Gesamtes Protokol
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat mitgeteilt, daß sich das Kabinett unter anderem mit Ausfuhrgewährleistungen gegenüber Staaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten befaßt hat. Ich möchte den Bundesminister für Wirtschaft um seinen einleitenden Bericht bitten.
Vielen Dank, Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben heute im Kabinett die Fortsetzung einer kontrollierten Hermes-Deckungspolitik für die GUS-Staaten beschlossen, die ihre Haftung für die Altschulden der ehemaligen Sowjetunion anerkannt und sich zur Rückzahlung verpflichtet haben. Der Kabinettsbeschluß ist von zwei wesentlichen Zielen getragen:Erstens. Wir wollen einen Beitrag zur Vermeidung eines Zusammenbruchs in der ehemaligen Sowjetunion leisten. Wir haben ein Interesse an der Stabilisierung der wirtschaftlichen und dadurch auch der politischen Situation in der GUS. Insoweit ist die weitere Versorgung der GUS mit förderungswürdigen Exporten zur Stärkung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, insbesondere der Devisenkraft, wichtig.Zweitens. Wichtig ist aber auch: Wir wollen der Exportwirtschaft in Ostdeutschland, in den neuen Bundesländern, auch im Jahre 1992 die Möglichkeit sichern, existentiell notwendige Exporte in die GUS zu tätigen. Zwar ist es nicht Ziel der neuen Deckungspolitik, Ausfuhrdeckungen um jeden Preis und nur deshalb zur Verfügung zu stellen, weil es sich um ostdeutsche Firmen handelt. Auch hier müssen die Geschäfte wirtschaftlichen Sinn machen. Das Argument „Arbeitsplätze" muß aber in der jetzigen Situation besonders gewichtet werden. Wir treten in eine Phase der Sanierung von Unternehmen mit erheblichen Freisetzungen und Stillegungen ein. Wir werden im kommenden Frühjahr von daher in deutlichem Umfang mit zusätzlichen Belastungen des Arbeitsmarktes zu rechnen haben.Natürlich geht es in der Hermes-Diskussion nicht um die Arbeitsplatzsicherung als solche; wir müssen schon die jeweilige wirtschaftliche Situation des einzelnen Unternehmens berücksichtigen. Unternehmen ohne Marktperspektiven, Unternehmen, die keine Chance haben, von ihrer früheren einseitigen Ostmarktbindung wegzukommen, sind anders zu beurteilen als solche Unternehmen, die sich bereits auf eine vielfältige Orientierung eingestellt haben.Die Treuhandanstalt geht davon aus, daß von dem Exportvolumen des letzten Jahres von rund 10 Milliarden DM rund 150 000 Arbeitsplätze direkt abhängig sind. Hinzu kommen mit einem Multiplikator von etwa zwei noch einmal 300 000 Arbeitsplätze im Zulieferbereich. Sollten allerdings die Absatzmärkte im GUS-Bereich ausfallen, so sind noch deutlich mehr Arbeitsplätze gefährdet. Dies ergibt sich daraus, daß die Treuhandunternehmen vielfach erhebliche Dekkungsbeiträge aus ihren Ostexporten erwirtschaften. Fallen diese weg, so bedroht die veränderte Kostenstruktur möglicherweise den Bestand des gesamten Unternehmens und damit den Bestand aller Arbeitsplätze. Selbst bei einem Umsatzanteil von nur 20 % könnten aus diesem Grund nicht nur 20 % der Arbeitsplätze, sondern 100 % gefährdet sein, was angesichts der ganz besonders angespannten wirtschaftlichen Lage vieler ostdeutscher Unternehmen natürlich von erheblicher Bedeutung ist.Die Notwendigkeit neuer Deckungsmöglichkeiten für die GUS, ganz besonders im Interesse der neuen Bundesländer, darf uns aber nicht den Blick dafür verstellen, daß dies eine risikopolitisch nicht selbstverständliche Entscheidung ist. Das bereits bestehende hohe Obligo des Bundes aus fest übernommenen Deckungszusagen in Höhe von 29,5 Milliarden DM und die ungewisse weitere Entwicklung in der GUS rechtfertigen zusätzliches Engagement nur unter dem Gesichtspunkt des soeben von mir dargelegten Interesses der Bundesrepublik. Wir haben deshalb beschlossen, für den gesamten deutschen Export zunächst ein Deckungsvolumen von 5 Milliarden DM für das Kreditgeschäft vorzusehen. Eine erste Überprüfung findet allerdings am Ende des ersten Quartals statt. Dann werden wir uns entscheiden, wie wir das Thema weiter handhaben. Ich glaube, es ist unter den gegebenen Umständen vernünftig, zu sagen: zu-
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6042 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Januar 1992
Bundesminister Jürgen W. Möllemannnächst 5 Milliarden DM, dann Bestandsaufnahme, dann weitere Entscheidungen.Im übrigen werde ich Anfang kommenden Monats in drei GUS-Staaten, zu denen wir ganz besonders intensive wirtschaftliche Beziehungen haben, reisen, begleitet von einer Delegation von Repräsentanten deutscher Unternehmen vor allem aus den Sektoren Textil und Energie, um Möglichkeiten einer schnellen und intensiven Kooperation auf diesem Gebiet auszuloten und möglichst auch zu Vorbereitungen für Vereinbarungen zu kommen, damit diese Staaten möglichst schnell an eigene Einnahmen kommen und damit in der Lage sind, eingegangenen Verbindlichkeiten auch gerecht zu werden. Das würde das Problem ja auch lockern und unseren Spielraum wieder erweitern. — Das war mein Bericht, Frau Präsidentin.
Danke, Herr Minister. — Fragen zu diesem Komplex? — Ich habe eine erste Fragestellung vom Abgeordneten Wolfgang Roth.
Herr Bundesminister, ungeachtet der Tatsache, daß ich es begrüße, daß sich die Bundesregierung hier bewegt hat, möchte ich die Frage stellen: Ist nicht der Bewertungszeitraum für die 5 Milliarden DM bis Ende des ersten Quartals sehr kurz? Ich frage angesichts der Tatsache, daß der Prozeß jetzt erst anläuft, und vor allem angesichts der Tatsache, daß, anders als im letzten Jahr, die Autoritätsverhältnisse auf der Seite der GUS-Staaten, die teilweise in ihren Strukturen und vor allem wirtschaftspolitisch in ihren Entscheidungsabläufen noch gar nicht stehen, und die Entscheidungsstrukturen sehr unklar sind. Könnte dadurch nicht die Gefahr bestehen, daß am Ende des ersten Quartals so wenig gezeichnet ist, daß ein völlig falsches Bild über die Notwendigkeiten entsteht?
Ich frage das auch vor dem Hintergrund der Tatsache, daß viele Firmen derzeit darüber klagen, daß sie Partner für derartige Unterschriften, die dann zu einem Antrag führen können, gar nicht haben.
Herr Kollege Roth, Ihre Frage macht das Dilemma deutlich, vor dem wir stehen: auf der einen Seite die gewachsenen Lieferbeziehungen vieler Unternehmen in Ostdeutschland zu Unternehmungen in der ehemaligen Sowjetunion — und die Unmöglichkeit, das innerhalb kürzester Frist auf eine Ausrichtung auf völlig neue Märkte umzuorientieren, die ja auch nicht unumstritten sind — und auf der anderen Seite die Tatsache, daß diese früheren Abnehmerstrukturen so nicht mehr vorhanden sind und daß man jetzt sowohl im Blick auf die Besicherung wie auch überhaupt auf die Vereinbarungen, die zu treffen sind, mit neuen Partnern wird sprechen müssen. Nur, dieses Problem können wir nicht lösen, und deswegen mein Versuch, den Blick nicht nur auf Hermes — und Versicherungsfragen zu richten, sondern auch auf Hilfestellung bei der Schaffung von handlungsfähigen, möglichst marktwirtschaftlich orientierten Strukturen und von Entscheidungsprozessen, die
überhaupt dazu führen, daß diese Lieferbeziehungen wieder aufleben oder weiter fortbestehen können.
Es ist nicht so, daß am Ende der ersten drei Monate dann gesagt werden soll: Also, offenbar brauchen wir es gar nicht; und das war es dann. Wir werden angesichts der Lage, die sich dann darstellen wird, vermutlich sagen: Es gibt ein Datum, nach dem eine weitere Bestandsaufnahme erfolgt. Das wird wohl ein dauerhafter Prozeß sein. Wir machen deswegen jetzt keine Jahresplanung.
Eine Zusatzfrage.
Weil ich das in Ihrer Darstellung nicht ganz durchgehört habe, möchte ich noch fragen: Wie verändern sich jetzt die Bedingungen in dem heute beschlossenen Hermes-Programm im Vergleich zum Sonderprogramm des letzten Jahres? Oder gibt es keinerlei Veränderungen, was die Konditionen betrifft?
Doch. Wir sind ja an die Festlegungen gebunden, die es zuvor gab, nämlich daß die Sonderkonditionen, das sogenannte Super-Hermes, auf ein Jahr befristet war. Es geht jetzt um Hermes-Bürgschaften wie im gesamten internationalen Geschäft. Da gibt es zwei Eingrenzungen: Zum einen wird im Regelfall im Einzelprojekt eine Begrenzung auf 100 Millionen DM vorgenommen. Das scheint auch vernünftig zu sein. Zum anderen gibt es die Begrenzung auf 5 Milliarden DM Gesamtvolumen und dann die Bestandsaufnahme am Ende des ersten Quartals.
Ihre Frage erweckt den Eindruck, als seien Sie davon ausgegangen, die Sonderkonditionen sollten eventuell fortgeschrieben werden. Das war nicht beabsichtigt. Darum geht es auch nicht.
Als nächster Fragesteller Herr Rudolf Sprung.
Herr Minister, welche Chancen sehen Sie für die Bemühungen auf internationaler Ebene, Hilfen auf den Weg zu bringen, die die Verschuldungsfähigkeit und die Zahlungsfähigkeit der GUS-Staaten wieder verbessern, damit, wie Sie gesagt haben, die Lieferungen auch bezahlt werden können?
Es gibt im Augenblick Anstrengungen auf verschiedenen Ebenen. Heute und morgen tagen in den Vereinigten Staaten die Repräsentanten von knapp 60 Staaten und Organisationen — für die Bundesregierung ist der Bundesaußenminister dort —, die sich mit der Frage vor allem humanitärer und schneller Überbrückungshilfe für die GUS-Staaten beschäftigen. Was die Nahrungsmittel angeht, so hat die EG ein humanitäres Hilfsprogramm auf den Weg gebracht. Wir haben heute im Kabinett einen Bericht darüber erhalten, daß dieses Programm gut in Gang gekommen ist und erfreulicherweise in einer massiven Weise durch sehr viele private Initiativen unterstützt wird, für die wir alle, glaube ich, sehr dankbar sein sollten. Es ist beeindruckend, wie viele private
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Bundesminister Jürgen W. MöllemannOrganisationen aus dem Bundesgebiet die staatlichen und EG-Maßnahmen unterstützen.Es geht jetzt darüber hinaus — und ich glaube, das ist letztlich bei aller Notwendigkeit humanitärer Hilfe noch wichtiger — darum, ein marodes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das in seiner früheren Orientierung ja auch aufgegeben worden ist, jetzt hin zu einer demokratischen und marktwirtschaftlichen Ordnung aufbauen zu helfen und dafür Expertise, Wirtschaftskooperation und Geld zur Verfügung zu stellen.Wir werden am 8. und 9. Mai auf meine Einladung hin eine Konferenz in Münster haben, an der die Wirtschafts- und Handelsminister der G 7 sowie diejenigen von Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn und vier GUS-Staaten teilnehmen werden. Bei dieser Konferenz wollen wir darüber reden, wie durch den Aufbau eines Mittelstandes, durch Handelsbeziehungen, durch Kooperation die Länder zu eigenen Einnahmen kommen, zu einer eigenen wirtschaftlichen Leistungskraft, damit sie nicht permanent Bittsteller sein müssen, womit sie ja de facto das Hermes-Risiko immer höher treiben. Ich glaube, das ist mindestens ebenso wichtig wie die humanitäre Hilfe, wiewohl die im Augenblick auch auf Grund der besonderen Klimaverhältnisse im Winter im Vordergrund steht.
Gibt es noch Fragen zu diesem Komplex? — Herr Augustinowitz.
Herr Bundesminister, Sie nannten eben die Zahl 29,5 Milliarden DM Obligo. Könnten Sie bitte dem Parlament einmal die Gesamtsumme der Hilfen für die ehemalige Sowjetunion und auch die Einzelaufteilung nennen?
Ja. 29 Milliarden DM, das sind verbürgte Verträge, also Hermes-Garantien. Dann kommen noch die ungebundenen und gebundenen Finanzkredite hinzu. Wir kommen also auf insgesamt 41 Milliarden DM. Ich kann Ihnen das jetzt nicht branchenspezifisch aufgeteilt sagen, kann die Angaben aber gern dem Parlament schriftlich zuleiten.
Zweite Frage.
41 Milliarden? Bisher war doch immer die Rede von ungefähr 70 Milliarden. Wie kommt denn die Zahl zustande?
Ich vermute, daß Sie auf die Zahl von 70 Milliarden abheben, die heute in Veröffentlichungen der Presse stehen. Das ist die Summe aller Verträge, über die verhandelt worden ist oder verhandelt wird. Unterstellt man jetzt, daß all diese Verträge, über die verhandelt wurde — zum Teil mit Institutionen, die gar nicht mehr da sind — oder über die verhandelt wird, tatsächlich zustande kämen, dann bedürfte es eines Hermes-Bürgschaftsvolumens von 70 Milliarden DM. Aber das ist ganz unrealistisch. Diese Ziffer — deswegen sollte man mit ihr, glaube ich, gar nicht hantieren — unterstellt, daß jede Geschäftsverhandlung, die einmal angestellt wird, auch zu einem Abschluß führt. Das war schon in der Vergangenheit nicht so. Man konnte immer sagen, daß sich das am Ende auf Bruchteile reduzierte.
Wenn man die grundsätzlichen Zusagen — „ grundsätzliche Zusagen", das ist ein Stadium kurz vor der Verbindlichkeit —, die es gegeben hat, aber eben auch nicht mit GUS-Staaten, sondern mit Stellen der Sowjetunion, zur Grundlage machte, dann gäbe es einen Bedarf von immerhin 20 Milliarden DM. Aber ob diese Zusagen jetzt von den Nachfolgeeinrichtungen und den Vertragspartnern in feste Vereinbarungen umgewandelt werden, ist vollkommen offen. Deswegen sind wir ja in dem von Herrn Roth zu Recht angesprochenen etwas ungewissen Zustand, bei dem es auch für uns deswegen so schwer ist, eine genaue Zahl zu nennen.
Danke. Herr Dr. Pohler.
Herr Minister, Sie sprachen ja schon von der Bedeutung der HermesKredite für die Betriebe in den neuen Ländern. Leider sind nach wie vor etwa 70 bis 80 % der Produktion darauf ausgerichtet.
Mir geht es um die 5 Milliarden DM. Es ist als sehr positiv zu bewerten, daß jetzt Klarheit über diese 5 Milliarden DM besteht. Ich habe die dringende Bitte, daß in diese Richtung weitergemacht wird, damit die Betriebe — wir wollen uns nichts vormachen: die Produktion für die 5 Milliarden DM ist großenteils schon gelaufen — im Prinzip — sicherlich mit den Auflagen; da gibt es überhaupt keine Frage — kontinuierlich weiterarbeiten. Man muß sich die Betriebe anschauen. Sie müssen sich bemühen, von diesem hohen Prozentsatz wegzukommen, damit wir nicht irgendwelche Sachen zementieren, die nicht zu zementieren sind.
Aber für viele ist die Finanzierung einfach lebenswichtig.
Herr Dr. Pohler, Sie haben jetzt eine Bitte geäußert. Sie wollten aber eine Frage stellen.
Mir geht es um die Möglichkeit der Weiterarbeit.
Wie schätzen Sie die Möglichkeit des Weiterfließens dieser Milliarden ein, damit die Betriebe auf einer fundierten Grundlage weiterarbeiten können?
Herr Kollege, die Tatsache, daß wir heute so entschieden haben, wie ich es Ihnen darstellen konnte, hat ja nicht mit mangelndem guten Willen der Bundesregierung oder damit zu tun, daß wir die Lage vieler Unternehmen in den neuen Bundesländern anders einschätzten, als Sie das soeben getan haben. Ich habe ja die Zahlen genannt, die durchaus alarmierend sind. Wenn Sie sehen, daß ich von 450 000 Arbeitsplätzen schon im engeren Bereich gesprochen
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Bundesminister Jürgen W. Möllemannhabe und die denkbare größere Ziffer nur grob angedeutet habe, können Sie sich vorstellen, daß wir da hochgradig aufmerksam sind und zu helfen versuchen, wo wir können.Das bedarf aber des Partners. Zum einen müssen die entsprechenden Vereinbarungen, ob wir das nun gutheißen oder nicht, nicht nur besichert werden — darum geht es ja: wir müssen Gewährleistungen übernehmen —, sondern brauchen auch einen Partner, der die Waren abnimmt. Es gibt jetzt eine veränderte Partnerstruktur: Nicht jede gewachsene Lieferbeziehung wird aufrechterhalten.Ich darf hinzufügen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Das ist nicht nur eine Frage der wirtschaftlichen Situation dieser Länder. Es ist vielmehr auch ein Ergebnis der Tatsache, daß nicht mehr auf der Grundlage politischer Preise, sondern auf der Grundlage konvertibler Währungen abgeschlossen wird. Vor diesem Hintergrund sehen sich manche frühere Partner natürlich auf dem Weltmarkt um und nehmen nicht mehr jedes Produkt aus den alten Bundesländern.Ich kann Ihnen hier nur erneut bekräftigen: Die Bundesregierung wird beides tun. Zum einen wird sie Ende März, Anfang April in einer Bestandsaufnahme feststellen, ob eine Veränderung der heutigen Beschlüsse — Verlängerung oder Ausweitung — zweckmäßig ist und dem von Ihnen angesprochenen Ziel dient.Zum anderen wird sie durch eine aktive Kooperation mit den Reformstaaten Mittel- und Osteuropas einen Beitrag dazu leisten, daß sich diese wirtschaftlich erholen können und damit überhaupt die einigermaßen gesicherte Gewähr dafür bieten, daß sie Kredite zu einem bestimmten Zeitpunkt zurückzahlen können. Wir können ja schlecht die Unternehmen in den neuen Ländern beauftragen, zu produzieren, und dann — als Staat — die Ware abkaufen, um sie dann zu verteilen. Das ist ja wohl nicht die Zielsetzung.
Danke. Es gibt keine weiteren Fragen zu diesem Komplex.
Damit ist die Runde mit anderen Fragen eröffnet. Als erste Frau Dr. Lucyga, bitte.
Herr Bundesminister, zu den am stärksten vom allgemeinen Dilemma gebeutelten Industriezweigen der neuen Länder gehört ja wohl die Industrie an der Küste in Mecklenburg-Vorpommern, insbesondere der Werftbereich. Wie schätzt die Bundesregierung die Lage hinsichtlich der Werftarbeitsplätze in Ostdeutschland ein? Wie viele Arbeitsplätze glaubt die Bundesregierung erhalten zu können, bzw. welche Möglichkeiten des Zusammenwirkens mit der Treuhand sehen Sie? Wie bewerten Sie im ohnehin strukturschwachen MecklenburgVorpommern die aktuelle Entwicklung? Welche Möglichkeiten sehen Sie, den Strukturwandel zu fördern? Wenn ich mir die in letzter Zeit wiederholt erfolgten Ankündigungen, daß sowohl Treuhand als auch Bundesregierung stärker Strukturgesichtspunkte ins Auge fassen wollten, ansehe, dann stelle ich mir diese Fragen.
Herr Minister.
Es geht bei dieser Frage vorrangig um die Möglichkeit einer möglichst schnellen Privatisierung der DMS, also des Werftenverbunds in MecklenburgVorpommern. Es laufen Verhandlungen mit verschiedenen Interessenten aus dem In- und Ausland. Die größte Chance, Werften in Mecklenburg-Vorpommern zu erhalten, ist aus meiner Sicht in der Tat die möglichst schnelle Gewinnung von privatem Kapital, privatem Management und Know-how und gewachsenen Möglichkeiten des Zugangs zu den bestehenden internationalen Märkten.
Ich kann heute nicht prognostizieren, wie das Verkaufsergebnis sein wird; darüber wird ja verhandelt. Ich glaube aber, daß man, ohne der Schlußrunde der Verhandlungen, die hoffentlich bald bevorsteht, vorzugreifen, sagen kann, daß gute Aussichten dafür bestehen, daß Mecklenburg-Vorpommern Werftenstandort bleibt.
Es gibt ein Spezialproblem, das eine sehr umstrittene Frage berührt, nämlich die mögliche Nutzung eines Hafens auf der Insel Rügen als Werftenstandort. Darüber ist das letzte Wort bislang weder von seiten des potentiellen Interessenten noch von seiten der Treuhand gesprochen. Hier zu einer vernünftigen Abwägung bei kollidierenden Interessen — Interesse an möglichst zukunftssicheren Arbeitsplätzen einerseits und ökologischen Überlegungen andererseits — zu kommen wird nicht einfach sein.
Ihre abschließende Bemerkung zu Ihrer Frage deutet auf die Debatte über Strukturpolitik hin. Ich glaube, daß die Bundesregierung nicht erst neulich gesagt hat, daß sie gemeinsam mit den Bundesländern eine aktive Strukturpolitik betreiben will und das weiterhin tun wird. Das geschieht ja. Wir haben beispielsweise die massive Aufwendung von Mitteln für die Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Wirtschaftsstruktur" — wie der Begriff schon sagt — in partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit den neuen Ländern dafür in Anspruch genommen und tun das weiterhin, damit neue Investitionen in diese Länder kommen.
Ich will an dieser Stelle keinen Hehl daraus machen, daß wir uns im Bundeskabinett noch werden darüber verständigen müssen, wie wir der Tatsache gerecht werden können, daß mittlerweile mehr Anträge auf Unterstützung nach der Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Wirtschaftsstruktur" vorliegen, als wir mit den derzeit vom Parlament bewilligten Mitteln bedienen können. Es wäre sicherlich ein Problem, wenn wir zwar einerseits einen relativ hohen Mittelaufwand für die Finanzierung von Arbeitslosigkeit über die Bundesanstalt betreiben würden und andererseits nicht genügend Mittel hätten, um privaten Investoren die mit großem Aplomb öffentlich vorgestellten Unterstützungsmaßnahmen im Wege der Förderung nach der Gemeinschaftsaufgabe zu gewähren.
Zusatzfrage? — Bitte.
Sind Sie in etwa über den Stand der Verkaufsverhandlungen, über die Ver-
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Dr. Christine Lucygakaufsangebote und über eventuelle Vorstellungen potentieller Käufer informiert, die Strukturveränderungen, die anstehen, und die sicherlich als Auflage notwendigerweise mitzugebenden Wünsche zur Arbeitsplatzsicherung bundesseitig und länderseitig durch entsprechende Maßnahmen des Bundes begleitet zu wissen? Denn nach meinen Informationen ist das Ganze auch durch das umfänglichste Käuferangebot allein nicht zu leisten. Es wird also so oder so eine begleitende Hilfe geben müssen. Das gleiche gilt im übrigen für die Seereederei, die, soweit ich das übersehe, als einziger Wirtschaftsbetrieb an der Küste gute Aussichten hat, entsprechende Sanierungsergebnisse zu erzielen.
Frau Kollegin, ich glaube, ich bin in etwa richtig informiert. Ich sage das mit einem kleinen Vorbehalt; denn ich kann nicht ausschließen, daß in den letzten Tagen noch neue Angebote auf den Plan gekommen und Gespräche geführt worden sind.
Es gibt konkurrierende Überlegungen. Das besondere Problem, um das herumzureden sich überhaupt nicht lohnt — es ist sowieso klar —, besteht zum einen darin, daß es weltweit nun nicht gerade einen Mangel an Werftkapazitäten gibt. Es besteht zum anderen darin, daß ja, wie wir in den — vor allen Dingen für einige — schmerzhaften Debatten über den Subventionsabbau gemerkt haben,
Schiffe aus deutschen Werften so gut wie gar nicht verkauft würden, wenn wir sie nicht, auch schon bei den modernsten Werften, subventionierten. Das heißt, wir reden hier über zusätzliche Subventionen bzw. zusätzliche Hilfen, die möglicherweise notwendig werden, um dann in den geregelten Subventionsbetrieb überzugehen. Das ist so!
Ich kann Ihnen nur sagen, Frau Kollegin: Wir gehen von der Vorstellung aus — und hoffen, sie läßt sich als Ergebnis der Verhandlungen auch realisieren —, daß es auch zukünftig in Mecklenburg-Vorpommern Schiffbau geben wird. Aber ich bin nicht befugt und auch nicht daran interessiert, das Zustandekommen eines möglichen Verhandlungsergebnisses dadurch zu erschweren, daß ich in diesem Stadium die Diskussion mit Detaildaten bereichere; das kann man nicht machen.
Zu dem Bereich Werften folgt abschließend eine Frage von Herrn Roth.
Herr Bundesminister, in der Region Rostock oder in Mecklenburg-Vorpommern geht vor allem die Befürchtung um, daß ein Käufer auftritt, einen kleinen Kern produktiv saniert, sich im übrigen der dort traditionell vorhandenen Geschäftsbeziehungen mit der früheren Sowjetunion, den heutigen GUS-Staaten, bedient und dann diese Marktbeziehungen mitnimmt und sie an ganz anderen Orten benutzt.
Meine Frage ist, ob Sie sich als Bundesminister für Wirtschaft in dieser Frage einschalten, so daß eben mehr als ein kleiner Kern von produktiven Arbeitsplätzen in diesem Raum, der ganz wenige industrielle Arbeitsplätze anbietet, verbleibt.
Ich will Ihre Frage jetzt einmal mit einem — natürlich vollständig gegriffenen — Beispiel beantworten. Man könnte sich ja vorstellen, daß sich in einem Wirtschaftsbereich XY ein potentieller Käufer sagt: Ich erwerbe eine Produktionsstätte mit der festen Absicht, sie möglichst schnell zu schließen, damit ich keinen Konkurrenten mehr habe. — Es kann aber nicht unser Ziel sein, ein solches Projekt zu befördern.
Das Ziel der Privatisierungsbemühungen der Treuhand, auch im konkreten Fall, ist es nach meiner Beurteilung vielmehr — die Chancen, daß das Ziel auch erreicht wird, sind gegeben —, daß Mecklenburg-Vorpommern tatsächlich eine Werftenindustrie behält und daß diese nicht nur mit einem kleinen Randbereich dort vertreten sein wird. Das gilt für den Schiffbau, das gilt für den Turbinenbau und einige weitere Bereiche.
Ich kann Ihnen aber heute nicht sagen, Herr Roth — das wäre auch nicht verantwortungsbewußt, glaube ich —, wie die Käuferstruktur aussehen wird und wie hoch die Zahl der Arbeitsplätze sein wird. Das kann man heute noch nicht definitiv festlegen.
Es folgt jetzt Herr Augustinowitz.
Ich möchte die Bundesregierung fragen, wie sie dazu steht, daß im Mordfall Alfred Herrhausen der Verfassungsschutz erst nach Monaten Kontakt mit den Ermittlungsbehörden aufgenommen hat.
Darf ich anregen, daß das jemand anders beantwortet?
Wer antwortet für die Bundesregierung? — Herr Staatssekretär Lintner.
Herr Kollege, möglicherweise liegt da bei Ihnen eine Verwechslung vor. Es geht um das Hessische Landesamt für Verfassungsschutz. Dieses hat Ende Juni 1991 davon erfahren und hat den Generalbundesanwalt meines Wissens im November 1991 informiert. Warum das im einzelnen geschehen ist, kann ich Ihnen begreiflicherweise nicht sagen.
Zusatzfrage.
Wäre die Bundesregierung denn bereit, einmal zu recherchieren, wieso es dazu gekommen ist und ob das unter Umständen dazu geführt hat, daß nicht schon eher weitere Fahndungserfolge möglich waren?
Das ist im Moment sehr spekula-
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Parl. Staatssekretär Eduard Lintnertiv. Dazu können wir uns im Augenblick überhaupt nicht äußern.
— Wir gehen allem nach, was möglicherweise interessant ist.
Als nächster hat Herr Abgeordneter Struck das Wort.
Frau Präsidentin! Ich habe eine Frage an die Bundesregierung, bei der ich nicht weiß, wer für die Beantwortung zuständig ist, entweder alle oder keiner; bei dieser Bundesregierung ist im Zweifel keiner zuständig.
Aber ich frage trotzdem. — Herr Kollege Bohl ist wohl anwesend; er könnte es vielleicht noch in Ordnung bringen.
Frau Präsidentin, in der letzten Woche ist eine Äußerung des Bundesverkehrsministers Krause über Abgeordnete bekanntgeworden. Er hat erklärt — so lauten jedenfalls die Zitate —: Bonn heißt Mief. Bonn ist Mittelmaß. — Damit mögen sich die Bonner auseinandersetzen. — Im Parlament säßen nur die, die nicht die genügende Intelligenz aufbringen, um in die Wirtschaft zu gehen, und trotzdem zu viel Geld kommen wollen.
Nun frage ich einmal, wer von der Bundesregierung sich angesprochen fühlt. Insbesondere möchte ich fragen, Herr Kollege Bohl, ob der Bundesverkehrsminister erklärt hat, daß er auf sein Gehalt verzichten will, weil er ja ein doppeltes Gehalt bekommt, wie wir alle wissen, und zwar als Minister und als Abgeordneter. Ich möchte Sie auch fragen, Herr Kollege Bohl, ob sich die Bundesregierung veranlaßt sieht, den Bundesverkehrsminister darauf aufmerksam zu machen, daß zumindest in der SPD-Bundestagsfraktion genügend Leute sitzen, die sehr viel Intelligenz besitzen
und denen es nicht darum geht, wegen des Geldverdienens hier herzukommen,
sondern darum, sich um die Demokratie verdient zu machen, wobei ich unterstelle, daß das auch für die übrigen Mitglieder dieses Hauses gilt.
Herr Minister Bohl.
Herr Kollege Struck, das ist sicherlich eine sehr interessante Frage,
insbesondere was die Feststellung über die Intelligenz in den diversen institutionellen Gremien anbelangt. Zu Ihrer Frage kann ich Ihnen nur sagen, daß der Bundesregierung das Buch, in dem sich diese Zitate angeblich befinden sollen, bisher nicht bekannt ist.
Ich werde Ihre Frage aber gerne zum Anlaß nehmen, dieses Buch, soweit es erhältlich sein sollte, umgehend zu bestellen. Ich wäre dankbar, wenn dann im Haushaltsausschuß eine entsprechende Überschreitung des Etatansatzes auch nicht auf Kritik der verehrten Opposition stoßen würde.
Zusatzfrage, Herr Struck.
Herr Kollege Bohl, ich glaube, Sie können nachvollziehen, daß ich diese Antwort für relativ unbefriedigend halte.
Deshalb versuche ich, noch einmal nachzufragen, aber jetzt ernsthaft: Sind Sie nicht mit mir der Meinung, Herr Kollege Bohl — immer vorausgesetzt, diese Zitate treffen zu; ich unterstelle, daß dieses Buch in der Bundesregierung inzwischen vielleicht auch schon vorhanden sein könnte —, daß diese Äußerungen des Bundesverkehrsministers im Hinblick auf verschiedene andere Diskussionen über das Parlament und den Parlamentarismus absolut nicht dazu angetan sind, das Ansehen des Deutschen Bundestages zu stärken, und sind Sie nicht auch der Meinung, daß es entweder Ihre Aufgabe oder vielleicht auch die Aufgabe des Bundeskanzlers ist, in dieser Beziehung einmal ein ernstes Wort mit dem Bundesverkehrsminister zu reden?
Herr Kollege Struck, ich bitte Sie wirklich um Verständnis, daß ich zu Zitaten, die nicht abgesichert sind, schlicht und einfach nicht Stellung nehmen kann und daß ich Herrn Kollegen Krause auch erst bitten möchte, uns vielleicht vorzutragen und darüber zu berichten. Ich nehme gern die Gelegenheit wahr, dann auch im persönlichen Gespräch mit Ihnen in geeigneter Form noch darauf zurückzukommen.
Die letzte Frage, Herr Abgeordneter Conradi.
Herr Bundesminister, es ist ja ungewöhnlich, daß das Parlament aus der Bundesregierung in dieser Weise mit herabsetzenden Äußerungen bedacht wird. Insofern liegt uns schon daran zu erfahren, ob der Herr Bundesverkehrsminister diese Äußerungen nun getan hat oder nicht. Wenn er sie getan hat, dann muß sich die Bundesregierung wohl damit befassen, denn so kann ein Verfassungsorgan mit dem anderen nicht umspringen. Wenn er sie nicht getan hat, muß er die notwendigen rechtlichen Schritte ergreifen, den weiteren Vertrieb dieses
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Januar 1992 6047
Peter ConradiBuches zu unterbinden. Ich möchte Sie also bitten, dazu noch einmal Stellung zu nehmen.Schließlich möchte ich Sie bitten, doch zu klären, warum der Bundesminister in die Kette seiner herabsetzenden Äußerungen nicht auch das Thema Alkoholmißbrauch einbezogen hat. Er hat da ja wohl Erfahrung.
Ich möchte doch sagen, wir beschränken es auf die andere Fragestellung; denn bei einem Vorwurf wie Alkoholmißbrauch müßte erst einmal die Frage gestellt werden, ob er vorliegt.
Herr Kollege Conradi, ich möchte doch mit Entschiedenheit Ihre Unterstellung bezüglich des Kollegen Krause zurückweisen.
Ich finde, es gibt gar keinen Anlaß für solche Unterstellungen. Selbst wenn alle Presseberichte, auf die Sie möglicherweise innerlich rekurrieren, zutreffend sein sollten, ist das sicherlich nicht die angemessene Schlußfolgerung. Im Grunde genommen diskreditieren Sie mit dieser Feststellung am Schluß Ihrer Frage den Wesensgehalt und Sinngehalt Ihrer übrigen Fragestellung,
so daß ich Zweifel habe, ob ich Ihre Frage im übrigen überhaupt beantworten sollte.
Ich will es dennoch tun und sagen, daß mich interessieren würde, ob Sie Ihre Frage auf die Lektüre des besagten Buches gründen und ob Sie Gelegenheit finden könnten, mir dieses Buch zur Verfügung zu stellen. Wenn Sie das täten, könnten wir uns die Bestellung durch das Bundeskanzleramt ersparen.
Darüber hinaus würde ich dann selbstverständlich, was ich dem Kollegen Struck schon zugesagt hatte, die verehrte Opposition in geeigneter Form über die Überprüfung informieren.
Die für die Befragung der Bundesregierung vorgesehene Zeit ist abgelaufen. Ich beende die Befragung. —
Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
— Drucksache 12/1958 —
Zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz, den Fragen 1 und 2 der Frau Abgeordneten Jäger, ist um schriftliche Beantwortung gebeten worden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft. Zur Beantwortung der Fragen ist der Parlamentarische Staatssekretär Klaus Beckmann erschienen.
Ich rufe die Frage 3 des Kollegen Holger Bartsch auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß in der Lausitz die Braunkohle-Förderung und -Verarbeitung eine strukturbestimmende Industrie darstellt, deren Erhaltung damit auch aus regionalpolitischen Gesichtspunkten unverzichtbar ist?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Die Bundesregierung hat in ihrem energiepolitischen Gesamtkonzept die versorgungspolitische Bedeutung der Braunkohle in den neuen Bundesländern hervorgehoben. Die strukturellen Veränderungen des Energiemarktes, die Erhöhung der Effizienz der Energieerzeugung und -verwendung sowie auch umweltpolitische Erfordernisse machen allerdings einen drastischen Schrumpfungsprozeß unausweichlich.
Bei Konzentration auf leistungsfähige Tagebaue, konsequente Rationalisierung und Einsatz moderner Umwelttechnik kann die Braunkohle aber weit über die Jahrtausendwende hinaus in der Verstromung einen wichtigen, wettbewerbsfähigen Beitrag leisten.
Die Sicherung der Braunkohleverstromung ist auch wesentliche Voraussetzung für die soziale und regionale Beherrschbarkeit des Anpassungsprozesses in den Braunkohlerevieren. Die Bundesregierung geht aus heutiger Sicht für das Jahr 2000 von einer Förderung der ostdeutschen Braunkohle in Höhe von 100 bis 120 Millionen t aus. Die Lausitz, Herr Kollege, wird daran angemessen beteiligt sein.
Zusatzfrage, Herr Kollege Bartsch.
Herr Staatssekretär, Ihnen ist ja bekannt, daß in diesem Bereich auf Grund des Braunkohletagebaus erhebliche Altlasten entstanden sind und daß das im Hinblick auf die derzeitige Förderung dort mit einem erheblichen Akzeptanzproblem in der Bevölkerung verbunden ist. Ihnen ist sicher auch bekannt, daß die Beseitigung dieser Altlasten zur Zeit finanzierungstechnisch zumindest nicht geklärt ist.Welche Vorstellungen hat die Bundesregierung dazu, insbesondere im Hinblick darauf, daß die Beseitigung dieser Altlasten vordringlich ist und im übrigen auch einen wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Faktor darstellt?Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Bartsch, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, daß die Akzeptanzfrage ein ganz wesentlicher Punkt für die Fortführung der Braunkohleförderung in den Revieren sein wird. Hierzu gehört in erster Linie auch die Beseitigung der Altlasten sowie die Rekultivierung und Instandsetzung der ausgebeuteten Gebiete.Was die Finanzierung der Altlasten betrifft, so gibt es hierüber Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und den betroffenen Bundesländern. Die Bundesländer haben sich bisher allerdings, wie Sie wissen, in der Leipziger Erklärung geweigert, entsprechende Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. Allerdings gehen wir davon aus, daß es bei Fortführung der
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Parl. Staatssekretär Klaus BeckmannVerhandlungen mit den betroffenen Bundesländern diesbezüglich zu einer Einigung kommt, so daß eine Lastenteilung hinsichtlich der Altlasten erreicht wird.Eine wesentliche Rolle wird auch die Frage spielen, wie diese Probleme seitens der Treuhandanstalt in die Bilanzen eingebaut werden.
Zweite Zusatzfrage.
Kann ich davon ausgehen, daß die derzeitige Verhandlungsposition der Bundesregierung, nämlich die Relation 50 : 50, noch Verhandlungsgegenstand ist, oder ist dies das letzte Wort?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Wenn man seriös verhandelt, Herr Kollege Bartsch, dann darf man insoweit vorher niemals ein letztes Wort sprechen. Ich gehe davon aus, daß man auf beiden Seiten die notwendige Flexibilität zeigt, damit Ruhe in die Reviere kommt und eine zukunftsorientierte Entwicklung greifen kann.
Weitere Zusatzfrage.
Ist sich die Bundesregierung darüber im klaren, daß diese Zusage, bis zur Jahrtausendwende Braunkohle auch zur Verstromung einzusetzen, an entsprechende Subventionierungen gebunden ist?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Ich habe eben nicht von einer Zusage gesprochen, sondern ich habe davon gesprochen, Herr Kollege, daß die Bundesregierung davon ausgeht. Aber selbstverständlich wird sich die Bundesregierung entsprechenden Notwendigkeiten insoweit nicht verschließen, wenn vorher durch Rationalisierung und den Einsatz von energieeffizienten Verstromungsprozessen Kostenersparnisse erzielt werden, die dazu führen, daß die Braunkohle auch im Vergleich zu anderen Energiearten wettbewerbsfähig wird.
Gibt es weitere Fragen dazu? — Das ist nicht der Fall. Dann bedanke ich mich, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Zu den Fragen 4 und 5 aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten hat die Fragestellerin, die Kollegin Walz, um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Post und Telekommunikation auf. Zur Beantwortung ist Herr Staatssekretär Frerich Görts erschienen. Ich rufe die Frage 8 des Kollegen Bernd Reuter auf:
Wie hoch sind die Kosten, die dem Unternehmensbereich POSTDIENST für den der Firma McKinsey erteilten Auftrag entstehen, bestimmte Postdienststellen auf Einsparungsmöglichkeiten beim Personaleinsatz zu überprüfen, angesichts der Tatsache, daß die notwendigen Analysen im wesentlichen von den betreffenden Bediensteten selbst geleistet werden müssen?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, gestatten Sie bitte, daß ich die beiden Fragen des
Herrn Abgeordneten wegen des Sachinhalts zusammenfassend beantworte, wenn der Herr Abgeordnete damit einverstanden ist.
Dann rufe ich auch die Frage 9 des Kollegen Bernd Reuter auf:
Ist der Auftrag ordnungsgemäß öffentlich ausgeschrieben worden, so daß sich auch andere Unternehmensberatungsfirmen darum hätten bewerben können?
Frerich Görts, Staatssekretär: Im Rahmen der strategischen Neuorientierung des Unternehmens Deutsche Bundespost Postdienst werden von zahlreichen Projektgruppen Analysen durchgeführt und Konzepte erarbeitet. Ziel ist die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens.
Wie in vergleichbaren Großunternehmen werden wichtige Projekte bzw. Teilprojekte durch Unternehmensberater unterstützt, denen — wie auch im vorliegenden Fall — Postbedienstete zuarbeiten.
Der Preis für den der Firma McKinsey erteilten Auftrag ist gemäß § 22 Nr. 6 der Verdingungsordnung für Leistungen, ausgenommen Bauleistungen, Teil A, vertraulich zu behandeln und kann deshalb nicht genannt werden.
Im Vorfeld der Vergabe wurde das Leistungsprogramm der Beratungsfirmen geprüft. Der Auftrag an McKinsey & Company Inc. wurde daraufhin freihändig vergeben. Das Verfahren der freihändigen Vergabe wurde gewählt, weil die zu erbringende Leistung besonders dringlich war gemäß § 3 Nr. 4 Buchst. f der Verdingungsordnung für Leistungen, ausgenommen Bauleistungen, Teil A.
Angesichts der defizitären Situation des Unternehmens Deutsche Bundespost Postdienst und in Anbetracht des wachsenden Wettbewerbdrucks hätte jede Verzögerung die Erarbeitung sehr dringender Maßnahmen aufgeschoben.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Reuter.
Herr Staatssekretär, gerade Ihre Aussage, daß Sie den Preis öffentlich nicht nennen könnten und daß eine freihändige Vergabe durchgeführt worden sei, veranlaßt mich zu der Frage: Wie sieht denn eigentlich die Bundesregierung die Tatsache, daß es sich bei der Firma McKinsey genau um die Firma handelt, in der der jetzige Vorstandsvorsitzende des Unternehmens Deutsche Bundespost Postdienst jahrelang in führender Position tätig war?Frerich Görts, Staatssekretär: Die Bundesregierung ist der Ansicht, daß, um die Postreform von 1989 zu einem Erfolg zu bringen, alle Ressourcen gewählt werden und dem Unternehmen auch zur Verfügung stehen müssen, um eben die von mir in der Eingangsantwort genannten Defizite abzubauen. Dort rekurriert man insbesondere auf den Sachverstand, den man auch aus anderen Zusammenhängen bereits kennt.In diesem Fall sind laufend Präsentationen seitens der Firma McKinsey durchgeführt worden, es sind laufend Informationsmaterialen herangezogen worden, um die Qualität dieser Firma in diesem angespro-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Januar 1992 6049
Staatssekretär Frerich Görtschenen Aufgabenbereich zu testen. Daraufhin ist dann der Zuschlag erfolgt.
Eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wäre es nicht denkbar und möglich gewesen, daß auch erfahrene Fachkräfte des Unternehmens Postdienst in der Lage gewesen wären, diese Arbeit in einer Analyse zu leisten, die jetzt von McKinsey gemacht wird?
Frerich Görts, Staatssekretär: Diese von Ihnen genannten Fachkräfte werden sowieso zu den Arbeiten der Unternehmensberatungsfirmen hinzugezogen, wie das im übrigen in der Wirtschaft auch der Fall ist.
Eine dritte Zusatzfrage.
Ist Ihnen eigentlich bekannt, wie die Zuarbeit dieser Fachkräfte aussieht? Wissen Sie eigentlich, daß McKinsey von den zu befragenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundespost verlangt, 40 % ihrer Tätigkeiten selbst darzustellen, die entbehrlich sind, und daß ohne diese Auskunft hinsichtlich der 40 % die Fragebogen von McKinsey zurückgewiesen werden?
Frerich Görts, Staatssekretär: Das fällt in den operativen Teil der Unternehmen und ist keine Frage der Regulierung seitens des Ministers oder Eigentümerfrage.
Eine letzte Zusatzfrage.
Diese Antwort bringt mich schon etwas in Erstaunen.
Ich stelle unter Würdigung aller Punkte, die ich vorgetragen habe, und Ihrer Antworten meine letzte Zusatzfrage: Wäre es, wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das alles selber leisten müssen — Sie haben es ja nicht in Abrede gestellt —, dann in der Tat nicht richtiger gewesen, auf diese Analyse überhaupt zu verzichten oder aber sie von den fachkundigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundespost selber erstellen zu lassen?
Frerich Görts, Staatssekretär: Diese Analyse ist nur ein Teil von Antworten auf ein großes Paket von Fragen, und ein Segment aus diesem Paket hat eben der externe Berater bearbeitet. Auf der anderen Seite wird ebenfalls das interne Know-how der Mitarbeiter genutzt. Das wird gegeneinander abgeglichen.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen für die Beantwortung.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie auf. Zur Beantwortung steht uns unser Kollege, der Parlamentarische Staatssekretär Bernd Neumann zur Verfügung.
Ich rufe Frage 10 des Abgeordneten Wolf-Michael Catenhusen auf:
Welche deutschen Forschungseinrichtungen und Firmen waren an der Entwicklung der von der Bundesregierung geförderten Gaszentrifugentechnik beteiligt, und welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung darüber vor, daß irakische Staatsbürger dort zeitweise tätig waren?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Die Entwicklung der Gaszentrifugentechnik wurde zunächst bei der KFA Jülich durchgeführt. Nach Abschluß des Vertrages von Almelo 1970 zwischen der niederländischen, britischen und deutschen Regierung wurde der deutsche Projektanteil auf die Gesellschaft für Kernverfahrenstechnik in Jülich übertragen.
Ferner waren an dem Projekt folgende Firmen beteiligt: Uramt GmbH, Jülich, Gesellschaft für Nukleare Verfahrenstechnik mbH, Bergisch-Gladbach, Gesellschaft für Zentrifugentechnik, BergischGladbach, Interatom GmbH, ebenfalls BergischGladbach, MAN-Technologie AG, Augsburg, Dornier GmbH, Friedrichshafen, Entwicklungsring Nord — ERNO —, Bremen, Urenco, Gronau.
Erkenntnisse darüber, daß irakische Staatsangehörige bei den Entwicklungsarbeiten zur Gaszentrifugentechnik beteiligt waren, liegen der Bundesregierung nicht vor.
Herr Kollege Catenhusen, Ihre erste Zusatzfrage.
Hat das Bundesforschungsministerium irgendwann einmal Regelungen für das Verhalten der Firmen getroffen, die sich an der Entwicklung dieser ja allgemein als sensitiv angesehen Technologie beteiligt haben, was Einschränkung des Technologietransfers angeht?
Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär: Dieser ganze Bereich ist, wie Sie wissen, als „Geheim" eingestuft. Aber Sie können davon ausgehen, daß wir bei der Abwicklung unserer Projekte, die ja, wie Sie wissen, 1985 zu Ende gingen, auf die Sensibilität im Hinblick auf den Kontakt mit den Firmen und den Forschungseinrichtungen immer geachtet haben.
Die zweite Zusatzfrage.
Kann ich daraus schließen, Herr Neumann, daß juristische Vorkehrungen auch für den — offensichtlich eingetretenen — Fall getroffen worden sind, daß Techniker oder Ingenieure der beteiligten Firmen durch Ortswechsel, d. h. Veränderung zu anderen Unternehmen, dieses Knowhow mitgenommen und möglicherweise auf diesem Weg die Türen zu einem Export dieser sensiblen Technologie geöffnet haben?Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär: Das ist eine Materie, die nicht speziell in meinem Haus zu regeln ist,
sondern weit darüber hinausgeht.
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6050 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Januar 1992
Parl. Staatssekretär Bernd NeumannWir selber haben dazu keine Regelungen getroffen. Die Regelungen sind vielmehr durch verschiedene Gesetze, etwa das Außenwirtschaftsgesetz, abgedeckt. Ob es darüber hinaus Mechanismen gegeben hat, kann ich jetzt in diesem Zusammenhang nicht beantworten.
Die nächste Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sehen Sie einen Zusammenhang zwischen den Lieferungen von Drückwalzmaschinen in den Irak, die im wesentlichen zur Herstellung der Gasultrazentrifugen als sogenannte Schlüsseltechnologie notwendig waren, und der Entwicklung und der Bezuschussung von Entwicklungen bei der Firma H. & H. Metallform in Drensteinfurt?
Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär: Ich bin auch aus der Sicht unseres Auftrags nicht in der Lage, mich, bezogen auf die konkreten Fragen, zu den Firmen in Spekulationen einzulassen, zumal diese Frage nicht in einem Zusammenhang mit der vorliegenden Frage, die Sie gestellt haben, steht.
Gibt es weitere Zusatzfragen dazu? — Das ist nicht der Fall.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bedanke mich für die Beantwortung.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern. Zur Beantwortung steht uns unser Kollege Parlamentarischer Staatssekretär Eduard Lintner zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 11 des Abgeordneten Ortwin Lowack auf:
Was spricht nach Auffassung der Bundesregierung gegen eine Fortführung des für die deutsche Einheit durchaus positiv zu bewertenden Jugendradios DT 64?
Herr Kollege Lowack, die Antwort lautet: Das Radioprogramm Jugendradio DT 64 wurde gemäß Art. 36 des Einigungsvertrags Bestandteil der Einrichtung für Hörfunk und Fernsehen. Diese Einrichtung war eine staatsunabhängige Institution der zuständigen fünf neuen Bundesländer und des Landes Berlin für den Teil, in dem das Grundgesetz vor dem 3. Oktober 1990 nicht galt. Sie hat entsprechend den Bestimmungen des Einigungsvertrags ihre Tätigkeit am 31. Dezember 1991 beendet.
Die Entscheidung über die Fortführung des Jugendradios DT 64 liegt somit ausschließlich bei den Ländern. Eine Zuständigkeit oder Möglichkeit der Bundesregierung ist nicht gegeben.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, in voller Würdigung Ihrer Antwort frage ich gleichwohl: Glauben Sie nicht, daß eine positive Einstellung der Bundesregierung angesichts ihrer Einflußmöglichkeiten und vor allem der Sicherung der Finanzierung von Rundfunkanstalten in Deutschland, die bei dem Gesamtkonzept in der Zukunft durchaus eine Rolle spielen, doch Gewicht haben kann?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lowack, auch Sympathien der Bundesregierung, wenn sie bei dem einen oder anderen Kabinettsmitglied womöglich vorhanden gewesen sein sollten, würden nichts an der Entscheidungskompetenz der Länder ändern.
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 12 des Abgeordneten Dr. Günther Müller auf:
Warum hat die Bundesregierung nicht dem Wunsch des Bundesrates entsprochen, bis 31. Dezember 1991 einen Finanzierungsplan für den Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin vorzulegen?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Der Beschluß des Deutschen Bundestags vom 20. Juni 1991 zur Vollendung der Einheit Deutschlands sieht neben der Verlagerung des Parlaments u. a. die Ansiedlung des Kernbereichs der Regierungsfunktion in Berlin sowie Ausgleichsmaßnahmen für die Region in Bonn vor.
Die Bundesregierung hat am 11. Dezember 1991 den zweiten Bericht des Arbeitsstabs Berlin/Bonn zustimmend zur Kenntnis genommen, mit dem die Aufteilung der Bundesministerien entsprechend der Schaffung von Politikbereichen für die jeweilige Region vorgeschlagen wurde. Damit ist in kurzer Zeit ein entscheidender Schritt zur Abklärung des Umfangs der Verlagerung der Bundesregierung getan.
Die Abklärung der übrigen Einzelfragen, z. B. die Unterbringung in Neu- oder Altbauten mit unterschiedlichem Sanierungsbedarf, die Verkehrs- und Wohnungsbauprojekte sowie Art und Umfang von Ausgleichsmaßnahmen, wird mit hoher politischer und zeitlicher Priorität von allen Beteiligten vorangetrieben. Hierbei sind die Vorstellungen des Deutschen Bundestages, der Länder Berlin, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz sowie der Region Bonn einzubeziehen. Je nach Fortgang dieser Arbeiten werden sich stufenweise auch Kostenaussagen treffen lassen, wobei im Einzelfall der Zurechnung der Kosten — beispielsweise umzugsbedingte und sonstige Erforderlichkeit — Bedeutung zukommen dürfte.
Herr Kollege Müller, ich gehe recht in der Annahme, daß Sie die Zahl Ihrer Zusatzfragen ausschöpfen. Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, warum hat man bei diesem ersten Zwischenbericht entgegen der Entschließung, die der Bundesrat gefaßt hat, wo er auch die Kosten anmahnte, keinen Zwischenkostenbericht erstellt?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Müller, weil eine seriöse Schätzung der Kosten angesichts der Unwägbarkeiten und angesichts all der Dinge, die noch nicht feststehen, nicht möglich war.
Die zweite Zusatzfrage.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Januar 1992 6051
Herr Staatssekretär, darf ich Ihre Antwort so verstehen, daß die Kosten des Umzugs von Bonn nach Berlin nicht bezifferbar sind?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Nein, sie sind zwar zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht bezifferbar, aber sie werden selbstverständlich nach Durchführung der übrigen Ermittlungen, die ich hier angedeutet habe, bezifferbar sein.
Gibt es aus dem Kreis der Kollegen weitere Zusatzfragen? — Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 13 auf, die ebenfalls der Kollege Dr. Günther Müller gestellt hat:
Wird die Bundesregierung entsprechend der in Drucksache 12/914 gefaßten Entschließung des Bundesrates noch in dieser Legislaturperiode eine Aufstellung über die Folgelasten und ihre Finanzierung des Regierungsumzuges nach Berlin vorlegen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Kostenermittlungen werden stufenweise in Abhängigkeit des Fortgangs der Arbeiten in den jeweiligen Untersuchungsbereichen erstellt. Wann eine Gesamtübersicht über die Kosten erarbeitet werden kann, muß daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch offenbleiben.
Zusatzfrage.
Nachdem Sie gerade darauf hingewiesen haben, daß die Antwort offenbleibt, möchte ich fragen: Kann man also damit rechnen, daß die endgültigen Kosten erst im dritten Jahrtausend genannt werden?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Müller, ich habe gesagt: zum gegenwärtigen Zeitpunkt offenbleiben muß. Ich habe nicht gesagt, daß die Frage immer offenbleiben wird. Ich gehe davon aus, daß wir Ihnen rechtzeitig, sobald es seriös möglich ist, die Kosten nennen können.
Zweite Zusatzfrage.
Hat die Bundesregierung in etwa Vorstellungen von der Größenordnung der Kosten und vor allem davon, welche Steuererhöhungen notwendig sind, um den Umzug finanzieren zu können?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Müller, die Bundesregierung spekuliert nicht. Deshalb bin ich jetzt auch nicht in der Lage, irgendeine Zahl, die keinerlei reale Grundlage hätte, zu nennen.
Im übrigen ist der zweite Teil Ihrer Frage längst beantwortet: Es ist immer wieder betont worden, daß für den Umzug Steuererhöhungen nicht nötig sein werden.
Herr Kollege Müller, keine Kommentare! — Gibt es weitere Zusatzfragen dazu? — Das ist nicht der Fall.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, für die beiden nächsten Fragen 14 und 15 des Abgeordneten Dr. Hans-Hinrich Knaape sowie die Frage 16 des Abgeordneten Dietrich Austermann ist um schriftliche Beantwortung gebeten worden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 17 des Kollegen Jürgen Augustinowitz auf:
Über welche die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betreffenden Erkenntnisse verfügt die Bundesregierung bezüglich des Rechtsextremismus/Radikalismus, und wie begegnet die Bundesregierung dieser Bedrohung?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Ich bitte Sie um Verständnis, Herr Kollege Augustinowitz, daß Ihre mündliche Frage vom 16. Januar 1992 auf Grund ihres komplexen Inhalts in der Fragestunde nicht erschöpfend beantwortet werden kann. Die Bundesregierung hat am 6. November 1991 im Innenausschuß des Deutschen Bundestages ausführlich und aktuell zu der Problematik berichtet. Ich darf darauf hinweisen, daß dieser Bericht im übrigen auch im BMI-Informationsdienst Innere Sicherheit 5/1991 veröffentlicht worden ist. Im Mittelpunkt dieses Berichtsteils standen Gewaltaktionen gegen Ausländer und ihre Unterkünfte mit erwiesener bzw. zu vermutender rechtsextremistischer Motivation. Bis Ende Oktober waren es insgesamt 415, darunter 277 Brandanschläge. Nach einer ersten Jahresübersicht des Bundesamtes für Verfassungsschutz dürften es 1991 insgesamt über 1 000 Gewaltaktionen gewesen sein.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage verweise ich auf die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage gemäß der Bundestagsdrucksache 12/1758, insbesondere auf die Vorbemerkung der Bundesregierung zu den Antworten auf die Fragen 16 und 17.
Insbesondere sei darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung ihre auf verschiedenen Ebenen seit Jahren laufenden Anstrengungen um eine geistigpolitische Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Extremismus und der Gewalt weiter intensiviert hat, wobei die besondere Lage in den neuen Bundesländern angemessene Berücksichtigung findet.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung bekannt, daß der amerikanische Ku-Klux-Klan in Deutschland in ähnlicher Weise tätig ist, und wenn ja, ist auch diese Organisation in die Beobachtung bzw. in die Bekämpfung in diesem Bereich einbezogen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Der Bundesregierung sind verschiedene Aktivitäten dieser Organisation bekannt. Sie sind zwar nicht besonders umfangreich — sie beschränken sich auf wenige Personen —, aber soweit sie relevant sind, sind diese Aktionen und Personen in die Beobachtung natürlich mit einbezogen worden.
Eine zweite Zusatzfrage? — Nein.Dann rufe ich die nächste Frage des Kollegen Augustinowitz, die Frage 18 auf:
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6052 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Januar 1992
Vizepräsident Hans KleinWie ist der aktuelle Stand der Ermittlungen des Bundesamtes für Verfassungsschutz bezüglich der Verfassungsmäßigkeit der PDS?Herr Parlamentarischer Staatssekretär.Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Wie die Bundesregierung dem Innenausschuß am 6. November 1991 berichtet hat, sind die Verdachtsmomente, daß von der PDS verfassungsfeindliche Bestrebungen ausgehen, nicht entkräftet. Die juristische sowie die organisatorische und historische Kontinuität der PDS mit der totalitären SED ist evident. Fast alle PDS-Mitglieder gehörten bereits der SED an. Besonders hinzuweisen ist auf den starken Anteil ehemaliger hauptamtlicher oder inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit in der Mitgliedschaft der PDS; diese „Ehemaligen" finden sich auf allen Ebenen, bis in die Parteispitze.Die „Kommunistische Plattform", die konsequent für die Verwirklichung marxistisch-leninistischer Vorstellungen eintritt, dürfte über mehr Anhänger als die Deutsche Kommunistische Partei und vergleichbare linksextremistische Beobachtungsobjekte zusammen verfügen. Angehörige der PDS, insbesondere der „Kommunistischen Plattform" , sind an der Suche der Linksextremisten nach neuen Strategien und Taktiken unter den veränderten Bedingungen im vereinigten Deutschland beteiligt.Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß es sich bei der PDS um eine Partei im Umbruch handelt und daß die Aufklärungsmöglichkeiten im Beitrittsgebiet noch unzureichend sind, erscheint es derzeit nicht möglich und geboten, die Prüfung bereits abzuschließen. Auch die Innenministerkonferenz hat dieses Thema bereits mehrfach erörtert.
Keine Zusatzfrage? — Auch nicht aus den anderen Bereichen des Hauses.
Die nächsten beiden Fragen, die Fragen 19 und 20, werden ebenfalls schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich bedanke mich.
Ich rufe nunmehr den Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald zur Verfügung.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, die Fragen 21 bis 25 sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 26 des Abgeordneten WolfMichael Catenhusen auf:
Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung darüber vor, daß Firmen, die als Zulieferer bei der Entwicklung der Gaszentrifugentechnik und für die kommerzielle Nutzung dieser Technik bei der Firma Urenco tätig waren, Zulieferungen für das irakische Gaszentrifugenprogramm vorgenommen haben?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Catenhusen, die im Gasultrazentrifugen-Bereich — ein Programm, das zur Urananreicherung dient, wie ich in
Vorbereitung auf diese Sitzung gelernt habe — tätigen Firmen in Großbritannien, in den Niederlanden und der Bundesrepublik haben gemeinsame sogenannte Urenco-Unternehmen gegründet. Die Bundesregierung wird von Urenco nicht über deren Zulieferanten unterrichtet. Urenco ist dazu auch nicht verpflichtet.
Nach Kenntnis der Bundesregierung sind bei den Staatsanwaltschaften zur Zeit fünf Ermittlungsverfahren wegen Verdachts des Vergehens gegen das Außenwirtschaftsgesetz anhängig, in denen sich Anhaltspunkte dafür ergeben haben, daß nach Irak ausgeführte Waren für das irakische Gaszentrifugenprogramm bestimmt waren. Eine der beteiligten Firmen war Zulieferer bei Urenco.
Herr Kollege Catenhusen, eine Zusatzfrage.
Erste Zusatzfrage: Können Sie bestätigen, daß die Gaszentrifugentechnologie, die die Basis für das irakische Gaszentrifugenprogramm bildete, die in Deutschland entwickelte war? Können Sie bestätigen — vielleicht wissen Sie ja, daß es auch eine englische Variante gab —, daß es die in Deutschland entwickelte Technologie war, die nach Irak transferiert worden ist?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Nein, das kann ich nicht bestätigen. Aber daß es bei der Technologie deutsche Mitwirkung gegeben hat, kann nicht ausgeschlossen werden.
Zweite Zusatzfrage.
Sind Sie der Frage nachgegangen und liegen Erkenntnisse darüber vor, daß Personal aus Firmen, die als Zulieferer an der Entwicklung der Gaszentrifugentechnik beteiligt waren, in andere Firmen gewechselt ist, die selbst wiederum als Zulieferer für das irakische Gaszentrifugenprogramm tätig waren, und sind hier auch ähnliche rechtliche Schritte unternommen worden?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Das ist der Bundesregierung nicht bekannt. Ich nehme insoweit Bezug auf die eben vom Herrn Bundeswirtschaftsminister in der Regierungsbefragung gemachten Aussagen zu dieser Problematik.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Lowack.
Mich würde nur interessieren, da grundsätzlich Lieferungen erfolgt sind: Können Sie uns sagen, wieweit diese eventuell Hermes-verbürgt waren?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Nach unserem Kenntnisstand sind sie weder aus dem BMFT gefördert worden noch sind sie Hermes-verbürgt.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich möchte Ihnen gern in der in der Fragestunde gebote-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Januar 1992 6053
Ernst Schwanholdnen Frageform ein Zitat zunächst zur Kenntnis geben und einen Hinweis auf Ermittlungen — —
Herr Kollege, dann kleiden Sie es doch wirklich in die Frageform.
Würden Sie mir zustimmen, Herr Staatssekretär, daß es außerordentlich ungewöhnlich ist, daß die Bundesregierung angeblich keine Kenntnis gehabt haben soll von der Zulieferung von Gasultrazentrifugenteilen der Firma H & H, wenn darauf schon 1988 im Irak-Bericht der Bundesregierung und in einem internen Vermerk von Herrn Wirtschaftsminister Haussmann im Jahre 1990 ein Hinweis gegeben worden ist? Ich kann dazu die Stellen zitieren.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich kann darauf nur antworten, daß die Bundesregierung alle Hinweise auf solche Lieferungen, die Verstöße nach dem Außenwirtschaftsrecht beinhalten könnten, sofort an die dafür zuständigen Ermittlungsbehörden weiterleitet. Das ist seit 1988 so der Fall gewesen.
Für die Fragen 27 und 28 des Abgeordneten Kolbe ist wiederum schriftliche Beantwortung erbeten. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 29 des Abgeordneten Dr. Karl Fell auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, ob — wie Presseberichte der letzten Wochen nahelegen — die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London bei ihren Finanzierungen Projekte bestimmter Nationen, insbesondere solche von französischer Seite, bevorzugt?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Fell, die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung hat am 15. April 1991 ihre Arbeiten aufgenommen. Sie hat bisher insgesamt 800 Millionen DM für 14 Projekte in den Ländern Mittel- und Osteuropas zur Verfügung gestellt. Die Partner kommen aus den Empfängerländern und verschiedenen westlichen Staaten. Die kleine Zahl von verabschiedeten Projekten läßt noch keine Aussage im Sinne der gestellten Frage zu.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Fell.
Herr Staatssekretär, können Sie uns denn erläutern, um welche Projekte es sich tatsächlich handelt? Denn der Einstieg, der jetzt Anlaß der Presseberichte war, von Air France bei Air Czechoslovakia mit 40 % Beteiligungsfinanzierung durch die Europäische Bank gehört ja nicht unbedingt zu dem Aufgabenkreis der Bank.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Sie haben schon auf die Beteiligung der Franzosen hingewiesen. Von den 14 Projekten sind, wenn ich richtig informiert bin, fünf mit französischer Beteiligung betroffen, vier mit amerikanischer. Weiter sind ein englisches, österreichisches und Firmen aus den Empfängerländern beteiligt. Sie sehen also, es liegt schon ein Schwergewicht bei französischen Projekten.
Zweite Zusatzfrage.
Wie kann, wie will die Bundesregierung sicherstellen, daß die Aktivitäten der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung den Interessen der durch diese Bank zu begünstigenden Länder dienen und auch deutsche Investoren die Chance erhalten, von dieser Bank Finanzierungsmittel zur Verfügung gestellt zu bekommen?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hat sich dafür eingesetzt und wird sich weiter dafür einsetzen, daß sich an ihrer Bedeutung und ihrer Beteiligungsquote an diesem Institut auch die Struktur und die Zahl der Geschäfte mit dieser Bank orientieren.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Lowack.
Darf ich fragen, wie die Bundesregierung das im einzelnen machen möchte, oder glaubt man, daß man durch die Placierung eines früheren Kollegen aus dem Deutschen Bundestag bereits das getan hätte, was hätte getan werden sollen?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Nein, das wird, Herr Kollege Lowack, sicherlich nicht ausreichend sein. Es wird auch ganz entscheidend darauf ankommen, daß der erst im Aufbau befindliche Personalkörper dieses Instituts Mitarbeiter deutscher Nationalität in angemessenem Umfang umfaßt.
Keine weiteren Zusatzfragen zu dieser Frage.
Dann rufe ich die Frage 30 auf, die ebenfalls der Kollege Fell gestellt hat:
Entspricht der personelle Anteil deutscher Mitarbeiter/Mitarbeiterinnen bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung nach Zahl und Bedeutung der Positionierungen dem anderer vergleichbarer europäischer Staaten?
Sie haben das Wort, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Der personelle Anteil deutscher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung beträgt im höheren und gehobenen Dienst 5,8 %; die deutsche Quote am Kapital der Bank hingegen 8,5 %. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß sich die Bank noch im Aufbau befindet. Die Bundesregierung wird sich weiterhin — ich betone, Herr Kollege Fell, weiterhin — nachdrücklich dafür einsetzen, daß der deutsche Personalanteil der Höhe und der Struktur nach der kapitalmäßigen und wirtschaftlichen Bedeutung Deutschlands entspricht.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, nachdem wir eben gehört haben, daß bei den bisher von der Bank finanzierten Geschäften der Anteil deutscher Finanzierungen Null ist, frage ich natürlich mit dem Blick auf die von Ihnen geschilderte personelle Stärke deutscher Mitarbeiter in der Bank: Wie sieht denn die Struktur hinsichtlich der Beteiligung deutscher Fachleute in der Bank tatsächlich aus?
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6054 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Januar 1992
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Von den 15 Abteilungsleitern ist zur Stunde noch — ich betone: noch — keiner ein Deutscher. Von den 20 Unterabteilungsleitern ist einer Deutscher, und von den 60 Referatsleitern sind leider bisher nur vier Deutsche. Ich darf noch einmal hinzufügen: Wir bemühen uns und haben uns schon in der Vergangenheit bemüht, auf eine sachgerechte Anpassung auch der personell-strukturellen Situation in diesem Institut hinzuwirken.
Eine zweite Zusatzfrage.
Inwieweit sehen Sie denn Möglichkeiten, notfalls durch die Einschaltung des französischen Staatspräsidenten, dafür zu sorgen, daß die gerüchteweise bekanntgewordene Einstellung von Herrn Präsidenten Attali, sich vorwiegend mit französischem Personal zu umgeben und gerade keine Deutschen einstellen zu wollen, unterbunden wird, um sicherzustellen, daß es eine ausreichende und der Beteiligungsquote entsprechende Mitwirkung deutscher Fachleute in der Bank gibt?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich meine nicht, daß wir den französischen Präsidenten deswegen bemühen müssen. Wir haben aber schon den Präsidenten des Instituts, was ja auch unser Institut ist, in einem Gespräch bemüht. Er hat uns zugesagt, daß man bei den weiteren, noch vorzunehmenden Personalbestellungen — das Ganze ist erst im Aufbau — auch auf die deutschen Interessen hinreichend Rücksicht nehmen wird.
Gibt es Zusatzfragen aus dem Kreis der Kollegen? — Das ist nicht der Fall.
Für die Fragen 31 und 32 ist wiederum schriftliche Beantwortung erbeten. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 33 des Kollegen Holger Bartsch auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die Treuhandanstalt bei der Privatisierung der ostdeutschen Braunkohlenindustrie den gemeinsamen Verkauf der Laubag und der Mibrag anstrebt, wodurch gegebenenfalls Verzögerungen auftreten, und wie steht sie zu dieser Strategie?
Sie haben das Wort, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Bartsch, die Treuhandanstalt hat den Auftrag, die wettbewerbsfähigen Tagebaue der ostdeutschen Braunkohlenindustrie bestmöglich und, wie ich hinzufüge, schnellstmöglich zu privatisieren. Im gegenwärtigen Stadium der Untersuchungen und Vorverhandlungen mit Kaufinteressenten ist nicht entschieden, ob die für einen Verkauf in Frage kommenden Tagebaue der Laubag und Mibrag gemeinsam oder getrennt veräußert werden.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Bartsch.
Herr Staatssekretär, wie bewertet aber die Bundesregierung Meldungen in der Presse, die teilweise auch durch den zuständigen Treuhanddirektor, Herrn Schucht, getätigt worden
sind, die derart waren: Eine Filetierung wird es nicht geben? Das ist ganz allgemein so gedeutet worden, daß es hier nur einen Paketverkauf geben kann. Das hat in den betroffenen Regionen teilweise zu ganz erheblichen Verunsicherungen geführt und auch teilweise die Entwicklung z. B. in Richtung der Nachrüstung von Großkraftwerken zumindest in der Öffentlichkeit negativ beeinflußt.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Die Presseerklärung des Vorstandsmitglieds Dr. Schucht ist mir nicht bekannt. Aber ich habe eben bereits gesagt, daß zur Stunde offen ist, ob die beiden gemeinsam oder jedes für sich veräußert werden. Der Bundeswirtschaftsminister hat eben in einem ganz anderen Zusammenhang auf die schwebenden Verhandlungen schon einmal hingewiesen.
Zweite Zusatzfrage.
Mich würde dann zumindest interessieren, wie aus Ihrem Hause die Situation des Erlöses bewertet wird. Wir haben bei der Frage an den Bundeswirtschaftsminister bereits über die Altlasten und über die nicht geklärte Finanzierungsfrage gesprochen. Mir ist insoweit bekannt, daß bei dem jetzt angedachten Modell der Finanzierung der Altlasten zu 50 % die Treuhand eintreten soll, woraus zumindest für mich ableitbar ist, daß hier, da die Altlasten zum Teil die wirtschaftliche Entwicklung in der Region behindern, dringender Handlungsbedarf gegeben ist.
Herr Kollege Bartsch, bitte keinen Debattenbeitrag.
Gut. Ich fasse mich kurz. Wie sehen Sie die Dringlichkeit der Privatisierung unter dem Gesichtspunkt der Finanzierung der offenen Altlastenfrage?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich durfte eben schon sagen, das Interesse der Treuhandanstalt und auch das Interesse der Bundesregierung — völlig deckungsgleich — ist die bestmögliche und die schnellstmögliche Privatisierung. Die schwebenden Verkaufsverhandlungen können wir natürlich nicht hier im Plenum führen. Deswegen kann ich mich auch nicht dazu äußern, in welchem Maße Altlasten in diesen Vertragsverhandlungen übernommen werden. Ich kann Ihnen nur generell und abstrakt antworten, daß — wie Ihnen auch bekannt ist — in nahezu allen Privatisierungsverhandlungen die Treuhandanstalt die übernehmenden Unternehmen von ganz erheblichen Anteilen an Altlasten freistellt.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wenn die Frage, ob eine Paketlösung oder eine Filetlösung durch die Treuhand vorgenommen wird, noch nicht entschieden ist, könnten Sie mir eventuell die Erwägungen nennen, die für eine Paketlösung sprechen, denn bisher war die Philosophie der Treuhand, möglichst zu entflechten, urn damit eine bessere Verkaufbarkeit zu erreichen?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Januar 1992 6055
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich darf noch einmal wiederholen: Wir sind nicht hier, um diese Verhandlungen einer Lösung zuzuführen. Dazu ist die Bundesregierung nicht in der Lage und auch nicht willens, weil das die eigene unternehmerische Verantwortung der Treuhandanstalt ist. Eine gewisse Verunsicherung ist zweifellos dadurch hereingekommen, daß — darauf deuteten Sie ja hin — es unterschiedliche Gutachten gibt: eines von Rheinbraun, eines von McKinsey. Auf der Basis dieser sich in Teilbereichen widersprechenden gutachtlichen Erkenntnisse werden nun die Verhandlungen geführt. Wir sind aber sehr hoffnungsfroh, um so mehr, als uns bekannt ist, daß die Veba mit der Mibrag bereits die Abnahme von ca. 5 Millionen Jahrestonnen Kohle vereinbart hat. Das ist immerhin, würde ich meinen, ein solider Grundstock für eine gute Zukunft.
Mit der Zusatzfrage des Kollegen Dr. Brecht ist dieser Bereich abgeschlossen. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bedanke mich bei Ihnen für die Beantwortung.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Horst Günther zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 34 des Kollegen Dr. Gerhard Riege auf:
Welche Konsequenzen hätte eine Halbierung der Dauer von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, wie sie vom Bundesminister für Wirtschaft öffentlich gefordert wird, für laufende und zukünftige Vorhaben im Bereich der Forschung und Entwicklung, in dem Fragen der Qualifikation, der fachlichen Einarbeitung und vor allem der Herausbildung und Erhaltung von Wissenschaftlergruppen eine große Bedeutung besitzen, und wären die Vorgaben des Erlasses der Bundesanstalt für Arbeit vom April 1991 über ABM im Bereich Wissenschaft, Forschung und technologische Entwicklung überhaupt noch realisierbar?
Herr Kollege Dr. Riege, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen dienen nicht vorrangig dazu, Vorhaben im Bereich Forschung und Technologie zu fördern, sondern sie sind darauf gerichtet, die Arbeitslosigkeit einzelner Personen, vornehmlich schwer vermittelbarer, beenden zu helfen. Dabei ist nicht ausgeschlossen, auch arbeitslose wissenschaftliche Mitarbeiter über ABM zu fördern und dadurch deren Chancen zur Eingliederung bzw. Wiedereingliederung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verbessern. Eine Koalitionsarbeitsgruppe hat im Herbst 1991 empfohlen, daß, wenn immer möglich, eine Kombination von beruflicher Qualifizierung und ABM verwirklicht werden sollte. Eine rechtliche Voraussetzung dafür haben wir durch das Gesetz vom 20. Dezember 1991 mit der Einführung eines sogenannten Teilunterhaltsgeldes für diese Fälle geschaffen.
Der Vorstand der Bundesanstalt für Arbeit hat in seinen Vorgaben zur Qualitätssicherung und Steuerung bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für das Jahr 1992 in den neuen Bundesländern einschließlich Berlin die Kombination von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und beruflicher Qualifizierung deutlich unterstrichen.
Für die Zuweisungen von Arbeitnehmern in ABM gilt im übrigen hinsichtlich der Dauer der Maßnahme,
daß zu prüfen ist, ob das arbeitsmarktpolitische Ziel für den einzelnen unter Berücksichtigung der verfügbaren Haushaltsmittel erreicht wird. Eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme kann im übrigen derzeit längstens für ein Jahr bewilligt werden.
Die Arbeitsämter können im Rahmen der zur Verfügung stehenden Teilnehmerkontingente bei Vorliegen der übrigen Förderungsvoraussetzungen auch 1992 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Bereich Forschung und Entwicklung selbstverständlich bewilligen.
Im übrigen darf ich, vor allem was die Anpassung des Personenkreises der wissenschaftlich Ausgebildeten an die Erfordernisse des allgemeinen Arbeitsmarktes angeht, auf die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage von Ihnen, Herr Dr. Riege, und der Gruppe der PDS/Linke Liste aus der Bundestagsdrucksache 12/1826 vom 30. Dezember 1991 verweisen, wo detailliertere und genauere Auskünfte gegeben werden, als das in einer Fragestunde möglich ist.
Zusatzfrage.
Zunächst möchte ich mich für die Beantwortung der Kleinen Anfrage bedanken.
Meine Zusatzfrage: Stimmen Sie dem zu, daß die Forderung, die der Herr Bundeswirtschaftsminister gestellt hat, die Vorstellung in Frage stellen könnte, wenigstens für ein Jahr wissenschaftlich-technische Kräfte mit einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme über Wasser zu halten, damit leistungsfähige Potentiale nicht wegbrechen?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Auch diese Kräfte können selbstverständlich im Rahmen von ABM beschäftigt werden. Dazu muß man wissen, daß bestimmte Voraussetzungen vorliegen müssen: Es muß eine zusätzliche Aufgabe sein; es muß dem einzelnen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt dienen. Dann sind selbstverständlich aus allen Bereichen Zugänge zu ABM möglich. Speziell eine bestimmte Gruppe zu bedienen würde den Intentionen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und deren Förderkriterien widersprechen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, in welchem Maße sind Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auf dem Gebiet von Forschung und Entwicklung bislang in den neuen Bundesländern überhaupt genutzt worden? Werden die Möglichkeiten ausgeschöpft?Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Ob die Möglichkeiten ausgeschöpft werden, liegt an den einzelnen und selbstverständlich auch an den Instituten, bei denen sie beschäftigt sind. Aber der einzelne, vor allem soweit er arbeitslos ist, kann sich jederzeit an seine Arbeitsverwaltung wenden und prüfen lassen, ob für ihn Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen überhaupt in Frage kommen.
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6056 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Januar 1992
Parl. Staatssekretär Horst GüntherIn welchem Umfang dies auf diesem speziellen Sektor geschieht, darüber liegen der Bundesregierung zur Zeit keine Angaben vor, weil die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Arbeitsverwaltung in den neuen Bundesländern vorrangig damit beschäftigt sind, die dringlichen Aufgaben wie überhaupt die Installation solcher und ähnlicher Fördermaßnahmen voranzubringen. Die statistischen Unterlagen sind noch nicht so aufgearbeitet, wie das zur Beantwortung dieser Frage nötig wäre. Ich denke aber, daß die anderen Aufgaben vorrangig sind.
Herr Kollege Brecht, bevor ich Ihnen das Wort gebe, muß ich eine kleine Bemerkung machen: In der Fragestunde sollen die Fragen ja kurz und zur Sache gestellt werden; sie sollen keine Bewertungen und keine Bemerkungen enthalten. Daran halten sich nur ganz wenige. Ab und zu, wenn es zu lang wird, muß der Präsident ein bißchen dazwischengehen.
Plötzlich gibt es ein positives Aha-Erlebnis: Ein Kollege sagt: „Zunächst möchte ich mich ... bedanken. " Es ist ganz ungewöhnlich, daß es so etwas bei uns noch gibt, Herr Kollege Riege.
Herr Dr. Brecht, jetzt haben Sie das Wort.
Entspricht die Halbierung der ABM-Zeit der Intention des BMFT, das in einer Broschüre erläutert hat, welche wichtigen Aufgaben durch Wissenschaftler im Bereich von Umweltschutz und bei anderen Projekten erfüllt werden sollen? Umgekehrt gefragt: Glauben Sie, daß eine solche Aufgabe in einem halben Jahr sinnvoll abgeschlossen werden kann?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Bestimmte Aufgaben können in einem halbem Jahr abgeschlossen werden, bestimmte andere Aufgaben nicht. Wir können für den Bereich Forschung und Technologie im allgemeinen davon ausgehen: Wenn die Grundlagen für ABM vorhanden sind — darauf muß ich besonders hinweisen; es dürfen nämlich keine originären Aufgaben sein, die sowieso erledigt werden müssen — und man in diesem Bereich möglicherweise mit einem halbem Jahr nicht auskommt, kann die Längstdauer von einem Jahr angesetzt werden. Ich denke, daß diese zunächst ausreicht, um bestimmte Vorhaben abzuwickeln, aber auch, um die Qualifikation und die Wiedereingliederungsmöglichkeit des Betroffenen entsprechend zu fördern.
Keine weiteren Zusatzfragen zu Frage 34.
Dann rufe ich die Frage 35 der Abgeordneten Regina Kolbe auf:
Kann die Bundesregierung Auskunft darüber geben, warum es im Arbeitsamt Leipzig zwischen Juli und Dezember 1991 zu Verzögerungen bei der Auszahlung von Leistungen der Arbeitsverwaltung gekommen ist?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, wenn Sie und die Kollegin Kolbe das genehmigen, möchte ich die Fragen 35 und 36 gerne gemeinsam beantworten.
Ich immer.Dann rufe ich noch die Frage 36 der Abgeordneten Regina Kolbe auf:Welche Maßnahmen sind nach Ansicht der Bundesregierung einzuleiten, um diesem Mißstand abzuhelfen, um damit auch die Aussage des Staatssekretärs im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung im nachhinein zu decken, der in der Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung am 11. Dezember 1991 erklärt hatte, daß solche Verzögerungen nicht mehr vorkommen?Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Vielen Dank.Frau Kollegin Kolbe, nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit sind ungewöhnliche Verzögerungen bei der Auszahlung von Leistungen im Zeitraum Juli bis Dezember 1991 im Arbeitsamt Leipzig nicht bekanntgeworden. Die durchschnittliche rechnerische Bearbeitungsdauer im Bereich Arbeitslosengeld/ Arbeitslosenhilfe habe, so die Auskunft, von Juli bis Dezember 1991 rund zehn Tage betragen. Sie lag damit nur unwesentlich höher als der durchschnittliche Bearbeitungsrückstand von 9,6 Arbeitstagen im gesamten Beitrittsgebiet. Zum Vergleich: In den Arbeitsämtern der alten Bundesländer betrug der rechnerische Bearbeitungsrückstand Ende Oktober 1991 11,5 Arbeitstage.Eine längere Bearbeitungsdauer, die aber bei den Gegebenheiten in den neuen Bundesländern nicht als ungewöhnlich bezeichnet werden kann, besteht im Bereich der individuellen Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung. Die durchschnittliche Bearbeitungsdauer in diesem Bereich beträgt im Arbeitsamt Leipzig zur Zeit über zwei Monate und liegt damit dennoch im Schnitt aller Bearbeitungszeiten in den Arbeitsämtern der neuen Bundesländer. In den alten Bundesländern liegen die Bearbeitungszeiten bei ca. 1,5 Monaten.Die Bearbeitungsdauer in diesem Bereich resultiert — trotz weitgehender Arbeitserleichterungen — aus der Komplexität des Prüfungsverfahrens, der anhaltend hohen Arbeitsbelastung in den Dienststellen in den neuen Ländern, den dortigen Arbeitsbedingungen sowie der noch — jedenfalls teilweise — unzureichenden Qualifikation des dortigen Personals, die nicht immer durch die erhebliche personelle Unterstützung von Mitarbeitern aus dem früheren Bundesgebiet ersetzt werden kann. Nicht zuletzt können Verzögerungen aber auch durch nicht rechtzeitige bzw. unvollständige Abgabe von Antragsunterlagen bedingt sein. Auch dies haben wir festgestellt.Daß es in Einzelfällen zu längeren Bearbeitungszeiten kommen kann, läßt sich sowohl in den alten wie auch in den neuen Bundesländern leider nicht völlig ausschließen.Zu Ihrer zweiten Frage bemerke ich folgendes: Die durchschnittlichen Bearbeitungszeiten in den fünf neuen Bundesländern konnten nicht zuletzt dadurch verkürzt werden, daß der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung bereits im März 1991 die Genehmigung für die Einstellung weiterer über 2 000 Arbeitskräfte in den östlichen Arbeitsämtern erteilt hat. Insgesamt konnte der Personalbestand der Bun-
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Parl. Staatssekretär Horst Güntherdesanstalt für Arbeit im Beitrittsgebiet von knapp 18 000 im März 1991 auf über 25 000 Beschäftigte nach dem Stand November 1991 gesteigert werden.Darüber hinaus werden die Arbeitsämter in den neuen Bundesländern durch die Entsendung von Mitarbeitern aus westlichen Dienststellen unterstützt. So sollen allein in diesem Jahr rund 2 500 sogenannte Konsulenten aus den Dienststellen der alten Bundesländer in das Beitrittsgebiet abgeordnet werden.Im übrigen hat der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit zur Vermeidung von Unterbrechungen des Leistungsbezugs beim Übergang von Arbeitslosengeld zu Unterhaltsgeld angeordnet, die Nahtlosigkeit in derartigen Fällen sicherzustellen.
Sie haben jetzt, Frau Kollegin, vier Zusatzfragen.
— Auf die Regierung erstreckt sich meine geschäftsleitende Gewalt nur ganz beschränkt.
Erste Zusatzfrage.
Ich beziehe mich auf einen Brief, den ich am 19. Dezember Ihrem Ministerium geschrieben habe. Die Verzögerungen sind nämlich kein Einzelfall. In meinem Wahlkreis gibt es eine Qualifizierungsmaßnahme für Floristinnen. Es ist eine größere Gruppe. Die Betroffenen haben die Qualifizierung im Juli angefangen, und im Dezember hatten sie noch keinerlei Leistung — keine einzige Mark — erhalten. Sie sprachen davon, daß es in Einzelfällen zu längeren Bearbeitungszeiten kommen kann. Bei 16 betroffenen Personen kann man nicht mehr von Einzelfällen sprechen.
Jetzt meine Frage dazu: Meiner Kenntnis nach resultiert diese Verzögerung nicht nur daraus, daß Personal fehlt. Es soll ganz konkret auch an materieller Ausstattung fehlen. Stimmt das?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Kolbe, meines Erachtens stimmt das nicht. Aber wir sind gerne bereit, das aufzugreifen und die materielle Ausstattung zu überprüfen. Man muß ja erst einmal feststellen, welche Anforderungen von dort überhaupt vorliegen.
Im übrigen biete ich Ihnen an, in Einzelfällen, die Sie uns jederzeit vorlegen können, selbstverständlich eine weitere Prüfung vorzunehmen.
Ich will aber noch sagen, daß es im Bereich der beruflichen Fortbildung und Umschulung längere Bearbeitungszeiten gibt, wie von mir eben schon vorgetragen wurde. Ich habe Durchschnittszahlen genannt, die natürlich immer nach unten und nach oben ausschlagen können. Das liegt an vielerlei Gründen.
Ich schlage vor, wenn Sie in Einzelfällen besondere Beschwernisse haben, uns diese vorzulegen. Wir gehen jedem Einzelfall nach.
Die zweite Zusatzfrage. Regina Kolbe : Ich danke Ihnen dafür.
Aber Sie sagen, die Zahlen können sich nach oben oder nach unten bewegen. Sind sechs Monate — so viele sind es in diesem Fall — Ihrer Meinung nach der Durchschnitt? Dann frage ich: Wie lange dauert es in anderen Arbeitsämtern?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Sechs Monate sind nicht der Durchschnitt; das habe ich auch nicht gesagt, Frau Kollegin Kolbe. Aber wenn es im Einzelfall sechs Monate sind, ist es nach unserer Meinung selbstverständlich nicht richtig und in Ordnung. Wir haben in diesen Fällen geraten, entsprechende Abschlagszahlungen oder Vorschüsse zu leisten, was auch geschehen ist. Die Träger müßten sich dann nur auch einmal an das Arbeitsamt wenden. Aber, wie gesagt, daß sie das nicht tun oder daß die Arbeitsämter dies im Einzelfall ausgeschlagen haben, ist in den Anfängen hier und da einmal passiert; das stimmt. Es ist jedoch nicht der Regelfall und meines Wissens inzwischen auch abgestellt.
Die dritte Zusatzfrage.
Sie sagen, es sei abgestellt. Das kann aber nicht sein. Es sind auch keine Anfangszustände. Ich spreche nämlich vom Dezember 1991. Wir haben auch im Ausschuß darüber gesprochen. Ich frage: Warum ist mein Brief, den ich diesbezüglich an Sie geschrieben habe, bis heute nicht beantwortet? Deswegen frage ich ja heute hier.
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Das kann durchaus sein, Frau Kollegin Kolbe, weil wir auf die Mithilfe der Arbeitsverwaltung angewiesen sind, die prüft, warum die einzelne Maßnahme so lange dauert, wie Sie es reklamiert haben. Ich weiß jetzt nicht, von welchem Datum im Dezember der Brief ist. Aber ich gehe davon aus, daß wie auch in allen anderen Fällen selbstverständlich eine ordnungsgemäße Bearbeitung erfolgt. Wir haben heute den 22. Januar. Überlegen Sie bitte, daß auch die Nürnberger Bundesanstalt auf die örtlichen Arbeitsämter zugehen und das abfragen muß. Daher dauert die Beantwortung manchmal etwas länger. Wenn Sie mir den Fall nachher im Ausschuß — wir sehen uns ja dort — geben, werde ich ihn morgen sofort noch einmal überprüfen.
Die vierte Zusatzfrage.
Halten Sie es für möglich, die Bearbeitungszeiten — auch anderthalb Monate sind im Durchschnitt eine relativ lange Zeit — zu verkürzen?Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Ich kann im Moment nicht sagen, ob das möglich ist; das liegt an vielen Dingen.Ich hatte Ihnen auch schon gesagt, daß es in vielen Fällen daraus resultiert, daß die Unterlagen nicht in Ordnung sind. Ich rate deshalb, dann, wenn die Maßnahme grundsätzlich bejaht wird — das wird bei der Arbeitsverwaltung sehr schnell geschehen —, mit Vorschüssen zu arbeiten, damit die Zeit überbrückt wird. Ich denke, dann kommt man mit eineinhalb Monaten hin.
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Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Schwanhold.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir denn zustimmen, daß bei der eingespielten Bürokratie des Arbeits- und Sozialministeriums die Zeit für die Beantwortung eines Briefes, der sich auf einen Tatbestand der alten Bundesrepublik bezieht, mit sechs Monaten außergewöhnlich lang ist — die Antwort ist von Ihnen unterschrieben und heute bei mir eingegangen —, oder ist auch dies der Regelfall?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Nein, das ist sicher nicht der Regelfall. Aber ich kann im Augenblick nicht feststellen, welchen Fall Sie meinen. Es kann durchaus sein, daß komplizierte Ermittlungen erforderlich sind. Wir können für den Eingang derartiger Angaben anderer Stellen nicht die Verantwortung tragen.
Danke.
Die Fragen 37 und 38 des Abgeordneten Clemens Schwalbe sollen wieder schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe dann die Frage 39 des Abgeordneten Adolf Ostertag auf:
Hält die Bundesregierung die Verbeamtung von Beschäftigten der ostdeutschen Arbeitsverwaltung für notwendig, und wenn ja, warum?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Darf ich die Fragen 39 und 40 gemeinsam beantworten?
Der Präsident stimmt immer zu. Ich rufe also auch noch die Frage 40 des Abgeordneten Adolf Ostertag auf:
Mit welchen Prüfungen und nach welchen Grundsätzen will die Bundesregierung sicherstellen, daß Beschäftigte in der Arbeitsverwaltung insbesondere in Führungspositionen nicht politisch belastet sind?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Ostertag, nach Art. 20 Abs. 2 des Einigungsvertrages ist die „Wahrnehmung von öffentlichen Aufgaben . . . sobald wie möglich Beamten zu übertragen". Ich nenne diese grundsätzliche Passage aus dem Einigungsvertrag deutlich vorneweg.
Zuständig für die Ernennung der Beamten der Bundesanstalt für Arbeit ist nach dem Arbeitsförderungsgesetz der Vorstand der Bundesanstalt. Dies gilt mit Ausnahme der Ernennung der Führungskräfte. Die Bundesanstalt strebt für die Dienststellen der Arbeitsverwaltung in den neuen Bundesländern einen vergleichbaren Anteil der Beamten an der Gesamtzahl der beschäftigten Plankräfte wie in den alten Bundesländern an. Das macht zur Zeit etwa 26 % aus.
Der Vorstand der Bundesanstalt für Arbeit wird sich im Laufe dieses Jahres mit dem Erlaß von Verfahrensregeln für die Übernahme von Angestellten in das Beamtenverhältnis bei den Dienststellen der Bundesanstalt im Beitrittsgebiet beschäftigen.
Nun zu Ihrer zweiten Frage. Mit dem Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland übernahm die Bundesanstalt für
Arbeit die Personalverantwortung für die in den 38 Arbeitsämtern der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik beschäftigten Arbeitnehmer. Bis zum 3. Oktober 1990 hatte die Bundesanstalt für Arbeit keine unmittelbare Einflußnahme auf die Personalentscheidungen bei den Dienststellen der Arbeitsverwaltung in der ehemaligen DDR, weder auf die Einstellung noch auf die Besetzung von Führungspositionen. Auch dies vermerke ich besonders.
Mit der Übernahme der Personalverantwortung durch die Bundesanstalt für Arbeit mußten alle Mitarbeiter Erklärungen zu Tätigkeiten in staatlichen Organisationen der ehemaligen DDR abgeben. Bei Zweifeln an der Eignung für eine Tätigkeit wurden Überprüfungen eingeleitet und — falls erforderlich — auch die entsprechenden Konsequenzen gezogen.
Darüber hinaus wurde bereits im November 1990 zur Überprüfung aller Vorwürfe betreffend die politische und berufliche Vergangenheit der Mitarbeiter in den neuen Arbeitsämtern bei der Bundesanstalt für Arbeit eine Personalgutachtergruppe gebildet. Den Vorsitz führt der ehemalige Präsident des Landesarbeitsamtes Nordbayern, Herr Maibaum. Diese Personalgutachtergruppe überprüft alle Beschwerden von Bürgern und Institutionen und führt mit den Beschwerdeführern sowie mit den Betroffenen Gespräche. Eine Auskunft des Sonderbeauftragten für das personenbezogene Schriftgut des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit wird dann eingeholt, wenn Unklarheiten über Art und Umfang einer Mitarbeit beim ehemaligen MfS bestehen und diese nur durch eine Anfrage ausgeräumt werden können.
Alle Führungskräfte, also Direktoren, Abteilungsleiter der Arbeitsämter und Nebenstellenleiter, wurden von der Personalgutachtergruppe unabhängig davon, ob eine Eingabe gegen sie vorliegt, bereits überprüft oder werden noch überprüft.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie mir in absoluten Zahlen sagen, wie groß künftig der Anteil der Beamten in den Arbeitsämtern der neuen Bundesländer sein wird?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Ich muß jetzt eingestehen, daß ich nicht so schnell Kopfrechnen kann. Ich sprach von 26 %. Wir haben etwa 25 000 Mitarbeiter. Es werden dann etwa 6 000 sein, wenn ich überschlägig richtig gerechnet habe.
Danke, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.Die Fragestunde ist beendet.Ich rufe den Zusatzpunkt der Tagesordnung auf: Aktuelle StundeKontroverse über die zügige Unterzeichnung des Vertrages mit der CSFRDie Fraktion der SPD hat eine Aktuelle Stunde zu dem erwähnten Thema verlangt.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Abgeordneten Günter Verheugen das Wort.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Januar 1992 6059
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Am 7. Oktober des vergangenen Jahres ist der Vertrag über freundschaftliche Beziehungen und gute Nachbarschaft zwischen der Bundesrepublik und der Tschechoslowakei im Rahmen eines Staatsbesuchs des Bundespräsidenten in Prag paraphiert worden. Dieser Rahmen war eine Geste, die unterstreichen sollte, daß dieser Vertrag etwas Besonderes ist: Mit ihm soll ein neues, hoffnungsvolles Kapitel in der Geschichte der Deutschen und ihrer Nachbarn in der Tschechoslowakei beginnen. Der Vertrag entspricht dieser Erwartung. Es ist ein guter Vertrag, ein Werk, auf das beide Partner stolz sein können.Wir haben diese Aktuelle Stunde beantragt, weil wir fürchten, daß ein unwürdiger innenpolitischer Schacher die wichtige außenpolitische Absicht gefährdet.
Obwohl die Vertragsverhandlungen — vor allem in der Schlußphase — unter größtem Zeitdruck erfolgt sind und obwohl die Paraphierung in der Absicht schneller Unterzeichnung und Ratifizierung erfolgt ist, hat die Bundesregierung den fertigen Vertrag bis heute einfach liegengelassen. Sie hat ihn nicht unterzeichnet, sie hat ihn noch nicht einmal im Kabinett beraten. Statt dessen hat gestern eine Koalitionsrunde unter dem Druck der bevorstehenden parlamentarischen Beratung beschlossen, den Vertrag in Verbindung mit einer Bundestagsentschließung verabschieden zu lassen.Vor wenigen Tagen erst hatte der Bundesaußenminister unter ausdrücklicher Berufung auf eine Absprache mit dem Bundeskanzler dieses Verfahren ausgeschlossen.
Soviel zum Thema Verläßlichkeit der Bundesregierung.Was in der Entschließung stehen soll, ist uns bisher nicht bekanntgeworden. Aber eines ist sicher: Der nächste Hickhack in der Koalition kündigt sich an; denn was soll der Beschluß der Koalition anderes bedeuten, als daß in Form einer Interpretation dem Vertrag einseitig das hinzugefügt werden soll, was die tschechoslowakische Seite nicht zugestehen konnte, nämlich die Regelung der Vermögensfragen.
Damit wird dem Parlament in Prag die Zustimmung zusätzlich erschwert.Bei unserem Nachbarn in der Tschechoslowakei wachsen Unruhe und Besorgnis täglich — und das nicht etwa deshalb, weil man dort nicht wüßte, warum diese Hängepartie eingetreten ist, sondern weil man es weiß. Und auch wir wissen es: Ein Koalitionspartner, eine süddeutsche Regionalpartei, die CSU, möchte für sich einen parteipolitischen Vorteil herausschinden. Sie wollen ihren sudetendeutschen Wählern in Bayern einreden, daß Sie tapfer für Vermögensrechte und Entschädigungsansprüche kämpfen,die nicht erfüllbar waren, nicht erfüllbar sind und nicht erfüllbar sein werden. Sie wissen ganz genau, daß das Äußerste, was für die heimatvertriebenen Sudetendeutschen erreicht werden konnte, tatsächlich erreicht worden ist: Die Vermögensfrage ist formal offengeblieben.Auch für die in der CSFR lebenden Deutschen ist das Beste herausgeholt worden, eine eindeutige, saubere vertragliche Garantie ihrer Minderheitsrechte.
Die CSU weiß das ganz genau. Sie wissen auch, daß Sie den Vertrag nicht verhindern können. Ich glaube noch nicht einmal, daß Sie es jemals wollten. Sie wollten nur so tun, als ob. Das ganze Hin und Her der letzten Wochen ist eine Leimrute, die zum Stimmenfang ausgelegt wird, es ist eine Täuschung.Nun ist der beabsichtigte Wählerbetrug hier heute gar nicht unser Thema, sondern uns geht es um den außenpolitischen Schaden, der aus innenpolitischen Gründen angerichtet wird. Die CSU zündelt hier, aber in der CSFR facht sie ein Feuer an. Es gibt dort, wie Sie wissen, Gegner des Vertrags, alte Kommunisten und neue Nationalisten. Ihnen liefern Sie und der Bundeskanzler, der das Spiel gewiß durchschaut, aber nicht beendet hat, die Argumente, die sie brauchen, um Präsident Havel und seine Reformpolitik zu Fall zu bringen.
Jeder von uns weiß, wie leicht, aber auch wie leichtsinnig es ist, nationale Gefühle aufzuputschen und Angst zu mobilisieren, vor allem wenn man in der Lage des kleineren Nachbarn, der CSFR, ist, dem vom großen Nachbarn, von uns, Wunden zugefügt worden sind, die noch nicht verheilt sind.Präsident Havel hat mit einer bewegenden Geste, als er die Vertreibung der Deutschen als das bezeichnete, was sie war, als Vertreibung und als Unrecht, einen großen Schritt zu wirklicher Aussöhnung hin getan. Unsere Antwort darf nicht kleinliches Gezänk und Gezerre sein.
Das hat Präsident Havel nicht verdient, das haben unsere tschechoslowakischen Nachbarn nicht verdient.Ich sage, an die vertriebenen Sudetendeutschen gewandt, daß wir den bitteren Verlust, den sie erlitten haben, nicht verkleinern und nicht wegreden. Aber ich sage auch, daß wir das Geschehene nicht ungeschehen machen können und daß das einzig Sinnvolle, was wir für diejenigen tun können, die auf beiden Seiten gelitten haben, ist, daß wir den Weg der Versöhnung gemeinsam gehen und unser Zusammenleben so gestalten, daß niemals mehr einer vor dem anderen Angst haben muß.
Wir fordern die Bundesregierung auf, ihre Pflicht zu tun, den Vertrag unverzüglich zu unterzeichnen und dem Bundestag zur Ratifizierung zuzuleiten. Wir wol-
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6060 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Januar 1992
Günter Verheugenlen den deutschtschechoslowakischen Vertrag noch vor dem Frühjahr ratifizieren; wir wollen ihn so ratifizieren, wie er ist. Und wir werden uns jedem Versuch widersetzen, dem Vertrag durch eine begleitende Entschließung, eine Präambel, oder was auch immer, eine Deutung zu geben, die seinem Inhalt und seinem Geist widersprechen würde.
Meine Damen und Herren, ich wollte nicht gleich beim ersten Redner dazwischengehen. Aber für die Aktuelle Stunde sind Redezeiten von fünf Minuten vorgesehen. Halbminütige und einminütige Überziehungen sind natürlich nicht fair gegenüber den nächsten Rednern.
Als nächstem erteile ich dem Abgeordneten Christian Schmidt das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! „Unwürdiger innenpolitischer Schacher" ist wohl keine angemessene Formulierung für das Ringen — —
— Ob die deutlichen Formulierungen, die Herr Verheugen in den letzten Tagen gefunden hat, in Ihrer Partei immer als treffend empfunden worden sind, mögen Sie selbst entscheiden; es sei dahingestellt.Es geht um keinen unwürdigen innenpolitischen Schacher. Es geht um sehr viel wichtigere Dinge, die im Zusammenhang mit der deutsch-tschechoslowakischen Aussöhnung mit besprochen werden müssen und besprochen werden sollen. Die demokratischen und freiheitlichen Veränderungen in der CSFR geben die Chance, zu einer echten Aussöhnung zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken zu kommen.Der anstehende deutsch-tschechoslowakische Vertrag, der die völkerrechtliche Grundlage für das künftige Verhältnis der beiden Staaten zueinander bilden soll, kann und soll nach unserer Meinung nicht Schlußpunkt, sondern muß der Beginn für eine positive Entwicklung des deutsch-tschechoslowakischen Verhältnisses sein.Eine ganze Reihe von Fragen des zukünftigen Zusammenlebens in Europa sind in diesem Vertrag erfreulicherweise angesprochen; Sie haben sie ja bereits gewürdigt, Kollege Verheugen. Ich erinnere nur an die Heranführung der CSFR an die Europäische Gemeinschaft — ein ganz wesentliches Element dieses Vertrags — und an die Regelung der Minderheitenrechte für die deutsche Minderheit in der CSFR.Es ist auch sehr zu begrüßen, daß das vereinte Deutschland und die demokratisch gewordene CSFR ihre Beziehungen in einem Vertrag regeln wollen, der nicht mehr das Stigma trägt, auf tschechoslowakischer Seite von stalinistischen Altkommunisten formuliert worden zu sein. Eine bloße Fortschreibung des Vertrags von 1973 hätte dann allerdings diesem Anspruch nicht genügt. Erfreulicherweise sind aber die bereits erwähnten Fortschritte zu verzeichnen.Sehr beeindruckend für uns Deutsche ist nicht nur die Tatsache, daß sich das tschechische und das slowakische Volk mit Václav Havel für eine Person als Staatspräsident entschieden haben, die hohe moralische Autorität und persönliche Integrität vereint, sondern auch die Tatsache, daß Präsident Havel in sehr verbindlichen Worten zu Beginn seiner Amtstätigkeit auch das Kapitel der Vertreibung der Sudetendeutschen angesprochen und im Vorfeld der Vertragsverhandlungen in bemerkenswerter Art und Weise zum Prozeß der Aussöhnung beigetragen hat.Dieser Prozeß muß unbedingt fortgeführt werden. Es ist dem Bundeskanzler Dank dafür abzustatten
— hören Sie zu —, daß er die auf deutscher Seite unmittelbar Betroffenen, nämlich die aus dem Sudetenland vertriebenen Deutschen, in die Beratungen mit einbezogen hat.Es sei mir bei dieser Gelegenheit erlaubt, darauf hinzuweisen, daß die Sudetendeutsche Landsmannschaft in durchaus konstruktiver und differenzierter Art und Weise die Möglichkeit zur Beteiligung genutzt und den Willen zur Aussöhnung und Partnerschaft deutlich unterstrichen hat. Dies werden nicht nur die Kollegen sudetendeutscher Herkunft wohl in allen Fraktionen sicherlich ebenso sehen. Ich denke hier nur an die Erklärung des Sudetendeutschen Rats vom 7. Dezember des vergangenen Jahres.Wir wollen diesen Vertrag auf eine breite Grundlage stellen. Deswegen ist die Einbeziehung der Sudetendeutschen keine Taktik von gestern, sondern eine gemeinsame Chance für die Zukunft. Das Offenhalten der Vermögensfrage, so wie es im begleitenden Briefwechsel zum Vertrag vereinbart werden soll, wurde als die gegenwärtig erreichbare gemeinsame Behandlung der Angelegenheit von den Beteiligten und Betroffenen hingenommen.Überraschung hat nunmehr die Tatsache geschaffen, daß bei der grundsätzlich zu begrüßenden Privatisierung von Staatsvermögen auch das Privatvermögen Sudetendeutscher unter den Hammer kommt, ohne daß diese eine Zugriffs- oder Einwirkungsmöglichkeit erhalten.
Der geneigte Leser diesbezüglicher Erklärungen auch meiner Partei wird feststellen, daß dieser Punkt in aller Sachlichkeit und Ruhe angesprochen worden war. Aller Pulverdampf, der die Sachfragen um die immer erklärte grundsätzliche Bereitschaft zur Aussöhnung und Zusammenarbeit aller Seiten vernebelt, ist wohl im wesentlichen aus dem Interesse der Medien und vielleicht auch der SPD am Konflikt zu verstehen und zu einem gewissen Teil auch aus dem heraufziehenden Wahlkampf begründet.Die Vertragsunterzeichnung ist für den Februar vorgesehen. Ich meine schon, daß es richtig war, sich die Zeit zwischen der Paraphierung und der Unterzeichnung zu nehmen, um nicht nur über die Fragen der Versteigerungen und der Verfahrensweise hierzu zu reden, sondern auch über Fragen von gemeinsamen Infrastrukturprojekten, die am Rande erörtert
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Januar 1992 6061
Christian Schmidt
wurden und deren Diskussion noch nicht abgeschlossen ist.Im übrigen fordert die SPD in einer Erklärung von Anfang dieser Woche die Verabschiedung einer Stiftung.
Herr Kollege Schmidt, die Redezeit ist abgelaufen.
Bitte noch einen Satz. Dem Bundestag wird ein Entschließungsentwurf vorgelegt werden, in dem unsere Erwartungen an die Zukunft festgehalten werden, und der — so bin ich sicher — in Bonn, München und Prag gelesen und hoffentlich recht verstanden werden kann. Dabei ist die SPD zur Beteiligung und Zustimmung aufgerufen.
Als nächster hat das Wort der Abgeordnete Josef Grünbeck.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist beinahe 47 Jahre her, daß die Vertreibung der Sudetendeutschen aus ihrer Heimat begann. In meiner Eigenschaft als Sudetendeutscher, der durch diese Vertreibung schwere persönliche Verluste in der Familie hinnehmen mußte, aber auch in meiner Eigenschaft als Mitglied im Sudetendeutschen Rat, in der Sudetendeutschen Akademie für Wissenschaft und Kunst und in der Kommission für die wirtschaftliche Zusammenarbeit unserer beiden Länder darf ich in Erinnerung rufen, was die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen" am 5. August 1950 festgelegt hat. Dort heißt es wörtlich:Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung.Dort heißt es aber auch:Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können.Diese Charta der Vertriebenen, beschlossen wenige Jahre nach der Vertreibung, ist in meinen Augen die erste große Friedensinitiative in der Geschichte unserer Bundesrepublik.
Sie hat um so größere Bedeutung, weil sie beschlossen wurde, als noch viele Wunden offen waren.Die Charta der Vertriebenen war getragen vom Prinzip der Aussöhnung und der Versöhnung, um ein gemeinsames friedliches Europa zu schaffen. Das muß auch heute für uns der oberste Leitsatz sein.
Ein dauerhaft friedliches Europa aber wird es nur geben, wenn wir gute nachbarschaftliche Beziehungen insbesondere auch zu unseren östlichen Nachbarstaaten in Europa haben. Das bedingt das Prinzip der Aussöhnung und Versöhnung.Das hat gerade der Präsident der CSFR, Václav Havel, zur Maxime seines Handelns gemacht. Mit seinem mutigen Eintreten für Demokratisierung und offene Grenzen hat er nicht nur zu den Veränderungen in der ehemaligen DDR beigetragen und sie mit ermöglicht, sondern insgesamt wesentlich zum neuen Denken der guten Nachbarschaft beigetragen.Zu den Ergebnissen dieser Veränderungen zählt die Einsetzung einer gemeinsamen Historikerkommission zur Aufbereitung der deutsch-tschechoslowakischen Geschichte, insbesondere des 20. Jahrhunderts. Damit hat Präsident Havel aber auch die Schuldfrage an der Vertreibung für nicht mehr tabu erklärt und das Tor geöffnet, das zur Aussöhnung und Versöhnung notwendig ist, nämlich die Verzeihung — die gegenseitige Verzeihung.Mit dem Nachbarschaftsvertrag sind die Weichen für Aussöhnung und Versöhnung unserer beiden Staaten gestellt. Ich danke an dieser Stelle ganz besonders dem Herrn Bundeskanzler und unserem Außenminister, die beharrlich und zielstrebig und nicht irritiert von irgendwelchen Strömungen auf diesen Vertrag hingearbeitet haben. Hier schließe ich aber auch die Beamten des Auswärtigen Amtes auf beiden Seiten ein, die wesentlich durch ein gutes Verhandlungsklima, das getragen war von viel gegenseitigem Verständnis und Geduld, zu diesem Ergebnis gekommen sind.
Nun will man von bestimmter Seite in der Endphase vor der Unterzeichnung Verhandlungen um die Versteigerung des ehemaligen sudetendeutschen Eigentums einbringen. Es geht dabei um die Privatisierungsbestrebungen der CSFR, die nicht nur das ehemalige sudetendeutsche Eigentum, sondern auch das tschechische Eigentum betreffen. Ich stelle hier die Frage, wer von den Sudetendeutschen denn nun wirklich sein ehemaliges Eigentum ersteigern will. Ich habe viele Gespräche mit meinen sudetendeutschen Landsleuten geführt. Kaum jemand ist daran interessiert, die zum Teil schwer beschädigten Gebäude wieder zu erwerben oder dort wohnhaft zu werden.
Man muß sich über die Folgen einer politischen Initiative einig werden. Sie weckt bei vielen älteren Menschen noch Hoffnungen, sie verängstigt heute aber auch die tschechischen Bewohner in dieser Gegend
und liefert dabei möglicherweise bestimmten politischen Kräften in der CSFR Argumente gegen den Geist der Versöhnung und Aussöhnung.Wenn dann nicht mehr vom Wiedererwerb, sondern von der Entschädigung gesprochen wird, so muß man die Frage stellen, wer das überhaupt bezahlen könnte. Wir wissen alle, daß die CSFR dazu nicht in der Lage ist. Wollen Sie einen neuen Lastenausgleich in Deutschland, wollen Sie in die Steuerkasse greifen, oder was soll es denn wirklich sein?
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6062 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Januar 1992
Josef GrünbeckWenn man solche Forderungen stellt, muß man sie konkret ausformulieren. Dann werden Sie erleben, daß die gegenseitigen Reparationsforderungen wieder ins Gespräch kommen. Und das ist keine gute Grundlage für eine dauerhafte und friedliche Koexistenz mit unseren östlichen Nachbarstaaten.
Die Historikerkommission arbeitet gut. Wir sollten den Ablauf der Geschichte nicht vertuschen und auch nicht verdecken. Aber wir sollten die Verhandlungen über das Vergangene nicht als Mittelpunkt unserer politischen Arbeit sehen, sondern wir sollten reale Verbesserungen anstreben. Rückkehrmöglichkeiten wird es geben. Investitionen von deutschen Unternehmen laufen auf breitester Ebene. Kultureller Austausch erfolgt auf vielen Wegen. Wir müssen Verhandlungen über die Elbe führen, die bekanntlich schon vor der deutschen Grenze einen erheblichen Verschmutzungsgrad aufweist. Wir müssen über alle Probleme verhandeln.Lassen Sie mich abschließend sagen: Für mich als Sudetendeutschen, der durch die Erlebnisse als junger Soldat bewegt und geprägt ist und der die Vertreibung mit allen harten und bitteren Folgen erleben mußte, gilt in dieser Stunde der Satz: Der dauerhafte Frieden mit unseren östlichen Nachbarn ist nicht alles; aber ohne dauerhaften Frieden ist alles nichts.Deshalb wird die FDP-Fraktion dem Vertrag zustimmen.
Ich erteile der Abgeordneten Frau Angela Stachowa das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundestag macht Geschichte. Schriftsteller und Autoren machen Geschichten. Gestatten Sie mir, daß ich deshalb an dieser Stelle mit dem Skelett, Gerippe, Gerüst, oder wie auch immer, einer solchen beginne. Des genauen Aufschreibens harrt sie noch.
In den 30er Jahren dieses Jahrhunderts hatte ein junger Mann aus einem kleinen sorbischen Dorf der Oberlausitz namens Georg Mirtschink das große Glück und die dazugehörige Förderung von tschechischer Seite, ungeachtet seiner ärmlichen sozialen Herkunft in der „goldenen Stadt Prag" slawische Sprachen studieren zu dürfen. Dieser Mann war mein Vater.
Ich selbst wurde in den Nachkriegsjahren in Prag geboren. Ich bin als Sorbin in Deutschland, meiner Heimat, aufgewachsen; um genau zu sein: in der ehemaligen DDR. Die Verbindungen in unser Nachbarland CSFR sind nie abgebrochen. Viele meiner engsten Freunde und Bekannten und viele meiner schreibenden Kollegen leben in Prag bzw. der CSFR.
Um so mehr war ich erfreut über den am 7. Oktober 1991 paraphierten „Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit".
Ich sehe in diesem Vertrag einen wichtigen Baustein eines Vertragswerks, das in der Zukunft die
Beziehungen des vereinten Deutschlands zu seinen unmittelbaren Nachbarn und überhaupt zu den Ländern Osteuropas auf eine neue Grundlage stellen und damit zur Stabilität in Europa beitragen wird.
Ich habe deshalb wie viele andere in diesem Bundestag nicht das geringste Verständnis dafür, daß die Bundesregierung die Unterzeichnung dieses wichtigen Vertrags so lange hinauszögert. Ich kann keinen Grund sehen, warum trotz aller Beteuerungen seit Oktober des vergangenen Jahres dieser Vertrag in Schubladen verharrt und dem Bundestag vorenthalten wird. In der „Süddeutschen Zeitung" von gestern lese ich z. B., das Kabinett wolle den Vertrag erst im Februar behandeln und im März in das Parlament geben. Mein Unverständnis gerät dabei an die Grenze des Zumutbaren.
Ich meine, die Bundesregierung hat mit dieser Verzögerungstaktik dem Ansehen der Bundesrepublik nicht nur in der Tschechoslowakei geschadet. In politischen Kreisen des Auslands wurde diese Haltung sehr wohl registriert und im Zusammenhang mit anderen außenpolitischen Aktionen der Bundesregierung gesehen.
Es ist nicht verwunderlich, wenn überall erneut historische Ressentiments die Runde machen.
Von den Forderungen, mit denen heute von den Sudetendeutschen Landsmannschaften und einer Regierungspartei gegenüber der Tschechoslowakei aufgetreten wird und denen die Bundesregierung bzw. der Bundeskanzler nicht entschieden entgegengetreten sind, weiß ich eigentlich gar nicht, wie ich sie bezeichnen soll: als ungeheuerlich, beschämend oder einfach traurig.
Dabei will ich nicht in Abrede stellen, zu wissen, was Heimatverlust bedeutet.
Geradezu ein Skandal ist es, wenn man sich in diesem Land zur Behauptung versteigen kann, aus dem deutschen Einmarsch von 1938 und den Kriegsschäden —
— Sie richten das, was Sie hier sagen, an die falsche Adresse; aber darüber könnten wir an anderer Stelle sprechen —
Das Wort hat die Kollegin Stachowa.
— könnten schon deshalb keine Entschädigungsansprüche an Deutschland abgeleitet werden, da sich beide Länder nie im Kriegszustand befunden hätten; alles seien
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Angela Stachowa„Operationen im Reichsprotektorat Böhmen und Mähren" gewesen.Europäische Sicherheit läßt sich nicht auf Ereignissen begründen, die sich vor mehr als einem halben Jahrhundert in völlig völkerrechtswidriger Weise abgespielt haben, um so mehr, als bei allem Verständnis für Gefühle von Menschen, die ihre Heimat verloren haben, die Anerkennung der bestehenden Grenzen in Europa über viele Jahre dazu beigetragen hat, den Frieden zu sichern.Der ganze Vorgang um diesen Vertrag ist um so bedauerlicher, als die Erarbeitung dieses Vertrages von einigen besonders günstigen Umständen begleitet wurde: der Freundschaft zwischen Präsident Havel und Bundespräsident von Weizsäcker, der Geste Havels gegenüber den Sudetendeutschen als einen wichtigen Schritt zur Überwindung einer zwischen beiden Staaten geradezu traumatisch belasteten Vergangenheit, der Paraphierung des Vertrages und dem gegenseitigen Versprechen des schnellen Inkrafttretens.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, diesen Vertrag schnellstmöglich und ohne Veränderungen zu unterzeichnen und dem Bundestag zur Behandlung vorzulegen. Es darf nicht zugelassen werden, daß die Chance auf lange Zeit verbaut wird, gemeinsam mit unseren Nachbarn die Zukunft zu gestalten.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Lowack.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist eigentlich immer das gleiche Verfahren gewesen: Die Bundesregierung schließt außenpolitische Verträge ab, ohne das Parlament einzubeziehen, oder sie paraphiert sie. Und wenn hinterher das Parlament ratifizieren soll, heißt es: Es entsteht großer außenpolitischer Schaden, wenn nicht ratifiziert wird.
Ich halte dieses Verfahren, das in der Vergangenheit in vielen Fällen angewandt wurde, für fehlerhaft, genauso wie ich den Art. 59 Abs. 2 unserer Verfassung für nicht ausreichend halte. Er stammt aus einer Zeit, in der die Bundesrepublik Deutschland noch nicht souverän war. Ich würde dieses Parlament gerne auffordern, dazu beizutragen, daß es bei außenpolitischen Entscheidungen und Verträgen viel eher mitbeteiligt wird als erst später im Ratifizierungsverfahren.
Dem widerspricht aber ausgerechnet der Antrag der Sozialdemokraten, eine Aktuelle Stunde einzuberufen, in einer Zeit, in der wir noch darum kämpfen, was letztlich vereinbart werden soll. Bitte denken Sie bei allem Internationalismus, den Sie auf Ihre Fahnen geschrieben haben, auch einmal daran, daß wir deutsche Interessen wahrzunehmen haben und daß das
Parlament auch bei außenpolitischen Entscheidungen mehr Selbstbewußtsein entwickeln muß.
Es ist unfair, wenn Verträge abgeschlossen werden, ohne die Beteiligten mit heranzuziehen. Kollege Grünbeck, warum fragt die Bundesregierung nicht die Betroffenen, ob sie eigentlich zurückgehen wollen, ja oder nein? Das gäbe uns die Chance, die größte Transaktion von Eigentum in der Geschichte der Menschheit zu demonstrieren, vor allem weil ich davon ausgehe, daß nur 20 % zurückgehen wollen, 80 % aber nicht. Wir würden gegenüber der Welt beweisen, daß wir ein Volk sind, das mit der Vergangenheit Schluß gemacht hat. Aber diejenigen, die betroffen sind, einfach über eine Entscheidung der Bundesregierung oder einen solchen Vertrag um ihre Rechte zu bringen, das ist nicht fair.
Wer die Geschichte ein bißchen kennt, wird auch sagen müssen: Dieser Vertrag ist angesichts der jahrhundertelangen Zusammenarbeit zwischen Deutschen, Tschechen, Slowaken, Ungarn und allen in diesem Raum kurzsichtig. Ich möchte einmal daran erinnern, wie man sich heute in Radio Prag auf das alte Böhmen und Mähren wiederbesinnt. Es hieß dort in einer Radiosendung kurz vor Weihnachten: Es war doch letztlich der böhmische König, der nicht nur Kurfürst war, sondern auch das Vorschlagsrecht für den deutschen Kaiser hatte. Dort besinnt man sich wieder auf die alte Tradition.
— Ich sage nur, was Radio Prag in einer Sendung vor Weihnachten selber gebracht hat.
Es ist doch kurzsichtig, sich die Entwicklung dieses Raumes in Zukunft ohne Deutsche vorstellen zu wollen. Machen Sie sich jetzt doch einmal ein bißchen von Ihrem momentanen Denken und Ihrer geringen Vorstellungskraft frei. Stellen Sie sich doch einmal vor, daß auch die Deutschen beim Aufbau Europas in diesem mitteleuropäischen Bereich mitwirken könnten. Es geht vielleicht nicht einmal ohne sie.
Herr Kollege Lowack, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich bitte Sie, diese Perspektive in Ihre Überlegungen einzubeziehen und klarzustellen, daß der deutsche Steuerzahler niemals das ersetzen kann, was Vertriebene hier mit ihrem höchstpersönlichen Engagement einbringen können.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir debattieren auf Antrag der Opposition ein ganz wichtiges außenpolitisches Thema, das viele Millionen Menschen auch innenpolitisch berührt. Je würdiger wir diese Debatte führen und je ernsthafter wir einander zuhören, desto mehr tun wir uns gegenseitig Gutes.
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Vizepräsident Hans KleinIch erteile das Wort dem Abgeordneten Gerd Poppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Gruppe Bündnis 90/ DIE GRÜNEN begrüßt es, daß der vor drei Monaten ausgehandelte Vertrag mit der CSFR nun endlich und ohne weitere Zusätze unterzeichnet werden soll.
Die von der CSU angefachte Diskussion war und ist nicht nur für die deutsch-tschechoslowakischen Beziehungen, sondern auch insgesamt für den Prozeß des Zusammenwachsens und der Verständigung mit Ostmitteleuropa schädlich. In allen Ländern auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs gab es einen Traum von Europa. Dieser Traum von einem gerechten, freien und wohlhabenden Europa hat viele Menschen vor mehr als zwei Jahren ermutigt, gegen das verrottete poststalinistische System auf die Straße zu gehen und die Teilung Europas zu beenden.
Westeuropa konnte mit dieser Teilung leben, Osteuropa ertrug sie nicht mehr. Jetzt aber ist der Westen auf dem Wege, einen Teil der Hoffnungen auf ein freies und gerechtes Europa durch sein Verhalten zu zerstören. Er hat durch sein kleinkariertes Bedachtsein auf den eigenen Vorteil, auf neue Absatzmärkte oder auf noch zu erwerbende Grundstücke, zur Enttäuschung und Desillusionierung im Osten beigetragen.
Die Ereignisse in Osteuropa haben gezeigt, daß aus einer solchen Situation Nationalismus, Populismus und religiöser Fundamentalismus erwachsen können. Die Westeuropäer machen es sich zu leicht, wenn sie sich dann mit kultivierter Verachtung von solchen Erscheinungen abwenden.
In der Tschechoslowakei gibt es, bezogen auf Deutschland, eine tief gespaltene Einstellung: Einerseits betrachtet man die Deutschen mit Mißtrauen, was auf Grund der deutsch-tschechoslowakischen Geschichte nur allzu berechtigt ist. Der frühere Dissident und heutige Botschafter der CSFR in Deutschland, Jiři Grusa, sagte dazu folgendes: In den tschechischen Köpfen und Herzen — ob zu Recht oder zu Unrecht — sind die letzten 50 Jahre in der logischen Kette der Ursachen zuerst mit Deutschland verbunden und dann erst mit Rußland. — Andererseits gibt es vielleicht übertriebene Hoffnungen auf deutsche Hilfe und deren Wirkung.
In der Bundesrepublik wird auf diese ambivalente Einstellung unserer Nachbarn bislang nur ungenügend reagiert. Die Bundesregierung hat nicht zu einer Politik gefunden, die Schuldbekenntnis, uneigennützige Hilfsbereitschaft und realistische Unterstützung der Reformpolitik der CSFR auf angemessene Weise miteinander verbindet.
Die Forderungen der Vertriebenenverbände sind nur der am meisten zugespitzte Ausdruck dieser Konzeptionslosigkeit. Viele Jahre waren solche Forderungen der Joker im Ärmel konservativer Politiker, um mit den sozialistischen Staaten hart verhandeln zu können. Das hatte vielleicht Sinn, solange sozialistische Regierungen in ihren Staaten die Vergangenheit manipulierten und Minderheitenrechte mißachteten.
Gegenüber der demokratischen Regierung der CSFR aber ist dieses Spiel unwürdig.
Skandalös wird es dann, wenn aus den Reihen der CSU mit dem Entzug von Investitionen in der CSFR für den Fall gedroht wird, daß diese nicht die Forderungen der Vertriebenenverbände erfülle.
— Das können Sie nachlesen, das steht in der Presse.
— Herr Koschyk z. B. hat das gesagt. —
Der im gleichen Zusammenhang erhobene Vorwurf des Blockadedenkens an die CSFR ignoriert insbesondere auch die Anstrengungen der tschechoslowakischen Regierung, mit dem Tabu, mit dem die Vertreibung bisher belegt war, zu brechen. Zweifellos gibt es offene Probleme, dies aber auf beiden Seiten. Eine Lösung dafür kann nur außerhalb des Nachbarschaftsvertrags gefunden werden.
Wir verurteilen alle Versuche, den Geist des Vertrages mittels eines Entschließungsantrages zu konterkarieren. Eine begleitende Resolution des Bundestages, wenn sie zustande kommt, sollte vielmehr den Gedanken der Versöhnung unterstreichen, von dem der Vertragstext getragen ist, damit — ich zitiere noch einmal Jiři Grusa — „nicht der Eindruck erweckt wird, daß das neue Deutschland eventuell das alte Deutschland sein könnte".
Ich erteile das Wort dem Staatsminister beim Bundesminister des Auswärtigen, unserem Kollegen Helmut Schäfer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit wird im Februar unterzeichnet. Gleichzeitig mit der Unterzeichnung findet der ergänzende Briefwechsel der beiden Außenminister statt. Vertragstext und Briefwechsel werden in der Fassung unterschrieben, die am 7. Oktober 1991 durch die beiden Außenminister paraphiert wurde.Die Bundesregierung stellt das erreichte Verhandlungsergebnis nicht in Frage.Der Nachbarschaftsvertrag wird den deutschtschechoslowakischen Beziehungen einen neuen, umfassenden Rahmen geben. Staatspräsident Havel hat bereits im Januar 1990, als er Deutschland bewußt zum Ziel seiner ersten Auslandsreise als Präsident wählte, die besondere Bedeutung unterstrichen, die dem deutschen Nachbarn aus tschechoslowakischer Sicht beigemessen wird. Auch in der Folge hat die tschechoslowakische Regierung immer wieder erkennen lassen, wie sehr sie insbesondere bei der wirtschaftlichen Umgestaltung des Landes und der Ein-
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Staatsminister Helmut Schäfergliederung der CSFR in bestehende europäische Strukturen auf die Hilfe der Deutschen rechnet.Die Bundesregierung stellt sich dieser Verantwortung. Vor diesem Hintergrund wurden im Februar 1991 die Verhandlungen mit der CSFR zum Nachbarschaftsvertrag aufgenommen. Sie fanden nach fünf Verhandlungsrunden in der feierlichen Paraphierung am 7. Oktober 1991 in Prag im Beisein des Herrn Bundespräsidenten und des Staatspräsidenten Havel ihren Abschluß.Das Ergebnis ist ein Vertrag, der die bilateralen Beziehungen in der Tat in allen wesentlichen Bereichen beschreibt und zukunftsgewandt regelt, in der Politik, insbesondere der Sicherheitspolitik, in Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie, in der regionalen Zusammenarbeit im Umweltschutz, bei Verkehr und Kommunikation, in der Kultur und bei der Begegnung zwischen den Menschen, insbesondere der jungen Generation.In den Verhandlungen kamen auch schwierige Fragen des bilateralen Verhältnisses offen zur Sprache. Der Bundesminister des Auswärtigen und sein tschechoslowakischer Kollege haben gerade in diesen Verhandlungen immer wieder die Bereitschaft beider Seiten zum Ausdruck gebracht, im Geiste der Verständigung und der Versöhnung nach konstruktiven Lösungen zu suchen. Das ist gelungen.Der Vertrag verbindet die bilateralen Beziehungen fest mit den europäischen Strukturen. Die Abschnitte zur Sicherheit, Abrüstung und Rüstungskontrolle sind geprägt von dem Verständnis des gemeinsamen Aufbaus kooperativer Strukturen der Sicherheit in Europa auf der Grundlage der Schlußakte von Helsinki, der Charta von Paris für ein neues Europa sowie den anderen KSZE-Dokumenten.Besonderes Augenmerk wurde dem Prozeß der Heranführung und Eingliederung der CSFR in die Europäische Gemeinschaft gewidmet. Auch nach der Assoziierung wird die Bundesrepublik Deutschland fortfahren, die CSFR bei der Schaffung von Bedingungen für die volle Mitgliedschaft zu unterstützen. Priorität soll dabei der Überwindung des Entwicklungsgefälles zukommen.Ein wichtiger Aspekt der bilateralen Beziehungen ist die Zusammenarbeit im wirtschaftlichen Bereich. Erfolgreich begonnene Kooperationsvorhaben weisen die Richtung, in die wir gehen wollen. Diese Kooperation soll durch den Ausbau der grenznahen und regionalen Zusammenarbeit eine wichtige Ergänzung finden.Mit weitgehenden Regelungen zur Minderheitenfrage konnte eine rechtlich gesicherte Grundlage für die Entfaltung der Deutschen in der CSFR in ihrer angestammten Heimat geschaffen werden. Wir hatten besonderen Wert darauf gelegt — das galt auch schon vorher bei den Verhandlungen mit Polen —, die europäischen Minderheitenrechte dem Minderheitenrechtestandard anzugleichen, wie er sich insbesondere im Dokument des Kopenhagener Treffens der Konferenz über die menschliche Dimension der KSZE niedergeschlagen hat. Das ist im Vertrag völkerrechtlich verbindlich verankert.Zugleich sind Perspektiven für weitere Verbesserungen und ein ausdrücklicher Bezug auf den KSZE-Mechanismus zur Streitbeilegung im Vertrag enthalten.In dem ergänzenden Briefwechsel der Außenminister wird die Offenhaltung vermögensrechtlicher Fragen bestätigt. Dies entspricht der Regelung, die mit der Republik Polen getroffen wurde.Die Bundesregierung hat in den Verhandlungen deutlich gemacht, daß sie die Vertreibung der Deutschen und die damit im Zusammenhang stehende entschädigungslose Einziehung des deutschen Vermögens stets als völkerrechtswidrig angesehen hat und daß ein Verzicht auf bestehende Ansprüche durch die Bundesregierung schon aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht in Frage kommen kann.
Die im Briefwechsel gefundene Regelung macht deutlich, daß Meinungsverschiedenheiten, die heute nicht zu überwinden sind, der zukunftsgerichteten Gestaltung der deutsch-tschechoslowakischen Beziehungen nicht im Wege stehen sollen.Eine wichtige Frage war auch die Möglichkeit der Niederlassung Deutscher in der CSFR. Auch hierzu findet sich eine Regelung im ergänzenden Briefwechsel. Wir hatten die tschechoslowakische Seite gebeten, in der Perspektive ihrer vollen Eingliederung in die Europäische Gemeinschaft schon jetzt die Möglichkeit zu schaffen, daß Bürger aus der Bundesrepublik Deutschland sich in der CSFR niederlassen können. Die CSFR sah sich dazu noch nicht in der Lage.Beide Seiten sind sich aber einig, daß die fortschreitende Annäherung der CSFR an europäische Strukturen auch in diesem Punkt in der Sache schon bald weitere Erleichterungen mit sich bringen kann und nach meiner Auffassung auch bringen wird.In diesem Sinne wird in der Präambel des Vertrages auch auf das Vertreibungsunrecht ausdrücklich Bezug genommen. Staatspräsident Havel und andere namhafte tschechoslowakische Regierungsvertreter haben sich in der Vergangenheit mehrfach — das ist in dieser Debatte bereits zum Ausdruck gekommen — zum Unrecht der Vertreibung bekannt. Aus der Erinnerung an die traurigen Abschnitte der Geschichte schöpfen beide Seiten die Kraft, eine gemeinsame Zukunft in einem zusammenwachsenden Europa aufzubauen.Herr Präsident, meine Damen und Herren, die sensiblen Reaktionen in bezug auf das Vertragswerk aus der tschechoslowakischen und aus der deutschen Öffentlichkeit, die hier angesprochen worden sind, haben uns in diesen Tagen vor Augen geführt, daß es bis zur völligen Normalisierung unserer Beziehungen noch einige Zeit braucht.Der Vertrag ist auch kein Abschluß, sondern vielmehr ein Neuanfang. Es geht jetzt darum, den Vertragsrahmen auch mit Leben zu erfüllen. Die bevorstehende Unterzeichnung wird dafür die Voraussetzung schaffen. Mit ihren Unterschriften werden sich
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Staatsminister Helmut Schäferbeide Regierungen verbindlich zu diesem Vertrag bekennen.Danach obliegt es den Parlamenten beider Länder, dem Vertrag zuzustimmen. Es gibt, Herr Kollege Lowack, also durchaus eine Mitwirkung.Ich darf Sie deshalb bereits an dieser Stelle um Ihre Unterstützung für dieses wichtiges Vertragswerk der Versöhnung bitten.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Markus Meckel.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben hier einen Vertrag, den Sie, Herr Staatsminister, eben entsprechend gewürdigt haben und der von unserer Seite her außerordentlich begrüßt wird. Dieser Vertrag soll unter die sehr schwer belastete Geschichte zwischen unseren beiden Völkern einen Schlußstrich ziehen.
Wenn hier in den letzten Wochen immer wieder das Unrecht der Vertreibung erwähnt wird, so ist das gewiß und mit Recht ein Unrecht zu nennen. Aber es darf hier nicht vergessen werden, daß das Unrecht ja eine Reihenfolge und jeweilige Verursachungen hat, von denen von entsprechender Seite dann nicht mehr geredet wird.
Völlig unangemessen ist es, aus dem Formalzustand eines Protektorats Böhmen und Mähren und eines Staates von Hitlers Gnaden in der Slowakei zu schließen, daß es dort keinen Kriegszustand gegeben hat. Es gibt — in der Pariser Konferenz nach dem Krieg anerkannt — schwere Kriegsfolgen für die Tschechoslowakei — das ist auch eine zentrale Frage dieser Verhandlungen gewesen —, die von der Tschechoslowakei — uns zugute — hier nicht eingebracht worden sind.
Es sind also mit Absicht bestimmte Bereiche dieser Geschichte abgeschlossen und manche andere hier nicht behandelt worden, und zwar mit Recht nicht behandelt worden, um diesen Vertrag zu ermöglichen und Chancen für die Zukunft zu eröffnen.
Hier wurde schon sehr deutlich darauf hingewiesen, mit welcher Größe, so möchte ich sagen, der Präsident der Tschechoslowakei, Vaclav Havel, von den Belastungen auch der eigenen Geschichte und dem Unrecht der Vertreibung gesprochen hat. Solche Worte waren nicht nur Worte, sondern sie haben auch Ausdruck gefunden in dem Vertrag, den wir demnächst — hoffentlich sehr bald — hier vorliegen haben. Diese belastete Geschichte und das angetane Unrecht auf beiden Seiten können nicht durch diese vertragliche Regelung oder durch entsprechende Ansprüche wiedergutgemacht werden. Dies bringt in Prag Assoziationen hervor, die uns als Deutschen nicht gefallen können. Dies ist nicht erst jetzt so. Wir haben im letzten Jahr des öfteren den Verdacht von Großmachtansprüchen uns gegenüber bei unseren Nachbarn vorgefunden. Dagegen haben wir uns immer wieder gewehrt. Ich sage: mit Recht gewehrt. Denn wir haben solche Ansprüche nicht. Das unterstelle ich allen Fraktionen dieses Hauses. Deutschland ist solches Denken fern.
Aber man muß klar sagen: Was hier zur Zeit vorgeführt wird, kann durchaus verständlich machen, daß in Prag solche Gedanken wieder auf den Tisch kommen. Deshalb muß man sagen, hier ist durch ein innenpolitisches Interesse der Bundesregierung und der CDU außenpolitisch viel Prozellan zerschlagen worden.
Hier wird von der Tschechoslowakei erwartert, in einem ganz schwierigen Prozeß ihrer Demokratisierung und des Umbaus ihrer Gesellschaft ein Gesetz zu ändern, das dort gerade einmal durchgetragen wird. Hier gibt es nicht nur keine Sonderregelungen für Vertriebene aus Deutschland, sondern auch Tschechen oder Slowaken, die nicht in der Tschechoslowakei leben, können sich an den entsprechenden Versteigerungen nicht beteiligen. Außerdem ist, ebenso wie wir es in bezug auf die frühere DDR gemacht haben, in diesem Falle mit 1948 eine Deadline gezogen worden. Dies gilt es anzuerkennen; denn es ist ein sehr schwieriger Prozeß, der hier intern gemacht wird.
Es muß in unserem Interesse sein, daß Vaclav Havel und die Regierung in Prag diesen Vertrag verwirklichen können; denn er ist eng eingebunden in den Reformprozeß, der dort, wie wir alle wissen, mit großen Schwierigkeiten und großen innenpolitischen Spannungen durchgeführt wird. Was wir tun, ist Wasser auf die Mühlen derer, die den Reformprozeß zerstören wollen, die die Tschechoslowakei in ihrer Einheit als Föderation zerstören wollen. Wir und, ich denke, auch Sie wollen genau dies erhalten. Insofern sind Sie Ihren eigenen Zielen gegenüber ausgesprochen kontraproduktiv.
Der Vertrag soll Zukunft eröffnen. Ich denke, so, wie er ist, kann er Zukunft eröffnen und wird Zukunft eröffnen. Wir sollten unsere Kraft dareinlegen und nicht in fruchtlosen Auseinandersetzungen; denn es ist ganz klar, daß in der Vertreibung ein Unrecht geschehen ist. Aber, wir können es weder aufrechnen noch wirklich wiedergutmachen und das Unrecht auf der anderen Seite ebensowenig. Wir können nur versuchen, es in dieser Weise sein zu lassen . . .
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
...darüber zu reden, und dann versuchen, im konkreten Tun — und da ist die Assoziation an die EG, die uns sehr viel Spielraum gibt, der wesentliche Ort —, Zukunft und Versöhnung durch Integration zu schaffen.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Herbert Werner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige von der SPD
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Herbert Werner
beantragte Aktuelle Stunde ist meines Erachtens ein Beweis dafür, daß es der SPD weniger um die Sorgen und Ängste der von diesem Vertrag Betroffenen auf beiden Seiten geht als darum, parteipolitische oder wahltaktische Überlegungen hier mit in das Geschehen einzubringen.Meine Damen und Herren, ich möchte in diesem Zusammenhang auch ausdrücklich pauschale Vorwürfe, die gegen die sudetendeutsche Landsmannschaft, deren Sprecher oder auch einzelne Kritiker auf den Weg gebracht wurden, zurückweisen.
Ich sage dies als jemand, der als Vorsitzender der sudetendeutschen Ackermann- Gemeinde von allem Anfang an diesen paraphierten Vertrag gutgeheißen hat und der ihn auch mit trägt.Ich meine, dieser Vertrag ist eine Chance, die noch zwischen Deutschen und Tschechen offengelassenen Fragen zu einem späteren Zeitpunkt auf dem Boden der Verständigung und der Zusammenarbeit einer Regelung zuzuführen. Wer die noch nicht gefestigte neue Demokratie in der CSFR kennt, wer um die wirtschaftlichen Schwächen dieses Staates weiß, wer die Befürchtungen oder — besser — die Ängste der Tschechen ernst nimmt, wird einräumen müssen, daß die Zeit für eine umfassende Regelung aller zwischen unseren beiden Staaten und Völkern stehenden Probleme noch nicht gekommen ist.Um so wichtiger ist es aber heute, daß mit diesem Vertrag, den die Bundesregierung bald unterzeichnen und der Bundestag bald ratifizieren sollte, ein entscheidender Schritt in Richtung auf Verständigung und Versöhnung zwischen den Staaten und den Bürgern getan wird.Verständigung und Versöhnung setzen nicht nur wirtschaftliche Zusammenarbeit und menschliche Begegnung voraus. Die Voraussetzung für echte Verständigung, Versöhnung und zukünftige Freundschaft ist die Redlichkeit im Umgang miteinander und die Wahrhaftigkeit bei dem Versuch, die leidvollen Teile der überwiegend gemeinsamen Vergangenheit, der Grundlage also von Gegenwart und Zukunft, gemeinsam aufzuarbeiten und zu bewältigen.Ich greife bewußt drei Bereiche heraus:Erstens. Unrecht und Leid können nichtgegeneinander aufgerechnet werden. Wir wissen um das Unrecht und Leid, das den Tschechen nach 1938 von Deutschen und von Deutschland angetan wurde. Viel zusätzlicher Bedarf an Aufarbeitung dieses Teils der Geschichte ist übrigens noch notwendig. Wir bedauern dieses Unrecht und Leid zutiefst.Ernst nehmen wir aber auch — das sollten auch Sie von der SPD tun — das Unrecht und Leid, das 1945 und danach den Deutschen vom tschechischen Staat und von Tschechen angetan wurde. Vaclav Havels und Kardinal Tomascheks mutiges Bekenntnis dazu spiegelt sich in der Präambel des Vertrages wider. Die Vertreibung war ein Verstoß gegen die Menschenrechte, nach Professor Ermacora eine Verletzung des Genozidverbots. Jeder, der Rechtsgefühl besitzt, wird die Präsidialdekrete von 1945/46 mit pauschaler Enteignung, Ausweisung, Zwangsarbeit und Inhaftierung ohne Rücksicht auf individuelle Schuld verwerfen. Ist es da nicht verständlich, daß die Sudetendeutschen fragen, wann diese Dekrete von dem Prager Parlament zumindest verurteilt werden?Diese Dekrete haben den allgemeinen Rechtsfrieden und das Rechtsgefühl der Menschen zutiefst gestört. Tschechen schämen sich heute ihrer, so wie wir uns des Voraufgegangenen schämen. Ein derartiger Schritt des Prager Parlaments wäre nicht mit der Pflicht gleichzusetzen, nun die Zeit vor 1938 zurückzuholen und womöglich alles enteignete Vermögen zurückzuerstatten.Zweitens. Dieser Schritt wäre allerdings damit verbunden, daß man sich auf der Seite der Tschechoslowakei Gedanken darüber macht, in welcher Form man — zumindest teilweise — eine Entschädigung für das enteignete Eigentum der Sudetendeutschen gemeinsam finden kann. Diese teilweise Anerkennung von Ansprüchen, auf die viele Sudetendeutsche im übrigen verzichten würden, brächte uns alle einen wichtigen Schritt auf dem Wege der Versöhnung zwischen unserem Völkern näher. Die Wehmut bliebe zwar, aber Haß und Groll wären verschwunden. Gewiß würde eine Regelung, die eine Entschädigung im Land behält, zu zusätzlichen Investitionsanstößen führen.Drittens möchte ich im Hinblick auf das Recht auf Heimat sagen, daß es sich doch aus allen Gesprächen gerade in Prag ergibt, daß auch die einsichtigen, aufgeschlossenen, westlich orientierten Tschechen sich heute durchaus die Frage stellen, warum nicht das Recht auf Rückkehr schon vor einer EG-Regelung gemeinsam, im Konsens, ausgehandelt werden sollte.Die Vertreibung trifft jeweils die ganze Existenz des Menschen. Der Mensch will letztlich seinen Frieden haben. Das ist auch und vor allen Dingen mehr als der Rechtsfrieden. In beiden Staaten sollten sich die Verantwortlichen und die Bürger für diesen Frieden einsetzen. Wir alle müssen deswegen mit den Tschechen noch mehr sprechen, auch über das Unangenehme. Dies hier zu sagen ist nichts Unanständiges.Der Vertrag gibt die Möglichkeit — deswegen begrüße ich ihn —, in Zukunft auch das heute noch Offene anzusprechen und zu regeln. Er wird Vertrauen und Verständigung schaffen, wenn ihn beide Seiten — besser: die Menschen auf beiden Seiten —mit Zuversicht und Optimismus konkret ausfüllen werden. Die Sudetendeutschen werden dabei gewiß, wie auch in den vergangenen Jahren, voller Verantwortung an diesem Auftrag der Verständigung zwischen unseren Völkern mitwirken.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Karsten Voigt.
Herr Präsident! Kollege Werner, mit Ihrer Eingangsbemerkung haben Sie versucht, den tatsächlichen Ablauf der Vorgänge auf den Kopf zu stellen. Seit der Paraphierung hat die
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Karsten D. Voigt
SPD über mehrere Monate hinweg intern immer wieder auf eine zügige Unterzeichnung und Ratifizierung gedrängt. Wir waren daran interessiert, daß dies ohne öffentliche Kontroverse geschah. Wir haben keine parlamentarischen Initiativen ergriffen, obwohl sich die Unterzeichnung immer mehr verzögerte und hinausgeschoben wurde.Nachdem die CSU ihrerseits eine parteitaktisch begründete Polemik begonnen hatte, konnten wir im Interesse Deutschlands insgesamt und nicht nur der SPD gar nicht anders,
als auf eine Klärung des Sachverhaltes und auf eine parlamentarische Debatte zu drängen. Die Klärung des Sachverhalts ist auch nur so erreicht worden.
Ich möchte, Herr Lowack, übrigens Gerüchten vorbeugen. Es wird hier gesagt, das Parlament sei nicht genügend beteiligt gewesen. Dies ist nicht wahr. Am 25. September, also noch vor der Paraphierung, ist der Auswärtige Ausschuß des Bundestages ausführlichst und im Detail über den beabsichtigten Vertrag mit den einzelnen Bestimmungen durch Staatssekretär Kastrup informiert worden. Wir haben dann in einer sehr ungewöhnlichen Form der Aussprache unter den anwesenden Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen festgestellt, daß wir einmütig, ja einstimmig für die Paraphierung, Unterzeichnung und Ratifizierung eintreten, darunter ausdrücklich mit einer Wortmeldung des CSU-Kollegen Schmidt.Ich möchte hinzufügen, daß wir auf Grund dieser internen Beratungen, an denen Kollegen aller Fraktionen beteiligt gewesen sind, davon ausgehen mußten — übrigens auch die Bundesregierung —, daß der Vertrag hier im Parlament einstimmig unterstützt wird — wenigstens von allen Fraktionen — und daß er zügig unterzeichnet wird.Ich möchte darüber hinaus sagen, Herr Minister Goppel, daß meinen Informationen nach die bayerische Landesregierung informell in gleicher Weise beteiligt gewesen ist, noch vor der Paraphierung dieses Vertrages. Auch da ist nicht gesagt worden, daß die bayerische Landesregierung ein Veto gegen die Ratifizierung oder Paraphierung einlegen würde.
— Das ist egal in diesem Zusammenhang.Deshalb ist das Vorgehen der CSU — ich spreche Sie, Herr Bötsch, an — schlicht und ergreifend Roßtäuscherei.
Wenn das Ihre Art und Weise ist, Ihre außenpolitische Kompetenz in die Diskussion einbringen zu wollen, dann sage ich: Das ist ein typischer Fehlstart.Wenn Sie von Anfang an mit Ihren Leuten zu Ihrer ablehnenden Haltung stehen und sagen, Sie hätten Bedenken gegen diesen Vertrag, dann muß die Regierung sehen, ob sie die Vertragsverhandlungen fortsetzt, oder sie muß sehen, ob sie sich mit uns zusammen eine Mehrheit besorgt. Aber es geht nicht an, sich parlamentarisch und mit der Regierung im Vorfeld an der Vertragsgestaltung eigentlich sogar zu beteiligen, und zwar weit über das in der Verfassung vorgesehene Maß hinaus, und sich dann in der zweiten Runde, weil man Druck von der Wählerschaft her spürt, öffentlich zu distanzieren, um dann hier mit wesentlich leiseren Tönen wieder zu sagen, man stimme zu, wolle aber noch eine Entschließung. Diese Art von parteitaktischer Außenpolitik schadet dem deutschen Ansehen.
Nachdem sich bei der Frage des deutsch-polnischen Vertrages der Bundeskanzler damals leider in genau der gleichen Weise verhalten hat — nicht etwa bei der Zehn-Punkte-Erklärung gleich gesagt hat, wir wollten die Grenze festlegen, und erst recht nicht später, sondern gezögert hat —, muß ich sagen: In der Frage des Stils sind die Sorgen, daß bei den Regierungsparteien, besonders bei der CDU/CSU, die deutsche Innenpolitik die Außenpolitik dominiert, leider berechtigt.
Unsere Nachbarn schauen in bezug auf bestimmte Stilentwicklungen der deutschen Außenpolitik, die durch innenpolitische Faktoren definiert werden, zu Recht mit Sorgen auf uns. Ich hoffe, daß Sie diesen Tatbestand, der leider jetzt schon zum zweitenmal passiert, endlich ausräumen; denn sonst werden wir auf Dauer an Ansehen in der Außenpolitik verlieren.Danke.
Ich erteile dem Abgeordneten Ulrich Irmer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Luft ist raus, seit gestern. Herr Verheugen, ich stehe nicht an, Ihnen zuzugeben, daß auch ich an Ihrer Stelle als Opposition diese Aktuelle Stunde nach dem Stand von Anfang der Woche beantragt hätte.Wir haben als Fraktion — auch ich persönlich habe es getan — immer wieder angemahnt, daß der Vertrag nun endlich unterschrieben werden soll. Ich habe im Dezember eine entsprechende öffentliche Erklärung dazu herausgegeben. Wir haben intern darauf gedrungen. Unser Fraktionsvorsitzender Solms hat am letzten Mittwoch noch einmal ausdrücklich gesagt, daß es jetzt an der Zeit ist, den Vertrag zu unterschreiben.
Gestern ist beschlossen worden, daß dies im Februar geschehen soll. Wir begrüßen diese Erklärung.Herr Verheugen, damit auch da keine falschen Vorstellungen aufkommen: Es ist in der Koalition gesagt worden, man strebe an, eine Entschließung des
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Ulrich IrmerDeutschen Bundestages dazu vorzubereiten. Das ist ein ganz normaler Vorgang; das haben wir bei den Polen-Verträgen ebenfalls gemacht.Ich will Ihnen jetzt noch etwas sagen: Sie sind von uns hier herzlich eingeladen, daran mitzuwirken. Ich würde mich sehr freuen, wenn es eine überfraktionelle Entschließung zu diesem so wichtigen und zukunftsweisenden Vertrag geben könnte.
— Herzlich gern. Wir treffen uns dann und reden darüber.Ich sage noch etwas: Es wird in der Entschließung nichts stehen, was dem Buchstaben oder dem Geist dieses Vertrages nicht entsprechen würde, im Gegenteil: Die Entschließung soll dazu dienen, noch einmal ganz deutlich zu machen, für wie wichtig wir die Entwicklung der weiteren Beziehungen zu unserem Nachbarn halten
und wie sehr wir alle daran interessiert sind, die Schatten der Vergangenheit endlich zu bewältigen.Meine Damen und Herren, ich verstehe nicht, warum hier Dinge mit ins Spiel gebracht wurden, die ja nun mit berechtigten Anliegen eigentlich nichts zu tun haben. Es gibt noch ungeregelte Fragen. Aber warum mußte denn nun ausgerechnet die Frage, ob das Münchener Abkommen von Anfang null und nichtig war, in die Diskussion hineingebracht werden. Lassen wir das ruhen! Man hat dazu im Vertrag bewußt nichts gesagt.
— Sie wissen doch, an welche Adresse das gerichtet ist.Ich möchte noch etwas sagen: Man hat sich zu der Frage, ob das Münchener Abkommen von Anfang an null und nichtig war, deshalb nicht geäußert, weil man die Gefahr vermeiden wollte, daß aus der Feststellung einer Nichtigkeit von Anfang an negative rechtliche Konsequenzen für die Betroffenen entstanden wären; deswegen hat man es ausgespart.
Aber ich stehe überhaupt nicht an, hier zu sagen: Für mich ist unter moralischen, unter historischen, unter eigentlich allen Gesichtspunkten außer formaljuristischen das Münchener Abkommen selbstverständlich von Anfang an null und nichtig. Wenn jemandem ein Vertrag unter Zwang und unter Drohung abgepreßt wird, dann kann man doch nicht davon sprechen, daß das jemals irgendeine Wirksamkeit entfaltet hätte.
Das zu dieser Frage.Diese Aktuelle Stunde ist heute nicht der Anlaß, den Vertrag abschließend zu würdigen; wir werden im Ratifizierungsverfahren dazu Gelegenheit haben. Ich möchte, daß von dieser Aktuellen Stunde und auch von den Reden der Kollegen — ich bedanke mich ausdrücklich beim Kollegen Schmidt für die besonnene und sehr vernünftige Rede, die er gehalten hat — und insgesamt von diesem Deutschen Bundestag heute ein Signal in die Tschechoslowakei ausgeht: Liebe Nachbarn, ihr braucht die Deutschen wirklich nicht zu fürchten; wir sind hier alle miteinander guten Willens und wollen unsere Zukunft in Frieden und Freundschaft gestalten.Danke.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Dr. Volkmar Köhler.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Nicht erst seit den bösen Zeiten des Reichsprotektorats Böhmen und Mähren, nicht erst seit Lidice und nicht erst seit dem Unrecht der Vertreibung und Tötung vieler Deutscher ist das Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen und in mancher Hinsicht auch Slowaken ein äußerst sensibles, sondern, so fruchtbar es auch war, es ist über die Jahrhunderte sensibel und kompliziert gewesen.Wir haben hier heute über einen Aufbruch in eine neue gedeihliche Zukunft im Rahmen der europäischen Neuordnung zu sprechen, den wir von ganzem Herzen wollen und bei dem wir uns durch Staatspräsident Havel und die Äußerungen seiner Freunde auf das stärkste ermutigt fühlen. Dies sei außer jedem Zweifel!Nun beschäftigen wir uns mit einigen Fragen, die in der deutschen Innenpolitik aufgetaucht sind. Herr Voigt hat die Beratungen im Auswärtigen Ausschuß nachgezeichnet. Herr Voigt, mir wäre es angenehm gewesen, wenn Sie gesagt hätten, daß der Kollege Schmidt bereits in der Beratung am 25. September, ohne daß die ausformulierten Texte vorlagen, auf die Punkte hingewiesen hat, die hier heute diesen Streit entfacht haben.
Der scharfe Blick unseres Kollegen Verheugen hat kleinliches Gezänk und Gezerre entdeckt.
— Ich sehe das anders, verehrter Kollege. Ein Parlament ist keine Ratifikations- oder gar Applausmaschine.
Ein Parlament hat die Pflicht, das, was die Menschen im Lande bewegt, hier zu verbalisieren, damit sich die Menschen in dieser Politik wiederfinden
und damit wir auch einen möglichst hohen Grad an Identifikation erreichen.
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6070 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Januar 1992
Dr. Volkmar Köhler
Ich habe mich während Ihrer Rede gefragt, ob nach der Unterzeichnung des Prager Vertrages am 11. Dezember 1973 nicht mehr hätte getan werden müssen, urn eine Identifikation der am meisten betroffenen Menschen mit dem zu erreichen, was da gewollt wurde, und ob die Politik der Marginalisierung dieser Menschen und ihrer Vertreter über weitere neun Jahre unter Ihrer Verantwortung nicht etwas ist, was uns gerade heute wieder entgegenschlägt und womit wir fertigwerden müssen.
Deswegen ist es auch sehr ernst gemeint, wenn wir Ihnen vorschlagen, sich an der Ausarbeitung einer Entschließung zu beteiligen, denn wir streben den inneren Frieden zu diesem Thema an. Wir glauben, daß wir die Versöhnung mit dem Schicksal, das viele Leute noch heute schmerzt, nicht erreichen, indem wir diese Themen unter den Teppich kehren. Auch hier gilt — wie auch sonst, wenn es um Vergangenheitsbewältigung geht —, daß die Wahrheit uns frei macht;
die Wahrheit, die hier auszusprechen ist und die wir unseren tschechischen und slowakischen Kollegen im Föderationsparlament in Prag nicht nur gestatten, sondern die bei dem, was aus ihrer Sicht heraus zu sagen ist, auch erbitten. Ich glaube, das ist das, was freie Parlamente tun können.Wenn Sie jetzt sagen, wir hätten Kommunisten ermutigt, ihre Feindschaft gegen diesen Vertrag zu forcieren: Ich kenne diese Leute. Ich fand nicht, daß es Leute waren, die der Ermutigung bedurften. Sie sind nicht erst durch uns auf die Idee gekommen, sich dieser Entwicklung entgegenzustellen.Wir werden das Unsere tun, um bei unseren Kollegen in Prag zu werben, uns zu erklären und die Redlichkeit unserer Absichten zu verdeutlichen. Wir wissen, wieviel offenbleiben muß, weil wir die Vergangenheit nicht lückenlos aufarbeiten können. Wir bitten, dafür Sorge zu tragen, daß gute Absichten nicht auch noch administrativ unterlaufen werden. Wir bitten unsere Kollegen in Prag, das Ihrige zu tun — wie auch wir es tun wollen —, damit dieser Vertrag bald volle Gesetzeskraft hat und eine neue Phase im Zusammenleben unserer Völker begründen kann.
Das Wort hat der Abgeordnete Hans Koschnick.
Herr Präsident! Ich bin ganz froh, daß der Kollege Köhler soeben gesprochen hat, weil er einen Übergang dargestellt hat, in dem wir uns vielleicht gemeinsam wiederfinden können.Ich denke, wenn es um das Verhältnis zu unseren Nachbarn geht, wenn es um eine neue gedeihliche Zukunft geht, aber wenn es auch um das Verhältnis zu den Menschen geht, die unter deutscher und in der Antwort unter tschechischer Politik gelitten haben, dann ist es gut, daß die Fraktionen gemeinsam versuchen, zu Lösungen zu kommen, soweit es möglich ist. Über das Mögliche können wir erst dann reden, wenn wir zusammengesessen haben. Wir sind bereit, mit Ihnen zusammen einen solchen Weg zu gehen, Herr Grünbeck.Ich sage Ihnen auch: Es geht hier nicht darum, die einen an den Pranger zu stellen und mieszumachen und die anderen hochzuloben. Gerade wer, wie wir, mit der Seeliger-Gemeinde — andere mit der Ackermann-Gemeinde — sehr früh versucht hat, neben der großen Vertriebenenorganisation einen speziellen Beitrag zur Aussöhnung mit dem tschechischen Volk zu leisten und mit der Problematik der Opferposition in Europa fertigzuwerden, wird diesen Weg gehen wollen.Aber wir müssen wissen, womit alles begann. Mit Herrn Köhler bin ich der Meinung: natürlich mit der Geschichte. Ich will ja nicht Karl IV. beschwören, aber es gibt in der Geschichte natürlich eine Auseinandersetzung zwischen Tschechen und Deutschen, zwischen Tschechen und Slowaken, später zwischen Tschechen und Österreichern und anderen, die wir alle kennen.Aber es gibt auch andere Fragen in einer fruchtbaren Kooperation. Wir haben auch nicht vergessen, was nach 1933 etwa Prag für viele Deutsche war, als wir fliehen konnten, aufgenommen worden sind, dort sein durften, als andere Deutsche nicht aufgenommen haben.
Geschichte ist vielfältig. Wir wissen, wie viele Sudetendeutsche, aber auch Slowaken und andere 1918/19 Probleme hatten, als dieser Staat gegründet worden war. Wir wissen, daß Masaryk versucht hat, eine multinationale und -kulturelle Gesellschaft und einen demokratischen Staat aus der Erbschaft von Österreich-Ungarn zu entwickeln. Wir wissen, was unter Benes schiefgegangen ist.
Wenn ich „Benes" sage, weiß ich, daß die tschechische Seite da genauso ein Problem zu tragen hat, wie wir bei den Sudetendeutschen ein Problem zu tragen haben. Dazwischen gab es viele Brücken oder Verbindungen gemeinsamer Zusammenarbeit, die getragen haben, über 1938 hinaus.Wir wissen auch — das darf hier auch einmal gesagt werden —, daß die Forderung nach Vertreibung, Umsiedlung, Aussiedlung der Deutschen nicht in Moskau erfunden worden ist, sondern von Benes.
— Dies wissen wir. Aber wir können nicht eine Nation in Anspruch nehmen, wenn einer im Lande eine solche Position vertreten hat.Von daher hoffe ich, daß wir gemeinsam begreifen, daß die Konsequenzen der Geschichte in Europa und unserer Geschichte insonderheit viele, unterschiedliche Opfer gebracht haben, bei uns und bei anderen die Opfer, die der NS-Gewalt widerstanden haben oder zu widerstehen versucht haben, dann die Opfer, die im Kriege geblieben sind, weiß Gott, nicht freiwillig, auch die Opfer der Vertreibung. Gelitten haben
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Hans Koschnicksehr viele, häufig mehr Unschuldige als Schuldige. Dies müssen wir wissen. Wir müssen den Schmerz mit sehen, dürfen ihn nicht unbeachtlich finden; denn der Frieden ist nur zu gestalten, wenn, wie vorhin gesagt worden ist, gegenseitige Verzeihung und gegenseitige Schmerzanerkennung da sind.Auch eines müssen wir begreifen, wenn wir Europa neu ordnen wollen: in einer vernünftigen Form aufeinander zuzugehen, Wege zu einem gemeinsamen, größeren Europa zu finden. Die Diskussion über Reparationen aufkommen zu lassen, wäre kein Problem — ich habe das schon anläßlich der Debatte über den Vertrag mit Polen gesagt — nur zwischen Polen und Deutschen, nur zwischen Tschechen und Deutschen, sondern dann käme die gesamte Wucht all der Diskussionen aller Völker in Europa auf uns zu, und wir würden vor unlösbaren Problemen stehen.
Das ist das Problem, das seit 1972/73 die Bundesregierung beschäftigte, übrigens auch die Opposition. Im Stillen ist vieles gesagt worden; anderes ist damals bestritten worden, lieber Herr Köhler.Bleiben wir bei dem Vertrag von 1973: Sie wissen, wer damals Außenminister war, nicht nur, wer Kanzler war. Sie wissen, wer die Verhandlungen in Prag geführt hat — Frank. Er hat viele kluge Formulierungen gefunden, die uns hinterher in vielen Verträgen geholfen haben, die alten Sphären aufzubrechen, ohne damit Prinzipien der einen oder der anderen Seite aufzugeben.Heute hat der Außenminister verhandelt. Ich stelle eine Kontinuität bei der FDP in dieser Frage fest. Ich stelle Widersprüche zwischen damals und heute nur bei der CDU fest, ich sage nicht: bei der CSU, bei einzelnen vielleicht. In dieser Frage bin ich nun wirklich nicht aus irgendeiner Parteiposition der Meinung, daß das, was wir mühselig 1972/73 begonnen haben, jetzt fortgesetzt und weitergeführt werden muß.Wir wissen, wir erreichen keine endgültigen Lösungen. Wir werden sie nie kriegen bei einem gerechten Ausgleich für die Opfer, übrigens nicht nur die, die dort vertrieben worden sind. Ich weiß, daß die jahrelangen Opfer meiner Eltern, die bei Hitler gesessen haben — hinterher ist mein Vater als Soldat gefallen —, wie bei vielen anderen natürlich auch nicht ausgeglichen werden können. Ich will auch nicht darüber reden, sondern denke an die Zukunft und hoffe, daß sie für uns gemeinsam möglich wird — wenn sie ohne Diskriminierung möglich wird. Die Diskriminierungen in Europa werden wir im Zusammenwachsen Europas lösen. Schritt für Schritt, je mehr man gemeinsam arbeiten kann, werden sich all die alten Dinge der Vergangenheit zu einem besseren Miteinander auflösen.
Deswegen haben wir gesagt: Laßt uns miteinander sprechen! Laßt uns den Vertrag abschließen! Sorgt für eine gemeinsame Position, und baut jetzt nichts auf,was drüben so hart gegen uns wirken kann, daß dieses Europa nicht werden kann!
Und sorgt dafür, daß wir hier nicht etwas schaffen, wodurch rechts oder woanders Dinge aufkommen, die Europa bei uns gefährden! Laßt uns diesen Weg gehen! Deswegen war die Debatte notwendig.
Ich erteile dem Abgeordneten Karl Lamers das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn es der Anlaß nicht wert war, so hat diese Debatte doch ihren Wert. Das beziehe ich nicht zuletzt auf Ihre Rede, Herr Kollege Koschnick; denn ich glaube, es ist schon wahr, daß wir die Versöhnung zwischen dem deutschen, dem tschechischen und dem slowakischen Volk als eine gemeinsame Angelegenheit aller Fraktionen dieses Hauses betrachten müssen.
Ich meine, dann müßten wir aber auch nachdrücklich alle Teile und auch alle Teile der Fraktionen einbeziehen, auch die CSU; sie sogar in besonderer Weise, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, denn ich meine — damit komme ich auf den Anlaß dieser Debatte —, es ist gut, es ist in unser aller Interesse, wenn es in diesem Hause eine Partei gibt, die sich der Anliegen der Vertriebenen, der Sudetendeutschen in diesem Fall zumal, in besonderer Weise annimmt. Das muß in unser aller Interesse liegen.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Kollege Lamers.
Ich habe gesagt: in besonderer Weise. Daß das im Falle der CSU naheliegt, hat auch mit ihrer räumlichen Lage zu tun.
Ich finde, wie immer man, Herr Kollege Grünbeck, zur Frage der Versteigerungen jetzt stehen mag, daß es nicht gerade ein Beitrag zur Versöhnung, die wir alle wollen, ist, das in diesem Augenblick zu forcieren. Das ist nun wirklich kein begrüßenswerter Vorgang. Ich finde, es ist angebracht, daß das auch gesagt wird.
Zur Sache selber: Ich finde, es ist gut, daß in dieser Debatte alle Fraktionen des Hauses — zunächst diejenige Fraktion, die diese Debatte beantragt hat, durch den Kollegen Verheugen — diesen Vertrag gewürdigt und gesagt haben: Es ist ein sehr guter Vertrag. Es ist auch richtig, was der Kollege Voigt
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6072 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Januar 1992
Karl Lamersgesagt hat, nämlich daß die Fraktionen des Bundestages daran beteiligt waren.Ich bin dankbar, daß der Kollege Köhler darauf hingewiesen hat, daß auch in der damaligen Debatte gesagt wurde, gerade von dem Kollegen Schmidt, was auch unvollkommen ist. Das ändert nichts daran, daß die CDU/CSU-Fraktion diesen Vertrag als einen ausgezeichneten Vertrag empfindet.
Wir alle stimmen Ihnen zu, Herr Kollege Meckel, daß man Unrecht nicht aufrechnen kann. Was wir aber tun müssen, ist, das Unrecht auf beiden Seiten klar im Bewußtsein zu haben. Ich finde, es ist auch richtig und es ist unsere Pflicht, es ist die Pflicht der gerade hier in diesem Parlament, im deutschen Parlament, vertretenen Parteien, auch das Unrecht an den Deutschen zu artikulieren, auch das Unrecht an den Sudetendeutschen.Nochmals: Ich finde, es ist gut, daß es eine Partei in besonderer Weise tut. Das ist in unser aller Interesse. Nichts anderes hat die CSU getan. Sie hat vor allen Dingen immer wieder auf eines hingewiesen: Das Versöhnungswerk kann nur gelingen, wenn gerade die Sudetendeutschen an der Kooperation, an der Zusammenarbeit beteiligt sind. Der Beitrag der Sudetendeutschen, der Vertriebenen ist weit über ihre möglichen materiellen Anteile hinaus aus symbolischen Gründen wichtig. Das sollten wir gemeinsam unseren tschechischen Partnern sagen. Nur dann, wenn wir auch sie beteiligen, kann das Werk der Versöhnung gelingen.Das ist heute als der Wunsch aller Fraktionen deutlich geworden. Insofern hatte diese Debatte ihren Wert, auch wenn der Anlaß sie nicht wert war.
Ich erteile das Wort dem bayerischen Staatsminister für Bundes- und Europaangelegenheiten, Dr. Thomas Goppel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es bleibt Ihnen, verehrte Frau Kollegin, überlassen, die Schlußfolgerung vom Pflichtverteidiger, die von Herrn Dr. Vogel stammt, in den Vordergrund Ihrer eigenen Überlegungen zu stellen. Sie wissen, wann Pflichtverteidiger bestellt werden, nämlich in einer Situation, in der der Angeklagte nicht in der Lage ist, selbst den richtigen Verteidiger auszuwählen.
— Nein, der Zwischenruf stammte von Ihnen, falls ich darauf verweisen darf.
— Aber er ist vor mir hier direkt eingebracht worden.
— Die Entschuldigung, die ich da höre, nehme ich zur Kenntnis. Besonders überzeugend ist sie nicht.Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich melde mich heute nicht zu Wort, weil das eigentlich ein Thema wäre, Herr Staatsminister Schäfer, mit dem sich die Länder besonders in den Bundestag hineinwagen sollten. Vielmehr ist das eine Sache, die wir in der Regel in der ständigen Vertragskommission gemeinsam aushandeln, also an anderer Stelle. Aber der deutsch-CSFR-Vertrag ist ein Thema, das heute den Deutschen Bundestag auf Antrag der SPD-Fraktion beschäftigt und das deutlich machen kann, daß wir alle, in welchem Land in dieser Bundesrepublik wir auch leben, neben der Verantwortung, die wir in Deutschland gemeinsam tragen, auch nachbarschaftliche Bindungen haben, nachbarschaftliche Nähen, aus denen heraus man bestimmte Entwicklungen — das glaube ich jedenfalls — besser beurteilen kann als aus der Ferne.Ich halte es für richtig und notwendig, daß wir uns aus bayerischer Sicht, die wir unsere Nähe ja seit über 40 Jahren durch die Vertreibung und Flucht der Sudetendeutschen haben, die vornehmlich in Bayern geblieben sind, dieses Themas annehmen. Wir haben mehr als alle anderen das Recht und die Aufgabe, deren Interessen auch in die gesamtdeutsche Diskussion mit einzubringen. Ich glaube nicht, daß das die Aufgabe einer Partei ist, sondern wenn, dann die Aufgabe des Bereiches, in dem die Sudetendeutschen leben, uns gewählt haben, und zwar jenseits von Parteizugehörigkeit, Herr Verheugen. Es wäre sehr angenehm, wenn die bayerische SPD, die bayerische FDP und die Vertreter der weiteren bayerischen politischen Parteien neben denen der CSU — —
— Sie müssen mich nur zu Ende reden lassen. Der Unterschied zwischen Ihnen und uns ist doch, daß wir den Denkvorgang erst nachträglich kommentieren
und nicht mitsprechen. Deswegen wäre es vernünftig, Sie gäben mir dazu immer Gelegenheit.
— Nein, Sie sollten das tun. Das kann ich Ihnen jetzt nur empfehlen. Sie haben es ja selbst angeregt.Mir wäre es lieb, wir würden die Debatte heute unabhängig von Parteien nicht unter dem Gesichtspunkt führen: Was haben wir denn an dieser politischen Auseinandersetzung noch gemeinschaftlich zu feilen, und: Darf einer noch etwas äußern oder nicht? Vielmehr sollten wir fragen, welche Rechte neu aufgearbeitet werden müssen.Niemand bestreitet, daß dieser Vertrag, der nach langen Verhandlungen zustande gekommen ist, ein Ergebnis darstellt, über das man mit allen Beteiligten gut wird reden können und auf dessen Grundlage man weitere Entwicklungen wird in Angriff nehmen können; niemand, auch die Sudetendeutschen nicht! Sie — die Sudetendeutschen — haben ausdrücklich gesagt, sie seien dankbar, daß Václav Havel die Vertreibung angesprochen habe, daß sie in dem Vertrag erwähnt worden sei, daß auch der Minderheitenschutz angesprochen sei.
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Staatsminister Dr. Thomas Goppel
In dem Vertrag steht aber auch: Es ist kein Schlußstrich unter die Geschichte gezogen. Und in diesem Vertrag ist ausdrücklich die Frage der vermögensrechtlichen Regelung ausgelassen, und zwar einvernehmlich von beiden Seiten. Man hat gesagt: Dieses Thema hat hier nichts verloren.In der Situation nun, in der Sie und die Tschechen — ich sage jetzt: der Bund und die Tschechen — in den abschließenden Verhandlungen stehen, beginnen die offiziellen Seiten der Tschechoslowakei damit, Besitz zu versteigern, der zu den Anteilen gehört, die vormals auch Sudetendeutsche wie andere besessen haben. Es wird Besitz aus der in Frage stehenden Zeit versteigert — und das tut weh —, weil vorher erklärt worden ist, daß das zurückgestellt werde.Das allein ist der ausschlaggebende Punkt dafür, daß sich Bayern und die CSU zu Wort melden;
denn die Tschechen halten sich nicht an die Erklärung, daß sie einen Bestandteil der Verhandlungen im Vertrag zurückstellen, wenn auch zugegebenermaßen mit einer Finesse, über die man wird reden können, wenn man nur — sagen wir einmal — innen- und außenpolitisch argumentiert. Die Tschechen erklären nämlich: Wir versteigern ja nicht an irgendwen, sondern nur innerhalb der „Familie". Das ist so ähnlich, wie wenn ein Vater sagt: „Ich gebe kein Geld mehr aus, niemand wird mehr etwas kriegen — nur meinem Sohn gebe ich noch 5 DM. " Wenn man aber vorher gesagt hat, es werde überhaupt kein Geldfluß mehr stattfinden, dann ist die Ausnahme eben nicht im Sinn und Geist des Abkommens, das man getroffen hat. Das wird hier angemahnt. Die Sudetendeutschen bestehen darauf, daß noch einmal darüber geredet wird, wieso man an dieser allerletzten Stelle, bevor man über vermögensrechtliche Fragen im nächsten oder übernächsten Jahr sprechen wird, denn jetzt unbedingt noch einmal tschechenseits die Bedingungen ändern muß.Von seiten der Tschechen wird reklamiert, daß man hier Empfindlichkeiten habe. Meine Damen und Herren, das ist es, was mich an dieser Aktuellen Stunde gestört hat: daß die Empfindlichkeiten der Tschechen im deutschen Parlament eine größere Rolle zu spielen scheinen als die Empfindlichkeiten unserer Landsleute.
— Nein. — Es kann keine Ermahnung an die eigenen Landsleute geben, ihre Interessen zurückzustellen, weil andere wichtiger sind. Völkerrecht bleibt Völkerrecht, ob es ein Sudetendeutscher, ein Tscheche, ein Slowake oder wer auch immer ist.Herr Verheugen, Ihr Zwischenruf ist typisch für Ihre politische Entwicklung und Ihre politische Linie.
— Ich bin nach wie vor — —(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU] zu Abg.Günter Verheugen [SPD] gewandt: WissenSie, was Sie sind? Ein unverschämter Kerl!Merken Sie sich das! So können Sie vielleichtmit eigenen Parteifreunden umspringen,aber nicht mit einem bayerischen Staatsminister! — Weitere Zurufe von der CDU/CSUund Gegenrufe von der SPD)
Meine Damen und Herren! Wir haben diese — —
— Also, verehrter Herr Kollege Vogel!
— Darf ich doch um Ruhe bitten! Das Wort hat der Herr bayerische Staatsminister Dr. Goppel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Bötsch, ein Zwischenruf wie der von Herrn Verheugen richtet sich ja schließlich selber. Wenn er in dem Augenblick, wo wir darüber reden, daß es das Recht der Menschen auf eine Heimat gibt
und daß wir aus dieser Heimat heraus die Gewißheit für Europa gewinnen sollen, einem Mitglied des Bundesrates in diesem Hohen Haus andeutet, das Beste sei seine „Vertreibung" zurück in die Heimat nach München, hat er sein Verständnis von Politik im Sinne solcher Regelungen, auch des Minderheitenschutzes, wenn Sie es denn so wollen, ausdrücklich erklärt, noch dazu selbst als Mitglied dieser Minderheit.
Dies ist eine ganz interessante Debatte, weil sie von unserer Einstellung insgesamt zu den Minderheiten der Vertriebenen viel offenbart.Kriegsfolgelasten gibt es nicht nur bei unseren Partnern und unseren Nachbarstaaten, sondern auch in dieser Bundesrepublik Deutschland. Eine Politik, die die Sorgen unserer eigenen Bürger nicht genauso ernst nimmt wie die der Nachbarstaaten, hat eigentlich schon das Recht verwirkt, von sich zu sagen, sie mache und schließe ordentliche Verträge.
In dem Sinne bin ich auch ein wenig darüber traurig, daß wir sagen: An diesem Vertrag ist alles in Ordnung und gar nichts mehr zu verbessern. Dies ist nämlich nicht der Fall, solange der Partner in dem Wissen, daß es nach Europa geht und daß morgen europäisches Recht gilt, nach dem Sudetendeutsche genau diesel-
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6074 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Januar 1992
Staatsminister Dr. Thomas Coppel
ben Landsleute wir wir alle sind, auf dem Weg dorthin gegenüber einem geschlossenen und nur noch nicht ratifizierten Vertrag versucht, schnell mit einer Sonderregelung vollendete Tatsachen zu schaffen. Ich sage das in Kenntnis dessen, was ich von Václav Havel gehört habe.
— Die Sätze, Herr Grünbeck, die der tschechische Präsident gesagt hat, haben uns allen eröffnet: Wir können uns darauf verlassen, daß nichts getan wird, wodurch eine von beiden Seiten im Vorgriff besonders beeinträchtigt wird.Jetzt reklamieren unsere eigenen Landsleute: Sie werden beeinträchtigt. Und wir als bayerische Staatsregierung, als Schirmherrin der Sudetendeutschen, legen größten Wert darauf, daß die Stimme der Sudetendeutschen zu einem solchen Thema gehört wird,
daß die Stimme der Sudetendeutschen, die an Besonnenheit in den letzten 40 Jahren nicht zu übertreffen gewesen ist, eine ganz deutliche Akzentuierung erfahren darf, und zwar jenseits dessen, daß der Vertrag so zu unterschreiben ist, wie er hier liegt.
— Herr Grünbeck, wenn Sie zuhören würden, könnten Sie sich die Zwischenrufe sparen.
Bitte hören Sie doch noch ein bißchen zu! Die Redezeit des Herrn Staatsministers ist beinah abgelaufen!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bitte, sehr deutlich zu sehen:
Es ist niemand da, der diesen Vertrag nicht unterzeichnen will.
Es gibt Sudetendeutsche, die, und zwar zu Recht, in uns als dem Schirmherrn und Paten aus der bayerischen Sicht, einen Fürsprecher finden, gemeinschaftlich dafür zu sorgen, daß in der Tschechoslowakei an Stellen, die das Völkerrecht, das Selbstbestimmungsrecht, das Menschenrecht betreffen, keine vollendeten Tatsachen in einer Situation geschaffen werden, in der die Frage der Vermögensrechte laut einvernehmlicher Regelung beider Partner nicht aufgegriffen werden soll.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 23. Januar 1992, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.