch klarstellen, daß die Verjährung der Strafverfolgung von SED-Unrecht gehemmt war, solange eine Verfolgung während des Bestehens der DDR praktisch nicht stattfand.
Der Prozeß der politischen wie der strafrechtlichen Aufarbeitung des SED-Unrechts ist zusätzlich kompliziert wegen des historisch ganz einzigartigen Prozesses, in dem SED-Regime und Teilung überwunden wurden: von der Fluchtbewegung über Ungarn und der CSFR zu den massenhaften Protestkundgebungen, die zunächst teilweise auch als Alternative zur Massenflucht verstanden wurden, zur Einsicht in die Unhaltbarkeit der Situation in der herrschenden SED mit dem Sturz Honeckers und dem Übergang zu Krenz und Modrow, wobei ersterer eine Episode blieb und aus letzterem eine Übergangsregierung bis zu den freien Wahlen am 18. März wurde, nach denen dann die erste und einzige demokratisch legitimierte Volksvertretung der ehemaligen DDR nicht etwa die alte Ordnung mit einem Federstrich für null und nichtig erklärte, sondern sich schrittweise an ihre Änderung machte. Einen eigentlich revolutionären Akt hat es auf diesem Weg nicht gegeben. Das ist nicht zu kritisieren, weil der Weg zu Einheit und Freiheit nur so unblutig und wahrscheinlich überhaupt nur so gelingen konnte.
Aber die Beschäftigung mit der Vergangenheit wird schwieriger, wenn sich der Übergang so fließendvollzogen hat, daß schon deshalb ein einfacher Schlußstrich nicht gezogen werden kann. Das schafft gewiß auch zusätzliche Konflikte. Nicht jeder in Deutschland kann so einfach ertragen, daß etwa den Hauptrepräsentanten des früheren Unrechtregimes heute im wesentlichen der Prozeß nur wegen Veruntreuung von SED-Vermögen gemacht werden soll
oder auch daß etwa Herr Modrow im frei gewählten Parlament des vereinten Deutschlands sitzt,
oder gar ein Vertreter der PDS im Brandenburgischen Landtag Vorsitzender des Untersuchungsausschusses in Sachen Stolpe ist.
— Für das Verfahren gegen Herrn Schalck-Golodkowski ist die Staatsanwaltschaft im Lande Berlin zuständig.
Ich verweise Sie auf die Aussagen der Frau Justizsenatorin Limbach, SPD. — Im übrigen zeigen Ihre Zwischenrufe nur, daß Ihnen an einer ernsthaften Erörterung der Probleme nicht sehr gelegen ist, daß Sie sie eher fürchten.
Ich jedenfalls frage mich, wie es auf viele Menschen wirken muß, wenn im Brandenburgischen Landtag im Untersuchungsausschuß in Sache Stolpe ein Mitglied der PDS Vorsitzender ist.Ich habe den historischen Ablauf gelegentlich als unvollendete Revolution bezeichnet. Man könnte auch sagen: unvollkommene Revolution. Zu den damit verbundenen Verwerfungen gehört auch, daß der Umschwung seit Herbst 1989 zumindest nach eigenem Verständnis und in der Wahrnehmung der Medien wesentlich von vielen mitgestaltet wurde, die sich zuvor nicht unbedingt im Widerstand oder in fundamentaler Opposition zu Sozialismus und Teilung befunden hatten.Ich habe den Konflikt zwischen Bleiben und Gehen, den viele Menschen in der früheren DDR aushalten mußten, schon erwähnt. Manche, die geblieben waren und sich im Herbst 1989 engagierten, hingen an der Eigenstaatlichkeit der DDR, glaubten an die Reformierbarkeit von Sozialismus und DDR. Das gab es übrigens in Ost wie in West gleichermaßen. Der Kollege Brandt hätte dies natürlich auch erwähnen müssen.Sie waren dann überrascht, wie schnell aus dem Streben nach Reformen und Freiheit auch der unwiderstehliche Wunsch nach Einheit wurde, wie sich der Satz „Wir sind das Volk" in den Ruf „Wir sind e i n Volk" weiterentwickelte und wie sich in den ersten freien Wahlen am 18. März 1990 eine klare Mehrheit für die Grundzüge der im Westen entwickelten Ordnung entschied. Ich habe für solche Betroffenheit auch Verständnis, finde aber, daß, wer sich für Reformen in der damaligen DDR engagierte, als die Zeit reif
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Dr. Wolfgang Schäubleschien, deswegen noch nicht einen Monopolanspruch auf Widerstand und Verfolgtsein hat.
Auch die Wende selbst im Herbst 1989 ist in der damaligen DDR nicht nur von der Bürgerbewegung erzwungen worden, sondern hat gewiß auch viel mit der Übersiedlungswelle und damit auch mit unserer Politik des Offenhaltens und der Nichtausgrenzung zu tun.
Das alles schafft Verletzungen und macht den Prozeß der Aufarbeitung so schwer, wobei umgekehrt auch hinzugehört, daß mit dem schnellen Wandel und der Herstellung staatlicher Einheit die Sache noch nicht erledigt ist, sondern die Bereitschaft, die Teilung zu überwinden, von uns allen, in Ost wie in West, fortdauernd gefordert wird.
Noch stehen wir bei der Aufgabe, Unrecht und Teilung zu überwinden, eher am Anfang. Deshalb gilt es zunächst, auch für die Enquete-Kommission, die richtigen Fragen zu stellen.Einiges lehren uns die Erfahrungen der letzten Jahre schon heute: Gebrauchte Menschen, wie Lothar de Maizière gesagt hat, im Sinne unserer Vergangenheit sind wir alle, in Ost wie in West.Schon deshalb war übrigens die Blockflöten-Diskussion, wie sie von vielen Linken ab 1990 geführt wurde, voreilig, überheblich, ungerecht.
Das Nachdenkliche, was der Kollege Willy Brandt zu den Mitgliedern der SED gesagt hat, steht ja schon in einem schrecklichen Gegensatz zu den Reden, die die Sozialdemokraten im Jahre 1990 und im Jahre 1991 in diesem Hause gehalten haben.
Das ist schwer erträglich für uns.
Wenn Sie manches an unseren Äußerungen beschwert, überlegen Sie sich doch einmal die Widersprüche zwischen dem, was der Nachfolger von Willy Brandt als Parteivorsitzender der SPD von diesem Pult aus in den letzten Jahren zu der Blockflöten-Diskussion beigetragen hat, und dem, was Willy Brandt heute zu den Mitgliedern der SED gesagt hat. Schwer zu ertragen für Ihre Partner in parlamentarischen Auseinandersetzungen!
Eine Zeitlang konnte man aus Ihren Reden fast den Eindruck gewinnen, als wären für das Unrecht in der früheren DDR nur die sogenannten Blockparteien verantwortlich, allenfalls noch die Politik der Regierung Kohl.
— Aber Herr Thierse, Sie waren noch gar nicht hier,als schon so geredet worden ist. Es wurde kaum nocherwähnt — Herr Vogel hat es nicht erwähnt —, daß esdie SED war. Und davon, welche Rolle viele SPD-Funktionäre und -Mitglieder aus Ost und West bei der Vereinigung von SPD und KPD 1946 auch aus freien Stücken spielten, ist in jener Blockparteien-Diskussion überhaupt nicht mehr die Rede gewesen.
Wieviel Entmutigung
— Herr Kollege Conradi, hören Sie einmal zu; denken Sie mal an die Opfer —,
wieviel Entmutigung, Herr Thierse, mag es für die Menschen in der damaligen DDR bedeutet haben
— ich sage es so lange, bis Sie zuhören —, daß der Sozialismus in der DDR im Westen in manchen politischen wie in vielen sogenannten intellektuellen Kreisen so viel verständnisvolle Sympathie fand.
Zu den Erfahrungen der letzten Zeit gehört auch, daß sich keiner leicht der Eigengesetzlichkeit unserer westlichen Medienwelt entzieht, die ja Verführung genauso wie grausame Betroffenheit beinhalten kann. Manche, die heute bitter darüber klagen, haben gestern noch sehr den Glanz von Kameras und Schlagzeilen genossen. Deshalb ist es unwahr, wenn jetzt in der Debatte über die Stasi-Akten behauptet wird, der Westen walze den Osten platt.
Es waren Vertreter aus der früheren DDR schon vor dem 3. Oktober 1990 und aus den ostdeutschen Bundesländern danach selbst, die die Öffnung der Akten am entschiedensten forderten, auch gegen manche Mahnung aus dem Westen, daß daraus neue Verletzungen entstehen müssen.Wir brauchen mehr Ehrlichkeit und weniger Verdrängung, und wir brauchen faire Maßstäbe.
— Herr Duve, Sie machen — —
— Darm war es Herr Conradi. Aber Sie machen jetzt schon wieder einen Zwischenruf. Sie haben sich vorhin beklagt, daß man Ihnen nicht so genau zuhöre. Meine Sorge ist, daß Sie überhaupt nicht zuhören, weil Sie ständig nur reden. Aber sei es drum.Ich sage jedenfalls: Wir brauchen faire Maßstäbe.
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Dr. Wolfgang SchäubleWer über de Maizière mit Häme herzog, tut sich heute bei Stolpe schwer.
— Sie schreien immer, wenn es weh tut. Deswegen schreien Sie ruhig laut, damit wir auch wissen, daß Sie getroffen sind.Wer sich in der ehemaligen DDR zurechtfand, muß mit Fundamentalkritik gegen die unter dem Grundgesetz gewachsene Freiheitsordnung behutsam sein, wenn er nicht die Frage riskieren will, ob er sich mit Teilung und Sozialismus doch besser abgefunden hatte als mit Einheit und Freiheit.
Wem es um Demokratie und Freiheit geht, der muß den Willen der Mehrheit zur Einheit, auch zur schnellen Einheit, respektieren.
Herr Kollege Schäuble, würden Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Ullmann gestatten?
Bitte sehr.
Herr Schäuble, sind Sie der Meinung, daß Ihre Darstellung der Rolle von Herrn de Maizière in Ihrem Buch über den Vereinigungsprozeß fair ist?
Ja, ich denke, daß ich mich in meinem Buch nach besten Kräften, die mir zur Verfügung und zu Gebote standen, bemüht habe, meinen Freund Lothar de Maizière in seiner Rolle und auch in seinen Widersprüchen, denen wir alle ausgesetzt sind, fair zu würdigen.
Ich finde auch, daß derjenige, der für die Aufarbeitung von Unrecht und für Wiedergutmachung steht, nicht nur an die Oppositionellen der 80er Jahre denken darf, sondern daß er auch an die Opfer seit 1945 denken muß, gleichgültig, ob sie heute im Westen oder im Osten leben, wenn sie denn überhaupt noch leben.
Die Enquete-Kommission kann einen Beitrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit leisten. 40 Jahre totalitärer Sozialismus und Teilung haben tiefe Wunden geschlagen. Wenn die Debatte über die Vergangenheit Nachdenklichkeit und Verständnis fördert, kann sie auch über alle Betroffenheit Heilung schaffen.
Lew Kopelew schreibt in der Schlußbetrachtung seines Buches „Und schuf mir einen Götzen" die folgenden Sätze:
Der Vergangenheit kann man nicht entrinnen, und dazu ist es nötig, sich zu erinnern, an alles zu erinnern, was mit uns, mit unserem Land, mit der Welt geschehen ist, nichts zu verbergen, nichts zu unterschlagen, immer wieder aufs neue Zurück-
liegendes und kürzlich Geschehenes überdenken.
In der Zukunft blüht die Vergangenheit, in der Vergangenheit reift die Zukunft, schreibt Anna Achmatowa. Darauf hoffe auch ich, auf die heilsamen Kräfte des Gedächtnisses.
Das Wort hat nun der Kollege Markus Meckel.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Was wir hier eben erlebt haben, zeigt, wie schwierig das ist, was wir vorhaben. Ich bin beschämt über die Diskussion der letzten Minuten. Viele große Erwartungen der Menschen im Osten unseres Landes sind mit dieser Kommission und mit dem verbunden, was hier auch im Bundestag geschehen soll. Ich hoffe, daß das, was wir dann tun werden, an die beiden ersten Redner der heutigen Debatte anknüpft
und zur Klärung, zur wirklichen Differenzierung und zu fairen Maßstäben führt. Denn mit dem, was wir heute beginnen wollen, stellen wir uns eine Aufgabe, die für ein Parlament bisher wohl ohne Vergleich ist. Die Aufarbeitung der eigenen Geschichte ist eine Aufgabe, die wir in Deutschland nicht zum erstenmal haben, der sich ein deutsches Parlament in dieser Weise aber zum erstenmal stellt.Das gesamtdeutsche Parlament versucht, seinen Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte der DDR als eines Teils der deutschen Geschichte zu leisten. Es macht damit deutlich, daß es eine Geschichte ist, die uns alle angeht.In wie unterschiedlicher Weise dies der Fall ist, zeigt auch diese Debatte.Die Aufarbeitung dieser Geschichte ist eine gesamtdeutsche Verantwortung und muß deshalb gemeinsam geschehen. Diese zweite deutsche Diktatur betrifft uns in Deutschland eben alle; Rainer Eppelmann hat dies eindrücklich dargestellt. Wir Deutsche sind zumindest in der Weise alle Betroffene, als es an uns allen gemeinsam ist, mit dieser Geschichte fertigzuwerden.Ich bin davon überzeugt, daß da, wo es uns gelingt, wirklich zu Differenzierungen zu kommen, alle ausgestreckten Zeigefinger wieder in der Hand verschwinden werden.Wer selber in der DDR gelebt hat, hat natürlich ein ganz besonderes Verhältnis zu dieser Geschichte. Sie hat unseren Lebensweg geprägt, so geprägt, daß ich eine Frau im Herbst 1989 habe sagen hören, sie habe 40 Jahre umsonst gelebt. Mich hat dieses Wort zutiefst erschreckt, sagt es doch so viel über die vergangene Gesellschaft, aber auch über die Menschen, die so etwas sagen können.Es ist viel Unrecht geschehen, Unrecht, durch das allein sich dieser menschenentmündigende Staat so lange halten konnte. Die Opfer dieses Unrechts for-
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Markus Meckeldern heute Gerechtigkeit. Wir stehen vor vielen Fragen, die wir heute noch nicht beantworten können. Diese Kommission wird intensiv an ihnen arbeiten müssen.Deutlich aber ist: Die Art und Weise, wie wir mit diesem Unrecht umgehen, wie es uns gelingt, diese Geschichte zu verarbeiten, hat für viele Menschen im Osten Deutschlands direkte Auswirkungen auf ihr Vertrauen in die Demokratie.
Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist Verantwortung für die Opfer der Vergangenheit und für die Zukunft der Demokratie. Heute sind viele Menschen enttäuscht. Sie hatten von einem Rechtsstaat erwartet, daß diejenigen, die für das Unrecht der vergangenen Jahrzehnte verantwortlich sind, für dieses Unrecht vor Gericht zur Verantwortung gezogen werden. Es ist ja wirklich ein Skandal, daß bisher kaum einer der Hauptverantwortlichen wegen dieser Schuld vor Gericht steht, während die Handlanger und Befehlsempfänger die Strafe trifft.Es ist für viele schwer zu lernen, daß es in einem Rechtsstaat keine Strafe ohne Gesetz geben kann, daß bis zum Beweis der individuellen Schuld von der Unschuld auszugehen ist. Jetzt haben die — so sagen viele —, die kein Recht kannten und es verdrehten, die ihr Interesse zum Recht erklärten, den Nutzen von dieser strengen Rechtsauslegung.Das ist richtig; man kann es verstehen. Andererseits gehört das nun einmal zu den festen Prinzipien der so lange ersehnten Rechtsstaatlichkeit und darf nicht aufgegeben werden.Und doch stellen sich Fragen, die weiter diskutiert werden müssen. Es kann doch wohl nicht sein, daß ein Diktator zu Beginn seiner Herrschaft nur alles Recht außer Kraft zu setzen braucht, um dann für nichts mehr zur Verantwortung gezogen werden zu können.
Die Diskussion muß geführt werden, welches Recht hier eigentlich angewendet werden kann und muß, um Recht zu schaffen. Doch es ist wichtig, zu betonen: Diese Kommission kann und sollte zwar ein Forum auch für diese Diskussion sein und sie voranzutreiben versuchen; die juristische Aufarbeitung der Vergangenheit aber ist ihre Aufgabe nicht. Hier muß es bei der klaren Unterscheidung zwischen Parlament und Justiz bleiben.Unsere Aufgabe ist die politische Aufarbeitung dieser Vergangenheit. In den letzten Monaten ist viel darüber gestritten und nachgedacht worden, wie sie geschehen kann. Mir sind dabei zwei Grundsätze wichtig:Erstens. Es kann kein Monopol auf eine Aufarbeitung der Geschichte geben. Sie ist ein langer Prozeß, der von möglichst vielen auf allen gesellschaftlichen Ebenen getragen werden muß. Die Auseinandersetzung mit der eigenen persönlichen Geschichte ist genauso wichtig wie die Darstellung der historischen Zusammenhänge und der gesellschaftlichen Strukturen und das Gespräch miteinander, auch zwischen Opfern und Tätern. Kunst, Kultur und Wissenschaft haben dabei eine langfristige Aufgabe, die für die Gesellschaft und das öffentliche Bewußtsein in dem einen Deutschland von nicht zu überschätzender Bedeutung ist.Zweitens. Die Aufarbeitung der Geschichte kann nicht stellvertretend geschehen. Ich kann es nicht für andere tun, und andere können es nicht für mich tun. Man kann es aber selber so tun, daß es beispielgebend für andere ist.Es ist also die Aufgabe des Bundestages, sich für sein eigenes Handeln bessere Voraussetzungen zu schaffen. Die bessere Klärung der DDR-Wirklichkeit wird zu eigenem Handlungsbedarf führen. Eine genauere Kenntnis dieser Zeit wird für den Umgang mit den Verhältnissen und den Menschen, die von dieser Geschichte geprägt sind, nicht ohne Folgen bleiben können.Die letzten Wochen haben wieder sehr deutlich gemacht, wie schwierig es ist, mit der Vergangenheit in der DDR und ebenso der Vergangenheit mit der DDR sachgemäß umzugehen. Die Instrumentalisierung dieser Vergangenheit für die gegenwärtige politische Auseinandersetzung haben wir soeben wieder und schon vorher mehrmals auch beim Streit um Manfred Stolpe erlebt.Gleichzeitig zeigt sich immer wieder, wie wenig es bis heute gelungen ist, zu einem klareren öffentlichen Verständnis für die DDR-Wirklichkeit zu kommen, viel weniger noch zu einer wirklich angemessenen Einschätzung und Beurteilung der Situation und von Verhaltensweisen. Aber genau das ist notwendig.Die Öffnung der Archive der Staatssicherheit für die Betroffenen führte zu immer neuen Enthüllungen. Gleichzeitig zeigt sich vielfach die Unfähigkeit, mit solchen Texten umzugehen, wenn man glaubt, daß diese Akten als letzte Wahrheitsquelle benutzt werden können. Es besteht die Gefahr, sich in der öffentlichen Diskussion nur noch der Kategorien der Staatssicherheit zu bedienen, mit denen man eben kein wirklichkeitsgetreues Bild malen kann.Manche sind zu der Konsequenz gekommen, man solle die Akten wieder schließen. Genau das aber darf nicht passieren. Das Wissen der Täter von einst würde für sie dann zu einem Monopol, das gern teuer verkauft wird. Jede Denunziation würde für wahr gehalten werden, da sie nicht überprüft werden könnte. Die Menschen haben ein Recht, das Herrschaftswissen vergangener Zeiten, das auf unterschiedlichste Art zusammengetragen wurde, den Tätern von einst zu entreißen und in ihren Akten ihrer Geschichte aus der Sicht der Staatssicherheit wiederzubegegnen. Das ist oft hart. Aber das Recht darauf gehört einfach zur Verarbeitung dieser Geschichte. Die Opfer haben ein Recht, zu sehen, was die Absichten dieses Machtapparats waren, wie man sie kaputtmachen wollte und welche unmenschlichen Mittel man dabei benutzte.Erst wo offengelegt wird, was war, wird auch persönlich Vergebung und Versöhnung möglich sein. Die Glaubwürdigkeit von Institutionen und auch von
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Markus MeckelParteien hängt daran, wie offen sie mit ihrer Vergangenheit umgehen.Versöhnung braucht Wahrheit.Es muß jedoch klar sein: die Stasi-Akten allein sind nicht die Wahrheit. Die Stasi war ein Teil des Systems der Unwahrheit, in dem wir lebten und dessen ganze Wirklichkeit wir erst noch in den Blick bekommen müssen. Gewiß verdichtete sich in ihr der absolute Wahrheits- und Machtanspruch der Partei. Sie war Schild und Schwert der Partei und hatte eine doppelte Funktion: Sie sollte den Herrschenden Sicherheit durch Bedrohung und Angst und den Beherrschten den Eindruck der Allmacht und Allwissenheit der Herrschenden geben, dies beides übrigens nicht zufällig alte göttliche Attribute. In ihr wird die menschenverachtende Entmündigung dieses Systems besonders deutlich. Deshalb sind die öffentliche Aufmerksamkeit und die persönliche Wut und Betroffenheit der Menschen hie' natürlich besonders groß. Statt die Personalakten zu schließen, wie manche fordern, brauchen wir möglichst bald auch die Aufarbeitung der Sachakten der Staatssicherheit sowohl als auch der der Parteien und des Staatsapparates.Mit dem Zugang zu diesen Akten haben wir eine neue Grundlage, die vergangene Wirklichkeit nun besser zu erfassen; denn die gesetzlichen Grundlagen dafür sind geschaffen.Wir können hier nur darum bitten, daß auch die Kirchen ihre Akten über das Verhältnis zum Staat öffnen. Gleichzeitig, denke ich, wird es notwendig sein, auch die Akten des innerdeutschen Ministeriums zu öffnen.Das Bemühen um eine wirklich differenzierte Darstellung der DDR-Wirklichkeit auf breitem Kenntnisstand ist eine zentrale Voraussetzung für die dringend erforderliche politische Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte, dem Leben in ihr und ihrer Bewertung.Es gehörte zu diesem System, in dem wir lebten, nicht offen zu sein, sich nicht durchsichtig zu machen. Man kann dies an vielen Beispielen darstellen, nicht nur an der strikten Geheimhaltung von Umweltdaten. Die meisten Menschen in der DDR wußten deshalb auch nicht, wo und durch welche Mechanismen die Entscheidungen fielen. Es war immer nur klar: schuld ist die Partei. Und das war natürlich auch richtig.Partei, Staat und Stasi waren eine undurchsichtige Einheit, die Begriffe austauschbar, weshalb die Begriffe Partei und Staat für viele im Osten bis heute belastet sind. Ich glaube, daß der normale DDR- Bürger auch in der Vergangenheit z. B. mehr Minister aus der Bundesregierung kannte als Politiker oder gar Minister des eigenen Landes; sie hatten einfach keine Bedeutung und nichts zu sagen. Wichtig war eben nur der Spitzenmann in einer zentralistischen Kommandogesellschaft.Für mich selbst war in den 70er Jahren das Buch von Zdenek Mlynar „Nachtfrost" wichtig, in dem er die Vorgeschichte und die Ereignisse in Prag 1968 erzählt, und zwar aus der Innenperspektive. Es war wichtig für mich, weil man hier endlich einmal in einem ähnlichen Apparat Entscheidungsabläufenachvollziehen und daraus auch seine Schlüsse ziehen konnte.So ist es kein Zufall, daß wir heute oft noch zuwenig von den strukturellen Zusammenhängen und Verantwortlichkeiten wissen. Dabei ist es für unsere Beurteilung heute von großer Bedeutung, zu wissen, welche Kompetenzen z. B. bei einem Vorsitzenden des Rates des Bezirks lagen, bzw. wie die Kommunikationsabläufe zwischen Partei, Staatsapparat und Stasi waren. Natürlich sind auch die Blockparteien, die Massenorganisationen und ihre Rolle in diesem System mit zu untersuchen.Wir werden bei all diesen Fragen genau zu unterscheiden haben zwischen dem, was man heute weiß, und dem Horizont, aus dem man damals handelte. Gerade auch letzteren zu rekonstruieren wird wichtig sein. Wir werden heute diese ganze Geschichte neu ansehen und fragen müssen, wo wir die damalige Situation heute anders einschätzen müssen als damals, und dann natürlich auch zu Bewertungen unseres eigenen Handelns kommen: Wann haben wir uns eben einfach nur geirrt? Wo und wie haben wir uns einspannen lassen in dieses System? Wann waren wir feige und opportunistisch? Dabei ist klar: Feigheit und Opportunismus sind nicht strafbar. Doch wann haben sie einen in eine Situation gebracht, in der wir schuldig geworden sind? Wie groß war der Druck wirklich, so im normalen Alltag? Wer glaubte wirklich, daß das, was er tat, richtig war? Wann ist von Verrat zu sprechen? — Fragen, die schwer zu beantworten sind, selbst wenn man das Leben in der DDR kennt.Das Leben in dieser Diktatur hatte viele Schattierungen. Eine schnelle Beantwortung der obigen Fragen, besonders durch Menschen, die im Westen gelebt haben, kann nicht erfolgen. Deshalb ist es gut, wenn immer wieder auch geäußert wird: Wer weiß, was ich im Osten getan hätte? Man muß dann aber andererseits natürlich auch darauf achten, daß diese Formulierung dann nicht heißt: In der Dämmerung sind alle Mäuse grau — als wäre es egal, wie man sich verhalten hat. „Man mußte ja", lautet dann die allgemeine Entschuldigung. Und fast alles scheint entschuldbar, was ich von der Möglichkeit der Vergebung deutlich unterscheiden möchte.Der zentrale Unterschied zwischen der DDR und einem demokratischen Staat war die fehlende Unterscheidung von Staat und Gesellschaft. Alles sollte beherrscht und gelenkt sein. Jedes selbständige Handeln und Denken galt als gefährlich — und war es für diesen Staat auch wirklich. Jeder Versuch, selbst Verantwortung zu übernehmen und sich für die eigene Wirklichkeit zuständig zu fühlen, mußte mit Bedrohung rechnen. Initiative und Verantwortungsbereitschaft waren eine Gefahr für die Herrschaftsstrukturen.Von dem Versuch der Vermeidung dieser Gefahr war das Bildungssystem, vom Kindergarten bis zum Studium, geprägt. Indoktrination und Disziplinierung waren die wichtigste Zielstellung. Ein wichtiges Zeichen dafür war auch die alles durchdringende Dimension des Militärischen. Selbst bei Mathematikbüchern mußten die Autoren den Nachweis erbringen, daß sie die Wehrbereitschaft fördern.
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6734 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Markus MeckelRecht im wirklichen Sinne gab es nicht. Ein feudales System von Privilegien sollte die Menschen lenken, was vielfach auch gelang. Recht war — wie im Schulbuch und bei Marx zu lernen — das Instrument der herrschenden Klasse. Wo aber Verantwortungsbereitschaft und Rechtsbewußtsein nicht gefördert und entwickelt werden, kommt es zu einem Defizit an Gewissensbildung, oder, wenn ich das altmodische Wort benutzen kann, an Sittlichkeit. Alles, was nützt, scheint erlaubt.Kultur wurde als Ideologieträger mißbraucht. Mit Zuckerbrot und Peitsche wurde versucht, Künstler in der Linie zu halten; nicht selten gelang das. Gleichzeitig gab es aber die ständige Angst des Staates vor einer freien und eigenständigen Kultur. Da es diese dann doch immer wieder gab — gerade noch geduldet oder auch verfolgt —, war die Sucht der Menschen nach Büchern und gutem Theater ungeheuer groß.All das hat langwirkende Folgen hinterlassen. Es war und ist ein Wunder, daß es trotz all dieser zerstörenden Mechanismen so viele aufrechte, verantwortungsbewußte und wundervolle Menschen im Osten Deutschlands gibt.
Während die Wahl in der früheren DDR den Herrschenden immer wieder zeigte, daß es noch klappt, die Leute ohne allzu große Bedrohung in Schach zu halten, daß sie einfach folgten, weil Angst und Anpassung so groß sind, zeigt andererseits das stetige Anwachsen der Stasi an, wie sehr die SED wußte, daß sie sich des Volkes nie sicher war, und auch, daß mit den Jahren offensichtlich der Mut wuchs, doch wenigstens im kleinen einmal zu widerstehen, nein zu sagen, dem eigenen Gewissen zu folgen statt dem, was verlangt wurde. Es gab viele Formen des Widerstehens oder wenigstens des Versuchs, sich herauszunehmen und nicht mitzumachen, vom Rückzug in die Nische, von der Ausreise und der gezielten Verweigerung, vom Nichtaufsagen eines Gedichts bis zur Wehrdienstverweigerung und zum Sich-Versammeln in Gruppen, die gesellschaftliche Fragen thematisierten, und vieles mehr.An dieser Stelle müßte man auch auf das Handeln der Kirchen eingehen, der einzigen nicht gleichgeschalteten Institutionen in diesem Staat. Sie haben für die Menschen in der DDR unendlich viel geleistet. Ich möchte das ausdrücklich betonen.
Natürlich gab es auch Fehleinschätzungen, Versagen und Schuld. Ich will das jetzt nicht weiter erläutern, denke aber, daß auch hier gilt, was schon gesagt wurde: Versöhnung und Glaubwürdigkeit erwachsen allein aus der offenen und öffentlichen Darstellung dessen, was war.Meine Damen und Herren, mit dieser Enquete-Kommission — das wird immer deutlicher — haben wir eine nicht leichte Arbeit auf uns genommen. Ich habe am Anfang auf die Schwierigkeit hingewiesen, die auch in dieser Debatte deutlich wird, und auf die Belastungen, die von ihr ausgehen. Die Anträge, die wir vorliegen haben, weisen ebenso wie die Rede am Anfang dagegen doch in die Richtung, daß es viel-leicht — was ich hoffe — möglich sein kann, zu einer Übereinstimmung, zu einem Konsens in der Aufgabenbeschreibung zu kommen.Wir brauchen für die Arbeit in dieser Kommission die Öffentlichkeit als Korrektiv. Vielleicht aber werden wir auch manchmal versuchen, als Korrektiv einer pauschalisierenden Öffentlichkeit aufzutreten. Ich hoffe, daß es uns gerade angesichts der nicht geringen Schwierigkeiten, die Aufgaben zu begrenzen und zu operationalisieren, gelingt, zu möglichst klaren Konsequenzen für den Bundestag zu kommen. Dies kann und darf nicht erst am Ende dieser Arbeit, sondern hat immer wieder zwischendurch zu geschehen.Eine Bemerkung zum Schluß: Durch die Sitzverteilung im Bundestag ist klar, daß Bündnis 90 nur verhältnismäßig in der Kommission vertreten sein kann. Doch möchte ich mich an dieser Stelle für unsere Fraktion noch einmal sehr entschieden dafür aussprechen, daß die, mit denen wir nicht erst 1989 politisch gearbeitet haben und die mit uns im Herbst 1989 sehr viel bewegt haben, auch einen gleichberechtigten Sachverständigen im Ausschuß erhalten können.
— Wenn ich höre, daß dies inzwischen geregelt ist, freut es mich, daß Sie dem zugestimmt haben. Daß dieses Recht in diesem Fall auch der PDS zukommt, dürfte kein Argument dagegen sein.Ich danke Ihnen.
Nun hat das Wort der Innenminister des Landes Sachsen, Herr Heinz Eggert.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unter der Parole „Wir sind das Volk!" erhob sich die Bevölkerung der ehemaligen DDR gegen ein Unrechtsregime, das die Menschen im östlichen Teil Deutschlands über 40 Jahre lang bevormundet, ausgenutzt und unterdrückt hat. Dadurch, daß keine Gewalt angewandt wurde, geschah dies alles mit einer von aller Welt bewunderten Würde.Diese Würde ist jetzt durch einen unwürdigen Umgang mit der Aufarbeitung der Vergangenheit in Gefahr. Immer dann, wenn Unwürdigkeit in einer Vergangenheitsbewältigung auftaucht, ist auch der innere Frieden in Gefahr.
Mit dem Slogan „Wir sind ein Volk!" traten einige Zeit später viele Deutsche für die deutsche Einheit ein und gaben damit zu verstehen, daß sie kein zweites Experiment „Sozialismus" mehr wollten. Denn trotz großer Ideale und vieler Ideen sah man keine Chance, in überschaubarer Zeit eine menschenwürdige Gesellschaftsordnung zu entwickeln. Nach dem, was wir heute über die metastasenhafte Durchsetzung aller Bereiche in der DDR durch die Staatssicherheit
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Minister Heinz Eggert
wissen, wäre allein schon dadurch ein zweites Experiment überhaupt nicht mehr gelungen.
Mit etwas menschlicherem Antlitz und wenig zugegebener Demokratie hätten sich die Herren von gestern als die Herren von morgen erwiesen und ihre Herrschaft forgesetzt; denn die Strategie dazu war schon entworfen. Das hätte uns im Osten vielleicht die letzte Kraft und auch die letzten Möglichkeiten gekostet, den Westen Milliarden an Krediten, die letztlich — wie das DDR-immanent war — nicht viel bewirkt hätten, es sei denn, die Funktionärskonten im Ausland wären verstärkt worden.
Ich weiß, daß es vielen nachdenklichen und kritischen Mitbürgern damals viel zu schnell ging, weil sie befürchteten, daß das marode System der DDR schnell zerbrechen würde und die Menschen weitgehend, auch unvorbereitet, Sog und Segnungen Westdeutschlands gleichermaßen preisgegeben sein würden. Sie hielten Staats- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland nicht für die beste aller denkbaren und hätten es lieber gesehen, mit genügend Zeit und ohne viele äußere Einflüsse eine menschliche Gesellschaftsordnung entwerfen zu können. Dieses Nachdenken hätte — so glaube ich — Deutschland im Osten und im Westen gleichermaßen gutgetan,
aber die Zeit und die Geschichte geben diesen Raum zum Nachdenken nicht im voraus. Deshalb beginnen wir heute damit.Nur für eine kurze Zeit bestand die Möglichkeit, die deutsche Einheit zu erwirken und einen für die Geschichte unseres Volkes so wichtigen Schritt zu unternehmen. Ich muß sagen — ich glaube, kaum jemand wird sich dieser Einschätzung verweigern —: Gott sei Dank ist dieser Schritt getan worden.Trotz oder gerade wegen dieser repressiven Politik des frühen Systems in der DDR hat sich bei uns, bei vielen Landsleuten im Osten, ein feines Gespür für Gerechtigkeit, Solidarität, Ehrlichkeit und Echtheit entwickelt, das wir schon in unser gemeinsames Denken, auch politisches Denken, und Handeln einbeziehen wollen.Wenn wir die deutsche Teilung aufarbeiten wollen — dieser Aufarbeitungsprozeß wird ein schmerzlicher Prozeß sein, weil er uns gleichzeitig auf unser eigenes persönliches Versagen hinweist —, dann müssen auch in dieser Diskussion diese Stimmen wieder stärker werden. Es geht letztlich doch um eine tragfähige Grundlage für eine menschenwürdige Gestaltung unseres gemeinsamen Vaterlandes. Von daher halte ich die Einsetzung dieser Kommission für ein geeignetes Mittel, wertvolle geistesgeschichtliche Grundlagen unserer gemeinsamen Geschichte und Kultur wieder bewußt zu machen, um daraus wesentliche Erkenntnisse für die Gestaltung unserer Politik zu erhalten und gleichzeitig auch die menschenverachtenden Strukturen einer Politik aufzuzeigen — also schon aus dem Grunde! —, damit sie sich nicht wiederholen kann.
Neben allen noch so wichtigen Analysen von Ursachen kommt es mir deshalb vor allem darauf an, daß die Kommission auch Handlungsempfehlungen für Parlament und Regierung entwickelt. Wir müssen dabei nach den Wurzeln totalitärer Tendenzen in unserem Volk fragen, wir müssen die Gründe für Unrecht in der Vergangenheit analysieren, damit wir daraus für die Zukunft Konsequenzen ziehen können. Für mich bedeutet Vergangenheit bewältigen: erinnern, analysieren und daraus folgern; denn Vergangenheit ist immer Prolog.Ohne diese Vergangenheitsbewältigung fehlen uns die Grundlagen für eine zukunftsweisende Politik, und dabei ist die Vergangenheitsbewältigung eine Angelegenheit unseres gesamten Volkes im Osten und im Westen gleichermaßen, die Angelegenheit eines jeden einzelnen und jeder gesellschaftlichen Gruppierung.Das Dritte Reich war nicht Sache einzelner, das SED-Regime war es gleichermaßen ebensowenig. Viele haben mitgestaltet, sind mitgelaufen, haben stabilisiert, von innen oder außen. Manche sind schuldig geworden; viele haben sich dagegen gewehrt.Dabei müssen wir natürlich beachten, daß manches, was früher angebracht erschien, uns heute in einem ganz anderen Licht erscheint. Was 1987 noch als politischer Erfolg galt — nach dem Motto: seid klug wie die Schlangen —, gilt heute als moralisch verwerfliches Taktieren oder sogar als Verbrechen. Ich denke, diese Einschätzungen sind Gratwanderungen. Hier ist wirklich nur ein zurückhaltendes und differenziertes Nachdenken angemessen.
— Deshalb halte ich jetzt das Nachwort.
Deshalb brauchen wir aber auch notwendige Kriterien, die von einem hohen ethischen Niveau getragen sind und die die Würde des Menschen in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen. Wir wissen, viele Menschen waren Werkzeug und Opfer eines Systems, das eine freie Entfaltung der Persönlichkeit stark behinderte. Wenn diese Aufarbeitung jetzt nicht zur Farce werden soll, dann gibt es nur eines: Erstens müssen die Täter für ihr Handeln einstehen, und zweitens müssen die Opfer neue Chancen bekommen.
Ich sage ausdrücklich ja zum Rechtsstaat der Bundesrepublik Deutschland, und ich bin dankbar, daß diese Rechtsordnung auch dort gültig ist, wo ich lebe. Ich bin dankbar dafür, daß wir ein Grundgesetz haben, das geschaffen worden ist, gerade um die Würde des einzelnen vor dem Zugriff und der All-
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Minister Heinz Eggert
mächtigkeit eines Staates zu schützen. Aber genau da liegt jetzt auch unser Problem. Die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland schützt die Täter von gestern mehr, als das DDR-Recht sie geschützt hätte. Jeden Tag wird anschaulicher, wieviel unglaubliches Unrecht und wieviel Menschenverachtung im SED-Regime an der Tagesordnung waren. Es ist von einer solchen Anschaulichkeit, daß viele am liebsten wieder wegschauen würden, um es nicht verarbeiten zu müssen; denn Verarbeitung ist mühsam, setzt Verständnis voraus und ist schmerzlich, besonders auch für die im besonderen Getroffenen.Es verstärkt sich immer mehr der Eindruck: Die Kleinen hängt man, und die Großen läßt man laufen — wobei feststeht, daß die Schuld des einen die Schuld des anderen nicht kleiner macht, daß jeder für seine Schuld einzustehen hat und daß jeder die Konsequenzen eines verkehrten Strebens zu tragen hat.
Kaum noch ertragbar ist — jetzt komme ich aus dem allgemeinen heraus —, wenn die Namen der Inoffiziellen Mitarbeiter die Schlagzeilen füllen und die wirklichen Auftraggeber, die wirklichen Verantwortlichen, die Chefideologen und Volksverhetzer, die Chefs der Parteizentralen und der Zentralen der Staatssicherheit im Schatten bleiben,
nicht etwa um ein Schattendasein zu führen, sondern um bei bester Bezahlung zu Gesprächsrunden eingeladen zu werden, Bücher zu veröffentlichen,
genug Raum und Platz in der Öffentlichkeit zu bekommen, um eloquent oder intellektuell — falls sie es können — über Vergangenes plaudern zu können, als beträfe es sie in keinster Weise.
Wir haben momentan die Situation einer unerträglich makaberen Politparty-Plauderei, wo man nicht mehr genau weiß: Wo hört das Verbrechen eigentlich auf, und wo beginnt hier schon wieder eine neue Entwürdigung der Opfer?
Es ist kaum noch zu ertragen, wenn die sozialistischen Betriebsleiter von gestern auf einmal die marktwirtschaftlichen Geschäftsführer von heute sind,
die den gleichen Personenkreis, den sie früher politisch bedrückten, jetzt wirtschaftlich erpressen und auf die Straße setzen.
Es ist unerträglich, daß hauptamtliche Staatssicherheitsoffiziere, die auch weiterhin ihre frühere Desinformationspolitik betreiben — das darf man ja dabei nicht vergessen —, als Kronzeugen gehört werden,ohne selbst strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden.
Es ist schon unerträglich, wenn ein gewisser Personenkreis nach außen verbreiten läßt, nie als Inoffizieller Mitarbeiter für die Staatssicherheit gearbeitet zu haben, und jeder weiß, daß dieser Personenkreis auf Grund seiner Stellung in der SED-Nomenklatur weisungsberechtigt gegenüber dieser Organisation gewesen ist.
Unerträglich ist es auch, daß frühere SED-Funktionäre, die wir im Osten Deutschlands aus dem öffentlichen Dienst entfernen, im Westen Deutschlands in den öffentlichen Dienst eingestellt und zu 100 % bezahlt werden.
Ich sage es ganz deutlich: Die Experten der DDR in den Bereichen Verwaltung und Ökonomie waren Experten für die DDR, und sie sind keine Experten für die Bundesrepublik. Sie könnten es nur neu lernen.Von daher ist es notwenig, denjenigen unter uns eine Chance zu geben, die zu DDR-Zeiten eben keine Chance hatten, weil sie nicht das richtige Parteibuch hatten, das sich ja später als das falsche erwiesen hat. Denn auf dem Weg in die Gesetzlichkeit und die Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik fangen wir alle von vorn an.Meine Damen und Herren, ein wirtschaftlicher Aufschwung Ost ohne eine moralische Aufarbeitung mißlingt. Es darf nicht sein, daß Menschen, die andere mit Hilfe ihres Amtes entwürdigt haben, jetzt auch noch von den Steuergeldern ihrer ehemaligen Opfer im öffentlichen Dienst bezahlt werden. Zu Recht hört man immer wieder den Satz: Dafür sind wir nicht auf die Straße gegangen. Man kann es nur bestätigen: dafür wirklich nicht.
Ein Wort zur Öffnung der Stasi-Archive: Es ist notwendig und unvermeidlich und übrigens auch für die Arbeit dieser Kommission unentbehrlich, daß die Stasi-Akten nun offen und zugänglich sind. Die Atmosphäre der Angst und des Mißtrauens läßt sich nur durch Einsichtnahme und Offenlegen abbauen. Wir sehen jetzt klarer. Wir wissen jetzt, wer die Täter waren, und wir wissen gleichzeitig, wer sie nicht waren.Das Nennen der Täter entlastet die vielen Unschuldigen von ungerechtfertigten Verdächtigungen und schützt gleichermaßen die Schuldigen vor späteren Erpressungen.
Ich halte es für sehr bedenklich, daß schon wieder die Schließung der Archive der Staatssicherheit gefordert wird. Ich halte es auch für sehr bedenklich, daß diese Forderung mit Diskussionen um die politische Ver-
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Minister Heinz Eggert
gangenheit eines prominenten ostdeutschen Politikers verknüpft wird. Denn die Diskussion um seine Person ist kein Ergebnis der Öffnung der Archive der Staatssicherheit, sondern ein Ergebnis seiner Selbstoffenbarung in der Presse.Die Frage nach dem menschlichen Umgang miteinander und der menschlichen Kultur bleibt bei alledem natürlich bestehen.Ich halte es auch für sehr bedenklich, wenn man glaubt, Aufarbeitung als Instrument parteipolitischer Personalpolitik gebrauchen zu dürfen,
und ich halte es für sehr bedenklich, wenn man glaubt, zur Aufarbeitung der Vergangenheit und der persönlichen Verantwortung die Frage ausklammern zu können, was aus dem Westen zur Systemstabilisierung
: Sehr
richtig!)der DDR und des SED-Regimes beigetragen worden ist.
An dieser Stelle ergeben sich große Arbeitsfelder.Meine Damen und Herren, wir sind ein Volk — ob wir es wahrhaben wollen oder nicht.
Wir selbst sind am Aufarbeiten in Ost und West gleichermaßen beteiligt, weil uns die Einheit in Deutschland insgesamt verändert hat. Das ist wie bei einer Ehe: Es geht niemand unverändert hinaus, und die Scheidung steht für uns ohnehin nicht an.Die selbstkritische Frage im Westen, wo der einzelne gestanden hätte, wenn er im SED-Staat gelebt hätte, ist genauso abseits aller Überheblichkeiten ehrlich zu beantworten, wie wir im Osten zu unserem eigenen Versagen zu DDR-Zeiten stehen müssen.Trotzdem, glaube ich, ist es richtig, daß sich im Osten wie im Westen gleichermaßen herumspricht, daß das Rückgrat nicht nur ein Teil des Körperbaus ist, sondern daß man es auch zum Leben braucht,
gerade als Ermunterung für die Jugend, damit sie den Mut zum Widerstehen bekommt, falls sie mit ihren Begabungen und Idealen wieder einmal ideologisch mißbraucht werden soll.Meine Damen und Herren, wir waren keine 17 Millionen Widerstandskämpfer, und wir sind auch keine 17 Millionen Täter. Wir hatten Täter, wir hatten Opfer, und wir hatten viele Mitläufer. Genau an dieser Stelle muß differenziert werden.Trotzdem wissen wir: Die Bundesrepublik Deutschland hat nur so viel Perspektiven, wie jeder einzelne Bürger in diesem Land eine Perspektive hat. Wie schaffen wir es, diese Vergangenheit aufzuarbeiten? Wie schaffen wir es, daß aus dem Vereinigungsprozeß kein Anpassungsprozeß wird? Von den Antworten dieser Kommission erwarte ich mir sehr viel.Ich danke Ihnen herzlich für die Aufmerksamkeit.
Nun hat der Kollege Uwe-Jens Heuer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Wort an Herrn Schäuble, wenn er es gestattet: Ich meine, daß die Entscheidung, wen der brandenburgische Landtag zum Vorsitzenden einer Untersuchungskommission bestellt, Sache des brandenburgischen Landtages ist. Das ist jedenfalls mein Verfassungsverständnis.
Der Deutsche Bundestag steht vor einer sehr schwierigen Aufgabe. Wir sollen eine Kommission einsetzen, die sich mit der Aufarbeitung von Geschichte befaßt, der Geschichte eines untergegangenen Staates, und dies zu einem Zeitpunkt, da die Bürger dieses Staates und auch wir Abgeordneten von einer Flut von Enthüllungen — wahren, halbwahren und falschen — über eben diesen Staat überschüttet werden. Wohl erstmals in der Geschichte steht einem Staat ohne Krieg und ohne Waffengewalt fast das gesamte Archivmaterial eines anderen Staates zur Verfügung, dessen Beseitigung, wie heute Bundeskanzler Kohl noch einmal bestätigt hat, stets sein innerstes Anliegen gewesen war.Die gegenwärtige Atmosphäre kann in vielem nach meiner Ansicht nur mit der Atmosphäre der fünfziger Jahre, der Atmosphäre zur Zeit des KPD-Verbots verglichen werden. Damals betrachtete jeder der beiden Staaten sich als den rechtmäßigen deutschen Staat, den anderen als einen Unrechtsstaat. Damals waren hier Vokabeln wie „Stalinismus" und „Totalitarismus" in aller Munde, dort wurde vom „Kolonialstaat BRD" gesprochen und scheute man nicht vor der Bezeichnung „vorfaschistischer" oder „kriegstreiberischer Staat" zurück.Seitdem war das Klima ruhiger geworden. Die Entspannung brachte neue Einsichten, die auf realen Veränderungen, aber auch auf dem Willen zur friedlichen Koexistenz beruhten. Die SPD bescheinigte der DDR Reformfähigkeit, die SED der Bundesrepublik Friedensfähigkeit. Der Bundeskanzler Kohl empfing Erich Honecker als Staatsoberhaupt.Heute ist die größere Bundesrepublik in großem Umfang zur Terminologie des Kalten Krieges zurückgekehrt. Die vielkritisierte DDR-Forschung greift wieder zur Vokabel des Totalitarismus. Honecker ist auf dem besten Wege, zum Stalin von heute zu werden.In dieser Atmosphäre wird es sehr schwer sein, eine zweifellos notwendige — gerade auch für Sozialisten notwendige — Aufarbeitung der Geschichte wahrhaftig durchzuführen. „Versöhnung unter Menschen kann ohne Wahrheit nicht gelingen", erklärte Richard
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Dr. Uwe-Jens Heuervon Weizsäcker bei der Verleihung des HeinePreises.Jeder, der sich mit wissenschaftlicher historischer Arbeit beschäftigt hat, weiß, wie schwierig es ist, Wahrheit über Geschichte zu sagen. Ohne eigenen Standpunkt kann man nichts erkennen, und zugleich kann der eigene Standpunkt wichtige Einsichten verstellen. Der Scheinwerfer der Erkenntnis ist unabdingbar; aber er läßt auch immer etwas im Dunkeln — wie erst, wenn Interessen wirken und das Bild verzerren! Wenn solche geschichtliche Einsicht aber in einer Zeit der Aufgeregtheit bis hin zur Hysterie und der Suche absatzgieriger Medien nach immer neuen Enthüllungen gewonnen werden soll, muß das erste Gebot der Wissenschaft, aber auch der Politik Nachdenklichkeit sein: Radikalität der Kritik, die verstehen und begreifen und erst dann urteilen will. Ich glaube in den Reden von Willy Brandt und Rainer Eppelmann heute auch so etwas verspürt zu haben.Ich weiß, daß das sehr viel von Politikern verlangt. Tatsächlich stimmen schon die Titel der Vorlagen bedenklich. Der SPD-Antrag ist überschrieben: „Politische Aufarbeitung von Unterdrückung in der SBZ/ DDR" . Der gemeinsame Antrag lautet: „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur". Das DDR-Bild des SPD-Antrages wird bereits im Aufbau deutlich: erstens Machtstrukturen, zweitens offene Repressionsmechanismen, drittens verdeckte Repressionsmechanismen und viertens Leben in der Diktatur. Für Reformer ist hier kein Platz mehr. Das Leben in der Diktatur wird mit wenigen Begriffen erfaßt: Widerstand, politische Verfolgung, Kirche sowie Mitläufertum, Anpassung und Lethargie.Auch für Dr. Jürgen Schmieder gab es heute in der Debatte nur Anpasser oder Widerständler. Er sprach von dem allgegenwärtigen System der Volksverdummung. Nun meine ich, daß die Ostdeutschen vielleicht solche Ausdrücke nicht immer gebrauchen sollten. Herr Dr. Schmieder war immerhin Absolvent einer Spezialschule der Physikalisch-mathematischen Richtung und der TH Chemnitz. Er ist Diplom-Ingenieur, besuchte die Betriebsschule Riesa und war dann Patentingenieur. Ich meine, wir sollten doch vielleicht auch in unserem eigenen Interesse nicht von einem allgegenwärtigen System der Verdummung im Osten sprechen.Niemand kann, wenn man so herangeht, mehr die Frage beantworten, warum so viele in ganz Deutschland sich einst für das Ziel des Sozialismus eingesetzt haben und gerade in diesem ostdeutschen Weg eine Antwort auf die Katastrophe des Faschismus sahen. Ich schäme mich auch heute noch nicht, 1946 von Schleswig-Holstein nach Berlin gegangen zu sein, um dabei mitzutun. Ich sah damals in Westdeutschland einen Weg zur Restauration der alten Verhältnisse, weitgehend mit dem alten Führungspersonal.
Aber ich frage mich natürlich immer wieder, woran unser Vorhaben gescheitert ist, was wir falschgemacht haben, welche Chancen es gegeben hat, die versäumt wurden.
Alle diese Fragestellungen aber kennen diejenigen nicht, die hier eine Enquete-Kommission vorschlagen.Geschichtsaufarbeitung mit einer solchen Zielstellung droht zur Stunde der großen Vereinfacher, zum Werkzeug für jene zu werden, die das Jahr 1992 zum Jahr der endgültigen Vernichtung der DDR-Reste machen wollen
und dabei seit anderthalb Jahren doch immer wieder dem alten Unrecht neues Unrecht hinzufügen.Unsere Zweifel an der Tauglichkeit einer solchen Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der DDRGeschichte haben vielfältige Gründe. Warum soll Aufarbeitung von Unrecht in der deutschen Geschichte sich auf die Geschichte der DDR beschränken, eines Staates, mit dessen Untergang auch das in ihm existierende Unrecht untergegangen ist?Aus welchem Grunde wird die sehr komplexe Geschichte der DDR von vornherein verkürzt als Unrechtsgeschichte definiert?
Im SPD-Antrag wird einerseits von der unbearbeiteten Geschichte der DDR gesprochen und der Standpunkt bezogen, daß die tatsächlichen Machtstrukturen vielfach verborgen blieben. Die DDR erscheint gewissermaßen als Terra incognita. Zum andern aber wird diese Geschichte bereits bewertet mit einer Vielzahl von Begriffen, die zu verstehen geben, daß man schon sehr genau weiß, wie es war.Ich habe schon von dem Herangehen her den Eindruck, daß es das gleiche Muster ist, das wir aus der DDR sehr gut kennen. Die politische Absicht bestimmt das wissenschaftliche Ergebnis. Die erste Position ist bezogen auf die dringliche Notwendigkeit, eine politische Aufarbeitung der DDR-Geschichte zu begründen. Die zweite Position zeigt, daß man sich partout von dem bereits feststehenden Urteil, die DDR sei ein Unrechtsstaat, durch keinerlei Tatsachen abbringen lassen wird.
Die Enquete-Kommission wird sich zunächst mit der Aufgabe konfrontiert sehen, den generellen Sinn der Aufarbeitung von deutscher Geschichte und von DDR-Geschichte nach der Vereinigung zu bestimmen. Geschichte ist abgeschlossene Vergangenheit, aus der man für Gegenwart und Zukunft Lehren ziehen kann und muß. Aber diese Aufgabe ist wissenschaftlich zu diffizil und politisch viel zu brisant, als daß man sie ausgerechnet einzig und allein einem Gremium von etablierten Politikern überlassen sollte, deren Meinung — jedenfalls wenn ich die Anträge studiere — bereits feststeht. So wie es keine allge-
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Dr. Uwe-Jens Heuermeine Moral gibt, so gibt es auch keine allgemeinverbindlichen Kriterien zur Bewertung von Geschichte.
Wir sind jetzt mit der Gefahr konfrontiert, daß eine Kommission des Bundestages zur Bewertung eines wichtigen Abschnitts deutscher Geschichte von der Moral und Autorität der Sieger beherrscht wird.
Kollege Heuer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Duve?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege, Sie beschweren sich über mögliche politische Absichten, die politische Parteien bei der Einsetzung haben könnten. Ich habe Ihren Antrag genau studiert, und ich muß sagen, daß Sie an mehreren Stellen politische Absichten, was das Verhalten verschiedener Bundesregierungen angeht, in diesen Antrag bereits so hineingebaut haben, daß jedenfalls ich Ihrem Antrag genau diese gleiche Absicht unterstellen muß, die Sie aus den anderen Anträgen glauben herauslesen zu müssen.
Ich will Ihnen eines sagen: Wir bewegen uns hier auf dem Feld der Politik, und es ist für Politiker sehr schwer, Wissenschaft zu betreiben. Ich weiß das. Ich war mein Leben lang gerne Wissenschaftler.
— Entschuldigen Sie, mein Herr. Lesen Sie meine Bücher! Ich habe das schon früher anderen Kollegen von Ihnen empfohlen. Lesen Sie meine Bücher, dann können wir uns ernsthaft unterhalten.
— Das ist sehr schön. Dann unterhalten wir uns darüber.
Sie kennen doch gar nicht den Unterschied zwischen Ideologie und Wissenschaft. Darüber können wir uns ein anderes mal unterhalten.
Aber nun zu Herrn Duve.
Bitte sehr.
Sie haben in Ihrem Antrag mehrfach politische Ereignisse der 50er und 60er Jahre und auch Konföderationsangebote in einer Weise angesprochen, daß die politische Absicht in
dem Antrag ganz deutlich wird. Ich denke, das sollten Sie hier auch nicht verschweigen und nicht so tun, als seien Sie der Reine und wir seien die Unreinen. Das geht nicht.
Nein, das behaupte ich nicht. Wenn wir einig wären, daß wir hier alle gemeinsam arbeiten und uns gemeinsam — —
— Entschuldigen Sie!
— Das fehlt Ihnen, mein Herr; das fehlt Ihnen.
Das ist eine gute Schule.
— Der erste Tote in diesem Hause war Gerhard Riege; ich will Ihnen das einmal sagen. Sie sollten das Wort nicht ungestraft in den Mund nehmen.
— Was hier Mord betrifft, sage ich: Der erste Tote aus diesem Hause war Gerhard Riege, und Sie sollten dieses Wort nicht in den Mund nehmen.
— Darf ich weitersprechen?
Ich bestreite nicht, daß wir eigene Gesichtspunkte zur Geschichte haben. Wir haben eine Fülle von Fragen aufgelistet, und ich halte es für unser gutes Recht, auch unsererseits Fragen in die Debatte einzubringen.Politische Aufarbeitung gerade auch der DDR-Geschichte ist eine Aufgabe aller politischen Strömungen gerade in Ostdeutschland, die nicht durch allgemeinverbindliche Vorgaben oder Schlußfolgerungen einer Kommission ersetzt werden kann. Für die politischen Kräfte, die im Kapitalismus den Endpunkt der Geschichte sehen, stand und steht die Schlußfolgerung aus dem Sozialismusversuch in der DDR fest: Es darf nie wieder einen solchen Versuch geben, auch keinen mit menschlichem und demokratischem Antlitz. Diejenigen, die sich für einen solchen Versuch in der DDR engagiert haben, müssen moralisch abqualifiziert und bestraft werden.Für die Sozialisten in Ostdeutschland gibt es ganz andere Schlußfolgerungen: Gescheitert ist sowohl das Konzept der Diktatur des Proletariats als auch das der administrativen Kommandowirtschaft.Wir als Partei des Demokratischen Sozialismus stellen uns die Frage nach unserer Verantwortung für das Schicksal des Sozialismus in unserem Lande. Wir sprechen und wollen weiterhin sprechen über die Verantwortung von Sozialisten und von denjenigen, die sich als solche ausgaben, für Fehler und Verbrechen, die bei diesem Versuch begangen wurden.
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6740 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Dr. Uwe-Jens HeuerDie überwiegende Mehrheit in der zu bildenden Enquete-Kommission bzw. die politischen Richtungen, die sie repräsentieren, waren von Anfang an gegen diesen Versuch, eine sozialistische, sozial gerechte Gesellschaft in Deutschland zu gestalten. Sie haben uns — das ist meine Meinung — von Anfang an nicht für unsere Fehler kritisiert, auch nicht primär für Unrecht, sondern dafür, daß wir diesen Versuch überhaupt annahmen.Ich bin überzeugt: Wären Rosa Luxemburg oder Robert Havemann Präsident der DDR geworden, die Herrschenden der BRD hätten der DDR, so sie denn gekonnt hätten, auch kein anderes Schicksal bereitet.Wir haben ein eigenständiges Interesse an der Aufarbeitung der DDR-Geschichte, sowohl, um daraus konzeptionelle Konsequenzen für unsere Programmatik zu ziehen, als auch, um daraus politische Schlußfolgerungen für die Bewertung der Vergangenheit und unser politisches Verhalten in Gegenwart und Zukunft abzuleiten.
Gegenüber einer generellen Aburteilung der DDR und des in ihr unternommenen Sozialismusversuchs werden wir immer wieder aufs neue darauf verweisen, daß der Einsatz von Millionen Menschen für den Aufbau einer anderen Gesellschaftsordnung in Überwindung des faschistischen Erbes keiner Entschuldigung bedarf,
daß es zur Realität im Nachkriegsdeutschland nun einmal gehörte, daß zwei Staaten existieren.
Herr Kollege Heuer, es liegen zwei Wünsche auf Zwischenfragen vor. Sie müssen mir zwischendrin einmal Gelegenheit geben, Sie zu fragen, ob Sie sie zulassen.
Ja, bitte schön.
Herr Kollege Schmude und dann der Kollege Poppe.
Herr Heuer, wenn Sie eben davon sprachen, daß die Herrschenden in der Bundesrepublik Deutschland der DDR ein bestimmtes Schicksal bereitet hätten, wären Sie vielleicht so freundlich, darüber zu sprechen, daß die Bürger der DDR ihrem Staat selber ein Schicksal bereitet haben? Das ist doch nicht von hier gekommen.
Ich weiß, welche Rolle die Bürger der DDR in diesem Zusammenhang gespielt haben. Aber diese Bürger der DDR
wollten im Herbst 1989 nicht die Beseitigung der DDR; das wissen auch Sie, Herr Schmude.
— Entschuldigen Sie, Lautstärke entscheidet nicht über wissenschaftliche Fragen.
Herr Poppe.
Herr Kollege Heuer, sind Sie der Meinung, daß es angemessen ist, für diese These ausgerechnet die Person Robert Havemanns zu erwähnen, nach dem Schicksal, das ihm die SED bereitet hat?
Ich verurteile das, was gegenüber Robert Havemann geschehen ist. Aber Robert Havemann war Sozialist, und Robert Havemann hätte an der Spitze dieser DDR das gleiche Schicksal erlitten. Das ist meine Überzeugung.
— Sie können eine andere haben. Allende ist in Chile ermordet worden.
— Das habe ich eben gesagt. Das weiß ich ja. Ich habe es nicht gemacht. Aber andere.
— Ich will Ihnen einfach erläutern, daß ich der Meinung bin, daß auch dann, wenn Reformsozialisten, wenn Sozialisten wie Luxemburg und Have-mann, an der Spitze dieses Staates gestanden hätten, diejenigen, die den Sozialismus in keiner Form wollen, diesen Staat ebenfalls erbittert bekämpft hätten. Das ist meine Meinung. Aber das würde genügen. — Darf ich bitte fortfahren.
— Mein Herr, ich bin nicht einmarschiert. Ich war nie Soldat, im Gegensatz zu Ihnen vielleicht.
Es ist wichtig, über Unrecht in der DDR zu sprechen. Aber es ist ebenso wichtig, über gegenwärtiges Unrecht zu sprechen, über die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen und über das, was etwa die Hälfte der DDR-Bevölkerung gegenwärtig als Kolonialisierung empfindet, über die massenhafte Verletzung von Menschenwürde und Menschenrechten im Rahmen der Abwicklung und der Deindustrialisierung Ostdeutschlands und der bevorstehenden Vertreibung von Hunderttausenden von ihren Grundstücken und Häusern.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6741
Dr. Uwe-Jens HeuerUnser Verständnis von Geschichtsaufarbeitung ist in unserem Antrag dargelegt. Ich möchte die fünf Punkte, die wir im Antrag beschrieben haben, erläutern.Erstens sagen wir nachdrücklich ja zu einer sachlichen und differenzierten Aufarbeitung der DDR-Geschichte. Wir haben dabei auf vielfältige Unterdrückungsmechanismen hinzuweisen, aber auch zu beachten, daß es Leistungen, Konfliktregulierungsmechanismen und Werte in dieser DDR gab, die Zustimmung vieler Bürger fanden. Eine differenzierte Aufarbeitung der DDR-Geschichte durch die Enquete-Kommission ist deshalb so schwierig, weil das gesellschaftliche Klima, auch das Klima in diesem Hause, wie Sie beweisen, auf Verdammung und nicht auf Klärung aus ist. Die große Lüge der SEDMachthaber, daß das politische System auf einem tiefen, unerschütterlichen Vertrauensverhältnis zwischen der Partei, der Arbeiterklasse und dem Volkberuhe, wird ersetzt durch die ebenso große Lüge von der DDR-Geschichte als Horrorgeschichte von Repressionsakten und -mechanismen.Hier wird die reale Widersprüchlichkeit des gesellschaftlichen Lebens in der DDR ebenso eliminiert wie auch keineswegs wirkungslose Möglichkeiten der Interessenartikulation und der Lösung sozialer Konflikte im politischen System oder am Arbeitsplatz. Die Normalität des gesellschaftlichen Lebens, im Arbeitsbereich, im Territorium, im Gesundheits- und Bildungswesen wird allein aus dem verengten Blickwinkel von Machtmißbrauch und des bornierten Machtbegriffs der SED erfaßt, bis hin zu erfundenen Schauergeschichten, der Ertränkung der Frühgeborenen in Wassereimern. Bewußt negiert wird, daß die DDR Vorbildliches auf den Gebieten der Sozialpolitik, der Kultur-, Wohnungs- und Bildungspolitik geleistet hat,
daß es bei einer „halbierten deutschen Geschichte" — Richard von Weizsäcker — bleibt, wenn wir dies unbeachtet lassen.
Diese differenzierte und widersprüchliche Gesellschaft in der DDR wird reduziert auf eine OpferTäter-Struktur. Die wichtigste und gefährlichste Konsequenz dessen ist, daß, wer nicht Täter sein will, sich als Opfer darstellen muß und so Wendehälse, Heuchler und Karrieristen produziert werden.Zweitens wenden wir uns gegen das vor allem für die CDU/CSU charakteristische Bemühen, in das Zentrum der Aufarbeitung der DDR-Geschichte die Formel vom Unrechtsregime DDR zu plazieren, um von da aus den großen, repressiven Rachefeldzug gegen alle, die sich mit der DDR verbunden fühlten,
und mitunter sogar gegen alle, die in der DDR nichtaus politischen Gründen im Gefängnis saßen, zurechtfertigen. Ich erinnere nur an die Frage vonMertens an Stolpe, auf welche Gesetzesverletzungen er sich denn berufen könne.Die DDR war ein völkerrechtlich souveräner Staat mit einem eigenen Rechtssystem.
Im Grundlagenvertrag von 1972 hat die Alt-BRD dies anerkannt. Die Untersetzung der Formel von „Unrechtsregime DDR" durch die Geschichtsaufarbeitung soll alles das vergessen machen bzw. als nichtig erscheinen lassen.
Der Enquete-Kommission erwächst hier eine sehr fragwürdige Funktion: die Kriminalisierung der DDR-Geschichte, den nachträglichen Ausschluß der DDP der Völkerrechtsgemeinschaft und der Hinweis auf ihren Charakter als Unrechtsstaat.
Drittens schließlich halten wir es für notwendig, die Ursachen des Scheiterns des Versuchs zu ergründen, auf deutschem Boden einen sozialistischen Staat zu errichten. Dabei geht es auch darum, die Ursachen für Verantwortung und Schuld zu bestimmen. Zum Sozialismusversuch in der DDR gehören zahlreiche positive Erfahrungen im Kampf um soziale Gerechtigkeit,
um ein solidarisches und friedliches Gemeinwesen auf deutschem Boden. Dazu gehören aber auch Fehler, Irrwege, Versäumnisse und Unrecht.Warum gelang es nicht, den Weg zu Demokratie und Rechtsstaat im Rahmen des Sozialismusversuchs in der DDR zu gehen?
Demokratie ist immer ein Risiko, Recht ist immer ein Risiko. Beide schränken die Allmacht ein, stabilisieren aber zugleich das System. Der Kapitalismus hat das in vielen Krisen gelernt. Die SED-Führung war nicht bereit, ein Risiko einzugehen, und ging damit notwendig den Weg in ihren glanzlosen Untergang, der zugleich das Ende des Sozialismusversuchs war.Man kann der DDR als Staat nicht vorwerfen, daß sie ein Staat war und entsprechend handelte. Man kann ihr aber sehr wohl vorwerfen, daß die Ablehnung jeglicher Reformen mit einer unablässigen Vergrößerung des Sicherheitsapparats und mit teilweise der eigenen Verfassung und den Rechtsvorschriften widersprechenden Repressionsmaßnahmen Hand in Hand ging.Viertens muß die Aufarbeitung der DDRGeschichte von den Wechselbeziehungen der Nachkriegsgeschichte zwischen beiden deutschen Staaten und deren Einbindung in internationale Kräftekonstellationen und spezifische Bündnisse ausgehen. Wir können nicht übersehen, daß die DDR wie auch die BRD, wie die deutsche Teilung überhaupt Resultate
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6742 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Dr. Uwe-Jens Heuerdes Kalten Krieges waren. Eine sachliche und kritische Aufarbeitung der DDR-Geschichte hat auch nach den Auswirkungen des Kalten Krieges auf die Entwicklung in der DDR und in der BRD zu fragen.Fünftens kann wirkliche Vereinigung über Geschichtsaufarbeitung nur gelingen, wenn wir uns einer Aufarbeitung der deutschen Geschichte in diesem Jahrhundert in ihrer Gesamtheit widmen. Es ist für die Zukunft Deutschlands verhängnisvoll, wenn sich die Tendenz fortsetzt, hinter der Abrechnung mit der DDR die ungenügende Bewältigung des faschistischen Erbes zu verdecken und die Dinge in Zusammenhang mit der Aufarbeitung der DDR-Geschichte so darzustellen, als ob die DDR die Fortsetzung des Nazi-Staates gewesen sei,
ansonsten aber über die Verbrechen dieses Nazi-Staates kein Wort zu verlieren.In der Debatte hat heute einzig und allein Herr Poppe ein Wort der Kritik am Nazi-Staat gefunden. Sonst hat hier niemand etwas in dieser Richtung gesagt.
Deswegen sehe ich in dieser Vorgehensweise die große Gefahr, daß die Verbrechen des Nazi-Staates durch die Kritik an der DDR verdeckt werden.Wenn über Unrecht und Demokratieverletzung in der DDR zu reden ist, dann darf man auch über Unrecht in der BRD nicht schweigen.Wir sagen ja zur Aufarbeitung der Geschichte in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Wir werden uns in diesem Sinne an der Arbeit der Kommission beteiligen. Wir sagen nein zu einer Unterordnung dieser Aufgabe unter das politische Ziel, die Schlachten des Kalten Krieges nun auch moralisch siegreich gewinnen und juristisch besiegeln zu können.
Als nächster hat der Kollege Wolfgang Mischnick das Wort.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon vieles zum Ausdruck gebracht worden, was von uns allen gleich gesehen wird: Erfahrungswerte, Notwendigkeiten. Ich will mich bemühen, ein paar Gesichtspunkte anzufügen, die ergänzend auf einiges hinweisen sollen.Ich bin in letzter Zeit sehr viel von Ausländern gefragt worden: Wie war es eigentlich möglich, daß es nach den Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur so lange gedauert hat, bis in dem, was die DDR war, der entsprechende Widerstand zur Beseitigung des Systems führte? Es sollte eine wichtige Aufgabe der Kommission sein, auch die Gesamtzusammenhänge aus den letzten 40, 45 Jahren mit sichtbar zu machen. Wir müssen uns davor hüten, daß die Kommission in erster Linie oder ausschließlich den innenpolitischen Teil — den ich für den wichtigsten halte — betrachtet. Sie muß sich vielmehr darüber im klaren sein, daß das Ergebnis dieser Enquete-Kommission auch international gesehen und beachtet wird. Das bedeutet für mich nicht, daß die Kommission nun bis in die letzte Einzelheit hinein alles, was in der Vergangenheit geschehen ist, auch entsprechend aufarbeiten muß. Aber es muß sichtbar werden, welche internationalen Zusammenhänge mit der nationalen Entwicklung verbunden waren. Dazu lassen Sie mich ein paar Bemerkungen machen. Dann wird nämlich auch die Bemerkung, die wir eben hörten, daß wir bei dieser ganzen Arbeit von Moral und Autorität der Siegermächte bestimmt seien, in sich zusammenfallen.Meine Damen und Herren, mit Recht ist darauf hingewiesen worden, daß wir 1945 beginnen müssen, mit den vier Besatzungszonen und ihren unterschiedlichen Entwicklungen. Wir müssen berücksichtigen, wie der Versuch gemacht wurde, auch in der sowjetischen Besatzungszone eine demokratische Struktur aufzubauen. Es ist kein falscher Ansatz, wenn man darauf hinweist, daß der Zusammenschluß von KPD und SPD 1946 für die beiden anderen politischen Kräfte, die es damals gab, eine Schwächung bedeutete. Das hat nichts damit zu tun, daß wir davon etwas wegwischen wollen. Im Gegenteil: Wir müssen natürlich hinzufügen, daß von Kurt Schumacher von der späteren Bundesrepublik, den damaligen drei Westzonen, aus versucht worden ist, den Zusammenschluß zu verhindern, daß es Hunderte und Tausende von SPD-Mitgliedern gab, die das nicht mitgemacht haben, die versucht haben, woanders Zuflucht zu finden. Aber umgekehrt gab es Tausende und Hunderttausende, die in die Einheit gegangen sind und damit die anderen Kräfte, die damals noch die Hoffnung hatten, ein demokratisches System zu schaffen, in ihren Bemühungen geschwächt haben.
Auch das müssen wir in aller Ruhe untersuchen und uns damit auseinandersetzen.
— Genau das ist der Punkt, wo die Untersuchungen ansetzen müssen. Man muß deutlich machen, wo der Ausgangspunkt war.Es muß dann aber auch Klarheit darüber geben, daß das zu Entwicklungen führte, die es 1949 leichter machten, den DDR-SED-Staat in dieser Form zu bilden. Dazu gehört — das halte ich für ein ganz gewichtiges Kapitel —, daß man den Beginn der Freien Deutschen Jugend 1946 sehr sorgfältig untersucht. Denn machen wir uns nichts vor: Mit dieser Staatsjugend, die eingeführt wurde, wurde die Voraussetzung geschaffen, daß man über Jahrzehnte jungen Menschen das einimpfen konnte, was zumindest zum Dulden, zum Mittragen geführt hat, zum Glauben daran, daß es doch der richtige Weg sei. Man muß untersuchen, was es bedeutet hat, daß 1946, als
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Wolfgang Mischnickdie FDJ gegründet wurde, HJ-Führer pauschal übernommen wurden unter dem Motto: Entweder ihr macht mit, oder ihr geht in Haft. Warum sage ich das? Daß man daraus die Lehren für die Zukunft zieht und sichtbar macht, wo man bei Weichenstellungen aufpassen muß, die für die künftige Entwicklung vielleicht gefährlich sein könnten.Das bedeutet doch, daß man das Erziehungssystem anpacken muß. Ein einzügiges, ein einheitliches Erziehungssystem birgt immer in sich, daß die Gefahr größer wird, daß Diktaturen Zugriff auf alle haben. Ein pluralistisches Erziehungssystem, wie wir es für richtig halten, hat eine größere Chance, solchen Gefahren zu wehren. Auch das als Erfahrungswert sichtbar zu machen scheint mir notwendig zu sein.
Meine Damen und Herren, ich gehe auch nicht darüber hinweg, daß man natürlich die Ministerpräsidentenkonferenz in München untersuchen muß: daß es damals Einwirkungen von außen gab, um manche Dinge, die man damals noch versucht hatte zu bewegen, nicht in die richtige Richtung zu bringen.Wir war doch die Parole: Die Partei hat immer recht. Ganz nebenbei: Auch Parteitage haben nicht immer recht. Was will ich damit sagen? Es muß herausgearbeitet werden, daß in einem freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat die Staatsgewalt nicht von einer einzelnen Gruppierung ausgeübt werden darf.
Hier muß es vielmehr eine Trennung geben. Ganz nebenbei: Daß es bei absoluten Mehrheiten auch in unserem Bereich manchmal Gefahren gibt, ist nicht zu verschweigen. Das ist ein Thema, das man von beiden Seiten untersuchen muß.
— Natürlich. Weil es zum Demokratieverständnis insgesamt gehört.
Was ist aber auch notwendig? Wenn wir werten und bewerten wollen, warum manche Entwicklungen so gekommen sind, müssen wir auch sehen, daß der Versuch 1953, sich zu befreien, scheiterte, weil die Besatzungsmacht diesen Aufstand niederknüppelte, weil man von westlicher Seite enttäuscht wurde. Auch das gehört für mich zur Aufarbeitung:
daß 1956 das, was in Ungarn geschah, natürlich für die Vielzahl der Menschen, die anders dachten, den Eindruck erwecken mußte: Wir haben im Augenblick keine Chance, wir müssen uns einrichten; daß 1961 der Mauerbau natürlich dazu geführt hat, daß viele meinten: Nun liegt eine lange Zeit vor uns, und das, was mit der Fluchtbewegung von Hunderttausenden, ja Millionen, dem Abmarsch, geschehen ist, ist auch — ich sage das so offen, weil ich keine Legendenbildung haben will — mit Duldung des Westens geschehen. Da ist das Gespräch Chruschtschow-Kennedy in Wien, das man sehen muß — nicht, weil ich anklagen, weil ich andere beschuldigen will, sondern weil ich vermeiden will, daß morgen oder übermorgen der Eindruck entsteht, es wäre allein Sache der Deutschen gewesen, dies abzuschütteln. Vielmehr war es so, daß internationale Gesichtspunkte eine Rolle gespielt haben, die dann danach dazu führten, daß auf einer anderen Ausgangsbasis versucht werden mußte, an die Lösung der Probleme heranzugehen. Das gehört mit dazu.
Meine Damen und Herren, 1968 die Niederschlagung der Reformbewegung in der CSSR unter Mitwirkung der Nationalen Volksarmee war doch wiederum ein Punkt, bei dem der Eindruck entstehen mußte, hier werde alles hingenommen. Ich erinnere mich noch sehr genau dieser Nacht, als es manche Sorge bei uns innerhalb der Bundesrepublik gab: Könnte dieser Einmarsch nicht vielleicht bedeuten, daß man über die Grenzen hinweggeht? Ich habe damals schon gesagt: Das ist klar geregelt. Hier gibt es die Einflußspähren. Ich wiederhole noch einmal: Ich will damit niemanden anklagen, ich will nur, daß die Aufarbeitung wirklich richtig geschieht und nicht einseitig bei einer Seite stehenbleibt.
Dazu gehört natürlich auch, obwohl ich geneigt wäre, hier noch zu vielen Einzelpunkten Stellung zu nehmen — aber die Zeit läßt es nicht zu —, daß diejenigen, die nur einen besseren Sozialismus wollten — da haben wir manches gehört —, offensichtlich bis heute nicht erkannt haben, daß das ganze System, seine ideologische Grundlage, falsch war und daß sie sich jetzt selbst prüfen müssen, ob sie nicht auf dieser falschen Grundlage entscheidend dazu beigetragen haben, daß wir heute diese Vergangenheit aufarbeiten müssen.
Wenn sich jemand davon nicht lösen kann, gut, das müssen wir zur Kenntnis nehmen.Ich verstehe, daß es manchen gibt,
— kleinen Augenblick, lassen Sie mich noch einen Satz sagen; vielleicht hat es sich dann schon erledigt —, der sagt:Mein Vater war Kommunist, er ist in der Nazi-Zeit verhaftet worden, ins Konzentrationslager gebracht worden, vielleicht sogar umgekommen oder hatte das Glück zurückzukommen, hat dann mit beim Aufbau gewirkt; ich bin als Kind dort erzogen worden; für mich war das die Welt, von der ich glaubte, daß dies auf Dauer das Richtige ist.
Da fällt es schwer, heute einzusehen, daß hier etwas zusammenbrach. — Ganz nebenbei: Das ist ja auch 1945 bei vielen geschehen, daß etwas zusammenbrach, von dem man glaubte, daß es richtig gewesen
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6744 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Wolfgang Mischnickist. Das hat doch nichts damit zu tun, daß man ein System verteidigt, sondern nur damit, daß man versucht, zu erforschen, zu erklären, zu erfassen, was die Hintergründe gewesen sind. Wenn man diese Aufgabe sieht, dann ist das ein wichtiger Punkt für die Aufarbeitung unserer Vergangenheit.Bitte schön.
Eine Zwischenfrage.
Herr Mischnick, ist stimme vielem von dem zu, was Sie gesagt haben. Aber meinen Sie, daß die Art, wie hier zum Teil gehandelt und gerufen wird, z. B. bei meiner Rede, ermöglicht, einen vernünftigen Dialog mit denen zu führen, die für einen demokratischen Sozialismus waren und, was ich von mir sagen muß, auch noch sind?
Herr Kollege Heuer, für mich ist es schwer, etwas dazu zu sagen, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil ich mich immer um einen fairen Umgang bemüht habe. Aber ich verstehe nicht, wenn heute nicht endlich die Einsicht besteht, daß es nicht einzelne Personen oder Persönlichkeiten waren, die diesen Staat DDR, wie Sie es genannt haben, ins Verderben geführt haben, sondern daß es das System war, das dort bestand. Da hätte sein können, wer wollte, es wäre zugrunde gegangen.
Da habe ich das Gefühl, daß Sie noch nicht soweit sind, dies einzusehen. Das ist das Problem.
— Bitte.
Meinen Sie, daß die Art des Umgangs mit mir und meinesgleichen heute und auch mit den Wissenschaftlern in Ostdeutschland wirklich in der Lage ist, uns bzw. sie von den Vorzügen des neuen Systems zu überzeugen?
Ich muß Ihnen ganz offen sagen: Das hängt natürlich sehr oft davon ab, wie der Umgang mit den Andersdenkenden von deren und von Ihrer Seite her erfolgt. Es ist doch häufig so, daß es aus dem Wald so wieder herausschallt, wie man es hineingeschrien hat. Das ist ein Gesichtspunkt. Daß Sie heute schon wieder gesagt haben, der Kapitalismus sei nun eigentlich eine ganz schlimme Geschichte und wir hätten uns überhaupt nicht mit der Nazi-Vergangenheit auseinandergesetzt, das ist doch ein Punkt, der einfach nicht richtig ist. Wenn Sie das nicht lernen, wird natürlich die Gefahr immer wieder groß sein, daß man sich so auseinandersetzt, wie es eben geschehen ist.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nur noch zu einem Bereich ein paar kurze Bemerkungen machen. Wir sind jetzt dabei, die Tätigkeit der Stasi z. B. mit Akteneinsicht, verbunden mit der Verbreitung von Schuld, Mitwirkung usw., aufzuarbeiten. Ich habe die große Sorge, daß die berechtigten Interessen derjenigen, die als Opfer Einblick haben, und die berechtigten Interessen derjenigen, die als Dritte, nicht als Täter, beteiligt sein können, nicht immer ganz auseinandergehalten werden, so daß man da sehr aufpassen muß.
Ein zweites: Wissen Sie, der Vater oder die Mutter, die dem Kind ersparen wollten, Schwierigkeiten bei der Berufswahl zu haben, und sich dann zu irgend etwas entschieden haben, ohne daß sie straffällig geworden sind, sind für mich anders zu beurteilen als diejenigen, die vielleicht formal nirgendwo beteiligt gewesen sind, aber heute plötzlich so tun, als seien sie allein die Besseren gewesen.
Der Mann, der zwar in dem System verhaftet war, z. B. — was weiß ich — als Wachtmeister oder Feldwebel der Volkspolizei, dem plötzlich wegen Westkontakten, die von ihm gemeldet worden waren, gesagt wird: Du mußt dich jetzt entscheiden: Scheidung oder raus aus dem Beruf, der sich für das Herausgehen aus dem Beruf entscheidet und dem heute vielleicht gesagt wird: Auch du warst ja bei der Volkspolizei, obwohl das schon sechs oder sieben Jahre her ist, dieser Mann kann mutiger gewesen sein als mancher anderer, der sich nie geäußert hat.
Ich will die Differenzierung. Das gilt für Künstler, das gilt für Sportler usw.
Es ist mehrfach gesagt worden — auch ich will es erwähnen, damit man nicht meint, ich denke nicht daran —: Die Anordnenden, die Netzauswerfer, die Bedrohenden, das sind doch die wirklichen Täter. Um diese muß man sich mehr kümmern als um diejenigen, die hineingeschlüpft, hineingeschlittert sind oder mißbraucht worden sind. Hier anzusetzen, das wird eine ganz entscheidende Aufgabe sein.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß sagen: Wenn es hilft, der Selbstgerechtigkeit mancher, vielleicht vieler in ganz Deutschland — das sage ich ausdrücklich — mit der Arbeit der geplanten Enquete-Kommission zu begegnen, dann wird sie in der vor uns liegenden Zeit nicht nur einen Sinn haben, sondern uns weiterhelfen. Denn die Selbstgerechtigkeit derer, die nichts davon durchlitten haben, ist schlimmer als manches, was man heute als Tat verfolgt.
Herzlichen Dank.
Nun hat der Kollege Rolf Schwanitz das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Man soll bei einem solch diffizilen und ausführlich behandelten Debattenthema eigentlich keine Noten verteilen. Ich will aber auf jeden Fall sagen, daß nach den vielen Zwischentönen der Redebeiträge von Kollegen Mischnick und Herrn Eggert bei mir der Mut, daß wir auch schaffen, was wir uns vorgenommen haben, wieder ein wenig größer ist. Dafür will ich an dieser Stelle ausdrücklich meinen Dank sagen.
Ich kann es mir nicht ersparen, ein Wort zu dem zu sagen, was Kollege Dr. Heuer in seiner Rede ausgeführt hat. Ich möchte hier nur auf einen Satz eingehen, weil er mir einfach wehtut. Wenn ich es richtig verstanden habe, Kollege Heuer, haben Sie gesagt, die Menschen in der DDR hätten die DDR weiter gewollt. Dazu muß ich ganz einfach sagen: Ich komme zu einer vollkommen anderen Einschätzung der damaligen Situation in den Jahren 1989/90. Man muß sich an das erinnern, was damals auf den Straßen vor sich ging. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Unterschriftenaktion „Für unser Land". Ich erinnere daran, wie wenig Resonanz diese Aktion fand
und wie die Leute mit den Transparenten, auf denen dieser Slogan stand, in den Demonstrationen untergegangen sind. Es bestand der eindeutige Wille, dies solide zu Ende zu bringen, aber eben zu Ende zu bringen. Das war das Votum der Menschen in den Jahren 1989/90.Das, was wir heute tun wollen, ist eigentlich die Fortsetzung dessen. Das hat nichts mit Siegermentalität zu tim.
Der Bundestag hat heute, nachdem wir vor nicht allzulanger Zeit das Stasi-Unterlagen-Gesetz und das Bundesarchivgesetz verabschiedet haben, den dritten Punkt auf der Tagesordnung, bei dem wir versuchen, etwas für die Aufarbeitung der Vergangenheit zu tun. Ich möchte einige Bemerkungen zu der Frage machen, welche Leistungen man von dieser Enquete-Kommission erwarten kann. Mir scheint, das ist für uns alle doch noch mit einem gewissen Fragezeichen versehen.Ich glaube, die Leistungen dieser Enquete-Kommission sind auf drei Ebenen zu erwarten. Die erste Ebene ist — auch da möchte ich mich nicht einer eigenen Aussage enthalten —, daß diese Enquete-Kommission etwas gegen die Schieflage der Aufarbeitung tut, die wir derzeit gerade in den neuen Bundesländern erleben. Wir haben schon darüber geredet: Die Vergangenheit wird auf den Punkt Staatssicherheit konzentriert. Die Staatssicherheit wird auf den Punkt der Tätigkeit von Inoffiziellen Mitarbeitern konzentriert. Eine Differenzierung fehlt vollständig. Es gibt zur Zeit keinen Mut, ausgewogen und differenziert über dieses Thema zu reden. Auchbei den Kommunen in den neuen Bundesländern gibt es keinen derartigen Mut. Man möchte das gern wegdelegieren, man möchte sich nicht die Hände schmutzig machen. Es ist bei den sozialen Irritationen, die es in den neuen Bundesländern gibt, sicher auch eine schwierige Aufgabe. Es handelt sich um ein kompliziertes Thema. Niemand redet über die Führungsoffiziere, niemand redet über die Befehlsstrukturen der SED auf der Kreisebene, der Bezirksebene und der zentralen Ebene.
Ich erinnere mich sehr gut an das unvergeßliche Zitat von Erich Loest in seinem Buch „Zorn des Schafes" aus einem Brief des damaligen stellvertretenden Kulturministers Höpcke, der heute, wie wir alle wissen, im thüringischen Landtag sitzt, an das Politbüromitglied Hager. Dort schreibt Herr Höpcke, der Genosse Hager möge Herrn Höpcke, also ihn selbst, im Falle Loest zu diesem und jenem beauftragen. Das geschah natürlich auch.Diese Trennung zwischen der Befehlsebene und der geistigen Ebene, der Ebene der Urheberschaft, geht vollständig verloren. Diese müssen wir auch einmal angehen. Das geschieht hoffentlich in dieser Enquete-Kommission. Wir müssen fragen: Wo waren die entsprechenden Entscheidungsgremien? Wo steht Verantwortlichkeit? Daß diese Schieflage gemindert wird, verspreche ich mir auch von dieser Kommission.Die zweite Ebene von Leistungen, die ich von der Enquete-Kommission erwarte, ist, daß die Enquete-Kommission sich damit auseinandersetzen und den Versuch starten muß, die doch noch weißen Flecken in der Unterdrückungsgeschichte dieser Vergangenheit aufzuarbeiten, daß sie — ich relativiere das — zumindest den Versuch macht, damit zu beginnen.Wir wissen längst nicht alles. Teile der Unterdrükkungsformen, die in der DDR existent waren, sind noch immer verborgen. Wie groß war tatsächlich der Umfang der Stasi-Präsenz in der Wirtschaft, in den Betrieben? Welche Rolle spielten die Kaderleitungen und das ganze Personalwesen an dieser Stelle? Wie wurde das System der Internierungslager durch die Bezirkseinsatzleitungen organisiert und geplant? Was war dort vorgesehen? Welche Aufträge und Anträge, welche Vorgehensweisen hatten die Abteilungen für innere Angelegenheiten bei den Räten der Kreise und der Bezirke beim Schikanieren von Ausreiseersuchenden an dieser Stelle?Hier ist vieles bei uns nur im Gefühl vorhanden, ohne daß wir detailliertes Wissen haben. Hier kann aber nur Wissen die Befähigung zur Differenzierung schaffen. Die Enquete-Kommission muß versuchen, mit diesem Prozeß zu beginnen.Eine dritte Leistungsebene erwarte ich von der Enquete-Kommission. Sie ist für mich — ich will das offen bekennen — vielleicht sogar die wichtigste. Ich erwarte von der Enquete-Kommission, daß sie ein
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6746 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Rolf SchwanitzSignal für die Opfer und für die Hinterbliebenen setzt.
Dabei geht es — das will ich gern voranstellen — nicht um Rache oder Vergeltung. Aber ich will auch ganz deutlich sagen: Die vielen Toten, die mehr als zehntausend Toten in Bautzen, die mehr als zwanzigtausend Toten in Sachsenhausen, die vielen unschuldig Verurteilten und Schikanierten erwarten vom vereinten Deutschland, daß ihr Schicksal nicht vergeblich erlebt worden ist; sie erwarten von diesem Staat, daß bei allen wirtschaftlichen und sozialen Problemen — darüber werden sich Regierung und Opposition an dieser Stelle noch genug streiten — dieser Staat das nicht einfach vergißt und nicht einfach zur Tagesordnung und zum Alltäglichen übergeht, sondern sich dieser Schicksale annimmt und offenlegt. Denn Offenheit und Erkennen ist auch ein Teil von Gerechtigkeit. Und Gerechtigkeitsdefizite werden bleiben; ich glaube, das ist uns allen durchaus bewußt. Wir können die Wunden bei den Opfern nur dann heilen, wenn diese Offenlegung geschieht.Das Hadern der Opfer mit ihrer eigenen Geschichte, das ich schon an vielen Stellen bemerke, und die Frage, ob es sich denn überhaupt gelohnt hat, sich so zu verhalten, schlagen uns ja schon entgegen. Diesem Hadern muß etwas entgegengesetzt werden. Hierin steckt vieles, was mit Vertrauen zur Demokratie zu tun hat. Hier müssen wir etwas leisten, um auch über die schwierigen Zeiten der nächsten Jahre hinwegzukommen.Aber ich glaube auch, daß der Bundestag selber als Organ von dieser Enquete-Kommission eine ganze Reihe wichtiger Informationen und Hilfsgrößen erwarten kann. Ich will bloß das Problem der Verjährung von Regierungskriminalität ins Feld führen. Reicht es aus, daß man sich eventuell einigt, daß die Verjährung erst mit dem 3. Oktober 1990 losgehen soll, also vorher quasi gehemmt war? Oder werden wir eventuell zu der Überlegung kommen, daß man die Verjährungsfrist verlängern muß? Das kann natürlich erst dann geschehen, wenn wir uns über den Tatenumfang Kenntnis verschafft haben. Hierzu wird die Enquete-Kommission hoffentlich auch Beiträge direkt für den Bundestag leisten können.Und wie ist das mit den Bahnen, in denen die Aufarbeitung künftig laufen soll, wenn wir über diese schwierige Phase der ersten zwei, drei Jahre, in denen wir diese Defizite haben, hinwegkommen? Soll die Aufarbeitung dann Universitäten überlassen werden? Oder sollten wir nicht Institutionen schaffen, die sich mit diesem Problem auseinandersetzen? Es ist ein Thema, auf das wir momentan noch keine Antwort haben. Die Enquete wird uns hier sicherlich auch ein ganzes Stück weiterbringen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluß noch ein paar Worte zur parlamentarischen Besonderheit dieser Enquete-Kommission hier sagen. Bei dieser Enquete-Kommission stehen die Abgeordneten in einer besonderen geschichtlichen Verantwortung. Ich glaube schon, daß das etwas Untypischesist, was wir hier machen. Das hat mit dem eigentlichen Dasein von Politikern, von Abgeordneten in Oppositions- und Regierungsposition relativ wenig zu tun; das ist sicherlich so. Aber ich glaube, wir müssen hier über unseren Schatten springen. Es gibt gerade gegenüber den Opfern so etwas wie einen Zwang zum Konsens. Ich will hier nicht verhehlen, daß ich auch heute bei der Debatte an einigen Stellen Angst hatte, daß wir das nicht schaffen. Ich habe deswegen am Anfang gesagt: „Mir ist jetzt wieder wohler.” Aber natürlich sind meine Ängste an diesem Punkt nicht vollständig über dem Berg. Wir werden Streit nicht vermeiden können; darüber bin ich mir klar. Aber wenn es nicht gelingt, meine Damen und Herren, parteipolitische Interessen zu minimieren und die Themen in der Enquete so aufzugreifen, wie sie für das Leben in der DDR und in der SBZ bestimmend waren, dann ist unser Auftrag vor der Öffentlichkeit gescheitert.Hier wird es zwei Eckpunkte geben. Der erste Eckpunkt ist diese Debatte heute, wo wir das zeigen müssen. Der zweite Eckpunkt wird die Frage sein, ob es gelingt, bis zum 20. Mai einen konsensfähigen Arbeitsauftrag für die Enquete zu erarbeiten, den man der Öffentlichkeit auch zeigen kann und nicht nur der eigenen Partei. Das wird ein Punkt sein, wo wir noch Leistungen erbringen müssen, und da sind nicht nur die Mitglieder aufgefordert, sondern auch die Fraktionen, die hinter den Mitgliedern stehen. Ich glaube, hier müssen wir ran, auch wenn wir vor den Schwierigkeiten Angst haben. — Danke schön.
Nun hat der Kollege Dr. Gerhard Friedrich das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte eingangs kurz auf zwei Vorredner eingehen, zunächst auf den Kollegen Heuer, der sich hier wiederholt darüber beklagt hat, daß wir PDS-Reden mit Zwischenrufen stören. Jetzt will ich mal den harmloseren Vorwurf hier wiederholen.Herr Kollege Heuer, Sie haben schriftlich und mündlich empfohlen, daß die Enquete-Kommission gleichgewichtig Fehlentwicklungen in den alten Bundesländern und SED-Unrecht und SED-Verbrechen untersucht. Damit erweist sich der Kollege Heuer als ein ganz großer Verharmloser. Das empört uns, und deshalb gibt es Zwischenrufe.
Meine Damen und Herren, mir wird da immer mehr klar, weshalb sich diese Partei nicht neu gegründet hat, um einen Neuanfang deutlich zu machen, sondern sich damit begnügt hat, nur einen neuen Namen darüber zu stülpen, aber die Inhalte offensichtlich im wesentlichen beizubehalten.
Das zweite: Altbundeskanzler Willy Brandt hat uns durch seine Rede heute Vormittag gezwungen, das
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Dr. Gerhard Friedrichaufzugreifen, was wir als deutschlandpolitische Auseinandersetzung hier 40 Jahre lang erlebt haben. Das war heute früh notwendig; aber ich möchte — durchaus in ähnlichem Sinne wie mein Vorredner, der das angedeutet hat — empfehlen, diese Auseinandersetzung wenigstens nicht schwerpunktmäßig in diese Enquete-Kommission hineinzutragen.
Willy Brandt hat gesagt: Wir haben überhaupt keine Probleme, daß unsere Wahlprogramme aus dem Jahr 1987 zitiert werden. Da steht drin: Der Kern der Deutschen Frage ist die Freiheit. Deshalb sage ich parteipolitisch völlig uneigennützig: Diese Auseinandersetzung ist wieder einmal die Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition. Sie ist notwendig. Aber behandeln wir sie an einer anderen Stelle! Momentan und in der Enquete-Kommission interessieren uns weniger die deutschlandpolitischen Sünden der SPD als die SED-Verbrechen; davon dürfen wir nicht ablenken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich schwerpunktmäßig mit der Rolle der Justiz — die sie bisher gespielt hat und die sie in Zukunft spielen muß — und damit befassen, daß diese Enquete-Kommission die Arbeit der Justiz nicht ersetzen, sondern ergänzen soll. Anlaß ist für mich folgendes Zitat — ich kann es nicht einmal mehr zuordnen, ich habe es mir aber gemerkt, weil es mich tief getroffen hat und mich immer noch beschäftigt —: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat. "Hier kommt die Enttäuschung darüber zum Ausdruck — Kollegen haben das schon angedeutet —, daß im Hinblick auf die Schüsse an der Mauer zur Zeit ausschließlich diejenigen angeklagt werden, die den Finger am Abzug hatten, nicht aber die Schreibtischtäter, die politischen Hintermänner; die Enttäuschung darüber, daß ein Großteil der SED-Prominenz noch heute frei herumläuft und sich profimäßig vermarktet und andere SED-Größen — heute gibt es wieder Pressemeldungen darüber — bisher nur wegen Nebensächlichem angeklagt wurden: Untreue usw.Natürlich wäre auch bei uns im Westen die Empörung groß, wenn hinsichtlich eines bekannten Totschlägers eine Anklage nur deshalb erhoben würde, weil er bei einem Streifzug so nebenbei einen Zigarettenautomaten geplündert hat. Diese Empörung gerade in den neuen Bundesländern muß man verstehen.Zwar habe auch ich ein gewisses Verständnis für den Ruf nach einem schnellen Prozeß, aber unterstützen kann ich diese Forderung nicht. In dem Augenblick, in dem sich die revolutionären Kräfte in den neuen Bundesländern dafür entschieden hatten, einen gewaltfreien Weg zu gehen, auf Gewalt zu verzichten, war eigentlich klar, daß es schnelle Prozesse nicht geben kann und nicht geben darf. Der Rechtsstaat darf solchen populären Forderungen nicht entsprechen. Er würde sich sonst selbst aufgeben. Wir verurteilen nicht auf Grund allgemeiner Eindrücke — auch wenn die noch so richtig sind —, sondern aufGrund vieler Einzelfakten, auch wenn man diese in einem Prozeß erst mühsam sammeln muß.Wir haben uns dafür entschieden, daß sozusagen lieber ein Schuldiger frei herumläuft, als ein Unschuldiger zu Unrecht hinter Gefängnismauern verschwindet. Diejenigen, die unter diesem Unrechtsregime gelitten haben, müßten deshalb eigentlich Erleichterung empfinden. Und wie für alles im Leben müssen auch diese Opfer einen Preis bezahlen. Der Preis besteht darin, daß nicht nur sie vor Willkür geschützt sind, sondern auch die Täter, unter denen sie so lange gelitten haben.Ich möchte aber nicht den Eindruck erwecken, als ob alles, was ich an nicht Befriedigendem angesprochen habe, sozusagen unabänderlich und die notwendige Folge der Anwendung unseres Strafgesetzbuches oder der Strafprozeßordnung ist. Es gibt Probleme, die wir durchaus besser lösen könnten, andere, die wir, befürchte ich, gar nicht lösen können.Es fängt schon damit an, daß wir beim Beitritt der damaligen DDR einen ganz kleinen Justizapparat übernommen haben, weil Recht „dort drüben" natürlich nicht groß-, sondern ganz kleingeschrieben wurde. Natürlich mußten wir überprüfen, ob sich diese früheren Richter und Staatsanwälte für die Justiz in einem demokratischen Staat fachlich und von den persönlichen Voraussetzungen her eignen. Schon das hat Verunsicherung ausgelöst. Und verunsicherte Menschen sagen natürlich: Ich mache am ehesten dann keinen Fehler, wenn ich überhaupt nicht entscheide.Ich habe gehört, in einzelnen Bundesländern sind 30 %, 40 % der früheren Richter übernommen worden. Damit sind sie natürlich noch lange nicht Spezialisten in der Anwendung unserer Strafpozeßordnung. Manche fordern von uns strengere Maßstäbe bei der Personalpolitik. Wir wollen hier aber nicht der PDS zuarbeiten, die den Eindruck erweckt, als würden wir es sozusagen als eine reine Westaufgabe betrachten, quasi als Sieger in der Mitte und im Osten Deutschlands aufzuräumen. Das wollen wir gerade nicht. Deshalb müssen wir bei der Personalpolitik Kompromisse schließen.In diesem Zusammenhang möchte ich den Brief eines Leitenden Oberstaatsanwalts aus einem neuen Bundesland erwähnen, der darauf aufmerksam gemacht hat, daß er von den Westkollegen, die er brauche, nach seinen Berechnungen etwa ein Siebtel habe. Dieses Siebtel ist momentan überwiegend damit beschäftigt, die übernommenen Ostrichter und junge Assessoren auszubilden. Ich darf in diesem Zusammenhang einen Appell an unsere Rechtspolitiker und auch an den Bundesjustizminister richten: Bitte sorgen Sie dafür, daß das vom Bundesrat vorgelegte Gesetz zur Vereinfachung der Rechtspflege wenigstens in den Grundzügen schnell verabschiedet werden kann. Wir müssen im Westen vorübergehend auf einen Teil der Luxusausstattung unseres Rechtsstaates verzichten, damit wir in den neuen Bundesländern endlich die Grundausstattung garantieren können.Ich möchte einen zweiten Punkt sehr kritisch ansprechen. Nach dem Tatortprinzip ist die Berliner
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Dr. Gerhard FriedrichJustiz für die Regierungs- und Vereinigungskriminalität zuständig. Es gab Vorschläge aus Bonn, eine zentrale Ermittlungsstelle einzurichten. Auch die bayerische Justizministerin hat zugestimmt und entschieden, daß diese Aufgabe bei einem Land angesiedelt bleiben soll. Ich sage den Justiz- und Innenministern der Länder: Wer sich auf Landeskompetenzen beruft — man kann dabei auf die Verfassung verweisen —, muß daraus auch die Konsequenz ziehen, diese Kompetenzen tatsächlich auszuüben.Es ist schon mehr als ärgerlich, daß es etwa neun Monate gedauert hat, bis 51 Weststaatsanwälte bei der Berliner Justiz angekommen sind. Es gibt immer noch riesige Defizite bei den Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft, bei den Kriminalbeamten. Eine Zahl, die ich mir aufgeschrieben habe, besagt, daß 33 Westkriminalbeamte in Berlin angekommen sind; eine neueste Zahl: 15 vom Bundeskriminalamt, 26 aus den alten Bundesländern. Das kann doch nicht wahr sein. Wir haben gestern noch einmal in Berlin angerufen und eine erschütternde Nachricht erhalten, nämlich die Aussage, man habe den Eindruck, daß bei der Zusammenarbeit mit den Innenministern der alten Bundesländer die Tendenz absolut lustlos sei. Das kann nicht so bleiben. Wir dürfen uns sonst nicht wundern, daß in Berlin zur Zeit bestimmte Großverfahren schlicht ruhen und nicht weiterbearbeitet werden.Der Bundesinnenminister — im Detail kann ich das aus Zeitgründen nicht vortragen — hat weitere Hilfe angeboten. Wir können von ihm aber nicht erwarten, daß er die Probleme löst. Das Bundeskriminalamt hat insgesamt etwa 1 500 ausgebildete Kriminalbeamte, Nordrhein-Westfalen 4 600. Hier wird deutlich, wo personelle Ressourcen sind und wer zur Zeit vorrangig Hilfe leisten muß.Selbst wenn diese Defizite aufgearbeitet sind, sollten wir uns nicht der Illusion hingeben, daß uns das, was an Urteilen eines Tages herauskommt, voll befriedigen wird. Wir haben heute mehrfach übereinstimmend festgestellt, daß nach der Verfassung, nach vielen Gesetzen der DDR und nach dem Statut der SED die Hauptverantwortung für alles, was in diesem Staat passiert ist, im Politbüro angesiedelt war. Wir hoffen ja immer noch, daß es eines Tages der Justiz gelingt, die Kausalkette in Einzelfällen nachzuweisen. Das ist ein mühsames Geschäft.Wenn wir uns anschauen, wie diese Männerriege im Politbüro zusammengesetzt war, dann sehen wir allerdings, daß es sich um eine Greisenriege handelt. Wir müssen unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern in den neuen Bundesländern ganz nüchtern sagen: Die Wahrscheinlichkeit, daß diese Greisenriege noch in einem verhandlungsfähigen Zustand ist, wenn ein rechtskräftiges Urteil verkündet werden kann, ist doch wirklich sehr gering. Hier müssen wir nüchtern bleiben, um nicht Erwartungen zu wecken, die wir nicht erfüllen können.Es gibt auch bei den unmittelbaren Tätern eine Unzahl von Problemen, vor allem im Bereich der Schuld. Sie werden auf Befehlsnotstand und auf Verbotsirrtum verweisen. Wir müssen uns darauf gefaßt machen, daß nicht alles, was Unrecht war, nach unseren Gesetzen strafrechtlich zu ahnden ist.Gerade deshalb hat die CSU im November des letzten Jahres erstmals die Empfehlung abgegeben, daß man diese auf Dauer nicht voll befriedigende Arbeit der Justiz durch ein parlamentarisches Gremium begleiten muß, das ergänzend Arbeit leisten soll. Die Opfer, die feststellen werden, daß nicht alle ihre Täter verurteilt werden, haben wenigstens einen Anspruch darauf, daß ihr Schicksal persönlich beschrieben werden kann — wir sollten sie übrigens einladen und ihnen die Chance geben, ihr Schicksal selbst zu schildern — und Unrecht auch politisch bewertet wird.Meine Damen und Herren, wenn wir uns schwerpunktmäßig auch noch um die richtigen Leute kümmern — dazu ist heute schon vieles gesagt worden —, dann dürfen wir nicht nur dauernd die Stasi-Akten auswerten und darüber reden. Es ist doch ganz klar, daß Herr Modrow bei seiner Überprüfung auf Mitarbeit bei der Staatssicherheit selbstverständlich als Saubermann herauskommen muß. Die Staatssicherheit durfte doch nicht über diejenigen, die angeleitet haben, die überwacht haben, Akten führen.Die eigentlich interessanten Akten — ich bitte die Enquete-Kommission, die mit in den Mittelpunkt der Diskussion zu stellen — sind die Kaderakten der SED. Ich freue mich, daß es uns gelungen ist, die gesetzlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß diese wichtigsten Personalakten der früheren DDR in staatliche Verwahrung überführt werden können.Mein letzter Satz lautet, Herr Heuer: Die Glaubwürdigkeit der PDS — früher SED — hängt natürlich ganz entscheidend davon ab, in welchem Zustand Sie uns die Kaderakten Ihrer Partei übergeben.Vielen Dank.
Jetzt hat unser Kollege Dr. Jürgen Schmude das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit der Einsetzung der Enquete-Kommission wollen wir einen Erkenntnis- und Arbeitsprozeß fördern und in eine neue Bahn bringen. Längst aber ist er im Gange und sucht sich seine Wege — angemessene und auch zweifelhafte.Von der Enquete-Kommission erwarten wir, daß sie keine Entfremdung Ost-West aufkommen läßt. Jahrzehntelang war es im Bundestag eine häufig und einhellig bekräftigte Grundüberzeugung westlicher Deuschlandpolitik, daß die Bürger der DDR Deutsche wie wir waren und daß es bei dieser Gemeinsamkeit bleiben sollte. Ich rufe das noch einmal in Erinnerung, um allen Legendenbildungen entgegenzutreten, als hätte die SPD hier eine andere Position vertreten.
Es gilt, an den damals gewonnenen Einsichten festzuhalten und schon den Ansätzen des Empfindens zu widerstreiten, als gebe es zwei Sorten Deutsche, von denen die einen oben und die anderen unten seien, die einen überlegene Beobachter und die
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Dr. Jürgen Schmudeanderen belastet mit einer kritikwürdigen Vergangenheit.Wie ungerecht solches Wertungsgefälle wäre, wird jedem schnell klar, der sich vorstellt, die Sowjetunion hätte ihre Besatzungszone nach dem Krieg in Bayern, in der Pfalz oder am Niederrhein gehabt. Im einzelnen beziehe ich mich auf das, was Herr Mischnick und Herr Schmieder dazu gesagt haben — das war sehr wichtig —, und führe fort: Eine solche Abhängigkeit, wenn wir sie denn im Westen erlebt hätten, hätte auch in anderen Teilen Deutschlands gewiß zu den gleichen Ergebnissen geführt. Dann wären eben andere Menschen in dieser Lage.Da gab es über die Jahre hin im östlichen Deutschland viel Unheil und Unterdrückung, Menschenrechtsverletzungen und Mißwirtschaft. Aber das war nur ein Teil der Wirklichkeit, die nicht im ganzen von diesen Belastungen her abgestempelt und nicht zur verlorenen Zeit erklärt werden darf. Insofern hat die Frau, die Herr Meckel vorhin zitiert hat, nicht recht. Sie hat sich irritieren lassen.
Es war doch die Lebenszeit von Menschen, die sich unter den herrschenden Umständen eingerichtet, die ihren privaten Bereich gegen totalitäre Zugriffe so gut wie möglich behauptet und ihre persönliche Lage Schritt für Schritt verbessert hatten. Trotz mancher Bedrängnis und Enttäuschung haben sie glückliche Zeiten erlebt, haben Selbstbewußtsein und ein gewisses Maß an Zufriedenheit entwickelt. Und sie haben in ihrer großen Mehrheit wachsende innere Distanz zur Besatzungsmacht sowieso, aber auch zu den deutschen Machthabern gewahrt.Darin und in ihrer schließlichen Bereitschaft, mit dem System schnell und gründlich zu brechen, unterschieden sie sich deutlich von ihren und unseren gemeinsamen Vorgängergenerationen während der Nazi-Zeit. In jener gemeinsamen deutschen Vergangenheit war die Identifikation mit dem Staat und seinen Gewaltherrschern sehr viel stärker ausgeprägt trotz des verbrecherischen Krieges und des mörderischen Rassismus.Die Auseinandersetzung mit dieser Nazi-Zeit ist nach dem Krieg zögerlich erfolgt, bald ins Stocken geraten und hat sich dann mühsam über Jahrzehnte hingezogen. Stattfinden mußte sie doch — auch schmerzhaft, aber viel zu spät und unter Inkaufnahme von schweren Nachteilen für den neuen Anfang. So ungleich die Zeiten und Verhältnisse waren, die Erfahrungen mit der erst versäumten und dann verzögerten Aufarbeitung lehren uns, daß man die Dinge nicht auf sich beruhen lassen darf und daß man der Wahrheit nicht ausweichen kann.
Der Weg zu Versöhnung und innerem Frieden — was wir ja alle wollen — führt durch die Wahrheit hindurch. Beide sind in der Abwendung von ihr nicht zu gewinnen. Deshalb sind es weder praktikable noch hilfreiche Vorschläge, mit denen angeregt wird, die gerade erst eröffnete Akteneinsicht zu beschränken oder gar zu beenden. Auch da beziehe ich mich auf das, was schon Herr Meckel gesagt hat. Die Wahrheitwürde sich auf die Dauer Bahn brechen. Vergebung und Aussöhnung müßten sich als trügerisch erweisen, wenn sie ahnungslos oder unter falschen Voraussetzungen begründet worden sind.Die Enquete-Kommission ergänzt den Weg der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit und setzt ihn in besonderer Richtung fort. Andere Vorgehensweisen werden damit nicht entbehrlich und beiseite gedrängt. So kann es durchaus sinnvoll sein, mit dem zur Zeit entstehenden Forum zur Aufklärung und Erneuerung in kleineren Bereichen und exemplarisch Menschen zum klärenden Gespräch zusammenzuführen. Und es wird natürlich weitergehen, daß Betroffene Folgerungen aus der Einsicht in ihre Akten ziehen und daß Journalisten und Wissenschaftler über gewonnene Erkenntnisse öffentlich berichten. Wünschenswert ist dabei jedoch, daß in der Wechselwirkung der verschiedenen Wege Maßstäbe geklärt und faire, sorgfältige Verfahrensweisen gefördert werden.Dem Bundespräsidenten kommt hier das Verdienst zu, ein weiteres Mal für wichtige Entscheidungen wegweisende Orientierung gegeben zu haben. Die Akten der DDR, zumal ihres Staatssicherheitsdienstes, sagt er, sind einseitig, müssen bewertet werden und dürfen nicht als objektive oder moralische Instanz für Verurteilungen genutzt werden. Das wird auch die Enquete-Kommission zu bedenken haben. Sie wird sich bemühen müssen, in den wirklichen Bedeutungsgehalt von Äußerungen und Vermerken aus der damaligen Sicht einzudringen. Da wurden Leistungsberichte erstattet und Phrasen gedroschen, die niemand besonders ernst nahm. Sie waren eben so üblich. Und es wurde in vorsichtigen Formulierungen zwischen den Zeilen geschrieben und gelesen. Dem damaligen Zuhörer war das erkennbar; der heutige Betrachter, zumal der westliche Betrachter, sieht leicht darüber hinweg.Die Enquete-Kommission wird sich nach den Planungen für ihren Auftrag mit der Rolle der Kirche in der DDR zu befassen haben. Sie wird dabei, so hoffe ich, klare Linien in eine Diskussion bringen, die gegenwärtig von Mißdeutungen und Verdachtsunterstellungen geprägt ist. Man muß ja wahrlich nicht am Bild der „Heldenkirche" festhalten, das sich vorübergehend aus dem Überschwang der Gefühle während der Wendezeit zu entwickeln schien. Aber es hatte doch seinen Grund, daß Menschen der Kirche vertrauten, daß sie Pfarrer in verantwortliche Aufgaben für den neuen Anfang riefen oder sogar nötigten. Dieser Tatsache verdanken wir ja auch einige Mitglieder unseres Hauses.Die Menschen hatten schließlich erlebt, daß die Kirche einzelnen und Gruppen Schutz gewährte und daß sie ihrem Auftrag treu geblieben war, ohne sich vom Staat vereinnahmen zu lassen. Wir alle haben das erlebt, woran Herr Meckel und Herr Schäuble heute noch einmal erinnert haben, und haben im Bundestag oft genug die Kirche — meist war die evangelische gemeint — lobend gewürdigt. Führende Kirchenleute aus der DDR waren in Bonn begehrte Gesprächspartner. Dieser Einstellung lagen Erlebnisse und Erfahrungen aus vielen Jahren zugrunde.
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6750 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Dr. Jürgen SchmudeSoll das alles nicht wahr, soll das alles Selbsttäuschung gewesen sein, weil sich jetzt ergibt, daß sich einzelne Pfarrer und andere kirchliche Funktionsträger in anstößiger Weise mit dem Staatssicherheitsdienst eingelassen haben? Sollen diejenigen, denen man im Vertrauen auf ihre besonderen Beziehungen stets die schwierigsten Aufgaben im Umgang mit dem DDR-Staat zugeschoben hatte, jetzt dafür verurteilt werden, daß sie die damals erwarteten weitreichenden Beziehungen auch wirklich hatten und nutzten?Meine Damen und Herren, das Ganze ist ein gewichtiger Beispielsfall dafür, wie jahrzehntelang hochangesehene Menschen mit völlig unsachgemäßer Verwendung von Informationsmaterial und mit höchst unpräzisen Verdächtigungen herabgesetzt werden.Ich will ein Beispiel nennen. Da reicht offenbar nicht der naive Mißbrauch von Stasi-Akten. Es kommen auch oft genug — heute vormittag beklagt — die ehemaligen Offiziere des Staatssicherheitsdienstes zu Bedeutung und Ehren. Das Beispiel: Herr Diestel, CDU-Fraktionschef in Brandenburg, scheut nicht vor der offensichtlich absurden Verunglimpfung zurück, drei Viertel der kirchlichen Mitarbeiter seien Inoffizielle Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes gewesen. Man stelle sich das einmal vor.
Zur Berichtigung aufgefordert und nach Beweisen befragt, erklärt er, das habe er von einem hohen Stasi-Offizier erfahren. Das ist dann auch schon alles. Der weiteren Beweisführung bedarf es anscheinend nicht, um die Evangelische Kirche in den Schmutz zu zerren. Daß derselbe Stasi-Offizier in einem Magazin-Interview in dieser Woche erklärt, er habe eine solche Information gar nicht gegeben, sei als Fußnote hinzugefügt. Für die Schäbigkeit des Rufmordes ist es wahrlich ohne Belang.Zu wünschen ist, daß die Medien gegenüber solchem ebenso bösen wie leichtfertigen Gerede noch kritischere Distanz wahren.
Der Bundespräsident hat die Pressefreiheit gewürdigt, aber vor dem Mißbrauch als Verleumdungsfreiheit gewarnt und der Verbreitung von Angst und Feindschaft heftig widersprochen. Sehr viele Journalisten — dafür bin ich dankbar — haben diese Mahnungen aufgegriffen und unterstützt. Andere, die stärker gemeint waren, werden sich davon hoffentlich noch beeindrucken lassen.Gar nicht ernst genug können wir aus dem Westen Deutschlands die Ermahnung des Bundespräsidenten nehmen, uns vor der Rolle selbstgerechter Sprecher der Opfer oder gar der Rolle von Richtern zu hüten. In der Tat gilt es, über Verstrickung und Schuld zu reden. Aber zu ihnen ist es manchmal unter notvollen Umständen in einer Lage gekommen, in der sich die Bürger des westlichen Deutschlands nicht befunden haben. Der Versuchung oder dem Druck, die manchen Ostdeutschen in die Verstrickung geführt haben, sind die Westdeutschen so wenig ausgesetzt gewesen wie der Belastung mit der sowjetischen Besatzungsmacht. Deshalb ist bei Aburteilungen aus westlichem Mund Zurückhaltung geboten, und zwar schon gegenwärtig und auch bei den vielen Ergebnissen, die wir von der Enquete-Kommission erwarten.Mit der Einsetzung dieser Kommission eröffnen wir uns eine große Chance. Sie kann — noch wirksamer als alle anderen Aufklärungsverfahren — eine gründliche und abgewogene Erfassung wichtiger Zusammenhänge der jüngsten Vergangenheit leisten. Damit kann sie dazu beitragen, daß Zufälligkeit sowie Hektik und Hysterie der gegenwärtigen Auseinandersetzungen von einer sachgemäßen Gesamtbetrachtung abgelöst werden, die eine zuverlässigere Einordnung und Bewertung der einzelnen Vorgänge ermöglicht. Das kann so sein, und das sollte so sein. Es wird nur so sein, wenn alle Beteiligten der Versuchung widerstehen, sich parteipolitisch übereinander statt über die Sache herzumachen.
Wir haben oft Wahlkämpfe, meine Damen und Herren. Aber die Erstellung von Wahlkampfmaterial darf nicht einmal zum Nebenzweck der Kommissionsarbeit werden.
Auch sollte der Versuchung widerstanden werden, die deutschlandpolitischen Streitereien der letzten Jahrzehnte wiederaufzunehmen und einer nachträglichen Abrechnung zuzuführen.
Damit will ich keinesfalls ausschließen, daß deutschlandpolitische Leitvorstellungen und die Praxis der innerdeutschen Beziehungen und Verbindungen in ihrer Wirkung auf die Entwicklung in der DDR gewürdigt werden. Geschieht das gründlich und sorgfältig, ist es sogar ein großer Gewinn, jedenfalls im Verhältnis zu dem leider häufigen Gebrauch kurzer Anspielungen und Verdächtigungen, mit denen politischen Gegnern sozusagen Versagen und Irrwege durch Schlagwort und Stichwort vorgeworfen werden. Eine gründliche Diskussion täte da wahrlich gut.
Ob die Kommission in ihrer politischen Besetzung diese klärende Aussprache zustande bringt, ist keinesfalls sicher. Vielleicht lassen die Politiker da den Wissenschaftlern den Vortritt. Vielleicht gibt dieser Aspekt auch noch einen zusätzlichen Anreiz, die Zahl der Wissenschaftler zu erhöhen.
Ich will zur Deutschlandpolitik nur noch einen Beispielsfall aufgreifen, über den ebenfalls zu sprechen sein wird. Ob im Rahmen dieser Politik alle einzelnen Schritte gleichermaßen hilfreich waren, darüber wäre ein offener Disput sehr reizvoll. Aber die zwei Beispiele: Ich halte die Vereinbarung des Dialog- und Streitpapiers zwischen SPD und SED im August 1987 auch nachträglich für ebenso richtig wie den anschließend im September 1987 stattfindenden offiziellen Empfang Honeckers in der Bundesrepu-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6751
Dr. Jürgen Schmudebilk. Beides hat der DDR-Führung nur dem flüchtigen Anschein nach genützt. In Wahrheit hat es sie sogleich in innere Konflikte gestürzt, alte politische Positionen der dortigen Führung öffentlich demontiert und sie damit nachhaltig geschwächt. Das läßt sich in einer umfassenden Betrachtung der damaligen Abläufe sehr gut belegen, aber eben nicht bei der Beschränkung auf kurze Blicke und schnelle Vorwürfe.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, mit gewichtigen Gründen haben wir uns oft genug gegenseitig ermahnt, uns nicht von deutschen Selbstbetrachtungen und Bemühungen nur um die eigene Sache gefangennehmen zu lassen. Unsere Verpflichtungen gegenüber anderen in der Welt dürfen nicht notleidend werden. Der Bedarf an Hilfe und Zuwendung ist ja nach der Einheit noch viel größer geworden. Aber unser eigenes Haus müssen wir in Ordnung halten und — bei Bedarf — in Ordnung bringen. Das brauchen wir für unser Selbstverständnis als Bürger des nun alle Deutschen umfassenden demokratischen und sozialen Rechtsstaats Bundesrepublik Deutschland. Die Enquete-Kommission kann und soll uns dazu wertvolle Hilfe leisten.Danke schön.
Nun hat das Wort unsere Kollegin Angela Merkel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zum zweitenmal stehen wir Deutsche vor der schwierigen Frage, wie wir mit einer totalitären Vergangenheit umgehen sollen. Aus meiner Sicht sollten wir dabei vor allem beachten, daß es immer um Menschen, um ihre Handlungen und um ihre Schwächen geht und daß sich die Aufteilung von Schwächen und Stärken nicht nach der Geographie richtet: im Westen nur die Charakterfesten, im Osten nur die Täter, Anpasser oder Mitläufer. Wir müssen vielmehr, denke ich, auch nach den Alltäglichkeiten und den Lebensumständen im geteilten Deutschland fragen. Dazu möchte ich zwei Erlebnisse nennen.Ein Schüler einer elften Klasse in Suhl möchte Biologie studieren. Das dafür notwendige Prädikat „besonders geeignet" kann er nur erhalten, wenn er statt eineinhalb Jahre drei Jahre zur Armee geht.In Emden trifft bei einer Familie ein Brief ein, in dem von den Verwandten in der DDR die Bitte geäußert wird, das Buch „Archipel Gulag" von Solschenizyn beim nächsten Besuch in Dresden mitzubringen.Zwei Beispiele aus dem geteilten Deutschland: In beiden Fällen haben Menschen abgewogen, ob sie Nachteile in Kauf nehmen, ob sie, wie im ersten Fall, nicht Biologie studieren, oder, wie im anderen Fall, die Aufnahme in die Liste der ständig zu Kontrollierenden riskieren wollten, nur um dieses eine Buch über die Grenze zu bringen.Mir scheint, diese beiden Geschichten machen deutlich, daß die Aufarbeitung der Vergangenheit in der DDR alle Deutschen etwas angeht. Denn niemand, weder in Ost noch in West, konnte so tun, als sei er vomSchicksal des anderen nicht betroffen. Die Teilung Deutschlands ist eine Folge des Zweiten Weltkriegs und damit Folge unserer gesamtdeutschen Geschichte. Ich denke, dies kann nicht oft genug gesagt werden.In der gegenwärtigen Diskussion über die Vergangenheit spielt der Staatssicherheitsdienst eine wichtige Rolle. Aber dabei droht mir allzu leicht die Tatsache in den Hintergrund zu rücken, daß der Staatssicherheitsdienst ein Instrument des SED-Staats war. Die SED als Einheitspartei war die alles dominierende und strukturierende Kraft. Vorbild war Lenins Partei „neuen Typs". Und jeder, der die Grundlagen der Partei zur Kenntnis nahm, mußte sehen, daß es hier um einen unteilbaren Wahrheits- und Machtanspruch für eine Elite von Genossen ging. Sie dachten und handelten nach dem alten bolschewistischen Grundsatz: Uns ist alles erlaubt, denn unsere Humanität ist absolut.Unter diesem Leitsatz ging die SED daran, die Diktatur des Proletariats in der DDR zu errichten. Klassenkampf war die Parole. Das hieß Abschottung gegen den „imperialistischen Klassenfeind". Das hieß Klassenjustiz in der Rechtsprechung, Parteilichkeit in Wissenschaft und Kunst, Enteignung des Privateigentums, Zensur in Presse und Literatur. Und das hieß Erziehung zur „allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeit" von der Kinderkrippe bis zur Universität.Dieser Klassenkampf war keineswegs nur Stalinismus. Die SED bekannte sich bis zum Schluß zu Lenin. Er hatte die „unbedingte und strengste Einheit des Willens" verlangt. Er forderte die völlige Unterordnung des Einzelnen unter die Sowjetmacht als „eine Macht, die an keine Gesetze gebunden ist".Trotz aller Rhetorik von der Befreiung des Menschen von Ausbeutung, Entfremdung und Herrschaft, der Leninismus war von Anfang an nicht etwa eine Befreiungsphilosophie, wie so oft und gerne behauptet, sondern eine Anleitung zur Unterdrückung der Massen.
Wilhelm Pieck sprach davon, die SED zu einer Millionenpartei des deutschen Volkes zu machen, „um damit alle inneren Feinde zu schlagen" . Die Folge war, daß Tausende von Demokraten — Sozialdemokraten ebenso wie Liberale und Christdemokraten — in Gefängnisse und Lager gesteckt wurden. Viele kamen dabei um, andere flohen vor Verfolgung und Druck in den Westen.Es gehört natürlich auch zur Wahrheit, daß sich unter diesem Druck viele anpaßten und der Gleichschaltung von CDU und LDPD als Blockpartei nicht widerstanden. Die SPD konnte nicht zur Blockpartei werden; sie war schon zwei Jahre vorher in der SED aufgegangen. Auch darüber müssen wir heute diskutieren.Ich denke, in dieser Hinsicht darf nichts verdrängt, nichts vertuscht werden. Wahrheit ist, daß Mitglieder aller Parteien, auch weite Teile der SPD, für die Gründung der sozialistischen Diktatur mitverantwortlich waren.
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6752 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Dr. Angela Dorothea MerkelDie Menschen, die in diesem System leben mußten, wurden zu Gefangenen im eigenen Lande. Dieses System hat es trotz großer Anstrengungen zu keiner Zeit vermocht — das müssen wir auch sehen —, daß die Menschen in der DDR sich mit ihm identifizierten. Die DDR war im Grunde schon gescheitert, noch bevor sie ins Leben trat. Sie konnte immer nur durch Panzergewalt und russische Truppen im Zaume gehalten werden. Wir haben das am 17. Juni 1953 und im Jahre 1961 erlebt.Die meisten Menschen haben diesen Staat von Anfang an als das empfunden, was er war: eine Diktatur, die auf der Anwendung von Gewalt beruhte. Die Menschen haben sich ja dagegen gewehrt, in verschiedenen Formen. Sie haben geschwiegen, sie haben sich unter dem Dach der Kirchen getroffen, sie haben sich Nischen gesucht, sie waren mehr oder weniger mutig. Aber sie haben den ständigen Konflikt von Anpassung und Widerstand gespürt.Verwundert waren wir im Osten oft darüber, welche Illusionen man sich im Westen über die DDR machte. Auch darüber müssen wir, so meine ich, diskutieren. Wie war es denn möglich, daß im Westen die sogenannten fortschrittlichen Gruppierungen den Diktaturen im Osten einen Bonus einräumten, den sich rechte Diktaturen in anderen Staaten nur erträumen konnten?
War es ein Beitrag zur Überwindung des totalitären Zwangssozialismus, als von führenden Persönlichkeiten im Westen die Forderung nach Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft erhoben wurde?
War es hilfreich, Honeckers Geraer Forderungen, die u. a. die Schließung der Erfassungsstelle für Unrechtstaten in Salzgitter betrafen, zu unterstützen? War die Forderung nach Streichung der Präambel des Grundgesetzes und nach der Aufgabe des Wiedervereinigungsgebotes nicht Wasser auf die Mühlen der DDR-Gewaltigen?
Hat man sich jemals gefragt, wie auf uns die Aussagen des heutigen Ministerpräsidenten Schröder wirkten, daß Honecker „ein zutiefst redlicher Mann" war? Hat man eigentlich einmal mit den Oppositionellen im Ostblock darüber gesprochen, was sie von der Forderung hielten, daß „Frieden wichtiger ist als Freiheit"?Was ist mit der Aufarbeitung von Vergangenheit gemeint? Ich denke, es geht vor allen Dingen um das Erinnern. Erinnern bedeutet, Strukturen und Mechanismen des SED-Regimes sichtbar zu machen. Erinnern bedeutet aber auch, sich auf die Alltäglichkeiten zu besinnen: Bespitzelung und Drangsalierung, die Dominanz des Staates über die Familie, die Unmöglichkeit, ein Gefühl für Eigentum zu entwickeln, das eindimensional ausgerichtete Bildungssystem, die Nivellierung menschlichen Lebens auf Kosten von Phantasie, Kreativität und Emotionalität.Die Dimension von Leid war sehr vielfältig in der DDR. Die, die im Gefängnis saßen — viele haben dasnicht überlebt —, die, die ständig psychisch und physisch drangsaliert wurden, haben die bittersten Erfahrungen machen müssen.Doch die Vorenthaltung grundlegender Menschenrechte, wie die Freiheit der Meinungsäußerung oder der Reise, betraf alle 17 Millionen Menschen in der DDR. Hinzu kamen ungerechtfertigte Enteignungen, Zwangsumsiedlungen und das Verbot von Büchern und Zeitschriften.Niemand, der in der DDR lebte, entkam einem Zwang. Es ging allenfalls um mehr oder weniger Mitmachen, um mehr oder weniger Kompromisse. Das hat die Denk- und Verhaltensweisen der meisten Menschen geprägt. Hier liegen Schädigungen eines Systems vor, unter denen wir noch lange leiden werden.Aber bei der Aufarbeitung muß es auch um die Bewertung von Handlungen gehen. Diese Bewertung — damit plagen wir uns heute ja herum — fällt uns besonders schwer. Sie setzt Maßstäbe oder ein Koordinatensystem voraus, wonach wir uns richten können. Heute, so scheint es mir, hat jeder noch sein eigenes Koordinatensystem, das er mit sich herumträgt und das er für sich für gut befindet. Jetzt müssen wir den Versuch machen, allgemeine Maßstäbe für die Bewertung dessen zu finden, was in der Vergangenheit geschehen ist. In dieser Frage hoffe ich auf die Enquete-Kommission.Wir werden, wenn es um die Rolle des Einzelnen in einer Diktatur geht, sehen, daß es mutige Menschen gab. Aber wir werden auch sehen, daß eine Diktatur nur dann funktioniert, wenn sich viele bereit finden, mitzulaufen und mitzumachen, und wenn sich viele zu aktivem Handeln bereit finden. Die Perfidität des SED-Regimes bestand gerade darin, menschliche Schwächen für sich auszunutzen.
Im SED-Regime kam beides zusammen — das macht. die Sache so schwierig —: einmal das individuelle Nichtstandhaltenkönnen und auf der anderen Seite die Brutalität und Heimtücke des Systems. Es wird sich herausstellen, daß die Apparate vielfältig verflochten waren, daß es aber immer Menschen waren, die handelten, und daß die Apparate ganz konkreter menschlicher Entscheidungen bedurften.Deshalb empfinde ich es wie viele andere als einen Hohn, wenn jetzt gerade diejenigen, die allen Grund hätten, wenigstens einmal eine Weile lang zu schweigen, uns weismachen wollen, daß alle Täter im Grunde auch Opfer waren.
Ich sehe es als eine herausragende Aufgabe der Enquete-Kommission an, sich des Leides der Opfer in seiner Vielfalt anzunehmen. Sie muß vor allen Dingen das leisten, was Rechtsprechung nicht kann, moralische Bewertungen vornehmen und nicht justitiable Sachverhalte zusammenstellen. Ich denke, deshalb hat die Arbeit dieser Kommission etwas mit moralischer Wiedergutmachung zu tun. Dies ist um so dringender, als wir täglich erleben, daß der Rechts-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6753
Dr. Angela MerkelStaat nicht jedes individuelle Leid wiedergutmachen kann.Aber ich glaube, Rehabilitierung reicht über den Buchstaben von Gesetzesvorschriften weit hinaus. Sie hat etwas mit einem Geist zu tun, den ich mir ab und an auch in der Rechtsprechung von Gerichten heute in der Bundesrepublik wünsche. Vor allen Dingen brauchen wir mehr Phantasie und Kreativität als die Routine jahrzehntelanger Gesetzmäßigkeit. Wir müssen jetzt, wo wir für die innere Einheit Deutschlands arbeiten, auch bereit sein, unkonventionelle Wege der Wiedergutmachung zu gehen. Es darf nicht immer gleich heißen: das Grundgesetz oder dieses und jenes läßt dies aber nicht zu. Ist es denn nicht gerechtfertigt, länger BAföG zu zahlen, wenn jemand endlich eine gewünschte Ausbildung nachholen kann? Können wir nicht auch in anderen Bereichen zu Ausnahme- und Sonderregelungen kommen, die uns ein kleines Stück ausgleichender Gerechtigkeit bringen?
Deshalb meine dringende Bitte, daß diese Enquete-Kommission uns noch einmal deutlich macht, wo wir mehr Phantasie im täglichen politischen Handeln walten lassen können.In diesen Zusammenhang gehört auch, daß wir das System der organisierten Verantwortungslosigkeit, wie wir es ja schon in der DDR genannt haben, durchbrechen. Denn daß dies noch immer nachwirkt, zeigt sich für mich daran, daß es heute so schwer scheint, die Hauptverantwortlichen für irgendeine ihrer Taten zur Rechenschaft zu ziehen. Deshalb möchte ich hier noch einmal betonen, daß es gelingen muß, die Verurteilung der Hauptverantwortlichen zügig zu vollziehen. Es ist eine historische Pflicht für die alten Bundesländer, Berlin, das dabei die Hauptaufgabe hat, zu helfen.Es geht mir darum, daß bei allem, was geschah, nicht vergessen wird, daß es Menschen waren, die handelten und betroffen waren. Es wird jetzt nicht ganz auszuschließen sein, daß es zu Ungerechtigkeiten und Fehlurteilen kommt. Aber gerade weil es um Menschen und Familien geht, ist das Bemühen um ein hohes Maß an Sorgfalt in den Bewertungen geboten. Sind wir dazu nicht fähig, bringen wir den Mut zu differenzieren nicht auf, werden wir die innere Einheit nicht gewinnen. In Ostdeutschland gibt es — das ist heute hier schon oft gesagt worden — das bittere Wort vom „Plattmachen" . Dieser Eindruck darf sich nicht verfestigen. Das werden wir schaffen, wenn wir niemanden verdächtigen und beschuldigen, ohne daß konkrete Beweise vorliegen. Wir brauchen keine Klischeebilder. Wir brauchen auf Tatsachen beruhende Analysen der Verhältnisse. Wir brauchen die Einsicht der Westdeutschen, daß ihr Mut nicht größer war als der ihrer Landsleute im Osten, denn das haben wir an verschiedenen Fällen ja beobachten können.Deshalb meine Bitte: Wer im Osten Wahrheit einfordert, muß auch zur Redlichkeit im Westen fähig sein. Wenn uns das gelingt, werden wir eine erfolgreiche Enquete-Kommission haben.Vielen Dank.
Nun hat der Abgeordnete Dietmar Keller das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dieser Tage las ich in „El Dia Latino Americano" einen Artikel, und ich möchte mir erlauben, daraus zu zitieren:Die DDR war übermäßig geordnet und sicher, aber ohne die notwendigen Freiheiten, die heute substantiell für ein voll erfülltes Leben sind, eine langsame Gesellschaft in einer schnellen Welt, eine isolierte Gesellschaft in einer immer mehr vereinten und wechselseitig verbundenen Welt, die weder die Mauern von Berlin noch die Beschränkung für die Freizügigkeit von Personen, Gütern und Ideen toleriert. Vielleicht ist es eine tragische Gewißheit, daß es in der Lage, in der sich die DDR befand, im Herzen Europas und an der Grenze mit dem Kapitalismus in der BRD, keine andere Art und Weise gab für die Gestaltung des Sozialismus als in dieser Form. Aber das würde auch heißen, daß das, was man dort versuchte, ein unmögliches Unterfangen war. Deshalb sind wir traurig, denn das wären 40 verlorene Jahre. Soviel Bewußtsein, Energie, Opfergeist und Intelligenz anscheinend für umsonst verbraucht. Alles für nichts. Aber es wird nicht so sein. In dem vereinten Deutschland von morgen wird in der einen oder anderen Form das viele Gute, was die DDR im sozialen Gefüge ihres Landes hinterläßt, in die Poren der vereinten ganzen Nation eindringen und in ihrem tiefsten Inneren den Samen der Gerechtigkeit, der Vernunft und Menschenwürde einpflanzen, der im Inneren dessen keimte, was aufhört, die Deutsche Demokratische Republik zu sein.Der Autor dieses Artikels ist der Präsident der Sozialistischen Partei Chiles,
gegenwärtig Botschafter seines Landes in Moskau.
— Hören Sie doch erst einmal zu! Er hat Erich Honecker Exil gewährt.
Das ist die Antwort darauf, daß Erich Honecker und die DDR ihm und seinen Freunden 1975 ebenfalls Exil gewährt haben. Diese Chilenen hatten ihren Antrag zuerst in der Bundesrepublik Deutschland gestellt. Die Bundesrepublik Deutschland hat diesen Exilantrag abgelehnt. Der damalige Ministerpräsident von
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6754 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Dr. Dietmar KellerBaden-Württemberg hat das damit begründet, daß es ein Sicherheitsrisiko sei.
Der damalige Ministerpräsident hieß Filbinger. Er ist trotz seiner Geschichte Ministerpräsident eines Bundeslandes der Bundesrepublik Deutschland geworden.Vor wenigen Tagen hat Gustav Just völlig zu Recht sein Mandat wegen eines begangenen Kriegsverbrechens — er war damals 20 Jahre alt — zurückgegeben.
Er ist ein Mann, der in der DDR vier Jahre im Zuchthaus gesessen hat. All das ist deutsche Geschichte.Wir wollen gemeinsam den Versuch machen, diese Geschichte aufzuarbeiten. Ich hoffe, wir sind uns darüber im klaren, daß zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit ein Land versucht, seine eigene Geschichte aufzuarbeiten. Es gibt nichts Vergleichbares. Selbst die „Grande Nation" hat es aus Anlaß des 200. Jahrestages ihrer großen Revolution nicht geschafft, sich kritisch ihrer eigenen Geschichte gegenüber zu verhalten. Wie viele Bücher wurden geschrieben und wie viele Streite wurden ausgetragen, bis die Lutherische Reformation und der Münze-rische Bauernkrieg eine einigermaßen konsensfähige Würdigung in der Welt fanden! Wie viele Irrungen mußte das deutsche Volk hinter sich bringen, und wie viele Irrungen bringt es jeden Tag neu hinter sich!Ich habe mit großem Entsetzen die Ausstellung „Entartete Kunst" in Berlin gesehen. Ich habe mich dafür geschämt, daß Ende der 40er Jahre, Anfang der 50er Jahre im Rahmen der Formalismus-Diskussion in der Sowjetischen Besatzungszone und dann in der DDR fast ähnliche Argumente wie damals beim Verbot der Ausstellung „Entartete Kunst" gebraucht wurden.
Auch Sie, Frau Merkel, haben — ebenso wie Ihre beiden anderen Ministerkollegen — Ihre Ausbildung, Ihr Studium in der DDR absolviert. Auch Sie haben MarxismusLeninismus-Prüfungen gemacht.
Ich frage Sie nicht, was Sie dort gesagt haben.
Ich frage Sie nicht, ob Sie den Mut gehabt haben, den Sie jetzt von anderen Menschen einfordern.
— Über Opfer möchte ich jetzt nicht reden; ich weiß nicht, wen Sie da meinen.
Ich möchte Herrn Mischnick zustimmen, der gesagt hat, die deutsch-deutsche Geschichte sei fest in die internationale Geschichte eingebettet; es frage sich, wie wir heute dastünden, wenn die vier Besatzungsmächte eine andere Grenzziehung vorgenommen oder andere Standorte gewählt hätten, und wie wir heute dastünden, wenn die vier Besatzungsmächte nicht den Wunsch gehabt hätten, Deutschland zu teilen. Der Bundeskanzler hat einmal das Wort eines Publizisten gebraucht — er ist dafür kritisiert worden —: „Gnade der späten Geburt". Als ich das jetzt wieder las, fiel mir das Wort ein: Gnade der Chance, im Westen Deutschlands geboren zu sein oder dort seine Heimat gefunden zu haben.
— Was Sie von mir schon gehört haben, weiß ich nicht.
— Wenn Sie eine Frage haben, stellen Sie sich ans Mikrophon. Dann kann ich sie richtig beantworten. Sonst wird es ein Zwiegespräch zwischen uns beiden, was nichts einbringt.
Ich möchte gern, daß wir, wenn wir uns gemeinsam auf eine Enquete-Kommission einigen, sehr differenziert an diese Fragen herangehen. Dazu zwei Bemerkungen:Herr Eppelmann, Sie sprachen bestimmt aus konkreter Kenntnis von religiösen Familien, die sich nicht getraut haben, ihre Kinder zur Konfirmation zu schikken.
— Entschuldigung: christliche Familien. — Ich komme aus einer nicht parteigebundenen Arbeiterfamilie. Ich bin zur Konfirmation gegangen. Ich bin auch zur Jugendweihe gegangen, weil ich auf der Suche war. Ich habe mich für eine atheistische Weltanschauung entschieden. Ich bin aber nicht dafür bestraft worden, daß ich
zur Konfirmation gegangen bin. Ich habe auch auf normalem Wege studiert.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6755
Dr. Dietmar KellerHier ist vom Besuch Erich Honeckers 1987 in Bonn gesprochen worden. Ich kann die Argumente einigermaßen nachvollziehen, die hier von Regierungsmitgliedern formuliert worden sind. Aber war es nicht auch ein fürchterlicher Preis, den andere Menschen bezahlen mußten? Ist nach diesem Honecker-Besuch und nach der scheinbaren außenpolitischen Aufwertung nach innen nicht vieles passiert, was vordem gar nicht möglich war? Ich erinnere nur daran, daß mit dem „Sputnik”-Verbot und dem Verbot von sowjetischen Filmen repressive Maßnahmen ergriffen worden sind, die vordem nicht möglich waren und an denen viele Menschen zerbrochen sind.Ich bin im Interesse unseres eigenen Lebens, unserer eigenen Geschichte und auch im Interesse der Geschichte unserer Kinder und Kindeskinder für eine rückhaltlose Aufarbeitung der Geschichte. Ich brauche sie auch als demokratischer Sozialist, um zu wissen, was die Ursachen des Scheiterns des Sozialismus im 20. Jahrhundert sind. Ich brauche sie, um zuwissen: Sind Ideen des demokratischen Sozialismus brauchbar, sind sie gut, und was muß als Antwort auf die gegenwärtige Bundesrepublik Deutschland gegeben werden? Ist sie die letzte Antwort der Geschichte? Wo ist sie verbesserungsbedürftig, und in welchen Fragen braucht sie neue Alternativen, neue Antworten?Die Enquete-Kommission kann und muß einen Beitrag zur Aufhellung der deutschen Geschichte leisten. Aber es wird eben nur ein Beitrag sein, der vor allem durch wissenschaftliche Forschungen und durch solide Arbeit in den Archiven ergänzt werden muß. Er muß durch runde Tische und eine von Toleranz geprägte gesellschaftliche Öffentlichkeit ergänzt werden, die in den vielfältigsten Formen über ihre eigene Geschichte und über ihre eigenen Biographien diskutiert.Ich danke Ihnen.
Nun hat das Wort zu einer Kurzintervention der Kollege Schmieder.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich darf auf die Ausführungen von Herrn Heuer vorhin Bezug nehmen. Ich bin direkt angesprochen worden. Er hat aus meiner Rede ein, zwei Worte herausgegriffen und völlig aus dem Zusammenhang gerissen.
Ich habe von Volksverdummung und Volksverhetzung gesprochen. Das würde ich in dem Zusammenhang, den ich nannte, auch wieder tun. Er hat diese Worte völlig losgelöst und hat den Eindruck erweckt, er hätte zugehört. Das hat er natürlich nicht. Er hat nicht einmal verstanden, was er gehört hat. Das nehme ich ihm nicht übel. Es ist eben so.
Aber daß er diese Aussage mit meinem Bildungsweg in Zusammenhang zu bringen versucht, ist für mich nicht nachvollziehbar. Gut, ich habe in diesem Land meine Ausbildung genossen. Das ist völlig klar. Ich habe ja dort gewohnt. Gerade deswegen habe ich diese Formulierung gebracht. Ich habe ein Studium auf dem Gebiet der Thermodynamik, der Wärmetechnik, absolviert. Auch für Kommunisten war es so, daß
das Wasser bei 100 Grad kocht. Das ist völlig logisch. Das konnte man nicht verändern.
Ich kann zwar nicht verhehlen, daß sich manchmal der Boden des Topfes ein bißchen rot färbte. Das haben wir toleriert. Aber was ich gemeint habe, ist folgendes: In meinem Studium mußte ich mehrfach diese ewig langen dreifach gegliederten Lehrgänge über Marxismus-Leninismus über mich ergehen lassen. Das habe ich mit Volksverdummung und Volksverhetzung gemeint: Es ist jahrelang versucht worden, uns einzureden, diese Lehre wäre eine Wissenschaft. Das hat Herr Heuer vorhin wieder gemacht. Davon muß ich mich eindeutig distanzieren.
Nun hat der Kollege Dr. G Müller das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der ehemalige Minister für Staatssicherheit in der früheren DDR, Erich Mielke, steht zur Zeit in Berlin vor Gericht, allerdings nicht wegen seiner Verbrechen in der DDR, für die er persönlich verantwortlich ist, hieß es doch in § 8 des Statuts des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit:Der Minister leitet das MfS nach dem Prinzip der Einzelleitung. Er ist persönlich für die gesamte Tätigkeit des MfS verantwortlich.Vor Gericht steht er vielmehr wegen einer Mordtat, die er als Mitglied des geheimen Militärapparats der KPD im Jahre 1931 an zwei Berliner Polizisten begangen haben soll. Dieser Prozeß macht uns deutlich, um was es geht.Die unter heftigen Geburtswehen gegen den Aufstand der KPD entstandene erste deutsche Republik von Weimar war von Anfang an herausgefordert durch die beiden totalitären Gruppierungen, die völkischen Rechtsradikalen und späteren Nationalsozialisten und die Kommunisten, die sich nicht scheuten, gelegentlich bei Volksentscheiden oder etwa beim Berliner Verkehrsstreik auch gemeinsame Sache gegen die Demokratie zu machen. — Soviel zu Ihrem antifaschistischen Engagement.
Das zwölfjährige Intermezzo des „Tausendjährigen Reiches" ging 1945 zu Ende, just zu dem Zeitpunkt, wo sich die Parole der KP von 1932 „Nach Hitler wir" bestätigte und die 44jährige Terrorherrschaft der SED begann, die Diktatur des Proletariats. Wie schreibt doch Lenin in seinem Werk „Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky":Revolutionäre Diktatur des Proletariats ist eine Macht, die erobert wurde und aufrecht erhalten wird durch die Gewalt des Proletariats gegenüber der Bourgeoisie.Das haben Sie 44 Jahre lang in Ihrem Staate vorgeführt!In Art. 1 der Verfassung der DDR aus dem Jahre 1974 heißt es in wörtlicher Übernahme der sowjeti-
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Dr. Günther Müllersehen, der Stalinschen Verfassung von 1936 — ich zitiere —:Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.Was Diktatur des Proletariats selbst für die Mitglieder der KP bzw. SED bedeutete, kann man so recht nachlesen im Stenogramm der geschlossenen Parteiversammlung der Deutschen Kommission des Sowjetschriftstellerverbandes vom September 1936 in Moskau, wo nach den ersten Stalinschen Säuberungsprozessen und der Verabschiedung der schon zitierten Verfassung unter dem Motto der proletarischen Wachsamkeit die eigenen Genossen ans Messer geliefert wurden. Die Entscheidung der kleinen Parteikommission der KPD, bestehend aus den Genossen Ulbricht, Dengel und Funk, über das Ruhen einer Mitgliedschaft, bis andere Stellen ihre Untersuchung beendet haben, kam oft einem Todesurteil gleich. Die Überlebenden, Alfred Kurella, Willy Bredel, Johannes R. Becher, Friedrich Wolf, um nur einige zu nennen, waren nach 1945 für die deutsche Diktatur des Proletariats verantwortlich.Die DDR war kein Staat wie jeder andere. Es war weder der Staatspräsident noch die Volkskammer, die etwas zu sagen hatten, sondern es waren das Zentralkomitee und das Politbüro der SED, die die Diktatur ausübten. Um so erstaunlicher ist es, daß dies im westlichen Teil unseres Vaterlandes im Laufe der Jahre immer mehr verdrängt wurde. Die kommunistische Diktatur wurde verharmlost. Man wollte die DDR und die Bundesrepublik wie zwei gleichwertige politische Systeme definieren. Das geschah selbst im „DDR-Handbuch", wo zuerst Ministerrat, Volkskammer usw. genannt wurden und erst am Ende die SED und ihre Kader, die eigentlichen Machthaber.Ich war sehr dankbar dafür, daß Willy Brandt heute in seiner Rede gesagt hat: Wir müssen die Vergangenheit auch der Entspannungspolitik kritisch hinterfragen. — Wenn er dies tut, wird er sich sicher daran erinnern, daß er 1982 in einem Artikel im „Spiegel" die Systeme der DDR und der Bundesrepublik Deutschland ausdrücklich als gleichwertig bezeichnete, was er sicher heute nicht mehr tun würde.Um so erstaunlicher ist es, wenn man heute bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit diese Gleichwertigkeit nicht gelten lassen will. Wie sagte doch der SPD-Bundestagsabgeordnete Schily: Falsche Wahlen können nicht gefälscht werden. — Mit gleicher logischer Konsequenz könnte man heute sagen: Eine falsche Verfassung kann auch nicht gebrochen werden, eine Verfassung, die z. B. den Art. 31 enthielt, der die Unverletzlichkeit des Post- und Fernmeldegeheimnisses festschrieb, obwohl jedermann die Realität kannte.Ein besonderes Feld ist die Verstrickung von Bürgern der Bundesrepublik in die Arbeit der SED zur Ausdehnung ihres Machtbereichs. Nicht nur die vielen informellen Mitarbeiter und Offiziere im besonderen Einsatz des Staatssicherheitsdienstes auf dem Gebiet der DDR, sondern ihre Agenten und dieHilfswilligen in der Bundesrepublik haben dazu beigetragen, das System am Leben zu erhalten. Dutzende von Verlagen, Schriftsteller, Intellektuelle und Künstler in der Bundesrepublik Deutschland waren teils aus Überzeugung, teils aus Naivität im Dienste der Partei tätig. Ja, selbst Schriftstellerkongresse wurden aus Ost-Berlin gesteuert.
Schon vor dem Sturz des SED-Regimes genügte ein Blick in das Buch „Fünf Finger sind keine Faust" von Klaus Rainer Röhl, dem Ehemann von Ulrike Meinhof, um zu erfahren, wie mit DDR-Geldern Zeitungen gegründet und die Wallraffs und Engelmanns zu besonderem Einsatz aktiviert wurden.Auch die Kampagne gegen Ministerpräsident Filbinger, die gerade erwähnt wurde, wurde aus diesen Fonds finanziert und gespeist, und daraufhin wurden die falschen Informationen geliefert.1972 erschien im Bundestagswahlkampf ein Schwarzbuch über Franz Josef Strauß, in dessen Vorwort es heißt, daß die Autoren und Herausgeber die Arbeit auf sich genommen haben, um Unheil von der Bundesrepublik abwenden zu helfen. Es ist von einer Mehrzahl von Autoren die Rede, obwohl nur einer genannt wird: Bernt Engelmann. Heute wissen wir, daß die anderen Autoren aus dem Staatssicherheitsdienst kamen. Kaum zu glauben, daß zwei heute so kluge Kollegen in diesem Haus, nämlich der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD, Wolfgang Roth, und die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD, Ingrid Matthäus-Maier, damals in ihrer Eigenschaft als Bundesvorsitzende der Jungsozialisten bzw. der jungen Demokraten als Herausgeber des Buches fungierten und sich naiv von der Stasi einspannen ließen!Schwerwiegendere Folgen hätte es auch noch haben können, wenn die Forderung der SPD, die zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter abzuschaffen, erfüllt worden wäre. Das Geld wurde ja von den SPD-regierten Ländern verweigert. Als erster prominenter SPD-Politiker hatte der damalige stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Jürgen Schmude, schon 1984 ihre Abschaffung gefordert. 1985 stellte er das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes zur Diskussion, und noch wenige Tage vor dem Fall der Mauer im Oktober 1989 plädierte er in der ARD-Fernsehsendung „Pro & Contra" gegen die Wiedervereinigung.Nicht zu Unrecht schrieb der sächsische Umweltminister Arnold Vaatz — ich zitiere —:Die intellektuelle Hehlerei haben die Schmudes, die Gaus', die Böllings, die Grass' anscheinend längst zu ihrem Ehrenkodex erhoben.
Herr Kollege Dr. Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Schmude?
Gerne. Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr.
Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, Herr Kollege Müller, wobei ich die
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Dr. Jürgen SchmudeWiderlegung Ihrer anderen Behauptung hier unterlasse, damit es nicht zu weit führt, daß ich in der von Ihnen zitierten Fernsehsendung nicht gegen die Wiedervereinigung gesprochen, sondern deutlich erklärt habe, daß ich nicht gegen sie sei, sie aber nicht für ein vordringliches Problem halte, und daß ich folglich nicht dafür zu vereinnahmen bin, ich hätte mich dort gegen die Wiedervereinigung ausgesprochen. Das ist schlicht falsch. Könnten Sie das bitte zur Kenntnis nehmen oder zitieren, was Sie über mich wissen?
Ich danke Ihnen dafür, daß Sie mir ausdrücklich bestätigt haben, daß Sie die Wiedervereinigung im Jahre 1989, während die Menschen demonstrierten, nicht für ein vordringliches Ziel gehalten haben. Danke schön für diese Bestätigung.Wir wissen heute, daß mindestens in zwei Bundestagsfraktionen Einflußagenten der Staatssicherheit tätig waren, die die Politik der Fraktionen zum Teil entscheidend bestimmten.
— Sie kommen gleich dran; Sie sind der Geschäftsführer. Warum werden Sie denn nervös? Die SPD ist ja noch nicht betroffen.
Wie schreibt Elisabeth Weber im Februar-Heft der Zeitschrift „Kommune" — passen Sie jetzt genau auf —:Daß die Staatsinteressen der DDR als grüne Position akzeptiert wurden, genauso legitim grün wie die anderen, darin liegt einer der wirklichen und verhängnisvollen Erfolge von Dirk Schneider.Dirk Schneider focht für die staatlichen Interessen der SED, die Anerkennung der DDR ohne Wenn und Aber und die Anerkennung der Geraer Forderungen Honeckers, übrigens genau in Übereinstimmung mit prominenten Politikern der SPD, deren Forderungen sich nicht von denen des Stasi-MdB unterschieden.Auch Teile des Journalismus, und zwar nicht nur die in der IG Druck und Medien engagierten Journalisten, ließen sich allzuleicht mißbrauchen. Während z. B. in der Tschechoslowakei und Rumänien das Fernsehen die entscheidende Rolle bei der Revolution spielte, hatte es die ARD in vorauseilendem Gehorsam vorgezogen, etwa über die große Friedensdemonstration in Dresden nicht zu berichten.
Den eindrucksvollen Kerzenzug zur Frauenkirche, den die Eurovision gerne übernehmen wollte, hatten sie eben nicht im Kasten. Man war zwar dabei gewesen, hatte aber nicht gedreht.Nach Öffnung der Akten gibt es hier sicher noch manche Überraschungen; so, wenn wir erfahren, daß bei dem Antrag zur Dreherlaubnis zum 10. Jahrestag des Treffens Brandt/Stoph im „Erfurter Hof" der Korrespondent der ARD in Ost-Berlin versicherte, daß man dafür sorgen wolle, daß im Abschlußkommentar die DDR-Außenpolitik positiv dargestellt werde.Man hätte sich bei den Liveübertragungen vom Berliner Alexanderplatz an den amerikanischen Anstalten ein Beispiel nehmen können. Man zog es beim deutschen Fernsehen vor, nicht live zu berichten, sondern die Übertragung eines Tennisspiels fortzusetzen.Die Ausgrenzung der Kritiker des SED-Terrorsystems als „Kalte Krieger" — so ist es mir geschehen —, „Antikommunisten", „Revanchisten" durch die tonangebenden Intellektuellen führte zu bemerkenswerter Selbstzensur. Wenn Theo Sommer 1987 in der „Zeit" in einem Kommentar zum gemeinsamen Papier von SPD-Grundwertekommission und der Akademie der Gesellschaftswissenschaften beim SED-Zentralkomitee schrieb, daß keine Seite der anderen die Existenzberechtigung absprechen dürfe, dann hatte das Signalwirkung.In demselben Jahr 1987 erschien das Buch „Die DDR auf dem Wege in das Jahr 2000". Dort wird mit Recht darauf hingewiesen, daß mit dieser Phraseologie vom „Revanchismus" auch mancher seriöse Geistliche der evangelischen Kirche vor den Karren der SED gespannt wurde. Wie schreibt die „taz" am 17. Februar 1992 so richtig:Die guten verständnisvollen Beziehungen zu den einstigen Machthabern auf der einen, die flächendeckende Ignoranz gegenüber den Bürgerrechtlern auf der anderen Seite, dieses von der historischen Entwicklung peinlich pointierte Mißverhältnis markiert den nicht erst seit der Wende thematisierten Skandal der Entspannungspolitik.Wer mit Egon Krenz gemeinsam die Sauna besucht, hat eben keine Zeit, die Bürgerrechtler zu treffen.
Ich zitiere wieder die „taz":
Die SPD-Entspannungspolitiker fanden viel leichter mit den Politbüromitgliedern in Prag, Warschau und Ost-Berlin ihren Modus vivendi als mit den Oppositionellen der Charta 77 oder von Solidarnosc.Die Bürger der ehemaligen DDR zu verurteilen wäre gerade angesichts der freiwilligen Verstrickung von Bürgern der Bundesrepublik unverantwortlich. Jedermann hat das Recht zu Fehler und Irrtum. Verzeihung setzt aber auch Bekennen voraus. Hier scheint eher die Ausnahme die Regel zu sein. Der von der Stasi gefolterte und sechs Jahre eingelochte Günter Fritsch zieht eine traurige Quintessenz, wenn er schreibt:Zahlreiche Nutznießer der ostdeutschen Diktatur haben kritische Mitbürger mit bleibenden Schäden in die Verfolgung getrieben. Seit zwei Jahren könnten sie sich risikolos mit einem Wort des Bedauerns an die von ihnen Verfolgten wenden. Möchten Sie wissen, wieviele solche Zeichen ich inzwischen erhalten habe? Kein einziges!Zu denken gibt auch der Satz des Ex-Stasi-Obersten Joachim Wiegand, den Herr Schmude heute schon
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Dr. Günther Müllerzitiert hat — Herr Schmude gibt mir immer Vorlagen —, der ja bekanntlich die Akten der Kirchenabteilung der Stasi hat verschwinden lassen, in einem Interview im letzten „Spiegel". Er hat in diesem Interview wörtlich gesagt:Wenn die Kirche aufruft, daß sich ihre eigenen Schäfchen stellen sollen, dann müssen die Hirten mit gutem Beispiel vorangehen.Das gilt auch ganz im Norden der Republik.Verzeihen — ja, aber nicht verdrängen. Deshalb muß das ganze Aktenmaterial der Diktatur aufgearbeitet werden. Die Staatssicherheit ist nur ein kleiner und nicht einmal der wesentliche Teil. Das Parteiarchiv der SED wie ihrer Unterorganisationen, vor allem die Kaderakten, haben die Schlüsselfunktion bei der Aufarbeitung der zweiten totalitären Diktatur in diesem Jahrhundert auf deutschem Boden.Ich schließe mit einem Satz, der in der „Neuen Zeit" vom 27. April 1991 als Leserbrief von einem ehemaligen Oberleutnant der Staatssicherheit geschrieben wurde. Ich zitiere:Aber wehe Euch, wenn sich rot und braun einmal vereinigen. Die Bevölkerung legt Wert auf objektive Berichterstattung, ist unzufrieden mit der Entwicklung in den Ländern unserer ehemaligen DDR. Vielen wäre es lieber, wenn eine Gruppe Ulbricht die Macht wieder übernehmen würde.Dies sollten wir gründlich verhindern.
Meine Damen und Herren, zu einer Zwischenintervention gemäß § 27 der Geschäftsordnung erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Schmude.
Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben uns heute in der Debatte mehrfach einvernehmlich geäußert, daß es unzulässig, ja sogar skandalös ist, ehemalige Stasi-Offiziere heute in den Rang von Kronzeugen zu erheben und, auf ihr Wort gestützt, Verdächtigungen und Beschuldigungen auszusprechen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das alles hilft uns nicht weiter, wenn anschließend der Kollege Müller daherkommt und wörtlich eine Verunglimpfung dieses Stasi-Obersten Wiegand gegen die Evangelische Kirche zitiert. Das ist genau der falsche Weg.
Ich erteile das Wort unserer Kollegin Angelika Barbe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben in den Zehn Thesen, die wir vor einer Woche parteiübergreifend vorgelegt haben, auf genau das hingewiesen, was Jürgen Schmude sagte: Stasi-Offiziere brauchen wir nicht als Kronzeugen der Geschichte. Wir haben dafür andere Gremien. Dazu soll auch die Enquete-Kommission dienen.Ich möchte vorweg auf Ausführungen von Herrn Heuer und Herrn Keller eingehen.Zunächst zu Herrn Keller. Sie berufen sich auf Chile. Im Vorfeld der ganzen Diskussion über das Ob von Enquete-Kommission und Untersuchungsausschuß habe ich mit argentinischen Parlamentariern gesprochen. Sie haben mir gesagt: Sie haben ihr Unrecht dadurch begrenzen und Schuldige zur Verantwortung ziehen können, daß sie nach ihrer Revolution eine Untersuchungskommission eingesetzt und danach Gesetze vorgelegt haben, um die Schuldigen zu verurteilen.Zu Herrn Heuer. Sie sagten: Die Opfer reagieren jetzt hysterisch.
— Gut, wenn Sie es nicht so gesagt haben. — Sie reagieren besonnen und konsequent. Sie verlangen natürlich Gerechtigkeit.Sie sagten weiter: Die PDS stellt sich der Aufarbeitung. Ich frage nach wie vor: Warum übernehmen Herr Modrow und Herr Keller nicht die Verantwortung? Verantwortung heißt, die Schuld bekennen, und nicht, im Bundestag sitzen.
Drittens. Sie haben den Einmarsch in die ČSSR nicht verurteilt. Ich war damals Schülerin. Ich weiß, was für Schwierigkeiten es brachte, als wir die Lehrer danach fragten und uns nicht damit einverstanden erklärten.Viertens. Als Krenz Anfang November an die Macht kam, wollten wir in der DDR keine Reformen mehr; da war es uns egal, ob da jemand Müller, Krause oder Krenz hieß. Wir wollten eine Änderung der Verfassung, und wir wollten, daß das Neue Forum und die SDP, die wir damals waren, legitimiert sind und nicht, daß man uns danach verfolgt und verurteilt. Ich habe in meinen Stasi-Unterlagen die Belege dafür, daß wir in dieser Zeit noch verfolgt worden sind.Fünftens. Sie waren mitverantwortlich dafür, daß Angst bei uns herrschte. Das ist einer der Punkte, auf die ich eingehen möchte. Ich war nämlich 18 Jahre und studierte seit gerade zwei Monaten Biologie. Da kam von der Heimleitung — ich lebte damals in Diesdorf in einem Studentenheim — die Aufforderung, ich solle doch einmal runterkommen. Ich kam herunter, völlig unwissend, was da sein werde. Dort saßen zwei Herren mit dunklen Brillen. Sie sagten, sie möchten mir mir sprechen, und erzählten mir, daß Fluchtversuche stattfänden und daß sie meine Mithilfe wünschten. Ich wußte zunächst gar nicht, was die wollten. Da zeigten sie mir ihre Dienstausweise von der Staatssicherheit. Ich sollte mitarbeiten.Ich sagte: Ich bin völlig unscheinbar; ich habe keine Funktionen als Studentin; mich sollten sie nicht nehmen; ich tauge dafür nicht. Da haben sie gesagt: Na ja, sie sind doch fünf Kinder zu Hause; ihre Eltern haben doch wenig Geld; wollen sie sich nicht etwas dazuverdienen? Ich war so betroffen und wütend, daß die meine Würde kaputtmachen wollten, und sagte ihnen: Ich mache das nicht. Daraufhin boten sie mir Bedenk-
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Angelika Barbezeit an und sagten, ich dürfe aber niemandem etwas darüber sagen. Das war meine Rettung, denn da fiel mir etwas ein. Ich sagte ihnen, ich würde alles mit meiner Mutter bereden und ihnen dann Auskunft geben. Dadurch änderte sich die Atmosphäre. Sie wurden wütend, verboten mir, über das Gespräch überhaupt mit jemandem zu sprechen; sie verboten mir, sie wiederzuerkennen und jemals etwas darüber verlauten zu lassen. Das müssen Sie sich vorstellen! Ich habe ein Jahr mit dieser Angst gelebt und mich nicht getraut, darüber zu sprechen. Erst als ich den Mut fand, mit einer Freundin darüber zu reden, war dieser Bann gebrochen.Das ist es, worauf ich eingehen will: die Angst, die dieses System dort verursacht hat und die uns alle gefangengehalten hat, die wir dort als Kinder und Erwachsene von diesem System abhängig waren. Auch als Eltern waren wir es nachher, nämlich als wir die Sorge für die Kinder hatten.Das ist eine meiner Fragen und etwas, was in der Enquete-Kommission aufgearbeitet werden muß: Welches waren diese Prinzipien der Einschüchterung? Wie kann man sie überwinden, wenn man erkennt, was da stattfindet?Ich denke, totalitäre Systeme leben von der Angst der Menschen und schüren sie deshalb bewußt. Immer wieder wird die Angst der Menschen bewußt benutzt, um sie zu beherrschen. Und immer wieder schweigen Menschen aus dieser Angst. Über die Vergangenheit in unserer Lebensumwelt DDR sprechen heißt eben auch, die vielfältigen Methoden dieser Einschüchterung benennen.Die Angst, die ich noch heute nicht vergessen kann, ist nur ein Bruchteil der Angst, die Menschen erlebt haben, die in den Gefängnissen gesessen, in Untersuchungshaft gelebt haben oder umgekommen sind.
Ich möchte ein paar Beispiele nennen. Es werden nur wenige sein. Ich denke an den Schüler Markus Sandmann aus meiner Bekanntschaft, 17jährig, von der Staatssicherheit beim Fluchtversuch in die CSSR mit seinem Freund gefangengesetzt in Untersuchungshaft. Niemand wußte Bescheid. Die Eltern kriegten wochenlang keinen Bescheid. Niemand wußte, was aus ihm wird. Er hatte natürlich erst einmal seine Zukunft beiseite legen können. Gott sei Dank ist heute noch Zeit, daß er das Studium, das er machen möchte, durchführen kann.Mein Bruder saß in Bautzen. Wissen Sie, weshalb? Wegen „Beeinträchtigung der Arbeit der Behörden", nur weil er mehrere Ausreiseanträge gestellt hätte. Die Untersuchungsrichterin, die ich in meiner Not aufsuchte, weil ich Angst hatte, daß ihm was passiert, sagte: „Den werden wir auch noch knacken." Ich werde diese Worte nie vergessen. In meiner Verzweiflung habe ich mich dann an den Generalsuperintendenten Krusche mit der Bitte um Hilfe gewandt, weil ich Angst hatte, daß ihm in der Haft etwas passiere. Ich hoffte darauf, daß er dann irgendwann einmal freigekauft wird; denn das war für viele, die im Gefängnis saßen, die letzte Rettung.Eva Stege möchte ich noch stellvertretend nennen, eine Frau, die damals von den Russen verurteilt worden ist. Sie ist von der Straße weggefangen worden, kam nach Sibirien ins Arbeitslager, war vergewaltigt worden usw. Sie durfte 40 Jahre darüber nicht reden. Es wurde ja gar nicht geglaubt; wer dort bei den „Freunden" gewesen war, der mußte schon irgendwie selber daran schuld sein.Diese Opfer wollen keine Rache, aber sie wollen mindestens Gerechtigkeit. Die damals Unrecht Sprechenden im Justizapparat sollen heute nicht wie Wetzenstein-Ollenschläger unschuldig als Anwälte auftreten können. Eine nachweislich bewußte Verstrickung mit dem Apparat muß zu Konsequenzen führen; diese Personen sind für Vetrauensstellungen im Rechts- und Gesundheitswesen, im politischen, pädagogischen und kirchlichen Bereich sowie in Führungspositionen anderer Sektoren für eine Übergangszeit ungeeignet. Ich zitiere da wieder eine der Thesen, die wir vorgelegt haben.In Elternversammlungen schwiegen Eltern, um ihren Kindern nicht zu schaden. Im Unterricht schwiegen Kinder, um sich nicht mit manchem Staatsbürgerkundelehrer anlegen zu müssen. Wer es dennoch tat, wer Fragen stellte, sich bewußt mit der Welt auseinandersetzen wollte, mußte als Schüler damit rechnen, keinen „festen Klassenstandpunkt" bescheinigt zu bekommen. Das kann ich Ihnen nachweisen; das habe ich so bei mir drinstehen. Dabei war dann das Abitur in Gefahr.Die Gefährdeten-Karteien, von denen der „Stern" schrieb, existierten wirklich. Ich habe mich mit Marianne Birthler in Verbindung gesetzt. Sie hat im Nachlaß des ehemaligen Rates des Bezirks Potsdam, Abteilung Volksbildung, eine Dienstanweisung vom 30. 7. 1987 vorgefunden, eine Bleichlautende Dienstanweisung von Ostberlin von 1983.Das sind keine Stasi-Akten; aber dort ist aufgeführt, daß auch Schüler, die politisch aggressives Verhalten aufweisen, von Direktoren besonders beobachtet werden sollten. Da ist natürlich nicht auszuschließen, daß die Staatssicherheit zu diesen Unterlagen Zugriff hatte, insbesondere zu Akten, in denen „politisch aggressives Verhalten" verzeichnet war. Dies ist sogar recht wahrscheinlich, schreibt Marianne Birthler in ihrem Brief an die Redaktion der Zeitung „Der Prignitzer". Es ist eindeutig festzustellen und hervorzuheben, schreibt sie weiter: die Lehrer waren nicht Stasi-Spitzel, wenngleich diejenigen, die politische Auffälligkeiten von Kindern in „Gefährdeten-Karteien" vermerkten, den Kindern vermutlich Schaden zugefügt haben.Immer wieder wurde Angst erzeugt. Immer wieder wurde Menschen der letzte Rest von Mut und das letzte Selbstvertrauen genommen. Erst meine Erfahrung, erstens nichts mehr in der DDR verlieren zu können, und zweitens, gleichgesinnte Menschen gefunden zu haben, mit denen sich das Risiko des Widerstandes leichter tragen ließ, nahmen mir allmählich die Angst.Ich danke vor allen Dingen den Frauen des Pankower Friedenskreises und des Johannisthaler Frauenkreises, die mit unbequemen Fragen damals laut und öffentlich vor den Wahlen diese Praktiken anmahnten
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Angelika Barbeund mit denen wir zusammen auf die Straße gingen. Allein waren wir machtlos, aber Hunderttausende konnten nicht mehr liquidiert werden. Trotzdem saß uns noch der Schock der chinesischen Lösung in den Knochen; das weiß ich auch noch.Die Enquete-Kommission wird diese Fragen klären müssen, ob und warum Männer anfälliger für den Verrat waren. Männer waren in großer Mehrheit in Führungspositionen von Blockparteien, von SED, Kirchen, Staatssicherheitsdienst und Massenorganisationen. Warum fehlte vielen das Mitgefühl mit der bedrohten Umwelt und den Mitmenschen? Galt ihnen der Machterhalt um jeden Preis als das wertvollste Gut? Warum schweigen heute die meisten und lehnen wieder jegliche Verantwortung ab? Viele Antworten, die wir heute auf unsere Fragen erhalten, sind nicht zufriedenstellend; sie müssen erst noch gefunden werden.Wir erleben im Osten den Vertrauensschwund bei den Bürgerinnen und Bürgern. Immer weniger glauben daran, daß Entscheidungsträger in Politik und Gesellschaft wirklich das Wohl der Gemeinschaft anstreben und daß die Beseitigung von Mißständen auch tatsächlich stattfindet. Die Suche nach Gerechtigkeit als Ausgleich für all die Angst durch das System „40 Jahre SED/Blockparteien" ist das mindeste, war wir als Ostdeutsche und Westdeutsche gemeinsam tun können, um denen zu helfen, die Unrecht erlitten haben, damit der Glaube an die Demokratie wachsen kann und keine Instrumentalisierung stattfindet, Herr Heuer.Zum Schluß danke ich, daß Sie Markus Meckels und meine Anregung angenommen haben, diese Enquete-Kommission einzusetzen. Ich wünsche mir, daß wir im Rahmen der gemeinsamen Arbeit in der Enquete-Kommission keine einseitigen Antworten geben, sondern eine offene Auseinandersetzung stattfindet.Mit einer persönlichen Impression möchte ich schließen. Ich habe sie „Deutsch-deutsche Antworten" betitelt:Es geht nicht,der Rechtsstaat verbietet es,sagen Juristen —ihr habt eure Macht an den Staat längst abgegeben.Unser Grundgesetz gilt jetzt, es hat sich bewährt,sagen Politiker —ihr seid doch beigetreten.Ich war es nicht,Honecker ist es gewesen,sagen die Modrows und Berghofers — ihr seid jetzt verantwortlich.Jetzt habt ihr im Ostenendlich den Rechtsstaat,sagen Demokraten —Gerechtigkeit haben wir auch nicht.Danke schön.
Meine Damen und Herren, eine kurze Bemerkung zur Geschäftslage: Wir haben noch eine Reihe von Wortmeldungen, haben aber die vereinbarte Debattenzeit schon überschritten. Nun ist das bei diesem Thema nicht ungewöhnlich. Ich bitte nur, damit einverstanden zu sein, daß der Kollege Stübgen, der hier sitzt, seine Rede zu Protokoll gegeben hat. Ich hoffe, daß es keinen Widerspruch dagegen gibt. — Dann haben wir das so beschlossen.*)
Nun hat zunächst der Kollege Dr. Müller das Wort zu einer Zwischenbemerkung.
Herr Kollege Schmude, ich wollte nur richtigstellen, daß ich keinerlei Angriffe gegen meine eigene Kirche — auch ich bin evangelisch — gerichtet habe.
Nun haben Sie Herrn Wiegand erwähnt.
— „Nicht namentlich", gut. Ich habe eben den Namen, aber an der Sache ändert das ja nichts. — Da ich nicht dem Motto „Quod licet Iovi, non licet bovi" anhänge, bin ich der Meinung, daß wir den Satz, den ich zitiert habe „Wenn die Kirche dazu aufruft, daß sich die eigenen Schäfchen stellen, dann sollten die Hirten mit gutem Beispiel vorangehen", doch alle unterstreichen können. Das ist jedenfalls mein Selbstverständnis von dieser Kirche. Nur die Wahrheit kann Frieden schaffen: Veritas facit pacem.
Meine Damen und Herren, im Anschluß an diese Debatte gibt es eine Geschäftsordnungsdebatte. Nach der augenblicklichen Übersicht wird die ungefähr um 15.10/15.15 Uhr stattfinden.
Nunmehr erteile ich das Wort unserem Kollegen Dirk Hansen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es hat im Laufe dieser heutigen Debatte doch hin und wieder so ein bißchen parteipolitische Geplänkel gegeben. Dazu ist dann im Zuge der Debatte gesagt worden, daß das angesichts der großen Aufgabenstellung dieser Enquete-Kommission doch eigentlich eher störe. Dieser Auffassung muß man, so denke ich, entgegenhalten: Der Deutsche Bundestag diskutiert gewissermaßen hautnah. So wie die Diskussion außerhalb dieses Hauses stattfindet, so offenbar auch hier. Insofern wird hier die Nähe des Bundestages, der Mandatsträger zu den Wählern selber deutlich und vielleicht auch verständlich. Es wird auch gar nicht anders sein können, als daß in der Arbeit der Kommission selber die Fronten im Zuge von Vergangenheitsbewältigung, beispielsweise auch der eigenen Politiken allein der vergangenen 20 Jahre, immer wieder aufeinanderstoßen.Aufarbeitung der Geschichte — ist das überhaupt möglich? Kann man das, was geschehen ist, im Sinne*) Anlage 2
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Dirk Hansendes Wortes aufarbeiten? Wir im Westen haben seit vier Jahrzehnten immer von Vergangenheitsbewältigung gesprochen. Wir müssen uns fragen, ob wir die Vergangenheit — und damit meinten wir immer wieder die Vergangenheit des Nationalsozialismus — bewältigt haben. Jetzt stellt sich die Frage: Soll die Vergangenheit des Kommunismus in Deutschland allein aufgearbeitet und bewältigt werden? Kann man diese beiden Vergangenheiten gewissermaßen überhaupt in einem Atemzug nennen? Oder ergibt sich daraus nicht zugleich der Streit, der in den späten 80er Jahren unter dem Stichwort „Historikerstreit" in die Annalen eingegangen ist nach dem Motto: Die braunen und die roten Diktatoren — sie kann man nicht in eine Parallele setzen. Wer das eine tut, der relativiert gewissermaßen das andere.Dennoch stellt sich für mich die Frage, ob die seit den 60er Jahren eingestellte Diskussion um den Begriff des Totalitarismus nicht doch eine Ebene schafft, auf der bestimmte Herrschaftstechniken vergleichbar sind, Methoden gewissermaßen, die sich ähneln, auch wenn die Ziele sich nahezu vollständig unterschieden.Ich will hiermit deutlich machen, daß es meines Erachtens keineswegs allein um die Aufarbeitung der Geschichte der DDR bzw. der SED-Diktatur geht, sondern daß zu Recht von der Geschichte und den Folgen der deutschen Teilung im Zusammenhang mit der Aufgabenstellung der Enquete-Kommission die Rede ist. Es gibt eine gemeinsame Vergangenheit, und die Aufgabenstellung ergibt sich keineswegs allein aus den Ereignissen des Herbstes 1989 in der damaligen DDR, sondern aus der deutsch-deutschen Vergangenheit insgesamt, auf jeden Fall aus der nach dem Zweiten Weltkrieg, d. h. auch für die Jahre 1945 bis 1949, die Waldemar Besson einst als „Inkubationszeit" beschrieben hat, in der die Weichen für das gestellt worden sind, was sich ab 1949 in beiden Teilen Deutschlands vollzogen hat.Ich bin mir bewußt, daß der 8. Mai 1945 natürlich keineswegs die Stunde Null war, wie vielfach behauptet worden ist. Die Jahre der deutschen Entwicklung nach 1945 standen ja zunächst einmal stramm unter dem Zeichen des sogenannten Antifaschismus oder besser gesagt des Antinationalsozialismus und sehr bald dann auch im Zeichen des Antikommunismus. Beide Anti-Haltungen waren nichts anderes als Gründungsmythen, die ja Paten für die jeweilige Staatsgründung waren.
Eine historisch orientierte Enquete-Kommission, wie der Name ja sagt, begibt sich auf die Suche, auf die Suche nach Identität, auf die Suche, diesen Zeitgeist-begriff wenn nicht definieren, so doch erläutern zu wollen, einen Begriff, der die Werte, Bedürfnisse, kulturellen Bindungen, die subjektiven Lebensformen beschreibt. Es ist die Suche nach der eigenen Identität, vielleicht auch die Suche nach Selbsterkenntnis und Selbstanerkennung, eine Suche, die den eigenen Standort zu beschreiben sucht, ohne die beliebte Nabelschau zu betreiben, die Suche, die fragt: Woher kommen wir, wer sind wir, und wohin gehen wir? Es ist eine Suche nach Identität, die auchAntworten, gemeinsame Antworten, jetzt im neuen, größeren Deutschland sucht.Die Identität ist, wie Werner Weidenfeld gesagt hat, das „Amalgam aus Gedächtnisstoff, Gegenwartserfahrung, Zukunftsprojektion", und auf diese Suche muß man sich ständig, täglich neu begeben. Das eigene Orientieren für die Zukunft wurzelt in einem Bewußtsein der eigenen Geschichte, und sind diese Wurzeln verdeckt oder gar verdrängt, so kann der Stamm des eigenen gegenwärtigen Seins sich nur verbiegen oder Wucherungen zeugen, die keineswegs deutlich machen, worin dann das Ausschlagen junger Triebe oder gar grüner Blätter begründet liegen könnte.In den vergangenen 45 Jahren, aber keineswegs nur in diesen, war die deutsche Frage ein historisches Faktum. Ob normativ oder voluntaristisch definiert, gerade nach 1945 mußten sich die Deutschen fragen, wer sie sind, was die Nation ist. Aus dem zumindest in den ersten Jahrzehnten als anormal empfundenen Zustand der deutschen Teilung erwuchs immer wieder neu die Frage nach dem eigenen Standort und nach den eigenen Bindungen. Ist die Westbindung der Bundesrepublik zugleich eine Wertbindung gewesen? Ist das Selbstverständnis der Regierenden in der DDR wirklich, wie sie behaupteten, das einer „sozialistischen Nation" gewesen?Die Ost-West-Debatte und die Frage nach dem Standort der Deutschen mittendrin stellte sich spätestens ab 1946. Nach den Konferenzen von Teheran, Jalta und Potsdam zerfiel die Anti-Hitler-Koalition sehr schnell in ihre ideologisch-politischen Gegensätze. Der Kalte Krieg, wie Walter Lippmann es formulierte, begann. Mit der Rede von Außenminister Byrnes im September 1946 in Stuttgart, der Truman-Doktrin, dem Marshall-Plan, der Bizone, den Londoner Empfehlungen der Westalliierten, den Frankfurter Dokumenten und der Währungsreform wurde deutlich, daß die drei westlichen Zonen Deutschlands in eine Richtung marschierten, die danach immer wieder unter das Motto gestellt wurde, Freiheit und Einheit seien die Ziele, die zugleich zu erreichen seien. Es waren ja zum Teil auch intellektuelle Wortspiele, ob „Freiheit durch Einheit" oder die „Einheit in Freiheit" vorrangig zu erzielen sei: diese waren abgehoben, denn zugleich passierte im Osten entgegen allen verbalen Bekundungen — bis in die letzten Verfassungstexte der DDR hinein — doch ab 1946 — vielleicht auch schon im Juni 1945 mit der Bildung des sogenannten Antifa-Blockes, mit der Zwangsvereinigung der SED im April 1946, mit der Volkskongreßbewegung der FDJ, die als Instrument geschaffen wurde — nichts anderes als eine Entwicklung zum Zentralismus über die einzelnen Länder hinweg, die Entwicklung zum Einheitsstaat, der unter den Fittichen der sowjetischen Militäradministration doch so unglaubliche Schandtaten zu verantworten hatte, die Verhaftung, Vertreibung, auch Ermordung von mißliebigen Deutschen.Die Geschichte der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien liefert auch dafür genügend Hinweise. Ich will mich mit dem Hinweis auf das Scheitern der DPD, der Demokratischen Partei Deutschlands, begnügen, die unter Führung von Theodor Heuss und
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Dirk HansenWilhelm Külz im März 1947 die „unverzügliche Wiederherstellung der deutschen Gesamtstaatlichkeit" und die „baldige Ausschreibung von allgemeinen, unbeeinflußten, demokratischen Wahlen bei ungehinderter Zulassung und Entfaltung aller demokratischen Parteien in allen Besatzungszonen und die Bildung einer deutschen Gesamtregierung nach dem Willen des deutschen Volkes" forderte.Ziel der Liberalen war es, Verbindung und Zusammengehörigkeitsfühl der Menschen in beiden Teilen Deutschlands zu stärken und zu fördern. Dann mußten im Laufe der Jahre Tabus gebrochen werden; mit der DDR wurde auf den vielfältigsten Ebenen gesprochen. Über die Entspannungspolitik nach Osten, die Abrüstungspolitik in Europa hin zur europäischen Friedensordnung — etwa bei der KSZE — vollzog sich schließlich auch die Wende in der DDR, die wir alle so hautnah miterlebt haben. Das Wort von Egon Bahr „Nation ist, wenn man sich trifft" zur Rechtfertigung und Beschreibung zugleich der zwanzig Jahre lang aktiv umgesetzten ostpolitischen Vorstellungen umschreibt eine Phase, die auch in diesem Hause in bester Erinnerung sein dürfte.
Es ist heute vormittag zu Recht darauf hingewiesen worden, daß es in diesem Hause Kontinuitäten gibt. Ich will diese jetzt nicht im einzelnen verteilen, aber diese Kontinuitäten haben eben zu dem Ort geführt, an dem wir heute stehen.Wenn sich in den letzten Wochen mit der Offenlegung der Stasi-Akten desaströse Hinterlassenschaften auftun, dann müssen sie aufgearbeitet werden.Theodor Heuss, der den Begriff „Vergangenheitsbewältigung" zwar nicht kreiert, aber doch wesentlich für seine Verbreitung gesorgt hat, ging es schon damals nicht um die Frage, ob der Begriff unscharf ist, sondern es ging um die Sache. So ist es auch heute wichtig, daß nicht etwa nur die Stasi-Akten den Ermittlungsbehörden zugänglich gemacht werden, sondern alle Akten müssen offengelegt und analysiert werden; denn erst daraus ergibt sich ein Aufarbeiten im Sinne von Erkennen, Verstehen, vielleicht auch von künftig Fehler vermeiden. Wir müssen „begreifen, was gewesen ist", wie der Aufruf von Gauck, Schorlemmer, Thierse, Ullmann und anderen in ihrem Plädoyer für ein Tribunal formuliert worden ist.
Der Bundestag kann — so glaube ich — nur seinen Teil dazu leisten. Aber er wird auch nicht den Anspruch erheben, in Ersatz für andere zu treten — seien es die Betroffenen oder sei es die Wissenschaft.Ich denke, es ist richtig, wie mir vor einigen Wochen ein sehr bekannter Historiker aus der ehemaligen DDR geschrieben hat, daß es ihm selber nunmehr darauf ankomme, zunächst einmal auf „autobiographische Spurensuche" zu gehen, nämlich gründlich und auch selbstkritisch die Vergangenheit zu prüfen, um— wie er schreibt — „eine wirkliche Überwindung des bösen Erbes" zu erreichen, durch „eine sachliche, differenzierende, die Umstände in Rechnung setzende Analyse".Ost wie West müssen gemeinsam Scheuklappen ablegen, eigene Urteile als vorschnelle Vorurteile zu revidieren auch bereit sein. Wir alle dürfen uns keineswegs etwa diesem Grundsatz anheimgeben, der für manche Historiker verführerisch klingt: „Quod non est in actis, non est in mundo". — Was sich nicht in den Akten findet, das existiert gewissermaßen auch nicht.Nein, die historische Wirklichkeit geht über diesen Rahmen weit hinaus. Die Akten, die wahrhaft „deutschen Akten" — um mit Klaus Hartung zu reden —, die in kilometerlangen Regalen der Bearbeitung harren, geben nur einen Teil der Wirklichkeit wieder. Vielleicht sind sie tatsächlich gut für „Skandalsucher" und „Schmutzaufwirbler", aber weder die Justiz des Rechtsstaates noch die Mediengesellschaft werden einer ernsthaften Vergangenheitsbewältigung gerecht werden können. Insofern wäre aus der vielleicht nur späten Vergangenheitsbewältigung im Westen zu lernen. Wie nach 1945 wird auch heute viel von Befehlsnotständen unter dem isolierten Handeln einer Clique von Verbrechern in Wandlitz geredet. Nein, die Fragen müssen nach den Systemen gestellt werden.Wir dürfen aber auch nicht ein Verbrechen gegen das andere ausspielen;
sonst kommen wir in die alten Schablonen von Anti-Haltungen. Skeptisch dürfen wir bleiben, ob Lehren aus der Geschichte gezogen werden können. Dennoch ist es richtig zu fragen, legitime Vergleiche vorzunehmen und für aktuelle politische Debatten — also auch hier — die wissenschaftlichen Kontroversen zu nutzen, die auch in der Kommissionsarbeit zutage treten werden, damit die politischen Debatten in der Gesellschaft argumentativ und nicht emotional geführt werden.Es lohnt sich, über die neue Situation in unserem Land, gerade mit dem Blick nach vorne, auch rückwärts zu schauen. Denn, wie gesagt, erst wenn wir wissen, woher wir kommen, können wir auch sagen, wohin wir gehen. Es gibt wieder einmal viele Fragen an die deutsche Geschichte.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Johannes Nitsch das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Hansen, ich möchte an Ihren Satz anschließen. Sie sagen, daß wir nach den Systemen fragen müssen. Ich glaube, zusammen mit der Frage nach der Theorie, auf der diese Systeme aufgebaut waren, ist dies eine wichtige Schlüsselfrage, die die Kommission ganz am Anfang behandeln muß.Ich möchte dazu zu dieser späten Nachmittagsstunde vielleicht nur einige wenige Sätze sagen. An den Anfang stelle ich, daß die Arbeitsergebnisse dieser Enquete-Kommission, die wir heute einsetzen
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Johannes Nitschwerden, in allererster Linie dem großen Leid der vielen Menschen in der ehemaligen DDR und natürlich auch dem Leid mancher hier in den alten Bundesländern gerecht werden müssen. Aber ich möchte auch daran erinnern, daß das Leid, das aus diesem System hervorgegangen ist, nicht im Jahre 1945 begonnen hat, sondern daß seine Wurzeln weit zurückliegen. Die Ergebnisse müssen auf allen Ebenen der geschichtlichen Wahrheit entsprechen.Die Behandlung der tragischen Einzelschicksale der Menschen ist eine notwendige, aber nicht die hinreichende Bedingung zur Erklärung dieses DDR- Staatssystems, seiner sogenannten „Organe" und der Brutalität ihrer Vorgehensweise in allen Lebensbereichen. Die Kommission muß sich, wie ich schon sagte, ganz am Anfang ihrer Arbeit in angemessenem Rahmen mit der Theorie des Marxismus-Leninismus beschäftigen.Zu den wichtigsten theoretischen Grundlagen dieser Staatsform gehören meiner Ansicht nach die Lehre von der Diktatur des Proletariats, die Theorie von der Partei neuen Typus und die Theorie vom demokratischen Zentralismus. Hier liegen die wesentlichsten Grundlagen des verbrecherischen und leider auch über lange Zeiträume wirkungsvollen Machtapparates. Der Staatsaufbau auf diesen Theorien führte zur Annexion von Legislative, Exekutive und Judikative und deren totaler Unterordnung unter den absoluten Führungsanspruch der Partei.Hier ist nicht der Ort, auf Einzelheiten einzugehen. Doch eines, meine Damen und Herren, ist zu sagen: Die Marxisten glaubten an diese Lehren und handelten danach.
Nur die Partei hatte recht und machte sich ihr Recht selbst. Ich erinnere mich noch sehr gut an Worte in einer Vorlesung, die da lauteten: Was Recht ist, bestimmt die Arbeiterklasse. — Aber es war nicht die Arbeiterklasse. Es war in der Regel das Politbüro, häufig allein der Generalsekretär, die nach den von Lenin entwickelten, von Stalin in brutalster Weise umgesetzten Theorien handelten. Nach Lenin ist ja die „proletarische Demokratie millionenfach demokratischer als jede bürgerliche Demokratie. Die Diktatur des Proletariats und sozialistische Demokratie sind identisch." Ich meine, das ist der Ansatzpunkt, von dem aus wir herangehen müssen, um zu verstehen, was geschehen ist. Jeder, der gegen diese Staatsform und das, was in deren Namen geschah, war, wurde unterdrückt und auch getötet. Die theoretische Rechtfertigung für dieses Vorgehen war lükkenlos vorhanden. Denn der Marxismus-Leninismus war allmächtig, weil er wahr war. Das wurde unablässig in die Köpfe hineingehämmert.Diese Darstellung der Wurzeln des Marxismus-Leninismus wird auch bei den Menschen hier in den alten Bundesländern das Verständnis für das perfide System verstärken. Ich glaube, gerade das wollen wir im Sinne der Erreichung unserer inneren Einheit tun.Schließlich möchte ich noch auf einige Gegenstände der Arbeit der Enquete-Kommission hinweisen, die teilweise schon genannt worden sind und die ich für wichtig halte. Das ist zum einen die Problematik der Anpassung vieler Menschen an den realen Sozialismus, zum anderen die Frage der Wechselwirkung zwischen dem Gebilde DDR und der Bundesrepublik Deutschland und schließlich der Punkt, daß die Erinnerung an das Angepaßtsein — fast jeder war irgendwie angepaßt — dem einen leichter- und dem anderen schwererfällt.Eines aber muß deutlich gesagt werden, besonders nach den öffentlichen Diskussionen in den letzten Wochen: Man mußte nicht in die SED oder in die Kampftruppen, und man mußte nicht IM des MfS sein.
Ein rechtzeitiges und deutliches Nein genügte. Wie schwer das wegen Einschüchterung und Angstmache war, hat Kollegin Barbe ja eindrücklich und anschaulich geschildert. Aber es ging. Das führte in der Regel zwar zu Behinderungen in einer mittleren oder vielleicht auch größeren Karriere, doch damit konnte man leben. Und es waren viele, die das so getan haben. Ich sage ganz am Ende: Es waren die meisten.Danke.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Gert Weisskirchen .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Den einen oder den anderen, der heute die Debatte verfolgt hat, beschleicht sicherlich die Sorge, daß die Enquete-Kommission eine Veranstaltung werden könnte, in der sich die Selbstgerechten wiederfinden.
Wenn einige der Reden, die hier gehalten worden sind, zur Leitlinie der Arbeit der Enquete-Kommission würden, muß man diese Sorge haben. Ich bitte uns alle herzlich um folgendes. Wenn wir jetzt am Anfang auf der Suche nach der Wahrheit sind — das ist ja die Aufgabe, die der Enquete-Kommission gesetzt ist —, wird es nicht gehen, zu Ergebnissen zu kommen, die identitätsstiftend sind — Sie haben das Stichwort zu Recht benutzt — für ein gemeinsames Zusammenleben der bisher geteilten Deutschländer, wenn der Tenor in dieser Enquete-Kommission ein Tenor der Selbstgerechtigkeit wird.
Jede Selbstgerechtigkeit wird den Versuch, uns gemeinsam auf den Weg nach einer Identitätssuche zu begeben, scheitern lassen. Dieser Weg wird verstellt, wenn jeder meint, er müsse am Ende in der Enquete-Kommission das Ergebnis haben: Ich bin derjenige, der politisch über irgend-jemand anderen gesiegt hat. Es wird keine Sieger geben. Wir alle sind diejenigen, die diese Geschichte gemeinsam erlitten haben. In der Geschichte wird es nicht Sieger geben, sondern es gibt
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Gert Weisskirchen
ein gemeinsames Leid, das gemeinsam aufgearbeitet werden muß.
Deswegen bitte ich herzlich darum, weil es leider manchen Klang in mancher Rede von sehr hohen Persönlichkeiten — ich nenne sie jetzt nicht mit Namen, weil es ansonsten eine Verlängerung dieser Selbstgerechtigkeitsdebatte wäre, wenn ich das täte — gegeben hat, daß die Enquete-Kommission dies nicht zur Kenntnis nimmt. Die parteipolitische Ausmünzung oder die kriegswissenschaftliche Handhabe des Leids von Hunderttausenden, von Millionen von Menschen müßte sich für uns wirklich verbieten.
Es geht darum, daß der alltägliche Schrecken, das Schreckliche des Alltages aufgearbeitet wird. Die Selbstgerechtigkeit kann nicht das Instrument der Erkenntnis sein und darf es auch nicht werden. Es geht darum, daß wir die Verantwortung, die wir alle gemeinsam tragen, wahrnehmen. Ich sage ganz freimütig, daß zu dieser Selbstachtung, die wir in dieser Debatte finden können, auch Selbstkritik gehört. Das sage ich ganz freimütig.Wenn ich jemanden persönlich ansprechen darf, dann werde ich das jetzt tun. Ich hoffe, Sie verzeihen mir das, Herr Präsident. Lieber Rainer, als wir im September und Oktober des Jahres 1989 in vielen Diskussionen gewesen sind — leider waren sie nicht so häufig, wie ich mir das gewünscht hätte, weil ich nicht die Chance hatte, zu dir und zu anderen kommen zu dürfen, da mir jemand anders an der Grenze verboten hatte, dies zu tun —, hatten wir doch die gemeinsame Sorge, daß das, was in China auf dem Platz des Himmlichen Friedens, wie dieser Platz so schön heißt, geschehen war, auch in der vergehenden DDR passieren könnte. Hatten wir nicht diese Angst, daß der Platz DDR zu einem Platz der irdischen Gewalt und des irdischen Terrors werden könnte? Das war unsere Angst.Wie jeder weiß, habe ich in manchen Momenten der historischen Phasen der Entspannungspolitik durchaus kritisch gesehen, daß es in der Entspannungspolitik eine Gefahr gegeben hat, der übrigens alle Regierenden immer unterliegen können — alle, gleichgültig, zu welcher Partei sie gehören —, nämlich die Gefahr, daß in solchen Momenten der Entspannungspolitik der gouvernementale Blick wichtiger ist als der Blick auf das Leid der Menschen. Es besteht bei allen Regierungen die Möglichkeit, daß sie dieser Gefahr erliegen.Das war der Punkt, wo ich — auch in meiner eigenen Partei — gesagt habe: Geht lieber auf die Menschen zu, die unter solchen Systemen leiden, senkt euren Blick auch auf diejenigen, die in diesem Leid persönlich befangen sind! Aber wenn es zutrifft, daß die Entspannungspolitik auf der gouvernementalen Ebene notwendig war, damit aus der DDR nicht der Platz des irdischen Terrors würde, dann hat diese Form der gouvernementalen Entspannungspolitik ihren Sinn gehabt. Insofern passen beide Strömungen,beide Entwicklungen zusammen: die Vernunft der Menschen von unten, eine neue Gesellschaft durch ihre eigene Kraft selbst entwickeln zu wollen, und die Vernunft der Menschen von oben, die über einen gouvernementalen Weg der Entspannungspolitik versucht haben, das Ganze gemeinsam nach vorne zu bringen.Ich könnte auch darüber reden, wie es überhaupt erst zu der Entspannungspolitik hat kommen müssen. Könnte man nicht auch darüber reden, daß es die notwendige Konsequenz einer gescheiterten Politik von Konrad Adenauer sein mußte, daß überhaupt ein neuer Weg gegangen wurde? Ich finde, diese Debatte kann notwendig sein. Aber helfen wir uns doch bitte auf diesem Weg gemeinsam, damit diese Debatte nicht die Vergangenheit in die Zukunft hinein verlängert. Wir brauchen den Streit, und zwar argumentativ, aber nicht in der Form und mit der Emphase der Selbstgerechtigkeit.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Rudolf Karl Krause das Wort.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie erlebte die Landbevölkerung in der DDR die kommunistischen Repressalien, und was erwarten die Hunderttausende Bauern und deren Millionen Familienangehörigen von der Arbeit der Enquete-Kommission? 45 Jahre kommunistischen Unrechts haben sich auch im Bewußtsein der Landbevölkerung tief eingeprägt. Die DDR war ein riesiges Gefangenenarbeitslager, ein sozialistisches Paradies in Mauern und Stacheldraht.Sie hielt sich so lange durch den Fleiß ihrer Bürger, aber auch dadurch, daß das Eigentum der Fleißigen systematisch gestohlen und heruntergewirtschaftet wurde. Die Jahre 1945 bis 1949 waren geprägt vom Flüchtlingselend, von überfüllten Wohnungen, von neuen Enteignungen und neuer Aussiedlung, von Massenverhaftungen und — auch in Sibirien und in Ostdeutschland — von kommunistischem Massenmord. Auch das ist eine Wurzel der DDR, nicht nur der Antifaschismus.Gleichzeitig entstand durch die Bodenreform zunächst neues vererbbares Eigentum auf dem Lande. In vielen erschütternden Briefen berichten mir Familien von Verhaftungen und vom Tod ihrer Väter, die nach kommunistischer Art immer mit Vermögensverlust und Aussiedlung der Familien verbunden waren.Die sozialistische Umgestaltung auf den Dörfern Anfang der 50er Jahre hatte ihre Grundlagen wiederum in Flucht und Vertreibung, Verhaftungen und Enteignungen. Opfer waren der aufrechte kleine Mann auf dem Dorf wie auch der politisch eigentlich unbeteiligte Bauer, auf dessen Besitz es aber die Kommunisten abgesehen hatten. Es kam zu massenhaften Aussiedlungen an der innerdeutschen Grenze. Die meisten dieser Opfer wollen jetzt wieder in ihre Heimatdörfer zurück.
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Dr. Rudolf Karl Krause
Nach Stalins Tod trat eine gewisse zeitweise Beruhigung ein. Das Heldentum der einfachen Menschen bestand in dieser Zeit darin, auch unter ständiger kommunistischer Bedrohung mit deutschem Fleiß für ihre Familien und die Gesellschaft gearbeitet zu haben. In der DDR blieben aber die alten DDR-Stalinisten an der Macht. Der sozialistische Sozialneid führte dann zur Zwangskollektivierung. Russische Verhältnisse waren das erklärte Ziel der SED-Kommunisten.Wieder gab es gezielte Kriminalisierung der Tüchtigen, Verdächtigung der Fleißigen, neue Verhaftungswellen. Die Bauern wurden zur Aufgabe ihrer Höfe gezwungen. Es kam zur Massenflucht vor dem Mauerbau.Entsprechend verheerend waren auch die wirtschaftlichen Folgen nach 1961. Insgesamt wurden Hunderttausende mitteldeutsche Bauernfamilien durch Vermögensverlust, durch die Verbrechen der Kommunisten unmittelbar betroffen. Während sich in den 60er Jahren und Anfang der 70er Jahre private Hauswirtschaften und in den LPGs Typ I Freiräume entwickelten, etablierte sich in den Groß-LPGs eine neue kommunistische Führungsschicht. Diese roten Apparatschiks sind persönlich verantwortlich für den Verfall der Gebäude in den LPGs Typ III und VEG, der uns heute so viel Sorgen bereitet. Der Machtantritt Honeckers führte zur vollständigen Hinwendung zu Sowjetrußland und zur Zerschlagung der letzten Formen von privatwirtschaftlichem Eigentum.Der real existierende Sozialismus brachte es ständig fertig, Überfluß in Mangel zu verwandeln. Die Gleichmacherei war wieder einen Schritt weitergekommen. Der sozialistische Sozialneid hatte wieder gesiegt. Anfang bis Mitte der 70er Jahre hatte der wirtschaftliche sozialistische Kannibalismus seine letzten Opfer gefressen.In dieser Zeit begannen auch die Agrarfabriken auf dem Lande die Umwelt zu zerstören. Die übernommene wirtschaftliche Substanz wurde aufgezehrt, und für die Mehrheit der Landbevölkerung blieb es bei sehr schwerer körperlicher Arbeit mit Forke, Kiepe und Karre. Für diese Menschen war die Infamie der sozialistischen Phrasen am meisten spürbar.Die 80er Jahre waren auf dem Lande geprägt vom Verfall der Grundstücke, die sich in der Nutzung der LPGs und Staatsgüter befanden. Es kam zur berüchtigten kalten Enteignung aus den Wolken. Der schleichende sozialistische Vandalismus fraß sich leise und wie ein Krebsgeschwür durch unsere Gebäude. Verfall und Abriß prägten das Bild der 80er Jahre.Die letzten fünf Jahre sind publizistisch recht gut aufgearbeitet. Sorgen wir aber dafür, daß auch die ersten 40 Jahre der verbrecherischen SED-Herrschaft nicht vergessen werden. Es darf bei der Aufarbeitung nicht nur — das wurde schon mehrfach angemahnt — um die Selbstdarstellung intellektueller Randgruppen und Oberschichten gehen. Die SED hat weite Teile der Bevölkerung beraubt und betrogen. Wenden wir uns deshalb den Opfern der SED zu, der Mehrheit der Menschen in der DDR. Und das ist auch die Mehrheit unserer Menschen auf dem Lande. Für uns ist diese inden Medien vergessene Mehrheit nicht eine Randgruppe, sondern die Zielgruppe unserer Politik.
Meine Damen und Herren, nunmehr hat das Wort unser Kollege Wolfgang Lüder.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte zeigt, glaube ich, die Notwendigkeit der Enquete-Kommission, obwohl auch draußen, am Rande der Sitzung hier, viele Fragen gestellt werden, ob wir es schaffen können, was wir uns vorgenommen haben. Nach den ersten drei Reden, nach Eppelmann, Brandt und Schmieder, hatte ich Hoffnung, daß wir darangehen können, dieses schwierige Werk hier ordentlich zu bewerkstelligen. Manche andere Rede danach hat mich zweifeln lassen.Ich glaube, es ist notwendig, daß die Abgeordneten mit den Wissenschaftlern zusammenarbeiten. Insoweit geht der Vorwurf, der hier von der PDS kam, fehl, daß sich nur Politiker in der Kommission zusammensetzten. Politik und Wissenschaft zusammen sollen hier einen Anfang machen, sollen hier einen Auftrag erfüllen, sollen hier Arbeit leisten.Die Arbeit ist schwer. Wir müssen uns, glaube ich, noch Gedanken darüber machen, welche Ansprüche wir — im Sinne einer Voraussetzung für unsere Arbeit — an uns selbst stellen. Bisher haben wir davon gesprochen, was wir in der Enquete-Kommission machen. Aber ich meine, wir müssen uns vorher darüber im klaren sein, unter welcher Voraussetzung wir an die Arbeit herangehen.Wir fangen doch nicht in der Stunde Null an, sondern wir fangen an in einem Bundestag, der aus Kollegen zusammengesetzt ist, die Opfer des Unrechtsstaates in der DDR waren, die Flüchtlinge oder Vertriebene waren, die hier im Westen in den Wohlstand hineingewachsen sind, die im Osten geblieben sind, die ihren Weg in den Blockparteien gesucht haben, wobei manche ihn auch gefunden haben, die in Blockparteien angepaßt waren, die in Blockparteien Widerstand leisteten, die in der SED das Unrechtregime getragen und bis heute nicht verstanden haben, warum es gescheitert ist, usw. Diese alle zusammen versuchen hier, gemeinsam die Geschichte aufzuarbeiten.Wenn wir den heutigen Tag Revue passieren lassen, dann sehen wir, daß wir an mehr als nur an die Geschichte der DDR denken müssen. Heute tagt in Berlin der Untersuchungsausschuß Schalck-Golodkowski. Gestern hat er einen Zeugen gehört, der des Mordes im Dritten Reich angeklagt ist.Gestern hat das Finanzministerium über die Wiedergutmachung für jüdische NS-Opfer verhandelt. Es leben noch 50 000 Menschen, die keine akzeptable Entschädigung für Unrecht erhalten haben, das sie im NS-Staat erleiden mußten.Die Roma und Sinti wissen noch nicht, ob wir in der Lage und fähig sind, ein Denkmal für die Verfolgung ihrer Völker zu schaffen.
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Wolfgang LüderWir haben Daten in der Geschichte, z. B. den 9. November, mit denen wir nicht fertig werden. Wir wissen nicht, ob der 9. November 1918, 1938 oder 1989 das dominierende Datum ist; alle drei Daten hängen miteinander zusammen. Ich nenne den 17. Juni, den 21. August und den 20. Juli. Alles das sind Daten, derer wir uns bewußt sein müssen, wenn wir festlegen wollen, was in der Enquete-Kommission behandelt werden soll.Wir werden uns darüber klar sein müssen, daß wir in dieser Enquete-Kommission nur erste Arbeiten leisten können. Jeder, der meint, daß diese Enquete-Kommission mehr Arbeit leisten und doch so rechtzeitig abschließen kann, daß wir noch vor den Wahlen darüber debattieren können, macht sich etwas vor.Wir sollten uns klar darüber sein, daß wir diese Arbeit nur dann leisten können, wenn wir Aufträge weitergeben, Fragestellungen aufnehmen, Fragestellungen an die Wissenschaft, an die allgemeine Politik und auch an andere Gremien weitergeben.Wir müssen uns der komplexen Situation bewußt bleiben: 40 Jahre Geschichte in zwei Teilen Deutschlands, 40 Jahre Bemühen um Einheit im Westen, 40 Jahre Wunsch nach Einheit im Osten, 40 Jahre Auseinanderentwicklung nicht nur der Staaten, sondern auch der Lebensformen. Alles dies muß zusammengefügt und aufgearbeitet werden. Als Berliner denke ich noch daran, daß wir in dieser Stadt, in der Bundeshauptstadt Berlin, der früheren Reichshauptstadt, die Mauer, vorher den 17. Juni und davor die Blockade erlebt haben. All dies hat uns mitgeprägt. Und all dies hatte Ursachen. Wenn wir da herangehen, dann habe ich zwei Bitten.Lassen Sie uns nicht in die Art verfallen, mit dem Zeigefinger auf das Unrecht des anderen zu zeigen.
Ich empfehle allen Kolleginnen und Kollegen, die darangehen, diese Arbeit zu machen, nachzulesen, was Theodor Heuss gesagt hat, als das Mahnmal in Bergen-Belsen eingeweiht wurde. Er sprach dort den Satz: „Das Unrecht und die Brutalität der anderen zu nennen, um sich darauf zu berufen, ist das Verhalten der moralisch Anspruchslosen." Wir sollten moralischen Anspruch erheben, wenn wir an diese Aufgabe herangehen. Noch einmal möchte ich Theodor Heuss erwähnen. Theodor Heuss war einer derer, die als erste nach dem Krieg die Fragen auch an sich selbst gestellt haben, ob sie z. B. beim Ermächtigungsgesetz nicht hätten anders handeln sollen. Auch dieses Bekenntnis, sich selbst zu fragen, was haben wir, was hat unsere Seite, was habe ich selbst getan, was hätte ich anders machen können, müssen wir voranstellen. Vielleicht sollten wir auch noch einmal die Rede Schillers nachlesen — einige Kollegen wissen, daß ich diese Rede liebe — in der er fragte: Warum und zu welchem Ende studieren wir Universalgeschichte? Da stand viel drin, warum man sich mit der Geschichte befassen soll und daß dies kein Selbstzweck ist. Das sollte auch ein Motto sein für die Arbeit, an die wir schwer herangehen müssen. Wir sollten ganz anspruchsvoll sein. Das Anspruchsvollste, was wir beidieser Arbeit machen können, ist, selber bescheiden zu sein.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Udo Haschke .
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lieber Kollege Lüder! Ich bin Ihnen sehr dankbar für das, was Sie gesagt haben, nicht zuletzt deshalb, weil diese berühmte Rede in Jena, meiner Heimatstadt, gehalten wurde.Wir reden heute über einen wichtigen Teil in unserer Geschichte. In der Begründung meiner Fraktion steht: Der Untergang der DDR ist nicht das Ende ihrer Geschichte. Nur allzu spürbar ist die Vergangenheit gegenwärtig, wirkt das Gestern in das Heute und das Morgen hinein. — Mindestens möchte ich sagen: durch uns. Denn wir können 40 Jahre unserer persönlichen Biographie nicht ablegen wie ein gebrauchtes Hemd, auch wenn heute einige so tun, als wären sie überhaupt erst im Herbst 1989 zur Welt gekommen. Es gilt also auch, unseren persönlichen Platz in diesen 40 Jahren Geschichte zu bestimmen, kritisch zu betrachten, auch zu bedenken, wie wir auf diesen Platz gekommen sind.Einer der Wegweiser dahin war im System der SED Herrschaftsmechanismen und -instrumente ohne Zweifel das einheitliche sozialistische Bildungssystem. Ein System — so steht es in einem Arbeitspapier des Bürgerforums Jena vom Oktober 1989 —, in dem Neugier, gar Zweifel unerwünscht waren, das zu angepaßtem Wohlverhalten erzog, in dem Doppelzüngigkeit vom Kindergarten bis zur Universität trainiert wurde.Ich selbst war bis 1987 13 Jahre lang als Lehrer tätig. Heute höre ich manchen Kollegen sagen, er habe doch niemandem geschadet. Ich wünschte, ich könnte dies akzeptieren, könnte dies so von mir sagen. Aber wie sollte das möglich sein? Das Volksbildungssystem war eines der wesentlichsten Instrumente der SED, die Bevölkerung gleichzuschalten und zu entmündigen.Jeder, schrieb ein Weimarer Lehrer, der ehrliche Trauerarbeit leistet, wird in dieser seiner Biographie fündig werden. Er wird auch — das sage ich ganz bewußt — vieles finden, was ihm Grund gibt, den mühsam erworbenen aufrechten Gang beizubehalten. Aber er wird auch auf vieles stoßen, was heute mancher lieber unter den Teppich kehren möchte.
Wahrheit ist konkret. Deshalb einige konkrete Beispiele aus meinem Wahlkreis Jena.Meldung eines Direktors an den Stadtschulrat über ein besonderes Vorkommnis vom 18. April 1988: „Zwei Schüler" — es folgen die Namen mit Adresse und Geburtsdatum — „der Klasse 10 diskutieren um die Teilnahme an der Maidemonstration. Grund: Teilnahme am Sonntagsgottesdienst." — Diese einfache Geschichte war es wert, vom Direktor an den Stadt-
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Udo Haschke
schulrat und vom Stadtschulrat an die SED-Kreisleitung geschickt zu werden.Internes Schreiben Ablehnung einer Bewerbung für die Aufnahme in die Abiturstufe — Schuljahr 85/86 —:Seine Gesamthaltung einschließlich seiner Haltung zur Wehrbereitschaft entspricht nicht der Aufnahmeordnung .Für das nächste Zitat möchte ich um besondere Aufmerksamkeit bitten. Ich zitiere aus zwei Blättern betreffend die Beurteilung eines Schülers:Der Schüler tritt hochnäsig, rücksichtslos, sogar brutal gegenüber körperlich und leistungsmäßig schwächeren Schülern auf ... will beweisen, was er sich erlauben kann und daß ihm die Lehrer sowieso nichts anhaben können.Auf einem zweiten Blatt zum selben Schüler heißt es:Bei Gesprächen über seine berufliche Entwicklung zeigte er sich interessiert, als militärischer Nachwuchskader geführt zu werden. Um ihm einen vollständigen neuen Start ohne Vorbelastung zu geben, plädieren die Vertreter des MfS dafür, daß er vor Beginn des Schuljahres 1986/87 in eine andere Schule umgesetzt wird.Wer solches wußte oder zumindest ahnte, was sagte der seinen schulpflichtigen Kindern? Zitat von Christa Wolf: Der Kern der Gesundheit ist Anpassung? Erst mal zur erweiterten Oberschule kommen, erst mal Abitur machen, erst mal einen Studienplatz bekommen, erst mal das Examen machen, erst mal ... Bei wie vielen ging dieses „erst mal" bis zum Lebensende?Bei der Arbeit der Enquete-Kommission ist auch dies zu bedenken und zu leisten. Ermutigung, die eigene Geschichte anzunehmen, damit die Chance des ehrlichen Neubeginns ergriffen werden kann. Wir haben diese Chance.
So wie der Kollege Stübgen bittet auch die Kollegin Frau Professor Roswitha Wisniewski, ihre Rede zu Protokoll geben zu dürfen. Besteht Einverständnis damit? — Dies ist der Fall. Dann wird so verfahren.*)
Nun hat unser Kollege Dr. Harald Schreiber das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Kommission, über deren Einsetzung wir heute beraten, wird sich mit vielen schlimmen und verabscheuenswerten Dingen zu beschäftigen haben, die Menschen im SED-Staat angetan wurden, mit Ungerechtigkeiten, die Menschen oder ganzen Gruppen von Menschen zugefügt wurden. Wenn man aber prüft, welches Ausmaß die materiellen, körperlichen und geistigen Schäden erreichten, sollte man auch Ungerechtigkeiten einbe- *) Anlage 3ziehen, die an Worten, an Begriffen begangen wurden. Sprache steht ja mit Gefühl, mit Empfinden in engem Zusammenhang. Ihr Mißbrauch schädigt das Denken und Empfinden von Menschen, also letztlich die Menschen selbst.Ich denke an einen bestimmten Begriff, an einen, der menschliche Werte einschließt und der zu den positivsten Begriffen gehört, die ich mir vorstellen kann. Es handelt sich um den Begriff Solidarität. Er steht für mich inhaltlich ganz eng neben der Nächstenliebe, der Verantwortung für den anderen, der Bereitschaft zu tätiger, auch zu moralischer Hilfe. Um so schlimmer stellt sich für mich die Erkenntnis dar, daß auch die Solidarität in der SED-Diktatur instrumentalisiert wurde, daß man sie schlechten politischen Zielen unterordnete und sie dafür mißbrauchte, ein in sich verwerfliches, unerträgliches System international aufzuwerten und über das wahre Wesen des Regimes hinwegzutäuschen. Ideologieexport statt Hilfe zur Selbsthilfe, Devisenbeschaffung für das eigene Land statt Unterstützung der Ärmsten, so lautet das Urteil über einen großen Teil von Entwicklungsprojekten der früheren DDR, die unter dem Etikett Solidarität liefen. Zu den besonders schlimmen Auswüchsen gehörten direkte Stasi-Projekte, z. B. in Äthiopien, oder eine als Entwicklungshelfer getarnte Truppe von Sicherheitsexperten in Angola. Hier wurde der Begriff Solidarität nicht nur mißbraucht oder instrumentalisiert, hier wurde er pervertiert.Kaum jemand außer vielleicht dem Zentralkomitee der SED hatte einen wirklichen Überblick über die zahlreichen DDR-Projekte in mehr als fünfzehn Ländern. Unmittelbar nach der Wende liefen viele davon aus. Die Regierung de Maizière legte die faulsten dieser Entwicklungssümpfe trocken.Gewiß, nicht alles, was von der DDR aus Solidaritätsgeldern finanziert wurde, ist mit so harten Urteilen zu bedenken. Aber es geht um die Erkenntnis, daß sich ein menschenfeindliches, in seinen Prinzipien schlechtes Regime auch in seinen oft nur so genannten Entwicklungsprojekten nicht verleugnen konnte. Um auch das zu sagen: Von den 106 Projekten, die am Tag der deutschen Vereinigung noch bestanden, mußten aus den genannten Gründen 34 gestoppt werden. Die Hilfe der DDR orientierte sich in erster Linie an den Kriterien des internationalen Klassenkampfes und nicht an den wirklichen Bedürfnissen der Entwicklungsländer.Trotzdem fand die Entwicklungspolitik der Bundesrepublik im Interesse der betroffenen Entwicklungsländer, hauptsächlich in der Dritten Welt, die Möglichkeit, 64 Projekte weiterzuführen, um die Kontinuität zu sichern oder zumindest um keine Projektruinen zu hinterlassen. Vier Projekte betrafen das Außenministerium. Vier wurden an Nicht-Regierungs-Organisationen übergeben.Die Pervertierung der Solidarität hat noch eine andere Seite, die ebenfalls nicht unterschlagen werden darf. Solidaritätsspenden wurden in der DDR nur zu einem Teil wirklich freiwillig gegeben. Zu einem großen Teil waren sie erpreßte Abgaben, wurden sie von der Bevölkerung als Nötigung empfunden. Solidarität war als Pflicht befohlen. Völkerfreundschaft war kommandiert. Von der übergroßen Mehrheit der
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Dr. Harald SchreiberBürger durfte die Freundschaft mit anderen Völkern nicht wirklich erlebt werden. Nicht einmal zu den in der DDR stationierten sowjetischen Armee-Einheiten, zu Soldaten, Offizieren, Zivilangestellten oder ihren Angehörigen durfte es gesellschaftliche Kontakte geben. Solidarität und Völkerfreundschaft blieben in der Sprache der Herrschenden Lüge und Phrase. Aber sie durften nicht als das bezeichnet werden, was sie in Wirklichkeit waren. Auch wenn jeder von Reibungen, von Streit und Gewalt wußte, die dort geschahen, wo ausländische Arbeiter aus Nordafrika, Kuba oder anderen Ländern lebten und über Devisen verfügten, um die DDR-Bürger sie beneideten, durfte die Wahrheit nicht ausgesprochen werden.Nun, da der Zwang beseitigt ist, da keine Lügen mehr erpreßt werden, bricht sich auch auf dem Gebiet der neuen Bundesländer der Ausländerhab gelegentlich Bahn und äußert sich in einer Reihe von Fällen in Gewalt, die auch durch die böse Geschichte der DDR nicht zu beschönigen oder zu entschuldigen ist. Jede Gewalttat ist zuviel. Jeder Haß zeugt wieder Haß. Auch wenn es sich nur um kleine Gruppen oder um einzelne handelt, die provozieren und vor Gewalttaten nicht zurückscheuen, wird das Zusammenleben mit ausländischen Mitbürgern, mit Asylanten, mit Asylbewerbern oder Aussiedlern gestört.Der Rechtsstaat muß Gewalt bekämpfen. Er tut es auch. Wir alle müssen mit unseren Mitteln dafür eintreten, die Atmosphäre zu entgiften. Wir müssen verhindern, daß Gewalt eskaliert. Aber wir müssen wissen: Die Saat zu alldem wurde da gelegt, wo Unrecht und Lüge zum System gehörten: in der Diktatur der SED.Auch in dieser Hinsicht muß die Vergangenheit in Wahrheit aufgearbeitet werden. Deshalb brauchen wir die Enquete-Kommission, über die wir jetzt sprechen. Erst wenn Recht wieder Recht und Wahrheit wieder Wahrheit sind, wird auch Solidarität wieder das sein, was sie sein sollte: Mitempfinden für die Situation des anderen, Bereitschaft zu tätiger Hilfe in wahrer Menschlichkeit.Danke.
Damit sind wir am Ende der Aussprache angekommen.
Gestatten Sie mir bitte noch ein kurzes Wort. Vorhin ist unter meiner Leitung im Zusammenhang mit einer Äußerung über die Schule des Marxismus-Leninismus der Ausdruck „Schule für Massenmörder" gefallen. Ich rüge diesen Ausdruck nicht, weil er sich gegen eine Institution gerichtet hat und nicht gegen einen hier anwesenden Kollegen. Ich bin aber trotzdem der Meinung, daß wir mit derartigen Ausdrücken gerade in einer solchen Debatte etwas vorsichtig verfahren sollten.
Nun bitte ich zu einer persönlichen Erklärung zur Abstimmung Frau Kollegin Jutta Braband ans Mikrophon.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da die Behandlung des heutigen Themas in ursächlichem Zusammenhang mit den Gründen für meinen Rücktritt steht, habe ich dazu noch etwas aus persönlicher Sicht zu sagen.Wenn ich mit anderen zusammen auf eine öffentliche Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit gedrungen habe, so zielte dies auf einen emanzipatorischen Prozeß, der mehr umfaßt als die Feststellung von Verletzungen rechtsstaatlicher Normen und von Menschenrechten in der DDR. Meine eigene Geschichte, insbesondere meine inoffizielle Mitarbeit beim MfS vor 20 Jahren, meine Entscheidung, diese Mitarbeit 1975 zu beenden, die Zeit in der Opposition und die Erfahrung der Haft in der DDR haben mich gelehrt, daß diese Emanzipation eine aktive politische Auseinandersetzung aller betroffenen Menschen selbst erfordert, die sich nicht delegieren läßt.Gerade wir in der DDR haben erfahren, in welchem Ausmaß die Okkupation eigener politischer Willensbildung durch uns fremde Gremien zur Instrumentalisierung von Menschen, ihrer Lebensumstände und ihrer Geschichte geführt hat. Eine Enquete-Kommission kann die erforderliche gesellschaftliche Auseinandersetzung nicht ersetzen.Darüber hinaus erleben wir heute erneut, wie parteiegoistischer Opportunismus und die Arroganz der Macht von Politikern und Medien diese Aufarbeitung behindern. Die verstaatlichte Abrechnung der heutigen BRD mit dem besiegten politischen System der DDR hat überdies weitaus mehr im Visier als bloß Täter und Träger politischer Verantwortung. Gleichzeitig hat sie viel mehr zu bemänteln, als der Enthüllungseifer von Parteipolitikern vermuten läßt.Eine Auseinandersetzung der Menschen von unten mit ihrer eigenen Geschichte, die Erhellung der Strukturen bürokratischer Diktatur, aber auch die Benennung der politischen Schuld kalter Krieger der Nachkriegs-BRD und alle Formen von Komplizenschaft der Herrschenden in Ost und West in der ganzen Geschichte beider deutscher Staaten stoßen heute und gerade in diesem Parlament auf nicht wenige Gegner.Wenn dies aber trotzdem gelingt, so wird der Versuch scheitern, in der Aburteilung der DDR die Idee des Sozialismus, die für mich Demokratie und Humanismus zwingend einschließt und die weder durch die Politbürokratien des Ostens noch durch den billigen Triumph zeitgenössischer Antikommunisten erledigt ist, auszulöschen. Ich stelle fest: Seit der Übernahme der DDR wurde gesellschaftliche Atmosphäre für genau diesen Versuch geschaffen.Meine Damen und Herren, wir haben 1990 am zentralen Runden Tisch die Auflösung des MfS nicht nur durchgesetzt, um die Opfer der Repression in der DDR zu rehabilitieren, sondern um einen emanzipatorischen Prozeß zu befördern, der auch Menschen, die das Regime überwiegend mitgetragen haben, künftig resistent gegenüber Demagogie und damit eigenverantwortlich werden läßt.Die Reduzierung der Kritik auf Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtsverletzungen, so nötig sie ist, umgeht die Bewertung der DDR an ihren eigenen Ansprüchen, d. h. an Kriterien gesellschaftlicher
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Jutta BrabandEmanzipation. Dies bedeutet aber auch, die Hoffnung all der Menschen zu leugnen und zu verurteilen, die die Existenz der DDR als Versuch zu eben dieser Emanzipation begriffen haben. Gerade dadurch, denke ich, kann es aber nicht gelingen, auch die Illusionen zu benennen, die den Einsatz menschenverachtender Mittel scheinbar rechtfertigten.Ich bedaure, daß es keine Partei in diesem Hause gibt, die bislang über diese tiefen Gräben gesprungen ist. Ich bedaure zutiefst, daß auch die PDS bis heute nicht in der Lage war, diesen Anspruch — und den erwarte ich im Grunde von Ihnen allen nicht, sondern vor allem von den Linken selbst — an die Aufarbeitung unserer Vergangenheit einzulösen, und selbst über das Relativieren nicht hinausgekommen ist. Ich weiß allerdings, daß daran zum Teil auch die Atmosphäre schuld ist, die ich vorhin beschrieben habe.Ich bedauere ebenso, daß Teile der Bürgerbewegungen diesen ihren eigenen Anspruch aufgegeben haben, wenn sie sich heute mit der CDU auf die Forderung nach allgemeiner Säuberung nicht nur der Parlamente beschränken.Mir kommt es wirklich darauf an, daß Bedingungen geschaffen werden, unter denen Menschen nicht ausgegrenzt werden, sondern die Möglichkeit erhalten, sich ihrer ganz persönlichen Geschichte und Schuld zu stellen. Die Offenlegung ist dafür unverzichtbar. Die Akten müssen offenbleiben. Doch gerade die Vorverurteilung und das öffentliche Strafkartell behindern diese Offenlegung. Auch in diesem Parlament wurde auf unrühmliche Weise dazu beigetragen, die Atmosphäre zu vergiften.Mir bleibt nur, mich von Ihnen zu verabschieden, auch von denen, die mich nie hier wollten. Ich versichere Ihnen, ich werde weiterhin Politik machen; denn auch außerhalb des Parlamentes ist das möglich.Guten Tag.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. auf Einsetzung einer Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur" auf Drucksache 12/2230. Wer stimmt für diesen Antrag? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Antrag bei zwei Stimmenthaltungen angenommen und die Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur" eingesetzt.
Gemäß Ziff. 5 des gerade angenommenen Antrages sind die Anträge auf den Drucksachen 12/2152, 12/ 2226 und 12/2229 dieser Kommission zur Beratung zugewiesen worden.
Der Antrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/2220 wurde zurückgezogen.
Der Antrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/2220 soll in seinem Teil A der soeben eingesetzten Enquete-Kommission und in seinem Teil B dem Innenausschuß federführend sowie dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? — Dies scheint der Fall zu sein. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wie bereits heute morgen mitgeteilt, hat die Fraktion der SPD fristgemäß einen Antrag auf Erweiterung der Tagesordnung eingereicht. Die Tagesordnung soll um die Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung zu den Beitragssätzen in der gesetzlichen Krankenversicherung auf der Drucksache 12/ 1901 ergänzt werden. Wird zu diesem Aufsetzungsantrag das Wort gewünscht? — Das ist der Fall. Das Wort hat der Kollege Klaus Kirschner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Namen der SPD-Bundestagsfraktion beantrage ich, den Bericht des Bundesministers für Gesundheit zur Entwicklung der Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung und zur Umsetzung der Empfehlungen und Vorschläge der konzertierten Aktion zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit, Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen auf die Tagesordnung zu setzen. Ich will dies folgendermaßen begründen:Die Unterrichtung der Bundesregierung auf Drucksache 12/1901 ist mit Datum vom 7. Januar 1992 versehen. Heute haben wir den 12. März 1992. Das heißt, es sind zehn Wochen seit der Überweisung dieses Berichtes durch die Bundesregierung an das Parlament vergangen. Angesichts der dramatischen Ausgabenentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung — die Zahlen für das Jahr 1991 liegen nun vollständig vor — ist es urn so unverständlicher, daß Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, bisher nicht bereit waren, diesen Bericht auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages zu setzen und hier im Plenum zu beraten.
Diese Haltung kann nur so interpretiert werden, daß Sie vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein — ich kann verstehen, daß Sie sich davor fürchten, mit den Ergebnissen Ihres verfehlten Gesundheits-Reformgesetzes konfrontiert zu werden — eine Debatte darüber verhindern wollen.Meine Damen und Herren, die neuesten Zahlen der Krankenversicherung zeigen, daß die Einnahmen 1991 gerade ein Plus von 4,3 % zu verzeichnen hatten, während die Ausgabensteigerung um 12,6 % fast dreimal so hoch war. Ihr Bericht versucht, diese dramatische Entwicklung schönfärberisch zu übertünchen. Aber ich denke, bei einem Defizit von 5,5 Milliarden DM im vergangenen Jahr gibt es nichts mehr zu schönen. Deshalb muß hier und heute dieser Bericht debattiert werden.
Wenn die Bundesministerin für Gesundheit, Frau Hasselfeldt,
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6770 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Klaus Kirschnerin ihrer Pressemitteilung zu diesem Bericht — man höre und staune: diese Pressemitteilung wurde bereits am 11. Dezember 1991 veröffentlicht — verharmlosend feststellt, daß die Ausgabenentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung einzelne Kassen zwingen könnte, Beitragssatzanhebungen vorzunehmen, so ist zu sagen, daß dies eben nicht nur einzelne Kassen trifft.
— Ich begründe es. Ich verstehe ja, daß Sie es nicht gern hören. Sie haben natürlich recht, Herr Kollege Müller; Sie machen es ja auch so.Sie müssen mit Ihrem Gesetz konfrontiert werden. Deshalb sagen wir: Dieser Bericht muß auf die Tagesordnung.
Ich möchte darauf hinweisen, daß die Beitragssatzanhebung nicht nur bei einzelnen Kassen erforderlich ist, sondern daß 301 Krankenkassen ihre Beitragssätze zum 1. Januar dieses Jahres anheben mußten. Dadurch stieg der durchschnittliche Beitragssatz von 12,2 auf 12,46 v. H. Dabei sollte doch das sogenannte Gesundheits-Reformgesetz angeblich die Voraussetzungen für folgendes schaffen. Ich möchte den Gesetzentwurf von 1988 in Erinnerung rufen. Dort heißt es, daß die seit Jahren ansteigenden Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung gesenkt und dauerhaft stabilisiert werden sollen. Davon kann nicht im entferntesten die Rede sein.
Ich denke, meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung der Tatsache, daß dieser Bericht drei Jahre nach dem Inkrafttreten Ihres sogenannten Gesundheits-Reformgesetzes zum erstenmal dem Parlament und der Öffentlichkeit vorliegt — er ist ja nach § 141 SGB V vorgeschrieben —, ist unsere Forderung mehr als berechtigt, daß dieser Bericht endlich debattiert und nicht weiter auf die lange Bank geschoben wird.Die Bundesministerin für Gesundheit weist in ihrer besagten Pressemitteilung vom Dezember auf die Gesundheitspolitische Kommission der Koalitionsparteien hin, die Maßnahmen prüft, wie dem Anstieg der Beitragssätze entgegengewirkt werden kann.Sie sollten hier und heute sagen, was Sie vorhaben. Wird ein neuer Wählerbetrug vorbereitet, der nicht vor den Landtagswahlen am 5. April bekannt werden darf?
Als Mitte 1991 ein internes Papier des Abteilungsleiters im Bundesgesundheitsministerium an die Mitglieder dieser Kommission verteilt wurde, das neue Belastungen in Höhe von 17 Milliarden DM vorsah, wurde es schnell dementiert. Jetzt kursiert ein neuesPapier in diesem Ministerium mit neuen möglichen Belastungen für die Patienten.Ich meine, die Versicherten und die Öffentlichkeit haben ein Recht darauf, von diesen Plänen nicht erst nach den Landtagswahlen zu erfahren. Dies ist ein unredliches Spiel.
Meine Damen und Herren, deshalb beantragen wir, daß dieser Bericht nun endlich auf die Tagesordnung gesetzt wird und daß die Möglichkeit besteht, darüber zu debattieren.
Nun hat das Wort zur Geschäftsordnung der Kollege Hoffacker.
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, es geht ja um einen Geschäftsordnungsantrag. Zur Sache sprechen wir dann, wenn sie auf der Tagesordnung steht.
Das Thema verdient nicht das, was die Kolleginnen und Kollegen von der SPD jetzt wollen, nämlich einen Schnellschuß.
Dieses Thema steht, wie der Kollege Klaus Kirschner weiß, in einem breiten Zusammenhang beispielsweise mit den Ergebnissen der Enquete-Kommission. Es steht in einem Zusammenhang mit den jüngsten Daten, die gerade aufgearbeitet werden, zu den Themen Beitragssätze, Verbesserung der Wirtschaftlichkeit und Erhöhung der Leistungsfähigkeit. Um diese Themen bemühen wir uns nicht nur im Ausschuß, sondern auch in der Diskussion mit den Partnern, die sich ebenfalls mit diesem Thema beschäftigen.
Wir können nicht erkennen, daß dieses so wichtige Thema in diesem Schnellverfahren besprochen werden muß.
Die CDU/CSU-Fraktion muß diesem Geschäftsordnungsantrag heute, Klaus Kirschner, leider widersprechen. Wir sind für Ablehnung.
Zur Geschäftsordnung die Kollegin Ursula Fischer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das Verhalten der Koalition ist mir ein bißchen unverständlich. Nach meiner Ansicht wird hier wirklich Wahlkampf betrieben.
Ich verstehe das in keiner Weise. Dies ist für mich kein Schnellschuß. Die Unterlagen liegen lange genug vor.
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Dr. Ursula FischerDie Bedeutung ist ausreichend bekannt. Ich habe dem, was mein Kollege von der SPD zur Begründung gesagt hat, nichts hinzuzufügen.Ich bitte die Kollegen von der CDU/CSU und natürlich auch von der F.D.P., diesem Antrag auf Aufsetzung auf die Tagesordnung zuzustimmen.
Zur Geschäftsordnung hat der Kollege Bruno Menzel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gesundheitspolitik ist eine permanente Aufgabe, um die Finanzierbarkeit aller erforderlichen medizinischen Leistungen sicherzustellen.
Wir alle wissen um die Beitragssatzsenkungen, die in der gesetzlichen Krankenversicherung durch die Gesundheitsstrukturreform möglich waren. Daß wir uns heute in einer Zeit erneuter Beitragsanhebungen befinden, ist nicht, wie immer wieder behauptet wird, ein Beweis für das Scheitern der Reform.
Im Gegenteil, ohne die Reform hätten wir die Grenzen der Finanzierbarkeit vermutlich schon überschritten.
Wir alle wissen, daß die aktuelle Ausgabenentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung erneute gesundheitspolitische Maßnahmen erforderlich macht. Denn die Belastbarkeit mit Sozialabgaben für Versicherte wie auch für die Unternehmen ist an einem Punkt angekommen, wo die Sozialabgaben die Effizienz unserer Wirtschaft belasten und zu einer indirekten Förderung der Schwarzarbeit führen.
Dabei sollte man ehrlicherweise zugeben, daß es keine gesundheitspolitischen Patentrezepte gibt. Es gibt nur ein Bündel wohlüberlegter und aufeinander abgestimmter Einzelmaßnahmen. Ich erinnere z. B. an die Ausführungen des Sachverständigenrates.
Ich spreche mich gegen die Aufsetzung des Berichts zum heutigen Zeitpunkt aus,
weil wir, Herr Kollege Kirschner, zunächst sorgfältig, ohne Tabus und Vorbehalte, die in Frage kommenden gesundheitspolitischen Maßnahmen und Instrumente diskutieren sollten.
Hierfür wird uns auch der vorliegende Bericht in den nächsten Monaten eine große Hilfe sein.
Außerdem haben wir in diesem Haus bereits wiederholt über die Probleme der Gesundheitsstrukturreform beraten.
Einseitige ideologische plakative Äußerungen, wie sie nicht nur in letzter Zeit immer wieder zu hören sind, helfen niemandem. Mit Behauptungen, das Gesundheitsstrukturreformgesetz sei ein Abkassierungsgesetz und die Selbstbeteiligung sei die unsozialste aller Finanzierungsformen, sagt man nicht nur die Unwahrheit, sondern man erweckt bei den Versicherten und den Patienten den Anschein von Patentlösungen, die es in Wahrheit nicht gibt.
Lassen Sie politische Vernunft walten, in Ruhe die Dinge diskutieren und, wenn wir soweit sind, eine ausführliche Debatte führen.
Für heute lehnen wir dies ab.
Weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung liegen mir nicht vor.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Aufsetzungsantrag der SPD-Fraktion? — Gegenstimmen! — Enthaltungen? — Damit ist dieser Aufsetzungsantrag abgelehnt.
Der Tagesordnungspunkt 6 ist abgesetzt.
Bevor wir zur Fragestunde kommen, bin ich der Meinung, daß wir jenseits aller politischen Unterschiede, die es in diesem Hause gibt, der Kollegin Braband, die unserem Haus nicht mehr angehören wird, für ihren weiteren Weg persönlich alles Gute wünschen sollten.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf: Fragestunde
— Drucksache 12/2197 —
Wir kommen zuerst zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen. Zur Beantwortung steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald zur Verfügung.
Die Frage 33 des Kollegen Benno Zierer wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zu der Frage 34 der Kollegin Dr. Elke Leonhard-Schmid:
Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über den Abbau der Zahl ziviler deutscher Arbeitnehmer bei den amerikanischen Streitkräften in Bitburg und Spangdahlem vor?
Herr Staatssekretär.
Schönen Dank, Frau Präsidentin. — Frau Kollegin Leonhard-Schmid, die Bundesregierung wurde von der US-Luftwaffe — ich betone: Luftwaffe — unterrichtet, daß im Jahr 1992 in Bitburg 79 und in Spangdahlem 68 Planstellen für örtliche Arbeitnehmer wegfallen. Da ein großer Teil dieser Planstellen bereits nicht mehr besetzt ist, wird mit höchstens 20 Entlassungen gerechnet. Weitere Kürzungen sind bisher nicht angekündigt worden. Bei der US-Army gilt ein absoluter Einstellungsstopp, der sich jedoch in den genannten Standorten nicht stark
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6772 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewaldauswirken wird, da dort nur 91 örtliche Arbeitnehmer beschäftigt sind.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, voraussetzend, daß Ihrer geschätzten Aufmerksamkeit nicht entgangen ist, daß im Fall der Flughäfen Zweibrücken und Hahn die betroffenen Arbeitnehmer erst 14 Tage vorher informiert wurden, also mit Schockintervention gearbeitet wurde, frage ich Sie: Welche konkreten Vorverhandlungen haben Sie geführt, um das zu vermeiden?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich sage ja: Für 1992 sind die gerade dargestellten Fragen mit den US-Streitkräften abgestimmt, so daß sich daraus gar keine weiteren Konsequenzen für das laufende Jahr ergeben können.
Weitere Zusatzfrage?
Welche Konsequenz ziehen Sie aus der Tatsache, daß die Stationierungsstreitkräfte in dieser Region — ich betone: in dieser Region — Hauptarbeitgeber sind und der Abbau von Zivilbeschäftigten gerade dort eine besondere Härte darstellt? Es geht ja nicht nur um das Jahr 1992, sondern um die weitere Planung, wie Sie wissen.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Zur weiteren Planung der Streitkräfte können wir zur Stunde keine Aussage machen. Aber es ist nach meinem Kenntnisstand richtig, daß rund 1 000 örtliche Arbeitnehmer dort beschäftigt sind. Sie wissen, daß wir uns schon im Rahmen des Vermittlungsverfahrens zum Steueränderungsgesetz 91, aber noch intensiver im Rahmen des Steueränderungsgesetzes 92 mit einem Konversionsprogramm auseinandergesetzt haben. Das Konversionsprogramm hatte zwei Stufen. Die erste Stufe war die verbilligte Hergabe von Grundstücken. Diese Stufe ist, wie Sie wissen, schon im Juni/Juli vergangenen Jahres durch einen Katalog von Verbilligungsmaßnahmen abgeschlossen. Das zweite war ein sogenanntes Cash-Programm. Hier sollten also bare Mittel in die Region fließen zum Abbau der Kriegsfolgelasten. Im Rahmen des Vermittlungsverfahrens 1992 haben wir davon abgesehen und den Ländern — man höre und staune — ihre Beteiligung an der Umsatzsteuer von 35 auf 37 % erhöht und sie damit in die eigenfinanzwirtschaftliche Lage versetzt, mit diesen Folgen in angemessener Weise fertig zu werden.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Wir kommen damit zur Frage 35 der Kollegin Leonhard-Schmid:
Was hat die Bundesregierung bislang zur Sicherung der Arbeitsplätze der Zivilbeschäftigten unternommen?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung, die im Einvernehmen mit den Stationierungsstreitkräften Tarifverträge für deren örtliche Arbeitnehmer mit den beteiligten Gewerkschaften abschließt, hat zur Sicherung der Arbeitsplätze, zur Milderung der finanziellen Folgen von Entlassungen und zur Erleichterung des Übergangs in andere Beschäftigungsverhältnisse mehrere Tarifverträge abgeschlossen.
Der Tarifvertrag zur sozialen Sicherung der Arbeitnehmer bei den Stationierungsstreitkräften, den die Bundesregierung bereits am 31. August 1971 abgeschlossen hat, sieht u. a. finanzielle Leistungen an entlassene Arbeitnehmer vor, die aus dem Bundeshaushalt finanziert werden.
Die Stationierungsstreitkräfte ihrerseits erbringen zusätzliche Leistungen, insbesondere in Form von Abfindungen, auf Grund des Tarifvertrages über zusätzliche Leistungen bei Entlassungen infolge von Truppenreduzierungen vom 6. Dezember 1991.
Des weiteren besteht ein Tarifvertrag über Kündigungs- und Einkommensschutz, der bereits im Januar 1983 anwendbare Regelungen zur Vermeidung von Freisetzungen vorsieht.
Eine Zusatzfrage zu dem von Ihnen genannten Vertrag vom 6. Dezember 1991 und zu dem eben von Ihnen erwähnten Vertrag, den Sie mit der zuständigen Gewerkschaft abgeschlossen haben: Ich frage Sie, ob die vereinbarten Abfindungen der Höhe nach jenen Beträgen vergleichbar sind, die in Arbeitsgerichtsverfahren entsprechend den Kündigungsschutzbestimmungen zuerkannt werden.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich unterstelle, daß das so vereinbart worden ist; aber ich darf noch einmal darauf hinweisen, daß hier die amerikanischen Streitkräfte die Zahlungspflichtigen sind.
Weitere Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Welches Ziel verfolgen Sie mit der Tarifvertragsklausel, die besagt, daß die Abfindung im Falle eines arbeitsgerichtlichen Verfahrens entfalle?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Das ist ein anderes Thema, das Sie nun anschneiden.
Ich glaube, Sie haben ein anderes Thema. Ich habe schon das Thema und auch den Tarifvertrag. Vielleicht sehen Sie sich den mal an und geben mir dann schriftlich Nachricht.Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Nein, nein, danke schön. Es ist ja sehr liebenswürdig, daß Sie mir eine Brücke bauen wollen, aber wir müssen das hier denn doch etwas sorgfältiger miteinander aushandeln.Ich habe Ihnen gesagt, daß diese Tarifverträge von der Bundesregierung im Einvernehmen mit den Streitkräften und auch zu Lasten der amerikanischen Streitkräfte — die müssen in diesem Bereich zahlen —
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Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewaldabgeschlossen werden, so daß das weitgehend der Bestimmbarkeit durch die Bundesregierung entzogen ist.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Wir kommen damit zu den Fragen 36 und 37, die beide schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs angelangt. Danke schön, Herr Staatssekretär.
Ich komme nunmehr zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Staatsminister Helmut Schäfer zur Verfügung.
Die Frage 4 des Kollegen Herbert Werner
steht als erste zur Beantwortung an: Trifft es zu, daß die Republik Polen das Zusatzprotokoll IV,
aber auch die Zusatzerklärungen I, VI, VII und IX zur Europäischen Menschenrechtskonvention nicht unterzeichnen will, und was gedenkt die Bundesregierung auf bilateraler Ebene, auf der Ebene des Europarates und auf der Ebene der KSZE-Konferenz ggf. dagegen zu unternehmen?
Herr Kollege, die Republik Polen hat anläßlich ihres Beitritts zum Europarat am 26. November 1991 die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet. Die unterzeichnete Fassung umfaßt die verfahrensrechtlichen Zusatzprotokolle 2, 3, 5 und 8. Der Bundesregierung ist keine Erklärung der polnischen Regierung bekannt, wonach diese die Zeichnung weiterer Zusatzprotokolle zur Europäischen Menschenrechtskonvention nicht beabsichtige oder ausschließe. Die Bundesregierung geht vielmehr davon aus, daß die Republik Polen im Rahmen ihrer Annäherung an die europäische Staatengemeinschaft weitere Schritte hin zu ihrer Integration in den gesamteuropäischen Rechtsraum unternehmen wird. Auf dieses Ziel hin ist auch der Vertrag über gute Nachbarschaft und freundliche Zusammenarbeit angelegt, der zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen am 17. Juni 1991 geschlossen wurde.
Zusatzfrage?
Herr Staatsminister, sind Sie der Auffassung, daß es tatsächlich genügt, daß die Bundesregierung davon ausgeht, daß sich Polen — wann auch immer — mit Blick auf diese Protokolle noch positiv verhalten wird, oder sind Sie nicht vielmehr mit mir der Auffassung, daß die Bundesregierung die polnische Regierung darauf aufmerksam machen sollte, daß es gerade angesichts der Tatsache, daß diese Zusatzprotokolle auch im Hinblick auf ihre möglichen Auswirkungen auf die deutsche Minderheit in Polen von großer Bedeutung sind, nicht eben ein Akt der Freundschaft und der Freundlichkeit wäre, wenn die Volksrepublik Polen, nachdem die beiden Verträge mit ihr unterzeichnet worden sind, in einem so entscheidenden Punkt — eigentlich nicht in Einklang mit dem guten Geist dieser
Verträge — die Unterzeichnung dieser noch offengehaltenen Protokolle nicht in einem bestimmten Zeitraum in Aussicht stellen würde?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, zunächst einmal: Es ist, glaube ich, nicht üblich, daß die Bundesregierung andere Staaten bittet, auffordert oder gar bewegt, bestimmten Zusatzprotokollen beizutreten. Ich darf darauf aufmerksam machen, daß auch die Bundesrepublik Deutschland zwei Zusatzprotokollen zur Europäischen Menschenrechtskonvention bis heute nicht beigetreten ist, zumindest hat sie sie nicht ratifiziert.
Wenn ich Ihnen hier eine Synopse geben darf — ich stelle sie Ihnen gern zur Verfügung —, dann werden Sie erkennen — ich habe mir gerade einmal die Mühe gemacht, hier die Zahlen der von Ihnen zum Teil genannten Zusatzprotokolle aufzuschreiben —, daß 14, 9, 8 bzw. 4 Staaten diese ebenfalls nicht gezeichnet haben. Daraus können Sie nicht den Schluß ziehen, daß Polen nun einen Sonderweg geht. Polen nimmt sich für die Zeichnung bestimmter Zusatzprotokolle lediglich genausoviel Zeit wie andere europäische Staaten. Wir sehen darin nicht ein Abweichen der polnischen Haltung von den Verpflichtungen, die mit dem Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention seitens Polens übernommen worden sind und die auch viele Individualrechte beinhalten, die für die deutsche Minderheit in Polen von Bedeutung sind, z. B. Gedanken-, Gewissens-, Religionsfreiheit, Recht auf freie Meinungsäußerung und einiges mehr, was durch den Beitritt zur Menschenrechtskonvention sowieso schon sichergestellt ist.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Staatsminister, sind Sie in der Tat der Auffassung, daß es genügt, auf der einen Seite im Vertragswerk entsprechende Regelungen zum Schutz von Minderheiten und damit auch der deutschen Volksgruppe in Polen zu treffen und auf der anderen Seite zuzusehen, daß Bestimmungen in diesen angesprochenen Protokollen, die sich im Hinblick auf Schutz und Förderung von Volksgruppen indirekt auch auf diesen Vertrag beziehen, polnischerseits bisher noch nicht unterzeichnet und damit anerkannt worden sind?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, es besteht für mich, für uns kein Zweifel daran, daß die polnische Seite gewillt ist, dem Vertrag, dem in dem Vertrag zum Ausdruck gekommenen Schutz der Minderheiten Rechnung zu tragen. Inwieweit sie die Zusatzprotokolle, die Sie hier erwähnen, bald unterzeichnen wird, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich sehe aber keinen Zusammenhang zwischen einer schnellen Unterzeichnung der Protokolle und der polnischen Haltung zu den Minderheiten, die in den Verträgen festgelegt ist, auf deren Befolgung wir in unseren weiteren Beziehungen zu Polen sicher großen Wert legen werden.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
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6774 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Vizepräsidentin Renate SchmidtWir kommen zur Frage 5 der Kollegin Dr. Margrit Wetzel:Wann ist mit den Ergebnissen der Auswertung bezüglich der Antwort der Volksrepublik China auf die von Bundesminister für Wirtschaft, Jürgen W. Möllemann, überreichte Liste der 900 Gefangenen zu rechnen, bzw. welche Teilergebnisse können bereits bekanntgegeben werden?Helmut Schäfer, Staatsminister: Frau Kollegin, am 26. Januar 1992 übergab das chinesische Außenministerium während des Besuchs von Bundestagsvizepräsident Klein in Peking einem Vertreter der deutschen Botschaft eine Stellungnahme zu der von Bundesminister Möllemann übergebenen Liste. Danach seien — ich zitiere — „303 Personen auf Grund ungenauer Namensangaben und mangelnder Informationen nicht zu identifizieren und ausfindig zu machen, 257 Personen nach Einstellung der Untersuchungsverfahren längst freigelassen, für 49 Personen gebe es überhaupt kein Untersuchungsverfahren, 242 Personen seien wegen krimineller Straftaten schuldig gesprochen, 26 Personen wegen gesetzeswidriger Handlungen in einer Besserungsanstalt, 13 Personen wegen Verstößen gegen das chinesische Strafgesetz von den Justizbehörden noch zu prüfen und 13 Personen Geheimagenten der Kuomintang in Taiwan."Das in Ihrer Frage zitierte Weißbuch zur Menschenrechtssituation in der Volksrepublik China hat keinen Bezug zu den von westlichen Politikern übergebenen Namenslisten. Das im November 1991 herausgegebene Weißbuch stellt ausführlich die chinesische Rechtslage und die sozialen und historischen Hintergründe der heutigen Situation in der Volksrepublik China dar. Es ist insoweit anzuerkennen, als es im Bereich sozialer Entwicklungen durchaus auf Erfolge hinweisen kann.Auf die Diskrepanz zwischen der geltenden Rechtslage und der rechtlichen und politischen Praxis, die als Hauptursache politisch motivierter Menschenrechtsverletzungen anzusehen ist, geht das Weißbuch nicht ein.
Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin?
Eine formale Zusatzfrage: Kann dieses Weißbuch den Parlamentariern zugänglich gemacht werden?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich glaube nicht, daß es damit Probleme gibt, denn es ist ein Weißbuch, das die chinesische Regierung herausgegeben hat, um das Ausland von ihrer Politik zu überzeugen. Ich kenne seinen Umfang nicht. Ich werde mich gern bemühen, es Ihnen zur Verfügung zu stellen.
Eine weitere Zusatzfrage, Kollege Lowack.
Herr Staatsminister, diese 900 Gefangenen sind ja wohl bloß der winzige Bruchteil eines Gulag, der im allgemeinen auf etwa 10 Millionen geschätzt wird. Deshalb meine Frage: Welche Konsequenzen hat die Bundesregierung überhaupt letztendlich aus dieser Entwicklung in Rotchina gezogen, die eine deutliche Verschärfung der Menschenrechtslage bedeutet? Warum diffamiert
sie eigentlich immer noch die Tüchtigkeit, die Entwicklung in Richtung einer Demokratie und einer erfolgreichen Wirtschaft in Taiwan?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, der Begriff Taiwan wird von deutschen Abgeordneten häufig gebraucht, aber er stimmt mit der Bezeichnung dieses Landes dort nicht überein. Es heißt nämlich nicht Taiwan, sondern Republic of China, wie Sie wissen. Damit bemüht sich Taiwan, den Eindruck zu erwecken, es sei China bzw. habe Anrecht auf China. Das muß man zunächst einmal klarstellen. Wir sollten also von der sogenannten Republik China sprechen. Damit wird deutlich, daß Sie nicht einfach China und Taiwan gleichsetzen können. Wir haben Beziehungen zur Volksrepublik China, wie Sie wissen, und nicht zu Taiwan, solange Taiwan den Anspruch erhebt, China zu sein — es sei denn, Sie wollen Taiwan anerkennen und die Beziehungen zu China abbrechen.
Abgesehen von diesem Teil Ihrer Frage darf ich darauf hinweisen: Es gibt überhaupt keinen Zweifel daran, daß sich nicht nur die Bundesregierung — gerade beim Besuch des chinesischen Außenministers wurde das in den Gesprächen des Bundeskanzlers, des Bundesaußenministers und anderer, auch Abgeordneter, deutlich — darum bemüht, die Menschenrechtslage in China durch Mahnung an die chinesische Regierung zu verbessern, sondern daß dies die ganze Weltgemeinschaft tut.
Wir sollten diese Bemühungen nicht unterschätzen. Wir müssen andererseits natürlich sehen, daß das Verhältnis zwischen China und unseren westlichen Partnern sich gerade in der jüngsten Vergangenheit im Vergleich mit uns erheblich verbessert hat. Es stellt sich die Frage, inwieweit Sie der Auffassung sind, daß die Bundesrepublik Deutschland als einziges Land weit hinter dem zurückbleiben soll, was die Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreich und viele unserer anderen Nachbarstaaten schon längst tun.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.Die Fragen 6 und 7 des Kollegen Scharrenbroich werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Wir kommen damit zu Frage 8 des Kollegen Lowack:Was spricht nach Ansicht der Bundesregierung eigentlich dagegen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß Rußlanddeutsche im nördlichen Ostpreußen siedeln und dazu beitragen können, daß dieser ehemals blühende Teil Europas wirtschaftlich wieder gesunden kann?Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die Rußlanddeutschen streben vor allem zurück in die historischen Siedlungsgebiete. Wie wir wissen, ist das nördliche Ostpreußen für die überragende Mehrheit der Rußlanddeutschen keine Alternative. Es kann nicht Sache der Bundesregierung sein festzustellen, wo die Rußlanddeutschen ihre Heimat sehen sollen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6775
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lowack!
Helmut Schäfer, Staatsminister: Wollen Sie das?
Im Moment hat der Herr Abgeordnete Lowack Gelegenheit, eine Zusatzfrage zu stellen, auch wenn diese anderen Unterhaltungen sicherlich besonders interessant sind.
Herr Abgeordneter Lowack!
— Herr Abgeordneter, ich weiß, daß ich meistens vor allen Dingen dann recht habe, wenn ich von diesem Stuhl aus spreche.
Nun aber bitte, Herr Abgeordneter Lowack!
Ich muß einräumen, daß der Kollege Rudi Walther meist herausragend gute Ideen hat. Vielleicht darf ich das sagen.
Herr Staatsminister, glauben Sie nicht, daß es doch letztlich eine Frage ist, die die deutsche Politik zusammen mit der russischen Politik entscheiden oder zumindest entscheidend mitentscheiden sollte, was bezüglich des nördlichen Teils Ostpreußens zu einer positiven Entwicklung führt, und hatten Sie nicht auch aus der Diskussion, die wir im Auswärtigen Ausschuß hatten, den Eindruck, daß sich in der Zwischenzeit z. B. Polen, zum Teil aber auch Litauen, um eine Entwicklung bemüht, bei der wir als deutsche Politiker eigentlich sagen müßten, wir haben auch ein Mitspracherecht oder wollen auch in irgendeiner Form politisch mitwirken?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich kann in der Mehrheit dessen, was Sie gerade gesagt haben, keinen Gegensatz zu dem entdecken, was die Bundesregierung will. Natürlich wird über die Zukunft des nördlichen Ostpreußens zunächst einmal in Zusammenarbeit zwischen der Russischen Föderation und uns zu entscheiden sein. Es gibt ja auch solche Bemühungen. Es gibt ja Ideen von einer denkbaren Freihandelszone dort. Das schließt nicht aus, daß Polen und Litauer an einer solchen Entwicklung und sicherlich auch Deutsche beteiligt sein werden, die dorthin ziehen wollen.
Aber Sie haben völlig recht, wenn Sie hier sagen, die Zukunft dieses nördlichen Ostpreußens ist natürlich eine Angelegenheit, die uns zumindest so stark interessiert wie einige litauische Diplomaten oder wie Polen, wie es gelegentliche Äußerdungen in der polnischen Presse zeigen. Aber ich glaube, hier muß man vor allen Dingen davon ausgehen, daß Rußland diesen Teil nach wie vor als Teil Rußlands ansieht. Und das wird eigentlich der Boden für künftige Entwicklungen in diesem Gebiet sein.
Zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lowack.
Herr Staatsminister, darf ich aus Ihrer Antwort doch auch den beruhigenden Schluß ziehen, daß man hier nicht noch einmal eine besondere Rücksichtnahme gegenüber Polen als notwendig erachtet, sondern daß die deutsche Politik durchaus ihren Auftrag und ihre Aufgabe kennt?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, mit dem ersten Teil Ihrer Frage bin ich insofern einverstanden, als ich noch keinen Abgeordneten des Deutschen Bundestages getroffen habe, der aus meinen Antworten nicht Beruhigendes entnommen hätte. Aber zum zweiten Teil Ihrer Frage bin ich der Meinung, daß wir in der Formulierung vielleicht ein kleines bißchen sensibler vorgehen sollten. Es besteht gar kein Anlaß dazu, zu befürchten, daß Polen oder Litauen hier irgendwelche Ansprüche stellen können, ohne sich selber z. B. gegenüber Rußland in eine etwas kritische Situation zu begeben. Es besteht auch kein Anlaß dazu, daran zu zweifeln, daß wir natürlich mit der gebotenen Sorgsamkeit, Vorsicht und auch mit diplomatischem Geschick mit Interesse verfolgen werden, wie die Entwicklung bezüglich dieses Gebietes in Zukunft verläuft, oder an dieser Entwicklung beteiligt sein werden.
Die Fragen 9 und 10 des Abgeordneten Hans Wallow werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Damit sind wir am Ende der Behandlung der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen. Herzlichen Dank, Herr Staatsminister.
Wir kommen nunmehr zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft. Zur Beantwortung steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Beckmann zur Verfügung. Zunächst die Frage 38 des Abgeordneten Dr. Günther Müller:
Hält die Bundesregierung einen Sonderrabatt von 20 % für Frauen, der von einzelnen Versicherungsgesellschaften bei der Kraftfahrzeughaftpflicht gewährleistet wird, nach dem Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes für vertretbar?
Herr Kollege Dr. Müller, das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen hat keinem Kraftfahrversicherer in der Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung einen besonderen Tarif für Frauen genehmigt. Die für die Tarifierung in der Kfz-Haftpflichtversicherung maßgeblichen Vorschriften sehen das Geschlecht des Versicherungsnehmers als Tarifmerkmal nicht vor.
Zusatzfrage.
Sie können mir also bestätigen, daß Meldungen, die durch die Presse gegangen sind, wonach es einen Sondertarif gibt, falsch sind?Klaus Beckmann, Parlamentarischer Staatssekretär: Nach Auskunft des Bundesaufsichtsamtes für das Versicherungswesen liegt eine Genehmigung für einen solchen Tarif nicht vor. Demzufolge kann es sich hier nur um ein Mißverständnis handeln.
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6776 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Eine weitere Zusatzfrage der Kollegin Blunck.
Es gibt natürlich Überlegungen dahin gehend, daß solche Tarife genehmigt werden sollten. Das wäre ja auch sehr vernünftig. Aber in diesem Zusammenhang, Herr Staatssekretär: Ist der Bundesregierung bekannt, daß die privaten Krankenversicherungen Frauen einen Zuschlag wegen zu erwartender Schwangerschaften zumuten, den Männer nicht zu zahlen haben? Würde die Bundesregierung zustimmen, wenn ich behaupte, daß zu diesem Risiko der Schwangerschaft der Mann nicht unwesentlich beiträgt?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Dem letzten Teil Ihrer Frage kann die Bundesregierung uneingeschränkt zustimmen.
— Angesichts der Geschäftsordnung der Bundesregierung, Frau Kollegin, sehe ich mich nicht in der Lage, Ihnen zum ersten Teil eine fachlich kompetente Auskunft zu diesem sozialpolitisch sicherlich interessanten Fall zu geben. Möglicherweise kann der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung eine kompetente Ergänzung geben.
Frau Kollegin, im Moment beantwortet der Herr Staatssekretär Ihre Frage. Sie haben nur eine Zusatzfrage.
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Es ist sicher richtig, daß das Bundesaufsichtsamt auch hier betroffen ist. Allerdings hat sich die Materie sehr weit von der Kraftfahrzeugversicherung entfernt.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Dann kommen wir zur Frage 39 des Abgeordneten Dr. Günther Müller:
Über welche Unterlagen verfügt die Bundesregierung zum Fahrverhalten von Männern und Frauen und der Unfallverhütung?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Müller, aus den Statistiken des Statistischen Bundesamtes, „Führer von Personenkraftwagen als Hauptverursacher nach Altersgruppen und Geschlecht” — so das Zitat — aus der Fachserie 8, Reihe 3.3, Straßenverkehrsunfälle 1989, ergibt sich kaum ein Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Hauptverursachern von Unfällen mit Personenschaden. Ich will dies auch gerne genauer erläutern: Im Alter bis zu 45 Jahren überwiegt der Anteil der Männer als Hauptverursacher, im Alter über 45 Jahren der der Frauen. Bei der Zusammenfassung aller Jahrgänge ergibt sich ein Unterschied von 3 % zuungunsten der Männer.
Diese Angaben erfassen aber weder die Schadenhäufigkeit noch den Schadenaufwand und sind für Rückschlüsse auf eine künftige Tarifgestaltung deshalb nicht geeignet. Eine Stichprobenerhebung des HUK-Verbandes — allerdings auf der Basis des Zahlenmaterials von Ende 1978 — zur Analyse der Tarifstruktur für die Haftpflichtversicherungen von Personenkraftwagen kam zu dem Ergebnis, daß es keine geschlechterspezifischen Schadenbedarfs-unterschiede gibt. Ob eine neue Untersuchung zum gleichen Ergebnis käme, ist uns nicht bekannt.
Zusatzfrage, Kollege Müller.
Gibt es andere Merkmale, die nicht mit dem Geschlecht im Zusammenhang stehen und eklatante Unterschiede hinsichtlich der Schadenhäufigkeit aufweisen, etwa in den Berufsgruppen?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Eine Untersuchung darüber ist mir nicht bekannt. Ich will aber, Herr Kollege Dr. Müller, der Frage noch einmal nachgehen und Ihnen gerne schriftlich darüber Bericht erstatten.
Weitere Zusatzfrage, Kollege Müller? — Nein. Dann Kollegin Blunck.
Herr Staatssekretär, über welche Unterlagen verfügt die Bundesregierung hinsichtlich des Fahrverhaltens von ausländischen Mitbürgern? Denn ich setze einmal voraus, daß der Bundesregierung die Diskriminierung von ausländischen Mitbürgern in der Kfz-Versicherung bekannt ist. Deswegen die daran anschließende Frage: Welche Unterlagen liegen Ihnen da vor?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Der Bundesregierung ist eine „Diskriminierung”, wie Sie sich ausdrücken, der ausländischen Mitbürger in dem negativen Sinne Ihrer Frage nicht bekannt.
Weitere Zusatzfrage, Kollegin Zapf. Oder war das keine Meldung?
— Dann Frau Kollegin Ferner.
Ist denn der Bundesregierung bekannt, daß bei verschiedenen Autoversicherern von ausländischen Mitbürgern und Mitbürgerinnen ein Aufschlag nur wegen ihrer Nationalität verlangt wird?Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Dies ist der Bundesregierung bekannt, Frau Kollegin.
Die Tarifgestaltung der einzelnen Versicherer bewegt sich aber im gesetzlichen Rahmen, so daß für das Bundesaufsichtsamt auch kein Grund vorlag, diese Tarife nicht zu genehmigen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6777
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Die Fragen 40, 41, 42, 43 und 44 werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Die Fragen 45 und 46 sind zurückgezogen worden.
Die Fragen 47 und 48 werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen zur Frage 49 der Frau Kollegin Uta Zapf:
Wer hat im Falle des Exports von Teilen für das Atom- und Raketenprogramm des Iraks durch die deutschen Unternehmen „Rhein-Bayern-Fahrzeugbau GmbH & Co KG” sowie deren Tochterfirma „Rhein-Bayern Avionik Dittel GmbH” die hierzu erforderlichen Ausfuhrgenehmigungen erteilt?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Zapf, das für die Erteilung von Ausfuhrgenehmigungen nach dem Außenwirtschaftsgesetz zuständige Bundesamt für Wirtschaft hat den beiden genannten Unternehmen keine Ausfuhrgenehmigungen für die Lieferung von Waren in den Irak erteilt.
Ich gehe davon aus, daß das illegale Exporte waren, und frage Sie: Lagen Anträge vor, oder sind diese Ausfuhren ohne Anträge erfolgt? Ist der Bundesregierung bekannt, auf welchem Weg diese Exporte stattgefunden haben und ob bei Exporten dieser Firma eventuell beim Zoll Verdachtsmomente aufgetaucht sind?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Anträge haben dem Bundesamt nicht vorgelegen und sind insofern natürlich auch der Bundesregierung nicht bekannt. Das ganze Verfahren ist den zuständigen Untersuchungs- und Ermittlungsbehörden übergeben worden. Dort wird im Augenblick der Sachverhalt ermittelt. Einen Teil davon hat die Bundesregierung schon in dem Bericht für den Deutschen Bundestag, der in der Geheimschutzstelle einzusehen ist, veröffentlicht.
Die Verfahren laufen weiter. Zu den Einzelheiten kann ich wie Sie wissen, wegen der vorhandenen Gesetzeslage leider nicht Stellung nehmen.
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete.
Sie haben auf den Bericht hingewiesen. Nach meiner Erinnerung handelt es sich bei den Lieferungen, die in diesem Bericht behandelt werden, um Lieferungen anderer Art als diejenigen, die offensichtlich jetzt hier zur Sprache stehen. Es handelt sich in dem Bericht um eine Untersuchung, die mit dem Ergebnis abgeschlossen wurde, daß keine strafrechtlichen Handlungen der Firma vorlagen, weil sie damals die in Rede stehenden Waren innerhalb der Bundesrepublik verkauft hatte und diese durch eine andere Firma in den Irak weitergegeben wurden.
Insofern betrifft das, was ich jetzt erfrage, ein vollkommen anderes Verfahren. Auf diese Firma mußte sozusagen im Sinne eines Anfangsverdachts ein besonderes Auge geworfen werden. Ich frage deshalb nach: Hat der Zoll keinen Verdacht gehabt?
Hat der Bundesregierung nicht irgendein Hinweis vorgelegen, daß dort etwas vorgeht?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: In der Tat ist es so, daß es sich hier um einen größeren Komplex handelt, der in einzelne Abschnitte einzuteilen ist. Für den einen Teil, der auch in dem Bericht genannt ist, haben sich Verdachtsmomente nicht bestätigt. Im Zuge der Untersuchungen sind aber neue Verdachtsmomente aufgetaucht, denen die zuständigen Ermittlungsbehörden jetzt nachgehen.
Nach meinem Kenntnisstand, Frau Kollegin Zapf, sind Mitteilungen der Zolldienststellen zum damaligen Zeitpunkt der Bundesregierung nicht bekannt geworden.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Wir kommen zur Frage 50 der Frau Kollegin Uta
Zapf:
Seit wann wußte die Bundesregierung von dem Verdacht gegen die beiden Firmen?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Zapf, gegen Firmen der Rhein-Bayern-Gruppe wird bereits seit Anfang 1989 wegen möglicher Verstöße gegen Außenwirtschaftsbestimmungen ermittelt, zunächst einmal wegen des Verdachts illegaler Zulieferungen für das irakische B- und C-WaffenProgramm. Dieser Komplex ist wie ich eben erwähnte, im vertraulichen Irak-Bericht der Bundesregierung von Anfang letzten Jahres dargestellt. Insofern hat sich der Verdacht von Zuwiderhandlungen gegen außenwirtschaftliche Bestimmungen nicht erhärtet.
Allerdings ergaben sich im Zuge weiterer Ermittlungen — auch das sagte ich eben schon im Vorgriff zur Beantwortung dieser Frage — Anhaltspunkte für mögliche Zulieferungen von Firmen der Rhein-Bayern-Gruppe für das irakische Raketen- bzw. Nuklearprogramm. Die Ermittlungen hierüber sind noch nicht abgeschlossen, so daß die Bundesregierung zu weiteren Einzelheiten nicht Stellung nehmen kann.
Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Ich frage noch einmal, auch wenn ich Gefahr laufe, daß Sie mir nicht antworten können. Nachdem schon im ersten Fall Verdachtsmomente da waren — die waren sehr konkret; da war nur der Weg sehr geschickt gewählt —, mußte diese Firma besonders im Auge behalten werden. Auf welchem Wege sind diese offensichtlich wiederum erfolgten Lieferungen erfolgt? Hat der Zoll auf Sendungen dieser Firmen nicht ein besonderes Auge gehabt, um möglicherweise zu verhindern, daß illegale Exporte dieser Firmen in den Irak erfolgen?Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Die zuständigen Ermittlungsbehörden haben gerade vor dem Hintergrund der ursprünglichen Verdachtsmomente ihre Untersuchungen intensiviert und sind dabei auf weitere Momente gestoßen — ich habe das soeben ausgeführt —, die auch zu weiteren Ermittlungen führen. Insofern ist nach meiner Einschätzung die Beobachtung durch die zuständigen Ermittlungs- und
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Parl. Staatssekretär Klaus Beckmann Untersuchungsbehörden sehr sorgfältig gewesen. Deswegen befinden wir uns ja jetzt in einem erneuten Verfahren, das bei der Staatsanwaltschaft anhängig ist.
Zweite Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Ich möchte nachfragen, ob der Bundesregierung bekannt ist, auf welchen Wegen die Waren, die während der Verdachtszeit offensichtlich in den Irak gelangt sind und die anderer Art sind als die vorher in Verdacht geratenen, in den Irak gekommen sind.
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Die einzelnen Wege, Frau Kollegin, werden im Augenblick noch ermittelt. Das ist das Ziel des Verfahrens. Es gibt gewisse Verdichtungen bei den Verdachtsmomenten. Allerdings haben sich diese Verdachtsmomente noch nicht so weit konkretisiert, daß hier Einzelheiten genannt werden könnten. Die Bundesregierung kann dies auch nicht machen, weil die Staatsanwaltschaft selbst die entsprechenden Maßnahmen treffen will, wenn sie den Zeitpunkt für geeignet hält.
Im übrigen befinden wir uns eben wegen dieses Verfahrens noch in einem Zustand, der die Staatsanwaltschaft dazu veranlaßt, sich um der Sicherheit der Ermittlungen willen im Augenblick zurückzuhalten.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Die Frage 51 des Kollegen Ludwig Stiegler wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs angelangt — herzlichen Dank, Herr Staatssekretär — und kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Willy Wimmer zur Verfügung.
Die Fragen 52 und 53 der Frau Abgeordneten Schmidt werden zurückgezogen, damit sie diese Fragen in der nächsten Woche noch einmal stellen kann und endlich einmal Zusatzfragen stellen kann und nicht immer auf die Antwort des Ministeriums angewiesen ist.
Wir kommen damit zu den Fragen 54 und 55 des Kollegen Walter Kolbow. Diese werden entsprechend unserer Geschäftsordnung nicht beantwortet.
Die Frage 56 des Kollegen Stiegler wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen damit zu Frage 57 der Kollegin Ulrike Mehl:
Treffen Zeitungsberichte zu, nach denen der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung, Dr. Ottfried Hennig, mit hochrangigen Vertretern der baltischen Flotte Ende Februar 1992 Gespräche über die Bergung von Senfgiftgasmunition aus der Ostsee geführt hat, und was ist ggf. das Ergebnis dieser Gespräche gewesen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin Mehl, der
Kollege Dr. Hennig hat am 20. Februar in Königsberg in seinem Gespräch mit dem Oberbefehlshaber der baltischen Flotte, Admiral Jegorow, angeregt durch den aktuellen Fund von Giftgasmunition am Strand von Bornholm, die Problematik der in der Ostsee versenkten Giftgasgranaten aus dem Zweiten Weltkrieg angesprochen, ohne allerdings auf bestimmte Munitionsarten eingehen zu können.
Beide Gesprächsteilnehmer stimmten in der Bewertung der von dieser Munition für alle Ostsee-Anrainer ausgehenden Gefahren und der symbolischen sowie umweltpolitischen Bedeutung einer Beteiligung der deutschen Marine und der baltischen Flotte an entsprechenden Suchaktionen überein.
Im Bundesministerium der Verteidigung werden derzeit vorsorglich die Möglichkeiten für eine Beteiligung der deutschen Marine untersucht.
Zusatzfrage, Frau Kollegin Mehl.
Ist denn der Bundesregierung bekannt und würden Sie mir mitteilen, welche Art und welche Mengen von Giftgasmunition in der Ostsee liegen, in welchem Zustand sie sich befindet und an welchen Orten sie liegen? Es ist ja eine bekannte Tatsache, daß die Ostsee dieses Problem hat.
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Ich bin gerne bereit, Ihnen unsere Erkenntnisse zukommen zu lassen. Aber ich muß darauf aufmerksam machen, daß es sehr kompliziert ist, über das Ganze einen letztlichen Aufschluß zu bekommen; denn nach Ende des Zweiten Weltkrieges haben andere Staaten Munition in der Ostsee über Bord gehen lassen — um das einmal so zu sagen —, gerade in diesem kritischen Giftgasbereich. Wir wissen nur sekundär, aus den Unterlagen entsprechender Einrichtungen der ehemaligen DDR, was die DDR nach Ende des Zweiten Weltkrieges im Rahmen ihrer Zuständigkeit bis wohl Mitte der sechziger Jahre dort verklappt hat. Das heißt, wir können Ihnen aus unserem eigenen Wissen nur wiedergeben, was sich auf Informationen im wesentlichen durch andere präzisieren läßt.
Weitere Zusatzfrage.
Welche Folgen hätte Ihrer Auffassung nach eine Freisetzung von Teilen oder von Bereichen dieses Giftgases in der Ostsee — die Ostsee ist ja keine Deponie; das Ganze hat ja auch Konsequenzen, und einige Bereiche werden Sie kennen —, und hat die Bundesregierung ein Konzept, diese Folgen zu minimieren oder mit den Anrainer-Staaten eine ökologische Katastrophe zu vermeiden?Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, das sind zum Teil Fragenkomplexe, die sich nicht aus der Zuständigkeit unseres Hauses ergeben. Deswegen bin ich gerne bereit, Ihnen dazu eine Antwort schriftlich zukommen zu lassen, die den Gesamtbereich der Bundesregierung umfaßt.Ich will bei dieser Gelegenheit allerdings darauf aufmerksam machen, daß wohl im Jahr 1990 der
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Parl. Staatssekretär Willy WimmerBundesminister für Verkehr dem damaligen Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses, dem schleswig-holsteinischen Kollegen Ronneburger, bereits eine entsprechende Antwort gegeben hat. Aber Sie können davon ausgehen: Soweit sich das in unseren Möglichkeiten befindet, werden Sie eine umfassende Antwort bekommen. Wir werden dafür Sorge tragen.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Jungmann.
Herr Staatssekretär, ein Teil Ihrer Antwort, daß andere Nationen in der Ostsee haben Munition über Bord gehen lassen, verniedlicht so ein bißchen das Problem. Es waren nach dem Zweiten Weltkrieg rund 50 000 Tonnen Giftgas der ehemaligen Wehrmacht, die die Alliierten bei Bornholm und in der westlichen Ostsee in dänischen Gewässern versenkt haben. Hinzu kommt jetzt, daß die DDR bis 1961/ 62 ebenfalls Giftgasmunition im Umfang von ungefähr 30 000 Tonnen in der Ostsee versenkt haben soll. In diesem Zusammenhang haben Sie auf den Brief des Verkehrsministers aus dem September 1990 an den ehemaligen Kollegen Ronneburger hingewiesen. Ich frage mich in diesem Zusammenhang: Wie kommt der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Hennig dazu, dessen Ministerium für diese Problematik keine originäre Zuständigkeit hat, über die Beseitigung des Giftgases zu verhandeln, wo ja der Verkehrsminister seit Jahrzehnten mit der dänischen Regierung im Gespräch ist, ob diese Munition beseitigt werden muß oder ob sich durch das Auflösen der Granaten durch Korrosion und das Zusammenführen der toxischen Stoffe aus den Granaten mit dem Salzwasser das Gift zu nichttoxischen Stoffen entwikkelt hat und deshalb aus Sicht der Bundesregierung — so die Antwort des Verkehrsministers in dem Schreiben — keine Gefahr von dem Giftgas ausgeht?
Dann die letzte Frage, die ich zu diesem ganzen Konvolut von Fragen zusammenbinde, weil die Präsidentin gerade etwas anderes liest und mich nicht korrigieren kann:
War das eine sowjetische Granate oder eine von den in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg versenkten Giftgasgranaten, die bei Bornholm angespült worden ist? Das wäre die Frage, die — —
Herr Kollege, würden Sie jetzt irgendwann einmal zum Ende Ihrer Frage kommen.
Ich bedanke mich ausdrücklich für den Großmut, Frau Präsidentin.
Das ist aber recht. Damit sind Sie gerade noch an einer Rüge vorbeigekommen.
Herr Staatssekretär.
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Frau Präsidentin! Herr Kollege Jungmann, ich habe darauf aufmerksam gemacht, daß wir hier in einer schwierigen Situation sind, weil es sich im wesentlichen um Informationen handelt, die wir von Dritten bekommen müssen, d. h. von denen, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs Munition in der Ostsee versenkt haben. Soweit es sich um die ehemalige DDR handelt, haben wir nur Erkenntnisse, die wir uns aus ihren Unterlagen gewinnen konnten. Ich glaube, daß ich der guten Ordnung halber auf diesen Informationstatbestand aufmerksam machen muß.
Das zweite, die Frage, um welche Granaten welchen Typs es sich im Zusammenhang mit Bornholm gehandelt hat: Soweit das möglich ist, wird diese Frage selbstverständlich schriftlich beantwortet, weil das kein für mich präsentes Wissen ist.
Im übrigen ist vor allen Dingen aus der Sicht der Staaten der GUS das Problem in der Ostsee ein relevantes. Nach den uns vorliegenden Informationen sind auch Rubelbeträge in Millionenhöhe zur Verfügung gestellt, um sich mit diesem Problem so zu beschäftigen, daß jedwede Form von Gefährdung
ausgeschlossen werden kann. Wenn dies die Besorgnislage von Anrainerstaaten der Ostsee ist, dann ist,
glaube ich, es die Pflicht eines jeden Mitglieds der Bundesregierung, wenn es darauf angesprochen wird oder wenn es die Gelegenheit hat, dieses Thema zu behandeln, das so zu tun, wie der Kollege Dr. Hennig das gemacht hat.
Lange Fragen erfordern lange Antworten. Nun eine kürzere Zusatzfrage, wie ich hoffe, vom Kollegen Opel.
Herr Staatssekretär, ich möchte zur Präzisierung von Ihnen gerne wissen, wie das denn vor Ort wirklich war. Der Parlamentarische Staatssekretär wird sich sicherlich an die gute Ordnung halten und einen Dienstreisebericht schreiben. Da müßte dann eigentlich drinstehen, wie das Angebot des sowjetischen Admirals ausgesehen hat. Gibt es ein solches Angebot zur gemeinsamen Suche und Räumung solcher gefährlichen oder auch anderer Munition, und könnte es sein, daß der Admiral bei dieser Gelegenheit das mit den Worten „Das machen wir zusammen" angeboten hat?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Sie wissen, daß es sehr unzweckmäßig ist, Gespräche unter den Aspekten zu sehen, wie Sie das gerade angesprochen haben. Der Kollege Hennig hat nach seiner Rückkehr von diesem Besuch selbstverständlich bei uns darüber auch mündlich vorgetragen und es in dem Rahmen getan, wie ich es eben angesprochen habe.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.Die Frage 58 des Kollegen Norbert Gansel wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereiches. Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
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6780 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Vizepräsidentin Renate SchmidtWir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Gesundheit. Zur Beantwortung steht Frau Staatssekretärin Bergmann-Pohl zur Verfügung.Die Fragen 59 bis 65 sind alle zurückgezogen worden.Wir kommen zur Frage 66 der Kollegin Susanne Kastner:Wann soll die von Bundesministerin für Gesundheit, Gerda Hasselfeldt, angekündigte Konzertierte Aktion „Verbesserung der Trinkwasserqualität in den neuen Ländern" durchgeführt werden, und wer soll daran beteiligt werden, um schnellstmöglich Sanierungspläne und deren Finanzierung zu beschließen?
Frau Kollegin Kastner, die von Frau Bundesministerin Hasselfeldt angekündigte Konzertierte Aktion „Verbesserung der Trinkwasserqualität in den neuen Ländern” wird am 24. März 1992 in Berlin stattfinden. Gemeinsam mit den Gesundheitsministern der neuen Länder sollen Sanierungspläne erörtert werden.
Ziel der Konzertierten Aktion ist, auf den Ergebnissen der Fachkommission „Soforthilfe Trinkwasser” des Bundesministers für Gesundheit aufbauend auf ein Gesamtkonzept zur Sanierung der Trinkwasserversorgung in den neuen Ländern hinzuarbeiten. Die hohe Priorität, die einer einwandfreien Trinkwasserversorgung der Bevölkerung in den neuen Ländern zukommt, erfordert eine Koordinierung der Verantwortlichkeiten, um die dringend notwendige Sanierung erfolgreich durchzuführen.
Zusatzfrage, Frau Kollegin Kastner.
Frau Staatssekretärin, wenn es in dieser Konzertierten Aktion um Sanierungspläne geht, wie beurteilen Sie dann die Tatsache, daß zu Sanierungsplänen doch wohl eine flächendeckende Analyse da sein muß, diese aber nicht vorhanden ist; denn immer noch tauchen 30 % der Trinkwasserversorgungsanlagen und die Hausbrunnen ohne Analyse im EG-Bericht überhaupt nicht auf. Wie beurteilen Sie die Tatsache, daß die finanziellen Mittel bei der Soforthilfe Trinkwasser in Höhe von 11 Millionen DM, von denen für 1992 noch 6 Millionen DM übrig sind, bei weitem nicht ausreichen, um diese Analyse durchzuführen, die als Grundlage dieser Konzertierten Aktion unbedingt notwendig ist?
Frau Kollegin Kastner, Sie haben heute in Ihrer Pressekonferenz ganz zutreffend festgestellt, daß die Analysen von 431 größeren Wasserversorgungsanlagen für 69, also praktisch 70 % der Wasserverbraucher vorliegen. Dem gegenüber stehen weitere Analysen, die bereits durchgeführt wurden, deren Ergebnisse aber noch nicht zusammengeführt werden konnten und dementsprechend im Bericht noch keine Berücksichtigung finden konnten.
Die Analysen werden natürlich, wie Sie sicher dem Bericht auf Seite 30 entnommen haben, in Eigenverantwortung der Wasserversorgungsunternehmen und der Gesundheitsbehörden weiterhin durchgeführt.
Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Geben Sie mir recht, Frau Staatssekretärin, daß für eine flächendeckende Analyse in den fünf neuen Bundesländern 40 Millionen DM notwendig sind, und wie bringen Sie das zusammen bei einem Etat — wie von Ihnen schon öfters in der Fragestunde betont — in Höhe von 11 Millionen DM?
Frau Kollegin Kastner, Sie wissen genau, daß es Sinn dieser Konzertierten Aktion ist, weitere Analysen durchzuführen, den Finanzbedarf zu erörtern und ihn gegebenenfalls für die Haushaltsplanungen 1993 mit einzubeziehen.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Wir kommen damit zur Frage 67 des Kollegen Klaus Kirschner:
Wie hoch ist nach den jetzt vorliegenden vorläufigen Werten zur Ausgabenentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahre 1991 die Ausgabensteigerung für Zahnersatz im Verhältnis zur Grundlohnentwicklung, und wie beurteilt die Bundesregierung im Hinblick auf die Höhe dieser Steigerungsrate die Steuerungswirkung der durch das Gesundheits-Reformgesetz auf 40 bis 50 % erhöhten Selbstbeteiligung für Zahnersatz?
Herr Kollege Kirschner, die Ausgabensteigerung je Mitglied für Zahnersatz in der gesetzlichen Krankenversicherung betrug 1991 13,7 %. Der Grundlohnanstieg je Mitglied lag im gleichen Zeitraum bei 5 %. Ob die erhöhte Selbstbeteiligung für Zahnersatz nachfragesteuernde Wirkung gehabt hat, kann nicht allein nach dem Ausgabewert für 1991 beurteilt werden. Warum dies nicht möglich ist, habe ich bereits in meiner Antwort vom 13. Februar 1992 auf die Kleine Anfrage der SPD erklärt.
Zusatzfrage, Kollege Kirschner?
Frau Staatssekretärin, nachdem nun offensichtlich ist, daß das Selbstbeteiligungsinstrument von 40 bis 50 % beim Zahnersatz versagt hat, frage ich: Ist die Bundesregierung nun endlich bereit, bei den Zahnärzten die Instrumente, die im GRG vorgesehen sind, wie Qualitätssicherung und Wirtschaftlichkeitsprüfung, im Wege der aufsichtsrechtlichen Prüfung durchzusetzen, oder will die Bundesregierung weiterhin zusehen, wie dieses nach wie vor abgeblockt wird?
Herr Kollege Kirschner, wie ich bereits in den Antworten auf die Kleine Anfrage mitgeteilt habe, wird die aufsichtsrechtliche Maßnahme erst dann erforderlich sein, wenn die Situation es erforderlich macht. Die Situation hat es bisher noch nicht erforderlich gemacht.
Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, könnten Sie mir einmal andeuten, wann nach Auffassung
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6781
Klaus Kirschnerder Bundesregierung, nachdem Sie ja deutlich machten, daß die Ausgaben fast dreimal so hoch sind wie die Einnahmen, endlich Maßnahmen erforderlich wären, um auf Seiten der Leistungserbringer die Instrumente durchzusetzen, die im Gesetz auch vorgesehen sind?
Herr Kirschner, ich habe bereits in der Vergangenheit in meinen Antworten ausgeführt, daß man die statistischen Werte immer vom Ausgangswert aus beurteilen muß. Ich kann Ihnen sagen, daß seit 1982 die Grundlohnsumme um 32,5 % gestiegen ist. Demgegenüber sind z. B. die Ausgaben der Krankenkassen für die zahnmedizinische Behandlung nahezu konstant geblieben. Also denke ich, daß wir erst einmal die weitere Entwicklung abwarten sollten, ehe wir hier aufsichtsrechtlich tätig werden.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Menzel.
Frau Staatssekretär, würden Sie mit mir übereinstimmen, wenn ich davon ausgehe, daß die Ausgabensteigerung nicht ursächlich nur auf die hohe Entwicklung zurückzuführen ist, sondern daß auch ganz andere Faktoren mit einwirken und daß es eine völlig verkürzte Betrachtung der Sachlage ist, wenn man immer versucht, die Ausgabenentwicklung nur auf die Honorarforderungen der Ärzte abzuwälzen.
Herr Kollege Menzel, ich kann da völlig mit Ihnen übereinstimmen, denn ich glaube nicht, daß die Ausgabenentwicklung allein als Folge der Honorarforderungen der Ärzte anzusehen ist.
Wir kommen zur Frage 68 des Kollegen Klaus Kirschner:
Hat der Bundesminister für Gesundheit die Absicht, die in der Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD in Aussicht genommene aufsichtsrechtliche Überprüfung der Honorarvereinbarungen für die Zahnärzte einzuleiten im Hinblick darauf, daß die jetzt vorliegenden Werte zur Ausgabenentwicklung der Krankenversicherung für Zahnbehandlung und Zahnersatz im Jahre 1991 eine Überschreitung der Grundlohnentwicklung um das Zwei- bis Dreifache ausweisen und damit belegen, daß die Honorarverträge für 1991 mit dem Grundsatz der Beitragsstabilität nach § 71 SGB V nicht vereinbar sind, und die inzwischen abgeschlossenen Honorarvereinbarungen für 1992 ebenfalls Ausgabensteigerungen über die Grundlohnentwicklung hinaus ermöglichen und keine Kompensation für die überhöhten Honorarzuwächse im Jahre 1991 vorsehen?
Herr Kollege Kirschner, gegenwärtig stellt sich für die Bundesregierung die Frage, ob die für 1992 von den der Bundesaufsicht unterstehenden Krankenkassen mit den Zahnärzten getroffenen Vergütungsvereinbarungen den Grundsatz der Beitragssatzstabilität verletzen. Die abgeschlossenen Vergütungsvereinbarungen der Ersatzkassen sehen eine Punktwertanhebung von 4,3 % vor und bleiben damit im Rahmen der erwarteten Grundlohnentwicklung. Der Bundesminister für Gesundheit hat deshalb keine Möglichkeit, aufsichtsrechtlich tätig zu werden. Natürlich ist dies keine Gewähr für Beitragssatzstabilität. Es kommt jetzt darauf an, daß die Vertragspartner alles daran
setzen, daß die Ausgabenentwicklung im Jahr 1992 in den Bahnen verläuft, die den Vergütungsvereinbarungen zugrunde lagen.
Sollte in den Bereichen, in denen die Ländergesundheitsminister die Aufsicht über die Kassen führen, Vergütungsvereinbarungen getroffen werden, die deutlich oberhalb der erwarteten Grundlohnentwicklung von 4 bis 5 % liegen, so kann der Bundesgesundheitsminister aufsichtsrechtliche Maßnahmen der Länder nur anmahnen. Die bisher abgeschlossenen Vergütungsvereinbarungen in den Ländern entsprechen in der Größenordnung dem Vergütungsabschluß der Ersatzkassen.
Zusatzfrage, Kollege Kirschner.
Frau Staatssekretärin, welche Erkenntnisse braucht die Bundesregierung eigentlich noch, nachdem die Ausgabenentwicklung vorliegt, um sich zu entschließen, die aufsichtsrechtliche Prüfung einzuleiten, um dem im GesundheitsReformgesetz verankerten Grundsatz der Beitragsstabilität nachzukommen?
Herr Kollege Kirschner, ich glaube, wir haben schon bei der letzten Frage eindeutig herausgearbeitet, daß die Ausgabenentwicklung nicht allein auf die Vergütungsvereinbarung mit den Ärzten zurückzuführen ist.
Zweite Zusatzfrage, Kollege Kirschner.
Frau Staatssekretärin, gilt der im GRG verankerte Grundsatz der Beitragsstabilität noch für die Bundesregierung, ja oder nein?
Ja.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs angekommen. Herzlichen Dank, Frau Staatssekretärin.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Dieter Schulte zur Verfügung.Die Frage 69 des Herrn Abgeordneten Michael von Schmude und die Fragen 70 und 71 des Herrn Abgeordneten Gunnar Uldall sollen auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Wir kommen damit zu Frage 72 des Kollegen Horst Kubatschka:Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß nach dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes der Flugbetrieb des neuen Flughafens München II nur dann aufgenommen werden darf, wenn die Auflagen für den Lärmschutz erfüllt sind?
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6782 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Herr Kollege, der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat zu München II zwei Urteile gefällt. Das eine Urteil ist durch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. Januar 1991 aufgehoben worden. Es wurde dem BMV am 29. Mai 1991 zugestellt. Darin werden auch endgültige Vorgaben für die Lärmschutzmaßnahmen am neuen Flughafen München geklärt. Auf dieser Basis werden gegenwärtig vom Flughafen München die notwendigen Schallschutzmaßnahmen getroffen. Auflagen für die Aufnahme des Flugbetriebs sind darin aber nicht gemacht worden.
Das zweite Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes vom 19. Februar 1992 ist im Bundesverkehrsministerium am 9. März eingegangen. Darin wird die Klage auf weitergehende Reduzierung des Nachtflugverkehrs abgewiesen.
Zusatzfrage, Kollege Kubatschka.
Herr Staatssekretär, inzwischen klagen die Gemeinde Hallbergmoos und 39 private Anlieger. Sie verlangen, daß der Flugbetrieb so lange nicht aufgenommen wird, bis der Lärmschutz, den man der Bevölkerung seit Jahren versprochen hat und der im Planfeststellungsbeschluß enthalten ist, tatsächlich realisiert wird. Wann muß der Lärmschutz Ihrer Meinung nach gewährleistet sein?
Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, im Planfeststellungsbeschluß ist festgelegt, daß Anträge auf Schallschutzmaßnahmen noch fünf Jahre nach Inbetriebnahme des Flughafens gestellt werden können. Schon daher kann die endgültige Durchführung aller Lärmschutzmaßnahmen nicht Grundlage für die Inbetriebnahme sein.
Weitere Zusatzfrage, Kollege Kubatschka.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht meiner Meinung, daß Lärmschutzmaßnahmen im Grunde genommen viel zu spät ergriffen wurden, um die Bevölkerung vor dem Lärm zu schützen?
Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es ist sicher so, daß nicht alle Maßnahmen abgeschlossen sind, wenn der Flughafen in Betrieb genommen wird. Das habe ich vorhin gesagt. Es soll aber noch weiter abgewartet werden; es soll weiter gerechnet und gemessen werden. Deswegen wurde eine Frist von fünf Jahren eingeräumt. Ich glaube nicht, daß diese Frist von fünf Jahren einseitig nur zugunsten des Flughafens und seiner Betreiber gesehen werden kann. Dies ist vielmehr eine Frist, die durchaus auch im Sinne der Anlieger gewertet und gesehen werden kann.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Wir kommen damit zu Frage 73 des Kollegen Kubatschka:
Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung bezüglich des Energieverbrauchs und des Schadstoffausstoßes beim Einsatz von Kurzzügen mit Diesellokomotiven vor?
Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, der spezifische Energieverbrauch von kurzen Reisezügen mit Dieseltraktion unterscheidet sich nur geringfügig von dem Verbrauch bei Zügen mit Elektrolokomotiven. Allerdings ist er, bedingt durch das größere Gewicht der Wagen und Lokomotiven, höher als der Energieverbrauch von Triebwagenzügen.
Bezüglich des Schadstoffausstoßes unterschreiten die Dieseltriebfahrzeuge der Deutschen Bundesbahn die derzeitigen ECE- und UIC-Normen deutlich.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, es geht ja im Grunde genommen um den Gütertransport. Hängt es nicht vom Laufweg dieser Kurzzüge ab, ob sie zu größeren Einheiten zusammengestellt werden? Das muß doch betrachtet werden.
Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Das ist richtig. Das berücksichtigt die Bundesbahn aber auch beim Einsatz der Lokomotiven und der Wagen. Es kommt im übrigen auch darauf an, wie das Gelände beschaffen ist. Da gibt es deutliche Unterschiede zwischen Diesel- und Elektrofahrzeugen.
Zweite Zusatzfrage.
Gibt es gewisse Mindestentfernungen, unterhalb deren der Einsatz von Lkws rentabler und weniger umweltbelastend ist als der Einsatz von Kurzzügen?
Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich glaube, daß wir da eine Gesamtbilanz aufstellen müssen. Wenn die deutsche Bundesbahn nur bei einer geringen Entfernung eingesetzt wird und sowohl im Vorlauf als auch im Nachlauf Lkws eingesetzt werden müssen, dann kann die Gesamtumweltbilanz durchaus anders sein, als wenn man von Haus zu Haus mit der Bahn fahren kann, sprich: wenn Gleisanschlüsse vorhanden sind.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.Wir kommen damit zur Frage 74 des Kollegen Ottmar Schreiner:Welche zeitlichen Schlußfolgerungen ergeben sich für Straßenbauprojekte aus ihrer Aufnahme in die Liste der für eine Privatfinanzierung in Betracht kommenden Verkehrsinvestitionen, insbesondere für den Weiterbau der A 8 von Merzig/ Wellingen bis zur luxemburgischen Grenze?Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, mit dem Kabinettsbeschluß vom 29. Januar 1992 wurde der Bundesminister für Verkehr aufgefordert, umgehend Pilotprojekte auszuschreiben und zu realisieren. Weitere Projekte, so auch die A 8, können in die Privatfinanzierung einbezogen werden. Zu den notwendigen Voraussetzungen gehören Planungssicherheit für den Gesamtabschnitt bis zur luxemburgischen Grenze und eine Abstimmung über die Planung und den Zeitplan mit dem Großherzogtum Luxemburg. Die Schaffung der Planungssicherheit ist Sache des Landes. Der Bundesverkehrsminister wird die Gespräche mit Luxemburg vorantreiben.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6783
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, gehe ich recht in der Annahme, daß das gesamte bundesdeutsche Autobahnnetz in Teilabschnitten realisiert worden ist; und was spricht dagegen, daß die A 8 bis zur luxemburgischen Grenze ebenfalls in Teilabschnitten fertiggestellt werden kann, zumal da bekannt ist, daß für den ersten Teilabschnitt alle Voraussetzungen erfüllt sind, die einen sofortigen Baubeginn ermöglichen würden; und was ist der eigentliche Grund, warum die Bundesregierung diese Maßnahme nach wie vor sabotiert?
Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich erinnere mich daran, daß Sie dem Bedarfsplan für die Bundesfernstraßen, der die Grundlage meiner Aussage ist, zugestimmt haben. Das war am 30. Januar des Jahres 1986. Ich habe das eigens nachgelesen.
Es gibt für jedes Bundesland eine Landesquote. Aus der Landesquote kann das Saarland nicht alle gewünschten Ortsumgehungen und die Autobahn A 8 zur gleichen Zeit finanzieren. Ich kann in dieser Fragestunde auch nicht so locker 300 Millionen DM vergeben.
Sie wissen, daß wir dabei sind, den Bundesverkehrswegeplan und den Bedarfsplan für die Bundesfernstraßen als einen seiner Teile fortzuschreiben. Die letzte Entscheidung wird der Bundestag treffen. Allerdings wird nicht alles auf einmal zu verwirklichen sein, zumal da nach dem letzten Beschluß über den Bedarfsplan Ihre Fraktion beantragt hat, die Mittel für den Bundesfernstraßenbau zu kürzen.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, nachdem der Bundesumweltminister, möglicherweise in seiner Eigenschaft als Landesvorsitzender einer im Saarland nicht ganz so großen Volkspartei, vor einigen Wochen öffentlich erklärt hat, der Endausbau bis zur luxemburgischen Grenze erfolge alsbald, und wenige Tage später das Kabinett diese Äußerung korrigiert hat, frage ich Sie, ob Sie der Einschätzung der wahrlich staatstragenden „Saarbrücker Zeitung" zustimmen können, die diesen Vorgang folgendermaßen kommentiert hat:
Ob solcher Spagatschritte müssen sich die Bürger des Saarlandes und der gesamten Saar-Lor-LuxRegion fragen, wie ernst zumindest der Bonner Verkehrsminister die hehren Bekenntnisse des Kanzlers zu Europa nimmt. Das Saarland wird von Bonn in Sachen grenzüberschreitender Autobahn jedenfalls so stiefmütterlich behandelt, als solle es seine Randlage auf ewig behalten.
Ist das die Auffassung der Bundesregierung?
Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Sie haben sicher mitverfolgt, daß die A 8 auf Grund eines Antrags des Bundesumweltministers im Kabinett in die Liste der Maßnahmen aufgenommen
wurde, bei denen eine Privatfinanzierung in der Zukunft möglich sein soll. Allerdings muß sich die saarländische Landesregierung überlegen, ob sie das fördert und ob sie z. B. bei einer eventuell fälligen Änderung der Gesetzeslage im Bundesrat mitmacht.
Es gibt eine weitere Zusatzfrage.
Herr Kollege Schulte, Ihr Kollege Gröbl hatte mir in einer der vergangenen Fragestunden auf meine Frage, wie dieses Teilstück der A 8 finanziert werden soll, geantwortet: Wenn eine Privatfinanzierung nicht in Betracht käme, könnte dieser Abschnitt nur entweder über die Bereitstellung zusätzlicher Mittel über die Straßenbauquote des Saarlandes hinaus oder so finanziert werden, wie es der Minister Jo Leinen in einem Brief an den BMV geschrieben hat. Wie sieht es jetzt mit einer Sonderfinanzierung aus? Vor allen Dingen war bei der Beschlußfassung über den Bundesverkehrswegeplan schon bekannt, daß dieses Teilstück der A 8 weit über die dem Saarland zustehenden Straßenbauquoten hinausgeht, egal, ob zusätzlich Umgehungsstraßen gebaut werden oder nicht. Wie sehen Sie das jetzt?
Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, Sie werden ja demnächst mit vielen anderen zusammen im Verkehrsausschuß erleben, daß wir nicht alles auf einmal bauen können. Es gibt ganz gewiß Probleme bei Bundesländern, die keine große Quote haben, weil z. B. ihre Einwohnerzahl gering ist. Es stehen Projekte wie etwa der Elbtunnel im Zuge der A 7 in Hamburg an, zu denen man sich überlegen muß: Was kann man machen? Das Saarland versucht im Augenblick, alle Ortsumgehungen zu bauen und die Autobahn ebenfalls. Sie müßten mir, wenn im Saarland alles auf einmal geschehen soll, schon helfen, den anderen Bundesländern zu erklären, daß sie zurückstehen müssen. Eine Sonderfinanzierung gibt es nicht. Das ist ein Beschluß des Verkehrsausschusses des Bundestags aus der letzten Periode. So wie ich im Augenblick die Meinung einschätze, wird es auch bei der nächsten Runde, die in Kürze ansteht, keine Sonderfinanzierungen geben.
Ich lasse jetzt noch die Zusatzfragen des Kollegen Wagner und des Kollegen Jungmann zu. Dann kommen wir zum Ende der Fragestunde. Wir haben jetzt schon eine Minute überzogen.
Kollege Wagner.
Herr Staatssekretär, Sie haben soeben aufs neue den Eindruck erweckt, daß das Saarland alles auf einmal haben möchte. Ist Ihnen die Entscheidung der Landesregierung des Saarlandes bekannt, sich auf diese Autobahn mit Priorität eins zu konzentrieren und alle anderen Maßnahmen zeitlich zu strecken, und ist Ihnen zweitens bekannt, daß der Bundesumweltminister im Saarland ganz konkret erklärt hat, die Autobahn A 8 werde sehr schnell kommen? Die Landesregierung des Saarlandes hat sich als eine der ersten bereit erklärt, auch eine private Finanzierung der Auto-
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Hans Georg Wagner
bahn 8 zuzulassen. Warum ist das nicht an höherer Stelle im Katalog angesiedelt worden?Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wenn man sagte, wir bauen jetzt die Autobahn, und wir unterlassen es, acht oder zehn Ortsumgehungen zu bauen, oder wir bauen daran nicht fünf Jahre, sondern zehn Jahre, wäre das nicht sinnvoll, weder in werkehrlicher Hinsicht noch in volkswirtschaftlicher Hinsicht. Die Prioritäten sind gesetzt worden. Das Saarland hat bisher ohne weiteres gesagt: Wir fangen mit den Ortsumgehungen an. Daß Vertreter des Saarlands versuchen, zusätzliches Geld ins Land zu bekommen, ist absolut legitim. Das machen auch andere. Ich sehe dies an den Blicken hier im Plenarsaal.
Die letzte Zusatzfrage, Kollege Jungmann.
Herr Staatssekretär, da der Umweltminister Töpfer in der Kabinettsitzung das in die Liste der möglicherweise privat zu finanzierenden Projekte aufgenommen hat, frage ich:
Hat er denn auch schon einen Financier genannt, und ist richtig, was gerüchtweise durchdringt, daß das Herr Möllemann sein soll?
Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Ich gehe davon aus, daß Herr Möllemann ein tüchtiges Mitglied der Bundesregierung ist und noch lange amtieren wird.
Mir ist nicht bekannt, daß er ins Bankwesen überwechseln wollte.
Ich gehe allerdings davon aus, daß die Privatfinanzierung ein solcher Renner werden wird, daß sich auf alle Fälle Konsortien finden werden, die bereit sind, auch bei der A 8 mitzuhelfen. Sollte dies nicht aus dem Saarland selber heraus geschehen, gibt es andere, die bereit sind, ihre Interessen und Chancen mit dem zu verbinden, was sie wollen und was die Bundesregierung will.
Damit sind wir am Ende der Fragestunde angelangt. Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Die nicht beantworteten Fragen werden entsprechend unserer Geschäftsordnung schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 der Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
Lage der öffentlichen Finanzen und Pläne der Bundesregierung für ein Haushaltssicherungsgesetz nach den Äußerungen von Mitgliedern der Bundesregierung vom Wochenende 7./8. März 1992
Diese Aktuelle Stunde hat die Fraktion der SPD verlangt.
Als erste hat die Frau Kollegin Ingrid MatthäusMaier das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung steht vor einem finanzpolitischen Scherbenhaufen.
Die Staatsschulden explodieren.
Eine Steuer- und Abgabenerhöhung jagt die andere. Und die Inflation gefährdet die D-Mark.
Noch nie hat der Staat so viele Schulden gemacht wie heute. Ende 1991 lag die gesamte Staatsverschuldung bei fast 1,5 Billionen DM.
1992 soll dieser Schuldenberg um Schulden von über 190 Milliarden DM erhöht werden. Auch die Sozialversicherung rutscht in die roten Zahlen.Dieser Schuldenberg droht den Staat handlungsunfähig zu machen. Für wichtige öffentliche Aufgaben ist kein Geld da, weil es für Zinsen ausgegeben werden muß. Im laufenden Jahr sind es fast 130 Milliarden DM; das ist jede sechste Steuermark; pro Kopf der Bevölkerung sind das über 100 DM Monat für Monat allein für die Zinsen auf die Staatsschulden.
Noch unsere Kinder und Enkel werden darunter zu leiden haben, daß in Bonn die größten Schuldenmacher aller Zeiten regieren.
Diesen Schuldenberg haben wir, obwohl die Bundesregierung dauernd an der Steuer- und Abgabenschraube dreht: an der Mineralölsteuer, der Versicherungsteuer, der Kraftfahrzeugsteuer, der Tabaksteuer, den Sozialabgaben, der Telefonsteuer, der Ergänzungsabgabe und jetzt auch noch an der Mehrwertsteuer.
Damit nicht genug. Die Äußerungen dieser Woche zeigen: Die Bundesregierung will weitere Steuer- und Abgabenerhöhungen, Mehrbelastungen, Zuzahlungen, den Abbau von Sozialleistungen und das Haushaltssicherungsgesetz.
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Ingrid Matthäus-MaierNun wird zwar eifrig dementiert. Aber das kennen wir schon. Immer wenn die Bundesregierung in Sachen Steuern etwas dementierte, konnte man sicher sein, daß danach das eintritt, was vorher so eifrig dementiert worden war.
Vor der Bundestagswahl hieß es: Keine Steuererhöhungen für die deutsche Einheit. Nachher kam die Steuerlüge mit dem dicken Steuererhöhungspaket.
Vor der Bundestagswahl wurde von der Bundesregierung heftig dementiert, daß die Mehrwertsteuer steigen soll, um die Vermögensteuer zu senken. Herr Geißler hatte ja recht: Mehrwertsteuer rauf und Vermögensteuer runter, das ist schlimmer als der Flugbenzinskandal. Jetzt ist genau das eingetreten.Seien Sie vorsichtig mit Dementis; sonst wird IhreSteuerlüge zum Dauerschwindel.
Auch eineinhalb Jahre nach der Herstellung der deutschen Einheit hat die Bundesregierung die Finanzen des Staates nicht im Griff. Deutschland erfüllt im Moment nicht einmal die Voraussetzungen für den Eintritt in die europäische Währungsunion
und droht in Europa vom Musterschüler zum Sitzenbleiber zu werden.
Dieses finanzpolitische Chaos der Bundesregierung darf so nicht weitergehen. Wir fordern Sie auf:Erstens. Das Tricksen und Täuschen muß ein Ende haben. Die Wahrheit über die Staatsfinanzen muß auf den Tisch, und zwar endlich einmal vor den Wahlen.
Zweitens. Die Bundesregierung muß endlich lernen, mit dem Geld der Steuerzahler sparsam umzugehen. Dazu gehört vor allem auch der Stopp des Jägers 90. Statt eines einzigen Jägers 90 ließen sich 1 000 Sozialwohnungen bauen. Deswegen bedauere ich es sehr, daß der Bundesfinanzminister auf dem Bau des Jägers 90 beharrt.
Drittens. Zum Sparen gehört außerdem, daß nicht weiter Geld für Steuersenkungen für Spitzenverdiener und Großunternehmen aus dem Fenster geworfen wird. 10 Milliarden DM Steuerverringerung durch die Senkung des Spitzensteuersatzes haben Sie angekündigt. Da muß ich doch fragen: Hat diese Bundesregierung noch alle Tassen im Schrank?
Der vierte und wichtigste Punkt: Wir brauchen wieder eine Finanz- und Wirtschaftspolitik mit Sinn und Verstand. Denn die beste Sparbüchse ist eine gute Wirtschaftspolitik, die dafür sorgt, daß nicht in erster Linie Arbeitslosigkeit, sondern Investitionen finanziert werden.Ich danke Ihnen.
Als nächster hat der Kollege Jochen Borchert das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese von der SPD beantragte Aktuelle Stunde ist reines Wahlkampftheater und der erneute Versuch einer Panikmache. Die Koalition plant keinen Sozialabbau; ein Haushaltssicherungsgesetz wird es nicht geben;
eineinhalb Jahre nach der Wiedervereinigung und den damit verbundenen finanziellen Anstrengungen ist der Haushalt solide finanziert.
Heute werden von der SPD die Schulden von Bund und Ländern wieder in einen Topf geworden, um Horrorzahlen zu produzieren. Aber die Prognosen der SPD haben noch nie gestimmt.
Heute beklagt die SPD die Verschuldung des Bundes. Aber im Vermittlungsausschuß blockierte sie die Hilfe für die neuen Länder und unternahm alle Anstrengungen, um die Lasten des Bundes weiter zu erhöhen. Zur Finanzierung schlug sie im Vermittlungsausschuß vor, weiter Schulden zu erhöhen, und bezeichnete nicht ausgeschöpfte Kreditermächtigungen als finanzielle Reserven, die der Finanzminister auf der hohen Kante habe.
Frau Kollegin, damit hat die SPD den letzten Rest finanzpolitischer Glaubwürdigkeit verspielt.
Frau Kollegin Matthäus-Maier fordert die Rücknahme der Unternehmenssteuerreform. Herr Kollege Roth beklagt, daß die Bundesrepublik ein Hochsteuerland ist. Herr Lafontaine regiert im Saarland im vierten Jahr nacheinander mit einem verfassungswidrigen Haushalt
und will jetzt den finanzpolitischen Saubermann spielen.
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Jochen BorchertDas Ganze erinnert an Brandstifter, die anschließend die Feuerwehr kritisieren.
Die SPD hat jeden Anspruch verloren, als seriöser und konstruktiver Kritiker der Finanzpolitik ernstgenommen zu werden.Der Bund ist mit dem Haushalt 1992 weiter auf dem dringend notwendigen Konsolidierungskurs.
Die strikte Ausgabendisziplin wird mittelfristig fortgeführt. Die im Finanzplan vorgezeichnete Ausgabenlinie — mit Ausgabensteigerungen von rund 2 % — wird bis 1995 fortgeführt. Dies ist eine klare Weichenstellung für eine solide Finanzpolitik.Die Rückführung der Nettokreditaufnahme des Bundes ist ein positives Signal für die Kapitalmärkte. Der Eckwertebeschluß vom November 1990 sah für 1991 eine Nettokreditaufnahme des Bundes von höchstens 70 Milliarden DM vor. Die SPD hat damals prognostiziert, es würden wesentlich mehr. Wir haben im Ist mit 52 Milliarden DM abgeschlossen.
In diesem Jahr wird die Kreditaufnahme auf rund 45 Milliarden DM weiter gesenkt. Dies macht — nebenbei bemerkt — 1,5 % des Bruttosozialprodukts aus. Das ist — trotz der historischen Aufgabe der Wiedervereinigung — weniger als 1982, im letzten Jahr der SPD-Regierung. Damals betrug die Neuverschuldung 2,2'% des Bruttosozialprodukts.
Eine Halbierung der Nettokreditaufnahme auf unter 25 Milliarden DM bis 1995 bleibt unser Ziel.
In den 70er Jahren hat die SPD Jahr für Jahr mehr Schulden im Bundeshaushalt aufgenommen, um damit Gegenwartskonsum, d. h. Wahlgeschenke der SPD, zu finanzieren.
Wir nehmen heute Kredite auf, um damit den Aufbau der neuen Bundesländer zu finanzieren.Als die SPD regierte, hat der Staat Schulden aufgenommen, weil wir über unsere Verhältnisse gelebt haben. Heute nehmen wir Kredite für Investitionen in die Zukunft der Bundesrepublik Deutschland auf.
Dazu gehören auch die Kredite der Treuhandanstalt und des Kreditabwicklungsfonds. Der Kapitalbedarf beider Bereiche ist in der mittelfristigen Finanzplanung berücksichtigt.
Mit dem Haushalt 1992 setzt die Bundesregierung ihre sparsame Haushaltsführung fort. Der Bundeshaushalt ist mittelfristig solide finanziert.
Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Dietmar Keller das Wort.
Die brauche ich nicht; ich weiß, was ich sage, Herr Weng. —Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Unsere Bücher liegen offen", sagte der Bundesfinanzminister anläßlich der zweiten Beratung des Bundeshaushalts 1992 Ende November 1991.Für eine schonungslose Bestandsaufnahme der finanziellen Situation sowie für politische Entscheidungen über Sparmaßnahmen und über eine Begrenzung der Zuwachsraten der öffentlichen Haushalte plädierte am vergangenen Wochenende der „Oppositionspolitiker" Lambsdorff. Zudem forderte der F.D.P.-Vorsitzende dazu auf, die sogenannten Nebenhaushalte nach Einsparmöglichkeiten zu durchforsten. Gleichzeitig erging an den auch von seiner Bundestagsfraktion gestützten Finanzminister die dringende Bitte, klarzumachen, welche Schlußfolgerungen er jetzt aus dieser Lage zieht.Schließlich blieb es dem — Sie gestatten, daß ich Franz-Josef Strauß zitiere — „Riesenstaatsmann" Möllemann vorbehalten, zu einer drastischen Trendwende aufzurufen und ein als „LeistungsgesetzMoratorium" getarntes Haushaltssicherungsgesetz zu fordern, das in seinem Kern drastische Einschnitte bei den Sozialleistungen enthalten sollte.Das Dementi folgte zwar auf dem Fuße, aber es wirkte matt und wenig glaubwürdig. CDU-Generalsekretär Rühe warf dem Wirtschaftsminister unnötige Verunsicherung der Bürger vor, ohne jedoch im Kern und jenseits rhetorischer Floskeln und Nebelkerzen Kürzungen bei Sozialleistungen abzulehnen. Die Bundesregierung erklärte, ein Haushaltssicherungsgesetz sei nicht in Vorbereitung. Ist es abwegig, an dieser Stelle zu fragen: Ist ein solches Gesetz nur derzeit nicht in Vorbereitung? Denen, die mir Unterstellungen vorwerfen, sei geraten, sich daran zu erinnern, daß es auch einmal hieß, die Einheit Deutschlands könne man aus der Portokasse finanzieren, es werde keine Steuer- und Abgabenerhöhungen geben, und in den neuen Ländern würden innerhalb weniger Jahre blühende Landschaften entstehen.Worum geht es im Kern? Die Bundesregierung bekommt die Kosten der von ihr politisch so gewollten Einheit nicht in den Griff. Bis Ende 1993/94 werden sich die Gesamtschulden der Treuhand, die Schulden des Kreditabwicklungsfonds und die Altschulden der Wohnungswirtschaft auf rund 400 Milliarden DM summieren.Die Nettokreditaufnahme von Bund, Ländern und Gemeinden wird in diesem Jahrhundert 188 Milliar-
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Dr. Dietmar Kellerden DM betragen — nach 167 Milliarden DM im Jahr 1991.
Die Zinszahlungen der öffentlichen Hand werden von 99 Milliarden DM im Jahr 1991 auf voraussichtlich 176 Milliarden DM im Jahr 1995 steigen. Die Altlastensanierung wird ebenfalls mit mehreren Milliarden DM zu Buche schlagen, ganz zu schweigen von den Kosten, die eine wie auch immer geplante Reform der Bundesbahn nach sich ziehen wird. 1995 wird das Defizit der öffentlichen Hand wahrscheinlich 2,3 Billionen DM betragen.Es ist verständlich, daß angesichts dieses Szenarios einigen Koalitionspolitikern buchstäblich die Düse geht. Der F.D.P.-Vorsitzende gebärdet sich wie während der letzten Wochen der sozialliberalen Koalition und mimt den finanzpolitischen Oppositionsführer. Vielleicht folgt er seinem Vorgänger Genscher und beglückt den noch amtierenden Bundeskanzler ebenfalls mit einem Wendebrief.
Die Ausführungen des Wirtschaftsministers sind der Versuch, die Bundesbürger allmählich mit der Aussicht auf Kürzungen bei den Sozialleistungen vertraut zu machen und sie schließlich mit der Feststellung zu beruhigen oder, besser gesagt, zu ködern, man habe nur den Wildwuchs beseitigt, die soziale Sicherung in ihrem Kern jedoch nicht angetastet. Ich erinnere nur daran: Auch von der Finanzierung der Einheit aus der Portokasse bis zum Solidaritätszuschlag und zur Erhöhung der Sozialversicherungsabgaben war es nur ein kurzer Weg.
Kaum einen Monat nach Verabschiedung des Steueränderungsgesetzes ist der Wirtschaftsminister schon dabei, die vom Finanzminister im Bundesrat angekündigte weitere Erhöhung des Kindergelds zurückzunehmen und damit den nach unserer Ansicht sowieso faulen Kompromiß zwischen Bund und einigen Ländern nach Kräften auszuhebeln.In diesem Frühjahr wird das Bundesverfassungsgericht darüber entscheiden, ob der steuerfreie Sockel bei der Einkommensteuer nicht zu niedrig angesetzt ist. Eine Erhöhung des Freibetrags um nur 100 DM würde den Bund jährlich 750 Millionen DM kosten. Eine Angleichung an den Grundfreibetrag für die Sozialhilfe würde eine Verdoppelung bedeuten und den Bund jährlich 40 Milliarden DM kosten.Da die Bundesregierung gewillt ist, den Unternehmen weitere Steuergeschenke zu machen, werden sowohl Steuer- und Abgabenerhöhungen als auch Kürzungen bei sogenannten Leistungsgesetzen folgen, die vor allem die einkommensschwachen Haushalte überproportional belasten werden.Die Diskussionen der letzten Tage dienten der ideologischen Vorbereitung massiver Kürzungen bei den Sozialgesetzen.
Das immer offenere Eingeständnis der Lage der öffentlichen Haushalte seitens einzelner Koalitionspolitiker soll die Fortsetzung der Umverteilung von unten nach oben legitimieren und absichern. Statt endlich einmal ernsthaft darüber nachzudenken und zu verhandeln, wie die massiven Finanzierungsprobleme des Einigungsprozesses sozial gerecht gelöst werden können,
statt über eine einkommensabhängige Ergänzungsabgabe, über eine Arbeitsmarktabgabe für besser Verdienende, Selbständige und Beamte und über eine Investitionshilfeabgabe für die warenproduzierenden Gewerbe zu diskutieren, ist die Bundesregierung bestrebt, den Reichen und gut Verdienenden weitere Steuergeschenke zuzustecken.Die PDS/Linke Liste kennt ebenso wie der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium keine sozialen Leistungen, die Kürzungen vertragen, ohne so gleich andere Ansprüche auszulösen. Wir stimmen Herrn Lambsdorff zu und fordern eine schonungslose Bestandsaufnahme der Aufgaben des Bundes, und wir hoffen mit dem Wirtschaftsminister, daß der Jäger 90 nicht kommen wird.Am Wochenanfang über die Presse verbreitete Durchhalteappelle des CDU-Fraktionsvorsitzenden wirken wie das Pfeifen im dunklen Wald.
Herr Kollege Keller, kommen Sie bitte zum Schluß. Wir sind in der Aktuellen Stunde, und da ist die Redezeit nach fünf Minuten zu Ende.
Frau Präsidentin, ich bin am Ende.
Den Offenbarungseid wird diese Bundesregierung nach dem 5. April leisten müssen.
Dies gilt für alle.
Jetzt hat der Kollege Dr. Wolfgang Weng das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Presselandschaft kommt ja seit den bekannten Äußerungen aus der Bundesregierung über notwendige Einsparungsmaßnahmen der öffentlichen Haushalte nicht mehr zur Ruhe, und der Bundeswirtschaftsminister steht wie oft im Mittelpunkt des Interesses.
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Dr. Wolfgang Weng
Wer sich aber seine tatsächlichen Äußerungen ansieht, erkennt, daß sie wie häufig überinterpretiert worden sind.
Wer genau analysiert, was er gesagt hat, kann keine sehr großen Unterschiede zwischen den Äußerungen von Jürgen Möllemann und dem finden, was auch die Finanzsprecherin der SPD-Fraktion gestern öffentlich erklärt hat, daß nämlich die Staatsverschuldung auf Grund der Gesamtfinanzlage eingeschränkt werden muß, daß der Staatsanteil wieder sinken und daß gespart werden muß.Das im politischen Schlagabtausch Übliche findet allerdings auch jetzt wieder statt. Es wird zwar richtig analysiert, aber weder die Handlungsvorschläge der Opposition noch die mehr oder weniger wohlmeinenden Äußerungen aus Koalitionskreisen — ich sehe hier gerade den Kollegen Geißler sitzen — lösen das Problem.Auch wenn die tatsächliche Belastung durch die deutsche Einheit bei Beginn des Einigungsprozesses absehbar gewesen wäre,
wäre ein anderer als der beschrittene Weg nicht möglich gewesen, was die Bundesseite angeht.
Daß unsere dringenden Appelle an die westlichen Bundesländer und an die westlichen Gemeinden, der gesamtstaatlichen Situation durch sparsame Haushaltsführung Rechnung zu tragen, ungehört verhallten, ist allgemein bekannt. Das ist ja ein parteiübergreifender Vorwurf, und er trifft natürlich die SPD mit, Frau Kollegin Matthäus-Maier; denn die SPD-geführten Bundesländer im Westen und die SPD-geführten Gemeinden im Westen, die in der Gesamtauflistung, die Sie gestern vorgestellt haben, enthalten sind, haben hier wirklich genauso ein Fehlverhalten an den Tag gelegt wie die in anderer Weise geführten.Wer Sparsamkeit anmahnt, müßte in der Konsequenz auch sagen, welchen Personengruppen und in welchem Umfang er staatliche Zuweisungen entziehen will. Da wäre dann ein einstimmig zustande gekommenes Zahlenwerk wünschenswert statt nur einiger Schlagworte, die einer seriösen Prüfung nicht standhalten.Lassen Sie mich auf die positiven Fakten des Bundeshaushalts verweisen. In der Abrechnung des Jahres 1991 wurden rund 10 Milliarden DM Schulden weniger aufgenommen, als ursprünglich geplant und konzipiert gewesen war. Und die Steigerungsrate des Bundeshaushalts 1992 mit weniger als 3 % gegenüber dem Soll von 1991 ist sicher maßvoll. Ich glaube nicht, daß man die Ausgaben unter diesen Stand hätte drücken können.Was wie ein Damoklesschwert über uns hängt, sind die zunehmenden Risiken, die vor allem durch die Wirtschaftssituation in Osteuropa drohen, direkt bezüglich der neuen Bundesländer, indirekt bezüglich der Bürgschaften, die wir da übernommen haben und übernehmen mußten und denen der Bundesetat künftig Rechnung tragen muß.Denken Sie auch daran, daß man usprünglich der Überzeugung war, bei der Überführung der ostdeutschen Wirtschaft von der Staats- in die Privatwirtschaft werde die Treuhandanstalt am Schluß in der Bilanz schwarze Zahlen schreiben, während man heute eher von 250 Milliarden als 200 Milliarden DM Schuldenlast am Ende der Abwicklung ausgehen muß.
Aber es sind interessanterweise dieselben Politiker, insbesondere der Opposition, die einerseits diese Schuldenlast beklagen und andererseits in jedem Einzelfall hohe Ausgabeforderungen an die öffentlichen Hände und gerade in Richtung auf die Treuhandanstalt stellen. Wer hier praktisch eine Verstaatlichung der Ostwirtschaft verlangt, würde in der Konsequenz die öffentlichen Haushalte ruinieren; und das wird ja von seiten der SPD gefordert.Ich wünsche den Politikern der Koalition und vor allem den Mitgliedern der Bundesregierung, die in ihrer Analyse die Situation richtig bewerten, die erforderliche Kraft, dieser Situation bei der Aufstellung des Bundesetats 1993 gerecht zu werden. Ein Haushaltssicherungsgesetz, in welcher Form auch immer, sollte nur in einer nicht voraussehbaren Sondersituation erwogen werden; es ist sonst eher ein Signal der politischen Schwäche; denn es bedeutet, daß den Notwendigkeiten nicht in geordneten Haushaltsverfahren Rechnung getragen wird.Wenn man das erfindet, Frau Matthäus-Maier, und dann auch behauptet, dann muß man es eigentlich auch beweisen. Beweisen können Sie es natürlich nicht, daß es solche Pläne gebe. Mir sind solche Pläne nicht bekannt, und die Bundesregierung erklärt ja auch, daß es keine solchen Pläne gibt.
— Aber Ihnen!
Kein Mensch wünscht oder fordert den Ausstieg aus dem Sozialstaat. Wer allerdings den Hinweis darauf, daß für zusätzliche Sozialleistungen im Augenblick kein Spielraum gegeben ist, als Sozialabbau deklariert und entsprechend anprangert, der hat ganz sicher den Ernst der Situation nicht erkannt.Bei der SPD hat man sowieso den Eindruck, sie warte nur auf tatsächliche Einsparvorschläge, um diese dann vehement in bekannter populistischer Weise zu bekämpfen.
Von ihr kann die Koalition ganz sicherlich keine Hilfe erwarten. In der Sache wäre es allerdings wünschenswert, wenn die Bundesregierung mit einer Stimme spräche und wenn man den als richtig erkannten Weg in der Koalition mit konsequenten Vorgaben gemeinsam, in Geschlossenheit beschreiten würde.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6789
Nun erteile ich das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Carstens.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es gibt keinen Zweifel, was auch immer die SPD sagt: Die Finanzpolitik des Bundes ist auf Kurs,
und die Finanzpolitik des Bundes wird auf Kurs bleiben,
auf einem soliden Kurs, wie das schon seit den 80er Jahren der Fall ist. Daran gibt es wirklich keinen Zweifel.
Die vor der letzten Bundestagswahl von der Bundesregierung festgelegten Eckwerte zur Finanzierung der deutschen Einheit sind bis zum heutigen Tag nicht nur eingehalten, sondern deutlich eingehalten worden.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie die SPD diese Eckwerte damals als geschönt bezeichnet hat.
Wenn wir diese nach Ihrer Meinung geschönten Eckwerte nicht nur einhalten,
sondern deutlich unterschreiten,
verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, dann ist das doch kein Anlaß zur Kritik und zum Tadel, sondern ein Anlaß, Lob auszusprechen.
Sie können das ja etwas leiser tun. Aber zur Kritik besteht nun wirklich kein Anlaß.
Schauen Sie sich die nationalen und internationalen Finanzmärkte an.
Sie reagieren übereinstimmend, d. h. sie vertrauen der konsequenten Politik der Bundesregierung. Das trifft auch auf die deutschen Sparbuchinhaber zu. Der langfristige Zinssatz tendiert eher nach unten, und zwar schon seit geraumer Zeit.
Das heißt, daß der Kapitalmarkt nicht überlastet ist,
sondern es schafft, die Kreditmarktmittel aufzubringen.
Das liegt natürlich sehr daran, daß wir die Ansätze bei der Kreditaufnahme nun schon zum zweiten- und drittenmal deutlich unterschreiten, was zur Pflege des Kapitalmarkts beiträgt.Der Kurs der D-Mark gegenüber ausländischen Währungen ist absolut stabil.
Auch das ist ein deutliches Zeichen für die Einschätzung der D-Mark im Ausland. Das hängt in erster Linie damit zusammen, daß wir schon seit 1982/83 einen Stabilitätskurs
mit einer strikten Ausgabenbegrenzung fahren,
die es nun allerdings durchzuhalten gilt. Dazu gehört eben eine Politik, wie wir sie machen: konsequent, durchdacht und kraftvoll. Ansonsten sind derlei Zuwachsraten nicht durchzuhalten.Es ist erforderlich, daß die Finanzpolitik konsequent fortgesetzt wird. Wir haben den Haushalt für 1992 verabschiedet. Uns allen ist klar: Sollte es zu Nachbewilligungen kommen müssen, so sind diese ohne eine Erhöhung der Neuverschuldung zu finanzieren, z. B. durch Umschichtungen in den Haushalten, ohne gesetzliche Eingriffe. Unser Vorhaben, 1993 und 1994 zu einer weiteren Reduzierung der Neuverschuldung zu kommen, wird umgesetzt, so daß wir dann beim
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6790 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Parl. Staatssekretär Manfred CarstensHaushalt für 1995 bei weniger als 25 Milliarden DM Neuverschuldung angekommen sein werden.
Diese Ergebnisse werden nicht von allein erzielt, sondern erforderlich ist, daß bestehende Leistungen immer wieder neu auf ihre Berechtigung überprüft werden müssen. Wir haben das jetzt gerade beim letzten Paket, das auch im Bundesrat verabschiedet wurde, bewiesen. Ich darf nur an die Strukturhilfen für die alten Bundesländer erinnern, die wir abgebaut haben,
um dieses Geld den neuen Ländern zur Verfügung zu stellen, die es viel dringender als die alten Bundesländer benötigen.
Neue Leistungen können nur in Betracht gezogen werden, wenn gleichzeitig entsprechende Finanzierungsvorschläge auf dem Tisch liegen. Hierzu ist dann kein Haushaltssicherungsgesetz notwendig. Vielmehr ist erforderlich, bei jeder Ausgabe jedesmal neu das Maß festzulegen, um insgesamt mit einer Ausgabenanstiegsobergrenze um 2 % den Haushalt abzuschließen. Dafür haben wir bei CDU/CSU und F.D.P. die notwendige Rückendeckung im Parlament.Meine Damen und Herren, die Verlängerung des bestehenden Moratoriums über 1992 hinaus wäre aus der Sicht des Bundesfinanzministeriums sehr zu begrüßen. Ich habe heute auch feststellen können, daß sich der Bundesvorsitzende der F.D.P., Graf Lambsdorff, hierzu positiv geäußert hat.
So kann man dieser Frage, nachdem es auch entsprechende Äußerungen aus der Union gibt, dann wohl näher treten.Ich will durchaus zugeben, daß wir in den Jahren 1993 und 1994 auch Risiken zu verkraften haben werden.
Der Sprecher der CDU/CSU-Haushaltsgruppe, Kollege Borchert, hat schon auf den Kreditabwicklungsfonds hingewiesen, den nicht wir uns haben einfallen lassen, sondern der in erster Linie aus der Umstellung von Mark auf D-Mark und aus der Übernahme von Krediten aus dem letzten DDR-Haushalt resultiert. Hierfür haben wir im Haushalt 1992 und in der mittelfristigen Finanzplanung den Bundesanteil stehen.Des weiteren hat der Bund die Zinsen, die aus dem Fonds Deutsche Einheit resultieren, in die Haushalte bzw. in die mittelfristige Finanzplanung eingestellt. Was die großen Positionen angeht, bliebe als Risiko, das Defizit bei der Treuhandanstalt. Aber es ist wohl eine gesamtstaatliche Verpflichtung, die es dort ab 1995 zu übernehmen gilt; denn ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich im Ausschuß Deutsche Einheit als Vertreter des Finanzministeriums immer wieder gefragt worden bin, wo wir mit den Überschüssen bleiben wollten, die sich aus der Veräußerung der Vermögenswerte in der ehemaligen DDR ergeben würden.
Nun haben wir diese schwere Aufgabe übernommen, und wir werden auch im Rahmen unserer Möglichkeiten dafür sorgen, daß die Treuhandbetriebe in eine moderne Zukunft geführt werden. Die Kredite, die dort auflaufen, werden von der öffentlichen Hand, ab 1995 zu bedienen sein. Daran kann kein Zweifel bestehen.Wir werden dafür sorgen, daß der Haushalt 1993 rechtzeitig aufgestellt wird. Wir werden dafür sorgen, daß die in den Eckwerten vorgesehenen Obergrenzen bei der Kreditaufnahme unterschritten werden.
Wir werden dafür sorgen, daß die Ausgabenzuwächse, die wir uns vorgenommen haben, nicht überschritten, sondern, wenn möglich, unterschritten werden.
Das alles wird dazu führen, daß wir 1992 und in den folgenden Jahren den Kurs der Solidität exakt werden fortsetzen können. Die Bevölkerung im Inland und das Ausland können weiter Vertrauen zur Stabilität der D-Mark und zur guten Politik der Bundesregierung haben.Danke schön.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Ottmar Schreiner das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Anmerkung zu Herrn Borchert, der die Glaubwürdigkeit der Finanzpolitik des saarländischen Ministerpräsidenten mit dem Hinweis auf den verfassungswidrigen Landesetat im Saarland anzweifeln wollte.
— Ja, das ist zutreffend. — Herr Kollege Borchert, Sie wissen ebenso gut wie ich, daß bereits in den frühen 60er Jahren der damalige saarländische Ministerpräsident Dr. Roeder
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Ottmar Schreinerin einem ersten Saarmemorandum auf die überproportionale Verschuldung des Saarlandes wegen der damals bereits beginnenden Montanlasten, die das Land zu tragen hatte, hingewiesen hatte. Sie wissen ebenso gut wie ich, daß das Saarland im Vergleich der westlichen Bundesländer durchaus einen Mittelwert hätte, wenn es die besonderen Montanlasten nicht gegeben hätte.
Insofern ist Ihr Hinweis im günstigsten Fall reine Polemik; im ungünstigsten Fall ist es schlichtes Nichtwissen, und das sollte man sich in Ihrer Funktion nicht erlauben dürfen.
Die zweite Anmerkung. Zu den Ausführungen des Herrn Staatssekretärs zu reden ist in der Tat schwierig, weil es eine Aneinanderreihung von bloßen Floskeln war. Substantiell war überhaupt nichts dabei. Deshalb erspare ich es mir, etwas dazu zu sagen.
Wir sind uns einig, Herr Kollege Weng — daran gibt es in der SPD-Fraktion keinen Zweifel —, daß auch wir einsparen wollen. Die Frage ist, wo und mit welchen Schwerpunkten eingespart werden soll. Wir haben eine Fülle von Vorschlägen zum Bereich des Verteidigungsetats und zu anderen Bereichen gemacht.Ihre Einsparbemühungen — das ist ja nun wirklich das Erstaunliche
— zielen ausschließlich auf die kleinen Leute, auf die kleinen Geldbeutel ab. Das ist das zentrale Problem.
Der Vorschlag von Möllemann und anderen war, Sozialleistungen — —
— Nicht nur der Vorschlag von Herrn Möllemann, Herr Kollege Geißler. Die Politik der Bundesregierung bestand in den letzten zwei Jahren ausschließlich darin, die Sozialversicherungsbeiträge zu erhöhen, diejenigen Steuern zu erhöhen,
die den Geldbeutel der kleinen Leute betreffen. Gleichzeitig ist fortgesetzt — bis zur Stunde — die Rede
von der Absenkung der Vermögensteuer nach dem Motto: Krieg den Hütten, Friede den Palästen!
Das ist seit zwei Jahren die zentrale Finanzstrategie dieser Bundesregierung.
Nun frage ich Sie, wie Sie eigentlich Solidarität
der Westdeutschen mit den Ostdeutschen organisieren wollen,
Wenn Sie fortgesetzt den Eindruck erwecken, die einen sind die Lastesel der Einheit, während sich die anderen dabei goldene Nasen holen.
Ich sage Ihnen, diese Arbeitsteilung kann nicht funktionieren.
Ihre Politik ist nicht nur rückwärtsgewandt, sie ist in vielerlei Bereichen auch wenig intelligent.
Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Bei den Ausflügen von Herrn Möllemann in die Sozialpolitik kommt ja wirklich nur Schlimmes heraus. Herr Möllemann hat in der Regierung durchsetzen können,
daß die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Osten wie im Westen drastisch beschnitten werden. Das ist im Osten erst recht kontraproduktiv, zumal jedermann weiß, daß ein Teil der dortigen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im infrastrukturellen Bereich eingesetzt wird. Im Westen ist es geradezu töricht, weil finanzpolitisch überhaupt nichts eingespart wird. Vielmehr werden die Kosten in Richtung Finanzierung von Arbeitslosigkeit verlagert. Im übrigen wird das fälschlicherweise auch als Subventionsabbau bezeichnet.
Nun soll mir einmal einer sagen, welchen Sinn das macht. Der einzige Sinn, den das ergibt, ist die Gesichtspflege des Herrn Möllemann, die zu Lasten von Zehntausenden von Langzeitarbeitslosen geht, die ins kalte Wasser der Arbeitslosigkeit geworfen werden. Das ist das Problem.
Ein zweiter Punkt. Anstatt sich um das Vermittlungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeit zu kümmern, wäre Herrn Möllemann besser anzuraten, sich um die Abräumung der Beschäftigungshindernisse in Ostdeutschland zu kümmern. Da hätte er ein weites Feld. Umkehr des Prinzips
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Ottmar SchreinerRückübereignung vor Entschädigung. Sie wissen, daß dies eines der zentralen Investitions- und Beschäftigungshindernisse in Ostdeutschland ist. Da könnte sich Herr Möllemann im Interesse der Menschen, im Interesse von Investitionen und von mehr Beschäftigung profilieren.Er könnte sich um eine aktive Sanierungspolitk der Treuhand kümmern. Da hätte er weite Beschäftigungsfelder. Statt dessen schleicht er sich in die Sozialpolitik ein und richtet dort eine Konfusion nach der anderen an.
Ich sehe, daß bedauerlicherweise meine Redezeit zu Ende geht.
Man könnte noch vieles zum Bereich der Pflegeversicherung sagen. Sie würde zu einer drastischen Entlastung der öffentlichen Haushalte führen; allein im kommunalen Bereich zu einer Entlastung in Höhe von 10 Milliarden DM. In Bayern habe ich neulich die dortigen aktuellen Zahlen gelesen und gesehen, wie die Bezirke dort stöhnen.
Wenn die Regierungsfraktionen ihren Abgeordneten die Abstimmung freigeben würden, stimmten morgen 80 % der Bundestagsabgeordneten für einen vernünftigen Kompromiß zwischen dem SPD-Vorschlag und den Vorstellungen des Bundesarbeitsministers.
Morgen hätten wir hierbei eine Zustimmung von 80 % mit dem Ergebnis einer massenhaften Entlastung bei den kommunalen Finanzen.
Ich will abschließend zusammenfassen: Ihre Politik ist erkennbar weder intelligent noch phantasievoll, nicht einmal mehr konservativ, sondern nur noch schlicht reaktionär. Mit dieser Regierung ist kein Staat mehr zu machen.
Das Wort hat der Abgeordnete Fuchtel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Schreiner, der einzige Vorschlag zum Einsparen, den ich von Ihnen kenne, betrifft den Jäger 90, aber nicht einmal, sondern zehnmal.
Einmal wirklich und neunmal auf Pump. Nach dem bisherigen Debattenverlauf kann man eigentlich nur feststellen: Hier grüßt der Wahlkampf. Nichts anderes.
Wenn Sie, Frau Matthäus-Maier, für all das beichten müßten, was Sie hier erzählen, kämen Sie vor dem 5. April 1992 nicht mehr aus der Kirche heraus.
Sie sind und Sie bleiben Weltmeister in der Verunsicherung der Menschen und Tabellenletzter bei der Problemlösung.Bei einer solchen Rede hilft nichts anderes, als die Kompetenz der Sozialdemokraten während ihrer Regierungszeit immer wieder von neuem in Erinnerung zu rufen:
Rekordverschuldung, Rekordinflation, Massenarbeitslosigkeit, Ausverkauf der Sozialklassen. Lauter Negativrekorde.
Unsere Politik dagegen: Erweiterung der sozialen Sicherheit plus Ordnung der Sozialkassen plus Stabilisierung der Staatsfinanzen plus gleichzeitige Steuerreform zugunsten der Bürger plus Senkung der Sozialleistungsquote. Ohne diese Ergebnisse wäre die deutsche Einheit viel schwieriger zu bewerkstelligen gewesen.
Wir können heute über Leistungen im Sozialbereich reden, die es zu Ihrer Regierungszeit noch nicht einmal gegeben hat.
Unsere Politik ist nicht auf sozialen Abbau aus, sondern auf soziale Treffsicherheit, den Maßstab der Zukunft. Die Leistungen müssen bei denjenigen ankommen, die sie benötigen.Für die Sozialkassen gilt: Daß die Rentenversicherungsbeiträge in den nächsten Jahren etwas steigen werden, ist nur für denjenigen eine Neuigkeit, der sich bisher noch nicht für diese Themen interessiert hat. Immerhin hat unsere Politik bewirkt, daß wir die niedrigsten Beitragssätze und die höchsten Schwankungsreserven seit den 70er Jahren haben. Das ist eine sozialpolitische Leistung.
Daß wir wegen der Sondersituation der deutschen Einheit bei der Arbeitslosenversicherung höhere Beiträge haben, kann nur demjenigen aufstoßen, der von Solidarität nichts hält.
Je stärker die Produktivität von den Löhnen abweicht, um so länger werden die Sozialkassen den
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Hans-Joachim FuchtelAusgleich erbringen müssen. Dies sollten sich auch die Gewerkschaften einmal zu Herzen nehmen.
Die SPD hat die Gesundheitsreform die ganze Zeit über gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Wir haben wenigstens Teilleistungen hinbekommen. Die Beiträge sind jetzt bei 12,5 %. Sie betrügen ohne Reform mehr als 15 %.
Das wäre für Arbeitnehmer und Arbeitgeber jedes Jahr eine Mehrbelastung in Höhe von 32,5 Milliarden DM.Trotzdem haben wir heute im Prinzip die gleiche Diskussion wie 1988.
Ich habe das noch einmal nachgelesen. Auch damals wollten einige liberale Kollegen vor den Landtagswahlen einige Bonbons spezieller Art an ihre Wählerklientel verteilen.
Aber, meine lieben Kollegen von der F.D.P., Sparsamkeit ist keine Erfindung der F.D.P..
Vielmehr konnte die Sozialleistungsquote durch gemeinsame Koalitionspolitik enorm gesenkt werden. 1982 betrug sie 33,2 %, 1990 29,3 %. Dies sind vier Prozentpunkte oder 95 Milliarden DM, die nicht ausgegeben werden mußten, weil es den Menschen besser geht.Eines wird mit der Arbeitnehmerpartei CDU/CSU
auch in Zukunft nicht gehen: unüberlegte und unausgewogene Eingriffe, schon gar nicht in der Familienpolitik, dem Herzstück der Sozialpolitik.
Unsere Unternehmer wissen im übrigen, daß auch der soziale Friede in der Sozialen Marktwirtschaft ein bedeutender Faktor ist.
Die Volkspartei Union steht für Ausgewogenheit und Ausgeglichenheit und wird diesen Kurs der Mitte gegen undifferenzierte Gießkannenpolitik genauso weiter durchsetzen wie gegen egoistische Interessenlobbyismen, weil es allen nützt.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Werner Schulz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren. Im Osten Deutschlands ist die Arbeitslosigkeit schlimmer als in der Krisenzeit der Weimarer Republik. Die öffentliche Verschuldung wächst inzwischen so stark an, daß die Fachleute des Bundesfinanzministeriums über ein Haushaltssicherungsgesetz nachdenken oder im stillen Kämmerlein bereits darüber brüten.
— Wenn man nachfragt, streiten sie das natürlich ab. Aber es wäre bitter nötig.All dies beunruhigt den Bundeskanzler nicht sonderlich. Er ist sogar glücklich darüber, daß wir diese Probleme jetzt haben; denn wir haben die deutsche Einheit, lautet seine Dauerbotschaft. Ich habe allerdings den Eindruck, die Platte hat einen Sprung. Mit der deutschen Einheit verstärkt sich der Eindruck, daß sich Täuschung und Selbsttäuschung die Hand reichen.Ich war gestern in Stuttgart und Heidelberg und habe dort zur Kenntnis genommen, was ein CDUTeufelskreis ist. Er beginnt damit, daß der Kanzler vor sein wiedergewonnenes Volk tritt und verkündet, man könne die deutsche Einheit im Vorbeigehen finanzieren: durch Steuermehreinnahmen auf Grund der guten Konjunkturlage, durch Umschichtungen im Haushalt, durch Gewinne der Bundesbank.Er erweist sich damit als Instinktpolitiker, der zwar den Kairos, den günstigen Moment für die nationale Frage erkennt, der aber den Moment der Wahrheit verpaßt, nämlich vor ein zu diesem Zeitpunkt wirklich opferbereites Volk hinzutreten und zu sagen: Das ist die Botschaft der Stunde; ihr im Westen müßt opfern,
und die im Osten müssen leiden, aber wir helfen euch dabei, daß ihr relativ schnell herauskommt.
Diese Möglichkeit hätte bestanden. Was der Kanzler in diesem Moment verschenkt hat, ist wahrscheinlich gar nicht so schnell wiedergutzumachen.Herr Geißler, Sie haben heute in den Zeitungen den Eindruck erweckt, man könne auf die Solidarabgabe verzichten. Ich glaube, Sie irren sich da. Die großen Belastungen dieser finanziellen Herausforderung stehen uns noch bevor.Just in diesem Moment tritt Herr Teufel, Ministerpräsident von Baden-Württemberg,
den Weg nach Karlsruhe an und bestreitet den Länderfinanzausgleich. Damit wird der Eindruck erweckt, als seien die Schwierigkeiten des Ländle nicht auf den „Spätheu" Filbinger-Filz zurückzuführen, sondern darauf, daß man als Geberland den Koch von Lafontaine oder die Larmoyanz der Ossis bezahlen müsse. Hier wird ein föderales Grundprinzip in Frage
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Werner Schulz
gestellt. Hier wird das Solidaritätsprinzip in Frage gestellt.
Ich hätte viel Verständnis dafür, wenn Biedenkopf oder Stolpe gegen diesen Länderfinanzausgleich geklagt hätten — das ist ja ursprünglich erwogen worden —; denn das ist das einzige, das mit der deutschen Einheit und mit der Übernahme des Grundgesetzes leider nicht gekommen ist.Jetzt wird in Deutschland der Ruf nach einem Kassensturz laut. Man hat den Eindruck, Deutschland sei eine Pommes-Bude geworden oder ein Bauchladen für „Möllemanische Bauchredner".
Ich verweise auf das Gutachten des Sachverständigenrates. Er hat im letzten Jahreswirtschaftsgutachten unmißverständlich dargelegt: Die Finanzpolitik der Bundesregierung wählte den Weg, der von seiten der Interessengruppen den geringsten Widerstand erwarten ließ. Das bedeutet erstens, sie hat die öffentlichen Schulden in außerordentlicher Weise erhöht; 190 Milliarden DM im Moment und damit wesentlich mehr, als sie ursprünglich ausgewiesen hat. Hier wird ein enormes Finanzierungsdefizit deutlich, die ganzen Schattenhaushalte gar nicht mitgerechnet, die im Moment fast nicht mehr überschaubar sind.
Zweitens bedeutet diese Schuldenpolitik, die Finanz- und Steuerpolitik zur Finanzierung der deutschen Einheit schonte die höheren Einkommen. Die Hauptlast war von den unteren Einkommensbeziehern zu tragen. Die Solidarität ist ohnehin auf den Kopf gestellt.Meine Damen und Herren, wir stimmen Herrn Köhler zu. So kann es nicht weitergehen. Eine grundlegende Korrektur der Finanzpolitik ist überfällig. Wir haben heute eine Große Anfrage zur Finanzpolitik eingebracht. Wir wollen endlich sehen, wie sich die Bundesregierung einen Kurswechsel in der Finanz- und Wirtschaftspolitik vorstellt. Wir werden in dieser Frage zumindest an Schubkraft nicht nachlassen.
Nunmehr spricht die Frau Abgeordnete Ina Albowitz.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bevor die SPD ihre nächste Aktuelle Stunde beantragt, sollten die Sozialdemokraten eine Sammelbestellung für Lesebrillen aufgeben; denn wer am vergangenen Wochenende aus den Interviews von Bundesministern Pläne für einen Kahlschlag in der Sozialpolitik herausliest, muß schon an einem nicht zu unterschätzenden Sehfehleroder an einer in Wahlkämpfen ausufernden Phantasie leiden.
Das gleiche gilt im übrigen — ich sage das in aller Deutlichkeit — auch für einige CDU-Kollegen in diesem Hause.
Lesefehler haben sich wohl vor allem bei der Lektüre des Interviews von Bundeswirtschaftsminister Jürgen Möllemann mit der „Berliner Zeitung" eingeschlichen, auf das sich der SPD-Antrag vor allem bezieht.
— Wir können ja eine Sammelbestellung machen. Ich nehme die Angebote gerne entgegen.Dabei hat der Wirtschaftsminister nichts anderes getan, als seine Pflicht in einer schwierigen politischen Lage zu erfüllen. Er wies nämlich darauf hin,
daß derzeit äußerste Sparsamkeit notwendig ist, um den wirtschaftspolitischen Spielraum des Staates zu erhalten und negative Auswirkungen auf die Qualität des Standortes Deutschland zu verhindern.Es wäre sogar fahrlässig und unverantwortlich, dies jetzt zu unterlassen; denn es ist höchste Zeit, das Bewußtsein für sparsamere Haushaltsführung zu schärfen. Wenn ich die Debatte bis heute hin verfolge, kann ich feststellen: Wir sind uns fast alle einig. Hier müssen sich alle an die eigene Nase fassen.
— Ja, vielleicht; aber auch Sie. Ich komme noch dazu.Wenn ich mir überlege, mit welchen Ausgabenwünschen ich als Berichterstatterin im Haushaltsausschuß vor allem von den Sozialdemokraten überflutet werde, dann frage ich mich, ob die Beteuerungen, daß etwas geändert werden muß — von Ihnen vor allen Dingen —, nur Lippenbekenntnisse sind.
Die Forderungen nach „mehr" werden weiterhin unverdrossen vorgetragen. Man weiß zwar, daß gespart werden muß. „Aber bitte nicht bei mir, sondern bei allen anderen", heißt es in schöner Regelmäßigkeit. Konsequenzen aus der angespannten Finanzsituation werden meistens nur halbherzig gezogen.Es ist nicht zu leugnen, daß wir derzeit zu viele Schulden machen. Deshalb ist es nicht nur notwendig, auf Grund der Verpflichtungen in den neuen Bundesländern und in Osteuropa neue Prioritäten zu setzen — wie auch der Bundeskanzler betont hat —, sondern gleichzeitig unvermeidbar, dafür an anderer Stelle Ausgaben einzusparen. So etwas ist nicht populär, aber notwendig.
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Ina AlbowitzWir dürfen auch nicht mehr viel Zeit mit Wachrütteln verschwenden, sondern müssen uns aufs Handeln konzentrieren. Bei Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, bezweifele ich, ob dieses Bemühen jemals erfolgreich sein wird;
denn diejenigen, die am wenigsten Einsicht in die neue finanzpolitische Situation zeigen, sind mit Abstand die Sozialdemokraten.
Ihr finanzpolitisches Fundament für waghalsige, unkontrollierbare Ausgabenwünsche ist auf rieselndem Sand gebaut. In diesem traurigen Wettbewerb stehen sich Bundes- und Länder-SPD in nichts nach.Ein Haushaltssicherungsgesetz gäbe es mit Sicherheit schon längst, wenn die SPD die finanzpolitische Verantwortung tragen würde.
— Oh ja, meine Damen und Herren. Frau Matthäus, Sie müßten es wissen. Wir beide wissen, daß Sie es wissen müssen.Oskar Lafontaine macht im Saarland bereits vor, wie ein finanzpolitisches Chaos aussieht. Herr Schreiner, Sie können noch so laut schreien. Es nützt nichts, die Wahrheit bleibt die Wahrheit.
Zu einer außerordentlich sparsamen Haushaltsführung müssen alle beitragen. Daß dabei jede staatliche Leistung vorbehaltlos geprüft werden muß, ist wohl selbstverständlich; denn wenn wir gleich zu Beginn der Diskussion Tabus errichten, kann diese Prüfung nicht gelingen. Ein Tabu bleibt selten allein.
Natürlich befürwortet kein F.D.P.-Politiker und keine F.D.P.-Politikerin eine Politik des sozialen Kahlschlags, die uns jetzt aus Wahlkampfgründen immer wieder unterstellt wird. Die F.D.P. ist keine Partei der sozialen Kälte.
Die von uns mitgetragenen umfassenden Leistungen für die Betroffenen des Strukturumbruchs in den neuen Bundesländern sind ein Beweis dafür. Auch wir wollen weder den derzeitigen Familienlastenausgleich noch die Verbesserung durch das Steueränderungsgesetz in Frage stellen.Aber verantwortungsvolle Haushaltspolitik ist die Voraussetzung für eine gute Konjunktur und damit für Investitionen und Arbeitsplätze. Das ist sozialer als eine unbedachte, kurzsichtige Finanzpolitik, die die Grundlagen unserer Wirtschaft bedroht.
Das Wort hat der Abgeordnete Helmut Esters.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Sparsamkeit, Frau Kollegin Albowitz, ist sicherlich keine Erfindung der F.D.P. Dies weiß ich. Nur, vergessen Sie doch bitte nicht: Die dicksten Berge gab es, wenn Schulden gemacht wurden oder werden mußten, immer mit den Liberalen.
Die Union wird sich noch daran gewöhnen müssen, daß sie eine Zeit später von den selben Liberalen den Vorwurf der Erblast zu hören bekommt.
Herr Kollege Fuchtel, denken Sie doch bitte einmal an eines — bei allem polemischen Streit und bei aller unterschiedlichen Einschätzung der weltwirtschaftlichen Lage, von der wir abhängig sind und immer waren —: Den Schuldenteil, den wir aus weltwirtschaftlichen und konjunkturpolitischen Notwendigkeiten eingegangen sind -- mit Unterstützung der Liberalen übrigens —, hat das Bundesverfassungsgericht für rechtmäßig befunden. Sie haben doch geklagt, und Karlsruhe hat uns gesagt: Die Finanzpolitik in der historischen Situation war richtig.Wenn der Kollege Weng uns sagt, wir sollten die Personengruppen nennen, denen wir etwas wegnehmen wollen, dann muß man doch sagen, Frau Albowitz: Wir dürfen nicht nur um Milliardenbeträge, wir dürfen auch wieder einmal um Millionen feilschen.
Es geht nicht nur um Milliarden, sondern auch schon mal um Millionen, und dann würde ich als erstes den Teil nehmen, der davon herrührt, daß wir so überbesetzte Etagen auf der politischen Führungsebene der Bundesregierung haben.
Es ist doch ein völliger Witz, wenn wir aus anderen Gründen zur Finanzierung Steuern erhöhen müssen, und gleichzeitig geht die Bundesregierung, die diese Vorschläge macht, nicht mit gutem Beispiel voran.
Denn diese Überbesetzung der Führungsetage führt auch dazu, daß wir wer weiß wie viel mehr Stellen bewilligen müssen, nämlich für Leute, die denen zuarbeiten.
Daran liegt es doch!Herr Staatssekretär Carstens, ich weiß, daß Sie am liebsten den Bundeshaushalt in isolierter Betrachtungsweise nehmen; nur haben Sie selber dankenswerterweise schon darauf hingewiesen: Im Ausschuß Deutsche Einheit ging es damals darum, wie die zwischen 300 und 600 Milliarden aus den Einnahmen, die für die Treuhand erwartet wurden, wohl am besten verteilt werden konnten.
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Helmut Esters— Ja, sicherlich. Wir haben geglaubt, die Regierung wüßte mehr, weil sie doch über den Einigungsvertrag verhandelt hatte.
Wir sind jetzt in der Situation, wo wir rund 270 Milliarden DM in 1995 aus dem Bereich der Treuhand zu erwarten haben, die vom Bund zu tragen sind und nicht, wie Staatssekretär Carstens so schön sagt, gesamtstaatlich irgendwie zu verteilen seien.
Da ahne ich schon Schlimmes. Da will er nämlich die armen neuen Länder in die Verantwortung ziehen, und dies darf nicht geschehen.
Der nächste Teil ist: Jeder von uns weiß doch, speziell bei den Verkehrspolitikern und bei den Haushaltspolitikern, welch schwierige Aufgaben im Bereich der deutschen Bundesbahn und der Reichsbahn vor uns liegen. Wie soll es denn anders sein, als daß — so die Gutachter — rund 165 Milliarden DM dann zusätzlich im Schuldenteil von uns übernommen werden müssen?Nehmen Sie bitte noch eines zur Kenntnis: Wenn sich maßgebliche Mitglieder der Koalition und der Bundesregierung außerhalb dieses Parlaments über die Staatsverschuldung ernsthaft Gedanken machen,
dann ist es nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht der Opposition, dies im Parlament zur Sprache zu bringen. Allerdings sind wir enttäuscht, daß genau diejenigen, die in den Wochenendkommentaren das alles von sich geben,
dann, wenn es hier ansteht, nicht anwesend sind oder sein können.
Nunmehr hat der Parlamentarische Staatssekretär Klaus Beckmann das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Tat ist es so: Die Haushaltspolitik gleicht einer Gratwanderung.
Erstens. Die Verwirklichung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im ganzen Bundesgebiet macht noch auf Jahre hinaus beträchtliche finanzielle Anstrengungen zugunsten der neuen Bundesländer notwendig. Zweitens. Gleichzeitig müssen geradeauch die finanzwirtschaftlichen Grundlagen für weiter steigende Investitionen, Beschäftigungszuwächse und Wohlstand bei intakter Umwelt in ganz Deutschland gestärkt werden.Die Hauptgefahr für ein Mißlingen dieser Gratwanderung liegt in einer Überforderung durch zu weit gesteckte Ansprüche an den Staat und an die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft. Wenn sie nicht auf ein vertretbares Maß zurückgeführt werden, besteht das Risiko eines nicht nur kurzfristigen Abrutschens der Konjunktur; dann können auch die Chancen für die weitere wirtschaftliche Entwicklung, für die Expansion in Gesamtdeutschland nicht genutzt werden. Darauf wollte der Bundeswirtschaftsminister mit seinen Äußerungen hinweisen. Er hat recht, und er hat pflichtgemäß gehandelt.Die im Zuge der Herstellung der Einheit Deutschlands angestiegene Abgabenlast und die hohe staatliche Neuverschuldung dürfen kein Dauerzustand werden. Die solide Finanzpolitik, auf die der Kollege Carstens eben schon richtigerweise hingewiesen hat,
und die dadurch möglichen Steuersenkungen waren es in hohem Maße, die nach 1982 den während der 70er Jahre verschütteten wirtschaftspolitischen Handlungsspielraum wieder eröffnet hatten. Dies ist auch in der jetzigen schwierigen Situation des vereinten Deutschland der richtige Weg. Davon sind wir zutiefst überzeugt. Dieser Weg darf jetzt auch nicht von denen in Frage gestellt werden, die davon durch mehr Arbeitsplätze und höhere Arbeitnehmereinkommen profitiert haben.Im Jahreswirtschaftsbericht 1992 hat die Bundesregierung ihre Absicht bekundet, alle öffentlichen Ausgaben — ich betone: alle öffentlichen Ausgaben! — einer grundsätzlichen Überprüfung zu unterziehen und dabei neue Prioritäten und Schwerpunkte zu setzen. Nichts anderes hat der Bundeswirtschaftsminister mit seinen Äußerungen gesagt.
— Frau Kollegin Matthäus-Maier, die Finanzierung der deutschen Einheit kann nur auch Einsparungen an anderen Stellen ermöglicht werden.
Ich wäre einmal interessiert daran, zu erfahren, wo denn die SPD-Fraktion ihre Schwerpunkte zu setzen gedenkt.
Ich höre immer nur: Jäger 90. Es müssen ein Dutzend Entwicklungsprogramme sein, die Sie meinen, aber nicht ein einziges.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6797
Parl. Staatssekretär Klaus BeckmannMeine Damen und Herren, das alles hat nichts mit dieser künstlich aufgeblasenen Diskussion um einen etwaigen Sozialabbau zu tun.
Ich will Ihnen zwei Beispiele nennen: Die Wirtschaft sagt uns immer wieder, daß die zu geringe Differenz zwischen ABM-Entgelten und Arbeitslohn am Markt wirtschaftspolitisch kontraproduktiv ist. Zweitens. Wir haben der Wirtschaft im Interesse der Arbeitsplätze und zur Sicherung des sozialen Netzes versprochen, die Lohnnebenkosten nicht weiter zu erhöhen. Dazu gehören auch die Gesundheitskosten. Ich denke, wir müssen ganz nüchtern prüfen, was wir uns weiter leisten können und leisten wollen.Ich will in diesem Zusammenhang, auch um die Nachdenklichkeit bei der SPD-Opposition ein wenig anzuregen, aus einem Papier eines Mitglieds der SPD-Fraktion vom Januar dieses Jahres zitieren. Dieser von mir sehr geschätzte und erfahrene Kollege sagt:Wenn angesichts der bereits eingetretenen Überlastungen der staatlichen Leistungsfähigkeit, der vor uns stehenden weiteren Belastungen — neue Länder, Osteuropa — und der gleichzeitigen Bedrohung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft durch die südostasiatischen Länder zum Sparen aufgefordert wird, müssen zugleich die Felder und die Beträge genannt werden. Wenn wir Steuererhöhungen ablehnen und gleichzeitig mehr Sozialprogramme fordern, werden wir nicht mehr ernst genommen.Ich kann mich ihm nur anschließen.
Meine Damen und Herren, für das Vertrauen der Investoren und die Entwicklung an den Kreditmärkten ist es entscheidend, daß der weitere Kurs der Finanzpolitik die Erwartung einer wieder rückläufigen öffentlichen Neuverschuldung bestätigt. Für den Bund legen wir diesen Kurs mit dem Haushalt 1993 und der Finanzplanung bis 1996 fest. Beides muß in diesem Juli stehen. Die Vorschläge, wie sich die Ausgaben ohne ein Haushaltssicherungsgesetz reduzieren lassen, müssen vorher auf den Tisch. Darüber sollten wir in diesem Hause gemeinsam reden.Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hellwig.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon sehr bemerkenswert, daß sich dann, wenn wir über den hohen Schuldenstand der öffentlichen Haushalte sprechen, besonders laut diejenigen in der SPD zu Wort melden, die am wenigsten Grund dazu haben.
Meine Damen und Herren, wenn man nachschaut, wie es dort, wo Sie verantwortlich sind, aussieht,
dann halten Sie einen Vergleich sehr schlecht aus!
Besonders laut rufen der ständige Katastrophenmelder Lafontaine und der Wahlkämpfer Engholm.
Es ist dann legitim, ihn mit dem anderen Wahlkämpfer Erwin Teufel zu vergleichen.
— Na, was ist denn? Das ist doch eine reine Wahlkampfveranstaltung hier. Dient ja auch der Kosteneinsparung.
— Deswegen haben Sie es ja beantragt.
Der Schuldenstand, gemessen an der Einwohnerzahl, beträgt in Baden-Württemberg 3 600 DM pro Kopf, in Schleswig-Holstein 6 900 DM pro Kopf
und im Saarland 9 900 DM pro Kopf.
Meine Damen, meine Herren, weder die Zuhörer noch die Stenographen kommen mit, wenn Sie in dem Umfang Zwischenrufe machen. Also, wenn schon, dann gezielt und mit der nötigen Präzision.
Ja, das tut weh! Ich wiederhole: Baden-Württemberg 3 600 DM, Saarland 9 900 DM. Das heißt auf deutsch: Wenn Lafontaine die Wahlen gewonnen hätte, wäre der Schuldenstand der Bundesrepublik dreimal so hoch, wie er tatsächlich ist.
Es ist auch sehr gut erkennbar, warum Lafontaine seine Kampagne gegen die Wirtschafts- und Währungsunion gemacht hat.
— Hören Sie nur zu. Geben Sie sich einmal Mühe, ein bißchen zuzuhören.Die Europäische Zentralbank bekommt bessere Instrumente, als die Bundesbank sie hat. Wenn die Bundesbank die Instrumente hätte, die die Europäische Zentralbank bekommt, könnte sie z. B. ein Land
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6798 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Dr. Renate Hellwigwie das Saarland, das seinen Haushalt nicht im Griff hat, durch eine Vorwarnung und später durch eine Streichung von Euro-Geldern dafür bestrafen, meine Damen und Herren.
So solide ist die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion!
Verständlich, daß ein Schuldenmacher wie Lafontaine da „auweia" schreit und diesen Kelch an sich vorbeigehen lassen möchte.
Sehen Sie, meine Damen und Herren, jetzt kommen wir zum heutigen Schuldenstand. Ein unmittelbarer Vergleich, denn den Bürger interessieren insbesondere Zahlen.
— Es ist schon bemerkenswert, daß Sie bei mir ununterbrochen quatschen. Das, was ich Ihnen erzähle, tut den Genossen wohl besonders weh.
Von 1977 bis 1982 haben sich die Ausgaben im Bundeshaushalt um 74 Milliarden DM gesteigert. 74 Milliarden DM mehr Ausgaben 1982 im Vergleich zu 1977! Dagegen die Einnahmen: nur 39 Milliarden DM mehr 1982 im Vergleich zu 1977. Das war von der SPD verantwortete Politik.
Demgegenüber CDU-Politik: von 1983 bis 1989 mehr Ausgaben von 43 Milliarden DM, Einnahmen im Vergleich 1983/1989 56 Milliarden DM mehr! Das heißt, die CDU hat schrittweise weniger ausgegeben, als sie eingenommen hat. Das sind die Zahlen, die den Bürger interessieren, meine Damen und Herren.
Das sind sie, die knallharten Zahlen!
Ich halte es für die SPD geradezu für gefährlich, wenn sie eine Finanzdebatte vom Zaun bricht. Denn sehen Sie sich einmal die Kompetenzzahlen an. Wer hat die Landesverschuldung nach Ansicht der Bürger besser im Griff? Die Bürger in Baden-Württemberg sagen zu 30 % CDU, zu 15 % SPD; in Schleswig-Holstein zu 23 % CDU, zu 19 % SPD. Also selbst dort, wo sie an der Regierung ist und wo grundsätzlich Vertrauen herrscht, liegt die SPD zurück.
Wirtschaftswachstum: 57 % in Baden-Württemberg CDU, 4 % SPD; in Schleswig-Holstein trauen es 38 % der CDU zu, nur 12 % trauen es der SPD zu.
Ich halte es also unter diesem Gesichtspunkt für geradezu gefährlich für die SPD, eine Finanzdebatte anzufangen, denn je kritischer die Finanzlage ist, desto weniger ist der Bürger zu dem Leichtsinn bereit, die SPD zu wählen. Das war schon immer so.
Er wählt die SPD nur, wenn es ihm gutgeht und die Zukunft finanziell rosig ist. Diesmal geht es ihm gut, aber die Zukunft ist nicht rosig genug, um SPD wählen zu können.
Das muß das Ergebnis der Aktuellen Stunde sein.
Das Wort hat der Abgeordnete Austermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD hat eine Aktuelle Stunde beantragt, um etwas zum Thema der Haushaltsfinanzen zu sagen und um die Haushaltszahlen ins Gerede zu bringen. Dabei sind Äußerungen gemacht worden — insbesondere vom Kollegen Esters —, zu denen ich etwas sagen will. Ich möchte sodann vielleicht auch auf die ganz konkreten Auswirkungen der Haushaltspolitik auf den einzelnen Bürger zu sprechen kommen.Lieber Kollege Esters, kein Bürger ist so vergeßlich, daß er sich nicht an den 14. Februar dieses Jahres erinnert, an den Tag, als der Bundesrat zusammensaß und klar erkennbar war, wer den neuen Bundesländern gegenüber solidarisch war und wer nicht.
Diese Frage ist ganz klar beantwortet worden, als Björn Engholm gesagt hat, er wünsche, Herr Stolpe hätte noch drei Monate gewartet.
Er konnte aber nicht mehr warten, weil er die Unterstützung und die Solidarität brauchte.Meine Damen und Herren, ich glaube, die Situation der öffentlichen Finanzen rechtfertigt kein destruktives Gerede. Es gibt ein paar Punkte, an denen man festmachen kann, ob die Finanzen in Ordnung sind oder nicht: Inflationsrate, Schulden, Zinsen, Beschäftigung und Wachstum.Wie sieht es denn nun mit dem Wachstum aus? Es ist unbestritten — kein Sachverständiger sagt etwas anderes —: Es wird in diesem Jahr zwar ein geringeres wirtschaftliches Wachstum als im Vorjahr geben, aber es wird ein wirtschaftliches Wachstum geben, und zwar im zehnten Jahr nacheinander. Dies ist ja wohl
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Dietrich Austermanndoch von einer gewissen Bedeutung in bezug auf die sonstigen finanziellen Folgen.Die Inflationsrate ist zwar hoch, aber Helmut Schmidt wäre froh gewesen, wenn er 1980, 1981, 1982 eine Rate in dieser Höhe gehabt hätte.
Ich nenne ferner die Lage auf dem Arbeitsmarkt. Im Februar dieses Jahres ist die Zahl der Arbeitslosen zurückgegangen. Das hat es in keinem Februar vorher gegeben. 3 Millionen neue Beschäftigungsverhältnisse konnten in den letzten Jahren geschaffen werden.Die Zinsen sinken seit einiger Zeit. Dies gilt insbesondere für die langfristigen Zinsen für Investitionen.Nun komme ich zum Thema Verschuldung; der Kollege Borchert hat darauf hingewiesen. Wenn Sie den Durchschnitt der Jahre 1982 bis 1989 zugrunde legen und gleichzeitig die Zinszahlungen berücksichtigen
— und den Bundesbankgewinn mit einbeziehen —, dann werden Sie feststellen, daß keine Nettoentnahme auf dem Kapitalmarkt stattgefunden hat, sondern daß die Verschuldung in der Tat geringer geworden ist. Die Neuverschuldung betrug im Rekordjahr 1989 lediglich 15 Milliarden DM.Frau Matthäus-Maier, Sie können hier nicht ständig tricksen, indem Sie versuchen, alles in einen Topf zu werfen. Auf der einen Seite soll der Bund für die Finanzen der Dörfer und Gemeinden — z. B. in Sankt Augustin, Köln und Umgebung — verantwortlich sein,
während der Bundesregierung auf der anderen Seite auch die Finanzen der Bundesländer, in denen Sie politische Verantwortung tragen, angelastet werden sollen. Die Finanzen der Bundespost sind, meine ich, auch nach Ihrer Meinung sicher relativ geordnet. Dann erwähnen Sie den Kreditabwicklungsfonds, der die Altschulden der DDR auffängt. Diese Schulden sollen wir angeblich auch gemacht haben. So kommen Sie zu der Rekordzahl von 188 Milliarden DM. Erinnern Sie sich daran, daß Sie für das vorige Jahr 200 Milliarden DM prognostiziert haben, während es nur 130 Milliarden DM waren, und zwar für Bund, Länder und Gemeinden insgesamt. Ich glaube, mit dieser Trickserei kommen Sie nicht weiter.
Lassen Sie sich doch einmal ganz genau sagen, wie die Perspektive für die Bürger in diesem Jahr aussieht. Sie reden immer von zusätzlichen Belastungen. Ich stelle fest: Der Bürger wird in den nächsten Tagen und Monaten im eigenen Portemonnaie spüren, daß die Belastungen sinken. Rückwirkend zum 1. Januar steigen die Leistungen für Familien und die Steuerfreibeträge je Kind. Das heißt: Eine durchschnittliche Familie mit 3 900 DM Bruttoeinkommen wird rückwirkend ab 1. Januar für das erste Kind mehr Kindergeld und höhere Steuerfreibeträge erhalten. Das macht 57 DM pro Monat mehr aus. Wahrscheinlich im April wird es eine Nachzahlung geben. Sie beträgt für eine durchschnittliche Familie 230 DM.Wenn Sie sagen, die Steuerbelastung steige ständig, sage ich Ihnen weiter: Am 1. Juli wird der Solidarbeitrag auslaufen. Auf das Jahr bezogen heißt das, daß dem Staat etwa 20 Milliarden DM weniger zufließen. Das bedeutet umgekehrt, daß die Bürger 20 Milliarden DM mehr für den Konsum zur Verfügung haben. Und Sie reden von einer zusätzlichen Steuerbelastung der Bürger! Es ist doch töricht, das dem Bürger einreden zu wollen. Allein der Wegfall des Solidarbeitrags bedeutet für den durchschnittlichen Steuerzahler einen Betrag von 80 DM bis 100 DM im Monat.
Ich glaube, das macht deutlich, daß Sie nicht von ständig steigenden Belastungen reden können.Sie haben dauernd den Herrn Köhler erwähnt. Lesen Sie bitte den Aufsatz. Dann werden Sie wissen, daß er wohl gewarnt und gesagt hat, daß wir das Geld zusammenhalten müssen, aber gleichzeitig auch gesagt hat, daß großartige Erfolge erreicht seien.Jetzt in ungewöhnlichen Zeiten die Haushaltsplanung zu kritisieren ist sicher falsch, weil man weiß, daß wir auf einem guten Wege sind.
Das Haushaltsvolumen wird auch in diesem Jahr unterschritten, nicht überschritten. Es wird keine neuen Steuern und keine neuen Abgaben geben.
Ich glaube, es ist deutlich, daß auch die Nettokreditaufnahme weiter zurückgeführt wird. Was von Ihnen, Frau Matthäus-Maier, und von Frau Simonis kommt, kann niemand mehr ernst nehmen, der ein bißchen von den Fakten kennt. Wenn wir Karneval hätten, würde ich sagen: Simonis und Matthäus-Maier, das gibt doch nur Finanzgeeier.
Nun hat der Abgeordnete Poß das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Borchert hat vorhin von den Brandstiftern gesprochen. Wir haben in der Tat zwei Brandreden gehört, zwei schleswig-holsteinische Brandreden. Die von Frau Hellwig hat zudem wirklich jedes Niveau vermissen lassen.
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Joachim PoßHerr Borchert hat mit dem bekannten Gestus des Biedermanns das Geschäft des Verschleierns betrieben. Sie haben von den „Prognosen der SPD" gesprochen, Herr Borchert. Wir haben uns leicht verschätzt. Wir haben nämlich unterschätzt, was die Notwendigkeit von Finanztransfers von West nach Ost für die nächsten Jahre angeht.
Lesen Sie doch Miegel, Biedenkopf-Institut. Lesen Sie Biedenkopf und andere. Was sagen die denn über die Notwendigkeit des Anpassungsprozesses? In drei oder vier Jahren blühende Länder? Oder sprechen sie von 10 oder 15 Jahren oder von noch längeren Zeiträumen? Wer hat hier geschwindelt, Herr Borchert?
Wir müssen doch einmal feststellen, daß Sie hier wirklich geschwindelt haben: einerseits mit dem Versprechen des Bundeskanzlers vor der Wahl, keinem werde es schlechter gehen, andererseits mit der Ankündigung, der Aufbau Ostdeutschlands verlange echte Einsparungen und damit auch reale Einkommensverzichte im Westen. Das hat der Herr Köhler letzte Woche gesagt, der zuständige Staatssekretär für Grundsatzfragen. Man kann ihn in diesem Zusammenhang als Kohls Minenhund bezeichnen, weil er vorgeschickt wird, um dem Volk langsam zu vermitteln, was Sache ist. Das macht Kohl vor dem 5. April nicht persönlich. Sonst müßte er vor die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion treten, eine Fraktionspredigt halten und sagen: Wie habe ich mich doch geirrt! Das will er natürlich vermeiden.Aus den Äußerungen von Köhler ergibt sich: Die Aussage des Bundeskanzlers vor der Wahl war falsch.
Dabei spielt es keine Rolle, ob der Bundeskanzler bewußt die Unwahrheit gesagt hat, um die Wähler zu täuschen, oder ob er sich selbst über die wahre Dimension der finanziellen Probleme getäuscht hat.
Beides ist für sich gesehen schlimm.
Beängstigend ist aber, daß auch jetzt noch auf Grund der falschen Aussagen des Bundeskanzlers maßgebende Koalitionspolitiker die tatsächliche finanzielle Situation unseres Staates nicht erkennen oder nicht erkennen wollen. Die Zeit des Schönredens ist jetzt endgültig vorbei.
Die Warnung von Köhler, daß die finanzpolitischenWarnsignale rot aufleuchten, von der Politik abernicht ausreichend zur Kenntnis genommen werden,geht in erster Linie an Sie, meine Damen und Herren von der Koalition.
Die Bundesregierung muß endlich einen ehrlichen und ungeschminkten Kassensturz vornehmen.Wann, so fragen wir die Bundesregierung, werden Sie die Warnung Ihres eigenen Staatssekretärs ernst nehmen, und wann werden Sie Ihren Parteifreunden endlich reinen Wein einschenken? Wenn Sie das nämlich schon gemacht hätten, würde der Ablauf der Aktuellen Stunde hier ein wenig anders sein, was die Argumente angeht. Auch die Auseinandersetzung in den Wahlkreisen wäre von seiten von CDU-Bundestagsabgeordneten nicht so sehr von Waschmittelreklame geprägt,
wie sie — wahrscheinlich aus Unkenntnis — in vielen Fällen anzutreffen ist.Auch die Bürger haben ein Recht darauf, daß ihnen endlich die Wahrheit über die Finanzen gesagt wird.
Sie haben ein Recht darauf, daß ihnen auch vor wichtigen Wahlen gesagt wird, ob auf sie weitere Steuer- und Abgabenerhöhungen zukommen.
Köhler spricht von realen Einkommensverzichten. Möllemann fordert sogar Einschnitte bei Sozialleistungen.
Andererseits will Möllemann wie Faltlhauser den Spitzensteuersatz von 53 % auf 46 % senken.
Ist Ihnen eigentlich klar, meine Damen und Herren, wie sich die von Ihnen bisher durchgesetzten Steuer- und Abgabenerhöhungen auf die Bürger auswirken? Ist Ihnen eigentlich klar, daß die F.D.P. mit Unterstützung von Teilen der Union dabei ist, unter dem Deckmantel der Finanzierung der Einheit eine riesige neue Umverteilung von den sozial Schwachen hin zu den Reichen in unserer Gesellschaft zu planen.
Wenn die Regierungskoalition von Solidarität spricht, meint sie regelmäßig Mehrbelastungen für die Masse der Bürger. Für die Durchschnittsverdiener sind die Belastungen aus den Steuer- und Abgabenerhöhungen des letzten Jahres höher als die Entlastungen durch die Steuerreform 1990.
Dagegen haben die Bezieher hoher Einkommen unter dem Strich eine kräftige Entlastung erhalten. Mit der jetzt beschlossenen Mehrwertsteuererhöhung für alle Bürger bei gleichzeitiger Senkung der Vermögen-
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Joachim Poßsteuer und der Gewerbesteuer im Umfang von etwa 4,5 Milliarden DM jährlich hat die Bundesregierung diesen Weg noch weiter fortgesetzt.
Haben Sie eigentlich jedes Gefühl dafür verloren, was den Bürgern noch zugemutet werden kann, meine Damen und Herren von der Koalition?
Auf der einen Seite fordern Möllemann und Faltlhauser die Senkung des Spitzensteuersatzes — das ist keine Unternehmensteuerreform; davon profitieren Manager, Ärzte, Fußballprofis und Minister mit 5 000 DM, nach gegenwärtigem Stand; Herr Möllemann schlägt also für sich eine Steuerentlastung von 5 000 DM vor —, und bei anderen wollen sie an die Sozialleistungen. Schlimmer geht es in der Tat nicht mehr.
Was sagt der soziale Teil der Union? Wie sprach Herr Blüm noch bei der letzten Spitzensteuersatzsenkung: Schlag ins Gesicht der Malocher. Herr Schmitz, wie wollen Sie eine solche Maßnahme vor Ihren Wählern in Nordrhein-Westfalen vertreten? Ich bin einmal gespannt, was Geißler, Scharrenbroich und andere zu diesem Tatbestand sagen werden.
Die von Herrn Faltlhauser angekündigte Anhebung des Grundfreibetrages ist dagegen äußerst mickerig. Für die große Zahl der Einkommensteuerzahler — —
Herr Abgeordneter Poß, Sie wissen — —
Ich komme zum Ende.
Das wäre in der Tat sehr wünschenswert. Sie haben die Zeit nämlich schon deutlich überschritten.
Letzter Satz: Auch diese viel zu geringe Anhebung des Grundfreibetrages, Herr Faltlhauser, soll nur in Stufen erfolgen, wie es zu lesen war, und damit auf die lange Bank geschoben werden. Die Steuerbürger brauchen jetzt Klarheit über die Pläne der Regierung zum Grundfreibetrag, zum Familienlastenausgleich und dazu, wie die Sozialleistungen von dieser Regierung eingeschränkt werden sollen. Diese Klarheit müssen Sie ihnen geben, und zwar vor den Wahlen.
Als letzter Redner in der Aktuellen Stunde spricht der Abgeordnete Dr. Kurt Faltlhauser.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe sehr gerne dieseletzte Position auf der Rednerliste übernommen, weil ich dachte, auf Herrn Poß müsse man, weil er qualifizierte finanzpolitische Dinge vorbringt, irgendwelche Antworten bereit haben. Aber ich habe nur die alte Leier gehört; es rentiert nicht, darauf einzugehen.
Es war wieder die alte gelbe Rede des Neides.
Nur zwei Anmerkungen, Herr Poß: Sie sprechen immer von Kassensturz. Damit versuchen Sie den Eindruck zu erwecken, als wüßte diese Bundesregierung nicht, wie es um die Zahlen aussieht. Sie legt Ihnen aber die Zahlen auch aus den von Ihnen so genannten Schattenhaushalten in ganz klarer Form auf den Tisch. Klarheit ist da. Gleichwohl gibt es natürlich die ständige Notwendigkeit für alle Finanzpolitiker, jede Woche neu kritisch zu überprüfen und zu fragen: Wie steht es mit unseren Finanzen?
Meine Damen und Herren, letztlich hat Frau Kollegin Hellwig doch recht: Der 4. April mit den Wahlen in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein veranlaßt Sie, hier hektisch nach einem neuen Thema zu suchen. Nachdem Sie bei der Lösung des Asylproblems versagt haben,
nachdem Sie in der Frage des Steueränderungsgesetzes auf den Bauch gefallen sind, nachdem Sie im Hinblick auf die Europäische Währungsunion heillose Verwirrung in der Führung zeigen, suchen Sie in diesen Wahlkämpfen mit dramatischer Geste und Tremolo in der Stimme ein neues Thema, gucken im Zettelkasten nach: Was haben wir denn? Und heraus kommt: die „Katastrophe im Haushalt".Das merken die Leute doch, meine Damen und Herren. Vordergründige Scheinheiligkeit ist das!Daß Sie hier scheinheilig sind, zeige ich an einem wesentlichen Beispiel: Die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion hat in einer Pressekonferenz gestern Vorschläge zur Konsolidierung des Haushaltes gemacht. Dabei hat sie neben dem sattsam bekannten Jäger-90-Thema u. a. betont, daß die Bundesregierung ihre Politik des „goldenen Handschlags” beenden müsse, bei der sie voll einsatzfähige Staatsbedienstete mit viel Geld in den Ruhestand schicke.Abgesehen davon, daß die Sozialdemokraten zu ihrer Regierungszeit in dieser Hinsicht Rekorde aufgestellt haben, die nicht mehr einzuholen sind, ist dieser Vorschlag in dieser Woche, heute, am Donnerstag, besonders interessant; denn morgen wird im Bundesrat der Vorschlag der SPD-Regierung von Bremen zur endgültigen Abstimmung stehen, den ehemaligen — durchaus respektablen — Kollegen Grobecker zum Präsidenten der Bremer Landeszentralbank zu machen.
Im Bundesrat steht nun an, daß die SPD-Mehrheitdiesem Petitum zustimmen wird, und dies zwei Tage,nachdem der zuständige Finanzausschuß das Bundes-
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Dr. Kurt Faltlhauserbankgesetz abschließend in zweiter und dritter Lesung behandelt hat, nach dem es in Zukunft einen Präsidenten der Bremer Landeszentralbank gar nicht mehr geben wird.Die SPD wird also einem verdienten Kollegen einen Posten geben, den er praktisch gar nicht mehr antreten wird. Sie gibt ihm damit gleichzeitig das Anrecht auf Abstandszahlungen für das ansehnliche Gehalt bis zum 31. Dezember 1996 inklusive aller daraus folgenden Ruhestandsbezüge. Es wird ein Millionenvertrag sein, den die SPD morgen im Bundesrat mehrheitlich durchziehen will, der ohne irgendwelche erkennbare Arbeitsleistung gewährt werden wird.Frau Kollegin Matthäus-Maier, das ist nicht ein goldener Handschlag, wie Sie es zu formulieren pflegten, sondern ein „goldener Handschlag mit Diamanten„.
Eine Partei, die eine derartige Sache — übrigens ohne Rücksicht auf den Ruf der Bundesbank — durchsetzt, hat den moralischen Anspruch verloren, über jedwede finanzielle Verschwendung zu Gericht zu sitzen; das muß ich deutlich sagen. Das ist ein Skandal.
Ich will auf die Hinweise auf das Saarland gar nicht eingehen. Ich möchte nur sagen: Theo Waigel würde hier als Finanzminister ohne zusätzliche Schulden stehen können,
er könnte Schulden zurückzahlen, wenn die deutsche Einheit, diese schöne Herausforderung, nicht eingetreten wäre. Schulden sind nie schön. Nur, dafür, daß wir Deutschland langfristig wirtschaftlich wieder zusammenwachsen lassen können, rentieren sich diese Investitionen.Ein Letztes: Wir müssen natürlich zusehen, daß wir eine Reihe von Dingen in langfristiger finanzieller, ordentlicher Arbeit sicherstellen:Erstens: Wir benötigen Ruhe an der Steuerfront, keine zusätzlichen Steuererhöhungen.Zweitens: Wir müssen eine mittelfristige finanzielle Konzentration auf die deutsche Einheit sicherstellen.Drittens: Wir dürfen nur noch das Wichtige sehen, nicht unwichtige Inneneinrichtungen unserer Wohlstandsgesellschaft des alten Westens. Wir dürfen die Mittel nur noch für das zwingend Notwendige ausgeben.Viertens: Wir müssen auch weiterhin Wachstum fördern; denn das hat die finanziellen Probleme mit zu lösen geholfen. Wir müssen auch weiterhin einen Grundsatz beherzigen: Runter mit den Steuersätzen, und weg mit den Steuerausnahmen. Das war bisher erfolgreich, und das wird auch in der Zukunft ein erfolgreicher, angebotsorientierter Weg sein.Ich bedanke mich.
Damit sind wir am Ende der Aktuellen Stunde.
Ich kann den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufen. Es handelt sich um den Tagesordnungspunkt 7:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes und zur Änderung des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses
— Drucksachen 12/1643, 12/1774 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 12/2203 —
Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Rolf Olderog
Dr. Willfried Penner
Dr. Burkhard Hirsch
Die Vereinbarung im Ältestenrat lautet: Debattenzeit von einer halben Stunde. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann kann ich die Debatte eröffnen und dem Abgeordneten Rudolf Kraus das Wort erteilen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Kontrolle der Nachrichtendienste durch das Parlament hat sich seit der Einführung der Kontrollkommission im Jahre 1978 als richtig erwiesen.
Die heute in zweiter und dritter Lesung zu verabschiedenden Änderungen basieren weitgehend auf den Erfahrungen hauptsächlich der Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommission im Umgang mit unseren Geheimdiensten.
Bevor ich zu einigen Punkten der Änderungen einige Bemerkungen mache, erlauben Sie mir ein paar grundsätzliche Bemerkungen.
Erstens. Es ist sehr zu begrüßen, daß diese Gesetzesänderungen heute mit großer Mehrheit verabschiedet werden können. CDU/CSU, F.D.P. und SPD haben die notwendigen Änderungen gemeinsam erarbeitet und in den zuständigen Ausschüssen beschlossen. Die Kontrollkommission wird dadurch in die Lage versetzt, besser als in der Vergangenheit ihren Aufgaben gerecht zu werden.
Zweitens. Gleichzeitig machen wir deutlich, daß wir auch in den nächsten Jahren auf geheimdienstliche Tätigkeiten nicht werden verzichten können. Die Aufgaben haben sich durch das Ende der Ost-West-Konfrontationen wesentlich geändert; doch scheinen mir die Herausforderungen für die Dienste in den nächsten Jahren deswegen nicht geringer zu werden. Die zunehmende Internationalisierung des organisierten Verbrechens, die Möglichkeit regional begrenzter Konflikte, die weltweite Herstellung von Waffen und deren Beschaffung zu kriminellen Zwecken sowie ein zunehmend wahrscheinlich werdender Handel mit atomaren, chemischen und biolo-
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Rudolf Kraus
gischen Waffen sowie anderen Massenvernichtungsmitteln erfordern dies. Dazu werden aber unsere Strafverfolgungsbehörden allein nicht ausreichende Erkenntnisse erhalten können.
Drittens. Als derzeitiger Vorsitzender der Parlamentarischen Kontrollkommission danke ich allen Beamten und Mitarbeitern des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des Bundesnachrichtendienstes und des Militärischen Abschirmdienstes für ihre bisher geleistete Arbeit. Sie können versichert sein, daß die große Mehrheit im Deutschen Bundestag wie auch in der Bevölkerung ihre Arbeit und die Notwendigkeit ihrer Tätigkeit anerkennt.
Viertens. Die Dienste sind — wie alle Behörden der Bundesrepublik Deutschland — an die Verfassung, an Recht und an Gesetz gebunden. Daher gibt es auch keinen vermeintlichen rechtsfreien Raum, wie von Kritikern immer wieder behauptet wird. Die Parlamentarische Kontrollkommission sieht ihre Aufgabe außerdem darin, Beschwerden gegen einzelne Maßnahmen eines Dienstes nachzugehen.
Durch die Medien erfahren die Bürger naturgemäß nur die Fehler und Pannen, die — wie auch bei allen anderen Behörden — nie ganz auszumerzen sind. Auch hier ist die Kommission künftig noch mehr gefordert, dafür zu sorgen, daß in solchen Fällen der Sachverhalt schnell geklärt und die Beseitigung des Mißstandes besser als in manch vergangenem Fall dargestellt wird.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte nun noch auf einige wenige Punkte dieses Gesetzes eingehen. Als zunehmend problematisch hat sich in den vergangenen Jahren die Art, der Umfang und der Zeitpunkt der Informationen herausgestellt, die die Kommission erhalten hat. Hier wird durch die Gesetzesänderung eine umfassende Unterrichtungspflicht der Bundesregierung über alle Fälle von besonderer Bedeutung statuiert. Dabei bleibt es bei der Verantwortung der Bundesregierung, zu entscheiden, was ein Fall von besonderer Bedeutung ist.
Im Gegensatz zu manch anderem — auch hier im Haus — bin ich der Auffassung, daß dies in Zukunft nicht dazu führen wird, daß die Regierung nur ihr genehme Fälle zur Sprache bringt.
Die Vergangenheit hat immer wieder gezeigt, daß eine zu späte oder nur unzureichende Unterrichtung der Kontrollkommission zu Mißstimmungen und politischen Auseinandersetzungen geführt hat.
Die Bundesregierung wird darüber hinaus eine Erklärung abgeben, die als fester Bestandteil der Gesetzesänderung der Kommission Akteneinsicht eröffnet sowie es Mitarbeitern der Dienste gestattet, sich unter gewissen Voraussetzungen direkt an die Kontrollkommission wenden zu können. Damit sind eine Reihe von Verbesserungen vorgenommen worden. Inwieweit sich diese bewähren und eine Verbesserung der Arbeit der Kommission ermöglichen, wird die Kommission nicht zuletzt auch durch den mit dieser Änderung eingeführten Bericht an den Deutschen Bundestag darlegen können.
Die Änderung des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses beschränkt sich auf eine Ergänzung bezüglich der Einbeziehung von Abgeordnetenpost bei der Überwachung Dritter. Diese soll künftig grundsätzlich zwar ausgenommen bleiben, jedoch besteht bei dem Verdacht der Fälschung von Aufdrucken, die das Schreiben als Abgeordnetenpost ausweisen, die Möglichkeit der Kontrolle. Ob sich die jetzt gefundene Fassung — mit der meine Partei zwar nicht einverstanden ist, sich aber des Kompromisses wegen dazu verstanden hat — tatsächlich als sinnvoll erweisen wird, ist nach den Stellungnahmen der Bundesregierung und der Länderregierungen sehr zweifelhaft. Hier wird die G 10-Kommission zu prüfen haben, inwieweit durch diese Neuregelung ein Sicherheitsdefizit entsteht und wo möglicherweise Nachbesserungen unvermeidlich sind.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Penner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem Grunde nach haben die politischen Trennlinien auch heute noch Bestand, was Notwendigkeit und Reichweite der Kontrolle der Nachrichtendienste durch das Parlament angeht. SPD wie F.D.P. sind wie früher auch auf mehr parlamentarische Kontrolle und auf mehr Transparenz aus. Die CDU/CSU rückt nach wie vor die Gesichtspunkte der Effizienz der Dienste, der Diskretion und der Fähigkeit zur Zusammenarbeit mit ausländischen Partnerdiensten in den Vordergrund und ist demzufolge zurückhaltender, wenn es um die Kontrollrechte des Parlaments auch auf diesem Sektor geht.Bezeichnenderweise war das 1977 und 1978 auch schon so, als die Kontrolle der Nachrichtendienste erstmals auf eine gesetzliche Grundlage nach einer gemeinsamen Initiative von SPD und F.D.P. gestellt wurde und das bisherige, auf ungeschriebenen Regeln basierende Vertrauensmännergremium ablöste. In der Schlußabstimmung wurde das Gesetz mit großer Mehrheit bei einigen Enthaltungen angenommen. Die seinerzeit oppositionelle CDU/CSU und die Regierungsfraktionen der SPD und der F.D.P. hatten sich aufeinander zubewegt.Aber — auch dies muß gesagt werden — damit ist es nicht der große Wurf geworden. Aus heutiger Sicht ist die gesetzliche Regelung von damals ein Produkt eines eher bänglichen und seine Kontrollrechte und -pflichten eher skeptisch sehenden Parlaments. Denn nach der Entscheidung des Gesetzes und damit des Gesetzgebers haben die zu Kontrollierenden, nicht etwa die Kontrolleure das Heft des Handelns in der Hand, weil „Zeit, Art und Umfang der Unterrichtung" der zudem streng geheimen Parlamentarischen Kontrollkommission durch sie, durch die zu Kontrollierenden, bestimmt wird.So ist denn auch im Laufe der Jahre aus der Kontrolle nichts Rechtes geworden. Die begrenzt auskunftspflichtige Exekutive konnte nicht immer, in
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Dr. Willfried Pennerder Regel kaum, ein gemutmaßtes Interesse der Mitglieder der PKK an spektakulären Fällen befriedigen. Die Kontrolleure, pompös durch das Plenum des Bundestags gewählt, mußten es immer wieder erleben, daß Dritte, zumeist Träger der vierten Gewalt, wesentlich wirksamer sein konnten als der berufene parlamentarische Kontrolleur.Von allen Mitgliedern der Parlamentarischen Kontrollkommission kam in dieser Legislaturperiode der Anstoß, das Gesetz von 1978 zu novellieren, weil vorherige Versuche anderer Art zur Verbesserung der Kontrolle allesamt fehlgeschlagen waren. Übereinstimmend ging es bei Abweichungen im Detail um folgende Gesichtspunkte:Erstens. Parlamentarische Kontrolle der Dienste ist notwendig. Sie ist ein selbstverständliches Korrektiv gegenüber einer auf Diskretion angewiesenen staatlichen Tätigkeit. Der aus Gründen des öffentlichen Interesses, der Staatsräson, unter bestimmten Voraussetzungen belauschbare Bürger muß darauf vertrauen können, daß Kontrolle ausgeübt wird, weil sonst der Bürger in Furcht vor dem Staat die Folge wäre, was für ein liberales Staatswesen nicht tragbar ist.
Die Kontrolle ist auch von der Interessenlage der Dienste her bedeutsam, weil die Dienste darauf angewiesen sind, Teil des demokratischen Ganzen zu sein und nicht daneben zu stehen.Es gibt im übrigen keinen Anlaß, die deutschen Dienste zu dämonisieren und sie in die Nähe solcher Dienste anderer, übrigens nicht nur totalitärer Staaten zu stellen, die ganz massiv eigene Politikziele verfolgen und nahezu grenzenlose Machtmöglichkeiten haben und diese auch ausüben. Die Mitarbeiter der Dienste der Bundesrepublik Deutschland erfüllen einen Auftrag auf gesetzlicher Grundlage. Gerade deswegen müssen sie auch in die Vielfalt parlamentarischer Kontrollmöglichkeiten einbezogen werden, weil sie, die Dienste, auch Teil unseres demokratischen Staatswesens sind.Die Verbesserung der parlamentarischen Kontrolle ist notwendig. Die bisherigen Möglichkeiten der Fachausschüsse im Bundestag, insonderheit die des Rechts- und des Innenausschusses, der G 10-Kommission, des Haushaltsgremiums wie der Parlamentarischen Kontrollkommission reichen nicht aus. Sie dürfen teilweise nur getrennt, ohne erforderliche wechselseitige Information wahrgenommen werden. Die Kontrollpflicht der Bundesregierung über die vorgesehene Rechts- und Fachaufsicht kann parlamentarische Kontrolle nicht ersetzen. Sie hat im übrigen auch nicht immer gegriffen, wie Beispiele gerade aus jüngster Zeit belegen. Der Datenschutzbeauftragte — übrigens immer noch nicht Hilfsorgan des Bundestages — hat es gerade auf diesem Sektor der Kontrolle nicht leicht.Die jetzt zur Abstimmung stehenden gesetzlichen Neuerungen sind das Ergebnis einer fast einjährigen Beratungszeit. Sie werden ergänzt durch die bindende Zusage der Bundesregierung, in Einzelfällen Akteneinsicht und Anhörung von Mitarbeitern der Dienste zu ermöglichen. Zusätzlich wird die sogenannte strategische Briefkontrolle zugunsten derAbgeordneten entsprechend der Regelung des Art. 47 des Grundgesetzes stark eingeschränkt.Von den durchgesetzten Änderungen halten wir Sozialdemokraten die erleichterte Einzelfallüberprüfung für besonders wichtig, auch wenn dies in der bindenderen Form einer gesetzlichen Vorschrift nicht erreicht worden ist. Die Mitberatung der Wirtschaftspläne sowie die Unterrichtung über deren Vollzug kann ein wirkungsvolles Kontrollinstrument werden. Die Lockerung der bisher auch für die Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommission ohne Abstrich geltende Informationssperre kann der Tätigkeit der Dienste wie der PKK nur nützen.Die SPD stimmt dem Gesetz zu und verbindet ihre Zustimmung mit der Erwartung, daß sich künftig auch die Praxis ändert und die Kontrolle nicht nur eine Beteuerung eines neuen Gesetzblatts bleibt.Schönen Dank für die Geduld.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Burkhard Hirsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach den hervorragenden Reden meiner beiden Vorredner kann ich mich auf wenige Bemerkungen beschränken. Dieses ist ja eines jener Gesetze, die einen gewaltigen Ärger und öffentliche Aufmerksamkeit verursachen, wenn sie nicht zustandekommen oder aus irgendeinem Grund hängen bleiben und die dann, wenn sie verabschiedet werden, kaum einen Zwei- oder Dreizeiler in einer Zeitung auslösen. Trotzdem sind sie wichtig. Ich stimme Ihnen völlig zu, Herr Penner: Öffentliche Macht muß so öffentlich wie möglich ausgeübt werden. Da, wo man aus der Natur der Sache heraus Grenzen finden muß, muß man sie so sorgfältig und so skrupulös wie möglich ziehen, um zu verhindern, daß aus gebotener Vertraulichkeit Geheimniskrämerei und Mißtrauen wird. Das darf es in einem demokratischen Staat nicht geben, und die Kontrolle der Dienste sollte nicht allein durch die Medien erfolgen, sondern das Parlament muß wirksame Instrumente haben, um diese Aufgabe vernünftig erfüllen zu können.Ich glaube, daß dieses Gesetz, das mehr Zeit in Anspruch genommen hat, als wir ursprünglich erwarteten, diese Voraussetzungen erfüllt und der Bundesregierung die Möglichkeit gibt, ein Gremium zu haben, das koalitionsübergreifend ist und in dem auch schwierige Dinge mit der gebotenen Vertraulichkeit erörtert werden können; auf der anderen Seite bekommt das Parlament ein Instrumentarium, was ich nicht im einzelnen darzulegen brauche, das die bisher unbefriedigenden Kontrollmöglichkeiten ergänzt und wirksam machen kann.Ich wiederhole, was wir schon in der ersten Lesung gesagt haben, daß es uns nicht etwa darum geht, die Tätigkeit der Dienste unmöglich zu machen. Ich muß sagen, daß insbesondere der so häufig kritisierte Bundesnachrichtendienst ein wichtiges Instrument ist, um internationale Entwicklungen zu erkennen. Wir wollen, daß dieser Dienst leistungsfähig ist.
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Dr. Burkhard HirschVergleicht man die parlamentarischen Kontrollsysteme für die Nachrichtendienste in anderen Ländern, dann sieht man, daß wir mit dem, was wir hier vorschlagen, weit vorne liegen. Ich habe zu meiner großen Überraschung feststellen müssen, daß es in Großbritannien überhaupt keine Kontrolle des Dienstes gibt.
— Mag sein; da kenne ich die Verhältnisse nicht im einzelnen; aber ich bleibe bei den europäischen Ländern. Da liegen wir mit dem, was wir hier tun, weit an der Spitze. Damit, daß es in Großbritannien keinerlei parlamentarische Kontrolle des Dienstes gibt, hat man in diesem Land keine guten Erfahrungen gemacht.Die Wirkungsweise eines Gesetzes hängt immer davon ab, ob von ihm ein vernünftiger Gebrauch gemacht wird. Wir werden unseren Teil dazu beitragen.Ich möchte mich schließlich bei den Kollegen und Herrn Staatsminister Schmidbauer dafür bedanken, daß sie durch ihre Kompromißbereitschaft in der umstrittenen Frage, die das G-10-Gesetz betrifft, also in der Frage, wieweit der Verfassungsschutz auch die Post von Abgeordneten öffnen kann — was nach unserer Überzeugung nicht möglich, nicht zulässig ist —, die abschließende Lesung des Gesetzes ermöglicht und es erreicht haben, daß damit eine alte Streitfrage, wie wir hoffen, Herr Kollege Kraus, endgültig erledigt ist.Wir werden dem Gesetz zustimmen. Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Jelpke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die berühmt-berüchtigten landwirtschaftlichen Nutzfahrzeuge waren noch nicht richtig aus dem Hamburger Hafen zurück in die Obhut der Bundeswehr verbracht worden, da legten Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommission schon einen Entwurf zur Gesetzesänderung der parlamentarischen Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes vor.
Die Eile in diesem Fall sollte überdecken und vertuschen, was nicht nur alle Mitglieder der PKK und dieses Hauses wissen, sondern auch die Menschen draußen im Lande: Die bundesdeutschen Geheimdienste sind nicht zu kontrollieren. Hier wird lediglich Aktivität vorgetäuscht; denn klar ist: Kein einziger Skandal der bundesdeutschen Geheimdienste konnte in der Vergangenheit durch die PKK aufgedeckt werden. Allein die BND-Skandale des letzten Jahres machen für die Bundesregierung natürlich Handlungsbedarf deutlich — und sei es nur, daß man Kosmetik betreibt.
Geht man von Buchstaben und Sinn des bisherigen PKK-Gesetzes aus, dann hätte die Bundesregierung die PKK bisher — ich zitiere — „über Vorgänge von besonderer Bedeutung" unterrichten müssen. In der frostigen Geheimdienstatmosphäre haben wir geradezu ein gigantisches Tauwetter erlebt, als die Bundestagsfraktionen von CSU bis SPD in ihren Gesetzentwurf das Wörtchen „alle" einfügten. Dieser Frühling war nur von kurzer Dauer; denn mittlerweile konnten sich die Parteien darauf verständigen, daß das Wort „alle" wieder zurückgenommen und durch das Wort „die" ersetzt wird.
Ich würde ja nun an dieser Stelle gern behaupten mögen, daß die PKK über alle Skandale der bundesdeutschen Geheimdienste der letzten 13 Jahre im nachhinein informiert worden ist, also über die Existenz und Tätigkeit der bundesdeutschen „Gladio"Truppe, über die Aktivitäten eines Herrn Mauss, über die Irak-Verbindungen des BND zu Zeiten, als Herr Kinkel da noch Chef war, über Operationen bundesdeutscher Geheimdienste mit Neonazis wie bei der „Operation Ulrich", über die Zusammenarbeit des BND mit der KoKo usw. Nur, leider sind auch die PKK-Mitglieder zur Geheimhaltung verpflichtet. Jedenfalls muß man feststellen, daß die PKK in keinem Fall zu einer Aufklärung beitragen konnte.
— Sie können mich ja belehren, wenn Sie gleich dran sind.
Meine Damen und Herren, daß dies alles Operationen von „besonderer Bedeutung" waren, dürfte unstrittig sein. Daß die Politik der Abschottung der Geheimdienste vor parlamentarischer und öffentlicher Kontrolle dadurch gebrochen werden soll, daß durch Gesetzesänderung das Wörtchen „die" eingefügt wird, daß die PKK auch mal Akteneinsicht erhalten und Agenten anhören darf, wenn die Bundesregierung zustimmt, beleidigt schlicht die Intelligenz der Bürger und Bürgerinnen in diesem Land. Solange man der Bundesregierung ein Verweigerungsrecht zum „Quellenschutz und Schutz der Partnerdienste" zubilligt, solange man sich selber einer Geheimhaltung unterwirft, solange man oppositionelle Gruppen aus der PKK heraushält, solange man es hinnimmt, daß sich selbst der Chef des Bundeskanzleramtes heute geheimnisumwittert weigert, die Anzahl der in der ehemaligen DDR tätigen BND-Mitarbeiter auf Anfrage von Bundestagsabgeordneten und Medien mitzuteilen, solange wird es nicht einmal den Ansatz einer Kontrolle geben.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Nunmehr erteile ich der Abgeordneten Frau Wollenberger das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Geheimdienste befinden sich nach dem Ende des Kalten Krieges
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6806 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Vera Wollenbergerund nach ihrer unermüdlichen Skandalproduktion in einer tiefgreifenden Krise und bedürfen dringend neuer Legitimation. Zu dieser Legitimation trägt auch in gern beschworener Abgrenzung zur Stasi der Mythos ihrer demokratischen Kontrolle bei, der durch den heute beratenen Gesetzentwurf neu belebt werden soll.Skandale, die eine solche Gesetzesnovelle notwendig werden ließen, kann ich aus Zeitgründen nur stichwortartig und unvollständig in Erinnerung rufen: Der BND betreut das Ehepaar Schalck und liefert Rüstungsgüter in alle Welt unter Umgehung von Exportkontrollen. Der Verfassungsschutzpräsident lanciert belastende Dossiers gegen den angehenden, politisch mißliebigen brandenburgischen Datenschutzbeauftragten. Dafür bewahrt uns der Verfassungsschutz weder vor ausländerfeindlichen Anschlägen noch vor zunehmendem Neonazismus. Wie auch? Er ist ja nicht einmal in der Lage, seine eigenen Dienste zu schützen, die von Agenten durchsetzt waren, von Agentin Wander bei Reinhard Gehlen über Stasi-Schützmaulwürfe beim BND bis zum Topgespann Kuron/Tiedge beim Verfassungsschutz.Welche Rolle soll nun der PKK zufallen? Mein grüner Kollege von Plottnitz hat aus gegebenem Anlaß seine Erfahrungen so bilanziert: Die PKK diene nur dazu, Parlamentarier als zum Schweigen verpflichtete Mitwisser und Mitverantwortliche in die Geheimdienstmachenschaften einzubinden.
Ich befürchte, daß die hier beratene Novelle zu keinem anderen Ergebnis führen wird; denn der schon bei der Einbringung schwächliche Entwurf ist nach der Ausschußberatung noch weiter verwässert worden.Aus Zeitgründen kann ich unsere bereits in der ersten Beratung vorgebrachten Einwände nicht noch einmal wiederholen. Ich möchte aber auf zwei bezeichnende Details verweisen. Eine umfassende Unterrichtungspflicht der Bundesregierung über Vorgänge von besonderer Bedeutung sah das Gesetz in genau dieser Formulierung bisher vor. Daß statt des Wörtchens „alle" wieder der einfache Artikel „die" — wie im geltenden Gesetz — bevorzugt wird, läßt vermuten, daß die verantwortlichen Abgeordneten lieber nicht alles über die Dienste erfahren wollen. Wie jedenfalls die Bundesregierung diese Formel bisher ausgelegt hat und auch weiter interpretieren wird, ist bekannt bzw. absehbar. PKK-Mitglieder sollen die Öffentlichkeit nicht über in Erfahrung gebrachte Machenschaften der Dienste informieren, sondern lediglich bereits durch die Medien bekanntgewordene aktuelle Vorgänge bewerten dürfen, und das auch nur, wenn es den Vertretern der Regierungsfraktionen genehm ist. Deshalb sollen in den Tätigkeitsberichten der PKK an den Bundestag keine Angelegenheiten, die den PKK-Mitgliedern bei ihrer Tätigkeit bekanntgeworden sind, stehen, denn die Geheimhaltungspflicht des § 5 Abs. 1 wird nicht angetastet. Geheimdienstmitarbeiter sollen sich nur nach vorheriger Erlaubnis bzw. bei Gefahr faktischer Disziplinarmaßnahmen an die PKK wenden dürfen.Als ob das nicht schon Skandal genug wäre, befand es die Ausschußmehrheit für richtig, daß der Telefonverkehr der Abgeordneten grundsätzlich und ihre Post in Einzelfällen durch die Dienste kontrolliert werden dürfen. Teile der Union befürchten selbst dabei noch ein gefährliches Sicherheitsdefizit.Demgegenüber hält die Gruppe Bündnis 90/ GRÜNE an ihrer Auffassung fest, daß die Dienste, wie BND und MAD, abgewickelt gehören und daß auch die Verfassung nicht durch das gleichnamige Amt geschützt wird. Der beste Schutz des Staates und der Verfassung ist die demokratische Gesinnung seiner Bürgerinnen und Bürger. Wir lehnen deshalb dieses Gesetz ab.
Nunmehr spricht der Abgeordnete Dr. Olderog.
— Entschuldigung, Herr Doktor, ich hätte beinahe gesagt: Das entspricht dem Sujet.
Ich erteile dem Staatsminister Schmidbauer das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bedanke mich bei denen, die sich dafür ausgesprochen haben, daß es eine gute Kooperation zwischen der Bundesregierung und der Parlamentarischen Kontrollkommission gibt. Diese Novellierung kann dazu beitragen, daß die Vertrauensbasis erweitert wird und daß wir in der Tat nach 14jähriger Erfahrung auf Initiative des Parlaments heute zu einer weiteren Fortentwicklung des PKK-Gesetzes kommen.Zwei Punkte sind wohl von Bedeutung.Erstens. Die Informations- und Kontrollmöglichkeit der Parlamentarischen Kontrollkommission wird verbessert. Es ist unstrittig, daß diese Effizienz erreicht werden muß.Zweitens. Die Transparenz ihrer Kontrolltätigkeit für den Bundestag und damit für die Öffentlichkeit wird erhöht. Ich finde, auch dies ist gut so.Die Bundesregierung begrüßt ausdrücklich diese aus dem Parlament kommende Initiative. Im Unterschied zu Vorrednern, auf die ich hier nicht näher eingehen will, will ich doch erwähnen, daß die Dienste rechtsstaatliche Institutionen sind. Ihnen obliegt die Aufgabe, die innere und äußere Sicherheit unseres Staatswesens mit zu gewährleisten. Aufgaben und Befugnisse der Dienste sind in Gesetzen genau festgelegt. Daß es natürlich in Einzelfällen — das wurde hier auch angesprochen — zu unterschiedlichen Auffassungen zwischen der Exekutive und den Kontrollorganen des Parlaments kommen kann, halte ich für selbstverständlich. Auch hier finde ich es gut, daß hinterfragt wird, daß gerungen wird und daß aufgeklärt wird und daß nicht nur das diskutiert wird, was in der Presse steht, und dann altbekannte Dinge hinter-
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Staatsminister Bernd Schmidbauerfragt werden müssen. Auch bin ich dafür dankbar, daß wir in der Vergangenheit einvernehmliche Lösungen gefunden haben.Ich möchte bei dieser Debatte noch auf einen anderen Aspekt hinweisen — auch das wurde von Vorrednern angesprochen —: Die Arbeit der Dienste kann sich — naturgemäß ist das so — in großen Teilen nicht öffentlich vollziehen. Bei der Wahrnehmung der ihnen gesetzlich zugewiesenen Aufgaben — obwohl sie einer wirksamen innerexekutiven Kontrolle unterliegen — ist ihre Tätigkeit daher weniger transparent als die Tätigkeit anderer Bundesbehörden.Ich bin jedoch davon überzeugt, daß der vorliegende Gesetzentwurf mit dazu beitragen wird, daß unseren Diensten in Zukunft das Vertrauen entgegengebracht wird, das sie auch verdienen und das für die Motivation ihrer Mitarbeiter auch nötig ist. Die Bundesregierung ist — wie bisher schon — zu einer engen Zusammenarbeit mit der Parlamentarischen Kontrollkommission im Geiste wechselseitigen Vertrauens bereit.Im Bewußtsein sowohl der Verantwortung, die die Bundesregierung für die Funktionsfähigkeit der drei Dienste trägt, als auch in der Absicht, die Parlamentarische Kontrollkommission bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu unterstützen, möchte ich namens der Bundesregierung gegenüber den für diese Wahlperiode in die Kontrollkommission gewählten Vertretern des Parlaments die folgende Erklärung abgeben.Erstens. Die Bundesregierung wird der Parlamentarischen Kontrollkommission auf deren Verlangen und im Rahmen ihres Auftrages für alle Mitglieder oder ein von ihr ermächtigtes Mitglied Akteneinsicht gewähren oder gestatten, daß diese von ihr bestimmte Personen anhört, soweit dies die Zustimmung der Bundesregierung voraussetzt.Zweitens. Die Bundesregierung gestattet Angehörigen der Dienste, sich zur Verbesserung der Aufgabenerfüllung der Dienste mit Hinweisen an die Kommission zu wenden, soweit die Leitung der Dienste entsprechenden Verbesserungsvorschlägen nicht gefolgt ist. Dienstrechtliche Vorschläge im eigenen Interesse oder zugunsten Dritter sind ausgeschlossen. Die Bundesregierung geht davon aus, daß die Kommission zu den Hinweisen den Präsidenten des zuständigen Dienstes anhört. Die Bundesregierung wird wegen der Hinweise im vorstehenden Sinne an die Kommission Bedienstete nicht dienstrechtlich maßregeln oder benachteiligen.Drittens. Die Bundesregierung wird Maßnahmen nach den Nummern 1 und 2 verweigern, wenn dies aus zwingenden Sicherheitsgründen notwendig ist.2 Abs. 2 PKK-Gesetz findet Anwendung.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich bin sicher, daß die vorliegende Novellierung dazu führen wird, die Möglichkeiten der Parlamentarischen Kontrollkommission zu erweitern und damit auch — dies ist für mich gleichermaßen wichtig — das Vertrauen in die Nachrichtendienste zu erhöhen.Herzlichen Dank für die Kooperation. Ich hoffe, daß diese auch in Zukunft realisiert wird.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache.Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Gesetzentwurf; er liegt Ihnen auf den Drucksachen 12/1643, 12/1774 und 12/2203 vor.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zuzustimmen wünschen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Damit ist der Gesetzentwurf in der zweiten Beratung mit den Stimmen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. angenommen worden.Wir treten nun in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünschen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? — Damit ist in dritter Lesung der Gesetzentwurf gegen die Stimmen aus den beiden Gruppen angenommen worden.Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zu dem nächsten Tagesordnungspunkt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung zu erweitern, und zwar um die Beratung des Antrages der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. auf Unterstützung des Reformprozesses in Südafrika. Das ist die Drucksache 12/2232. Der Antrag soll zur Beratung jetzt mit Tagesordnungspunkt 8 aufgerufen werden. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall.Dann rufe ich den Tagesordnungspunkt 8 und die Zusatzpunkte 8 und 9 auf:8. a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu dem Antrag der Abgeordneten Alois Graf von Waldburg-Zeil, Dr. Winfried Pinger, Klaus-Jürgen Hedrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Günther Bredehorn, Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.Ein Beitrag zu Frieden und Entwicklungdurch Regionalpolitik im südlichen Afrika— Drucksachen 12/851, 12/1995 —Berichterstattung:Abgeordnete Hans-Günther Toetemeyer Alois Graf von Waldburg-ZeilIngrid Walzb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Alois Graf von Waldburg-Zeil, Dr. Winfried Pinger, Klaus-Jürgen Hedrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Günther Bredehorn, Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
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Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergEntwicklungspolitische Chancen in Umbruchsituationen nutzen — entwicklungspolitische Herausforderungen an den Beispielen Äthiopien einschließlich Eritrea, Somalia, Sudan und Angola— Drucksache 12/1814 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Auswärtiger Ausschußc) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd Poppe, Konrad Weiß und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENUnterstützung des Demokratieprozesses in Äthiopien und Eritrea— Drucksache 12/1656 —Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für wirtschaftliche ZusammenarbeitZP8 Beratung des Antrags des Abgeordneten Konrad Weiß und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENHumanitäre Hilfe und Unterstützung von Friedensinitiativen für Somalia— Drucksache 12/2159 —Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für wirtschaftliche ZusammenarbeitZP9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Günther Toetemeyer, Brigitte Adler, Rudolf Bindig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDUnterstützung des Friedensprozesses in Angola— Drucksache 12/2211 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Auswärtiger AusschußAls weiteren Zusatzpunkt rufe ich auf:Beratung des Antrags der CDU/CSU, SPD und F.D.P.Unterstützung des Reformprozesses in Südafrika— Drucksache 12/2232 —Zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Debattenzeit von 90 Minuten vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist der Fall.Dann kann ich die Debatte eröffnen und zunächst einmal dem Abgeordneten Graf von Waldburg-Zeil das Wort erteilen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Afrika-Debatte steht unter einem besonderen Aspekt. Es dreht sich darum, entwicklungspolitische Chancen in Umbruchsituationen zu nutzen, und zwar in einem doppelten Sinne. Der Koalitionsantrag gleichen Namens konkretisiert für aktuelle Beispielein Äthiopien einschließlich Eritrea, für Somalia, für den Sudan und für Angola das, was der Deutsche Bundestag schon im Herbst 1990 einmal beschlossen hatte, einen gemeinsamen Beitrag für eine verstärkte Entwicklungszusammenarbeit durch Entspannung zwischen Ost und West zu leisten.Ich muß hier gleich eines hinzufügen: Diese Entspannung hat nicht nur positive Aspekte gehabt. Im Windschatten der Weltöffentlichkeit spielen sich heute Eskalationen ab, die zum Teil zu verzweifelten Situationen führen, die unsere Chancen erheblich vermindern können. Der andere Aspekt betrifft nicht die Chancen, die sich aus dem Zusammenbruch des kommunistischen Weltreiches ergeben haben, sondern die Probleme, die daraus für die Dritte Welt resultieren.Das Interesse konzentriert sich zunehmend auf Europa. Ausgaben und Aufgaben wachsen ins Ungemessene; der Finanzrahmen bleibt beschränkt. Deshalb muß jede eingesetzte Mark heute eben mehr Wirkung erbringen als je zuvor. Diesem letzteren Zweck dient der Antrag „Ein Beitrag zu Frieden und Entwicklung durch Regionalpolitik im südlichen Afrika". Wir begrüßen mit dieser Initiative bereits vorhandene Bestrebungen von Staaten des südlichen Afrikas, insbesondere der SADCC.Ich möchte die im Antrag genannten Punkte hier nicht wiederholen; denn wir haben sie in der ersten Lesung ja ausführlich diskutiert. Ich möchte aber darauf hinweisen, daß eine erfolgreiche Regionalpolitik im südlichen Afrika mit der Beteiligung Südafrikas selbst steht und fällt. Diese aber ist abhängig von der Fortsetzung des Reformkurses von Präsident de Klerk. Sie steht mit dem Referendum auf dem Prüfstand. Ich kann dem Präsidenten, den Südafrikanern, den Afrikanern und eigentlich der ganzen Menschheit nur wünschen, daß dieses Referendum positiv für den Reformkurs ausgeht. Ein negativer Ausgang würde uns um Jahrzehnte zurückwerfen.
Daß die SPD bei diesem Antrag nicht nur mitgearbeitet, sondern auch mitgedacht hat, zeigt der heute vorgelegte Antrag. Wir haben ihn im Ausschuß ja nur deshalb abgelehnt, um den einheitlichen Charakter des vorgelegten Antrags zu wahren. Ich habe eigentlich nur ein grundsätzliches Bedenken, das ich hier anfügen möchte: Es hat keinen Sinn, immer und immer wieder alle Probleme der Dritten Welt hauptsächlich als Folge der kolonialen Ausbeutung durch die Staaten Europas darzustellen. Das verführt dazu, Verantwortung nicht wahrzunehmen und abzuwälzen, und auch dazu, selbst korrupte und kleptokratische Eliten — ein brillanter Ausdruck aus Ihrem Antrage — zu entschuldigen.Nun zur Nutzung entwicklungspolitischer Chancen in Umbruchsituationen. Der Zusammenbruch des Weltkommunismus hat in Afrika ungeahnte Auswirkungen gehabt. Diktaturen und Einparteienregime werden in Frage gestellt. Der Weg des Sozialismus erscheint plötzlich nicht mehr als der allein seligmachende. Bürgerkriege verlieren mit auswärtiger Unterstützung ihre Kraft. Versöhnungschancen können wahrgenommen werden.
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Alois Graf von Waldburg-ZeilStichwort Äthiopien einschließlich Eritrea: Es gilt, den Demokratisierungsprozeß zu unterstützen, das Selbstbestimmungsrecht zu achten, vielleicht besteht aber auch die große Chance, föderalistische Lösungen demonstrieren zu helfen.Damit wäre ich beim Sudan. Die EG-Mitgliedsländer müssen gemeinsam im Sinne der Entschließung dieses Hohen Hauses vom Mai 1989 auf die Beendigung des Bürgerkrieges und die Wahrung der Menschenrechte drängen. Der einzige Weg wird die Gewährung der Selbstbestimmung im Rahmen der Autonomie des Südens sein.
In Angola konnte der Bürgerkrieg beendet werden. Wahlen werden vorbereitet. Dieser Prozeß muß freundschaftlich unterstützt werden. Dabei kommt es entscheidend darauf an, die 200 000 Soldaten beider Seiten demobilisieren zu helfen, Ausbildungshilfe zu leisten, landwirtschaftliche Ausbildungszenhien zu schaffen, um die Beschäftigung in der Subsistenzlandwirtschaft und Nahrungsmittelsicherung gleichzeitig zu garantieren.Es gibt drei Hauptfaktoren, die nach der Unabhängigkeit Angolas von Portugal zum Zusammenbruch des wirtschaftlichen Wachstums und der sozialen Entwicklung des Landes beigetragen haben: den Bürgerkrieg, die Flucht des ausgebildeten Personals aus allen Ebenen der Technik und Verwaltung sowie der kleinen Geschäftsleute und Farmer sowie die unwirksamen und verfehlten wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die unter dem zentralistischen und sozialistischen Wirtschaftssystem der Volksrepublik Angola durchgeführt wurden.Neben der Demobilisierung muß deshalb an die Behebung des Mangels an Fachkräften, an eine systematische strukturelle Neugestaltung der Wirtschaft und an die Eingliederung von Beamten herangegangen werden, die wegen der erforderlichen Privatisierung von Staatsbetrieben ihren Arbeitsplatz verlieren.Ich freue mich, daß auch die SPD hierzu einen Antrag vorgelegt hat. Ich denke, daß wir in den Ausschußberatungen Punkt 4 unseres Antrages ohne Schwierigkeiten mit Ihren Vorschlägen werden verbinden können.Wir sollten noch einen Punkt hineinnehmen. Ich denke an den Punkt der Minenbeseitigung. Es ist wesentlich dienlicher, Minen wegzunehmen, als nachher zerfetzte Leute in Krankenhäusern zu pflegen.
Wir sollten in diesem Sinne votieren.
Am Beispiel Angola möchte ich noch etwas anderes deutlich machen. Wir haben in der letzten Legislaturperiode einen Antrag betreffend den entwicklungspolitischen Beitrag zur Lösung von Weltflüchtlingsproblemen beschlossen. Das Beispiel Angola zeigt, wie stark der Rückkehrwille dann ist, wenn lebensbedrohende Situationen im ursprünglichen Heimatland zu Ende gehen und auch nur ein Funke von Hoffnung auf Entwicklungsperspektiven aufglimmt. Es sind 60 000 Leute, die von November bis jetzt bereitszurückgekehrt sind. 420 000 warten in den Nachbarländern. Man weiß bereits jetzt, daß von diesen 300 000 zurückkehren werden. Das ist eine große Aufgabe für den UNHCR, die wir kräftig werden unterstützen müssen.Ein ganz kurzes Wort zu Somalia. Die Situation ist verzweifelt. Als wir den Antrag einbrachten, war sie besser, als sie jetzt ist. Hier wird man fast nur noch daran denken können, daß friedenssichernde Gruppen ethnischer und religiöser Verwandtschaft helfen, dort wieder Frieden einkehren zu lassen.
Das Beispiel Angola schließt auch den Ring zur Regionalpolitik im südlichen Afrika. Wenn wir an das Gewicht der Krisenherde — Angola, Namibia, Südafrika, Mosambik — der letzten Jahre denken, stellen wir fest, daß sich Chancen abzeichnen, die durch eine Entwicklung in Frieden und Demokratie in dieser Region geschaffen werden können.Danke.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Günter Verheugen das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, wir alle stimmen darin überein, daß die entscheidende Voraussetzung für eine stabile, dauerhafte, den Menschen dienende Entwicklung in Afrika der Frieden ist.
Wir stimmen sicher auch darin überein, daß die letzten Jahre einen fast unverhofften Fortschritt auf diesem Gebiet gebracht haben. Wer die Situation heute — nicht nur im südlichen Afrika, sondern in vielen Teilen Afrikas — mit der von vor noch zwei Jahren vergleicht, erkennt Afrika kaum wieder.Der weltpolitische Wandel hat also nicht nur tiefgreifende Auswirkungen in Europa, im Osten und in den atlantischen Beziehungen herbeigeführt, sondern auch in Afrika. Er gibt uns die Chance, in den letzten Jahrzehnten Versäumtes jetzt nachzuholen. Er bietet die Chance, jetzt mit neuen Rezepten und neuen Konzepten Entwicklungspolitik zu betreiben, um die in weiten Teilen Afrikas wirklich verzweifelte Lage zu verändern.Ich möchte mich heute auf die Lage in Südafrika selbst konzentrieren. Ich begrüße es, daß die Fraktionen die Gelegenheit dieser Debatte nutzen, um ein aktuelles Wort zur Situation in Südafrika zu sagen. Wir können das in einer sehr entspannten Atmosphäre tun. Wenn ich daran denke, wie wir uns in der Mitte und in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre hier sehr leidenschaftlich über die Südafrikapolitik gestritten haben, dann meine ich, sagen zu können, daß sich auch hier zeigt, was für ein gewaltiger Fortschritt doch erreicht worden ist.
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Günter VerheugenAber man soll bei dieser Gelegenheit doch darauf hinweisen, was wirklich den Wandel in Südafrika herbeigeführt hat. Es ist nicht allein der Zusammenbruch der kommunistischen Staatenwelt und der Wegfall der von den Weißen in Südafrika als kommunistische Bedrohung empfundenen Ideologie. Es ist natürlich auch das Zusammenwirken — ich möchte sagen: in erster Linie das Zusammenwirken — des immer massiver werdenden Widerstandes der schwarzen Bevölkerungsmehrheit in Südafrika selbst mit den Befreiungsbewegungen und den Reaktionen der westlichen Industriestaaten gewesen. Man sollte das nicht unterschätzen.Ich will die Diskussion der Vergangenheit hier jetzt nicht noch einmal führen. Wir waren uns in der Frage, ob z. B. Sanktionen einen positiven Beitrag zum Wandel in Südafrika leisten können oder nicht, nicht einig. Ich möchte fast annehmen, daß wir auch heute in der Bewertung dieser Frage nicht einig sein können.
Meine Meinung — das ist auch die Meinung der SPD-Bundestagsfraktion — ist jedenfalls, daß der dramatische Politikwandel der weißen Seite in Südafrika dadurch herbeigeführt worden ist, daß sich herausgestellt hat: Das System der Apartheid war gegen den Widerstand der Bevölkerungsmehrheit einfach nicht länger aufrechtzuerhalten. Südafrika konnte auch die Isolierung, in die es politisch und wirtschaftlich geraten war, nicht mehr länger durchhalten. Ich denke also, daß diese Politik ihre positiven Wirkungen sehr wohl gehabt hat.Ich darf hier darauf hinweisen, daß wir, die sozialdemokratische Bundestagsfraktion, in vielen Debatten in den achtziger Jahren immer wieder die Forderung erhoben haben, die südafrikanische Regierung möge die politischen Gefangenen, einschließlich Nelson Mandela, freilassen, sie möge die politischen Organisationen der schwarzen Bevölkerungsmehrheit zulassen, die Verbannungen aufheben, die Apartheidsgesetze abschaffen und mit den Organisationen der Bevölkerungsmehrheit Verhandlungen über einen friedlichen Wandel beginnen. Das sind unsere Forderungen gewesen. Wir haben dazugesagt: Wenn die südafrikanische Regierung nicht bereit ist, diesen Weg zu gehen, den wir für den einzig denkbaren und möglichen gehalten haben, um dieses Land vor einem schrecklichen Bürgerkrieg zu bewahren, dann ist es eben notwendig, die südafrikanische Regierung unter Druck zu setzen.Nun sind genau diese Forderungen von der Regierung de Klerk erfüllt worden. Genau das ist Anfang 1990 geschehen, in allen Einzelheiten, und der Weg, den wir immer für den richtigen gehalten haben, ist beschritten worden. Ich sehe das wirklich als einen großen Erfolg, an dem wir vielleicht einen bescheidenen Anteil haben.Meine Damen und Herren, das insgesamt positive Bild von der Entwicklung in Südafrika darf uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß dort immer noch große Probleme liegen. Das Hauptproblem ist wohl, daß die Abschaffung der Apartheidsgesetze ja nochkeineswegs die von der Apartheid geschaffenen tiefgreifenden sozialen Strukturen überwunden hat.
Je mehr Zeit vergeht, ohne daß wir etwas tun können, um die riesigen Probleme im Bereich der Wohnungslosigkeit, der Arbeitslosigkeit und der Unterentwicklung in den schwarzen Gebieten zu beseitigen, desto schwieriger wird die soziale Situation und desto größer wird eine Generation in Südafrika, die eigentlich ohne Hoffnung lebt und von der wir befürchten müssen, daß sie einer politischen Anleitung, z. B. durch den ANC und Nelson Mandela, gar nicht mehr zugänglich ist.Es sind Millionen von jungen Menschen in Südafrika, die eigentlich ohne Zukunftschance leben. Heute haben nur noch 15 % eines Jahrgangs, der in das Berufsleben eintreten will, die Chance, einen Arbeitsplatz zu finden. Das zeigt, was für eine gigantische Aufgabe dort zu lösen ist.Das andere Problem, das wir in Südafrika haben, ist die wachsende Gewaltbereitschaft. Es gibt nicht nur einen Grund für diese Gewalt, es gibt viele. Machtkampf spielt eine Rolle, ethnische Auseinandersetzungen spielen eine Rolle, ganz gewöhnliche Kriminalität spielt eine Rolle. Ganz gewiß spielt auch Manipulation bei diesen Ausbrüchen von Gewalt eine Rolle.Mit großer Sorge sehen wir den wachsenden Widerstand in der weißen Bevölkerung gegen die Politik Mandelas und de Klerks, gegen die Politik der Versöhnung und der evolutionären Entwicklung in Südafrika. Es liegt eine Gefahr in dem Weg, den Präsident de Klerk beschritten hat. Er hat es für nötig gehalten, in der nächsten Woche ein weißes Referendum abzuhalten.Man muß nun ganz objektiv sagen, daß es ein bißchen merkwürdig anmutet, daß am Beginn einer nichtrassistischen demokratischen Entwicklung in Südafrika eine rein weiße Entscheidung stehen soll, daß die Weißen praktisch für sich ein Veto in Anspruch nehmen, ob dieser Weg nun beschritten wird oder nicht. Ich kenne die Gründe, die Herrn de Klerk veranlaßt haben, das zu machen. Ich verstehe sie auch, und ich will hier auch gar nicht päpstlicher sein als der ANC, der ja auch selber sagt: Schön ist das nicht. Aber es findet nun mal statt, und wir werden alles tun, um Weißen nicht das Argument zu liefern, mit Nein zu stimmen.Ganz gewiß, nachdem es nun einmal stattfindet, ist es unser Interesse, daß de Klerk in diesem Referendum eine stabile Mehrheit erhält, weil diese stabile Mehrheit die Voraussetzung dafür ist, daß der Prozeß beschleunigt wird.
Ich hoffe, daß das gelingt.
Ich verhehle Ihnen nicht, daß ich in der vergangenen Woche durchaus mit Sorgen aus Südafrika zurückgekommen bin, was diesen Punkt angeht. So ganz sicher ist diese Mehrheit noch nicht. Es ist ein riskanter Weg, den die südafrikanische Regierung eingeschlagen hat.
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Günter VerheugenDarum ist es auch richtig und notwendig, daß von hier aus eine Botschaft an die weißen Südafrikaner herausgeht. Diese Botschaft muß lauten, daß die Politik, die in den letzten anderthalb Jahren betrieben worden ist, ihnen etwas gebracht hat.
Die diplomatische und politische Isolierung Südafrikas ist durchbrochen worden. Auch die wirtschaftliche Isolierung ist praktisch durchbrochen. Was wir heute noch an Sanktionen haben, beeinflußt die wirtschaftliche Entwicklung in Südafrika nur noch in geringem Maße.Die Menschen haben also etwas davon. Man muß ihnen auch deutlich sagen, daß sie noch mehr davon haben werden, wenn dieser Prozeß weitergeht. Darum ist es so wichtig, daß in dem Antrag, den wir gemeinsam vorgelegt haben, die Bereitschaft zu vertiefter Kooperation — und das verstehe ich als eine Bereitschaft der Bundesrepublik Deutschland zusammen mit ihren europäischen Partnern — sichtbar wird, um Südafrika bei der Lösung der großen sozialen Probleme, die es hat, nun auch wirklich zu helfen.Ich möchte so weit gehen zu sagen, daß wir den weißen Südafrikanern auch sagen sollten, daß es in dem Augenblick, wo eine demokratische Übergangsstruktur da ist — und das kann nach dem, was ich gehört habe, schon in der Mitte dieses Jahres der Fall sein —, keinen Grund gibt, noch irgendwelche Sanktionen — mit Ausnahme des Rüstungsembargos und von Lieferungen an die Sicherheitskräfte in Südafrika — aufrechtzuerhalten.
Ich plädiere dafür, ganz eindeutig zu sagen: Damit machen wir dann Schluß. Wir schalten um auf Zusammenarbeit und Hilfe. Ich würde gerne sehen, daß wir Instrumente, die sich in der Entwicklungszusammenarbeit bereits bewährt haben, dann auch einsetzen könnten, um in Südafrika zu helfen.Die Konzentration dieser Hilfe muß sein: Hilfe beim Wohnungsbau in schwarzen Siedlungsgebieten, Hilfe bei der Bildung, bei der Ausbildung, vor allem der beruflichen Ausbildung, Hilfe bei der Arbeitsplatzschaffung, Hilfe bei der gesundheitlichen Versorgung, damit die großen Erwartungen, die die Menschen an den Wandel in Südafrika selbst haben, auch erfüllt werden.Ich halte es nicht für besonders klug, den Weißen in Südafrika heute zu drohen und zu sagen: Wenn ihr aber mit Nein stimmt, dann wird etwas ganz Fürchterliches passieren. — Das kann den gegenteiligen Effekt haben. Mir scheint, daß die positive Darstellung der psychologischen Seite dieses Problems eher gerecht wird.Das tut auch der Antrag, den wir gemeinsam vorlegen. Wir halten es für richtig, diesen Antrag heute zu verabschieden, damit er seine Wirkungen in den letzten Tagen der Auseinandersetzung um das südafrikanische Referendum noch entfalten kann.Vielen Dank.
Nun erteile ich der Abgeordneten Frau Ingrid Walz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Es gibt ernstzunehmende Afrikaexperten, die, nach der Zukunft dieses Kontinents befragt, schlichtweg antworten: Es gibt keine, und als einzigen Weg zur Gesundung vorschlagen: Türen schließen und keinen Experten mehr ins Land lassen; die Afrikaner sollen ihren Weg selbst bestimmen. — Soweit diese Experten. Wir werden im Laufe dieser Debatte zu untersuchen haben, ob sie recht haben.Afrika als der Kontinent unserer Träume, Afrika als verlorenes Paradies ist zum Alptraum geworden. Hunger, Armut, hohes Bevölkerungswachstum, Umweltzerstörung, Korruption, Mißwirtschaft und Bürgerkriege machten Afrika bisher zum Kontinent der Hoffnungslosigkeit und der Verzweiflung.Aber von außen projizierte Wünsche und Erwartungen auf Entwicklungen haben nicht automatisch Fortschrittsprozesse ausgelöst. Die Vision von der nachzuholenden Entwicklung, mit Geldströmen abgefedert und mit unverstandenen Techniken garniert, hat sich als Illusion erwiesen.Afrika zwingt uns umzudenken. Afrika verlangt von uns eine behutsamere Begleitung in seinem schwierigen Reifungsprozeß, der sich nicht nach den Regeln anderer Regionen vollzieht. Im Gegensatz zu wesentlichen Fortschritten z. B. vieler asiatischer Länder verschlechtert sich die wirtschaftliche und soziale Situation in den meisten afrikanischen Ländern: Es sinken die Einkommen, Einschulungsraten fallen, und die Bevölkerung nimmt stetig zu; seit 1965 hat sie sich verdoppelt. Wären die Bevölkerungswachstumsraten dem asiatischen Trend gefolgt, dann hätte Afrika heute mindestens ein um zehn Prozent höheres Pro-Kopf-Einkommen.Aber Afrika ist verstrickt in ein negatives Ursachengeflecht interner und externer Bedingungen, als da sind: Preisverfall für die meisten seiner Rohstoffe, aber auch unzureichende interne wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen, die bisher die Modernisierung der afrikanischen Volkswirtschaften entsprechend den weltwirtschaftlichen Anforderungen verhindert haben. Das Ergebnis ist ein ständiges Sinken der Investitionsquote und ein dramatischer Rückgang der Produktivität privater Investoren.Auch der Heilsgedanke, daß mehr Geld die Auswirkungen der verschlechterten Rahmenbedingungen wettmachen könnte, hat sich nicht erfüllt. Verheerende Bürgerkriege haben die letzten Hoffnungen vieler Länder zunichte gemacht, und Afrika trägt schwer an dieser Entwicklung.Doch die Zeichen des Wandels mehren sich. Aus Pseudodemokratien und echten Diktaturen entwikkeln sich Länder mit einem tragenden demokratischen Verständnis. Regionale Feuersbrünste und Konflikte wie in Äthiopien, Angola und Mosambik, aber vielleicht auch in Somalia und im Sudan sind am Erlöschen. Die Abkehr der Südafrikanischen Union von der Apartheidpolitik weicht Fronten auf und schafft auch die Möglichkeiten der Zusammenarbeit.
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Ingrid WalzNunmehr geht es darum, diese Chancen konsequent und entschlossen zu nutzen, Reformen in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft nachhaltig zu unterstützen. Dazu gehört auch die von den Führern Afrikas seit langem erkannte Notwendigkeit engerer regionaler Verbindungen und Märkte; denn die meisten afrikanischen Volkswirtschaften sind zu klein, um ohne Außenhandel Devisen zu erzielen oder sich zu spezialisieren. Allerdings fehlen dafür bisher die Rahmenbedingungen, wie die Harmonisierung der makroökonomischen Politiken, der Aufbau einer leistungsfähigen Infrastruktur sowie die Anreize zur Förderung einer effizienten Produktion und privater Initiativen. Dazu gehört aber auch die Verbesserung der beruflichen Bildung.Dies alles haben wir in unseren Anträgen als Hilfsangebot formuliert. Wir können zusammen mit den anderen europäischen Ländern und unseren Partnern in Afrika die Türe zu einer angepaßten Entwicklung öffnen und kommenden Generationen damit Hoffnung geben. Uns Europäern würde sich die Chance bieten — es ist eine einmalige Chance —, Afrika als Partner und nicht mehr als Missionare, Kolonialherren oder Geber zu begegnen. Das bedeutet auf der anderen Seite unsererseits jedoch auch Abbau von Handelshemmnissen und -barrieren.
Zum Schluß noch ein Wort: Die Zukunft Afrikas liegt in Afrika. Aber auch Afrika muß den tiefgreifenden internationalen Wandel erkennen und muß darauf antworten. Es geht dabei nicht mehr um die Frage wie bisher: Kapitalismus kontra Sozialismus, sondern um die Frage, welchen eigenen Weg Afrika in Richtung Marktwirtschaft und Demokratie beschreiten will.Afrika darf dabei nicht in der Angst verharren, daß die internationale Aufmerksamkeit und die finanziellen Zuwendungen nachlassen oder sich auf andere Regionen verlagern könnten. Afrika muß seine Hoffnung selbst formulieren und selbst die Bedingungen zur Erfüllung dafür schaffen. Afrika ist der geborene Partner Europas. Aber dies bitte in voller Souveränität.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Fischer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu den vorliegenden Beschlußempfehlungen und Berichten bzw. Anträgen kann ich aus Zeitgründen leider nur einige Aspekte ansprechen. Richtig und wichtig ist, daß die afrikanischen Staaten bei ihren Bemühungen um die Bewältigung ihrer aktuell dringenden wie auch langfristigen Probleme internationale Unterstützung benötigen. Hunger, Armut und Unterentwicklung haben gerade in Afrika katastrophale Dimensionen erreicht, die wir nicht länger hinnehmen dürfen, denen wir uns auch nicht länger entziehen dürfen und im übrigen auch nicht können. Regionale Zusammenarbeit im Rahmen der OAU oder der Schaffung einerAfrican Economic Comunity sind zweifellos förderungswürdige, da selbst bestimmte afrikanische Lösungsansätze. Soweit also Zustimmung zu den Aussagen des vorliegenden Berichts.Die politische Argumentation in der Drucksache 12/1995 macht jedoch deutlich, wo für uns die eigentlichen Probleme und auch Widersprüche liegen. Da heißt es u. a.:Die Ursachen der Wirtschaftskrise in Afrika liegen in erster Linie in unzureichenden wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, die in der Vergangenheit eine notwendige Umstrukturierung afrikanischer Volkswirtschaften entsprechend den weltwirtschaftlichen Anforderungen verhindert haben.Was ist denn bitte mit den afrikanischen Ökonomien seit ihrer Kolonialisierung betrieben worden, wenn nicht Einpassungen — dieses Wort ist hier zitiert — im Sinne von Unterordnung unter die Bedingungen eines Weltmarktes, der vom entwickelten Norden dominiert wurde und nach wie vor wird? Wer zeichnet verantwortlich für die derzeitigen wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen in verschiedenen afrikanischen Staaten? Ich sehe das nicht einseitig.Jahrhundertelang bis in die Gegenwart war und ist Afrika Objekt, nicht Subjekt von Entwicklung gewesen. Letztes Kapitel dieser Einpassungen sind für uns die Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank mit ihrem nachweislich verheerenden Ergebnis für die ärmsten Schichten der Bevölkerung. Der Ton, in dem kraft wirtschaftlicher Überlegenheit über die Geschicke eines Kontinents verfügt wird, hat sich seit einigen Jahren verändert. Geblieben sind offensichtlich aber ein tiefverwurzeltes Überlegenheitsbewußtsein und eine aus ihm resultierende Arroganz des entwickelten Nordens, die auch der vorliegende Bericht nicht leugnen kann.
Wieder einmal hat der sogenannte „weiße Mann" die Probleme erfaßt und die Lösung parat.Demokratie und Marktwirtschaft nach westeuropäischem Vorbild — offensichtlich ist das so, und man kann sich wahrscheinlich auch nichts anderes vorstellen; da danke ich übrigens Frau Walz für ihren Beitrag — sind das Allheilmittel, das dem schwarzen Kontinent aber ohne hinreichende Diagnose verordnet wird.Der Bericht verdeutlicht für mich erstens den ungebrochenen Eurozentrismus einer Politik, da jede Annäherung an die eigentlichen Ursachen von Armut und Unterentwicklung verhindert wird, und zweitens die fehlende Bereitschaft, authentische Überlegungen und Erfahrungen des Südens zu respektieren und gleichberechtigt partnerschaftlich einzubeziehen.Wir negieren an dieser Stelle, um Mißdeutungen vorzubeugen, nicht, daß auch die inneren Rahmenbedingungen in den afrikanischen Ländern für die Lösung der Probleme von Unterentwicklung, Armut und Hunger von großer Bedeutung sind. Meine Frage an dieser Stelle ist allerdings auch: Wie sind diese Rahmenbedingungen entstanden?
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Dr. Ursula FischerAlle internen Reformanstrengungen auf einer intensiven regionalen Zusammenarbeit der afrikanischen Länder bleiben notwendigerweise ohne sehr unzureichende Ergebnisse, solange sich die diskriminierenden internationalen Rahmenbedingungen nicht grundlegend ändern, die die entscheidenden Ursachen der aktuellen Krise auch in dieser Region sind.Schuldenlast, „terms of trade" und Handelsprotektionismus, u. a. mehr des Nordens, strangulieren nach wie vor alle Versuche der Entwicklungsländer, sich an den eigenen Haaren aus der Misere zu ziehen, wie es von ihnen verlangt wird. Entwicklung, die immer sehr unterschiedlich definiert wird, läßt sich halt nicht verordnen. Sie muß ermöglicht werden.Aufgabe des Nordens und der Bundesregierung ist es meiner Ansicht nach nicht, Konzepte zu exportieren und im Falle der Verweigerung durch einen Partner notfalls aufzuzwingen. Was wirklich Aufgabe der Bundesrepublik und der anderen Industrienationen sein kann und muß, ist die Schaffung der internationalen Bedingungen für eine dauerhafte Verbesserung der Lage in den Ländern Schwarzafrikas wie auch in allen anderen Entwicklungsländern.Zu diesbezüglichen konkreten Maßnahmen der Bundesregierung äußert sich der vorliegende Bericht bezeichnenderweise und meiner Ansicht nach bedauerlicherweise überhaupt nicht. Die Einbeziehung der internationalen wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen in Überlegungen zur Überwindung von Unterentwicklung ist natürlich nicht neu. Auch der Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat sich bereits mehrfach in diesem Sinne geäußert. Der Ihnen vorliegende Änderungsantrag der SPD zum Bericht zeigt, daß natürlich in diese Richtung gedacht wird. Allerdings war es selbst im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit als entwicklungspolitisch relevantem Gremium aus meiner Sicht nicht möglich, einen Minimalkonsens herzustellen, der den tatsächlichen Ursachen von Armut näherkommt.Nur noch eine kurze Bemerkung zu den zu Angola vorliegenden Anträgen. Mit allem Nachdruck wenden wir uns gegen die vorgeschlagene Empfehlung des Bundestages an die Bundesregierung, sich freundschaftlich in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates einzumischen. Es ist in erster Linie das Recht des angolanischen Volkes, dafür zu sorgen, daß die freien, fairen und demokratischen Wahlen in ganz Angola auch wirklich stattfinden. Das ist übrigens eine einmalige Chance nach Beendigung des Ost-West-Konflikts. Wie würden z. B. die Antragsteller reagieren, wenn das Parlament eines Entwicklungslandes seiner Regierung die Empfehlung gäbe, freundschaftlich darauf hinzuwirken, daß in Deutschland eine demokratisch gestaltete Vereinigung von zwei gleichberechtigten Staaten, nicht aber eine durch Siegermentalität gekennzeichnete Anschlußpolitik erfolgen möge?
Ich möchte noch ganz kurz auf den Antrag zu Südafrika eingehen. Mir fällt z. B. auf, daß ein ähnlicher Vorschlag in bezug auf Südafrika nicht verwirklicht wird. Ich frage, warum. Hängt dies mit den traditionell positiven Einstellungen Bonner Politik zu den bisher herrschenden politischen Kräften in Südafrika einerseits und mit der großen Distanz zur MPLA andererseits zusammen?Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch einige kurze Bemerkungen zu den Entwicklungen in der Republik Südafrika machen. Das für den 17. März vorgesehene Referendum über die Abschaffung der Apartheid stellt einen äußerst riskanten politischen Schachzug dar. Es handelt sich um ein ausschließlich weißes Referendum, in dem die weiße Bevölkerung die Gelegenheit erhält, eine politische Verhandlungslösung durch ihr Veto zu blockieren. Es muß somit als der bisher massivste Versuch der Anhänger des Apartheidregimes gewertet werden, die bis heute erreichten Fortschritte unter Umständen wieder in Frage zu stellen. Je nach Ausgang des Referendums könnte der bisher eingeleitete Reformprozeß in Südafrika verlangsamt oder sog ar umgekehrt werden. Das muß uns bewußt sein.
Frau Kollegin, würden Sie bitte zum Ende kommen.
Ich komme zum Ende. — Es wäre aus meiner Sicht unverantwortlich, wenn Fehleinschätzungen, falsche politische Zeichen von seiten der internationalen Gemeinschaft oder auch einzelne Länder die bisher erreichten Erfolge im Befreiungskampf der südafrikanischen Bevölkerung zerschlagen würden. Ich wünsche mir, daß viele so reagieren wie Nelson Mandela auf der Eröffnungskonferenz der CODESA, indem er sich eine Vision vorstellt, die nicht die Eroberer den Eroberten hinwerfen, sondern im Gegenteil eine Vision, die Klüfte überbrücken und Wunden heilen will, welche die Apartheid aufgerissen hat.
Das war ernst gemeint.
Damit ein solcher Prozeß überhaupt eine Chance bekommt,
Jetzt ist es gleich sehr ernst.
... ist auch die internationale Gemeinschaft und mit ihr die Bundesrepublik Deutschland gefordert.
Sie haben Ihre Redezeit um eine Minute überzogen.
Als nächster hat der Kollege Konrad Weiß das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Afrika hat nach dem Ende des Kolonialismus noch nicht wieder zu sich selbst gefunden. Der Kontinent kommt nicht zur Ruhe. Während sich im südlichen Afrika eine innere Befriedung anbahnt und Bürgerkriege enden, brechen in anderen Regionen neue ethnische, reli-
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Konrad Weiß
giöse und politische Konflikte auf. Vorhandene wirtschaftliche und politische Strukturen zerfallen. Insgesamt hat sich die Situation in Afrika im zurückliegenden Jahrzehnt rapide verschlechtert.Die deutsche Afrika-Politik ist zerfahren und eher zufällig. Die Vorlage des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit, die Entwicklungshilfe für China und Indien zu kürzen, stieß auf erheblichen Widerstand des Wirtschaftsministeriums und des Auswärtigen Amtes. Als es aber um die Länder Afrikas ging, war kaum ein Einspruch zu hören. Offensichtlich sind sie für die Bundesregierung ohne nennenswerte Bedeutung.Die Kommunikation zwischen dem Außenminister und dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit sowie deren Ressorts scheint unterbrochen, zumindest aber gestört.Die Konditionierung der Entwicklungszusammenarbeit, wie sie das BMZ vertritt und die wir im Ansatz bejahen, wird ständig durch andere Aktivitäten der Bundesregierung ad absurdum geführt.Auch die deutsche Wirtschaft betrachtet Afrika offenbar längst als Konkursmasse, in die zu investieren nicht mehr lohnt. Menschen, die verhungern, die krank sind, die auf der Flucht sind, sind keine Konsumenten. Der Kontinent ist ausgeblutet, ausgeraubt. Tragödien, wie sie sich jetzt in Somalia abspielen, sind alltäglich. Sie werden kaum noch wahrgenommen.Die Verantwortung dafür liegt auch — ich sage: auch — bei den Ländern der nördlichen Hemisphäre, liegt auch bei uns. Politisch sind die Länder Afrikas keine Kolonien mehr. Wirtschaftlich aber sind sie unselbständig, von uns abhängig geblieben. Deutschland ist heute de facto mehr Kolonialmacht, als es vor dem Ersten Weltkrieg war. Der maßlose Wohlstand Europas und Nordamerikas verhindert Entwicklung und Fortschritt in Afrika. Unsere Raffgier vernichtet in Afrika die Natur. Der europäische Hochmut hat afrikanische Kultur zerstört.Die weitere entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit Afrika ist nur dann sinnvoll, wenn wir zu wirklich tiefgreifenden und schmerzhaften Veränderungen bei uns in Deutschland und in Europa kommen. Ohne eine wirklich neue Weltwirtschaftsordnung, die eine gerechte Verteilung der Güter ermöglicht und deren höchstes Ziel nicht das Wachstum, sondern die Mäßigung ist, bleibt alle Entwicklungspolitik Stümperei.
Erst nach dieser Präambel ist es mir möglich, zu den vorliegenden Anträgen Stellung zu nehmen. Die Gruppe Bündnis 90/GRÜNE folgt der Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit, meine Damen und Herren, die Integration der Volkswirtschaften im südlichen Afrika zu unterstützen. Wir meinen allerdings, daß die Einbeziehung eines apartheidfreien Südafrika in die SADCC so gestaltet sein muß, daß eine gleichberechtigte Entwicklung der anderen Staaten der Region möglich ist. Das wirtschaftliche Potential Südafrikas darf nicht zu einer neuen Vormachtstellung führen.Die Stärkung der SADCC als Gegengewicht zur wirtschaftlichen Dominanz der Industrienationen ist notwendig. Anders als die Regierungskoalition sehen wir die Ursachen der Wirtschaftskrise nicht in erster Linie in den unzureichenden wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen der afrikanischen Volkswirtschaften, sondern in den ungerechten, vom Norden dominierten Strukturen der Weltwirtschaft.Die Industrienationen sollten sich mit dem Schlagwort „korrupte Eliten" nicht aus der Verantwortung stehlen. Jahrzehntelang hat auch die Bundesregierung solche korrupten Eliten unterstützt — auch die Regierung der DDR; das muß ich fairerweise hinzufügen —, wurden Diktatoren wie Mobutu in Zaire und Siad Barre in Somalia durch finanzielle Zuwendungen an der Macht gehalten.Entwicklungszusammenarbeit, meine Damen und Herren, darf nicht als Erziehungsmaßnahme mißverstanden und braven Ländern gewährt, ungehorsamen aber verweigert werden. Angesichts der katastrophalen Situation der Menschen in Somalia wäre das purer Zynismus. Tausende Menschen fallen dort einer solchen Politik zum Opfer. Obwohl die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und mit medizinischer Hilfe völlig unzulänglich, ja, geradezu katastrophal ist, ist nicht eine einzige deutsche Hilfsaktion im Land.Wir fordern daher die großzügige Bereitstellung finanzieller und technischer Mittel für humanitäre Hilfe und schlagen eine Operation „Lifeline Somalia" ähnlich der Aktion der UNO und verschiedener Nichtregierungsorganisationen vor zwei Jahren im Sudan vor. Vertreter und Vertreterinnen der zahlreichen somalischen Flüchtlinge in Deutschland, die sich in einem Komitee organisiert haben, sollten bei deutschen Nothilfemaßnahmen einbezogen werden.Auch bezüglich Äthiopiens und Eritreas bleibt die Koalition hinter unseren Vorstellungen zurück. Wir freuen uns immerhin, daß die Bundesregierung inzwischen den Vorschlägen unseres im November eingebrachten Antrags gefolgt ist. Wir bedauern allerdings, daß sie erst so spät aktiv wurde. Obgleich Staatsminister Schäfer im Oktober Äthiopien zum zweitwichtigsten Partnerland Deutschlands in Afrika erklärte, blieben die entwicklungspolitischen Beziehungen bis vor kurzem unterkühlt. Nur die bestehenden Verpflichtungen der alten Bundesrepublik bzw. der ehemaligen DDR wurden eingehalten. Konkrete Neuvorhaben wurden im BMZ erst Ende Februar beschlossen. Zu einem Erlaß der Schulden hat sich die Bundesregierung bis heute nicht entschließen können.Die Gruppe Bündnis 90/GRÜNE erwartet von der Bundesregierung, meine Damen und Herren, daß sie die Demokratisierungsprozesse in Afrika konsequent fördert und hierfür ausreichend Mittel zur Verfügung stellt. Wir fordern die Bundesregierung auf, ein ressortsübergreifendes Konzept für eine neue Afrikapolitik zu entwickeln, das zu wirklichen Veränderungen führen kann.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat nun Herr Bundesminister Carl-Dieter Spranger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Überwindung von Hunger und Armut in Afrika ist nach wie vor die größte Herausforderung für die Entwicklungspolitik. Ich begrüße daher, daß Beschlußempfehlung und Bericht des AWZ zum südlichen Afrika Gegenstand der heutigen Parlamentsdebatte sind.Die von Präsident de Klerk eingeleiteten bemerkenswerten und mutigen Schritte zur Überwindung der Apartheid in Südafrika weisen den Weg in eine bessere, friedliche Zukunft für die gesamte Region. Sie bestätigen in eindrucksvoller Weise die Politik der CDU/CSU und der von ihr getragenen Bundesregierung, die auf einen Ausgleich zwischen weißer Bevölkerung und schwarzer Mehrheit, auf Gespräche statt einseitige Verurteilung und Ausgrenzung und auf Zusammenarbeit im Interesse der Menschen statt Isolation setzt.Die Politik von Präsident de Merk steht beim Referendum am 17. März 1992 vor einem kritischen Test. Ich wünsche, daß sein Bekenntnis zu Vernunft und Zusammenarbeit, zu Freiheit und Demokratie, zum wirtschaftlichen und sozialen Ausgleich innerhalb Südafrikas und in der gesamten Region eine breite Mehrheit finden wird.
In den weiteren Beratungen des „Konvents für ein demokratisches Südafrika" müssen sich alle wichtigen Gruppierungen eindeutig zu einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaftsordnung sowie einer auf Privatinitiative und Privateigentum gründenden Wirtschaftsordnung mit sozialer und ökologischer Verantwortung bekennen.Eine solche Grundlage würde die Perspektiven einer engeren Zusammenarbeit Südafrikas nicht nur mit Deutschland und der EG verbessern, sondern auch mit den in der SADCC zusammengeschlossenen Staaten. Auch sie haben in ihrer großen Mehrheit erkannt, daß ein solches Fundament nicht nur für ihre nationalen Entwicklungsbemühungen, sondern auch für die regionale Zusammenarbeit förderlich ist.Die Bundesrepublik Deutschland hat seit 1981 SADCC-Projekte mit rund 111 Millionen DM direkt gefördert, und in den Jahren 1990 und 1991 wurden bilateral Zusagen für Hilfe in Höhe von 598 Millionen DM an die Staaten der Region gegeben.Die Bundesregierung wird das wirtschaftliche, soziale und politische Zusammenwachsen des südlichen Afrika auch weiterhin unterstützen und sich an grenzüberschreitenden Projekten beteiligen. Die Integration des wirtschaftlichen Potentials Südafrikas in die SADCC ist eine historische Chance, die zum Wohle aller Staaten der Region genutzt werden sollte.
Eine marktorientierte Wirtschaftsverfassung eines demokratischen Südafrika ist eine grundlegende Voraussetzung hierfür.
— Ich nehme diese Korrektur gerne entgegen. Sehr gut! Vielen Dank.
Es spricht sich schon herum, was ein gutes Modell ist.
— Ich muß diesen Dialog leider abbrechen, Herr Kollege; sonst läuft mir die Zeit davon.Historische Chancen zu nutzen, das heißt für die internationale Entwicklungszusammenarbeit, den Frieden auf dieser Welt durch aktive Unterstützung demokratischer und marktwirtschaftlicher Reformen sicherer zu machen. Gerade in der schwierigen Phase des Übergangs von der Plan- zur Sozialen Marktwirtschaft, von der Diktatur zur Demokratie bedürfen viele Länder des Südens unserer flexiblen und zielgerichteten Unterstützung. Dies gilt verstärkt für die Länder des südlichen Afrika angesichts einer sich abzeichnenden Dürrekatastrophe. International koordinierte Maßnahmen zum Erstellen verläßlicher Schätzungen über das Ausmaß der drohenden Nahrungsmitteldefizite und der erforderlichen Hilfsmaßnahmen wurden bereits eingeleitet.Ich begrüße den Antrag der Koalitionfraktionen, entwicklungspolitische Chancen in Umbruchsituationen zu nutzen und hierbei auch über die politischen Stiftungen den demokratischen Prozeß zu ermutigen und Reformkräfte zu stärken.
Ich sehe das genauso. Deshalb werden wir darüber mit den politischen Stiftungen sprechen.Ebenso teile ich die Auffassung, daß Äthiopien und Eritrea gerade jetzt der Unterstützung bedürfen, um Frieden und Demokratie eine wirkliche Chance zu eröffnen. Die Bundesregierung hat bereits Gespräche mit der äthiopischen Übergangsregierung aufgenommen und konkrete Vereinbarungen über die Entwicklungszusammenarbeit getroffen. Seit Juni 1991, nicht erst in diesen Tagen, wurden durch Neuzusagen bzw. die Aktivierung früherer Zusagen 106 Millionen DM mobilisiert. Herr Kollege Weiss, wir haben uns da lange und intensiv Gedanken gemacht und abgeklärt, wann überhaupt Möglichkeiten bestehen, daß wir hier tätig werden können. Das ist immer noch eine sehr schwierige Situation. Ich glaube, wir sind so früh wie irgend möglich in diese Entwicklungszusammenarbeit wieder eingestiegen.Auch in Eritrea brauchen die Menschen Hilfe, und sie brauchen sie jetzt. Die besondere politische Situation Eritreas macht das Beschreiten neuer, unkonventioneller Wege erforderlich. Völkerrechtliche Vereinbarungen können mit Eritrea erst dann abgeschlossen werden, wenn es nach dem Referendum im Jahre 1993 ein selbständiges Völkerrechtssubjekt geworden ist.
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Bundesminister Carl-Dieter SprangerIm Februar 1992 hat eine BMZ-Delegation bereits Gespräche über eine Aufnahme der Zusammenarbeit geführt. Sie soll auf der Grundlage von Absprachen zwischen den deutschen Durchführungsorganisationen und der provisorischen Regierung von Eritrea begonnen werden.Unkonventionelle Wege haben wir auch in Somalia beschritten. Neben Nahrungsmittellieferungen hat die Bundesregierung — im Einvernehmen mit dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen — einer deutschen Hilfsorganisation die dringend benötigten Minenräumpanzer zur Verfügung gestellt. Wir stehen in Kontakt mit Reformkräften im Norden Somalias und versuchen auch hier, alle Möglichkeiten für Entwicklungszusammenarbeit im Interesse der Menschen zu nutzen.
Nicht nur in Somalia gilt: Die Bewahrung und Sicherung des Friedens ist eine unerläßliche Voraussetzung für Entwicklungen. Ich begrüße daher die Empfehlungen der Koalitionsfraktionen, bereits jetzt zu überlegen, wie wir bei der Demobilisierung der ca. 200 000 Soldaten in Angola helfen können. Die Bundesregierung plant, im Rahmen der künftigen Entwicklungszusammenarbeit mit Angola Vorhaben im Bereich der beruflichen Bildung zu fördern, die sich gleichermaßen an ehemalige Soldaten und an die Zivilbevölkerung richten.
Die Beachtung der Menschenrechte und „gute Regierungsführung" sind unerläßliche Kriterien für die Vergabe deutscher Entwicklungshilfe. Ich habe aber immer wieder betont: Wir dürfen die arme Bevölkerung eines Landes, die unter einem menschenrechtsverachtenden Regime leidet, nicht zusätzlich bestrafen. Wir müssen vielmehr alle Möglichkeiten nutzen, das Los der armen Bevölkerung in solchen Ländern zu mildern.Daß es uns mit der Umsetzung dieser Politik ernst ist, unterstreicht unsere Haltung zur Entwicklungszusammenarbeit mit Sudan. Die Bundesregierung verurteilt die Politik der Militärjunta in Khartum ebenso wie die Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen, die von allen Beteiligten bei den kriegerischen Auseinandersetzungen im Süd-Sudan begangen werden.Im Interesse der Menschen leisten wir aber erhebliche Beiträge an bewährte Nichtregierungsorganisationen, die Hilfsmaßnahmen im Süd-Sudan durchführen. Darüber hinaus fördern wir im Süd-Sudan Maßnahmen in den Bereichen Basisgesundheit, Wasserversorgung und landwirtschaftliche Produktion und unterstützen auch weiterhin Flüchtlingsprojekte im Ost-Sudan.All dies zeigt, meine Damen und Herren: Die Neuausrichtung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit ist keine theoretische Forderung. Sie ist entwicklungspolitische Praxis. Die Bundesregierung wird auf diesem Weg konsequent fortschreiten.
Als nächster hat unser Kollege Dr. Volkmar Köhler das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Lage im südlichen Afrika erfordert schnelles und entschlossenes Handeln. Der Antrag, den wir heute hier verabschieden, bietet dafür eine ausgezeichnete Grundlage.Ich bedaure persönlich, daß seit den ersten Zeilen zu diesem Antrag über ein Jahr vergangen ist, bis er in diesem Hause mehrheitsfähig wurde.Inzwischen ist die Entwicklung im südlichen Afrika rapide verlaufen. Die schon immer vorhandenen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Südafrika und seinen schwarzafrikanischen Nachbarn werden inzwischen in aller Offenheit fortgesetzt. Der Handel zwischen der südafrikanischen Republik und Schwarzafrika ist im schnellen Anwachsen begriffen.Die politische Normalisierung ist bereits mit einer ganzen Reihe von Nachbarstaaten erfolgt. Wo dieser Prozeß noch zögerlich erfolgt, ist das auf Rücksichtnahmen schwarzer Staatsführer gegenüber dem ANC zurückzuführen. In Wahrheit ist die verstärkte wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit der südafrikanischen Republik mit Schwarzafrika eine der ganz wenigen Möglichkeiten, zusätzliches Potential zur Lösung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme Afrikas zu erschließen. Diese Chance darf nicht versäumt werden.
Da ich diesen Gedanken seit mehreren Jahren in Wort und Schrift vertrete, nehme ich mir heraus, in Richtung Pretoria ganz klar zu sagen, wie sehr es darauf ankommt, daß eine solche Wirtschaftsgemeinschaft nicht mit einer südafrikanischen Hegemonie verwechselt wird.
Wir haben auch hier in Europa gelernt, wie wichtig es ist, die Interessen der kleinen Partnerstaaten ernst zunehmen, und das muß man auch in Pretoria zur Kenntnis nehmen.
Eine Wirtschaftsgemeinschaft im südlichen Afrika ist die beste Chance für neue wirtschaftliche Wachstumsimpulse in diesem Teil unseres Nachbarkontinents, für die Bildung größerer Binnenmärkte und für eine verbesserte Zusammenarbeit mit den außerafrikanischen Handelspartnern.Dazu ist es erforderlich, daß die schwarzafrikanischen Nachbarn Südafrikas nicht länger zögern, der südafrikanischen Republik den Weg in die Gemeinschaft der SADCC-Staaten zu eröffnen. Präsident Mugabe hat bei seinem Besuch in Bonn den Beitritt Südafrikas zu SADCC als einen naheliegenden, vernünftigen und bald bevorstehenden Schritt bezeichnet.
Dies sollte nun geschehen, und ich bitte die Bundesregierung, die aus der Fülle unserer Hilfe für die
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Dr. Volkmar Köhler
SADCC-Staaten hervorgehende Verhandlungskraft zielbewußt zu nutzen, um diesen Prozeß voranzutreiben.
Wir werden, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, zugleich heute einen Entschließungsantrag zur Situation in der Republik Südafrika verabschieden. Wir haben in der letzten Zeit mit Spannung und Genugtuung die Fortschritte beim Verhandlungsprozeß der CODESA verfolgt. Dieser Demokratisierungsprozeß ist aus unserer Sicht von größter Bedeutung und Wichtigkeit. Die jüngsten Fortschritte, die CODESA in bezug auf Interimslösungen und Minderheitenschutz zu Beginn dieser Woche erzielt hat, halten wir für positiv.
Aber wir können in dieser Situation nur mit einiger Sorge auf den 17. März, auf den Tag des Referendums, schauen. Im übrigen ist dies erst das vierte Referendum in der Geschichte dieses Staates. Es ist ganz interessant, sich in Erinnerung zu rufen, an welchen Weichenstellungen so etwas geschah. Dieses Referendum war offenbar nötig, weil Präsident de Klerk seine politische Basis nach dem Wahlergebnis in Potchefstroom als gefährdet betrachten mußte; einem Wahlergebnis, das mißverstanden wäre, betrachtete man es nur als Ausdruck ewiggestrigen Denkens. Das ist nicht nur ein Ergebnis rassistischen Denkens und einer der Zukunft nicht zugewandten Blickrichtung, nein, dahinter steckt auch etwas von der wirtschaftlichen Problematik des Landes, von der Dürre, unter der die Landwirtschaft immer mehr leidet, und von den Folgen der Wirtschaftsrezession, die gerade auch die unteren, die ärmeren Schichten der weißen Bevölkerung, getroffen hat, über die leider allzuoft hinweggesehen wird.Wir hoffen auf einen überzeugenden Ausgang. Dazu ist mehreres nötig, und zwar, daß nicht nur die Mehrzahl der abgegebenen Stimmen, sondern in Wahrheit die Mehrzahl der Wahlberechtigten dieses Referendum unterstützen. Ich persönlich betrachte mit großer Sorge die Möglichkeit, daß ein positives Ergebnis nur durch die Stimmen der traditionell stärker liberal gesinnten englischsprachigen Südafrikaner möglich wäre, was die Buren als Niederlage empfinden müßten.
Deswegen möchte ich derzeit speziell die Buren anrufen und sie ersuchen, zu erkennen, daß ein Weg zurück nicht mehr frei ist, es sei denn in einem Meer von Blut. Die Buren müssen begreifen, daß sie die Zukunft gewinnen müssen und daß sie den Lauf der Geschichte nicht mehr aufhalten können.
Der Reformprozeß ist in seinem Wesen unumkehrbar geworden. Wir tun gut daran, alle politisch handelnden Kräfte zu ermutigen und konstruktiv zu begleiten. Wir müssen in den künftigen Jahren immer wieder sowohl de Klerk als auch Nelson Mandela helfen, daß deren politische Basis nicht unter dem Druck der Schwierigkeiten des Reformprozesses zerbröckelt. Es geht um den mühsamen Prozeß der Überwindung von Strukturen, die die Apartheid hinterlassen hat, die in Jahrzehnten entstanden sind und die nicht in wenigen Tagen oder Monaten beseitigt werden können. Hier hat die internationale Staatengemeinschaft eine große Verantwortung. Für die Mehrheit der Menschen in der Republik Südafrika ist dieser Reformprozeß dann am ehesten glaubhaft, wenn die persönlichen Lebensbedingungen ertragbar bleiben oder sich für die schwarze Mehrheit sogar verbessern. Die großen Defizite im Wohnungswesen, im Gesundheitswesen, im Ausbildungswesen und bei den sozialen Einrichtungen müssen ausgeglichen werden. Hier muß bald Sichtbares geschehen. Das geht nicht ohne die Stärkung der Wirtschaftskraft Südafrikas. Hier müssen die westlichen Industriestaaten mehr leisten als nur eine Beendigung der Sanktionen. Südafrika muß wirtschaftlich eine neue Chance erhalten. Im Schlußabsatz unseres interfraktionellen Antrags ist mehr oder minder in Aussicht gestellt, daß wir dies wollen.Ich glaube, wir haben etwas zu bieten. Die Bundesrepublik ist der wichtigste Lieferant Südafrikas und steht als Abnehmer südafrikanischer Waren hinter Italien und Japan an dritter Stelle. Bei den Privatinvestitionen sind wir in einer ganz prominenten Position. Aber darüber hinaus ist auch wichtig, zu realisieren, daß rund 80 % der Wirtschaftsbeziehungen Südafrikas mit Europa abgewickelt werden. Daraus ergibt sich meines Erachtens die Notwendigkeit einer vorwärtsgerichteten politischen Strategie. Der Wegfall der Sanktionen im richtigen Augenblick darf nicht das letzte Wort sein. Wenn Südafrika seine internen Zukunftsaufgaben lösen und zugleich eine konstruktive Rolle auf dem afrikanischen Kontinent spielen soll, muß anstelle seiner Isolation seine Einbindung in das internationale ökonomische Netzwerk und zugleich in die Gemeinschaft der freien Völker in politischer Hinsicht zum Ziel gemacht werden.
Denn es geht um die Wiederaufnahme Südafrikas in die Völkergemeinschaft, und das sollte etwas sein, das wir in Deutschland, die wir selbst einmal außerhalb dieser Gemeinschaft gestanden haben, gut verstehen und worauf wir hoffentlich gut zu reagieren wissen.
Wenn Südafrika seinen Weg zur Beseitigung der Apartheid und zur friedlichen Lösung der Probleme des Zusammenlebens schwarzer und weißen Völker konsequent fortsetzt, dann müssen wir im Interesse des Gelingens dieses Experiments auch erwägen, ob nicht spezielle Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Südafrika angebracht sind, nachdem ganz Afrika im übrigen in solchen Beziehungen zu Europa steht. Nach meiner Ansicht erfordert unsere Interessenlage eine langfristig angelegte Politik des konstruktiven Engagements. Es ist dafür hohe Zeit, hoffentlich nicht schon zu spät.Ich persönlich bin froh, daß ich hier nicht eine jahrelange Politik der Sanktionen zu verteidigen
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Dr. Volkmar Köhler
habe, die tiefe Schädigungen in der Wirtschaft und in der Beschäftigungssituation des Landes zur Folge hat.
Ich bin froh, sagen zu können, daß wir 1977 in das Grundsatzpapier unserer Fraktion zu Südafrika hineingeschrieben haben: Wir fordern die Beseitigung der Apartheid und sind unter diesen Umständen bereit, konkret wirtschaftlich dem Land auf die Beine zu helfen.
Nun hat das Wort unser Kollege Hans-Günther Toetemeyer.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine lieben am Thema interessierten Kolleginnen und Kollegen!
Seit der Einbringung des Antrags der Koalitionsfraktionen zum Frieden und zur Entwicklung im südlichen Afrika im Juni des vergangenen Jahres — der Kollege Köhler hat noch einmal darauf hingewiesen; so lange ist das schon her —
— richtig — hat sich in dieser Region vieles — ich hoffe, wir stimmen darin überein, Herr Kollege Köhler — zum Positiven verändert. Insbesondere die Entwicklung in der Republik Südafrika in den letzten Wochen macht auf einmal unsere heutige Debatte hochaktuell. Zu diesem Thema hat der Kollege Günter Verheugen eben gesprochen. Ich möchte mich daher in meinen Ausführungen auf Ihren Antrag, den ich eben erwähnt habe, sowie auf den von uns eingebrachten Antrag zu Angola beschränken.
Zunächst zur Regionalpolitik im südlichen Afrika. Obwohl es unsererseits zu wichtigen Feststellungen Ihres Antrags Zustimmung gibt, vermissen wir doch wesentliche Aussagen. Dies war der Grund für die Einbringung unseres Änderungsantrags. Sosehr wir Ihrer Forderung nach notwendiger Umstrukturierung afrikanischer Volkswirtschaften zustimmen, müssen wir immer wieder darauf hinweisen, daß gleichzeitig — gleichzeitig! — Strukturreformen sowohl in den Industrieländern als auch in der Weltwirtschaft durchgeführt werden müssen.
Geschieht dies nämlich nicht, dann verläuft jede wirtschaftliche Strukturreform in einem afrikanischen Land wortwörtlich im Sand.
Zum letzten Weltwirtschaftsgipfel in London im Dezember letzten Jahres hat die „Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung" — GKKE —, haben also die beiden großen Kirchen unseres Landes eine bemerkenswerte Studie veröffentlicht mit dem Titel „Plädoyer für Afrika". In ihr spricht die EKKG von einem verlorenen Jahrzehnt für Afrika und verweist zum Beleg u. a. auf den Verfall der terms of trade und der „Verfangenheit in der Schuldenfalle". Sie fordert daher — und dieser Forderung möchte ich mich vorbehaltlos anschließen —: „Diesem Verfall, dessen Opfer die armen Menschen sind, dürfen die reichen Länder des Westens nicht teilnahmslos zusehen." Die Kirchen verweisen auf die Kolonial- und — für mich bemerkenswert selbstkritisch — die Missionszeit und die sich aus dieser historischen Verantwortung ergebende Verpflichtung für Europa.
An dieser Stelle ist uns der Antrag der Koalitionsfraktionen einfach zu dünn. Wir sollten immer wieder den Mut haben, uns zu unserer Geschichte zu bekennen. Ich zitiere noch einmal:
Wir Bürger und Christen sind hier als Nächste gefragt, wenn es uns auch angesichts deutscher und gesamteuropäischer Sorgen schwerfallen mag, dieser Anforderung die ihr gebührende Aufmerksamkeit zu schenken.
Ausdrücklich teilt die GKKE die Sorge der afrikanischen Länder, daß aus diesem Grunde eine Ressourcenverlagerung in Europa stattfindet, und fordert eindringlich, daß ein Privatisierungssystem nicht zu Lasten Afrikas erfolgen darf.
Ich möchte an drei Punkten unser Anliegen noch einmal deutlich machen.
Erstens. Ich hatte schon in der ersten Lesung darauf hingewiesen, wie die gegenwärtige außenwirtschaftliche Lage der afrikanischen Länder trotz jahrzehntelanger Entwicklungshilfe bei unterschiedlichen Regierungen ist. Die Kirchen haben recht, wenn sie darauf hinweisen, daß eine Verbesserung dieses Zustandes nicht durch das Anwerben vermehrter Direktinvestitionen allein erreicht werden kann, auch nicht durch schlichte quantitative Verbesserung der Hilfe, sondern daß es hier — und auch da stimme ich den Kirchen zu — „vielmehr um einen Abbau des außenwirtschaftlichen Drucks, der auf den Entwicklungsländern lastet, vor allem in Gestalt von Nettokapitalabflüssen auf Grund bestebener Zahlungsverpflichtungen und dem damit verbundenen Zwang, Devisen und Exporte zu verdienen" geht.
Zweitens. Wenn Sie in Ihrem Antrag die Bundesregierung auffordern, „ihre Außen-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik im Rahmen der gemeinsamen Politik der europäischen Mitgliedstaaten" entsprechend auszurichten, so ist dies unserer Auffassung nach wiederum zu kurz getreten. Unberücksichtigt bleiben die Folgen, die sich ab 1993 durch Realisierung des europäischen Binnenmarktes für Afrika ergeben. Es ist doch unbezweifelbar so, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß das schon heute vorhandene EG-interne Strukturgefälle zwischen
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Hans-Günther Toetemeyer
Nord- und Südländern dann deswegen ab 1993 voll zum Tragen kommen wird, weil die Südländer innerhalb Europas darauf drängen werden, als Kompensation vom Angebotsdruck aus Drittländern entlastet zu werden.
Ich teile daher die Befürchtung der Kirchen, daß die Weiterentwicklung zum EG-Binnenmarkt überwiegend negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung der afrikanischen Länder haben wird. Eine Revision von Lomé IV erscheint mir daher dringend geboten, da der Vertrag bis heute diesen Gefahren keine Rechnung trägt. Leider ist er, wie die Fachleute wissen, 1990 für zehn Jahre abgeschlossen worden, so daß rechtlich erst im Jahre 2000 eine solche Korrektur möglich ist. Dies könnte zu spät sein.
Drittens. Es fehlt in Ihrem Antrag nach unserer Auffassung auch eine kritische Auseinandersetzung mit den sogenannten Strukturanpassungsprogrammen. Auch hier haben die Kirchen recht, wenn sie darauf hinweisen:
Gerade in den ärmsten Ländern Afrikas dürfen sich diese Programme nicht in erster Linie an der Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit des Landes ausrichten, sondern am Ziel einer nachhaltigen Befriedigung der Grundbedürfnisse der Menschen .
Daher fordern wir in unserem Ergänzungsantrag, der Ihnen vorliegt, Strategien hierzu, die eine auf Dauer tragfähige, wirtschaftlich produktive, sozial gerechte und menschenwürdige Entwicklung fördern. Es geht also um eine entscheidende Modifizierung dieser Strukturanpassungsprogramme — und hier darf ich noch einmal die Kirchen zitieren —, „damit sie nicht zu Lasten der Ärmsten gehen und damit quasi nachträglich das Verhalten der Eliten in diesen Ländern sanktionieren".
In diesem Zusammenhang verweisen die Kirchen darauf, daß sie selber — wer mit ihnen öfter spricht, wird das immer wieder hören — als Folge dieser Strukturanpassungsmaßnahmen in einem ihre Möglichkeiten bei weitem übersteigenden Maße von den afrikanischen Regierungen gebeten werden, Verantwortung für das Erziehungs- und Gesundheitswesen und für Aufgaben der sozialen Sicherung zu übernehmen, weil hierfür keine staatlichen Mittel mehr vorhanden sind.
Wir hatten schon bei den Beratungen im Ausschuß entsprechende Ergänzungen Ihres Antrags gefordert. Ich bedauere sehr, daß es nicht zu einem gemeinsamen Antrag hat kommen können. Wegen der aufgezeigten Defizite können wir Ihrem Antrag leider nicht zustimmen. Wir bitten um Annahme unseres Änderungsantrages. Da wir aber dem Ansatz Ihres — wie dargestellt, unvollkommenen — Antrages nicht widersprechen wollen und können, werden wir uns in der Schlußabstimmung der Stimme enthalten.
Abschließend noch einige Sätze zu Angola: Ein weiteres afrikanisches Land befindet sich nach 16 schrecklichen Kriegsjahren — Übertragung des Ost-West-Konfliktes auf ein völlig unbeteiligtes Volk — auf einem hoffnungsvollen Weg zum Frieden. Wir waren Anfang Februar mit einer Delegation der Deutsch-Afrikanischen Parlamentariergruppe im Lande. Die Erkenntnisse, von denen ich hoffe, daß alle Fraktionen ihnen — der Kollege Waldburg-Zeil hat es ja angedeutet — am Ende zustimmen können, sind in unserem Antrag als Aufforderung an die Bundesregierung zusammengefaßt.
Uns scheint allerdings umgehend politisches Handeln erforderlich zu sein, wobei ich mich heute auf einen Punkt, nämlich auf den der Minenräumung, beschränken möchte. Da dies — ähnlich wie in Somalia — nur von einer NGO durchgeführt werden kann, bin ich sehr glücklich, Ihnen hier heute mitteilen zu können, daß Dr. Rupert Neudeck vom Komitee Cap Anamur/Deutsche Not-Ärzte sowohl dem Auswärtigen Amt als auch mir gestern mitgeteilt hat, ein entsprechendes Minenräum-Equipment in Angola zu übernehmen.
Wegen der Bedeutung dieser Maßnahme — denn sonst könnten sehr viele Orte zu Wahlregistrierung, die im Augenblilck stattfindet, wegen Verminung gar nicht erreicht werden, es könnte dort auch keine Wahl stattfinden — muß hier, Herr Staatsminister, sehr schnell gehandelt werden. Ich bitte daher das Auswärtige Amt, die erforderlichen Schritte umgehend einzuleiten. Wir alle sollten diesem an Ressourcen so reichen Land nach langen Jahren unsagbaren Leidens auf dem Weg in eine friedliche Zukunft tatkräftig zur Seite stehen.
Lassen Sie mich abschließend noch einmal aus der Studie zitieren:
Die Kirchen plädieren dafür, daß Afrika angesichts der tiefgreifenden Veränderungen in Europa nicht abgeschrieben und vergessen wird.
Ich danke Ihnen.
Nun hat Herr Staatsminister Helmut Schäfer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung unterstützt die Politik von Staatspräsident de Klerk und Nelson Mandela. Sie hofft daher auf eine möglichst breite Unterstützung des Referendums am 17. März.Bei unseren Gesprächen in Südafrika — auch bei meinen Gesprächen im vergangenen November — mit allen wesentlichen Repräsentanten dort waren wir uns darin einig, daß es keine Alternativen zu dem Prozeß der völligen Beseitigung der Apartheid in Südafrika geben kann. Das war sowohl die Meinung des Staatspräsidenten als auch des ANC-Vorsitzenden, aber auch die Auffassung der Liberalen Demo-
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6820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Staatsminister Helmut Schäferkratischen Partei und — damals zumindest noch — der Inkatha Freedom Party. Daß sich die rassistische konservative Partei mit dieser Entwicklung nicht abfinden will, ist ein trauriges Beispiel für einen völligen Realitätsschwund.Südafrika vollzieht jetzt das längst fällige Abgehen von der von vornherein zum Scheitern verurteilten Apartheidpolitik, die letztlich diesem Land schweren politischen und wirtschaftlichen Schaden zugefügt hat. Im Sommer des vergangenen Jahres wurden mit der Abschaffung zentraler Apartheidsgesetze und der weitgehenden Freilassung der politischen Gefangenen entscheidende Fortschritte erzielt.Ein weiterer wichtiger Schritt, den wir heute schon diskutiert haben, war die Einberufung des Konvents für ein demokratisches Südafrika, CODESA, am 20. Dezember, bei dem die EG einen offiziellen Beobachterstatus hat. Es gibt bereits erste positive Ergebnisse der Arbeiten des Konvents. So besteht grundsätzliche Übereinstimmung über ein ungeteiltes Südafrika und über einige Grundzüge der künftigen staatlichen Ordnung. Ich bin froh, daß man sich inzwischen auch etwas dem Föderalismus zuwendet, was vor einigen Monaten noch nicht der Fall war.Vieles ist aber noch zu tun. Ich nenne nur die Bildung einer Übergangsregierung, die Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung und die Abschaffung der Homeland-Politik. Der Abbau der Diskriminierung im Erziehungsbereich sowie im wirtschaftlichen und sozialen Leben muß angegangen werden; aber das wird viel Zeit beanspruchen.Es ist klar, daß ein positives Ergebnis des Referendums günstige Auswirkungen auf den Verhandlungsprozeß haben wird. Es wird grünes Licht für die Vollendung eines Werks gegeben, das Staatspräsident de Klerk und Nelson Mandela gemeinsam begonnen haben. Zugleich wird aber auch den ewig Gestrigen in Südafrika klargemacht, daß sie nicht nur in Südafrika insgesamt, sondern auch unter den Weißen selbst in der Minderheit sind. Diejenigen Weißen, denen es besonders schwerfällt, von ihren Privilegien Abstand zu nehmen, fordern wir auf, sich dem Verhandlungsprozeß anzuschließen.
Herr Köhler, Sie haben das auf die Buren bezogen. Ich hoffe, daß es nur die Buren sind. Aber es gibt leider, über die Buren hinaus, in der Kapprovinz solche Sorgen und Ängste.
Das gilt aber auch für schwarze Gruppierungen, die angesichts der wachsenden Bedeutung des ANC offensichtlich die Lust verlieren, an diesem Prozeß noch teilzunehmen. Hier gibt es ja gute Verbindungen zu solchen Gruppierungen und die Möglichkeit, sie vielleicht zur Vernunft zu bringen, auch wenn ihnen offenbar die Felle davonschwimmen. Ich kann nur hoffen, daß wir nicht auf dem rechten und linken Spektrum der schwarzen Seite ganz ähnlichen Widerstand gegen dieses Referendum vorfinden.Die Bundesregierung hat bereits in der Vergangenheit zusammen mit ihren europäischen Partnern erklärt, daß sie bereit ist, Südafrika bei der Lösung seiner wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu unterstützen. Ich verweise in diesem Zusammenhang auch auf die Erklärung des Europäischen Rates in Rom vom Dezember 1990, in der die europäischen Staaten ihre Bereitschaft erklärt haben, „einen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage" durch die Aufhebung des Verbots neuer Investitionen zu leisten.Eine Reihe der restriktiven Maßnahmen ist bereits aufgehoben worden. Herr Kollege Spranger hat aber darauf hingewiesen, daß wir uns bewußt sind, daß Südafrika seine Dritte-Welt-Problematik morgen nicht allein lösen kann. Es sind Voraussetzungen zu schaffen, daß wir zusammen mit unseren europäischen Partnern Südafrika helfen und einen sichtbaren Beitrag zu einem neuen, demokratischen Südafrika leisten.Es ist offenkundig, daß mit dem Referendum am 17. März auch über die Entwicklung der künftigen regionalen Zusammenarbeit entschieden wird. Ein negatives Votum wäre für die gesamte Region ein schwerer Rückschlag. Der Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Südafrika und seinen Nachbarstaaten wäre in Gefahr. Wir alle hoffen, daß es nicht dazu kommen wird.Die Bundesregierung begrüßt die entsprechende Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Sie teilt und unterstützt die darin zum Ausdruck kommende Auffassung, daß eine intensivierte Zusammenarbeit in der Region ein wichtiger Faktor für Frieden, Stabilität und Wohlstand in der gesamten Region ist.Meine Damen und Herren, es wurde auf andere Brennpunkte des südlichen Afrikas hingewiesen, auf Angola, wo die Vorbereitungen für die Wahlen im September 1992 weiter vorankommen. Die Aussichten für einen dauerhaften Frieden sind gut. Die Bundesregierung wird Angola bei der Wahlvorbereitung helfen. Die Vorbereitungen für die Aufnahme offizieller Entwicklungshilfe sind, wie Herr Spranger bereits gesagt hat, eingeleitet.Die Friedensverhandlungen über Mosambik, befinden sich in der zehnten Verhandlungsrunde. Es gibt erste Fortschritte. Ich kann nur hoffen, daß in der weiteren Entwicklung die sogenannte RENAMO auch in die Lage versetzt wird, selbst zu verhandeln bzw. die Fähigkeit zeigt, die Verhandlungen zu einem guten Ende zu führen. Ich kann nur wünschen, daß beide Seiten möglichst umgehend einem Waffenstillstand zustimmen; denn ich glaube, das ist ja nun eine ganz entscheidende Voraussetzung für den Frieden in Mosambik.Das Bild Afrikas bei uns ist, Herr Kollege Toetemeyer, in der öffentlichen Meinung von negativen Entwicklungen bestimmt. Wir sehen das ja auch heute abend hier. Auch die späte Stunde, zu der diese Beratung im Deutschen Bundestag stattfindet, weist darauf hin, daß diesem Thema im Vergleich zu der sogenannten Aufarbeitung unserer Vergangenheit nicht die gleiche Zeit und auch nicht die gleiche Aufmerksamkeit beigemessen werden. Aber ich
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Staatsminister Helmut Schäferglaube, das ist ein Kampf, den wir noch lange zu führen haben werden.Ich darf nur sagen, daß gerade die Entwicklung Afrikas und auch die Tatsache, daß dort ja inzwischen positive Entwicklungen zu sehen sind, hier langsam auch etwas deutlicher gesehen werden müßten,
denn es gibt nun einmal nach Erhebungen der Weltbank immerhin schon 20 afrikanische Staaten, die Strukturanpassungsprogramme durchführen und die zwischen 1989 und 1990 im Schnitt eine wirtschaftliche Wachstumsrate gehabt haben, die über der Wachstumsrate der Bevölkerung liegt. In diesen Staaten ist das Pro-Kopf-Einkommen gestiegen. Deutlich wird aber auch, daß der Zeitrahmen für eine erfolgreiche Umstrukturierung länger sein wird als ursprünglich angenommen.
Meine Damen und Herren, offensichtlich wird auch, daß der Einparteienstaat in Afrika die an ihn geknüpften Hoffnungen nicht erfüllt hat. Ich glaube, daß der Wille der Bevölkerung vieler afrikanischer Staaten zu einem Pluralismus von ihren jeweiligen Regierungen nicht mehr übergangen werden kann. Wir haben das erlebt. Ich kann nur hoffen, daß man auch die ethnischen Spannungen eher durch ein vernünftiges Zusammenspiel verschiedener Kräfte überwindet als durch den Versuch, die ethnischen Spannungen in einem Einparteienstaat mit Unterdrückung zu überwinden.Wir sollten nicht vergessen, daß über viele Jahre hinweg in Staaten wie Botswana, Senegal, Gambia, Simbabwe, Mauritius demokratische Strukturen schon gut funktioniert haben. Zu begrüßen ist, daß der nigerianische Präsident bei seinem Besuch in Bonn in der vorigen Woche angekündigt hat, daß bis Ende dieses Jahres in Nigeria Wahlen durchgeführt werden. Ich finde, wir sollten Benin und Sambia für den demokratischen Prozeß dort loben. In Sambia wurde eine 23jährige Einparteienherrschaft durch Wahlen beendet. Aber auch in Mali und in Kamerun haben sich die Dinge entwickelt. Es werden Wahlen vorbereitet.Wir begrüßen diese politischen Reformen nachdrücklich und fördern sie. Die Bundesregierung ist bereit, Staaten mit konsequenten wirtschaftlichen und politischen Reformen — das scheint mir besonders wichtig zu sein — im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Zusammenarbeit besonders zu stützen. Wir sollten nicht Staaten bestrafen, die den Weg gehen, den wir ihnen seit Jahren geraten haben, und die, wenn sie ihn gegangen sind, feststellen müßten, daß ihnen nicht sehr viel mehr geholfen wird. Ich glaube, das ist auch ein sehr wichtiger Gesichtspunkt unserer Entwicklungspolitik.Meine Damen und Herren, ich glaube, daß auch der Fonds für Demokratiehilfe, den wir noch etwas verstärken müßten, dazu beiträgt, Wahlen gut durchzuführen. Ich hoffe, daß diese Wahlhilfe schon bald in Äthiopien und in Angola, in Staaten, die jahrzehntelang unter internen Kriegen gelitten haben, helfen wird, eine Veränderung herbeizuführen.Wir sind besorgt — ich darf das hier ausdrücklich sagen — über Turbulenzen in großen Staaten, die traditionell gute Beziehungen speziell zum Westen unterhalten haben: in Kenia und in Zaire. Ich darf in diesem Zusammenhang noch einmal ausdrücklich bei der Regierung in Zaire anmahnen, das Zusammentreten einer nationalen Konferenz in diesem Staat nicht länger zu verhindern.
Auch in Kenia muß die Regierung langsam einsehen, daß sie eine Liberalisierung des politischen Systems auf Dauer nicht verhindern kann.Ich habe — Herr Kollege Weiß, es freut mich, daß Sie zum erstenmal in einem Antrag meinen Namen aufführen — nicht gesagt, daß Äthiopien der Schwerpunkt wird, sondern ich habe gesagt, daß Äthiopien ein Schwerpunkt unserer Entwicklungspolitik wird, aber ich finde es gut, daß Sie das herausgestrichen haben. Was mir in Äthiopien gesagt worden ist, war vor allen Dingen: Schicken Sie uns möglichst schnell Verfassungsexperten, die uns helfen, unsere Verfassung zu entwickeln — also gar nicht Geld! —, und natürlich auch Experten, die uns helfen, so etwas wie eine Marktwirtschaft einzuführen. Das klingt vertraut. Es kommt aus Äthiopien, aber es ist verwandt mit all dem, was wir an anderer Stelle in Europa erleben.Meine Damen und Herren, bedrückend bleibt die Lage im Sudan und in Somalia. Ich darf hier noch einmal sagen, daß wir alles unterstützen werden — sowohl Maßnahmen der Vereinten Nationen als auch der Organisation Afrikanischer Staaten —, damit dieser schreckliche Bürgerkrieg beendet werden kann, daß insbesondere die sudanesische Regierung endlich einsieht, daß mit Folterungen, daß mit politischen Gefangenen und daß mit einer Nichtberücksichtigung der internationalen Proteste gegen ein solches Verhalten dem Sudan auf Dauer nicht geholfen werden kann.Lassen Sie mich zum Schluß kommen und sagen, daß wir vor den vielfältigen und tiefgreifenden Problemen Afrikas nicht kapitulieren wollen — zumindest das Häuflein der Aufrechten, das heute abend noch im Deutschen Bundestag anwesend ist, auch wenn sich die Mehrheit vielleicht nicht so unbedingt für die Zukunft des schwarzen Kontinents zu interessieren scheint.
Meine Damen und Herren, ich kann nur sagen: Die Vielzahl afrikanischer Besucher in der Bundesrepublik, aber auch die Besuche, die wir selber in Afrika im Verlauf des letzten und vorletzten Jahres gemacht haben, machen deutlich, daß wir nicht nur an Entwicklungshilfe und -unterstützung denken dürfen, sondern, bitte schön, auch an die politische Präsenz in diesen Staaten und die politische Präsenz bei uns denken müssen, damit deutlich wird, daß wir neben unserer intensiven Beschäftigung mit unserem Land, mit Mittel- und Osteuropa Afrika weiterhin helfen wollen und darin eine Verpflichtung auch des vereinigten Deutschlands sehen.
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6822 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Staatsminister Helmut Schäfer Vielen Dank.
Nun hat der Kollege Christian Schmidt das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die CSU hat den Vorgängen und Verhältnissen in den Ländern des südlichen Afrikas seit jeher die größte Aufmerksamkeit gewidmet.
Auch insofern setzt Bundesminister Carl-Dieter Spranger mit seiner Politik eine gute Tradition fort und befindet sich, wie wir aus der Debatte hören konnten, hier in voller Übereinstimmung mit dem Hause. Auch der Konflikt in Südafrika wurde in seinen Extremen gespeist von der Ost-West-Auseinandersetzung. Dies wird deutlich, wenn man alleine das ständige Engagement des kommunistischen Blocks in der Unterstützung der Radikalisierung und Militarisierung unzufriedener Gruppen und deren Organisationen betrachtet.
Mich würde es nicht wundern, wenn wir bei der Aufarbeitung der Vergangenheit feststellen würden, daß die eine oder andere Aktion, die beispielsweise gegen Franz Josef Strauß in diesem Zusammenhang hochgezogen worden war, seinen Nährboden auch in den Akten und in den geistigen Folterkammern des Herrn Mielke und anderer gefunden hat.
— Warten Sie es einmal ab. Wissen Sie alles?
Der Weg, die quälende Langsamkeit des Ref ormprozesses zu beschleunigen und die Regierung in Pretoria in offenem Gespräch zum Handeln zu drängen, hat — auf lange Sicht gesehen — Erfolg gehabt. Zwar ist der große Schritt nach vorne nach Beendigung des Ost-West-Konflikts nun von Präsident de Klerk gegangen worden; jedoch gab es ja erste hoffnungsvolle Anzeichen bereits zu Zeiten von P. W. Botha.
Wir haben damals alle auf die große Rede gewartet. Es gab die Aufhebung der sogenannten kleinen Apartheid. Leider kam die oft in Aussicht gestellte Aufhebung beispielsweise des „group area acts" viel zu spät, als daß sie noch hätte wirken können.
Hoffnungsvolle Ansätze eines Gesprächs zwischen Schwarz und Weiß wie beispielsweise die von Gatsha Buthelezi initiierte Indaba in Natal wurde nicht genutzt und fand bei uns zuwenig Resonanz, weil sie manchen nicht ins polarisierte Weltbild paßte.
— Bestreiten Sie, daß das eine Chance gewesen wäre?
— Dann haben Sie sich nicht damit auseinandergesetzt. —
Deshalb ist auch das Einwirken auf die politisch Verantwortlichen und die Inhaber der Regierungsmacht richtig, eine Verfassungsreform voranzutreiben, die Südafrika die Chance gibt, im internationalen Konzert der Staaten nach Ende des Ost-West-Konflikts eine wesentliche Rolle als sachkundiger Vermittler im Nord-Süd-Konflikt zu übernehmen. Wenn hinter das Erreichte zurückgefallen wird, wenn die Apartheid wiederbelebt würde, so bestünde die Gefahr, daß sich Südafrika selbst in eine internationale Isolation hineindrängt, aus der ihm auch die Wohlmeinenden nicht ohne weiteres werden heraushelfen können.
Die Folgen für die Wirtschaft und die Politik wären schlimm.
Wichtig ist, daß diese Verfassungsreform einen evolutionären Aufstieg der farbigen und der schwarzen Bevölkerung vollzieht, daß sie dabei die kulturellen Eigenarten aller — auch der Weißen — erhält und daß eine Unterdrückung oder Ausrottung von Minderheiten unmöglich gemacht wird und ein friedliches Zusammenleben zustande kommt. Wenn das Referendum erfolgreich abgeschlossen werden kann — was wir alle hier hoffen —, müssen alle noch bestehenden Sanktionen und Handelsbeschränkungen umgehend beseitigt werden. Südafrika muß der Weg in alle internationale Organisationen offenstehen, in die es einzutreten wünscht und die diesem Land nach ihrer Struktur offenstehen sollten. Südafrika muß in allen Bestrebungen unterstützt werden, seine Rolle als stabiler und moderner Industriestaat auch zum Wohl der gesamten Region im südlichen Afrika zu festigen.
Wenn ich die Äußerungen von der SPD — zumindest die zu Beginn — richtig interpretiere, ist festzustellen, daß man dort bereit ist, unsere Linie insofern mitzutragen. Ich begrüße das und hoffe, daß von der heutigen Debatte die Botschaft nach draußen geht, daß für die Menschen in Südafrika eine Zukunft in Frieden und Freiheit, in Gleichheit und Gerechtigkeit mit einem positiven Ausgang des Referendums in greifbare Nähe rückt.
Ich danke Ihnen.
Nun hat der Kollege Dr. Werner Schuster das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mein Thema heute in dieser Debatte beschränkt sich auf die Glaubwürdigkeit deutscher Entwicklungspolitik im südlichen
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6823
Dr. R. Werner SchusterAfrika — aber sicher nicht nur dort, Herr Minister — oder, um es mit Ihrem Antrag zu formulieren: „Entwicklungspolitische Chancen wirklich nutzen".Lassen Sie mich mit einer persönlichen Geschichte beginnen. Die Konrad-Adenauer-Stiftung hatte Anfang Juni 1991 eine sehr interessante, heterogen zusammengesetzte Delegationsrunde aus Südafrika zu Gast. Die Vertreter aller wichtigen politischen und gesellschaftlichen Organisationen haben Herrn Verheugen und mir gegenüber damals ziemlich deutlich formuliert, was sie alle, obwohl von völlig unterschiedlichen politischen Positionen ausgehend, von der Bundesrepublik und Europa nach Abschluß des Demokratisierungsprozesses erwarten, nämlich finanzielle und organisatorische Unterstützung sowie private Investitionen. Man traute damals aber den Versprechungen der Europäer nicht. Schließlich seien einschlägige Zusagen gegenüber Simbabwe zu Beginn des dortigen Demokratisierungsprozesses später nur in geringem Umfang eingehalten worden.Meine Damen und Herren, heute verzeichnen wir auf der einen Seite in einigen Staaten Schwarzafrikas tiefgreifende Umbrüche mit hoffnungsvollen Entwicklungen wie in Südafrika, Namibia, Angola, aber auch Äthiopien und Eritrea. Auf der anderen Seite stehen Länder mit abgehalfterten Diktatoren wie Zaire und Kenia, in welchen hoffnungsvolle Demokratiebewegungen brutal niedergeknüppelt wurden.Wir in der Ersten Welt müssen uns jetzt entscheiden, ob wir uns weiterhin als mehr oder minder stillschweigende Außenbeobachter — quasi als lächelnder Mann oder lächelnde Frau im Mond — betrachten oder ob wir uns aktiv einmischen, Partei ergreifen und Chancen nutzen.
In den Anträgen der Regierungskoalition und in vielen Beiträgen heute wurde viel Kluges über die internen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Reformpolitik ausgeführt. Herr Minister, ich unterstütze diese Forderung ausdrücklich, da sie den einen Teil der Wahrheit darstellt. Aber ebenso ausdrücklich muß ich auf die externen Ursachen von Hunger und Not in vielen Teilen Afrikas hinweisen. Entsprechende Schritte zu deren Überwindung müssen eingeleitet werden. Solange Schuldendienstleistungen, Preisverfall, Handelshemmnisse und anderes mehr die wirtschaftlichen Entwicklungen in diesen Ländern hindern, bleiben alle wirtschaftlichen Strukturreformen, welche die genannten Länder ja erfreulicherweise bereits selbst einleiten, zum Scheitern verurteilt.Der neue demokratisch gewählte Präsident Sambias, Frederick Chiluba, stellte kürzlich ernüchternd fest, daß demokratische und wirtschaftliche Reformen, wie sie in seinem Lande nun konsequent und mit starken wirtschaftlichen Belastungen — gerade auch der ärmeren Bevölkerung — angegangen werden, offenbar keine ausreichende Garantie für ein Entgegenkommen der internationalen Finanzinstitutionen IWF und Weltbank seien.
Die erhofften und angekündigten Erleichterungen bei den sambischen Auslandsverbindlichkeiten blieben bisher weitgehend aus.Der äthiopische Staatspräsident, Meles Zenawi, hat neulich in einem epd-Interview ähnliches geäußert:Es scheint einen allgemeinen Trend zu geben, beim Beginn von Demokratisierungsprozessen Hilfe zu versprechen. Aber wenn mit der Demokratisierung Ernst gemacht wird, gibt es sehr wenig tatsächliche Hilfe. Ich hoffe, daß sich dieser Trend in unserem Fall nicht fortsetzt.Herr Minister, da ist das kurzfristige Umsteuern Ihres Ministeriums gegenüber Sambia natürlich begrüßenswert. Aber gleichzeitig sitzen Ihre Kollegen Möllemann, Kiechle und Waigel nach wie vor auf der Armesünderbank. Entwicklungspolitische Chancen nutzen, das bedeutet nämlich wesentlich mehr als nur den Einsatz der bekannten entwicklungspolitischen Instrumente. Entwicklungspolitik muß, um mit Björn Engholm zu reden, unabdingbar als Querschnittsaufgabe definiert, verstanden und umgesetzt werden.
— Das bestreite ich nicht, Herr Kollege Köhler.Damit bin ich beim zweiten Punkt von Glaubwürdigkeit. Der Beweis, daß es sich bei den neuen Kriterien von Entwicklungszusammenarbeit, Herr Spranger, um mehr als nur um Lippenbekenntnisse handelt, der muß erst noch systematisch erbracht werden. In vielen Ländern, über die wir heute reden, haben in jüngster Zeit ermutigende Entwicklungen eingesetzt, welche zur Beendigung von jahrelangen kriegerischen Auseinandersetzungen, zur wesentlichen Verbesserung der Menschenrechtslage, zu mutigen politischen und wirtschaftlichen Reformen, zu Pluralismus und sogar zur Senkung von Rüstungsausgaben geführt haben.Wann, wenn nicht jetzt, muß diesen und anderen Ländern die bitter notwendige Unterstützung gegeben werden, um z. B. die völlig am Boden liegende wirtschaftliche und soziale Infrastruktur wieder in Schwung zu bringen? Wann, wenn nicht jetzt, müssen die Demokratisierungsprozesse durch systematische Alphabetisierungs-, Bildungs- und Fortbildungsmaßnahmen gefördert werden?Die vorliegenden Anträge bieten unbestritten gute Anregungen, welche schnell umgesetzt werden müssen. Doch die Frage wird sein: Sind wir auf diese von uns immer wieder öffentlich herbeigewünschte Situation professionell vorbereitet? Der Erwartungsdruck der schwarzen Bevölkerung z. B. in Südafrika wird mit Schaffung einer Übergangsregierung vorhersehbar völlig unrealistisch zunehmen. Am Beispiel der ehemaligen DDR mit ihren wesentlich günstigeren Voraussetzungen lassen sich die negativen Konsequenzen leicht abschätzen.
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6824 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Dr. R. Werner SchusterSind wir eigentlich, Herr Minister, methodisch ausreichend darauf vorbereitet, in diesen Umbruchsituationen schnell die richtige Unterstützung am richtigen Ort anbieten zu können? Gibt es ausreichend detaillierte Konzepte in der Schublade? Kennen wir unsere Ansprechpartner vor Ort? Sind wir am Beispiel Südafrikas, welches zur Zeit formal natürlich kein Entwicklungsland ist, bereit, über NGOs im Norden qualifizierte Hilfe an NGOs in Südafrika zu gewährleisten? Oder beginnen erst jetzt „talks about talks"? Werden diese in Ihren Anträgen formulierten Anregungen von der gesamten Bundesregierung unterstützt werden?Ich würde mir wünschen, meine Damen und Herren, daß in der weiteren Beratung dieser Anträge in den Ausschüssen gerade die Frage der konkreten, praktischen Umsetzungen eine dominante Rolle spielt.Nicht zuletzt muß auch die Gretchenfrage nach der „Kohle" positiv beantwortet werden, sonst bleibt alles platonisch. Wir erwarten, daß Sie, Herr Minister, uns im Ausschuß bereits definitiv berichten können in welchem Umfang die entwicklungspolitischen Leistungen für die in Rede stehenden Länder kurzfristig erhöht werden.Meine Damen und Herren, zum Schluß. Es wäre doch was, wenn spätere Bundestage feststellen könnten: Die achtziger Jahre, das war das verlorene Jahrzehnt für Schwarzafrika; aber die neunziger Jahre wurden Jahre des Segens für die Menschen in Schwarzafrika. Die Europäer haben es endlich verstanden und haben sich im richtigen Augenblick — das nennt man altgriechisch „Kairos" — engagiert, nicht gekleckert, sondern geklotzt, und allen voran die wiedervereinigten Deutschen. Lassen Sie uns diese Chance nutzen!Danke.
Was sind wir doch für ein gebildetes Parlament!
Jetzt hat der Kollege Ulrich Irmer das Wort.
Frau Präsidentin! Es ist lange her, daß sich dieses Haus im Plenum mit den Vorgängen in der Republik Südafrika auseinandergesetzt hat. Ich möchte hervorheben, daß dies die erste Debatte ist, an die ich mich überhaupt erinnern kann, die Südafrika betraf, in der wir allesamt hoffnungsvoll sind und in der wir positive Entwicklungen zu verzeichnen haben. Soweit es die Entwicklung in der Republik Südafrika betrifft, sollte diese Debatte den einen Sinn haben, nämlich an die weiße Minderheit in Südafrika zu appellieren: Stimmt bei dem Referendum für die Politik von de Klerk und von Mandela, und tut es mit einer ausreichenden und eindrucksvollen Mehrheit! Ich freue mich darüber, daß heute früh das Europäische Parlament einen entsprechenden Appellan die Weißen in Südafrika gerichtet hat. Ich glaube, wir sind hier auf dem richtigen Weg.Es war hier, Frau Präsidentin — jetzt kommt meine Bildung zum Zuge —, die Rede von „talks about talks". Ich will jetzt nicht „speeches about speeches" halten.
Aber ich will doch daran erinnern, daß wir in der Vergangenheit eigentlich schon immer betont haben, daß uns das Schicksal der weißen Minderheit in Südafrika nicht gleichgültig ist und daß wir bei aller Betonung der Notwendigkeit, die Apartheid restlos verschwinden zu lassen, auch immer gesagt haben: Die genuinen Rechte der Weißen müssen auch gewahrt bleiben.Ich habe heute noch einmal etwas herausgezogen. Was ich hier in der Hand halte, ist nicht etwa das Manuskript dessen, was ich Ihnen heute sagen will, sondern das ist eine uralte Presseerklärung. Sie ist zufällig vom 27. Juli 1988 datiert. Da habe ich damals gesagt:Die weiße Bevölkerungsminderheit hat ein eigenes Recht, auch nach restloser Beseitigung der Apartheid in Südafrika zu leben. Will sie erreichen, daß dieses Recht auf Dauer auch von der schwarzen Bevölkerungsmehrheit anerkannt und respektiert wird, muß sie selbst den notwendigen Wandel einleiten und durchsetzen. Je länger sie hiermit zögert, desto mehr gefährdet sie ihre eigenen Überlebens- und Zukunftschancen.Darauf will ich jetzt hinaus.
— Ja, manchmal hat man recht und manchmal behält man sogar recht.
Ich habe damals hier nämlich vorgeschlagen — das war im Jahr 1988 —, die weiße Regierung in Südafrika möge sich überlegen, einen Stufenplan einzuleiten, damit nach dem Ablauf von zehn Jahren — und ich habe die Hoffnung, daß sich diese Frist jetzt verkürzen kann —, gerechnet vom Jahr 1988 an, sich die Situation in Südafrika bereinigen lassen würde.Ich habe hier immer wieder betont: Das geht erstens nur, wenn bestimmte Vorleistungen erbracht werden. Ohne das konnte man den Schwarzen überhaupt nicht zumuten, sich auf irgendeine Reformdiskussion einzulassen. Diese Vorleistungen hat die Regierung de Klerk erbracht. Das war vor allem die Freilassung aller politischen Gefangenen, die Zulassung oppositioneller Organisationen, die Aufhebung des Ausnahmezustandes, die Wiederherstellung der Pressefreiheit. Dies alles ist als Vorleistung erbracht worden. Dafür müssen wir Herrn de Klerk unsere Anerkennung aussprechen.Jetzt kommt aber der Punkt, daß die Weißen auch wissen müssen, daß bei Zustimmung zu dem Referendum für sie völlig neue Chancen eröffnet werden. Es ist schon hier gesagt worden, daß die Sanktionen
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Ulrich Irmeraufzuheben sein werden, mit Ausnahme der Militärlieferungen.Es ist schon gesagt worden, daß die Europäische Gemeinschaft und die Bundesrepublik Deutschland intensive, verstärkte Zusammenarbeit im entwicklungspolitischen Bereich anbieten müssen, vorausgesetzt, daß der Reformprozeß erfolgreich weitergeführt werden kann.Dazu gehört insbesondere das Nachholen von Bildungschancen für die schwarze Mehrheitsbevölkerung. Das Land ist dringend darauf angewiesen, daß es qualifizierte Arbeitskräfte hat. Das ist bisher natürlich schamlos vernachlässigt worden. Die Schwarzen sind dort in einer Weise benachteiligt worden, gerade im Bildungsbereich, daß es gar nicht zu schildern ist. Hier sollten wir unsere Unterstützung und Hilfe anbieten.Es besteht die große Gefahr, daß das Land in Terror, in Bürgerkrieg, in Blutvergießen versinkt, wenn dieser so mutig begonnene Reformprozeß nicht zu einem guten Ende geführt werden kann.Umgekehrt hat das Land eine gute Zukunft vor sich, wenn es endlich bereit ist, auf Grund eines veränderten Systems die Ressourcen auszuschöpfen, über die es verfügt. Das sind nicht nur ganz erhebliche materielle Ressourcen, wie wir alle wissen, sondern das sind insbesondere die menschlichen Ressourcen der schwarzen Bevölkerungsmehrheit, die bisher nicht den Hauch einer Chance hatte, diese Möglichkeiten überhaupt zu ergreifen und auszunutzen.Meine Damen und Herren, Südafrika ist auf einem guten Wege. Der Appell von hier aus sollte sehr deutlich ausfallen an diejenigen, die heute noch als einzige berechtigt sind, an dem Referendum teilzunehmen: Liebe Weiße in Südafrika, stimmt dem zu!Frau Präsidentin, ich hätte noch einiges zu sagen. Meine Redezeit ist aber abgelaufen.
Sie können noch weitersprechen.
Gut, dann nutze ich das dazu, noch folgendes zu sagen: Wie ich Sie kenne, würden Sie mich zu Recht, wenn ich die Redezeit überschritte, hier gnadenlos abpfeifen.
— Ich sage „gnadenlos": Denn wenn, Frau Präsidentin, ein Vergleich Ihrer Person mit der Tierwelt überhaupt zulässig sein sollte, dann würde ich sagen: Sie sind — und damit sind wir wieder bei Afrika — allenfalls einer Löwin gleichzusetzen.
Ich danke Ihnen.
Nun hat der Herr Kollege Heinrich Lummer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man es genau sieht, ist eigentlich alles gesagt worden.
Das könnte einen veranlassen, zu sagen: Das war es denn. Aber bestimmte Dinge kann man nicht oft genug sagen.Vielleicht liegt die besondere Bedeutung der heutigen Debatte über Südafrika darin, daß im Prinzip alle das gleiche sagen. Jene Weißen in Südafrika sollten wissen, daß wir — woimmer wir bis heute in vielen Punkten unterschiedlicher Auffassung waren — in eben diesem zentralen Punkt einer Meinung sind.
Darauf kommt es, glaube ich, an, und nur dieses will ich im Grunde mit wenigen Bemerkungen auch unterstreichen.Wir haben jetzt zwei Jahre lang voller Hoffnungen, voller Sympathie bezogen auf einen Reformprozeß in Südafrika gelebt. Was mich persönlich anbetrifft, hatte ich im Grunde ein Gefühl innerer Sicherheit, als würde das von selbst ohne besondere Schwierigkeiten weiterlaufen. Dann kam jener Wahltag, vielleicht eine Stunde der Wahrheit, jedenfalls eine Stunde der dramatischen Zuspitzung. In dieser Stunde leben wir jetzt. Ich jedenfalls fühle ein Stück Risiko, Zweifel und habe eine ganz gehörige Portion Sorge; denn ich bin nicht sicher, wie das ausgehen wird.Es stellt sich doch die Frage: Wird dieser Prozeß gestoppt, wird er umgekehrt, oder geht es mit den Reformen weiter? Man kann sich gewiß ohne allzuviel Phantasie vorstellen, was passiert, wenn das Nein dominiert; schlimme Szenarien kann man sich ausdenken.Daher meine ich: Was wir wollen und wo wir stehen, können wir leicht formulieren, und das sollten wir formulieren, und zwar sehr deutlich. Wir unterstützen voller Überzeugung den vom Präsidenten de Klerk eingeleiteten Prozeß und schätzen seinen Mut und seine Konsequenz. Deshalb müssen wir alle Südafrikaner guten Willens auffordern, an sie appellieren, diesen Prozeß nicht zu stoppen oder gar scheitern zu lassen.Ich glaube schon, daß ein Stück Zukunft des südafrikanischen Staates auf dem Spiel steht. Die Dinge stehen, wenn man so will, auf des Messers Schneide. Als der Präsident am 20. Februar seine Rede dort hielt, bewegt und auch bewegend, hat er diese Dramatik eingefangen. Er weiß, was es für ihn und seine Politik bedeutet, wenn er sagt: Die Frage liegt auf dem Tisch; die Würfel sind gefallen; wenn ich dieses Referendum verliere, werde ich zurücktreten.Einer hat heute gefragt: War dieses Referendum denn nötig? Ich glaube schon, daß es nötig war; denn es gab doch im Lande die Diskussion: Hat er überhaupt noch ein Mandat für seine Verhandlungen? Diese Frage muß jetzt beantwortet werden. Er soll das Mandat haben, und darum hoffen wir, daß dieses Referendum positiv ausgeht.
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6826 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Heinrich LummerDas, was in den letzten zwei Jahren geschah, haben wir gewollt, begrüßt und auch gefördert. Wenn wir uns jetzt mit einer Willenserklärung gewissermaßen in die inneren Angelegenheiten dieses Landes einmischen, dann ist das, meine ich, schlicht und einfach notwendig, wo doch die Beziehungen der Völker so verflochten sind.Wir sollten aber auch deutlich machen: Wenn das Referendum positiv ausgeht, werden wir diesen Reformprozeß nicht nur wie in der Vergangenheit vielleicht mit guten Worten und Sympathie begleiten, sondern dann werden wir uns das auch etwas kosten lassen müssen; denn das ist ein Stück gesicherter Zukunft nicht nur für das südliche Afrika — eine solide, stabile Republik Südafrika braucht das ganze Südafrika, um eine Zukunft zu haben —, sondern auch ein Stück gesicherter Zukunft für uns. Das, meine ich, brauchen wir alle. Dafür sollten wir plädieren, und wir hoffen, daß wir nicht auf taube Ohren treffen.Danke schön.
Damit schließe ich diese Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. mit dem Thema: Ein Beitrag zu Frieden und Entwicklung durch Regionalpolitik im südlichen Afrika. Das betrifft die Drucksachen 12/851 und 12/1995.
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/2221 vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist dieser Änderungsantrag abgelehnt.
Wer stimmt dann für die Beschlußempfehlung in unveränderter Fassung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? —Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Wir stimmen jetzt über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. auf Drucksache 12/2232 ab. Wer stimmt für diesen Antrag? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Dann ist dieser Antrag bei wenigen Stimmenthaltungen einstimmig angenommen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/1814, 12/1656, 12/2159 und 12/2211 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Großen Anfrage des Abgeordneten Werner Schulz und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Stillegung des keramischen Standorts Großdubrau/Sachsen
— Drucksachen 12/1315, 12/1996 —
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE vor.
Interfraktionell ist für die Aussprache eine 10Minuten-Runde vereinbart worden. — Dazu gibt es keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Als erster hat das Wort der Kollege Werner Schulz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nicht alle Betriebe erregen so großes öffentliches Interesse oder haben so starke Fürsprecher wie die Werftarbeiter an der Ostseeküste oder die Stahlkocher in Hennigsdorf. Viele Betriebe erleiden im wahrsten Sinne des Wortes eine stille Liquidation.Wer sich die Antworten der Bundesregierung auf unsere Anfrage zur Vernichtung des Keramikstandortes Großdubrau ansieht und sie mit den Fragen vergleicht, kommt aus dem Staunen so schnell nicht wieder heraus. Die Bundesregierung hat immerhin drei Monate gebraucht, um eine völlig nichtssagende Antwort auf unsere detaillierten und begründeten Fragen zu geben. Bundesregierung wie Treuhandanstalt haben ein Problem, ein Kommunikationsproblem. Sie sind so damit beschäftigt, ihre angeblichen Erfolge darzustellen, daß sie gar nicht mehr dazu kommen, Fragen nicht nur als Anlaß für Erklärungen zu nehmen, sondern sie auch tatsächlich zu beantworten.Die Realität hinter den glatten Formulierungen sieht jedoch anders aus. Die Treuhandanstalt hat im Laufe der vergangenen zwei Jahre den Standort Großdubrau nach und nach — und man hat den Eindruck: systematisch — verkommen lassen. Da wurde zunächst die regional- und strukturpolitisch verheerende Entscheidung getroffen, zugunsten anderer Standorte die Produktion von Elektrokeramik in diesem Ort einzustellen. Selbst an der betriebswirtschaftlichen Vernunft dieser Entscheidung gibt es erhebliche Zweifel, die durch die windelweichen Antworten der Bundesregierung eher bestärkt als ausgeräumt werden. Doch davon abgesehen zeigen solche Fehlentscheidungen immer wieder, wie falsch es ist, Struktur- und regionalpolitische Vorgaben aus dem Auftrag der Treuhandanstalt heraushalten zu wollen. Dies führt nur dazu, daß die Fehlentscheidungen im Nachhinein mit einem erheblich höheren Aufwand an öffentlichen Mitteln korrigiert oder kompensiert werden müssen.Doch damit nicht genug. Es gab nach dieser Entscheidung mehrere Kaufinteressenten und auch Sanierungskonzepte. Es gibt auch jetzt noch aussichtsreiche Käufer, die im Unternehmen selbst, in der Belegschaft entstanden sind. Solche Sanierungskonzepte jedenfalls liegen vor.Alle diese Initiativen und wiederholten Vorschläge wurden von der Treuhand rundweg pauschal und ohne Angabe von Gründen abgebügelt. Chancen für die Erhaltung von 100 bis 200 Arbeitsplätzen wurden so vertan. Über quälend lange Zeit saß der Margarethenhütte ein von der Treuhand eingesetzter Geschäftsführer vor, der schon vor der Wende auf demselben Posten Erfahrungen für diese Aufgabe gesammelt hat. Trotz massiver Proteste von allen
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Werner Schulz
erdenklichen Seiten gegen die Arbeit dieses Geschäftsführers, der offenkundig nicht für die Erhaltung, sondern für die Vernichtung des Standortes arbeitete, sah die Treuhandanstalt über Monate und Monate keinen Anlaß, diesen Protesten nachzugehen und den Mann abzulösen.In der entsprechenden Antwort der Bundesregierung heißt es dazu — ich zitiere —:Die Treuhandanstalt ist kritischen Hinweisen bezüglich der Person des Geschäftsführers nachgegangen. Insbesondere hat wegen einer möglichen politischen Vorbelastung eine Überprüfung des Geschäftsführers durch den Vertrauensbevollmächtigten der Treuhandanstalt stattgefunden. Der Geschäftsführer ist inzwischen aus dem Unternehmen ausgeschieden.Diese Antwort reicht nicht aus. Wir wollen wissen — insbesondere die ehemalige Belegschaft hat ein Recht, diese zu erfahren — Aus welchen Gründen ist ieser Geschäftsführer ausgeschieden? Was haben die Untersuchungen der Treuhand ergeben? Warum hat es so lange gedauert? Ist der ehemalige Geschäftsführer in der Treuhand gedeckt worden? Sind treuhandinterne Konsequenzen gezogen worden? Ist ihm der Abschied mit einer großzügigen Abfindung versüßt worden? Herr Staatssekretär Grünewald wird ja nachher die Gelegenheit haben, diese Details zu erläutern oder nachzutragen.Ein anderer Komplex, der nach wie vor der Aufklärung harrt, ist die Demontage von Maschinen und Anlagen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ohne die notwendige Dokumentation, offenbar nur zu dem Zweck, eine Wiederaufnahme der Produktion in Großdubrau unmöglich zu machen. Die Bundesregierung — wir haben die Antwort sehr aufmerksam gelesen — will von einer Nacht-und-Nebel-Aktion nichts wissen, aber sie war ja auch nicht dabei. Die direkt Beteiligten wissen es in diesem Falle etwas besser. Besonders makaber ist die Tatsache, daß die Demontage der Anlagen von der Treuhandanstalt als Argument für die angeblich nicht gegebene Sanierungsfähigkeit der Margarethenhütte herangezogen wird. Das erinnert fatal an die Praxis von Immobilienspekulanten, die intakte Häuser durch Rollkommandos verwüsten lassen, um dann eine Abrißgenehmigung zu beantragen. Auch hier sieht die Bundesregierung keinen Grund zur Beanstandung.Meine Damen und Herren, aller Öffentlichkeitsarbeit zum Trotz ist das Vertrauen in die Integrität der Treuhandanstalt bei der ostdeutschen Bevölkerung nahe dem Nullpunkt. Dieses Verhältnis ist auch durch noch so viel Öffentlichkeitsarbeit nicht zu verbessern, sondern nur durch größere Offenheit. Der klägliche Versuch, einen schönfärberischen Namen für die Treuhandabteilung „Abwicklung" zu finden, trägt zur Lösung dieser Probleme nichts bei. Im Gegenteil, hier werden alte Begriffe neu belebt.Da würde es schon mehr helfen, wenn die Treuhandanstalt einmal öffentlich erklären würde, warum sie die von der Belegschaft vorgeschlagenen Sanierungskonzepte für untauglich hält, warum es nicht möglich sein soll, an diesem seit über hundert Jahren durch die Keramik geprägten Standort, an dem auch das notwendige Know-how vorhanden ist, weiterhin keramische Produkte zu produzieren, auch wenn es heute für ein Zurück zur Elektrokeramik keinen Weg mehr gibt. Vorschläge für andere Produktionslinien — besonders im Bereich der Baukeramik, der Grobkeramik — sind gemacht worden. Zufriedenstellende Antworten der Treuhandanstalt darauf gibt es nicht.Die heutige Situation in der Margarethenhütte ist traurig. Die nachhaltigsten Aktivitäten auf dem Werksgelände dienen der Renovierung einer Wohnung für den stellvertretenden Liquidator. In der Restbelegschaft, dem Liquidationsteam, herrscht ein Klima der Einschüchterung. Wer unerlaubte Diskussionen führt, wird verwarnt, und das zieht ja bekanntlich.Aus dem Versagen der Treuhandanstalt bei der Erhaltung der Margarethenhütte, das ja kein Einzel-fall ist müsse Schlußfolgerungen gezogen werden.Erstens. Die Treuhandanstalt muß künftig strukturund regionalpolitische Notwendigkeiten viel stärker als bisher berücksichtigen. Nur dort, wo massiver Widerstand der Belegschaften eine breite Öffentlichkeitswirkung erzielt — wir haben es ja in Hennigsdorf oder meinetwegen auch beim Motorradwerk in Zschopau, wo dieser Widerstand ja immerhin gereicht hat, den Ministerpräsidenten des Landes in die Ecke zu drängen und ihm eine sechsmonatige Verlängerung für dieses Werk abzuquetschen —, ist das heute schon so. Dort kommt die Treuhandanstalt in Rechtfertigungszwang für ihre Handlungen. Sie wird genötigt, ihre strukturpolitische Verantwortung wahrzunehmen.Zweitens. Initiativen von Belegschaften, Vorschläge und Konzepte, die nicht aus den Chefetagen zumeist etablierter westdeutscher Unternehmen stammen, müssen ebenso ernst genommen werden wie die von Großunternehmen. Heute fällt es den von Arbeitsplatzverlust bedrohten Menschen in den treuhänderisch verwalteten Betrieben oftmals doch sehr schwer, die Treuhandanstalt als Partner im Kampf um die Erhaltung ihrer Arbeitsplätze zu erkennen.Drittens. Die Treuhandanstalt muß zu einer rückhaltlos offenen Informationspolitik übergehen, die vor allem der Tatsache Rechnung trägt, daß die Treuhandanstalt den Belegschaften in den Betrieben und den Menschen in den betroffenen Standorten verantwortlich ist. Heute dient die Informationspolitik der Treuhandanstalt in erster Linie dem Zweck, die Erfolge der Anstalt selber bei der Privatisierung öffentlich ins Licht zu rücken. Dahinter tritt die Kommunikation mit den direkt von Entscheidungen Betroffenen in den Hintergrund. Belegschaften von Treuhandbetrieben fühlen sich häufig schlecht, unvollständig oder auch falsch über anstehende Entscheidungen und Pläne informiert. Hier sind Verbesserungen dringend erforderlich. Ich bin auf Ihre Antwort in diesem Fall sehr gespannt, Herr Staatssekretär.
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Als nächste hat die Kollegin Maria Michalk das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zum Anfang etwas Historisches sagen. „Margarethenhütte" — diesen Namen durfte seit 1857 ein Braunkohlenwerk mit mehreren Schächten führen. Der Chronik zufolge führte das Werk diesen Namen zu Ehren der sächsischen Prinzessin Margarethe. Nach der Erschließung umfangreicher Tonlager wurden eine Tonwarenfabrik und eine Ziegelei angegliedert.Das Jahr 1891 brachte die Entwicklung von Kraftübertragungsanlagen für hochgespannten Strom. Mit den Isolatoren der Margarethenhütte ist die erste Hochspannungsanlage Frankfurt/Lauffen ausgerüstet worden. Der Einbau der Hochspannungsisolatoren und die hervorragende Qualität der Produkte begründeten weltweit den guten Ruf des Werkes über Jahrzehnte hin.1966 habe ich persönlich diesen Betrieb als einen VVB-Betrieb — Sie wissen, was das damals war —, der juristisch und ökonomisch selbständig war, kennengelernt. Mit der Kombinatsbildung hörte die juristische Selbständigkeit auf. Es wurde in Hermsdorf in Thüringen — also nicht mehr in Sachsen —, dem Stammbetrieb des Kombinats, bestimmt, was investiert, was produziert und an wen verkauft wurde. Mehr und mehr wich das Kosten-Nutzen-Denken dem Befolgen zentraler Anweisungen, über die selbst die sogenannten Leitungskader den Kopf schüttelten.Die Margarethenhütte hatte trotz hoher Ausschußraten — die in der Porzellanindustrie übrigens nicht zu vermeiden sind — nie Probleme mit der Qualität, jedoch immer mit den Kosten, nicht zuletzt auf Grund einer im Sozialismus völlig falsch angelegten Investitionstätigkeit. Der Betrieb wurde in der sozialistischen Planwirtschaft nach meiner Meinung — ich habe dort gelernt und später studiert — regelrecht kaputtinvestiert. Neuinvestitionen waren notwendig. Aber in der vollzogenen Größenordnung und damit in der Aufnahme von Krediten, die in keinem Verhältnis zur Produktion standen, war es ökonomischer Unfug. Ich höre noch den Hauptbuchhalter, wie er nach Leitungssitzungen öfters stöhnte: Die Lumpen bringen mich noch ins Grab.Immer wenn der Betrieb extrem hoch in den roten Zahlen lag, setzte die Kombinatsleitung einen neuen SED-Direktor ein, nach dem Motto: Neue Besen kehren gut. Sie kehrten aber nicht gut und wurden öfters ausgewechselt.Deshalb verstand ich von Anfang an das Mißtrauen der Belegschaft, als der letzte SED-Direktor von der Treuhand als Geschäftsführer eingesetzt wurde. Das war nicht nur ein fachlicher, sondern auch ein psychologischer Fehler. Denn das Vertrauen war gleich Null. Da die Soziale Marktwirtschaft zu einem großen Teil auch von psychologischen Momenten abhängt, war ein Erfolg nicht zu erwarten. Auch die Tatsache, daß der östliche Markt, der wichtigste Absatzmarkt der letzten Jahre, mehr und mehr zusammenbrach und damit der Kampf in der Auftragserteilung begann, wirkte sich negativ aus.Daß dieser 850 Mann starke Betrieb Entlassungen vornehmen muß, war unumstritten. Eine hundertprozentige Entlassung hatte man jedoch nicht erwartet. Die Arbeiter und die Angestellten der Margarethenhütte hatten gelernt, auch unter kritischen Bedingungen zu arbeiten. Dennoch traf es sie und die strukturschwache Region insgesamt hart, als sie erkennen mußten, daß sich zwei ihrer Erwartungen nicht erfüllt haben, nämlich erstens die Chance, auf dem Markt doch in den Wettbewerb zu kommen, und zweitens, daß eine Geschäftsführung hinter ihnen steht, zu der sie Vertrauen haben können.Die Chance der Abspaltung von der Tridelta AG über das seit dem Frühjahr 1991 vorhandene Abspaltungsgesetz wurde nicht genutzt. Daran ist übrigens nicht nur die Geschäftsleitung schuld. Es kam zu unliebsamen Auseinandersetzungen, die Herr Schulz schon erläutert hat. Dazu möchte ich im einzelnen nichts mehr sagen.Diese Fehler können wir nicht einfach wegreden. Sie sind tatsächlich gemacht worden. Das Betrachten dieser Fehler bringt uns jedoch nicht vorwärts. Wir müssen vorwärts schauen. Das sind wir den Menschen, die jetzt arbeitslos sind, schuldig.Ich habe anfangs im historischen Rückblick die Strukturveränderungen etwas ausführlicher geschildert, weil das zeigt, daß zu keinem Zeitpunkt das Produktionsprofil endgültig festgelegt war, sondern ständig Veränderungen vorgenommen worden sind.Der Name „Margarethenhütte" ist historisch und gehört zum Image der Region. Er wird nicht untergehen. Er ist inzwischen bereits beim Patentamt gesichert worden.Die Treuhand hat sich für die Liquidation entschieden, obwohl die Gesamtvollstreckung billiger gewesen wäre. Das war eine weitsichtige Entscheidung des Direktorats des Herrn Tränkler, weil die Grundlage für strukturpolitische und arbeitsmarktpolitische Erwägungen erhalten blieb. An dieser Stelle verdient die Treuhand keine Kritik.Was geschieht gegenwärtig?Das Liquidationsteam arbeitet eng mit der ABM-Gruppe zusammen. Für Erpressung oder Unterdrükkung konnte ich bei meinen monatlichen Besuchen keine objektiven Anzeichen finden.Die Aktivitäten zielen auf den Bereich Versuchsproduktion für Bau- und Zierkeramik, Um- und Weiterbildung und andere Gebiete. Entscheidend jedoch sind die Ausgliederung aus den ABM-Gruppen und damit die Schaffung von Dauerarbeitsplätzen.Das Liquidationsteam der Treuhand leistet dabei aktive Unterstützung durch Organisation von Seminarveranstaltungen, Unternehmensberatung und vieles anderes. Zum Beispiel werden jetzt ein Stahl- und Baubetrieb, ein Elektroinstallationsbetrieb, ein Maler- und ein Reparaturbetrieb mit ehemaligen Beschäftigten des früheren Betriebes entstehen. Diese Existenzgründungen von Handwerksbetrieben sind ein wichtiger Schritt. Er deckt natürlich nicht den gesamten Arbeitsmarkt ab; aber innerhalb der Margarethenhütte vorhandene Handwerksabteilungen
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Maria Michalkwerden auf dieser privaten Grundlage nunmehr für die Allgemeinheit zur Verfügung stehen.Als weiteres Beispiel zielorientierter Arbeit wurde die vom ehemaligen Direktor bestellte Wach- und Schließgesellschaft aus dem Vertrag entlassen, und es fand die Wiedereinstellung von fünf ehemaligen Arbeitern für die Pförtnerdienste statt.
— Kleine Schritte! Ich will damit bloß beweisen, wie mühselig die Arbeit ist und daß es nicht so ist, daß nichts getan wird.Auch wurden frühere Beschäftigte in das Liquidationsteam übernommen.Vom April an wird ein Investor das keramische Labor mit den Arbeitskräften übernehmen und es für Bodenprobenuntersuchungen nutzen. Dies ist gerade aus umweltpolitischen Aspekten für die Region sehr wertvoll.Ebenso erhält — und die Verhandlungen sind weit gediehen — einer der heimischen Investoren — mir kommt es besonders darauf an, daß auch diese ihre Chancen bekommen — für seine Produktion den Zuschlag. Er wird z. B. auch in eine Etage der renovierten Büroräume einziehen.Ein anderer Teil des Werkgeländes ist für das IB Frankfurt interessant. Es soll ein Ausbildungsort ausgebaut werden, der nicht nur Umschulung, sondern auch Erstausbildung realisiert und damit eventuell schon 1992 über die Region hinaus wirkt.Es liegt eine Liste von Investoren vor. Die Zahl stimmt mich hoffnungsvoll. Ich weiß, daß sehr viele Gespräche geführt worden sind. Die Entscheidung für diesen oder jenen Investor muß klug vorbereitet werden. Einen Flop können wir uns im Interesse der sozialen Belange der Bürger in dieser Region nicht mehr leisten.Seit das Liquidationsteam vor Ort arbeitet, ist nicht mehr zu bestreiten, daß Licht am Ende des Tunnels zu erkennen ist. Das steht übrigens auch schon in der Presse, die diesen Prozeß schon ein Jahr und länger begleitet. Die positiven Anzeichen sind durch die Presse öffentlich anerkannt worden.In drei Monaten ist immerhin die Grundlage für 50 Dauerarbeitsplätze geschaffen worden, nicht zuletzt, weil der Liquidator mit den Handwerkskammern, mit den Wirtschaftsförderungsgesellschaften, aber auch mit dem Land selbst zusammenarbeitet. Es wird mehr und mehr deutlich, daß nicht einfach liquidiert, sondern auch saniert wird. Die wöchentlichen Jours fixes, die 14tätigen Koordinierungen der etwa 50 ABM-Kräfte, die regelmäßigen Gespräche des Liquidators mit Vertretern der Kommune, mit Vertretern des Fördervereins und mit Abgeordneten zeigen, daß Transparenz nunmehr gegeben ist. Ich hätte mir gewünscht, diese Transparenz wäre eher zu verzeichnen gewesen. Sie ist für die Akzeptanz der Entscheidungen unerläßlich.Eine Reihe der noch vor einem Jahr verärgerten Menschen an diesem Standort hat begriffen, daß das Überführen eines im Sozialismus heruntergewirtschafteten Betriebes in einen zukunftsbeständigenBetrieb — und darauf kommt es mir an — viel komplizierter als erwartet ist und daß es in Verantwortlichkeit der Treuhand letztlich realistischer ist, den Betrieb nicht als Gesamtheit zu privatisieren, sondern die vorhandenen spezifischen Gebäude und Anlagen der elektrokeramischen Industrie, also die Tunnelöfen, die Massemühle usw., geeigneten privaten Investoren, die die Garantie der Beständigkeit geben, zuzuschlagen. Das sind wir den Menschen schuldig.Der pessimistische Ausgangsfaktor der Großen Anfrage von Bündnis 90/GRÜNE gab die Möglichkeit, die optimistisch stimmenden positiven Entwicklungen hinsichtlich des Fortgangs der Verhandlungen mit den vorhandenen Investoren öffentlich zu benennen. Ich bestreite nicht, daß in Großdubrau noch sehr viel Arbeit zu leisten ist. Ich bestreite aber, daß die Margarethenhütte ein stillgelegter Standort bleibt, der in Widerruf gerät.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun hat der Kollege Christian Müller das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Elektroporzellanwerk, über das wir heute hier reden, ist als einer der drei Produktionsstandorte aus dem VEB Keramische Werke Hermsdorf hervorgegangen. Rechtsnachfolger dieses VEB ist die Keramische Werke Hermsdorf-Tridelta AG. Die einzelnen Produktionsstandorte, die in Hermsdorf, Sonneberg, beide in Thüringen, und in Großdubrau, in Sachsen, liegen wurden bereits umrissen. Die Gemeinde Großdubrau selbst gehört zu den strukturschwächsten Gebieten der Bundesrepublik. Sie zählt ungefähr 3 000 Einwohner, von denen ein großer Teil Beschäftigung in diesem Elektroporzellanwerk fand.Während Treuhand und Bundesregierung von zwingenden Gründen zur Betriebsstillegung sprechen und darlegen, daß die Sanierungsfähigkeit sorgfältig geprüft worden sei, stellten sich diese Sachverhalte, die mittlerweile dazu geführt haben, daß der Betrieb dem Treuhanddirektoriat „Abwicklung" — „Rekonstruktion" würden wir es heute nennen — zugewiesen wurde, für die Mitglieder der Belegschaft völlig anders dar. Vor allem die Person des Geschäftsführers der Margarethenhütte wurde dabei kritisiert. Wir hörten heute schon davon.In der Anfrage der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE finden sich auch Fragen nach diesem Herrn. Die Bundesregierung antwortet, daß der Geschäftsführer wegen einer möglichen politischen Vorbelastung überprüft worden sei. Über das Ergebnis schweigt sie sich aus. Der Geschäftsführer sei allerdings inzwischen aus dem Unternehmen ausgeschieden. Das wissen wir.Die Frage bleibt bestehen: Was hat die Überprüfung ergeben? Weshalb ist er ausgeschieden? Ihm wurde von der Belegschaft vorgeworfen, seine Aufgabe keinesfalls im Sinne der Margarethenhütte wahrgenommen zu haben. Vielmehr habe er in einem bewußt vollzogenen Anpassungs- oder Unterwerfungsprozeß gegenüber der Tridelta in Hermsdorf als deren Abge-
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6830 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Christian Müller
sandter fungiert, vielleicht sogar lediglich persönliche Interessen verfolgt. So sei es ihm zuzuschreiben, daß das bewegliche Anlagevermögen, die gewerblichen Schutzrechte, die Materialbestände einschließlich der unvollendeten und fertigen Erzeugnisse sowie die Geschäftsunterlagen an Tridelta veräußert wurden. Diese Transaktion führte jedenfalls zu einem Konflikt zwischen Belegschaft und Geschäftsführung und zu mehreren Betriebsbesetzungen im Frühjahr und im Sommer dieses Jahres. Erst durch dieses Auftreten der Beschäftigten kam es zur Vorstellung eines Sozialplans und zur Verlängerung der Kurzarbeit um einen Monat.Die Treuhand selber spricht hinsichtlich der Margarethenhütte von einem besonders schwerwiegenden Präzedenzfall und Problemfall. Während die Tridelta AG Pläne zur Börseneinführung hegte, mußte sich die Margarethenhütte wegen der Notwendigkeit der Anpassung der vorhandenen Überkapazitäten mit der Stillegung konfrontiert sehen.Letztlich wurde die Margarethenhütte aus der AG ausgegliedert und der Treuhandanstalt unterstellt. Man besann sich jetzt darauf, an die Entflechtung des ehemaligen Kombinats heranzugehen. Entflechtung hieß für Großdubrau, daß der Produktionsstandort demontiert wurde und die Produktionsanlagen in Hermsdorf veräußert wurden. Die Belegschaft sah sich weiterhin mit ihrem Geschäftsführer uneins und mußte sich als Opfer der Muttergesellschaft sehen, die nur das Interesse hatte, ihre eigene Haut zu retten.In der Antwort der Bundesregierung wird dazu lapidar geäußert: An den Standorten Sonneberg und Hermsdorf wird schon lange Elektrokeramik produziert und nach derzeitigem Entwicklungsstand auch weiterhin produziert werden. In der Tat hat die Margarethenhütte eine Tradition; auf diese wurde hier schon ausführlich hingewiesen.Hinzu kommt: Der Standort der Margarethenhütte liegt in der Oberlausitz, einem der nunmehr strukturschwächsten Gebiete der Bundesrepublik. In einem solchen Gebiet hat natürlich jeder einzelne Standort eine enorme regionale Bedeutung. Jede einzelne Schließung zieht die Abwanderung der hochqualifizierten Menschen nach sich, die in ihrer Heimat keine Existenzmöglichkeit mehr sehen. Damit aber stirbt die gewachsene Struktur einer Gegend, stirbt der menschliche Zusammenhalt. Es stirbt letztlich eine gesamte Region.Das Ziel ist es, so die Bundesregierung, dem verfügbaren Fachkräftepotential eine Zukunftsperspektive zu eröffnen. Fachkräftepotential als Umschreibung für Menschen — zeugt das nicht von einem rein technischen, rein wirtschaftlichen Verständnis der Tatsache, daß sich viele Menschen und ihre Einzelschicksale im Osten derzeit in einem Überlebenskampf befinden? Wenn die Bundesregierung in ihrer letzten Antwort, die sie auf die Große Anfrage auf Drucksache 12/1996 gab, ihr marktwirtschaftliches Credo nochmals ausdrücklich äußert, so zeigt sie damit nur, daß sie die Sicht für diese Zusammenhänge angesichts der großen Aufgabe der deutschen Einheit und der Herstellung gleicher Lebensverhältnisse in größeren Zügen verloren hat.Was bedeutet dem einzelnen Arbeiter die Rede von Dauersubventionierung unrentabler Betriebe, die finanziell und wirtschaftspolitisch nicht vertretbar sei? Herr Möllemann muß sich wohl abermals die Frage gefallen lassen, was denn aus seinem angekündigten Subventionsabbau letztlich geworden ist. Dieses Gefecht, ein Scheingefecht, war doch nichts anderes als das Eingeständnis, daß in der Bundesrepublik unzählige Subventionstöpfe existieren, die nicht wegzustellen sind, ohne daß man in der Wählergunst Schaden nimmt.
In den ostdeutschen Bundesländern soll doch wohl aber vorzugsweise die reine Lehre gelten, wobei man ja notfalls auf die Mißwirtschaft der letzten 40 Jahre hinweisen kann.Aus der Belegschaft heraus bildete sich jedenfalls eine Initiative, die eigene konkrete Fortführungskonzepte erarbeitete. Sie wollte auf ihre Art und Weise zum Erhalt des Standorts und zur ökologischen Erneuerung beitragen. Die Aktivgruppe der Belegschaft mußte dabei gewissermaßen im Untergrund arbeiten; denn Unterstützung fand sie nicht. Schließlich wurde am 25. Juli 1991 ein Förderverein gegründet, um zur Rettung des Standorts beizutragen. Dies sind die nackten Tatsachen.Des weiteren ist dies die in groben Zügen nachvollzogene Chronologie eines Zusammenbruchs, dessen wahrlich niederschmetterndes Ergebnis in der kommenden Zeit bestenfalls dadurch gemildert werden kann, daß für Großdubrau doch noch einige neue Investoren gewonnen werden können.Weitere Einzelheiten diese Vorgangs mag ich an dieser Stelle nicht verfolgen. Mir geht es vielmehr darum, mit Nachdruck deutlich zu machen, daß wir in einer Phase der wirtschaftlichen Entwicklung im Osten Deutschlands sind, wo es sich noch in diesem Jahr entscheidet, ob ganze Landstriche Industriestandorte bleiben oder nicht; denn es geht gegenwärtig vorzugsweise um Betriebe, deren Sanierung und Privatisierung deshalb schwierig sind, weil sich kein Käufer findet. Großdubrau ist überall.Freilich, im Bild der Öffentlichkeit gewinnen Proteste dann an Dramatik, wenn Zehntausende von Betroffenen auf der Straße für ihre Existenz streiten. Damit können wir in der Oberlausitz meist nicht aufwarten. Aber unsere kleineren und größeren Industriestandorte sind für uns ebenso wichtig wie die Werften für den Norden des Landes und die Kohlereviere für die Lausitz.Es kommt daher darauf an, alles Vernünftige zu tun, um den jetzt noch vorhandenen Industriestandorten die Chance einzuräumen, jede Möglichkeit für ein Überleben zu nutzen. Das sind wir ihnen schon wegen unserer strukturpolitischen Verantwortung schuldig. Die Entwicklung zu einer Industriebrache, einem „Mezzogiorno", droht uns nach wie vor.Dies heißt für mich vor allem, daß sowohl die Regierung als auch wir selber dafür sorgen müssen, daß der Sanierung von Betrieben vor allem zur Verbesserung ihrer Privatisierungschancen der Vorrang
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Christian Müller
eingeräumt wird. Dies könnte durch eine Modifizierung des Treuhandgesetzes sehr leicht geschehen.Ich bin auch dafür, unkonventionelle Wege der Privatisierung über Industrieholdings oder dergleichen zu gehen, um die östliche Industrielandschaft zu erhalten. Wir wissen doch alle, daß es kaum möglich ist, verlorene Arbeitsplätze durch Neuansiedlungen zu kompensieren.Ich komme damit zum Schluß. Jedes Unternehmen im Osten, ganz gleich, ob es sich um Existenzgründer, bereits etablierte Mittelständler oder Treuhandunternehmen handelt, hat die unglaublich schwere Aufgabe zu lösen, sich unter völlig ungleichen Bedingungen dem Wettbewerb zu stellen. Selbst dann, wenn Management und Marktstrategie stimmen, müssen Ostbetriebe gegen besetzte Märkte ankämpfen; sie haben keine Kapitalreserven, so daß selbst geringfügige Probleme, hervorgerufen durch Schwankungen der Weltmarktpreise, ihren Untergang besiegeln könnten. Dieser Tatsache sollten wir uns auf jeden Fall ständig bewußt sein. Gleichheit der Chancen ist nicht gegeben; die Ungleichheit ist vielmehr verheerend. Ich finde, daß wir da nicht länger zuschauen dürfen.Ich könnte beliebige Beispiele ähnlicher Fälle hinzufügen. Die aktuellsten sind für mich das Dieselmotorenwerk im Kuhnewalde und das Ferro-Legierungswerk in Hirschfelde, bei denen es um das Ende ihrer Existenz geht. Tun wir also etwas, meine Damen und Herren!
Nun hat der Kollege Paul Friedhoff das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Fragen, die zu dieser Debatte geführt haben, zeigen, wie groß die Unterschiede der Meinungen über den Weg sind, den die ostdeutsche Wirtschaft zur Marktwirtschaft zu gehen hat. Schon die Einleitung zu der Großen Anfrage vom 14. Oktober 1991 über die Stillegung des keramischen Standorts Großdubrau und auch die Beiträge von Herrn Schulz und Herrn Müller zeigen für mich deutlich das große Mißtrauen der Fragesteller gegen die Treuhand. Dagegen steht ein nahezu naiver Glaube an Konzepte, die von Beteiligten, Betroffenen und Interessierten aufgestellt werden, bei deren Scheitern allerdings nicht dieser Kreis, sondern der Staat als Zahlmeister in die Pflicht genommen werden wird.Wenn man den Beteuerungen aller in diesem Hohen Hause vertretenen Fraktionen glaubt, dann gibt es keinen Dissens darüber, daß die sozialistische Kommandowirtschaft durch die Soziale Marktwirtschaft abgelöst werden soll.
Die sozialistische Kommandowirtschaft hat in den 40 Jahren abgewirtschaftet und Menschen und Natur über Gebühr strapaziert. Dies wurde nach der Wende überdeutlich, als man die gefälschten Bilanzen derVEBs und die geschönten Umweltmeßdaten des SEDRegimes entlarvte.Was waren die wesentlichen Kennzeichen der sozialistischen Kommandowirtschaft? Der Staat war der General- und der Subunternehmer zugleich. Er versuchte, alles in der Wirtschaft zu planen und zu regeln. Der Private fand Spielraum nur in Nischen oder dort, wo der Staat merkte, daß er das Wirtschaftspensum nicht mit seinem Planapparat bewältigen konnte.Der Staat übernahm folgerichtig auch die wesentlichen Eigentumsrechte. Die verschiedenen Enteignungswellen verdeutlichen, mit welcher Härte dieser SED-Staat gegen seine Bürger vorging und sich an ihrem Eigentum verging. Hieran erkennt man deutlich, wie wichtig es dem Staat war, das Eigentum an Wirtschaftsbetrieben nicht in privater Hand zu belassen.Beides — dominierender staatlicher Einfluß sowie Verzicht auf Privateigentum — läßt sich aber mit der Marktwirtschaft nicht vereinbaren. Daher ist es heute unerläßlich, daß der Staat sich von seinem teilweise auch unrechtmäßig erworbenen Besitz trennt und ihn in privates Eigentum überführt.
Dies war und ist der Wille der Bürger in den neuen Bundesländern. Dies durchzuführen, ist der Auftrag, den die Treuhandanstalt auszuführen hat.Dieser Auftrag kann, wie wir wissen, nicht über Nacht bewältigt werden und nicht schlagartig zu wirtschaftlich blühenden fünf neuen Bundesländern führen. Für diese schwere Aufgabe benötigt man Zeit, vor allem aber Ruhe und Beständigkeit, damit man sie zum Erfolg führen kann. Deshalb sind die dauernden Anträge der Opposition wenig hilfreich, die fortlaufend andere organisatorische Formen und, zuletzt durch den wirtschaftspolitischen Sprecher der SPD, sogar ein eigenes Treuhand-Ministerium und eine unsinnige Ausweitung oder gar Umkehr der Arbeitsweise der Treuhand fordern.
So wie Rom nicht an einem Tag erbaut wurde und die Wirtschaftsstruktur der alten Bundesländer nicht über Nacht und ohne Pleiten und Rückschläge entstanden ist,
wird man auch in den neuen Bundesländern Geduld brauchen, um wesentliche Verbesserungen zu erreichen.Analysiert man die Betriebe der ehemaligen DDR, dann stellt man häufig fest, daß bei vielen dieser Unternehmen Produktionsanlagen, wenn auch veraltet, mit Mitarbeitern, wenn auch zum Teil unzureichend ausgebildet, vorhanden sind. Die Produktivität ist wegen des viel zu großen Personalbestands im Vergleich zum Wettbewerb zu gering und kann mit den wettbewerbsorientierten westlichen Unternehmen nicht konkurrieren.
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6832 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Paul K. FriedhoffAußerdem fehlen wettbewerbsfähige Produkte und markterfahrene Vertriebsabteilungen, um nach dem Zusammenbruch des RGW in Osteuropa neue Absatzmöglichkeiten zu realisieren. Betriebe in einer vergleichbaren Situation, also mit unproduktiven Produktionsstätten ohne Vertrieb und ohne Markt, gibt es im Westen nicht; denn die Marktwirtschaft hat hier längst entweder für eine Umstrukturierung gesorgt, oder die Unternehmen sind in Konkurs gegangen.Deshalb führt die Treuhand ihren Auftrag so aus, daß sanierungsfähige Betriebe bis zur Privatisierung durch Liquiditätshilfen auf Kosten der Steuerzahler erhalten bleiben. Dies ist ein teurer und nicht ungefährlicher Weg. Die Erfahrungen im Westen zeigen, daß in Staatsbetrieben die Betriebswirtschaft und das unternehmerische Ziel der Gewinnmaximierung nicht die ihr im Privatunternehmen zukommende Bedeutung haben.Es gibt genügend Beispiele, wo durch Investitionszulagen und -zuschüsse mit viel weniger Mitteln sicherere Dauerarbeitsplätze entstehen als bei dauersubventionierten Arbeitsplätzen, wie sie z. B. im westdeutschen Steinkohlebergbau erhalten werden. Ich hoffe, wir sind uns darin einig, daß die Mittel des Staates, die aus den Taschen unserer Bürger stammen, nicht unbegrenzt sind und besser für neue, sichere Arbeitsplätze als zur Konservierung einer nicht wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstruktur ausgegeben werden sollten.Wenn sie es so sehen wollen, sind die Liquiditätshilfen laufende Verstöße gegen marktwirtschaftliche Prinzipien, die allerdings auf Grund der Ausnahmesituation der Betriebe in den neuen Ländern für einen begrenzten Zeitraum zu verantworten sind. Diese Subventionen dürfen aber die falschen, unrentablen Strukturen nicht auf Dauer erhalten; sie müssen als Hilfe zur Selbsthilfe bis zum Erreichen der Privatisierungsfähigkeit angelegt sein.Um zu privatisierungsfähigen Unternehmen zu kommen, müssen die Betriebe nach betriebswirtschaftlichen Kriterien zu Einheiten entflochten oder zusammengefaßt werden, die den Anforderungen des Marktes entsprechen. Dazu gehört selbstverständlich die notwendige Personalanpassung. Dies bedeutet in der Regel einen erheblichen Personalabbau. Genau dies ist auch im Falle des Tridelta-Werks in Großdubrau geschehen. Nach einer optimistischen Prognose im Jahre 1990 zeigten sich bereits kurze Zeit später erhebliche Fehleinschätzungen. Dies ist ein Beweis dafür, daß unternehmerische Entscheidungen ständig neu gefällt werden müssen und die Veränderungen des Marktes zu berücksichtigen haben. Der Markt für technische Keramik war selbst für die Manager vor Ort, für erfahrene Berater und Kenner des Marktes, außerordentlich schwierig zu beurteilen. Tridelta und die Schließung des Werkes in Großdubrau sind ein unternehmerisches, ein betriebswirtschaftliches, aber kein politisches Problem.Daß die Zusammenführung der Margarethenhütte in Großdubrau mit vielen anderen Werken in eine AG zu einem Großbetrieb mit über zehntausend Mitarbeitern der richtige Weg gewesen sei, um neue marktfähige Produkte zu schaffen und neue Märkte zu erobern, ist für mich, einen mittelständischen Unter-nehmer, schwer einzusehen. Vielleicht wären hier mittelständische Strukturen zur Bewältigung der aktuellen Probleme besser geeignet gewesen. Doch auch dies läßt sich nicht politisch, sondern nur nach Prüfung betriebswirtschaftlicher Kenndaten unternehmerisch entscheiden.Wenn wir bei der Umgestaltung der Staatswirtschaft in den neuen Ländern zur Marktwirtschaft erfolgreich sein wollen, dann dürfen wir den Markt mit seinen unternehmerischen Entscheidungen, die jeweils betriebsbezogen und daher individuell getroffen werden müssen, nicht außer Kraft setzen. Bei politischen Vorgaben besteht die große Gefahr, daß wir in den neuen Ländern eine Staatswirtschaft konservieren und damit die wirtschaftliche Teilung unseres politisch vereinten Landes für einen längeren Zeitraum festschreiben.Ich denke, der Treuhandauftrag hat sich als richtig erwiesen und darf nicht verändert werden. Wir sind auf einem richtigen Weg. Das zeigen alle Statistiken über die Anzahl der verkauften Betriebe, die Höhe der Investitionszusagen und die Anzahl der vertraglich fest zugesagten und nun sicheren Dauerarbeitsplätze.Dennoch, der Weg der Privatisierung wird für die Treuhand in Zukunft noch schwieriger werden, da die noch vorhandenen Betriebe vielfach nicht privatisierungsfähig sind, ohne vorher saniert zu werden. Die zur Sanierung notwendigen Finanzmittel müssen volkswirtschaftlich vertretbar sein und dürfen nicht über den überschaubaren und begrenzten Zeitraum der Sanierung hinaus gezahlt werden.Ziel jeder Sanierung durch die Treuhand muß jedoch die Privatisierungsfähigkeit des Unternehmens sein. Dies wird erreicht, wenn ein Unternehmen ohne Subvention wettbewerbsfähig ist und sich am Markt behauptet. Kann die Wettbewerbsfähigkeit ohne Dauersubventionen nicht erreicht werden, so muß der Betrieb konsequenterweise geschlossen werden.Dies ist ein hartes, auch durch die Politik nicht wegdiskutierbares Grundgesetz der Marktwirtschaft. Daher kommt die Treuhand ihrer Aufgabe nach, wenn sie Betriebe, bei denen erkennbar keine Aussicht auf eine erfolgreiche Sanierung besteht, stillegt. Die Menschen in den stillgelegten Unternehmen, auch in Großdubrau, werden das verstehen;
denn schließlich finanzieren auch sie mit ihren Steuern dauersubventionierte Unternehmen. Im Falle der Arbeitslosigkeit werden sie von unserem sozialen Netz aufgefangen, bis sie einen neuen Arbeitsplatz haben.
Durch die verschiedensten Förderprogramme des Bundes und des Landes sowie durch das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost werden auch an diesem Standort neue, wettbewerbsfähige Industrien mit sicheren Arbeitsplätzen entstehen. Nur wenn nach
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Paul K. FriedhoffMarkt- und unternehmerischen Grundsätzen verfahren wird, haben die neuen Bundesländer die Chance, zu einem der modernsten Industriestandorte der Welt zu werden.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Nun hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Große Anfrage von Herrn Kollegen Schulz, aber auch die bisher stattgehabte Diskussion gibt mir Gelegenheit, mich am Beispiel eines kleinen, regional jedoch unglaublich wichtigen Unternehmens mit den enormenAnpassungsschwierigkeiten, aber auch, Herr KollegeFriedhoff, mit den unterschiedlichen Meinungen über die richtigen Lösungswege kurz auseinanderzusetzen.Das Elektroporzellanwerk Margarethenhütte liegt in Großdubrau, einer Gemeinde mit ca. 3 000 Seelen, nur wenige Kilometer von Bautzen entfernt, in einer von den Umstellungsprozessen in ganz besonderer Weise, Herr Kollege Müller, gebeutelten Region; das ist unstreitig.
Die Margarethenhütte war neben Betrieben in Hermsdorf und Sonneberg der dritte Produzent von Hochspannungskeramik des ehemaligen VEB keramische Werke Hermsdorf, der heutigen Keramische Werke Hermsdorf-Tridelta AG.Wegen des Wegfalls des bisherigen Absatzmarktes für Hochspannungsisolatoren, deren primäre Abnehmer die RGW-Länder waren, erwiesen sich die Produktionsstätten der Margarethenhütte als überdimensioniert und — wie wir von Ihnen, Frau Kollegin Michalk, soeben aus unmittelbarer eigener Wahrnehmung sehr beeindruckend erfahren durften — auch als falsch gemanagt und falsch organisiert. Deswegen hat der Aufsichtsrat der Muttergesellschaft — und nicht, wie hier wiederholt behauptet worden ist, die Treuhand oder gar die Bundesregierung — schon am 22. Oktober 1990 beschlossen, die Produktion nur noch auf die Tridelta Keramik GmbH Sonneberg zu konzentrieren und die Margarethenhütte stillzulegen. Wer in diesem Zusammenhang von einer Demontage in einer Nacht-und-Nebel-Aktion spricht, bleibt für diese Behauptung wohl den Beweis schuldig.Seit Mitte September 1991 befindet sich die Margarethenhütte offiziell in der Liquidation. Von den ursprünglich ca. 750 Beschäftigten blieben nach den zum 30. Juni 1991 erfolgten Kündigungen leider — ich betone: leider —nur 26 Beschäftigte übrig. So weit die Fakten.Nach dem Tenor der Anfrage und auch nach dem geleisteten Diskussionsbeitrag, Herr Kollege Schulz, ist bei der Stillegung nach Ihrer Ansicht offenbar alles falsch gelaufen. Ich meine, wir sollten uns einmal sine ira et studio zwei ganz grundsätzlichen Fragen zuwenden.Die erste Frage ist: Was haben die Verantwortlichen denn wirklich falsch gemacht? Wurden alle bestehenden Produktions- und Sanierungschancen genutzt, blieb wirklich nur die Abwicklungsentscheidung? Und wenn das so ist: Werden die Chancen zur Erhaltung des Industriestandortes aus der Abwicklung heraus professionell genutzt?Die zweite Frage lautet: Ist es in diesem schwierigen Prozeß zu Unregelmäßigkeiten oder gar zu strafbaren Handlungen gekommen?Sie beschäftigen sich mit beiden Fragen, unsere Antwort auch. Aber noch einmal kurz in aller Deutlichkeit: Es gibt nach dem Kenntnisstand der Bundesregierung im Zusammenhang mit der Stillegung der Margarethenhütte keine Hinweise auf strafbare Handlungen der auf seiten des Unternehmens Beteiligten oder gar ein Fehlverhalten des bestellten Wirtschaftsprüfers, von dem bis jetzt noch gar nicht die Rede war.Wie alle Unternehmen im Beitrittsgebiet wurde auch die Margarethenhütte zunächst von den alten Führungskräften geleitet.
Die Treuhandanstalt hat sich nach eingehender Prüfung — übrigens auch unter Einschaltung des zuständigen Vertrauensbevollmächtigten — von dem ursprünglichen Geschäftsführer wegen seiner möglichen politischen Verantwortung getrennt. Da haben wir doch nichts zu verschweigen, wie hier gesagt wurde. Zu beurteilen, ob das zutreffend ist, bleibt im rechtsstaatlichen Verfahren anderen überlassen.Die Verlagerung der Maschinen und Anlagen erfolgte auf der Basis ordnungsgemäß zustande gekommener Beschlüsse und zwischen den Beteiligten geschlossener Verträge. Die Verträge wurden zu einem frühen Zeitpunkt ausgehandelt, zu dem es hierfür noch keine Richtlinien der Treuhandanstalt gab. Deswegen werden die Verträge jetzt noch einmal von allen Beteiligten überprüft.Am Verlagerungs- und Stillegungsbeschluß des Aufsichtsrates — ich betone nochmals: des Aufsichtsrates — der Tridelta AG waren die Arbeitnehmervertreter beteiligt. Er erfolgte in Abstimmung mit dem Betriebsrat der Margarethenhütte. Die Arbeitnehmer waren fortlaufend über die Schwierigkeiten des Unternehmens und die getroffenen Entscheidungen informiert. Ich frage Sie: Was sollte noch mehr an Information geschehen? Für die Sorgen der Arbeitnehmer haben wir selbstverständlich allergrößtes Verständnis.Die wichtigste Frage ist deshalb sicherlich, ob das Unternehmen tatsächlich nicht sanierungsfähig und daher der Liquidationsbeschluß unumgänglich war. Treuhandanstalt und externe Gutachter haben sich die Entscheidung nicht leichtgemacht, obgleich die Stillegungsentscheidung durch die zuständigen Gremien der Muttergesellschaft längst getroffen war. Alle Konzepte und Übernahmeangebote wurden auf ihre wirtschaftlichen Realisierungschancen hin sorgfältig überprüft. Dabei haben sich einschließlich — ich betone: einschließlich — des von den Belegschaftsvertretern unterstütz ten Konzepts alle Vorschläge als
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Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewaldnicht tragfähig erwiesen, insbesondere hinsichtlich des Konzepts der Belegschaft fehlte es einfach an jedweder betriebswirtschaftlichen Basis.Es besteht deshalb zwischen allen Beteiligten, also dem Unternehmen, dem sächsischen Staatsministerium für Wirtschaft und Arbeit, der Treuhandanstalt und dem Bundesministerium der Finanzen, der Arbeitsverwaltung und den örtlichen Entscheidungsträgern seit langem Einvernehmen darüber, daß die Margarethenhütte in ihrer alten Struktur nicht überlebensfähig ist, sondern alles unternommen werden muß, um einen neuen Industriestandort entstehen zu lassen. Darin stimmen wir ja Gott sei Dank wieder überein.Obwohl der durchgeführte Kostenvergleich die Gesamtvollstreckung als die kostengünstigere Abwicklungsform auswies — Frau Kollegin, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, daß dies das betriebswirtschaftlich Richtigere und Günstigere gewesen wäre —, hat sich die Treuhandanstalt wegen der regionalen Bedeutung dieses Unternehmens gleichwohl zur Liquidation entschlossen. Beweggrund für die Entscheidung der Treuhandanstalt war, daß aus der Liquidation heraus Fortführungsmaßnahmen im Sinne einer übertragenden Sanierung realisiert werden sollen.Damit wird nicht nur der großen Erwartungshaltung in bezug auf einen Neubeginn in Großdubrau Rechnung getragen, sondern auch eine ganz reale Perspektive eröffnet. Der Liquidator führt seit drei Monaten intensive Gespräche — darauf wurde schon hingewiesen — mit möglichen Investoren. Die vor einigen Monaten noch feststellbare erschreckende Perspektivlosigkeit klart sich nun Gott sei Dank ein wenig auf, worauf Sie, Frau Kollegin Michalk, dankenswerterweise schon hingewiesen haben.Ziel des Liquidators ist es, bis zum zweiten Halbjahr 1993 350 bis 400 neue, gesicherte Arbeitsplätze in Großdubrau zu schaffen. Das ist es, Herr Müller, was wir brauchen: Perspektiven und Chancen für den alten, traditionellen Industriestandort. Er wird dabei von der Treuhandanstalt, vom Freistaat Sachsen und allen Beteiligten unterstützt.Dieses zugegebenermaßen unschöne Beispiel zeigt einerseits die örtlich tiefgehenden Folgen des notwendigen Umstrukturierungsprozesses. Andererseits, so meinen wir, zeigt dieses Beispiel aber auch gerade die Richtigkeit und das Greifen der Instrumentarien, deren sich die Treuhandanstalt bedient. Das mit der Bundesregierung abgestimmte Verhalten — so bedrückend zur Stunde die Situation dort auch noch ist — gibt uns doch Hoffnung, daß wir den traditionellen Industriestandort für die Zukunft erhalten können.Schönen Dank.
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/2248. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Gegenstimmen! — Enthaltungen? — Dieser Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Prüfung von Rechtsanwaltszulassungen und Notarbestellungen
— Drucksache 12/2169 —
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Auch dazu gibt es keinen Widerspruch.
Damit kommen wir zur Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Entwurf eines Gesetzes zur Prüfung von Rechtsanwaltszulassungen und Notarbestellungen soll zum Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen in den neuen Ländern und zur Überwindung des Unrechtssystems der Vergangenheit beitragen.Ein unverzichtbarer Grundpfeiler für ein funktionierendes rechtsstaatliches System ist eine vom Vertrauen der Bürger getragene Rechtspflege. Dieses Vertrauen müssen selbstverständlich vor allem die zur Entscheidung berufenen Richter und Staatsanwälte erwerben. Aber auch die Rechtsanwälte und Notare, die ja Organe der Rechtspflege sind, müssen im Grundsatz das vom System in sie gesetzte Vertrauen rechtfertigen.Unsere Rechtsordnung verlangt daher auch für den freien Beruf des Rechtsanwalts — neben der fachlichen Qualifikation — die persönliche Eignung für den Beruf.Auch das Recht der DDR stellte ansatzweise solche Anforderungen an die Angehörigen des Rechtsanwaltsberufs. Es hat sich aber herausgestellt, daß bei der Zulassung von Rechtsanwälten und der Bestellung von Notaren allzu großzügig verfahren worden ist, um noch kurz vor der Einigung der SED-Prominenz eine berufliche Zukunft zu verschaffen.Wer aber früher als Garant des SED-Regimes in erheblicher Weise gegen fundamentale Grundsätze der Menschlichkeit und der Rechtsstaatlichkeit verstoßen hat, kann nicht heute als Anwalt oder Notar und damit als Organ der Rechtspflege tätig sein. Diese Berufe dürfen kein Auffangbecken für die Prominenz des SED-Unrechtssystems sein und werden.
Mit dem Gesetz zur Prüfung von Rechtsanwaltszulassungen und Notarbestellungen wird hierfür das notwendige Instrumentarium geschaffen. Dabei geht es nicht um Gesinnungsschnüffelei oder Berufsverbote. Rechtsanwälte üben — anders als Richter und Staatsanwälte — einen freien Beruf aus. Das Grundrecht der freien Berufswahl nach Art. 12 des Grundgesetzes soll und wird nicht angetastet werden. Zu bedenken ist selbstverständlich auch, daß sich jeder
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Parl. Staatssekretär Rainer FunkeBürger seinen Rechtsanwalt oder Notar, nicht aber seinen Richter oder Staatsanwalt aussuchen kann.Der Entwurf faßt daher die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Ausschließung so, daß nicht die „kleinen Fische" im Netz verbleiben. Er stellt aber sicher, daß eine allzu großzügige Zulassungspraxis in den letzten Monaten des Bestehens der DDR nach den gleichen Kriterien überprüft werden kann, die heute auf Bewerber anzuwenden sind, und er gewährleistet, daß Erkenntnisse aus den Unterlagen der Staatssicherheit genutzt werden können.Es muß aber auch verhindert werden, daß zum Schöffen oder sonst zum ehrenamtlichen Richter berufen wird, wer durch seine Mitarbeit bei der Staatssicherheit oder in anderer Weise Schuld auf sich geladen hat. Es muß sichergestellt werden, daß derjenige abberufen werden kann, bei dem sich dies herausstellt. Auch das betrifft die Glaubwürdigkeit der Rechtsprechung. Es wäre eine unerträgliche Vorstellung, daß ein rechtsuchender Bürger seinem Peiniger auf der Richterbank begegnen könnte. Ich unterstütze daher nachdrücklich den Vorschlag des Bundesrates, das Gesetz um entsprechende Bestimmungen zu ergänzen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun hat der Kollege Hans de With das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Daß auch eine funktionierende und intakte Justiz für den Wiederaufbau in den neuen Ländern wesentlich ist, war anfangs keineswegs Allgemeingut. Daß im Rahmen der Justiz nicht nur Richter, Staatsanwälte und Rechtspfleger Beachtung finden müssen, sondern auch die Rechtsanwälte und Notare als Bindeglied zwischen Bürger und Justizeinrichtungen, war anfangs vielfach noch weniger deutlich bewußt.
Wenn ein Freigekaufter 1990 an eine Rechtsanwaltskanzlei in Thüringen verwiesen wurde, um sich seines enteigneten Hauses zu vergewissern und hinter dem Schreibtisch als Anwalt dieser seinen früheren Richter entdeckt, der ihn wegen versuchter Republikflucht zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt hatte und ihn nun als Organ der Rechtspflege beraten soll, dann wird dieser der neuen Gerechtigkeit mit größten Zweifeln begegnen.
Solche Fälle gab es, ist mir in meiner Sprechstunde berichtet worden.
Stellt sich dann aber noch heraus, daß dies ein Terrorrichter war, der sich in der Rechtsanwaltsrobe versteckt und sich nun munter an den Segnungen des Westens delektiert, wird der Volkszorn wachsen. Ergibt dazu die Prüfung noch, daß ein solcher Jurist zu Zeiten der Deutschen Demokratischen Republik zur Rechtsanwaltschaft seine Zulassung erhielt und diese Zulassung nicht oder nur schwerlich widerrufen oder
zurückgenommen werden kann, ist das Maß wahrhaftig voll. Das können wir nicht hinnehmen.
Weil das so ist, hat die SPD-Bundestagsfraktion am 6. Dezember vorigen Jahres eine Kleine Anfrage im Bundestag eingebracht, um die Bundesregierung zu bewegen, gesetzliche Grundlagen zu schaffen, die es gestatten, die Zulassung führender SED-Funktionäre und Stasi-Mitarbeiter zur Rechtsanwaltschaft wieder rückgängig zu machen, wenn diese sich des Rechtsanwaltsberufs als unwürdig erweisen. Ähnliches gilt für Notarbestellungen.
Die Bundesregierung hat mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Prüfung von Rechtsanwaltszulassungen und Notarbestellungen vom 26. Februar 1992 reagiert. Wir begrüßen das.
Der Bundesrat hat in seiner Gegenäußerung vorgeschlagen — Staatssekretär hat gerade hat darauf
hingewiesen —, zusätzlich entsprechende Regelungen für ehrenamtliche Richter hinzuzufügen. Wir stimmen dem wie die Bundesregierung zu. Wer, vor Gericht geladen, neben dem Berufsrichter seinen Stasi-Spitzel in der Person des Laienrichters erkennt, wird ebenso geschockt sein wie der, der sich vertrauensvoll Rechtsrat holen will und mit seinem schrecklichen SED-Richter im Anwaltsgewand konfrontiert wird.
Nun hat der Bundesrat moniert, daß die Rücknahme der Rechtsanwaltszulassung nur möglich sei, wenn der Anwalt — so heißt es dort gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit i n erheblicher Weise verstoßen hat. Der Bundesrat meint, daß damit unter Umständen „einfache" StasiMitglieder, die durchaus einiges auf dem Kerbholz haben können und deshalb untragbar sind, gleichwohl im und mit dem Mantel der Rechtsstaatlichkeit Unterschlupf finden können.
- Sie waren, was die Bundesregierung anlangt,
etwas voreilig. Aber mir ist es sehr recht, Herr Kollege Geis.
— Das freut mich sehr.
Die Bundesregierung hat der Streichung des „in erheblicher Weise" mit dem Hinweis widersprochen, es müsse das Gebot der Verhältnismäßigkeit beachtet werden. Hier wird bei den Beratungen im Rechtsausschuß sehr sorgfältig zweierlei zu beachten sein: zum einen, daß in der Tat der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt werden muß, zum anderen aber auch, daß das natürliche Spannungsverhältnis zwischen der für den Mandanten nötigen Unabhängigkeit des Anwalts und der für das allgemeine Vertrauen in ihn erforderlichen rechtsstaatlichen Haltung nicht verschoben wird.
Rechtsanwälte mögen in der Bevölkerung unterschiedliche Bewertungen erfahren. Unbestreitbar aber ist, daß sie im Bereich der Selbständigen wie
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Dr. Hans de With
kaum eine andere Gruppe die demokratische Entwicklung in unserem Lande begleitet haben: von der Paulskirche über den Reichstag in den Gründerjahren und die Weimarer Republik bis hin zu den Anfängen nach 1945.
Unbestreitbar ist auch, daß mutige Anwälte — nicht nur im Einzelfall oft in schwierigen persönlichen Situationen für Gerechtigkeit oder mehr Gerechtigkeit gesorgt haben, aber auch, daß sie die Gesetzgebung, die Verwaltung und — ich sage — den gesellschaftlichen Umgang im Sinne von „ weg vom Obrigkeitsstaat" beeinflussen konnten. Das ist kein gering zu achtendes Gut. Um so mehr haben wir darauf zu achten, daß hier keine Flecken entstehen oder gar bleiben.
Diese Reparatur wird sicher nicht die letzte sein, zu der wir uns rasch zu entschließen haben, um die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern nicht resignieren zu lassen. Die vielstündige Debatte heute morgen zur Einsetzung einer Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der Lasten des unseligen Erbes des SED-Regimes ist ebenso ein Versuch in diese Richtung wie die am Mittwoch dieser Woche das sollte einmal gesagt sein — vom Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages einstimmig zum Ausdruck gebrachte Absicht, endlich ein schlagkräftiges Instrument zur Bewältigung der Regierungs- und Vereinigungskriminalität zu schaffen.
Wir werden uns in diesem Zusammenhang sicherlich noch oft mit Lichtenbergs vieldeutigem Wort fragen müssen: Ist denn kein Unterschied zwischen Gerechtigkeit und Schinderei?
Nun hat der Abgeordnete Dr. Michael Luther das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute vormittag haben wir über die Einsetzung einer Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur" beraten. Diese Enquete-Kommission wird das System Sozialismus beschreiben müssen: wie es entstanden ist und wie es aufgebaut war.Die Einsetzung der Enquete-Kommission ist notwendig geworden, weil auf uns ein wachsender Berg von Problemen, von offenen Fragen und von Regelungsbedürftigem zukommt. Weder mit der Erfahrungswelt West noch mit der Erfahrungswelt Ost läßt sich heute der Gesamtumfang dessen erkennen. Er läßt sich höchstens erahnen.Wir alle wünschen uns eine Komplettlösung. Aber keiner weiß, wie sie aussieht. Wir können aber auch nicht auf sie warten, denn die aktuellen Tagesaufgaben zwingen uns zu handeln.Die Lösung eines dieser Probleme wird durch den vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung angegangen. Das Gesetz beschäftigt sich mit den Folgen des Justizapparates, der zu DDR-Zeiten entstanden ist. In ihm sind alle Folgen einer Diktaturinvolviert, einschließlich der Struktur der Stasi der DDR. Der Justizapparat existierte auch noch am 3. Oktober 1990. Er wurde nicht plötzlich durch freie Wahlen am 18. März 1990 ein anderer oder ließ sich durch Übernahme von bundesdeutschen Gesetzen in die DDR-Gesetzgebung reformieren.Die Praxis der Zulassung von Rechtsanwälten und Notaren hat sich auch nach Einführung der Rechtsanwaltsordnung am 15. September 1990 nicht geändert. Das ist ein Beweis dafür, daß rechtsstaatliche Gesetze keine Garantie für rechtsbewußtes Handeln sind.Auch die 400 freigewählten Volkskammerabgeordneten des letzten DDR-Parlaments konnten diese Arbeit, für die sie nur den alten Apparat hatten, nicht leisten.
Warum konnte die de Maizière-Regierung weder Honecker noch andere Politbüromitglieder anklagen? Ich stelle die Frage: War das mit diesem Justizapparat, mit diesen Rechtsanwälten möglich? Damals war das sicherlich nicht möglich.Um so wichtiger ist es, daß der Rechtsstaat heute schnell zum Zuge kommt. Dazu müssen Justiz, Polizei und die östlichen Länder intensiv zusammenarbeiten und — warum nicht? — eine entsprechende, allen Interessen gerecht werdende Zentralstelle der östlichen Länder einsetzen.Zwei Kritikpunkte am Rechtsstaat erheben die Menschen heute. Erstens. Der Rechtsstaat schützt die Falschen. Deshalb ist hier schnelles Handeln notwendig. Der zweite Punkt: Die Handelnden der Rechtsprechung und der Rechtsorgane dürfen nicht die Täter sein.Um letzteres im Zusammenhang mit dem zu behandelnden Gesetz verstehen zu können, habe ich den weiten Ausflug bis hierher gemacht. Aber ich hielt dies für notwendig, um den Rahmen zu beschreiben, in dem sich dieses Gesetz bewegt. Das Gesetz ist sonst nicht zu verstehen; denn es werden nicht nur die Rechtsanwälte und Notare, die vor dem 18. März 1990 oder vor dem 15. September 1990 zugelassen wurden, überprüft, sondern auch die, die nach dem 15. September 1990 zugelassen wurden.Der alte DDR-Justizapparat hat Rechtsanwälte und Notare bestellt, die nach der Bundesrechtsanwaltsordnung nie zugelassen würden oder ihre Zulassung aberkannt bekommen würden. Letzteres hieße, daß es einer zusätzlichen Regelung, wie es das vorliegende Gesetz tut, dem Grunde nach nicht bedürfte.Das Bundesverfassungsgericht und der Bundesgerichtshof haben in den vergangenen Jahren eine detaillierte Rechtsprechung für die Rücknahme der Zulassung politisch belasteter Rechtsanwälte an Hand von Einzelfällen aus der Hitler-Zeit sowie im Zusammenhang mit RAF-Sympathisanten entwickelt. Diese Kriterien werden bei der Überprüfung belasteter Rechtsanwälte und Notare in den östlichen Ländern zum Teil bereits erfolgreich angewandt. Aber § 14 der Bundesrechtsanwaltsordnung geht davon aus, daß die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft zurückzunehmen ist, wenn Tatsachen nachträglich
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Dr. Michael Lutherbekannt werden, bei deren Kenntnis die Zulassung hätte versagt werden müssen.Natürlich war es dieser alten DDR-Justizbehörde in den wichtigen Fällen bekannt, daß manche zuzulassende Rechtsanwälte oder Notare Stasi-Leute waren. Ja, es war Ziel des Systems, daß diese all das verkörpern sollten. Natürlich haben sich die, die sich von früher aus dem System gekannt haben, schnell einen sicheren Broterwerb zuschanzen wollen.
Damit liegen für die zulassende Behörde, die — das möchte ich betonen — aber heute personell eine völlig andere ist, eigentlich keine neuen Erkenntnisse vor. Das wäre eine komische Tragik des Rechtsstaates.Um die Täter herauszufinden, um die Träger des DDR-Systems aus der Rechtspflege zu entfernen, wird dieses Gesetz notwendig. Es schlägt aber dann fehl, wenn gleichzeitig in dieses Gesetz Begriffe hineingeschrieben werden, die es unwirksam machen, die unterhalb der BGH-Rechtsprechung bleiben. Diese Begriffe sind „erheblich" und „in erheblicher Weise". Was heißt denn „erheblich" schuldig geworden? Ist etwa ein wenig Stasi-Mitarbeit legitimierbar?Hier möchte ich ganz deutlich der Argumentation der östlichen Länder im Bundesrat folgen und vorschlagen, diese unbestimmten Rechtsbegriffe zu streichen.Den Vorschlag der Länder, dieses Gesetz auch auf die ehrenamtlichen Richter zu erweitern, unterstütze ich ebenfalls.Meine Damen und Herren, aus meiner Sicht steht einer zügigen Beratung dieses Gesetzes nichts im Wege. Die Justizminister der östlichen Länder werden für dieses Hilfsmittel dankbar sein. Die Vermutung der Verstrickung vieler Juristen der DDR mit der Stasi ist nicht unbegründet; denn allein in Sachsen wurden nach dem Möglichwerden der Einsichtnahme in die Stasi-Unterlagen durch Opferaussagen vier Notare und zwei Rechtsanwälte entlassen.Ich erinnere hier an den spektakulären Fall des Karl-Marx-Städter Panzersprengers, dessen Frau sich während der Haftzeit ihres Mannes vertraulich mit einem Kirchengemeindemitglied, einem Rechtsanwalt, unterhalten hat. Dieser Rechtsanwalt hat sich, seine Frau und seine Kinder im Auftrag der Stasi taufen lassen allein mit dem einen Ziel, Spitzeltätigkeit in der Kirche durchzuführen. Wie deprimierend muß es für die Frau gewesen sein, als sie die Inhalte der vertraulichen Gespräche dann in ihrer StasiUnterlage lesen konnte.Ich habe dieses Beispiel gebracht, um Ihnen den Handlungsbedarf dieses Gesetzes zu verdeutlichen.Danke.
Nun hat der Kollege Dr. Wolfgang Ullmann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Solange an deutschen Gerichten ein Fall Wetzenstein-Ollenschläger möglich ist, muß über die Zukunft des Anwaltsstandes öffentlich nachgedacht werden, obwohl man heute abend bezweifeln kann, daß es uns gelingt, die Öffentlichkeit herzustellen.
Aber in welche Richtung soll nachgedacht werden? Soll die Verwandlung belasteter Richter in nichtswürdige Anwälte nach der Art jenes bekannten antiken Zynismus hingenommen werden, schon mancher in der Palästra wenig erfolgreiche Ringkämpfer sei deswegen Arzt geworden, weil dies der sicherste Weg sei, viele niederzustrecken?
Oder soll man denen folgen, die den Anwalt als einen Dienstleistungsanbieter, der auf dem Markt mit juristischer Expertise handelt, betrachten? Wenn es sich so verhält, dann kann man es dem Urteil des Kunden überlassen, ob er bei verdächtigen Adressen kaufen will — wie bei jenen Anwaltskanzleien, die sich nicht schämen, Erpresserbriefe an ostdeutsche Adressen zu schicken, um dort Eigentumsrechte matt-zusetzen, die anderen Interessen im Wege stehen. Bundesregierung, Länderjustizminister und auch die Bundesrechtsanwaltskammer wollten diesen Weg nicht gehen, und sie hatten triftige Gründe dafür.
Wenn es unter den Staatsspitzeln des Spitzelstaates auch Anwälte gegeben hat, dann stehen wir abermals vor einer neuen Dimension der gesellschaftlichen Vertrauenskrise, die die kommunistische wie andere Diktaturen hinterlassen haben. Wie für Pfarrer und Ärzte gilt auch für Anwälte, daß sie mit der Autorität zwischenmenschlichen Vertrauens bekleidet sein müssen, wenn ihre Arbeit nicht ins moralische Zwielicht geraten soll.
Ist der von der Bundesregierung vorgeschlagene Weg geeignet, diese Autorität des Vertrauens wiederherzustellen? Die Frage ist mit Nein zu beantworten. Der Gedanke, die Maßregeln, die der Einigungsvertrag für den öffentlichen Dienst in den östlichen Bundesländern festgelegt hat, auf die Anwaltschaft zu übertragen, ist kein guter Gedanke. Hier wird auf den Bahnen des vormundschaftlichen Staates gedacht. Natürlich gibt es eine staatliche Pflicht, den rechtlichen Rahmen für das Wirken der Anwälte festzulegen, wie das Rechtsanwaltsgesetz und die Bundesrechtsanwaltsordnung es tun.
Aber eines ist ebenso klar: Diese staatliche Pflicht hat nur den einen Sinn, die Freiheit des anwaltlichen Wirkens sicherzustellen. Dieser Zielsetzung dient es aber keineswegs, wenn Regeln des öffentlichen Dienstes auf die Anwaltschaft Anwendung finden. Laut Bundesverfassungsgerichtsentscheid 39/334/73 muß der Anwalt die Interessen seiner Mandanten möglichst frei und unabhängig von staatlicher Einflußnahme wahrnehmen können. Darum darf Widerruf oder Zurücknahme der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft nicht den Landesjustizverwaltungen übertragen werden.
Auf größte Bedenken stößt ferner die Regelung in § 1 des Gesetzes, die eine nach hinten unbegrenzte Erstreckung der Frist vorsieht, in der zugelassene Rechtsanwälte zu überprüfen sind. Ist das mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 1986 vereinbar, die den lebenslangen Ausschluß aus der Anwaltschaft für verfassungswidrig
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Dr. Wolfgang Ullmann
erklärt? Der Deutsche Anwaltverein empfiehlt auf Grund dieser von ihm geteilten Bedenken, die anstehenden Probleme allein auf der Basis des geltenden Rechtes zu lösen.
Im Blick auf die besondere Situation in den östlichen Ländern würde ich eher eine Regelung anstreben, die einerseits dem Vorschlag des Landes Hessen folgt und die im Gesetz vorgesehene Regelung auf den Notar beschränkt und andererseits für die Rechtsanwaltschaft für den Zeitraum von maximal zehn Jahren eine Überprüfung derer vorsieht, die in der ehemaligen DDR nach dem 9. November beziehungsweise nach dem 15. September zugelassen worden sind. Für Durchführung und Modalitäten dieser Überprüfung sollten allein die Rechtsanwaltkammern zuständig sein.
Ich danke Ihnen.
Nun hat der Kollege Detlef Kleinert das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die alte Auseinandersetzung, ob der Rechtsanwalt ein Organ der Rechtspflege ist oder nicht und in welchem Maß er das sein sollte, spielt natürlich in die hier anstehenden Fragen — wir haben es gerade gehört hinein. Ich möchte heute nicht versuchen, diese Auseinandersetzung zu Ende zu bringen; das würde mir auch nicht gelingen.
Bei den hier anzustellenden Überlegungen ist jedenfalls entscheidend, daß das Vertrauen seitens der rechtssuchenden Bürger in die Mitwirkung der Rechtsanwälte an einer geordneten Rechtspflege von besonderer Bedeutung ist.
Daß dieses Vertrauen nicht in solche Anwälte bestehen kann, die kurz zuvor noch als Richter oder Staatsanwälte an der Setzung von Unrecht beteiligt waren — ganz im Gegensatz zu ihren rechtlichen Verpflichtungen —, liegt auf der Hand.
Man muß sich bei dieser Gelegenheit auch überlegen, daß ein erheblicher Gegensatz besteht zwischen dem Vertrauen in eine ganz wichtige Eigenschaft des Rechtsanwalts, nämlich die Wahrung des Berufsgeheimnisses — das in besonderer Weise gesetzlich geschützt ist —, und der Zuträgerei von Spitzeln, die jede Gelegenheit benutzt haben, vertraulich Erlangtes dahin weiterzutragen, wohin es auf gar keinen Fall gehörte.
Weil dieser Gegensatz so eklatant ist, halten wir den vorliegenden Entwurf für ein durchaus geeignetes und wichtiges Mittel, das, was vielleicht doch etwas zu schnell und unter etwas anderen Gesichtspunkten in den ersten Tagen und Monaten des Aufbaus einer Rechtspflege und auch einer Anwaltschaft und eines Notariats geschehen ist, in den gravierenderen Fällen zu reparieren.
Ob der Ausdruck „erheblich" in diesem Zusammenhang der richtige ist oder nicht, das mag Gegenstand der Ausschußberatungen sein.
Wie so schwierig zu entscheidende und komplexe Fragen in der Gesetzessprache am besten dargestellt werden, hat uns immer beschäftigt. Daß es sich hier um besonders komplexe Fragen und schwierige Auslegungen handeln wird, ist wohl klar.
Die Landesjustizverwaltungen würden auch in den alten Bundesländern immer für das zuständig gewesen sein, was hier ansteht. Auch die Zulassung erfolgt von dort, so daß tatsächlich auch der umgekehrte Vorgang hier hingehört.
Hinsichtlich der Notare mache ich in dem, was ich bereits versucht habe auszuführen und was andere hierzu ausgeführt haben, überhaupt keine Unterschiede zu den Rechtsanwälten. Leider gibt es durch die Schaffung eines Nur-Notariats einen unterschiedlichen Zugang,
und zwar in der Form, daß eine offenkundig sehr staatsnahe frühere Organisation des Notariats im wesentlichen in das jetzige Notariat überführt worden ist. Daß sich daraus Friktionen ergeben können, liegt auf der Hand.
Wir werden das Ergebnis der nun geschaffenen Möglichkeiten einer Überprüfung insofern verfolgen. Wir wären auch sehr dankbar, wenn in den neuen Ländern mindestens die Möglichkeit geschaffen würde, etwas zusätzlichen Wettbewerb im Sinne der Angebotstheorie, die wir von Herrn Ullmann vernommen haben, durch die Einrichtung des Anwaltsnotariats zu bekommen.
Besonders dankbar bin ich für den Hinweis von Herrn Kollegen de With auf die historische politische Rolle gerade der Vertreter der Advokatur und auf den mutigen Einsatz einzelner Vertreter — wir wollen ja gar nicht behaupten, daß es sich dabei um eine allseits herausragende Leistung handelt — in besonders schwierigen Situationen.
Zu dieser Rolle der Anwaltschaft hat sich der Bundesgerichtshof — übrigens im Gegensatz zu einer Auffassung der Rechtsanwaltskammer Freiburg — in einem sehr bemerkenswerten Entschluß geäußert und die besonderen Vorzüge der gleichzeitigen anwaltlichen und politischen Tätigkeit deutlich unterstrichen. Es handelte sich um das Verfahren, das durch die Zulassungsanträge der bekannten Kollegen Häfele und Schäuble in Gang gesetzt wurde und das vom BGH tadellos entschieden worden ist. Ich empfehle Lektüre, damit ich jetzt der Aufforderung des roten Lichtes Folge leisten kann.
Danke schön.
Damit hat als letzter der Kollege Dr. Uwe-Jens Heuer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte trotz
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6839
Dr. Uwe-Jens Heuerder späten Stunde versuchen, in Ihnen doch gewisse Zweifel an der hier überwiegend vorgetragenen Meinung zu erwecken.Ich möchte erstens darauf hinweisen, daß der Zweite Staatsvertrag ganz offensichtlich auf einer anderen Position stand. Nach seinen Formulierungen bestand an der Gültigkeit der vor dem 3. Oktober in der DDR ausgesprochenen Zulassung von Rechtsanwälten und Notaren kein Zweifel. Im Unterschied zur Überprüfung der Richter und Staatsanwälte gibt es grundsätzlich keine Handhabe, die Zulassung nunmehr rückgängig zu machen.Die Frage, die ich sehr eindringlich stellen möchte, lautet: Ist das vorgesehene Sonderrecht für Ostdeutschland — denn um solches handelt es sich — nötig oder überflüssig und sogar gefährlich? Nach dem geltenden Recht können Zulassungen für Rechtsanwälte allenfalls zurückgenommen werden, wenn bestimmte Umstände bzw. Tatsachen sie als unwürdig erscheinen lassen, wobei dieser Begriff der Unwürdigkeit in ständiger Rechtsprechung stets sehr restriktiv interpretiert worden ist. Die Ursache hierfür liegt darin, daß es sich bei der Advokatur um einen freien und staatsunabhängigen Beruf handelt, der durch das in Art. 12 des Grundgesetzes fixierte Grundrecht auf Berufsfreiheit geschützt ist. Herr Ullmann hat hierauf schon mit Recht hingewiesen.Von einem meiner Vorgänger wurde gesagt, die Rechtsanwälte seien ein Bestandteil des Justizapparates. Das scheint mir allerdings nicht zutreffend zu sein. In der Staatsferne des Anwaltsberufs und nicht etwa in einem Blackout der Verfasser des Zweiten Staatsvertrages lag auch der Grund dafür, daß der Vertrag darauf verzichtete, hier Überprüfungen vorzusehen. Die unabhängige Advokatur ist nach herrschender Lehre unvereinbar mit der Gängelung durch den Staat. Der Staat kann den Bürgern eben nicht vorschreiben, welche politische Einstellung bzw. Vergangenheit ihre Anwälte haben oder nicht haben sollen. Als Karl Liebknecht wegen angeblichen Hochverrats 1907 zu 11/2 Jahren Festungshaft verurteilt worden war, wurde ihm nicht die Möglichkeit der Ausübung des Anwaltberufs genommen. Mein Vater war als sozialdemokratischer Stadtrat in Berlin von den Nazis herausgeworfen worden, konnte aber immerhin als Verwaltungsrechtsrat arbeiten — bis zu seiner Verhaftung durch die Gestapo.Den Richter muß man akzeptieren. Den Anwalt kann man wählen. Deswegen ist die Argumentation, daß man einen Anwalt trifft, der einem nicht gefällt, nicht zutreffend, denn dann kann man zu einem anderen Anwalt gehen, während man zu einem anderen Richter nicht gehen kann. Jeder muß, wenn er denn will, einen Anwalt nehmen können, der ihm politisch und weltanschaulich nahesteht. Ich meine, jetzt wird ein Sonderrecht vorsehen, was Zugriffsrechte, Eingriffsrechte in die freie Advokatur ermöglicht. Wenn es wirklich um die Aussonderung von Juristen, die in strafbarer Weise die Menschenrechte oder rechtsstaatliche Grundsätze verletzt haben, ginge, würde niemand etwas dagegen haben. Das betrifft auch den genannten Fall aus Chemnitz. Wenn das Berufsgeheimnis verletzt worden ist, besteht nach dem geltenden Recht selbstverständlich die Möglichkeit, dagegen vorzugehen.
Die Rechtsanwaltschaft sollte kein Auffangbecken für die Prominenz des SED-Regimes sein. In der Vorlage heißt es, es sollten alle die nicht Rechtsanwälte seien, die mit dem SED-Unrechtsregime verstrickt waren. Das ist eine außerordentlich weitgehende Begriffsfassung, die dann im einzelnen durch das Gesetz auch untersetzt wird. Es sind Überprüfungen vorgesehen, auch ohne Zustimmung der Anwälte. Bis 1998 wird über allen Rechtsanwälten das Damoklesschwert der Überprüfung schweben. Wer sich nach Parallelen umsieht, der wird vergeblich nach ähnlichen Regelungen in den ersten Jahren der Bundesrepublik Deutschland suchen. Nicht ein einziger der durch Todesurteile oder Euthanasieverbrechen belasteten Nazi-Juristen, die sich dann als Rechtsanwälte niederließen, wurde in der BRD für unwürdig befunden. Da gab es z. B. den Fall des Dr. Richard Wendler, Rechtsanwalt in München. Er war vor 1945 SS-Gruppenführer und als Gouverneur im Distrikt Krakau verantwortlich für die Ermordung tausender Juden. Er blieb Rechtsanwalt, auch als gegen ihn ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde.Die Parallele, die sich mir aufdrängt, ist allerdings das Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft vom 7. April 1933, das in § 1 die Möglichkeit enthielt, Rechtsanwälten nicht-arischer Abstammung die Zulassung zu entziehen,
und das in § 2 kategorisch bestimmte: Personen, die sich im kommunistischen Sinne betätigt haben, sind von der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft ausgeschlossen; bereits erteilte Zulassungen sind zurückzunehmen.Ich sehe in dem geplanten Vorhaben einen eindeutigen Verfassungsbruch. Herr de With sprach soeben von Volkszorn. Ich halte Volkszorn nicht für ein Argument für die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes. Das Grundgesetz zieht rückwirkenden Hoheitsakten sehr enge Grenzen. Das gilt insbesondere für strafrechtliche Entscheidungen. Ihnen werden disziplinar- und ehrenrechtliche Maßnahmen gleichgestellt. Für sie gilt ausdrücklich das Rückwirkungsverbot. Ich möchte auf die Frage des Rückwirkungsverbots — bisher hat niemand dazu gesprochen — und darauf aufmerksam machen, daß die vorgesehene Regelung nach meiner Ansicht unzulässig ist. Ich sehe die Gefahr, daß die neue Bundesrepublik die Einheit nicht nur mit dem Abbau des errungenen Sozialstaats, sondern ohne Not auch mit der Einschränkung verfassungsrechtlicher Grundprinzipien bezahlen soll.
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6840 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf der Drucksache 12/2169 an den Rechtsausschuß zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung angekommen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 13. März 1992 ein. Das Unglück kennt keine Grenzen, denn Sie müssen bereits um 8.30 Uhr kommen.
Die Sitzung ist geschlossen.