Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die Ihnen in der Zusatzpunktliste vorliegenden Punkte zu erweitern:8 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN: Zur Lage in Jugoslawien — Drucksache 12/1591 —9. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Hilfe zur Selbsthilfe für die Sowjetunion und ihre Republiken — Drucksache 12/1580 —Des weiteren sollen die Vorlagen unter Tagesordnungspunkt 15 unmittelbar nach der Aussprache zur Lage in Jugoslawien aufgerufen werden.Der Ältestenrat hat sich darauf verständigt, daß in der Sitzungswoche vom 25. November 1991, in der die Haushaltsberatungen vorgesehen sind, keine Fragestunden, keine Aktuellen Stunden und keine Befragung der Bundesregierung stattfinden sollen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 13 auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Verminderung der Personalstärke der Streitkräfte
— Drucksache 12/1269 —aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses
— Drucksache 12/1564 —Berichterstattung:Abgeordnete Brigitte Schulte Johannes Ganz
bb) Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 12/1565 —Berichterstattung:Abgeordnete Hans-Werner Müller
Carl-Ludwig ThieleHorst Jungmann
— Drucksache 12/1281 —aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 12/1558 —Berichterstattung:Abgeordnete Meinrad BelleDr. Cornelie Sonntag-Wolgast Heinz-Dieter Hackelbb) Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 12/1559 —Berichterstattung:Abgeordnete Karl DeresIna AlbowitzRudolf Purps
Zum Personalstärkegesetz liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion der SPD und Entschließungsanträge der Fraktionen der CDU/CSU und FDP sowie der Fraktion der SPD vor.Zum Bundeswehrbeamtenanpassungsgesetz liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP vor.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt der Kollege Johannes Ganz.Johannes Ganz (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Obwohl ich in der ersten Lesung zum Personalstärkegesetz und zum Bundeswehrbeamtenanpassungsgesetz am 11. Oktober von dieser Stelle aus versucht habe, deren Notwendigkeit und Inhalt zu erläutern,
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Johannes Ganz
halten sich Begriffe wie „Goldener Handschlag", „Supersozialplan" , „Bundeswehrprivilegien" hartnäckig in der öffentlichen Diskussion.
Ich will deshalb noch einmal grundsätzlich festhalten:Erstens. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich in Verträgen völkerrechtlich verpflichtet, den Umfang ihrer Streitkräfte bis zum 31. Dezember 1994 auf 370 000 Soldaten zu reduzieren. Eine adäquate Verringerung des zivilen Teils ist folgerichtig. Diese Reduzierung haben wir alle gewollt. Sie ist ein bedeutender Aktivposten in der Bilanz der Friedenspolitik dieser Bundesregierung und insbesondere des persönlichen Einsatzes von Bundeskanzler Helmut Kohl.
— Frau Schulte, wenn das in Ihrer Regierungszeit gelungen wäre,
so stünden hier auf dem Pult des Bundeskanzlers an jedem Sitzungstag Rosen. Das kann ich Ihnen versichern.
Zweitens. Meine Damen und Herren, da dieses Ziel bis zu diesem verbindlichen Datum auf dem Wege der normalen Personalbewegung, d. h. zeitgerechte Zurruhesetzungen, weniger Neueinstellungen, weniger Grundwehrdienstleistende, nicht zu erreichen ist, sind zusätzliche, darüber hinausgehende Maßnahmen unumgänglich.Dabei darf es keine Mogelpackung geben. Vorschläge, Soldaten ohne Statusänderung — der gegen ihren Willen überhaupt nicht möglich ist — einer anderen — also zivilen — Verwendung zuzuführen, zielen ins Leere. Denn solange sie auf der Gehaltsliste des BMVg stehen, gelten sie als Soldaten, auch wenn sie keine Uniform mehr tragen.
Drittens. Es gibt nicht den vielzitierten „goldenen Handschlag". Wer dies dennoch behauptet, diffamiert die Bundeswehrangehörigen, die alle, auch in schweren Zeiten der Bedrohung, treu ihren Dienst geleistet haben.
Viertens. Es gibt keine Dienstherrnwillkür, will sagen: Niemand hat die Absicht, die Bundeswehrangehörigen wie Leibeigene zu behandeln oder wie Freiwild durch die Republik zu jagen. In den Gesetzen giltdas Prinzip der Freiwilligkeit. Das heißt: Niemand, weder Soldat noch ziviler Mitarbeiter, wird gegen seinen Willen vorzeitig in den Ruhestand geschickt oder als Zeitsoldat vorzeitig entlassen.
— Das ist eine andere Sache. Das haben wir bisher immer so gemacht; das ist bisher immer so gemacht worden.
Wer redet denn jetzt hier?
Johannes Ganz (CDU/CSU): Fünftens. Umgekehrt gibt es nach den Bestimmungen der Gesetze aber auch keinen Rechtsanspruch darauf, von deren Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Keiner kann mit einer Genehmigung seines Antrags auf vorzeitige Zurruhesetzung, auf Umwandlung seines Dienstverhältnisses oder auf vorzeitige Entlassung rechnen, wenn er als Soldat weiterhin eine Verwendung hat oder wenn er als Beamter in der eigenen oder in einer anderen Verwaltung eine Weiterverwendung findet.Ich hoffe sehr, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß diese fünf Punkte, wenn man denn willens ist, sie zur Kenntnis zu nehmen, dazu beitragen, die Diskussion zu diesem Thema endlich zu versachlichen.Daß die Fürsorgepflicht des Dienstherrn es aber auch gebietet, bei diesem notwendigen, aber auch schwierigen Vorhaben auf persönliche Schicksale Rücksicht zu nehmen, versteht sich für uns von selbst.Da gibt es beispielsweise einen Beamten der Bundeswehr: 56 Jahre alt, 35 Jahre treu gedient, hat immer lange auf die nächste Beförderung warten müssen. Sein Standort wird aufgelöst. Der nächste liegt 100 km weit entfernt. Seine Zivilgemeinde und sein Landkreis haben keine Verwendung für ihn. Er hat am Standort ein Haus gebaut und vielleicht noch einen kranken Familienangehörigen zu pflegen. — Wer will diesem Mann die Möglichkeit verwehren, unter diesen Umständen einen Antrag auf vorzeitige Zurruhesetzung zu stellen, und wer könnte diesen ablehnen?Wer wollte einen Soldaten, der fünf Jahre vor seiner normalen Pensionierung steht, dessen Einheit und Standort aufgelöst werden, in dessen Verwendungsbereich noch zig andere seiner Kameraden nicht mehr angemessen eingesetzt werden können, verpflichten, sich noch einmal für zwei Jahre auf die Schulbank zu setzen, sich zum Verwaltungsfachwirt ausbilden zu lassen, um dann zu erfahren, daß es für ihn überhaupt keine freie Planstelle im öffentlichen Dienst gibt?Diese Beispiele, die beileibe nicht an den Haaren herbeigezogen sind, zeigen, daß es Patentrezepte
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nicht gibt, weder nach dem Motto „Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen" noch nach dem Motto „Es ist deine eigene Schuld, dich in den Dienst der Bundeswehr gestellt zu haben, und jetzt, da wir dich nicht mehr brauchen, schieben wir dich zu einem anderen Dienstherrn" — und das alles noch ohne Härteausgleich, ohne soziale Flankierung, bar jeder Fürsorge; das wäre nicht nur unsozial, das wäre unmenschlich.
Damit ist klar, was wir mit den Gesetzen bewerkstelligen wollen und müssen:Erstens. Wir wollen und müssen die Streitkräfte in den nächsten drei Jahren auf 370 000 Mann und den zivilen Bereich mittelfristig so reduzieren, daß die Bundeswehr nach diesem Schrumpfungsprozeß weiterhin in einer alters- und dienstgradgerechten Personalstruktur ihre Aufgaben erfüllen kann.Zweitens. Wir wollen dazu im Rahmen des gegebenen Handlungsspielraums eine breite Palette von Möglichkeiten und Maßnahmen anbieten, die praktikabel, sozial verträglich und menschlich zumutbar sind.Ich danke den Kolleginnen und Kollegen im Verteidigungsausschuß und in den mitberatenden Ausschüssen
herzlich für die zügige und gründliche Beratung.
Zusammen haben wir Änderungen dort vorgenommen, wo sie uns notwendig erschienen. Dort, wo das Prinzip „Weiterverwendung geht vor Beendigung des Dienstverhältnisses" in den Gesetzentwürfen war, haben die Texte eine stringentere Fassung erfahren.
So steht in beiden Gesetzen bei der Prüfung von Anträgen auf vorzeitige Zurruhesetzung nicht mehr das Interesse des Dienstherrn im Vordergrund, sondern beim Soldaten die Möglichkeit und beim Beamten die Zumutbarkeit einer Weiterverwendung im eigenen oder in einem anderen Bereich des öffentlichen Dienstes.
Die in dem Entwurf zum Personalstärkegesetz vorgesehenen Fristen, innerhalb derer ein Berufssoldat die Umwandlung seines Dienstverhältnisses in das eines Zeitsoldaten bzw. der Zeitsoldat die Verkürzung seiner vertraglichen Dienstzeit beantragen kann, haben wir aufgehoben, um dem Dienstherrn über den 1. Januar 1995 hinaus eine größere Flexibilität bei der Gestaltung der Personalstruktur zu ermöglichen. Andere Änderungen sind redaktioneller Art oder dienen der Klarstellung.Die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP verbinden die Zustimmung zu den Gesetzen in den geänderten Fassungen mit dem in den vorgelegten Entschließungsanträgen formulierten Auftrag an die Bundesregierung, darüber hinaus zu prüfen, inwieweit durch Änderungen im Status- und Laufbahnrecht der Beamten und Soldaten Hindernisse abgebaut oder beseitigt bzw. Anreize geschaffen werden können, die den Wechsel dieses Personenkreises in andere Verwaltungsbereiche erleichtern. Unser Ziel dabei ist, in Zukunft flexibler auf die Erfordernisse der künftigen Bundeswehr reagieren zu können. Wir können nicht immer mit einzelgesetzlichen Maßnahmen die Funktionsfähigkeit der Streitkräfte gewährleisten.An dieser Stelle aber auch ein Appell an alle anderen Verwaltungen des Bundes, der Länder und der Kommunen: Es genügt nicht, von uns, vom Gesetzgeber die Indiensthaltung der Beamten und Soldaten der Bundeswehr zu fordern, aber selber nur dann bereit zu sein, diese aufzunehmen, wenn der Bundesminister der Verteidigung sie weiter besoldet. Hier sind wir alle in der Pflicht.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, die Entwürfe in den Ausschußfassungen heute als Gesetz anzunehmen und um Zustimmung bei den dazu jeweils vorgelegten Entschließungsanträgen. Wir brauchen die Gesetze, um schon Anfang nächsten Jahres die Maßnahmen in die Wege leiten zu können, die notwendig sind, um das Ziel, zu dem wir uns vertraglich und völkerrechtlich verbindlich verpflichtet haben, bis Ende 1994 zu erreichen.
— Dies gilt unabhängig, verehrte Frau Kollegin Schulte, von der noch im einzelnen auszufeilenden zukünftigen Personalstruktur.
Ich gebe zu, der einzelne Soldat bzw. zivile Mitarbeiter der Bundeswehr könnte für sich leichter planen und sich auf die in diesen Gesetzen geschaffenen Möglichkeiten einstellen, wenn er wüßte, an welchem Standort, in welcher Funktion und unter welchen Bedingungen er in Zukunft seinen Dienst verrichten soll. Dazu bedarf es dringend der soeben angesprochenen Personalstruktur.
Daß diese noch nicht vorliegt, ist nicht das Versäumnis des Bundesministers der Verteidigung, das wissen Sie.
Die Beschreibung der Aufgabe der Bundeswehr in der Allianz oder gar im Rahmen von Verbänden innerhalb der WEU, die Abstimmung zwischen den beteiligten Ministerien und die Zustimmung des Haushaltsausschusses sind dazu notwendige Voraussetzungen. Es liegt nicht allein am Bundesminister der Verteidigung, das wissen Sie ganz genau. Aber Sie haben sich nun mal den Bundesverteidigungsminister als Sün-
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denbock herausgeguckt. Dafür habe ich Verständnis.
Aber Sie kennen die Zusammenhänge.
— Deswegen, verehrter Herr Kollege Heistermann, fordern wir die Bundesregierung auf, die Ziele und die Personalstruktur der Bundeswehr so schnell wie möglich festzulegen und dem Parlament vorzustellen.
Jeder Soldat und jeder zivile Bedienstete der Bundeswehr sowie deren Familien — das meine ich sehr ernst — haben ein Recht darauf, ihre Lebensplanung auf einer soliden und verläßlichen Grundlage vornehmen zu können.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich stelle fest: Es geht um 9.15 Uhr schon recht munter zu.
Als nächster Redner hat der Kollege Heinz-Alfred Steiner das Wort.
Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 10. Oktober habe ich anläßlich der ersten Beratungsrunde über das Personalstärkegesetz und über das Beamtenanpassungsgesetz sinngemäß folgendes ausgeführt: Die von mir festgestellte Ausgangslage erlaubt es nicht, Zustimmung zu der beabsichtigten Sonderregelung für Beamte der Bundeswehrverwaltung zu signalisieren, im Gegensatz zum Personalstärkegesetz, wo ich der Meinung bin, daß für die Soldaten besondere Regelungen getroffen werden müssen, wenn die festliegende Umfangzahl von 370 000 bis Ende 1994 ausgewogen erreicht werden soll. Ich habe hinzugefügt: Wir werden gespannt abwarten, auf welche Zahlen sich der Bundesminister der Verteidigung und der Finanzminister letztendlich einigen können, und dann auf dieser Basis eine sorgfältige Prüfung vornehmen. Darauf kam der Zwischenruf des Kollegen Ganz von der Fraktion der CDU/CSU: „Wir machen das Gesetz! " Zu diesem Zwischenruf kann ich heute sagen, Herr Kollege Ganz: Sie haben nicht recht behalten!
Jetzt kommt auch die Antwort: Sie haben unser ernsthaftes Angebot, an einer sinnvollen und zukunftsorientierten Ausgestaltung beider Gesetzentwürfe mitzuwirken, nicht angenommen.
— Nun hören Sie erst einmal zu; ich verstehe ja Ihre Aufregung.
Dafür haben Sie das Beamtenanpassungsgesetz ohne Beratung, nämlich in einem Schnellverfahren, welches die Bezeichnung Beratung nun wirklich nicht verdient, im Verteidigungsausschuß ungeprüft passieren lassen.
Vermutlich haben Sie diesem oberflächlichen Gesetzentwurf der Bundesregierung deshalb so schnell zugestimmt, weil selbst Ihnen der Streit zwischen dem Verteidigungsminister und dem Finanzminister um die Verringerungszahlen für die Bundeswehrverwaltung höchst peinlich war. Sie haben damit aber zugelassen, daß dieser Streit weitergeht — und zu Recht weitergeht — und heute ein Gesetz verabschiedet wird, dessen Basisdaten nur zu ahnen sind.
Das ist das Ergebnis Ihres Verzichts auf eine eigenverantwortliche parlamentarische Mitwirkung am Beamtenanpassungsgesetz im Verteidigungsausschuß. Fazit: Sie haben das Gesetz nicht gemacht; Sie haben es machen lassen.
Sie haben auf eine sachgerechte Zusammenarbeit mit uns verzichtet.
Deshalb können Sie für das vorliegende Ergebnis, das ein Problem löst, indem es zwei neue schafft, auch nicht unsere Zustimmung erwarten.
Das Personalstärkegesetz hat dagegen im Verteidigungsausschuß mehr Beachtung gefunden, Frau Kollegin. Wir haben gemeinsam darüber beraten, wir haben gemeinsam Positionen, aber auch Mängel feststellen können, wir haben Unausgewogenes deutlich gemacht und sogar einige Verbesserungen einvernehmlich und damit gemeinsam beschlossen.
Nach diesen einleitenden Sätzen zum Personalstärkegesetz könnte der Eindruck entstehen, nun sei alles zum besten bestellt, der große Entwurf könne angekündigt werden, der Rekord sei nicht mehr zu verhindern.
Ich wünschte mir im Interesse unserer Soldaten, daß
das auch wirklich der Fall wäre. Was wir heute in
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Heinz-Alfred Steiner
zweiter Lesung zu beurteilen und dann in dritter Lesung zu verabschieden haben, ist leider nicht der große Wurf,
der es wirklich hätte werden können. Dr. Stoltenberg hätte die große Chance gehabt; er hat sie wieder einmal nicht genutzt. Zeit zum Üben hatte er; denn seit dem Sommer letzten Jahres war bekannt, welche Umfangszahl unsere Bundeswehr künftig nach dem ersten großen Abrüstungsschritt haben muß. Die Aufgabe war also mit der Umfangszahl 370 000 bereits vor 16 Monaten gestellt. Der politischen Leitung der Hardthöhe mußte doch im Juli letzten Jahres sofort klargewesen sein, daß eine so erhebliche Reduzierung nicht nur Überlegungen nach der Art auslösen konnte: Wie werde ich möglichst schnell möglichst viele Soldaten los? Der Zusammenhang zwischen neuer Sollstärke, Bundeswehrstruktur und damit Personalstruktur war doch offenkundig. Aus diesem Zusammenhang ergab sich dann auch die konkrete Aufgabenstellung, und dieser Zusammenhang darf heute nicht verwischt und darf auch nicht verleugnet werden.
Während der Beratungsrunden im Verteidigungsausschuß gab es darüber jedenfalls keinen Streit. Wir haben den Zusammenhang gemeinsam so gesehen. Im Grundsatz waren wir uns darüber einig, daß sinnvolle und sozialverträgliche personelle Reduzierungsschritte eine gut durchdachte und gut abgestimmte Personalstruktur voraussetzen. Diese Voraussetzung fehlt heute immer noch, obwohl wir sie schon in erster Lesung angemahnt haben. Wir haben den Minister wiederholt aufgefordert, endlich Zahlen auf den Beratungstisch zu legen, die im Kabinett abgestimmt sind und die die genauen Konturen einer Personalstruktur für die Bundeswehr erkennen lassen. Das ist bis heute nicht geschehen, und daran entzündet sich der eigentliche Streit, den wir auch schon im Verteidigungsausschuß auszutragen hatten.
Ich muß den Kolleginnen und den Kollegen recht geben, die eine eindeutige Aussage dazu verlangen. Wir bemühen uns doch um Planungssicherheit, von der auch Sie immer sprechen, um eine sozialverträgliche Reduzierung des Personalumfanges. Das kann doch aber nicht nach dem Einbahnstraßenprinzip konzipiert und beschlossen werden. Planungssicherheit darf doch nicht nur für die Hardthöhe gelten; Planungssicherheit muß es vielmehr auch für unsere Soldaten geben. Wir müssen ihnen doch sagen können — hier meine ich insbesondere die Berufssoldaten und die längerdienenden Soldaten auf Zeit — , wie ihre Berufs- und ihre Lebensplanungen unter den gegenwärtigen politischen Rahmenbedingungen aussehen können. Wir müssen offen und ehrlich mit ihnen umgehen, um sowohl ihre als auch die gesellschaftliche Akzeptanz für die Bundeswehr nicht weiter zu beschädigen.
Der Wehrbeauftragte hat in seinem Jahresbericht eindringlich auf diesen Zusammenhang hingewiesen. Wir sollten das, was er in seinem Jahresbericht ausgesagt hat, wirklich gemeinsam ernst nehmen.
Sozialverträglichkeit darf auch nicht nur für diejenigen Soldaten gelten, die vorzeitig ausscheiden wollen. Wir müssen ihnen diese Entscheidung — angemessen — erleichtern. Dazu dient das Personalstärkegesetz; dazu sehe ich keine vertretbare Alternative.
Wir sollten diesen Vorgang aber für alle Soldaten aller Laufbahnen gerecht gestalten.
Auch dieser gerechten Ausgestaltung haben Sie sich leider in einigen Bereichen, die von meiner Kollegin Frau Schulte noch angesprochen werden, widersetzt.
Wir wollten eine durchgängige Sozialverträglichkeit auch für diejenigen Soldaten, die weiter im Dienst verbleiben wollen oder aber verbleiben müssen, weil die Entscheidung über Anträge auf vorzeitiges Ausscheiden in Ermessen des Dienstherrn gestellt werden.
Weil der Ermessensspielraum in Form einer verbindlichen Personalstruktur noch fehlt, wir dem Minister keinen Freibrief geben dürfen und auch nicht geben wollen und weil noch eine gerechtere Ausgestaltung des Gesetzes vonnöten gewesen wäre, die mit Ihnen nicht zu erreichen war, werden wir uns zum Personalstärkegesetz der Stimme enthalten.
Vielen Dank.
Als nächster spricht der Abgeordnete Heinz-Dieter Hackel.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Zu dem Thema, das uns heute vorliegt, kann man viel, aber auch wenig sagen. Ich gehe am heutigen Tage von dem deutschen Sprichwort aus: In der Kürze liegt die Würze.
— Frau Kollegin, darum werde ich mich bemühen.
— Ich habe noch nicht einmal angefangen. Ich glaube, wenn ich fertig bin, sind Sie mit meinen Ausführungen zufrieden.Bei einer Verringerung der Streitkräfte auf einen Gesamtumfang von 370 000 Soldaten ist es erforderlich, die Zahl der Beamten im Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung entsprechend anzupassen. Die Bundesregierung geht insoweit von dem Abbau von mindestens 4 862 Beamten-Haushaltsstellen für das Gebiet der alten Bundesländer bis zum 31. Dezember 1997 aus.Will dabei die Bundesregierung, wie angekündigt, die Vorruhestandsbestimmung als Ausnahmeregelung behandeln und in erster Linie die anderweitige Verwendung der Beamten anstreben, so muß sie auch
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Heinz-Dieter HackelAnreize schaffen, um diesen Personalkreis für einen Wechsel in einen anderen Verwaltungsbereich zu gewinnen.
Meine Damen und Herren, dazu gehören Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen ebenso wie ein Ausgleich für die besonderen Bedingungen der anderweitigen Tätigkeit sowie reise- und umzugskostenrechtliche Ausgleichsmaßnahmen. Sie werden sich logischerweise hieraus ergeben.Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann auf der anderen Seite Flexibilität von den Betroffenen verlangt werden.
Die Bundesregierung ist da — auch von mir — aufgerufen, umgehend die erforderlichen Konzepte vorzulegen.
— Darüber könnten wir uns einmal unterhalten. Wir haben sicherlich noch ein wenig Zeit dazu. Wir sind zur Aussprache bereit.
— Ja.Danke.
Als nächste spricht die Abgeordnete Jutta Braband.
Guten Morgen!
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich werde Ihre und meine Zeit nicht verschwenden. Ich finde, der Gesetzentwurf ist es nicht wert.
Ich habe dazu zwei Dinge zu sagen. Zum einen gibt es einen mittelbaren Grund, den ich hier anführen will. Ich finde, daß dieses Gesetz in keiner Weise die Ansprüche erfüllt, die hier politisch formuliert sind, daß es nämlich um Abrüstung geht. Das Gesetz macht im Zusammenhang mit allen anderen Diskussionen klar: Es geht keineswegs um Abrüstung; es geht um Umrüstung.
— Ja, so sehe ich das. Das können auch Sie sehr leicht nachvollziehen. Sie brauchen nur alle anderen Gebiete zu betrachten, ob es um die Reduzierung von Waffenbeständen oder um die Reduzierung von Personen geht: Das bedeutet immer, was z. B. die Waffensysteme betrifft, daß sie durch bessere, neue ersetzt werden, die effektiver sind. Die alten Waffen
werden nicht etwa verschrottet, sondern gehen in die Türkei und nach Griechenland, die dann ihrerseits ihre noch älteren Waffen verschrotten.
— Ja, aber dieses Gesetz soll ja einen Punkt der Zweiplus-Vier-Verhandlungen erfüllen, wo von Abrüstung die Rede ist.
Fakt ist: Wir brauchen überhaupt nicht mehr so viele Menschen in der Bundesarmee, weil die Technik so effektiv ist. Das kritisiere ich hieran. Ich habe nichts dagegen, daß Sie Abbau von Streitkräften sozialverträglich gestalten. Das ist überhaupt nicht mein Problem.
— Nein, aber ich finde, es ist zu kurz gefaßt. Sie gehen nicht daran, tatsächlich abzurüsten.
Der zweite Punkt betrifft also die Sozialverträglichkeit. Die SPD hat hier schon einiges dazu gesagt; ich brauche das nicht zu wiederholen. Ich bedauere in diesem Zusammenhang zutiefst — ich finde das alles ausgesprochen entlarvend — , daß Sie hier nicht den geringsten Versuch machen, z. B. solche Sachen zu liberalisieren, indem Sie eben nicht nur die dienstlichen Erfordernisse berücksichtigen, sondern auch die individuellen Forderungen oder Wünsche von Menschen in dieser Armee. Das zeigt genau, worum es hier eigentlich geht.
Die andere Sache ist: Ich finde, daß die luxuriöse Ausstattung der Sozialverträglichkeit in einem krassen Widerspruch zu dem steht, was in diesem Lande ansonsten üblich ist, wenn es um Sozialverträglichkeit von Entlassungen, von Warteschleifen usw. geht. Die Menschen im Osten werden das kritisieren.
— Bitte? In Mitteldeutschland? — Ich weiß nicht, was Mitteldeutschland ist. Ich kenne nur Ostdeutschland. Ich kann auch sagen: die ehemalige DDR.
— Nein, ich werde die Zeit nicht rumkriegen. Ich habe schon gesagt, daß es nicht lohnt, in dieser Weise über das Gesetz zu diskutieren.
Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Vormittag.
Als nächster spricht der Abgeordnete Fritz Körper.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem Entwurf eines Gesetzes über die Verringerung der Personalstärke der Streitkräfte soll, wie gesagt, der Gesamtumfang auf 370 000
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Fritz Rudolf KörperSoldaten reduziert werden. Diese Reduzierung erfordert auch eine angemessene Verringerung der Zahl des Zivilpersonals im Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung.Dabei stellt sich aber die Frage, in welcher Form und insbesondere mit welchen Maßnahmen Soldaten-und Beamtenstellen entsprechend reduziert werden sollen.Bei diesem Prozeß ist wohl zuerst erforderlich, das anzustrebende Ziel klar zu formulieren und darüber hinaus zu sagen, mit welchen Maßnahmen man dieses Ziel umsetzen möchte. Daß ein Abbau, eine Reduzierung des Personals notwendig ist, ist ebenso unumstritten.Da ich mich in meinem Redebeitrag in erster Linie mit dem Bundeswehrbeamtenanpassungsgesetz beschäftigen möchte, lege ich vorab auf die Feststellung Wert, daß eine vorzeitige Zurruhesetzung überzähliger Beamter nur als allerletzte Möglichkeit in Betracht kommen kann.
— Sehr gut. Vorrang muß eindeutig der Grundsatz einer anderweitigen Verwendung haben. Meines Wissens hat der Bundesinnenminister in seinem Zwischenbericht der Arbeitsgruppe „Berlin—Bonn" diesen Grundsatz auch anerkannt. Deshalb kann meiner Auffassung nach nichts anderes für den Abbau beispielsweise in der Wehrverwaltung gelten.Allerdings darf dieser Grundsatz nicht nur in Form einer Absichtserklärung erfolgen. Es kommt darauf an, durch konkrete Formulierungs- und Finanzierungsmodelle eine anderweitige Verwendung auf breitester Front zu ermöglichen. Die im Innenausschuß beschlossenen Änderungen gehen wohl in die richtige Richtung. Die aus meiner Sicht kritischen Punkte werde ich noch erwähnen.Was die anderweitige Verwendung anbelangt, so ist festzuhalten, daß es an Aufgaben im öffentlichen Bereich wahrhaft nicht mangelt.
Erinnert sei nur an die gesamte Asylproblematik. Wir haben derzeit sehr lange Verfahrenszeiten zu registrieren. Die Ursachen liegen vielfach in der mangelnden Personalsituation bei den zuständigen Behörden und Einrichtungen. Hier wäre meines Erachtens wohl ein großes Einsatz- und Verwendungsgebiet, zumal es auch im zivilen Bereich der Bundeswehr viele qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gibt.
Allerdings müßte der Grundsatz der anderweitigen Verwendung auch mit konkreten Finanzierungsmodellen versehen werden. Diese Verwendung von Bundesbeamten außerhalb des Bundesbereiches könnte unter Mithilfe von Personalkostenzuschüssen ermöglicht werden, die dem Bund keine zusätzlichen Kosten verursachen würden.In diesem Zusammenhang sei an die schon etwas länger zurückliegende vergleichbare Situation erinnert, als die Unterbringung der nach Art. 131 des Grundgesetzes Betroffenen erfolgte. Mit Sicherheit wäre die Übernahme überzähliger Bundesbeamter für die Länder und Kommunen mit Hilfe von Personalkostenzuschüssen leichter möglich und, wie bereits erwähnt, für den Bund sicherlich nicht teurer als die Zahlung voller Versorgungsbezüge.
Häufig werden bei der Diskussion um eine anderweitige Verwendung dienstrechtliche Argumente herangezogen, die eine solche Verwendung behinderten. Hier muß man — das ist meine Meinung — notfalls Ausnahmeregelungen schaffen, die auf die besondere Situation abzielen.Ebenfalls wird häufig entgegnet, daß es unzweckmäßig sei, Berufssoldaten oder Beamte mit über 55 Jahren in anderen Bereichen als in denen, für die sie ausgebildet sind, einzusetzen. Hier stellt sich für mich die einfache Frage, ob es nicht besser ist, einem Betroffenen auch mit 55 Jahren eine neue Aufgabe zu geben, als ihm mit der Frühpensionierung das Gefühl des Nicht-mehr-gebraucht-Werdens allzu deutlich zu vermitteln.Motivationsprobleme, die hier und da befürchtet werden, sehe ich nicht. Deshalb ist es richtig — wie auch im Gesetz festgehalten —, nur dann das Instrument der Frühpensionierung zu gebrauchen, wenn alle anderen Möglichkeiten erfolglos blieben. Bei solchen Frühpensionierungen kommt es für den Bund zu Einsparungen, allerdings nur, wenn man die Arbeitsleistung des einzelnen finanziell nicht bewertet und ausschließlich die Kosten betrachtet.Ich fasse zusammen: Der Regierungsentwurf ist für uns nicht akzeptabel. Die im Innenausschuß beschlossene Änderung, mit der die Vorruhestandsregelung eingeschränkt wird, geht, wie bereits von mir erwähnt, dagegen in die richtige Richtung, vermag aber die grundsätzlichen Bedenken nicht völlig auszuräumen.Darüber hinaus fehlt bisher jegliches sozial gestaltetes Konzept für den Personalabbau. Da ein Gesamtkonzept fehlt, bleibt offen, wie die Praxis auf der Grundlage der vorgesehenen gesetzlichen Regelungen aussehen wird.Ich will dies an einem Beispiel verdeutlichen: Nach der jetzt vorgesehenen gesetzlichen Regelung kann ein Beamter, der das 55. Lebensjahr vollendet hat, auf Antrag in den Ruhestand versetzt werden, wenn eine anderweitige Verwendung nicht möglich ist oder nach allgemeinen beamtenrechtlichen Grundsätzen nicht zumutbar ist.
Es liegt auf der Hand, daß die Möglichkeiten der anderweitigen Verwendung entscheidend z. B. von Fortbildung, Umschulung und Weiterbildung abhängen. Dazu liegen aber bisher keine konkreten Aussagen der Bundesregierung vor, was auch der Kollege Hackel hier vorhin wohl eingeräumt hat. Mit einer reinen Aufforderung ist es hier nicht getan.
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Fritz Rudolf KörperDiese anderweitige Verwendung könnte auch mit Hilfe von Personalkostenzuschüssen erleichtert werden, wie bereits von mir erwähnt. Aber auch darauf geht die Bundesregierung nicht ein.Schließlich bleibt für mich offen, wann die anderweitige Verwendung zumutbar ist. Erforderlich wäre es doch, den Begriff der Zumutbarkeit näher zu definieren. Das bedeutet, auch nach der vom Innenausschuß beschlossenen Fassung wird der Bundesregierung immer noch ein viel zu großes Ermessen eingeräumt, das ihr weitgehend freie Hand bei der Art und Weise des Personalabbaus läßt.
Die gesetzliche Regelung gibt wenig Auskunft über die künftige Praxis. Abgesehen davon halten wir es grundsätzlich für notwendig, daß bei der Art und Weise des Personalabbaus nicht nur die Interessen des Dienstherren ins Gewicht fallen dürfen. Warum also sieht dieser Gesetzentwurf keine konkreten Voraussetzungen vor, unter denen aus sozialen Gründen ein Rechtsanspruch auf vorzeitigen Ruhestand besteht?
Darüber hinaus möchte ich eine ganz wichtige Frage in den Raum stellen: In welcher Weise sollen die Personalräte unterrichtet und informiert sowie in die Planungen über den Personalabbau einbezogen werden? Hier gibt es schlichtweg nur offene Fragen.
Offenbar sieht selbst die Koalition aus CDU/CSU und FDP ein, daß die vorgesehenen Regelungen in den Gesetzesentwürfen mangelhaft, zumindest unvollständig sind;
denn sie hat gleichzeitig einen Entschließungsantrag vorgelegt, mit dem die Bundesregierung aufgefordert wird, bisher nicht erledigte Hausaufgaben zu machen.
— Herr Nolting, ich sage es gleich. — Wir sind allerdings der Auffassung, daß ein solcher Entschließungsantrag sehr unbefriedigend ist. Das Parlament sollte doch eigentlich erwarten können, daß die Bundesregierung bei einem solch wichtigen Gesetz, von dem Tausende von Menschen betroffen sind, schon in den parlamentarischen Beratungen die notwendige Klarheit schafft.
Herr Körper, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gerster ?
Nein, ich komme nämlich zum Schluß.
Da wir den Personalabbau auch bei dem Zivilpersonal der Bundeswehr für notwendig halten, wollen wir ungeachtet unserer Bedenken dem Gesetz keine Steine in den Weg legen. Deshalb enthalten wir uns bei den Abstimmungen über die beiden vorliegenden Gesetzentwürfe sowie die Entschließungsanträge der CDU/CSU und der FDP.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Als nächster spricht der Kollege Hans-Werner Müller.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die beiden Gesetze, wie wir heute in zweiter und dritter Lesung beraten, haben wir — wenn ich von „wir" spreche, meine ich die Ausschüsse und die Arbeitsgruppe — in der Zeit von der ersten Lesung bis zur zweiten Lesung im Hinblick auf eine Konkretisierung materiell geändert. Dem Ganzen haben wir dann noch zwei Entschließungsanträge vorangestellt mit klaren Aufträgen an die Bundesregierung.
Ich hoffe, daß diese Entschließungsanträge angenommen werden.Die politische Diskussion vollzieht sich vor dem Hintergrund, daß neue Behörden aufgebaut und vorhandene Behörden ausgeweitet werden müssen mit Auswirkungen auf Tausende von Stellen und Bedienstete. Ich sage das als jemand, der in den letzten Tagen und Wochen die Beratungen im Haushaltsausschuß zu den einzelnen Personaltiteln, die wir gerade abgeschlossen haben, mitgestaltet hat. Wir mußten Tausende von Stellen genehmigen, was uns nicht daran hindert, weiter kritische Fragen zu stellen.Die Zahlen sind schon einmal genannt worden. Wir brauchen 750 neue Beamte für den Aufbau der Vermögensverwaltung in den neuen Bundesländern. Wir brauchen 2 700 neue Stellen für die sogenannte Gauck-Behörde. Wir brauchen 4 000 neue Stellen für BAFL, d. h. für die Dienststelle, die sich mit den Asylantenproblemen zu befassen hat. Man hat den Eindruck, daß Herr Parkinson regelrecht eingeladen wird, fröhliche Urstände zu feiern. Parkinson hat einmal gesagt: „Bürokratie ist die Vervielfältigung von Problemen durch Einstellung weiterer Beamter."
Auf der anderen Seite müssen Stellen abgebaut werden: die Stellen von ca. 1 200 Zollbeamten wegen des Wegfalls der innerdeutschen Grenze und der Einführung des europäischen Binnenmarktes, von 6 800 Soldaten zur Realisierung der Kaukasus-Beschlüsse, von 5 000 Beamten der Bundeswehr, von 8 000 Angestellten der Bundeswehr, 16 000 Arbeitern der Bundeswehr.So schwierig dies aus juristischer Sicht auch sein mag, die kritische Öffentlichkeit und der Steuerzahler
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1991 4847
Hans-Werner Müller
erwarten, daß sich der Gesetzgeber bemüht, das vorzeitige Ausscheiden einerseits und den Aufbau in der von mir soeben geschilderten Größenordnung andererseits miteinander in Einklang zu bringen.
Ich will den öffentlichen Dienst nicht verunglimpfen. Wir alle erleben ja derzeit in den neuen Bundesländern, wie überaus wichtig eine gut funktionierende Verwaltung ist, um den Aufschwung Ost zu gewährleisten.Insofern ist völlig richtig, wenn der Bundesrat formuliert: „Solange nicht alle vertretbaren Möglichkeiten einer anderweitigen Verwendung bei Bund und Ländern ausgeschöpft sind, sollte die vorgesehene gesetzliche Regelung einer Frühpensionierung unterbleiben. "
Ich will durchaus klar und unmißverständlich in Richtung Bundesregierung zum Ausdruck bringen, daß in den in der ersten Lesung ursprünglich vorgelegten Entwürfen recht wenige Gedanken in diesem Sinne aufgenommen worden sind.
Ich hatte verschiedene Ministerien um Anregungen zur Lösung der Auf- und Abbauproblematik gebeten. Da schreibt mir z. B. der Finanzminister:Die Motivation für die Bediensteten bei einer freiwilligen Versetzung kann nur dadurch geschaffen werden, daß die finanziellen Leistungen bei vorzeitiger Zurruhesetzung möglichst gering gehalten werden, so daß die Suche nach einer neuen Tätigkeit attraktiv bleibt.So schreibt der Finanzminister. Ein bißchen weiter heißt es:Dagegen empfiehlt es sich nicht, zusätzliche Anreize zur Weiterbeschäftigung zu schaffen, denn dies hätte wiederum eine Besserbehandlung der versetzten Bediensteten gegenüber den vergleichbar Bediensteten in den neuen Dienststellen zur Folge.Wenn ich das richtig verstehe, heißt das, daß wir am besten gar nichts machen sollen.Aber wir haben etwas unternommen. Die Gesetze wurden, wie gesagt, materiell geändert. Weiterhin ist die Bundesregierung durch die bereits erwähnten beiden Entschließungsanträge bis Ende Februar aufgefordert, die betroffenen Beamten für einen Wechsel in andere Verwaltungsbereiche zu gewinnen bzw. den betroffenen Soldaten Tätigkeiten im Bereich des öffentlichen Dienstes zu erleichtern.
Konkret kann man sich eine Menge vorstellen. Ich will nicht darauf eingehen; denn das wird in unserem Entschließungsantrag klar formuliert. Bei den Beamten ist die Situation zugegebenermaßen einfacher. Ist Sozialverträglichkeit gegeben, so ist es für den Beamten „zumutbar", an einem anderen Ort anderweitig Beschäftigung im öffentlichen Dienst anzunehmen.Wir sind darauf gespannt, was uns die Bundesregierung Ende Februar vorlegen wird. Ich bin davon überzeugt: Dies sind wir dem Steuerzahler schuldig.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächster spricht der Abgeordnete Günther Nolting.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Hackel hat bereits zum Bundeswehrbeamtenanpassungsgesetz gesprochen.
Ich will mich deswegen dem Personalstärkegesetz zuwenden.Wir alle wissen, daß die Bundeswehr bis Ende 1994 auf 370 000 Mann reduziert werden muß. Damit setzen wir unsere Vorschläge zum Zwei-plus-Vier-Vertrag um. Ich will an dieser Stelle sagen: Sie sind das Ergebnis unserer erfolgreichen Außen- und Sicherheitspolitik, auf die wir über Jahrzehnte hinweg ohne Bruch zurückblicken können. An diesem Erfolg sind auch unsere Soldaten maßgeblich beteiligt gewesen.
Zur Verringerung der Bundeswehr wird das Personalstärkegesetz einen Beitrag leisten. Frau Kollegin Braband, ich will dazu sagen: Wir reduzieren Bundeswehr und — das müssen wir fairerweise einbeziehen — die ehemalige NVA um ca. 40 %. Das ist eine einseitige Vorleistung. Ich will auf Ihren Redebeitrag nicht weiter eingehen, will aber festhalten, daß Sie an den Beratungen im Verteidigungsausschuß nicht ein einziges Mal teilgenommen haben.
Wenn die Bundeswehr nach 1994 eine sinnvolle Alters- und Dienstpostenstruktur haben soll, müssen auch Zeit- und Berufssoldaten ausscheiden. Insgesamt sieht das Personalstärkegesetz vier Möglichkeiten vor: erstens die Senkung der besonderen Altersgrenze um ein Jahr, zweitens die Möglichkeit der freiwilligen vorzeitigen Zurruhesetzung, drittens die Möglichkeit der Umwandlung des Dienstverhältnisses eines Berufssoldaten in das eines Soldaten auf Zeit und schließlich viertens die Möglichkeit der Verkürzung von Verpflichtungszeiten von Zeitsoldaten.Das Personalstärkegesetz, das besser Personalverminderungsgesetz heißen sollte, soll ferner zusätzliche Anreize schaffen, die für den einzelnen Soldaten diese Optionen interessant machen. Stichwortartig will ich festhalten: erstens keine Nachteile bei der Höhe der Pension, zweitens Ausgleichszahlungen, wobei der Betrag 4 000 DM nicht überschreiten darf, und drittens monatliche statt der halbjährlichen Ausscheidetermine.In den zurückliegenden Ausschußberatungen haben wir außerdem eine neue Bestimmung eingefügt,
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Günther Friedrich Noltingnach der im Fall der vorzeitigen Zurruhesetzung zunächst geprüft werden soll, ob eine andere angemessene Verwendung möglich ist. Herr Kollege Müller, ich will einen zusätzlichen Grund anfügen: Wir haben das auch deshalb gemacht, weil der Staat nicht leichtfertig auf die Arbeitskraft, auf das Wissen und auf die Erfahrungen der betroffenen Soldaten verzichten sollte.
Lassen Sie mich aber auch darauf hinweisen, daß Offiziere nicht ohne weiteres in die Zivilverwaltung versetzt werden können. Das wäre im Moment nur auf freiwilliger Basis möglich, da es sich um einen Statuswechsel handeln würde. Soldaten befinden sich nach der Überreichung der Entlassungsverfügung in Pension. Für eine freiwillige Übernahme in ein ziviles Beamten- oder Angestelltenverhältnis müßten die beamten- und laufbahnrechtlichen Voraussetzungen geschaffen werden. Entsprechende Angebote müssen gemacht werden, Herr Staatssekretär.Die Koalitionsfraktionen haben dazu einen Entschließungsantrag vorgelegt — der Kollege Müller ist darauf eingegangen — , in dem der Bundesregierung Anregungen für die erforderlichen Anreize gegeben werden. Dazu zählen die Anhebung der Hinzuverdienstgrenze auf etwa 130 %, reise- und umzugskostenrechtliche Ausgleichsmaßnahmen sowie Um-schulungs- und Fortbildungsmaßnahmen. Auch die erwähnten laufbahnrechtlichen Änderungen sind in unserem Entschließungsantrag angesprochen.Herr Kollege Körper, das sind genau die Forderungen, die Sie in Ihrem Redebeitrag vorgetragen haben. Warum also Ihre Ablehnung?
Dieselbe Frage stelle ich auch dem Kollegen Steiner. Herr Kollege Körper, vielleicht hätte die SPD-Fraktion heute einen anderen Kollegen aus dem Innenausschuß sprechen lassen sollen. Ich habe mir gerade sagen lassen, daß Sie, Herr Körper, die Möglichkeit zur Mitberatung im Innenausschuß überhaupt nicht in Anspruch genommen haben.
Bereits bei der ersten Lesung dieses Gesetzes vor fünf Wochen habe ich an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß dieses Gesetz nur Wege zum Ziel definiert, daß wir uns aber außerdem um die Frage des Stellenabbaus bis 1994 kümmern müssen. Die Beförderungsmöglichkeiten dürfen nicht durch übereilte Stellenstreichungen eingeschränkt werden. Dies würde die Akzeptanz der gesamten Regelung bei der Truppe erheblich verringern. Wir müssen deshalb bereit sein, das angestrebte Personalmodell 370 gegebenenfalls auch erst nach 1994 in allen Details zu verwirklichen, damit wir unseren heutigen und den künftigen Soldaten überhaupt eine Perspektive bieten können. Diese Thematik werden wir in den Personalhaushalten der kommenden Jahre beachten müssen.Die SPD hat heute einen Entschließungsantrag vorgelegt, dem wir nicht zustimmen können.
Die Senkung der besonderen Altersgrenze um ein Jahr wollen wir weder in das Belieben der Betroffenen noch des Dienstherrn stellen, da es sonst nicht vorhersehbar wäre, ob wir die angestrebte Reduzierung der Bundeswehr überhaupt zum entscheidenden Stichtag erreichen. Außerdem ist es unmöglich, unverzüglich ein detalliertes Personalstrukturmodell vorzulegen, solange man nicht weiß, wie viele Soldaten von den Möglichkeiten des Personalstärkegesetzes Gebrauch machen werden.Herr Kollege Steiner, wir sind ja im Verteidigungsausschuß weitgehend auf Ihre Vorstellungen eingegangen,
bis hin zu Prüfungsaufträgen an die Bundesregierung, die wir von Ihnen übernommen haben.
Sie haben im Verteidigungsausschuß allen Änderungsanträgen, die die Koalition gestellt hat, zugestimmt, weil sie Ihren Vorschlägen entsprachen. Deswegen verstehe ich hier und heute Ihre Kritik überhaupt nicht. Ich bedauere, daß Sie nicht zustimmen wollen; vielleicht können Sie auch nicht zustimmen.
Ich will es noch etwas schärfer fassen: Vielleicht dürfen Sie auch nicht zustimmen, obwohl der eine oder andere bei Ihnen dazu bestimmt gerne bereit wäre.
Meine Damen und Herren, die vorliegenden Gesetzentwürfe eines Personalstärkegesetzes und eines Bundeswehrbeamtenanpassungsgesetzes stellen den richtigen Ansatzpunkt dar, um einer Bundeswehr und ihrer Zivilverwaltung mit alters- und dienstgerechterer Struktur näher zu kommen. Die FDP-Fraktion wird beiden Gesetzen und dem Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen zustimmen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Willy Wimmer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute morgen — und da gibt es eigentlich einen übergreifenden Konsens — mit den Auswirkungen eines Erfolges.
Man sollte sich dann auch einmal den Ruck geben, nicht rumzudeuteln und rumzukritisieren, wo es nicht nötig ist,
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Parl. Staatssekretär Willy Wimmersondern den weiteren Weg nach dem Erfolg auch gemeinsam gehen.
— Ob das ein Rechtsruck ist, weiß ich nicht. Es sollte auch kein Linksruck sein. Es sollte nur der verbindliche Weg im Interesse der Menschen sein, um die es geht; denn wir können uns hier einiges nicht erlauben.
— Wir können uns z. B. nicht erlauben, Herr Kollege Kolbow, daß bei uns im Lande nach diesem Erfolg der Eindruck entsteht: Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, er kann gehen.
Wenn man sich mit den Auswirkungen dieses Erfolges sachgerecht beschäftigt, dann kommt man an verschiedenen Eckdaten wahrhaftig nicht vorbei. Auch die sind merkwürdigerweise heute morgen im Sinne eines übergreifenden Konsenses festgehalten worden.
Deswegen verstehe ich nicht, warum man es bei einer Enthaltung belassen will.
Es wäre sinnvoll zuzustimmen, allein deshalb, weil man nach diesem Erfolg nur so der Verpflichtung gegenüber den Menschen gerecht werden kann.
Sie haben aus dem Beratungsgang gesehen, daß wir in der Tat im Bundesrat und in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages sachgerechte Argumente nicht nur gewendet, sondern im Interesse einer weiteren sachgerechten Fortführung dieses Prozesses auch beachtet haben. Wir werden sie auch weiter beachten. Deswegen sind wir auch dankbar, daß die Koalitionsfraktionen Entschließungsanträge vorgelegt haben, die uns auf einem vernünftigen Weg weiterbringen werden, und zwar im Interesse derjenigen, deren Probleme — und das sind auch unsere Probleme — gelöst werden müssen.Ich glaube, wir müssen einige Daten im Sinn des Konsenses festhalten. Wir sollten auch nicht die gewaltigen Leistungen unter den Tisch fallen lassen, die darin bestehen, daß wir — einfach schon deshalb müssen sie erwähnt werden — seit dem vergangenen September den Personalbestand der Bundeswehr von damals etwa 560 000 Soldaten auf nun 452 000 reduziert haben. Davon sind Menschen betroffen. Es ist eine Leistung, das sachgerecht durchzuführen.
Um auf den vertragsgemäßen Bestand von 370 000 Soldaten zu kommen, müssen wir uns mit den Fakten auseinandersetzen. Ich will sie in diesem Zusammenhang der guten Ordnung halber noch einmal anführen; denn sie gehören dazu.Wenn wir bei der heutigen Personalplanung blieben, würden Anfang 1995 etwa 87 000 Offiziere und Berufsunteroffiziere dienen. Im Hinblick auf die künftige Bundeswehrstruktur sind dies 8 100 Berufssoldaten zuviel.Mit den geltenden Rechtsvorschriften — das wissen wir alle — kann eine termin- und strukturgerechte Personalreduzierung nicht erreicht werden. Es gibt — das muß festgehalten werden — keine hinreichende Handhabe, länger dienende Soldaten von Amts wegen oder auf Antrag vor Ablauf der festgesetzten Dienstzeiten zu entlassen oder in den Ruhestand zu versetzen. Erst das Personalstärkegesetz schafft die erforderlichen Rechtsgrundlagen.Es besteht die Absicht, auf jeden Fall von den 6 800 Berufssoldaten die meisten auf eigenen Antrag ausscheiden zu lassen. Von diesen gesetzlichen Möglichkeiten werden — diese Dimension muß hier festgehalten werden — etwa 22 300 Soldaten der Geburtsjahrgänge 1933 bis 1946 erfaßt. Darin ist allerdings lediglich ein Überhang von 7 300 Soldaten enthalten. Aus dieser Gruppe sollen die Zurruhesetzungen erfolgen.Zurruhesetzungen nach der herabgesetzten besonderen Altersgrenze sollen 1993 nur zur sozial verträglichen Realisierung von Organisationsmaßnahmen und zur Verwirklichung des vorgesehenen Personalstellenabbaus vorgesehen werden. Im übrigen soll von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht werden, wenn die vorzeitigen Zurruhesetzungen auf Antrag nicht den Umfang annehmen, der erforderlich ist, um diese Zielgröße zeitgerecht zu erreichen.Die herabgesetzte besondere Altersgrenze erfaßt theoretisch etwa 19 000 Soldaten der Geburtsjahrgänge 1935 bis 1946. Der für die Reduzierung wirksamste Schritt wird im Jahr 1994 möglich; denn dann könnten bis zu 3 490 Berufssoldaten vorzeitig zur Ruhe gesetzt werden.Die Maßnahmen der Umwandlung des Status von Berufssoldaten in Zeitsoldaten sowie die Verkürzung der Dienstzeit von Zeitsoldaten können nur in geringem Umfang zum Abbau der strukturellen Überhänge beitragen, weil von ihnen nur die jüngeren Jahrgänge erreicht werden. Diese beiden gesetzlichen Regelungen sollen auf Antrag besonders dann zur Anwendung kommen, wenn Aufgaben entfallen und eine Versetzung für eine geringe Restdienstzeit oder eine Umschulung nicht mehr gerechtfertigt sind. Sie sind somit in erster Linie zur sozialen Abfederung von Härten im Rahmen der Umgliederung gedacht.Das Personalstärkegesetz enthält zudem Versorgungsregelungen, damit für die Betroffenen sowohl rechtlich unbedenkliche als auch annehmbare Bedingungen geschaffen werden. Das Personalstärkegesetz ist deshalb — das ist die Folge — praktikabel und rechtlich einwandfrei. Insbesondere dürfen die Soldaten auf Grund ihres Rechtsstatus nicht in den öffentlichen Verwaltungen, z. B. der neuen Länder, verwen-
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Parl. Staatssekretär Willy Wimmerdet werden. Das stößt an die Schranken des Grundgesetzes. Im übrigen würden die so eingesetzten Soldaten — darauf ist aufmerksam gemacht worden — nicht unseren rüstungskontrollpolitischen Schritten entsprechen.Nach ihrem Ausscheiden können ehemalige Soldaten nur auf freiwilliger Basis in Behörden und Verwaltungen arbeiten. Zwangsverpflichtungen erlaubt unsere Verfassung nicht. Der Bundesminister der Verteidigung ist allerdings bemüht, entsprechend der Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrats und den während der Beratungen in den Ausschüssen des Bundestags gegebenen Anregungen sowie der Änderung des Regierungsentwurfes zu § 2 interessierte und geeignete Soldaten zu vermitteln. Kontakte zu den Staatskanzleien der Bundesländer sind schon aufgenommen worden, um bedarfsgerechte Vermittlungen zu fördern.Das Gesetz muß am 1. Januar 1992 in Kraft treten, weil sonst der vom Haushalt vorgegebene und auf Organisationsmaßnahmen abgestimmte stufenweise Personalabbau verzögert würde. Dies könnte — das wissen wir alle — nachteilige Auswirkungen auf das zum 31. Dezember 1994 gesetzte Reduzierungsziel haben. Ich bitte Sie deshalb, verehrte Kollegen von der SPD, geben Sie sich heute einen Ruck; stimmen Sie zu und enthalten Sie sich nicht nur.
Eine Reduzierung der Streitkräfte auf einen Personalumfang von 370 000 Soldaten führt — das wissen wir alle — zwangsläufig zu einer Verminderung des Zivilpersonals. Deshalb ist es notwendig, daß die Bundesregierung außer dem Personalstärkegesetz auch ein Gesetz einbringt, mit dem eine Verminderung der Zahl der Beamten im Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung in sozial verträglicher Weise gefördert wird: das Bundeswehrbeamtenanpassungsgesetz.Dabei darf nicht übersehen werden — und das tun wir nicht — daß die Zahl der vom Wegfall der Aufgaben betroffenen Angestellten und Arbeiter die der Beamten erheblich übersteigt. Die Tarifvertragsparteien haben bereits Verhandlungen aufgenommen, um im Rahmen ihrer Autonomie angemessene Maßnahmen zu vereinbaren.Dem Bundeswehrbeamtenanpassungsgesetz kommt für die tarifrechtliche Ausgestaltung des Reduzierungsprozesses im Arbeitnehmerbereich eine wichtige Signalfunktion zu. Im Zuge des erforderlichen Abbaus von Beamtenplanstellen unter Beachtung der zeitlichen Vorgaben reicht es deshalb nicht aus, allein die normale Fluktuation zu nutzen. Auch eine Ausschöpfung aller Möglichkeiten für eine anderweitige Unterbringung der bei den Bundeswehrverwaltungen nicht mehr benötigten Beamten, sei es im eigenen Geschäftsbereich, sei es bei anderen Verwaltungen, genügt deshalb nicht; vielmehr müssen wir uns mit dem Problem auseinandersetzen, daß Härtefälle bleiben, in denen eine vorzeitige Zurruhesetzung die allein angemessene Lösung für die betroffenen Beamten darstellt.Auch das Einkommen der Beamten wird eine erhebliche Rolle spielen, wenn man beurteilen will, ob eine Versetzung noch zumutbar ist. Es ist darauf hinzuweisen, daß der größte Teil des von der Reduzierung betroffenen Zivilpersonals Beamte des mittleren und des einfachen Dienstes und vergleichbare Angestellte und Arbeiter sind. Wegen der Höhe ihres Einkommens wird ihnen — das ist uns allen bewußt — eine Umstellung sehr schwer fallen. Die Zahl solcher Härtefälle wird sich nicht genau angeben lassen, zumal erst auf Grund von Anträgen ein Einblick in die individuelle Lage der Beamten möglich sein wird. Sie darf aber nicht unterschätzt werden.Bei ihren Überlegungen zum Gesetz ging die Bundesregierung davon aus, daß bei einer sich mindestens bis Ende 1997 hinziehenden Verminderung der Zahl der jetzt vorhandenen rund 30 900 Beamten die Fluktuation ausgenutzt werden kann, um den größten Teil der nicht mehr benötigten Beamtenstellen abzubauen.Der Gesetzentwurf entspricht weitgehend dem bereits in Kraft getretenen Gesetz im Zusammenhang mit der Bundeszollverwaltung. Dieses Gesetz sieht vor, Beamte auf Antrag ab dem 55. Lebensjahr vorzeitig zur Ruhe zu setzen, wenn die anderweitige Verwendung des unmittelbar betroffenen Beamten in den eigenen oder in anderen Verwaltungen nicht möglich oder nach allgemeinen beamtenrechtlichen Grundsätzen nicht zumutbar ist.Die im Gesetz vorgesehenen Verbesserungen der Rechtsstellung der ausscheidenden Beamten sind so begrenzt, daß eine Kritik, diese Beamten würden ungerechtfertigt begünstigt, nun wahrlich nicht berechtigt ist. Ich darf deshalb auf den Vorrang der anderweitigen Verwendungen zurückkommen und dazu auch anmerken, daß die Bundesregierung alle Möglichkeiten einer Weiterverwendung im öffentlichen Dienst ausschöpfen wird, bevor eine vorzeitige Versetzung in den Ruhestand zugelassen wird. Sie hat daher nach zusätzlichen Maßnahmen zur Förderung des Vorranges der anderweitigen Verwendung gesucht. Hierzu werden wir — auch in Übereinstimmung mit den Entschließungsanträgen — im Rahmen unserer Verantwortung das Nötige tun.Ich bedanke mich zunächst einmal dafür, daß man diesen Gesetzentwurf passieren lassen will, ohne dagegen zu stimmen. Aber, Kolleginnen und Kollegen von der SPD, geben Sie sich einen Ruck
und gehen Sie mit uns den Weg des Erfolgs. Ich bedanke mich.
Als nächste spricht unsere Kollegin Brigitte Schulte.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es hat mir wohlgetan, den Kollegen Müller zu hören.
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Brigitte Schulte
Ich habe auch empfunden, wieviel Zweifel und Skepsis in den Koalitionsparteien zu diesen Gesetzentwürfen vorhanden ist. Wir haben hier vor fünf Wochen gesagt: Wir werden mit Ihnen noch darüber reden, ob wir wenigstens dem Gesetz über die Verminderung der Personalstärke der Streitkräfte zustimmen können.Geben Sie es doch zu: Sie selbst haben gehofft, daß Bundesverteidigungsminister Stoltenberg das Parlament und die Öffentlichkeit überraschen würde. Wartet nur, so haben Sie gehofft, der wird uns noch zeigen, wie die künftige Struktur der Bundeswehr aussieht!
Deshalb habe ich davon gesprochen, daß er zwar keinAkrobat, kein Jongleur, aber vielleicht ein Zauberkünstler sein wolle, der jetzt mit seinem Zauberstab aus einem Tresor die verborgenen Pläne für eine 370 000 Mann umfassende moderne Verteidigungsarmee hervorziehen könnte.
Nun ist es soweit, und es ist nichts Vernünftiges da.
Aber, meine Damen und Herren, die Bühne ist nicht leer, denn auf der Bühne sitzt ein Kaninchen. In ein solches ist nämlich Herr Stoltenberg verwandelt worden. Es starrt hypnotisiert auf eine Schlange, die die Züge des Bundesfinanzministers Theo Waigel trägt.Ich habe zu Hause nachgeschlagen, welche Eigenschaften Hasen, zu denen Kaninchen ja auch gehören, haben. Ich will das heute morgen einmal zur Erheiterung vortragen. Man kann dabei immer den Namen Stoltenberg einsetzen. So einsam und allein, wie der Feldhase — oder Herr Stoltenberg — durch die ihm vertraute Flur hoppelt, so vereinzelt steht Herr Stoltenberg heute in der Regierung,
denn er ist eigenbrötlerisch und zweifellos ein eigenwilliger Geselle. Aber er ist auch anpassungsfähig, zäh, ausdauernd und natürlich überhaupt nicht kreativ.
Meine Damen und Herren, kann denn folgendes — so frage ich mit vollem Ernst — wirklich wahr sein: Im Juli 1990 hatte Präsident Gorbatschow mit dem Bundeskanzler vereinbart, daß eine gesamtdeutsche Bundeswehr ab 1. Januar 1995 370 000 Soldaten umfassen sollte. Das war vor 16 Monaten. Der Verteidigungsminister hätte wie kein anderer seiner Vorgänger die Chance gehabt, sich als d e r Abrüstungsminister in der Geschichte zu bewähren. Aber er hätte dazu natürlich den Führungsstab der Streitkräfte unddie zivile Führungscrew der Hardthöhe auffordern müssen, in wenigen Monaten Pläne für eine moderne und zugleich flexible Bundeswehrstruktur vorzulegen, die mit dem Finanzminister hätten abgestimmt sein müssen. Regierung und Parlament hätten nach der Bundestagswahl gemeinsam darüber beraten können, um in einem breiten Konsens zwischen Regierung und Opposition zum Ziel zu gelangen.
— Sie sind ein großer Schwätzer. Entschuldigung.
Sie wissen besser als alle anderen, wie oft die SPD-Fraktion Ihnen angeboten hat, über ein Personalstrukturgesetz zu reden. Sie wissen sehr genau — das werden wir draußen auch erzählen — , daß uns bewußt war, daß dazu unpopuläre Maßnahmen notwendig sind und daß diese unpopulären Maßnahmen, wenn wir deren Notwendigkeit einsahen, von uns auch mitgetragen würden.
— Ja, sicherlich; ganz bestimmt.Der entscheidende Punkt ist: Im Entwurf von Herrn Stoltenberg fehlt die moderne Bundeswehrstruktur, mit der man so etwas überhaupt durchführen kann. Andernfalls kann man Maßnahmen wie die Herabsetzung der besonderen Altersgrenze der Berufssoldaten im Zeitraum 1993 bis 1995 um ein Jahr, wie die vorzeitige Zurruhesetzung von Berufssoldaten auf freiwilliger Basis ab 1. Januar 1992, also in wenigen Wochen, wie die Umwandlung des Dienstverhältnisses eines Berufssoldaten in das eines Zeitsoldaten und die Kürzung der Dienstzeit eines Soldaten auf Zeit auf freiwilliger Basis gar nicht verantworten. Nach welchen Kriterien werden Sie dann am 1. Januar 1992 die Leute entlassen, wenn Sie gar nicht wissen, wie die Struktur endgültig aussieht?
Meine Damen und Herren, wir sind nicht bereit, der Regierung einen Freibrief auszustellen. Wir hätten einem Gesetz, das unsere Wünsche und unsere Vorschläge aufgenommen hätte, selbstverständlich zustimmen können.
— Ich sage dies, und das haben wir auch damals gesagt. Hören Sie doch einmal zu; tun Sie mir den Gefallen, auch wenn Sie es nicht verstehen.Wir haben ausdrücklich gesagt: Wir wollen, daß die ausscheidenden Soldaten wenigstens einen Rechtsanspruch auf die Herabsetzung der besonderen Altersgrenze um ein Jahr haben. Den haben sie jetzt nicht. Wir wollen, daß die Berufssoldaten des militär-
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Brigitte Schulte
fachlichen Dienstes die Möglichkeit erhalten, ihr Dienstverhältnis in das eines Zeitsoldaten umzuwandeln. Diese Möglichkeit haben sie nicht.
— Das tun Sie nicht. Sie haben einen Prüfungsauftrag gegeben; dazu komme ich gleich.Wir wollen, daß Berufssoldaten, die länger als 20 Jahre aktiv gewesen sind, ebenfalls noch die Chance erhalten, als Zeitsoldaten auszuscheiden. Auch das wollen Sie nicht.
Es ist doch lachhaft, wenn man draußen erzählt: Als Berufssoldat mit 20jähriger Dienstzeit darfst du gehen, mit 22 Jahren aber nicht.
Dies sagen wir nicht etwa, lieber Herr Kollege Nolting, weil wir Sozialdemokraten damit Schwierigkeiten hätten. All dies zeigt vielmehr, daß Sie Ihre Schularbeiten nicht gemacht haben, daß die Struktur nicht vorhanden ist, daß Sie im Nebel herumstochern.Dazu muß ich Ihnen sagen: Besonders ärgerlich war es, daß Sie unsere Anträge — Sie könnten ihnen heute noch zustimmen — nur als Prüfaufträge übernommen haben. Sie sind schon so lange im Parlament, daß Sie wissen, was mit Prüfaufträgen auf der Hardthöhe geschieht.
Meine Damen und Herren, ich will abschließen. Der Verteidigungsminister, der in der Zeit, in der er die Struktur hätte verändern sollen, seinen beamteten Staatssekretär, der dafür verantwortlich war, nach Hause geschickt und der den Generalinspekteur und die Inspekteure aller drei Teilstreitkräfte ausgetauscht hat, der kann auch nichts vorlegen und der kann von uns auch keinen Freibrief bekommen. Nur deshalb, weil wir wissen, daß sich die Soldaten draußen nichts sehnlicher wünschen als einen breiteren Konsens zwischen Regierung und Opposition in bezug auf ihre Anliegen
— aber doch nicht bei einem so schlampigen Gesetz —, werden wir ihr Gesetz, was eigentlich richtig wäre, nicht ablehnen, obwohl es doch so schlecht gemacht ist,
sondern uns im Interesse der Soldaten der Stimme enthalten. Wir werden draußen ausdrücklich sagen — —
— Ach Gott, mein lieber Johannes, so schlimm kann es doch nicht sein. Wir tragen — das sagen wir auch draußen — unpopuläre Maßnahmen mit, wenn sie nicht zu vermeiden sind.
Aber wir sind nicht bereit, ohne diese moderne, flexible Bundeswehrstruktur ein drohendes Drucheinander mitzutragen. Das verantworten Sie bitte allein.
Ich danke Ihnen.
Liebe Kollegin Schulte, Sie haben den Kollegen Gerster so liebevoll angesprochen.
Ich denke, wir wollen uns als Parlamentarier nicht mit unfreundlichen Bezeichnungen versehen, die dann auf uns wieder zurückfallen können. Bleiben Sie auch in anderen Fällen charmant!
Als nächster spricht der Abgeordnete Meinrad Belle.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir einige Vorbemerkungen. Liebe Frau Kollegin Schulte, wir führen ja heute keine Bundeswehrstrukturdebatte. Aber die kommt noch, und da erwarten wir dann Ihren Beitrag.
Lieber Herr Kollege Körper, ich hätte natürlich sehr gerne mit Ihnen im Innenausschuß über die verschiedenen Möglichkeiten der anderweitigen Verwendung diskutiert. Ich weiß aber, daß es Ihnen infolge Ihrer Krankheit nicht möglich war. Ich freue mich, daß es Ihnen heute wieder so gut geht, daß Sie an dieser Debatte teilnehmen können. Aber wir können die Debatte, die es im Innenausschuß gegeben hat, hier im Plenarsaal natürlich nicht fortführen oder gar zu Ende bringen; das schaffen wir nicht.Eine letzte Vorbemerkung, meine Damen und Herren von der SPD: Am Mittwoch im Innenausschuß ging Ihnen unser Änderungsantrag, gingen Ihnen unsere Vorschläge nicht weit genug. Heute lese ich nun in Ihrem Entschließungsantrag, daß die armen Soldaten nicht zur „Spiel- und Verschiebemasse" des Verteidigungsministers werden sollen. Also, irgendwie müssen Sie sich schon entscheiden, was dann nun werden soll, so oder so.
Nun aber zum eigentlichen Gegenstand dieser Debatte: Dank der veränderten weltpolitischen Lage, dank unserer konstruktiven Sicherheitspolitik und auf
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Meinrad BelleGrund der weitgehenden Beseitigung des Ost-WestKonflikts können wir — Gott sei Dank — unsere Streitkräfte auf einen Gesamtumfang von 370 000 Soldaten verringern. Zwangsläufig muß damit auch die Zahl der Unteroffiziere und Offiziere sowie der Bundeswehrbeamten den veränderten Verhältnissen angepaßt und reduziert werden.Gleichzeitig registrieren wir allerdings in weiten Bereichen des öffentlichen Dienstes erhebliche Probleme, die vorhandenen Stellen mit qualifzierten Mitarbeitern zu besetzen. Auf die besonderen Probleme im Nachwuchsbereich sei nur am Rande verwiesen.Diese allgemein schwierige Personalsituation hat sich in den letzten Monaten durch den Verwaltungsaufbau in den neuen Bundesländern noch erheblich verschärft. Aus dem vorhandenen Bestand heraus mußten qualifzierte Beamte und Angestellte in die neuen Länder abgeordnet bzw. versetzt werden. Wir bilden hier grundsätzlich nur entsprechend dem Bedarf aus. Deshalb entstehen auf diese Weise schmerzhafte Lücken im Personalbestand. So sind in den alten Bundesländern 12 000 Beamte als Rechtspfleger, die wir zum Aufbau des Grundbuchwesens in der ehemaligen DDR dringend benötigen, beschäftigt. Für das Beitrittsgebiet haben Fachleute einen Bedarf von 3 500 Rechtspflegern errechnet. Dieser erhebliche Neubedarf müßte aus der Zahl der vorhandenen Rechtspfleger gedeckt werden, was so natürlich nicht machbar ist.Neue, erweiterte Aufgaben erfordern zusätzliches Personal. Die Sonderbehörde Gauck soll bis Ende 1992 1 800 weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einstellen. Für die laufend steigende Zahl der Asylbewerber werden qualifzierte Sachbearbeiter und Entscheider gesucht. Rund 2 500 Bedienstete zusätzlich sind bis Mitte 1992 unbedingt notwendig.Meine Damen und Herren, in dieser besonderen Zeit können wir es uns wirklich nicht erlauben — ja, es wäre geradezu widersinnig — , Offiziere und Unteroffiziere mit 48 Jahren und Bundeswehrbeamte mit 55 Jahren in den vorzeitigen Ruhestand zu schicken.
Aus diesen Reihen wird im übrigen signalisiert, daß ein großes Interesse an der Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand keineswegs gegeben ist. Die Beamten und Soldaten wollen also weiterarbeiten.
Wir Innenpolitiker, insbesondere unser Arbeitsgruppenvorsitzender Johannes Gerster, haben die ursprüngliche Vorlage daher geändert und erheblich verbessert.
— „Wir Innenpolitiker" habe ich gesagt, natürlich auch die Kollegen von der FDP, die daran ganz entschieden und entscheidend mitgearbeitet haben. —
Eine Versetzung in den Ruhestand kann jetzt nur noch dann erfolgen, wenn für den Beamten eine anderweitige Tätigkeit oder für den Soldaten eine andere — angemessene — Verwendung im öffentlichen Dienst nicht möglich ist.Nach dem Beamtenrecht wäre eine Versetzung der Bundeswehrbeamten an andere Bundesdienststellen denkbar. Diesen Weg wollen wir jedoch nicht gehen.
Gerade bei der Gauck-Behörde und im Asylverfahren sind hochmotivierte, entscheidungs- und durchsetzungsfähige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unverzichtbar. Diese Eigenschaften, meine Damen und Herren, werden durch Zwangsversetzungen sicherlich nicht gerade gefördert. Im übrigen wäre eine Versetzung bei den Offizieren und Unteroffizieren wegen des Soldatenstatus gar nicht möglich. Wir wollen deshalb geeignete Kräfte durch Motivation für die neuen Tätigkeiten gewinnen.Wir haben daher sowohl zu dem Entwurf eines Personalstärkegesetzes als auch zu dem Entwurf eines Bundeswehrbeamtenanpassungsgesetzes Entschließungsanträge eingebracht. Darin wird die Bundesregierung um Überprüfung dazu Bebten, welche Anreize geschaffen werden können, um die Beamten für einen Wechsel in einen anderen Verwaltungsbereich zu gewinnen, oder wie die Tätigkeit des Soldaten in anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes erleichtert werden kann.
Leiten ließen wir uns dabei auch von den positiven Erfahrungen mit dem Maßnahmenpaket der Bundesregierung zum Aufbau der öffentlichen Verwaltung und der Justiz in den neuen Bundesländern.Nicht nur Motivationsüberlegungen wurden angestellt; soziale Gesichtspunkte dürfen ebenfalls nicht unberücksichtigt bleiben. Der überwiegende Anteil der Bundeswehrbeamten ist im mittleren bzw. in den unteren Besoldungsgruppen des gehobenen Dienstes beschäftigt. Familiäre Probleme, Wohnungsprobleme sind zu bedenken. Eine wohnortnahe Beschäftigung ist nicht immer möglich. Der Mehraufwand muß ausgeglichen werden.Wir erwarten die Vorschläge der Bundesregierung allerspätestens bis Ende Februar 1992. Sie sollen so bald wie möglich umgesetzt werden. Der Personalaufbau bei der Gauck-Behörde wie auch beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge muß forciert und umgehend abgeschlossen werden.Deshalb appellieren wir an alle beteiligten Dienststellen, die Entschließungen zügig umzusetzen und konstruktiv am Vollzug der heute zu verabschiedenden Gesetze zu arbeiten.
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Meinrad Belle— Ich habe bisher ganz gute Erfahrungen mit der Entschließung zum Aufbau der Verwaltung und der Justiz in den neuen Bundesländern gemacht.
Das hat sich sehr gut bewährt.
— Frau Kollegin Schulte, ich stelle fest, daß Sie heute nacht offenbar nicht ganz gut geschlafen haben.
Ich wünsche Ihnen in den Nächten vor den nächsten Plenardebatten eine bessere Nachtruhe.
Meine Damen und Herren, zum Schluß erlaube ich mir eine nicht ganz ernst gemeinte Bemerkung.
— Selbstverständlich; fürsorglich, wie ich bin. — Grund für die zusätzlichen Aktivitäten der Innenpolitiker war nicht der Neid auf die spazierengehenden vorzeitigen Ruheständler. Der kleine Reim von Wilhelm Busch „Wir mögen keinem gerne gönnen, daß er was kann, was wir nicht können" läßt uns zwar schmunzeln, aber nicht handeln; denn, meine Damen und Herren:Erstens. Die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers im öffentlichen Dienst gebietet die Verwendung geeigneter Beamter und Soldaten in anderen Verwaltungsbereichen vor der Versetzung in den Ruhestand.Zweitens. Der Steuerzahler könnte zu Recht nicht verstehen, wenn er auf der einen Seite vorzeitigen Ruhestand und Nichtstun mit 75 % Ruhegehalt finanzieren müßte und wir andererseits für neue Aufgaben zusätzliches Personal einstellten.
Ich verweise in diesem Zusammenhang auch auf das gestern vorgestellte Sachverständigengutachten.Meine Damen und Herren, ich bitte sie um Zustimmung zu den Gesetzentwürfen sowie zu den Entschließungsanträgen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung, und zwar zunächst über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Personalstärkegesetzes auf Drucksache 12/1269 und die Ausschußempfehlung auf Drucksache 12/1564.Dazu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion der SPD vor, über die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache12/1581? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt.Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 12/1582? Wer stimmt dagegen? — Auch dieser Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition abgelehnt.Wir stimmen jetzt über den Gesetzentwurf der Bundesregierung in der Ausschußfassung ab. — Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Enthaltung der SPD und gegen die Stimmen von PDS/ Linke Liste und Bündnis 90/GRÜNE angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in zweiter Beratung angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 12/1566. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist bei Enthaltung der SPD und gegen die Stimmen der PDS und des Bündnisses 90/GRÜNE angenommen.Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1567? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1583 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist bei zwei Enthaltungen ebenfalls abgelehnt.Wir stimmen jetzt über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Bundeswehrbeamtenanpassungsgesetzes in der Ausschußfassung auf den Drucksachen 12/1281 und 12/1558 ab. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Enthaltung der SPD und gegen die Stimmen der PDS und des Bündnisses 90/GRÜNE angenommen.Wir kommen damit zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in zweiter Beratung angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 12/1568. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist bei Enthaltung der SPD und gegen die Stimmen der PDS und des Bündnisses 90/GRÜNE angenommen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1991 4855
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthIch rufe den Zusatztagesordnungspunkt 8 auf:Beratung des Antrages der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNENZur Lage in Jugoslawien — Drucksache 12/1591 —Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich erteile dem Abgeordneten Heinrich Lummer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die gemeinsame Resolution, die wir heute verabschieden, ist geboten, und ich denke, sie ist notwendig. Sie soll unsere Entschlossenheit unterstreichen und einige Dinge klarstellen, die zeitweise unklar waren. Wir wollen klarstellen — und ich denke, das sollten wir mit Bestimmtheit tun —: Diejenigen, die Gewalt anwenden, müssen begreifen, daß sie keine Verbündeten haben.
Sie müssen begreifen, daß Gewaltanwendung keinen Erfolg haben wird. Wir wollen klarstellen, daß eine Politik vollendeter Tatsachen durch Europa nicht akzeptiert wird.Deshalb darf auch eine Friedenstruppe, die gut ist und die wir alle wünschen — wir möchten, daß sie zustande kommt — , nicht zu einem Instrument degradiert werden, das gewaltsame Annexionen oder Veränderungen, gewissermaßen Kriegsgewinne, sanktionieren soll. Das wäre nicht der Sinn der Sache.Meine Damen und Herren, wir haben manchmal in den zurückliegenden Monaten Ohnmacht und Hilflosigkeit gespürt. Wir sahen auch ein Stück Handlungsunfähigkeit der Europäischen Gemeinschaft. Manchmal mochte man gar verzweifeln, und — wenn ich das Wort von vorhin aufgreife — da wäre schon Grund genug, um den Schlaf gebracht zu werden. Aber auf der anderen Seite sind wir auch immer wieder geneigt zu hoffen und wollen dies nicht aufgeben. Jedenfalls soll klar sein: Am Ende darf das zynische Kalkül der Serben nicht aufgehen, daß die Welt in Untätigkeit und Handlungsunfähigkeit dem Geschehen dort zuschaut.Aber in der Tat, die Adressaten unserer Resolution sind nicht nur die jugoslawischen Republiken, sondern auch wir selbst, die Europäische Gemeinschaft. Man muß sich wirklich die Frage vorlegen: Was ist diese Gemeinschaft, wenn sie bei derartigen Herausforderungen, die nicht nur menschliches Leben zerstören, sondern auch unwiederbringliche Kulturgüter vernichten, nicht in der Lage ist, auf angemessene Weise zu einer Lösung beizutragen? Die Feststellung ist doch die: Ohne die Fähigkeit zu einer gemeinsamen Politik — auch im Bereich der Verteidigung — bleiben dieser Gemeinschaft essentielle Mängel anhaften.Einige Male war diese Gemeinschaft in der Situation, sich lächerlich zu machen und zum Gegenstande des Gespöttes zu werden. Die Eiertänze über dieFrage, ob Jugoslawien noch zu retten sei, dauerten Monate. Immerhin noch im April 1991 hat es eine Adresse der Gemeinschaft an Jugoslawien gegeben, die Assoziierungsverhandlungen zu befördern, wenn der Staat erhalten bleibt. Wir haben jetzt wieder einiges über die Frage der Abstimmung gehört: ob denn in den Gebieten, wo es in Kroatien serbische Mehrheiten gibt, über den Status dieser Gebiete Volksabstimmungen stattfinden sollten. Das alles sind Unklarheiten.Aber ich denke, wir wissen gemeinsam, daß Jugoslawien, so wie es war, nicht mehr zu retten ist. Deshalb ist die Anerkennung der Republiken, die es wollen, und die die notwendigen demokratischen Voraussetzungen dafür geschaffen haben, überfällig. Meine Damen und Herren, wir sollten im Hinblick auf die Formen künftiger Kooperation dieser Republiken nicht gar zu hoffnungslos sein. Dennoch bleibt der Satz richtig: Vor dem freiwilligen Verzicht auf Souveränität muß zunächst einmal die Akzeptanz und Anerkennung der Souveränität erfolgen; denn wer will schon unfreiwillig, zwangsweise davon etwas abgeben? Hier ist, so glaube ich, nach wie vor ein Stück Hoffnung vorhanden, weil die Sachzwänge groß sein werden.Es gibt in Deutschland ein Sprichwort, das sagt: Wer schnell gibt, gibt doppelt. — Wir hätten es tun sollen bei der Frage der Anerkennung.
Die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens ist überfällig. Richtig ist natürlich, daß keine Alleingänge erwünscht sind. Richtig ist aber auch, daß nicht einer allein möglicherweise durch ein Veto alles bremsen darf.Da gibt es eine Erklärung — Herr Staatsminister, ich zeigte sie Ihnen heute — , die irritierend ist, wenn sich darin etwa das Ergebnis der heutigen Gespräche hier in Bonn findet, daß alle gleichzeitig und gemeinsam anerkennen müssen. Dies kann auch nicht Sinn der Sache sein.
Ich meine, es ist auch deshalb notwendig, dies zu tun, weil manche Sanktionen, über die lange diskutiert worden ist, ihre Wirksamkeit erst dann voll entfalten können, wenn eine Anerkennung vorausgegangen ist.Meine Damen und Herren, ich denke, wir müssen aber auch zu einem Denken, das da oder dort vorhanden ist, ein Wort sagen. Es betrifft auch einige Verbündete. Es heißt: Historische Allianzen, alte Vorurteile und Neigungen dürfen nicht mehr zum Maßstab heutigen Handelns gemacht werden.Wenn wir auf eine einseitige Anerkennung verzichtet haben, dann auch deshalb, weil wir sagen wollen: Was 1941 war, ist endgültig vorbei; damit haben wir nichts zu tun. Uns geht es nicht um Einflüsse oder das Parteiergreifen für die eine oder andere Republik, sondern — wie es in diesem Antrag heißt — wir ergreifen Partei für Freiheit, Demokratie, Selbstbestimmung, Minderheitenschutz und friedliche Konfliktlö-
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4856 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1991
Heinrich Lummersung. Das ist der Sachverhalt, um den es wirklich geht.
Meine Damen und Herren, nur wer dies mit uns tut, hat in der Zukunft in der Europäischen Gemeinschaft einen Platz. Nur wenn die Republiken in Jugoslawien mit dem Problem der Minderheiten fertigwerden, wenn sie den guten Willen dazu haben, dann werden sie auch in Europa eine Chance haben können; dies ist eine Conditio sine qua non.Die Lage ist schwierig. Von Tag zu Tag befinden wir uns in einem Wechselbad zwischen Hoffnung und erheblichem Zweifel. Nun sind es wieder Hoffnungen, die dominieren; und wir hoffen in der Tat, daß es zum Gewaltverzicht, zu einer friedlichen Regelung kommt.Denn eines sollten alle begreifen, und dies will ich abschließend mit einem Zitat deutlich machen, Frau Präsidentin, das von Karl Kraus stammt; er ist ein Zyniker, er spricht bittere Worte, aber eben auch bittere Wahrheiten aus. Er hat einmal gesagt:Krieg ist zuerst die Hoffnung, daß es einem bessergehen wird, hierauf die Erwartung, daß es dem anderen schlechtergehen wird, dann die Genugtuung, daß es dem anderen auch nicht bessergeht, und hernach die Überraschung, daß es beiden schlechtergeht.Diese Erfahrung sollte man nicht allzuoft machen, sondern auch an dieser Stelle den friedlichen Weg gehen.
Jetzt spricht der Abgeordnete Günter Verheugen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Mit Unverständnis und Zorn verfolgen die Menschen in Europa, wie mitten unter ihnen die so mühsam und unter schweren Opfern errungenen Regeln des friedlichen Zusammenlebens der Völker zertreten und zerschossen werden.Die jugoslawische Tragödie betrifft nicht nur Jugoslawien; sie betrifft uns alle, weil Krieg in diesem Teil Europas Gefahr für ganz Europa bedeutet. Die friedliche Lösung der Konflikte in Jugoslawien ist für uns alle wichtig, weil wir nicht dulden dürfen, daß die Rückkehr zum Faustrecht in Europa Schule macht.In dem zusammengebrochenen Staatenblock, der früher der kommunistische Teil Europas war, erkennen wir die Keime zu einer Vielzahl von Nationalitätenkonflikten, deren gewaltsamer Ausbruch uns in eine Phase von Unsicherheit und Instabilität führen würde.Es zeigt sich, daß in den Jahrzehnten der kommunistischen Herrschaft keine tragfähigen nationalen Identitäten gestiftet wurden, sondern daß die Ruhe eine durch Terror und Unterdrückung erzwungene Friedhofsruhe war.Am dringlichsten ist die Beendigung des jugoslawischen Dramas für die Menschen in Jugoslawien selber. Sie sind die Opfer einer verantwortungslosen, Verderben bringenden Politik vieler ihrer Führer, die um ihrer Machterhaltung willen eine nationalistische, ja chauvinistische Orgie entfesselt haben.
Die Machthaber, vor allem in Serbien, aber beileibe nicht nur dort, haben sich in kalt berechnender Weise zunutze gemacht, daß die Menschen leicht verführbar sind. Sie haben Haß gesät, und es sind die Völker, die jetzt das Leid ernten müssen.Jeder, meine Damen und Herren, wird seine Meinung haben, wie Schuld und Verantwortung in der Jugoslawien-Krise verteilt sind. Aber wir haben Anlaß, deutlich zu sagen, daß pauschale Verurteilungen fast immer falsch und ungerecht sind. Das gilt auch für Serbien, das von Teilen der deutschen Publizistik mit geradezu jesuitischem Eifer gebrandmarkt wird.Es ist nicht immer ein kluger Kopf, der hinter dem steckt, was über Jugoslawien geschrieben wird.Das serbische Volk ist Teil Europas und wird es bleiben. Mit der Gleichsetzung von Serbien und Irak sowie Kroatien und Kuwait macht es sich mancher dann doch etwas zu einfach.
Auch das serbische Volk bleibt unser Partner bei allem Mangel an Verantwortung, den Teile seiner Führung offenbart haben.
Deutschland und Serbien, das war schon einmal ein schreckliches historisches Schauspiel, das wir auf gar keinen Fall noch einmal auf dem europäischen Spielplan sehen möchten. Hüten wir uns also vor Vereinfachungen und vorschnellen Verurteilungen. Ich stimme dem Kollegen Lummer zu: Wir ergreifen nicht Partei für oder gegen ein bestimmtes Volk in Jugoslawien, sondern wir ergreifen Partei für alle Völker Jugoslawiens.Aber es ist nun einmal die Wahrheit und muß festgehalten werden, daß das Unheil mit der massenhaften Verletzung von Menschenrechten in Kosovo und in der Wojwodina durch die serbische Führung begonnen hat. Im nachhinein müssen wir uns die selbstkritische Frage stellen, ob wir in dieser Situation nicht mehr hätten tun müssen, als Proteste nach Belgrad zu senden.
Wir sollten daraus lernen: Wer einmal mit der Unterdrückung von Minderheiten und der Mißachtung von Menschenrechten anfängt, der macht so schnell nicht halt, auch vor einem Krieg nicht.Wir haben dann das Aufpeitschen der Stimmungen und das Aufheizen von Emotionen auch in anderen Teilen Jugoslawiens erlebt. Schlimme, nicht entschuldbare Exzesse, z. B. gegen die serbische Minderheit in Kroatien, waren die Folge. So kam der Teufelskreis in Gang, den die Europäische Gemeinschaft und
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1991 4857
Günter Verheugendie KSZE trotz aller Bemühungen bisher nicht haben durchbrechen können.Aber man muß auch sagen: Noch sind nicht alle politischen Mittel ausgeschöpft, die Konfliktparteien zur Beendigung der Feindseligkeiten zu bewegen. Wer immer noch obstruieren will, dem sagt der Deutsche Bundestag mit der hier vorgelegten Entschließung sehr deutlich, muß wissen, daß es noch wesentlich härtere Sanktionen als die von der EG bisher beschlossenen gibt. Notfalls wird man bis zur totalen Einstellung jedweden Austausches von Gütern, Dienstleistungen und Kenntnissen gehen müssen.Nun gibt es seit gestern wieder neue Hoffnung. Aber wir sind schon zu oft enttäuscht, zu oft auch getäuscht und belogen worden, um jetzt schon an den Frieden glauben zu können. Ich meine allerdings, daß die Chance entschlossen genutzt werden muß, die sich aus der Bereitschaft aller Konfliktparteien zur Stationierung von Friedenstruppen auf Grund eines Mandates der Vereinten Nationen ergibt.Es ist daher angebracht, an die UNO, besonders an den Weltsicherheitsrat, zu appellieren, schnell zu handeln und sich nicht länger mit dem Argument vor der Verantwortung zu drücken, die UNO dürfe sich nicht in die inneren Angelegenheiten eines Mitgliedslandes einmischen.Wenn am East River in New York immer noch die Fahne Jugoslawiens weht, so symbolisiert diese Fahne nicht mehr den Staat, der einmal in die UNO eingetreten ist und eine Zeitlang als Sprecher der Blockfreien eine wichtige internationale Rolle gespielt hat. Dieser Staat hat aufgehört zu existieren. Er ist tot.Wer die verzweifelten Hilferufe der letzten Tage aus Dubrovnik noch im Ohr hat, wird der Forderung zustimmen, daß die Entsendung von Friedenstruppen nicht eine Sache von Wochen oder gar Monaten sein sollte, sondern am besten eine Sache von Tagen. Vor der Entsendung von Blauhelmen muß ganz deutlich festgehalten werden, daß es nicht die Aufgabe von Friedenstruppen der Vereinten Nationen sein kann, gewaltsam erobertes Gebiet für den Eroberer zu sichern. Wir werden keinen Meter einer gewaltsam veränderten Grenze anerkennen.Ein endgültiger Grenzverlauf kann nur das Ergebnis eines friedlichen Verhandlungsprozesses sein. Eroberte Gebiete sind daher zu räumen; die alten Grenzen müssen als Demarkationslinie von Friedenstruppen gesichert werden. Danach erst sind friedliche Korrekturen entsprechend den KSZE-Vereinbarungen möglich.Es stellt sich als ein Vorteil heraus, daß es Mitgliedsländer der Vereinten Nationen gibt — ich nenne vor allen Dingen Schweden und Kanada — , die in dankenswerter Weise Teile ihrer Streitkräfte in ständiger Einsatzbereitschaft als Friedenstruppen für die Vereinten Nationen halten, so daß der Zugriff schnell erfolgen kann und die benötigten Friedenstruppen schnell zur Verfügung stehen.Ich muß hier aber auch noch einmal deutlich sagen, daß eine deutsche Beteiligung an Friedenstruppen in Jugoslawien nicht in Betracht kommt, aus Respekt vor unserer Verfassung nicht, aber auch als Konsequenz aus der gemeinsamen Geschichte Deutschlands und Jugoslawiens nicht.Es geht nicht an, daß sich in dieser Situation Mitglieder der Bundesregierung öffentlich für die Beteiligung der Bundeswehr an einem militärischen Einsatz in Jugoslawien aussprechen.
Ich fordere den Bundeskanzler nachdrücklich auf, für Ordnung in seiner Regierung zu sorgen. Ich denke, es sind nicht nur wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in diesem Bundestag, sondern es ist ganz Europa, das einen Anspruch hat, zu wissen, was in dieser Regierung gilt.
Gilt das, was der Außenminister von diesem Pult aus und im Auswärtigen Ausschuß gesagt hat,
nämlich daß eine deutsche Beteiligung nicht in Frage kommt? Oder gilt das, was uns die Minister Schäuble und Blüm in diesen Tagen haben wissen lassen, wobei ich hinzufügen möchte, daß ich gerade von Herrn Bundesminister Schäuble als dem für die Verfassung verantwortlichen Minister unseres Landes etwas mehr Respekt vor den Bestimmungen des Grundgesetzes erwartet hätte.
Meine Damen und Herren, es hat sich in diesen Tagen ein breiter Konsens dahin gehend entwickelt, daß in nicht allzu ferner Zeit die nach Selbständigkeit strebenden jugoslawischen Republiken anerkannt werden sollten, wenn sie uns die Gewähr dafür bieten, daß sie die Prinzipien des Europarates und der KSZE befolgen, die Menschenrechte achten und die Minderheiten schützen werden. Voraussetzung für die Anerkennung muß auch die Bereitschaft der Republiken zu Formen sinnvoller wirtschaftlicher Kooperation untereinander und mit dem übrigen Europa sein.Mit Recht hat der Bundeskanzler in der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses am Mittwoch dieser Woche darauf hingewiesen, daß wir uns auch die Frage stellen müssen, was am Tage nach der Anerkennung geschehen soll. Es bleibt dringend zu wünschen, daß der von uns gedanklich bereits vollzogene Schritt der Anerkennung in der Praxis von allen, jedenfalls aber von möglichst vielen Mitgliedsländern der EG gleichzeitig unternommen wird.Die deutsche Jugoslawienpolitik ist manchen Mißdeutungen ausgesetzt gewesen. Sie war nicht immer schuldlos daran. Ich stelle deshalb noch einmal fest: Wir streben keine Einpflußsphären in Zentral-, Ostoder Südosteuropa an. Es geht uns nicht um die Sicherung künftiger Märkte. Aber wir handeln dennoch nicht ohne eigenes Interesse, weil wir wissen, daß auch wir nicht in Frieden leben können, wenn Europa an vielen Orten in Flammen stünde. Ich denke, es ist allemal besser, zu verhindern, daß Städte zu Schutt
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4858 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1991
Günter Verheugenund Asche zerbombt werden, als hinterher die Trümmer zu beseitigen.
Meine Damen und Herren, die breite Gemeinsamkeit, die der Deutsche Bundestag bei der Vorlage dieses gemeinsamen Antrags gezeigt hat, soll ein Signal für die Menschen in Jugoslawien sein, daß uns ihr Schicksal nicht gleichgültig läßt und daß wir alles tun wollen, was in unseren Kräften steht, um dem sinnlosen Morden ein Ende zu bereiten und einen dauerhaften Frieden für die Völker Jugoslawiens zu schaffen.Ich bitte Sie, dem gemeinsamen Antrag zuzustimmen.
Es spricht jetzt der Abgeordnete Ulrich Irmer.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Es ist in der Jugoslawienkrise üblich geworden, Schuldige zu suchen und den Finger aus Hilflosigkeit auf jemanden zu richten, obwohl vielleicht gar nicht mehr hätte getan werden können.Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich Lord Carrington für seine Bemühungen danken. Ich möchte auch dem Bundesaußenminister dafür danken, daß er unermüdlich den Versuch gemacht hat, die Partner in der EG in dieser Frage auf eine vernünftige Linie zu bringen.Aber wir müssen anerkennen — Herr Lummer hat das angesprochen — : Die EG hat den Eindruck der Hilflosigkeit gemacht. Aber ich frage dagegen: Was hätte sie denn tun können?
Wir müssen eine Folgerung daraus ziehen: Wir müssen die EG in der Zukunft mit den Entscheidungsinstrumenten ausstatten, die sie braucht, um in solchen Krisen besser, geschlossener, einheitlicher und vernünftiger auftreten zu können.
Ich sage dies hier und heute, weil wir kurz vor dem Maastrichter Gipfel stehen. Dort müssen die Konsequenzen aus der Situation gezogen werden. Wir sehen, daß unsere EG im derzeitigen Zustand nicht in der Lage ist, so aufzutreten, wie wir es uns alle wünschen. Daraus muß die Konsequenz gezogen werden: Die EG muß endlich zur Europäischen Politischen Union werden und mit dem entsprechenden Handlungsspielraum und den entsprechenden Handlungskompetenzen ausgestattet werden.
Herr Verheugen hat zu Recht erwähnt, daß es Mode geworden ist, die Serben zu verteufeln. Ich möchte hier ganz klar feststellen: In unserer Resolution steht, daß wir die derzeitige serbische Führung für die Hauptverantwortlichen für das halten, was in Jugoslawien geschieht. Das ist richtig; dabei bleiben wir. Aber wir verurteilen nicht das serbische Volk. Das serbische Volk wird unter den Fehlern seiner jetzigen Führung auf Dauer noch sehr zu leiden haben.
Wir sollten auch dem serbischen Volk auf Dauer die Hand entgegenstrecken und es nicht verteufeln.Ich möchte an diese Stelle einen Dank an unsere jugoslawischen Mitbürger hier in Deutschland richten. Es zeigt sich, daß der Haß die Völker zumindest nicht insgesamt ergriffen hat. Ich freue mich darüber. Ich glaube, wir müssen dankbar sein, daß sich unsere jugoslawischen Mitbürger hier so besonnen verhalten, sich nicht von Haß anstacheln lassen und ruhig geblieben sind.
Auch das ist ein gutes Zeichen für den Grad der bereits erfolgten Integration.Es ist gesagt worden — ich unterstreiche das — , die UN-Friedenstruppen, die möglicherweise dort hingeschickt werden, dürften erst dann zum Einsatz kommen, wenn der Waffenstillstand beschlossen ist und auch eingehalten wird. Es geht nicht an, daß wir UN-Friedenstruppen irgendwo hinschicken, wo sie gegebenenfalls kämpfen müssen. Sie dürfen nicht zur Absicherung einer gewaltsam verschobenen Grenzlinie mißbraucht werden. Die Grenzkorrekturen, die dort gewaltsam vorgenommen werden, müssen wieder zurückgenommen werden. Später kann man verhandeln.Es ist üblich geworden, in der Anerkennung der einzelnen Republiken das Allheilmittel zu sehen. Selbstverständlich sollten wir die Anerkennung anstreben, aber dabei sind drei Punkte zu beachten.Erstens. Wir sollten nicht im Alleingang vorgehen; Herr Lummer und Herr Verheugen haben das erwähnt. Es darf kein zweites 1941 geben. Es geht aber auch nicht, daß wir auf den letzten im Geleitzug warten. Wenn die bedeutenden Länder der Europäischen Gemeinschaft und die Mehrzahl der Länder bereit sind, die Anerkennung zu vollziehen, dann sollten wir uns nicht dem Veto eines einzelnen oder zweier beugen.Als zweiter Gesichtspunkt ist zu beachten: Es dürfen an den Vollzug der Anerkennung keine zu hohen Erwartungen gerichtet werden. Die Anerkennung als solche wird das Problem nicht lösen. Vielmehr liegt die Problemlösung ausschließlich darin, daß die Rechte der Minderheiten gewahrt werden und daß die Völker bereit sind, friedlich miteinander umzugehen. Die Republiken, die die Anerkennung wollen, müssen jetzt schon eine Regelung der Minderheitenrechte treffen.Schließlich darf niemand von anderen etwas erwarten, was er nicht selber zu geben bereit ist.
Es ist völlig ausgeschlossen, daß Serbien für seineMinderheit in Kroatien einen besseren Status ver-
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Ulrich Irmerlangt, als es selber den Albanern im Kosovo und den Ungarn in der Wojwodina zu geben bereit ist.
Ich appelliere an Serbien: Stellen Sie schleunigst, auch um Ihren guten Willen zu beweisen, die Autonomie im Kosovo und in der Wojwodina wieder her. Ohne diese wird es in Jugoslawien keinen Frieden geben.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Dietmar Keller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Noch immer hält das entsetzliche Blutvergießen in Jugoslawien an. Zugleich keimt mit dem Vorschlag, nach der Waffenruhe UN-Friedenstruppen zu entsenden, eine neue Hoffnung.
Der Streit entzündet sich jetzt bei einigen schon wieder an der Frage, an welcher Linie die Blauhelme stationiert werden sollen. Wer in dieser Frage erneut voreilig und einseitig Partei ergreift, zeigt ein kurzes Gedächtnis und wenig Sinn für Realitäten. Wer gar in deutschen Landen von Beteiligung der Bundeswehr an UN-Truppen spricht, handelt gegen das Grundgesetz und gegen deutsche Interessen.
Uns allen sind die Entstehung des Konfliktes und die Tatsache gut in Erinnerung, daß die 600 000 Serben in Kroatien, fast 15 % der Bevölkerung, bereits lange vor der einseitigen Unabhängigkeitserklärung Zagrebs in einer Volksbefragung erklärt hatten, daß sie unter keinen Umständen den Weg aus Jugoslawien in ein separates Kroatien mitgehen und wie bisher mit den anderen Angehörigen ihres Volkes in einem einheitlichen Staat leben wollen.
Die darauffolgenden tragischen Ereignisse, die eskalierenden bewaffneten Auseinandersetzungen, die Grausamkeiten des Bürgerkrieges, das Vorgehen der kroatischen sogenannten HSO-Einheiten, die in der Tradition der faschistischen Ustascha-Verbände stehen, haben die trennenden Klüfte nur noch vertieft.
Für alle Seiten ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, die außerordentlich komplizierte Lage nüchtern einzuschätzen und daraus eine realistische Politik abzuleiten, die den Kriegshandlungen ohne Zeitverlust ein Ende setzt.
Das gilt auch für die Bundesregierung. Ihr anfänglicher Schlingerkurs und die darauffolgende Vorreiterrolle für eine Politik der einseitigen Parteinahme haben den Konflikt nicht entschärft und schlimmen Argwohn gegenüber den Absichten des vereinigten Deutschlands geweckt.
Die jüngste Entwicklung bietet der Bundesrepublik noch einmal die Chance, die verhängnisvolle einseitige Parteinahme aufzugeben, die Fähigkeit zur Vermittlung wiederzugewinnen und zu einer friedensstiftenden Politik zu finden. Wer will, daß der irrsinnige nationale Haß in Jugoslawien nicht noch weitere und größere Opfer fordert, darf diese Chance nicht leichtfertig vertun.
Ich erteile jetzt unserem Kollegen Gerd Poppe das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn die kriegführenden Parteien im vormaligen Jugoslawien seit gestern gleichermaßen ihre Bereitschaft bekunden, UN-Friedenstruppen ins Land zu lassen, so bedeutet dies vor allem, daß sie kriegsmüde sind. Trotzdem sind Zweifel an einer baldigen friedlichen Einigung berechtigt.Erstens wurde jeder bisher vereinbarte Waffenstillstand gebrochen. Die serbische Armee, fälschlich noch immer jugoslawische Bundesarmee genannt, hat noch jedesmal die Zusagen des serbischen Präsidenten Milošević ignoriert, oder soll ich sagen: ignorieren sollen?Zweitens gehen die Vorstellungen Kroatiens und Serbiens über Stationierungsgebiete der Friedenstruppen weit auseinander: Kroatien wünscht die Aufstellung entlang seiner Grenze; Serbiens Interesse hingegen ist es, die von ihm beanspruchten Teile Kroatiens durch die Stationierung der Friedenstruppen entlag deren Grenzen zum übrigen Kroatien markieren zu lassen.Welche Aussichten der jüngste Friedensplan der EG hat, bleibt also abzuwarten. Selbstverständlich ist jeder Vermittlungsversuch zur Erzielung einer friedlichen Lösung zu unterstützen. Die bisher erfolglose Vermittlung aber dadurch befördern zu wollen, daß man einer der beiden Seiten mit Ausschluß droht, könnte man als Schildbürgerstreich bezeichnen, wenn eine solche Drohung nicht Ausdruck der Verzweiflung wäre. Nur, eine einseitige Konferenz wäre keine Friedenskonferenz mehr.
Drittens wäre es Augenwischerei, anzunehmen, daß mit einer eventuellen Beilegung des serbisch-kroatischen Konflikts — unter welchen Bedingungen auch immer — im ehemaligen Jugoslawien Frieden einzöge. Das Konfliktgebiet Bosnien—Herzegowina ist schon programmiert. Ebenso gefährlich ist der serbische Anspruch auf das Kosovo. Die dortige Mehrheit der Albaner wird von Serbien in einer Weise unterdrückt, die der Demokratie und den Menschenrechten Hohn spricht. Dies ist bekannt — auch hier im Bundestag — , wird aber mitunter doch vergessen.Inzwischen fordern die zwei Millionen Albaner im Kosovo ihre Anerkennung als gleichberechtigtes Volk mit Anspruch auf eine eigene Republik. Dies ist das Resultat ihrer Erfahrungen mit Serbien und dem Desinteresse der politischen Öffentlichkeit in Europa an ihrer Situation.
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4860 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1991
Gerd PoppeDie Anerkennung der Realität im ehemaligen Jugoslawien, wie sie in dem vorliegenden interfraktionellen Antrag weitgehend zum Ausdruck kommt, darf nicht bei der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Slowenien und Kroatien enden. Wer an der Beilegung und Eindämmung der Konflikte interessiert ist — das muß jeder in Europa sein —, kann nur fordern, daß die Regierungen schneller und konsequenter als bisher alle politischen und wirtschaftlichen Mittel zur Austrocknung der Gewaltpotentiale ausschöpfen.
Ich erteile jetzt dem Herrn Staatsminister im Auswärtigen Amt, Helmut Schäfer, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung begrüßt den Entschließungsentwurf zu Jugoslawien nachdrücklich. Sie sieht darin eine Unterstützung ihrer Politik. Von Anfang an war es Auffassung der Bundesregierung, daß die Völker Jugoslawiens allein über die Zukunft des Landes zu entscheiden haben. Diesen Grundsatz hat der Außenministerrat der KSZE am 19. Juni 1991 in Berlin festgelegt. Diesem Prinzip ist auch die Bundesregierung verpflichtet.Gemeinsam mit ihren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft tut die Bundesregierung alles in ihrer Macht Stehende, um den Konflikt friedlich und auf dem Verhandlungsweg beizulegen. Dabei gilt es, im Einklang mit den Prinzipien der Schlußakte von Helsinki und der Pariser „Charta für ein Neues Europa" eine Regelung zu finden, die zugleich die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts, die Achtung der Menschenrechte und einen umfassenden Schutz der Minderheiten gewährleistet. Keines dieser Postulate kann absolut gesetzt werden; sie stehen vielmehr in einem engen untrennbaren Zusammenhang. Der Kampf um Grenzen hat nur Leid und Unglück über Europa gebracht. Er muß endlich aufhören. Für die Stabilität in Europa ist die Einhaltung des im Völkerrecht und in den KSZE-Verpflichtungen verankerten Prinzips der Unverletzlichkeit der Grenzen unverzichtbar.
Daher wird die Europäische Gemeinschaft gewaltsamen Gebietserwerb oder einseitige Verschiebungen der inneren oder äußeren Grenzen Jugoslawiens nicht anerkennen.Auf Vorschlag von Frankreich und Deutschland hat die Europäische Gemeinschaft die Konferenz über Jugoslawien einberufen. Seit dem 7. September 1991 wird unter dem Vorsitz von Lord Carrington in Den Haag verhandelt. Der Vertragsentwurf von Lord Carrington für die Neugestaltung Jugoslawiens trägt den berechtigten Anliegen aller Republiken und aller nationalen Gemeinschaften und ethnischen Gruppen in Jugoslawien Rechnung. Dies erlaubt den Republiken, die es wünschen, den Weg in die Unabhängigkeit. Sie bietet ihnen aber auch die Möglichkeit, künftig in lokkerer Assoziierung oder in engeren Formen der Zusammengehörigkeit, insbesondere im wirtschaftlichen Bereich, zusammenzuarbeiten. Die Entscheidung darüber müssen die Republiken frei und ohne Zwang treffen können.Am 8. November 1991 hat die Europäische Gemeinschaft in Rom die Verhängung von Sanktionen gegen die Verhandlungsstörer und gegen den Hauptverantwortlichen für die Verletzungen der Waffenstillstandsvereinbarungen beschlossen. Die Sanktionen werden von positiven, noch endgültig zu beschließenden Kompensationsmaßnahmen zugunsten der friedensbereiten, kooperationswilligen Republiken begleitet werden.Die Europäische Gemeinschaft hat sich erneut an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gewandt, um ein Ölembargo der gesamten Völkergemeinschaft gegen Jugoslawien durchzusetzen. Es zielt auf die jugoslawische Volksarmee, denn es ist vor allem diese sogenannte „Volksarmee", die für die massive Eskalation der Gewalt in Kroatien verantwortlich ist. Was sie tut und was sie getan hat, steht in keinem Verhältnis zu dem, was auch die kroatische Seite zu verantworten hat.Serbien hat mit seinen kaum verhüllten Territorialansprüchen den Haager Verhandlungsprozeß immer wieder auf unzumutbare Weise aufgehalten. Diese Politik darf nicht hingenommen werden. Am 10. Oktober ist in Den Haag ein Zeitrahmen von höchstens zwei Monaten für den Abschluß der Verhandlungen vereinbart worden mit der Perspektive der Anerkennung der Republiken, die dies wünschen, und mit dem gleichzeitigen vollständigen Abzug der jugoslawischen Volksarmee aus Kroatien. Er muß eingehalten werden. Daher müssen die Verhandlungen, wenn nicht anders möglich, auch ohne Serbien zügig fortgesetzt werden. Serbien bleibt aber aufgefordert, jederzeit an den Verhandlungstisch zurückzukehren, muß aber endlich mit einer konstruktiven Haltung zur Lösung der Krise beitragen.Auf Vorschlag von Bundesaußenminister Genscher hatten die Außenminister der Europäischen Gemeinschaft am Dienstag in dieser Woche in Noordwijk beschlossen, Lord Carrington nach Jugoslawien zu entsenden — was inzwischen bereits geschehen ist —, um dort zu erkunden, ob nunmehr der Einsatz einer VN-Friedenstruppe in den Krisengebieten in Frage kommt. Dies fordern inzwischen alle Konfliktparteien in Jugoslawien. Eine solche Truppe kann jedoch nur entsandt werden, wenn zuvor ein wirksamer Waffenstillstand hergestellt ist. Sie müßte so zwischen den Parteien stationiert sein, daß sie Grenzänderungen in keinerlei Weise präjudiziert. Bundeskanzler Kohl hat die Präsidenten von Slowenien und Kroatien zu einem baldigen Besuch nach Bonn eingeladen. Wir werden mit ihnen darüber sprechen, unter welchen Modalitäten ihr Anspruch auf Unabhängigkeit zu verwirklichen ist.Von allen Republiken, die unabhängig werden wollen, wird — zu Recht und möglichst unverzüglich — der umfassende, verfassungsrechtlich abgesicherte und internationaler Kontrolle unterliegende Schutz der Minderheiten, so wie es Lord Carrington in seinem Vertragsentwurf vorschlägt, erwartet. Dies ist um so wichtiger, als festeht, daß keine der Republiken eine ethnisch homogene Bevölkerung haben wird. In allen Republiken muß für alle nationalen Gemein-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1991 4861
Staatsminister Helmut Schäferschaften und Minderheiten der gleiche Rechtsstandard gelten, also nicht etwa nur für die Serben in Kroatien, sondern — wie das hier mehrfach heute schon ausgeführt worden ist — z. B. auch für die Albaner im Kosovo und für die ungarische Minderheit in der Wojvodina. Die am 22. Oktober in Prag beschlossene KSZE-Menschenrechtsmission wird bei der Prüfung der Menschenrechtslage eine wichtige Rolle spielen.Die Menschen in Jugoslawien, meine Damen und Herren, denen wir in Freundschaft verbunden sind, haben genug gelitten und unbeschreibliche Opfer gebracht. Was wir in dieser bedrückenden Situation an humanitärer Hilfe leisten können, tun wir. Die EG-Außenminister haben zudem auf Frankreichs Vorschlag vor drei Tagen beschlossen, die UNICEF mit dem Ziel einzuschalten, Kinder aus Dubrovnik und anderen bedrohten Städten in Kroatien zu evakuieren.Die Zeit der Zerstörung muß enden. Die Völker Jugoslawiens verdienen Frieden und eine gedeihliche Zukunft. Dazu wollen wir mit allen unseren Kräften beitragen. Der Deutsche Bundestag geht heute mit seiner gemeinsamen Entschließung einen weiteren Schritt in diese Richtung.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir stimmen ab über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP sowie der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/1591. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist dieser Antrag einstimmig angenommen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 15 und den Zusatzpunkt 9 der Tagesordnung auf:
15. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gernot Erler, Hans Gottfried Bernrath, Lieselott Blunck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Soforthilfeprogramm für die Sowjetunion und ihre Republiken
— Drucksache 12/1321 —
b) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zur Sowjetunion und zu den baltischen Staaten
— Drucksache 12/1250 —
ZP 9 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP Hilfe zur Selbsthilfe für die Sowjetunion und ihre Republiken
— Drucksache 12/1580 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft
Auswärtiger Ausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
EG-Ausschuß Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. Ich höre und sehe keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem unserem Kollegen Gernot Erler das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wovon reden wir? Nicht von Dingen, die man aus Geberlaune tut oder auch läßt, nicht vom Wohlwollen gegenüber einem Nachbarn, dem wir uns verpflichtet fühlen, sondern davon, ob in einem Sechstel der Erde auch nach diesem Winter der Weg zu Demokratie und ökonomischem Aufbau noch weitergehen wird oder ob dort die Fahnen der Anarchie wehen werden oder gar das Chaos des sogenannten „bunt", des Volksaufstands, ausbrechen wird, davon, was eine aus Not außer Kontrolle geratene Entwicklung in einem Nachbarland bedeutet, das immer noch vollgestopft ist mit gefährlichsten Waffen, auch solchen mit atomarer Vernichtungskraft, und schließlich davon, was eine solche Worst-case-Entwicklung die Weltgesellschaft kosten würde.Mit anderen Worten: Wir sprechen von existentiellen westlichen, deutschen Interessen und von der Frage: Tun wir genug für diese Interessen, kommen wir unserer Verantwortung ausreichend nach, abgelenkt wie wir sind durch die Herausforderungen der wirtschaftlichen und sozialen Integration des größeren Deutschland?Es wäre gefährlich, wenn das Bewußtsein des Westens beim 21. August 1991 stehenbliebe. Damals gab es etwas zu feiern: den Sieg der Heldenfigur Jelzin über einen dilettantischen Putsch der Reaktionäre und danach das Beiseiteschieben jener Blockierungsmacht aus KGB, Apparat und KP, die den Reformkräften immer wieder in den Arm fielen. Diese Blockierungskräfte haben im August ihre institutionelle Macht verloren, endlich. Ihre Vertreter überleben im Dickicht der Schattenwirtschaft oder mit Techniken chamäleonartiger Anpassung.Aber Siege kann man nicht essen. In Rußland und den anderen Republiken des bisherigen Sowjetreiches breitet sich Hunger aus. Jelzin schätzt, daß 80 Millionen der 142 Millionen Einwohner seiner Riesenrepublik arm sind und Not leiden. Das sind fast 60 % der Menschen in dieser Republik — und in den anderen ist die Lage noch schlechter.Heute, zwölf Wochen nach dem Putsch, ist es schwieriger geworden, die Krisensituation konservativen Sündenböcken anzulasten. Was jetzt nicht besser wird, geht auf die Kappe der Demokraten, der Sieger der August-Tage. Wehe den Völkern der Sowjetunion, wehe uns, wenn sie scheitern! Andere politische Kräfte stehen bereit, sie zu ersetzen. Was dann staatliche Gewalt und damit auch Kontrolle über Großtechnik und Waffen noch vermögen werden, läßt sich nur ahnen. Auf jeden Fall steckt im Scheitern derer, die nach dem Putsch Verantwortung übernommen haben, ein unabsehbares Risiko für Deutschland und für Europa.
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4862 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1991
Gernot ErlerDie aktuellen Nachrichten aus Moskau und den Republiken erschrecken uns. Die Bevölkerung wird mit einer Verachtfachung der Preise für Brot und Zucker konfrontiert; der Preis anderer Grundnahrungsmittel steigt um das Sechsfache. Schon zeichnet sich ab, daß die Energievorräte nicht ausreichen werden, um alle Zimmer über den Winter, der bereits angefangen hat, zu heizen. Selbst Wasser soll knapp werden.Es ist gut, daß zwischen Regierung und Opposition Einigkeit darüber herrscht, daß jetzt gehandelt werden muß. Wir begrüßen es, daß nach Vorlage unseres Antrags „Soforthilfeprogramm für die Sowjetunion und ihre Republiken" am 16. Oktober jetzt die CDU/ CSU und die FDP vor zwei Tagen einen Antrag unter dem Titel „Hilfe zur Selbsthilfe für die Sowjetunion und ihre Republiken" vorgelegt haben.Es gibt mehrere Punkte, in denen diese Anträge in dieselbe Richtung gehen. Als einen davon möchte ich hervorheben, daß bei Nahrungsmittellieferungen einmütig erwartet wird, daß diese durch Ankauf und Lieferung von Agrarüberschüssen aus den mittel- und osteuropäischen Ländern, den traditionellen Lieferanten für die Republiken der Sowjetunion, realisiert werden sollen. Das ist eine gute Botschaft nach Warschau, Budapest, Sofia und anderswohin.Aber es gibt auch Unterschiede. Vielleicht hängen sie damit zusammen, daß die Kollegen von den Regierungsparteien die Situation als noch nicht so dramatisch einschätzen. In ihrem Antrag ist von „Störungen im Wirtschaftsprozeß" beim Übergang zur Marktwirtschaft und von der Gefahr die Rede, daß die Menschen dort diese womöglich als ein „Abgleiten in wirtschaftliche Unsicherheit oder gar Hunger und Not" empfinden könnten. Aus meiner Sicht ist das eine zu romantisierende Verharmlosung des schon heute erreichten Zustands, verbunden mit einem Verzicht darauf, die soeben angesprochenen politischen Folgemöglichkeiten zu berücksichtigen.Der Tenor des Antrags der Regierungsparteien läßt sich mit einem Satz beschreiben: Jetzt sind erst die anderen dran. Richtig ist, daß kein Land in den letzten Monaten mehr Hilfe für die Republiken der Sowjetunion geleistet hat als Deutschland. Das rechtfertigt aber nicht, in dieser Situation jetzt allein auf die Leistungen der EG zu verweisen und einen erwartungsvollen Blick auf die anderen großen Industrienationen der Welt zu richten.Wir müssen weiter vorangehen. Dazu reicht das nicht, was Sie hier unter dem Titel „Hilfe zur Selbsthilfe" aufgeschrieben haben.
Sie verweisen z. B. auf die Möglichkeiten der Beratung beim Aufbau neuer politischer und ökonomischer Strukturen, ohne eine Erweiterung der bisherigen Programme zu fordern.Wissen Sie eigentlich, daß die Bundesregierung im Jahr 1991 ganze 11 Millionen DM für die Aus- und Weiterbildung von Fach- und Führungskräften der Sowjetwirtschaft ausgibt, daß aus Mitteln des BMWi für Beratungs- und Seminarveranstaltungen weitere 400 000 DM zur Verfügung stehen und für Unternehmens-Consulting nicht mehr als 3,5 Millionen in diesem Jahr investiert werden — ein Betrag, der übrigens im Haushalt für 1992 wenigstens auf 6 Millionen erhöht werden soll? Das ist nicht genug, um Kenntnisse und Erfahrungen einer der stärksten Industrienationen der Welt an zwölf im Umbruch und Aufbau befindliche Republiken weiterzugeben.Sie rufen außerdem die deutsche Wirtschaft auf, sich in den sowjetischen Republiken zu engagieren, gestehen aber im selben Satz ein, daß die Voraussetzungen dafür nicht zureichend sind. Wissen Sie eigentlich, daß die deutsche Industrie dort — niemand wird ihr das übelnehmen können — im Jahr 1990 ganze 24 Millionen DM und im Jahr 1991 bisher 13 Millionen DM investiert hat? Wenn man sich diese Zahlen anschaut und sich ein bißchen darüber informiert, in welch aktueller Not sogar die deutsch-sowjetischen Gemeinschaftsunternehmen, die Pionierleistungen erbracht haben, jetzt geraten sind, dann kann man nur sagen: Ihr Aufruf geht schlicht an den Realitäten vorbei. Er hat vielleicht in drei bis vier Jahren einen Sinn.Nein, meine Damen und Herren, wir müssen über die 2 Milliarden ECU Gesamthilfe der Europäischen Gemeinschaft, von denen die Bundesrepublik 560 Millionen ECU übernehmen wird, hinauskommen und jetzt mehrere konkrete Hilfsprojekte parallel vorbereiten.Der Antrag der SPD nennt sie: Es sind Lieferungen von Hilfsgütern in die sowjetischen Republiken im Umfang von etwa 10 Milliarden DM durch die Industrienationen vorzubereiten. Dabei müssen wenigstens vorübergehend die traditionellen Lieferbeziehungen unserer osteuropäischen Nachbarn in die Sowjetunion wiederbelebt werden. Das Lieferprogramm ist in intelligenter Weise mit einem Anschub für die überfälligen Wirtschaftsreformen — in diesem Fall mit der Agrarreform — in der Sowjetunion zu verbinden. Spezielle Maßnahmen zur Beseitigung der logistischen Engpässe für die Lieferung und Verteilung von Hilfsgütern sind sofort in Angriff zu nehmen.Bei den deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen ist eine strikte Konzentration auf Einzelprojekte notwendig, die durch einen deutsch-sowjetischen Projektförderrat zu leisten ist. Jede Förderung nach der Gießkannenmethode ist sinnlos. Einige der deutsch-sowjetischen Joint-ventures brauchen dringend eine Überbrückungshilfe. Und schließlich: Die Beratungshilfe insgesamt und dabei auch die Abstimmung und Beratung auf der Ebene der Parlamente muß umgehend intensiviert werden.Meine Damen und Herren, wir hoffen, daß wir uns in den Fachausschüssen mit Ihnen über diese Vorschläge verständigen können. Dies wird eine Diskussion über den richtigen Weg zu einem Ziel sein, über dessen Bedeutung wir uns einig sind; und das ist gut so.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Dr. Rudolf Sprung.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1991 4863
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Nachrichten, die uns aus dem ehemaligen sowjetischen Imperium tagtäglich erreichen, zeugen von einer sich dramatisch zuspitzenden Lage, die es dringend erforderlich erscheinen läßt, daß sich die westlichen Industrienationen umgehend auf ein gemeinsames umfassendes Hilfsprogramm einigen. In Anbetracht der hier noch bestehenden Differenzen begrüße ich es für die CDU/CSU-Fraktion sehr — und ich stimme insoweit mit Herrn Erler voll und ganz überein — , daß im Deutschen Bundestag eine weitgehende Übereinstimmung über die Notwendigkeit rascher und durchgreifender Hilfen — auch über Einzelheiten, wie Sie gleich noch sehen werden — besteht.Ich glaube, ich kann im Namen aller Kolleginnen und Kollegen sprechen, wenn ich an dieser Stelle auch der Bundesregierung für ihre intensiven Bemühungen danke, auf internationaler Ebene eine Einigung in dieser Sache voranzubringen.
Zugleich ist zu hoffen, daß diese Bemühungen bald von Erfolg gekrönt sein werden.Meine Damen und Herren, Hauptziel der wirtschaftlichen Hilfsmaßnahmen muß es sein, mit Hilfe zur Selbsthilfe die Sowjetunion und ihre Republiken in die Lage zu versetzen, so schnell wie möglich wirtschaftlich gesunde Strukturen zu entwickeln, internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erlangen und insbesondere ihre natürlichen Ressourcen, allem voran die Erdöl- und Erdgasförderung, deren Produkte ja direkt weltmarktfähig sind, effizient und umweltgerecht zu nutzen.Von herausragender Bedeutung für den wirtschaftlichen Aufschwung der Länder in Osteuropa ist darüber hinaus die Möglichkeit, für eigene Produkte Absatzmärkte zu finden, nicht nur im eigenen Land, sondern auch außerhalb. Dies kann nur dann gelingen, wenn wir zum einen für Produkte aus diesen Ländern unsere Märkte öffnen und ihnen zugleich dabei helfen, möglichst schnell Waren zu produzieren, die auf unseren Märkten wettbewerbsfähig sind; denn der Aufbau einer leistungsfähigen Wirtschaft, die der Bevölkerung eine ausreichende Lebensgrundlage bietet, ist ohne eine Integration dieser Länder in die arbeitsteilige Weltwirtschaft nicht möglich. Deshalb sollte auch möglichst bald nicht nur ein Beitritt zum IWF und zur Weltbank, sondern auch zum GATT erfolgen. Auch die Schuldendienstfähigkeit hängt ganz entscheidend von der Steigerung der Exporte ab. Nur durch sie können die dafür nötigen Devisen erwirtschaftet werden. Ein neuer Handelsprotektionismus auf seiten der westlichen Industrienationen wäre der falscheste Weg. Die Bundesregierung muß daher allen solchen Tendenzen mit Entschiedenheit entgegentreten.
Dennoch, meine Damen und Herren, möchte ich vor einer einseitigen Ausrichtung der Produktionsstrukturen und des Handels auf die westlichen Industrienationen warnen. Ich stimme da mit Ihnen überein, Herr Erler. Wichtig ist auch der Erhalt der traditionellen Wirtschafts-, Kontakt- und Absatzwege zwischen denRepubliken und innerhalb der Staaten des ehemaligen RGW. Sie stellen ein für die zukünftige Entwicklung unverzichtbares und auch wertvolles Kapital dar, das unbedingt genutzt werden sollte.Meine Damen und Herren, ebenso wichtig wie das Ob von Hilfsmaßnahmen ist, wie die für Investitionen zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt werden. Die Erfahrungen, die wir in Deutschland bis heute beim wirtschaftlichen Umbau in den neuen Bundesländern sammeln konnten, geben dafür wichtige Orientierungspunkte.Erstens. Die politische Ungewißheit um den zukünftigen Gang der Reformen muß schnellstmöglich beseitigt werden. Klare politische Zielvorgaben für die Schaffung der Voraussetzungen für eine funktionierende Marktwirtschaft sind für einen schnellen und erfolgreichen Wandel unverzichtbar. Wir selbst konnten in den letzten Monaten erfahren, welche Schwierigkeiten bei der Schaffung marktwirtschaftlicher Strukturen in einem ehemals sozialistischen System zu bewältigen sind. Unsere Erfahrungen sollten wir im Rahmen von Politikberatung weitergeben. — Auch hier besteht Übereinstimmung mit Ihnen, Herr Erler.Zweitens. Bis die Rahmenbedingungen fixiert sind, sollte die internationale Förderung nur für im voraus bestimmte Projekte mit dem Ziel eingesetzt werden, direkt und möglichst unmittelbar zur Stärkung der wirtschaftlichen Leistungskraft beizutragen. Forderungen anderer westlicher Staaten, die in diese Richtung gehen und vor einem Faß ohne Boden warnen, sind nicht aus der Luft gegriffen.Darüber hinaus muß mit konkreter Managementunterstützung vor Ort der planmäßige und effiziente Einsatz der Mittel gesteuert werden. Es könnte auch daran gedacht werden — ich möchte das hier ausdrücklich anregen —, eine Art bilaterale Projektbetreuungsgesellschaften zu gründen, die einzelne Investitionsprojekte über ihren gesamten Weg hinweg, d. h. von der Planung über die Entscheidung, die Finanzierung und die Realisierung bis hin zur Marktreife, begleiten.Drittens. Managerexport allein, meine Damen und Herren, genügt auf lange Sicht jedoch nicht. Was die Länder Osteuropas zur Bewältigung der Umstellung ihrer Volkswirtschaften auf eine marktwirtschaftliche Ordnung benötigen, sind vor allem anderen eigene Manager. Dafür bedarf es normalerweise, um es mit den Worten eines ehemaligen Bundeskanzlers zu sagen, einer Nacht, einer Zeitspanne von neun Monaten und 40 Jahren Erfahrung. Aber so lange können wir nicht warten. Deshalb müssen umfangreiche Knowhow-Transferprogramme zur Vermittlung des erforderlichen Managementwissens hinzukommen. Es gilt, die Führungskräfte schnellstens für die Marktwirtschaft fit zu machen.Der Umgestaltungsprozeß in den Republiken der Sowjetunion benötigt unsere Hilfe. Alle westlichen Industrienationen sind aufgerufen, im Rahmen ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit zu gemeinsamen Anstrengungen beizutragen, die den Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft in diesen Ländern zum Ziel haben. Deutschland leistet bereits jetzt im Rah-
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Dr. Rudolf Sprungmen der Verwirklichung der deutschen Einheit, aber auch darüber hinaus einen wesentlichen Beitrag zur Unterstützung des Reformprozesses.Wir werden auch in Zukunft zu unserer internationalen Verantwortung stehen, verlangen aber auch von den anderen Industrienationen, sich nicht länger mit verbalen Solidaritätsbekundungen zu begnügen.Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Gerhard Schüßler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die dramatische Beschleunigung des Umgestaltungsprozesses in der Sowjetunion läßt viele Fragen unbeantwortet. Unzweifelhaft sind neue Anstrengungen unsererseits notwendig. Täglich hört und sieht man neue Forderungskataloge sowie Aufhol- und Prognoseszenarien. Sie sind sehr oft von unrealistischen Annahmen über die zukünftige Wirtschaftsentwicklung in der Sowjetunion geprägt und meines Erachtens oft viel zu optimistisch.Wenn in den vorliegenden Anträgen die Rede davon ist, daß die unbestritten notwendige Hilfe anders zu strukturieren ist als bisher, muß man beim Nachdenken darüber auch sagen, daß die wachstumshemmenden Friktionen, die die Transformation der Planwirtschaft in die Marktwirtschaft begleiten, ganz erheblich unterschätzt werden.
Die immer wieder genannten Zeithorizonte für den Aufholprozeß sind an vielen Punkten nach meiner Überzeugung viel zu kurz angesetzt.Darüber hinaus ist es fraglich, ob finanzielle Mittel in den vorgesehenen Größenordnungen überhaupt effizient investiert werden können. Die Zielvorgaben sind weitestgehend noch äußerst ambitiös.Wir wissen, wir haben es mit einem dramatischen Zusammenbruch der wirtschaftlichen Strukturen in der Sowjetunion zu tun. Es kann überhaupt nicht in Abrede gestellt werden, daß sich die alten, planwirtschaftlich orientierten Strukturen nur sehr langsam umstellen lassen. Verständlicherweise kann natürlich eine öffentliche Diskussion über die Zahlungsfähigkeit oder die Kreditwürdigkeit der Sowjetunion nicht gerade sehr hilfreich sein. Dennoch ist klar — darauf möchte ich ausdrücklich hinweisen — , daß die Verschuldungssituation der Sowjetunion auch Grenzen für zukünftige Kreditaufnahmen setzt. In der notwendigen Diskussion darüber darf das nicht mißachtet werden.Der Putschversuch im August dieses Jahres hat die Gefährdungen des Reformprozesses in der Sowjetunion sehr deutlich gemacht. Inzwischen wächst auch in den OECD-Ländern die Überzeugung, daß der Westen massive Finanzhilfe an die Sowjetunion leisten muß.In diesem Zusammenhang muß aber auch in der Sowjetunion darauf hingewirkt werden, daß Investitionen schwerpunktmäßig in produktiven Bereichen erfolgen, da nur sie eine tragfähige Grundlage für eine Wende zum Besseren sein können.Meine Damen und Herren, es darf auch nicht übersehen werden, daß das Defizit im sowjetischen Staatshaushalt bis Ende dieses Jahres etwa 210 Milliarden DM betragen wird; das geht aus einem Bericht des Finanzausschusses des Obersten Sowjet hevor. Es wird außerdem auf eine dramatische Verschlechterung der Außenhandelsbilanz seit Anfang dieses Jahres hingewiesen. Bei Finanztransfers in die Sowjetunion ist also äußerste Vorsicht geboten.Neben wirtschaftlichen Risiken gibt es erhebliche Zweifel an der politischen Stabilität in der Sowjetunion. Auch daraus resultiert manches nur zaghafte Engagement. Man kommt um die Feststellung nicht herum, daß die Leistungsbereitschaft des Westens, die Bundesrepublik ausgenommen, bisher sehr gering war.
Bundesaußenminister Genscher hat davon gesprochen, daß sich das CARE-Programm durchaus bewährt habe, daß es aber nicht hinzunehmen sei, daß die Bundesrepublik rund 40 % der Hilfen an die Sowjetunion aufbringe. Dem ist sicher nichts hinzuzufügen.
Unsere Hilfe für die Sowjetunion soll sicher nicht verkleinert werden.Niemand in diesem Hause wird bezweifeln, daß der Erfolg des Demokratisierungsprozesses in der Sowjetunion die entscheidende Voraussetzung für die wirtschaftliche und politische Stabilität Gesamteuropas ist.
Die Sowjetunion und ihre Republiken müssen aber auch selbst bessere Voraussetzungen für einen effizienten Einsatz des Auslandskapitals und aller Hilfen schaffen. Dazu wollen wir einen wesentlichen Beitrag leisten.Erstens. Wir dürfen die Sowjetunion und ihre Republiken nicht in Chaos und Hunger versinken lassen.Zweitens. Unsere Hilfe darf nicht zu einer auf Dauer angelegten Alimentierung der Sowjetunion führen. Sie muß immer Hilfe zur Selbsthilfe sein.
Ungebundene Finanzhilfen sollten nicht erfolgen, da sie gegenwärtig gar nicht sinnvoll verwandt werden können. Wir müssen vorrangig immaterielle Hilfe leisten.
Sie muß so angelegt sein, daß sie Wachstumsprozesse fördert und in Gang bringt.Dringend erforderlich ist Hilfe bei der Privatisierung der Landwirtschaft, Hilfe bei Transportwesen,
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Gerhard SchüßlerInfrastruktur und Konversion und Hilfe bei der Modernisierung der Förderanlagen von Öl und Gas und nicht zuletzt bei der Verbesserung der Sicherheit der Kernkraftanlagen; das ist sicher ganz besonders in unserem Interesse.Meine Damen und Herren, die Menschen in der Sowjetunion sind auf Marktwirtschaft und Demokratie nicht vorbereitet; sie bringen auch keine Voraussetzungen dafür mit. Auch diese Feststellung ist ein Hinweis darauf, wo Hilfen dringend notwendig sind, und macht die Dimension der Aufgaben deutlich, die wir zu bewältigen haben.Es gibt auf sehr, sehr viele Fragen noch zuwenig Antworten. Wer wollte das leugnen? Die vorliegenden Anträge implizieren vieles von dem, was aktuell notwendig ist. Wir sollten sie gemeinsam in den Ausschüssen sorgfältig beraten.Danke schön.
Meine Damen und Herren, nächste Rednerin ist die Frau Kollegin Andrea Lederer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Besorgnis über die tiefe politische, ökonomische und ökologische Krise in der Sowjetunion und ihren Republiken ist allgemein; auch wir teilen sie. Allerdings gibt es auch Erklärungen — wenn auch nicht heute — , die den Triumph über den Niedergang der realsozialistischen Weltmacht kaum verbergen können. Das ist beschämend angesichts der leidvollen Geschichte, die die Sowjetunion und die Bundesrepublik verbindet.
Ich möchte deshalb zunächst etwas zum politischen Rahmen von Unterstützungsleistungen sagen.
Die Sowjetunion hat durch die deutsche Aggression, deren Beginn sich am 22. Juni dieses Jahres zum fünfzigsten Mal jährte, neben ungeheuren Verlusten an Menschenleben auch materielle Schäden in überhaupt nicht zu beziffernder Höhe erlitten. Hierfür hat die Bundesrepublik bekanntlich niemals Reparationsleistungen erbracht.
— In der Tat, die DDR hat Reparationsleistungen erbracht.
— Wären Sie vielleicht in der Lage, jetzt einmal zuzuhören und mich nicht ununterbrochen durch Zurufe zu unterbrechen? Ich wäre Ihnen sehr dankbar.
— Ich rechne die Zurufe Ihrer Kollegen in dieser Woche hinzu. Deswegen bitte ich Sie, jetzt zuzuhören. —
Müßten es deshalb nicht die Scham angesichts der deutschen Verbrechen — hören Sie zu — und die Achtung vor der Würde der sowjetischen Völker gebieten, die UdSSR nicht nur in beträchtlichem Umfang zu unterstützen, sondern diese Hilfe auch als das zu benennen, was sie der Sachlage nach sein sollte, nämlich nicht ein mehr oder weniger hohes Almosen, gewährt aus humanitärem oder außenpolitischem Kalkül, sondern die Tilgung von Schulden und das Abtragen von Schuld? Müßte sich die Bundesregierung daher nicht eigentlich zu der Verpflichtung bekennen, Leistungen in noch zu vereinbarender Höhe aus diesem Grund zu erbringen? Müßte sie nicht offiziell erklären, daß sie den seinerzeitigen Verzicht der sowjetischen Regierung auf weitere Reparationen als großzügige und versöhnliche Geste zu würdigen weiß,
daß sie aber die Regierung der Sowjetunion und die Regierungen der Republiken einlädt, in Verhandlungen über die konkreten Inhalte eines solchen Vertrages einzutreten? Ich meine, das wäre der politische Rahmen, in dem die notwendige, umfassende Unterstützung in die richtigen historischen Koordinaten einzubetten wäre.
Dennoch: Die sowjetischen Völker bedürfen zweifelsohne der umfassenden und sofortigen Unterstützung. Der Antrag der Koalitionsparteien bringt der Sowjetunion außer warmen Worten und Absichtserklärungen nichts. Unterstützungsleistungen werden auf EG und Weltbank abgeschoben.
— Herr Präsident, ich bin nicht bereit, mir weiterhin derartige Zurufe anzuhören.
Frau Kollegin, wir sind hier in einem Parlament; Zurufe gehören dazu. Wenn sie überhand nehmen, schreite ich ein. — Sie haben das Wort.
Das wäre diese Woche schon mehrfach nötig gewesen.
Ausgerechnet unter dem Titel „Hilfe zur Selbsthilfe" wird eine sogenannte Politikberatung vorgeschlagen, die den Eindruck erweckt, als ginge es darum, die sowjetische Wirtschaft und Gesellschaft
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Andrea Ledererzum bloßen Abziehbild der hiesigen Verhältnisse zu machen.Dem Antrag der SPD werden wir zustimmen. Die Verwirklichung des Vorschlags zur Bildung eines sowjetischen Projektförderrates ist ein überfälliger Schritt. So wäre z. B. die Wiederbelebung der Beziehungen zwischen den östlichen Bundesländern und den sowjetischen Republiken eine vorrangige Aufgabe. Wir schlagen daher vor, die Treuhand zu beauftragen, unverzüglich ein umfassendes Programm zur Sanierung und Förderung solcher ostdeutscher Betriebe vorzulegen, die im Handel und in der Wirtschaftskooperation mit der Sowjetunion über Erfahrungen verfügen. Dies wäre für beide Seiten von Nutzen. Abgesehen davon würde die Treuhand ihrem Namen dann vielleicht endlich einmal gerecht werden.Darüber hinaus sind erste Initiativen zur Umschulung von Angehörigen der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte in qualifizierte zivile Berufe aufzugreifen, gerade in den Bereichen der Wirtschaft und des Finanzwesens.Wenn die Hilfe wirksam sein soll, dann darf sie nicht in Siegerpose erfolgen. Wer es mit der Förderung der sowjetischen Wirtschaft ernst meint, müßte dann allerdings auch Bedingungen schaffen, unter denen sich das Land von der Last der Rüstungsausgaben befreien kann. Der Kurs der NATO hingegen, die Fortsetzung des qualitativen Rüstungswettlaufs und der hochtechnologischen Modernisierung der Streitkräfte, die Betrachtung der Sowjetunion als Risikozone, der es potentiell auch militärisch zu begegnen gelte, läuft dem allerdings zuwider.Ich danke.
Als nächster hat unser Kollege Wolfgang Schulhoff das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Katastrophenmeldungen über eine drohende Zahlungsunfähigkeit der Sowjetunion durch den Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Hilmar Kopper, geben dieser Debatte eine ganz besondere Note und Aktualität. Ich frage mich: Was veranlaßt einen so erfahrenen Mann, derartiges zu tun? Er hat doch schon während der Weltwährungskonferenz feststellen müssen, welche Irritationen seine Aussagen hinsichtlich des deutschen Kreditrisikos gegenüber den sowjetischen Republiken auslösten. Dies geschieht ausgerechnet in einer Zeit, meine sehr verehrten Damen und Herren, in der international das Vertrauen in die D-Mark, wie wir sehen konnten, wieder erkennbar gewachsen ist. Alle Skeptiker haben zwischenzeitlich nämlich begriffen, daß wir uns mit unserem Engagement für die fünf neuen Bundesländer nicht übernehmen werden, weil wir unsere Konsolidierungspolitik konsequent weiterbetreiben werden.
In diesem Zusammenhang begrüße ich die beruhigenden Worte des Dresdner-Bank-Chefs Röller und die klare Aussage des russischen Präsidenten Jelzin, gesamtschuldnerisch für die Verpflichtungen der Sowjetunion einzustehen.
— Das ist nicht meine einzige Sorge. Ich komme gleich dazu. Dann werden wir sehen, was uns hier verbindet. — Ich fand übrigens Ihre Aussagen sehr beachtlich.
Das bringt endlich wieder die nötige Ruhe und Sicherheit. Die brauchen wir; denn das ist lebensnotwendig für die Kreditwürdigkeit eines Landes. Geld ist bekanntlich so flüchtig wie ein scheues Reh. Man kann eine Krise auch herbeireden — das kennen wir ja aus der Vergangenheit — , und dann verliert ein Partner seine Bonität.Hierbei ist natürlich festzuhalten, daß die Deutsche Bank, weitere Bankinstitute in der Bundesrepublik und natürlich auch der Bund ein nicht unerhebliches Risiko tragen; denn sie leisten mehr als die Hälfte aller Hilfen für die Republiken der Sowjetunion.Erlauben Sie mir an dieser Stelle eine ganz persönliche Bemerkung. Ich bin über dieses Engagement froh. Ich bin froh darüber, daß gerade wir Deutschen diese herausragende Rolle spielen; denn wir haben hier noch eine Bringschuld abzutragen.
In diesem Zusammenhang dürfen natürlich auch nicht die vielen Hilfsmaßnahmen der Organisationen und einzelner Bürger vergessen werden, die einen maßgeblichen Beitrag zur Überwindung des Versorgungsengpasses im vergangenen Winter geleistet haben und in diesem Winter wahrscheinlich wieder verstärkt leisten müssen.
— Und zum Glück sind wir schon dabei. — Der damit zum Ausdruck gekommene Solidaritätsbeweis, spontan, von Mensch zu Mensch, über alle Grenzen hinweg, ohne Ressentiments und Vorurteile zu helfen, war ein Symbol und ein Zeichen des friedlichen Miteinander in Europa, viel beispielhafter vielleicht als das, was die Regierungen tun. Es war ein Zeichen praktizierter Versöhnung.Jetzt, meine sehr verehrten Damen und Herren, müssen wir auch verstärkt der sowjetischen Bevölkerung in der schwierigen Phase des Übergangs von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft helfen.
Gerade der Übergangsprozeß mit den zwangsläufig auftretenden Friktionen - wir sehen es doch in unserem eigenen Land — bei dem Nichtvorhandensein marktwirtschaftlicher Strukturen muß abgefedert werden, wobei uns allen klar sein muß, daß es „ein bißchen Marktwirtschaft" nicht gibt. Es muß vielmehr
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Wolfgang Schulhoffeine Wirtschaftsordnung sein, die auf Freiheit und Eigentum an den Produktionsmitteln beruht,
ein in sich schlüssiges und stimmiges ordnungspolitisches Konzept. Der Ruf nach Sozialer Marktwirtschaft allein genügt nicht; sonst wird Planwirtschaft nur durch Anarchie ersetzt, weil man nichts tut und alles dem Zufall überläßt. Dann ist mir eine Zentralverwaltungswirtschaft bzw. Planwirtschaft lieber, weil sie zumindest die Grundversorgung weitgehend sichern kann.Sie sehen, Herr Kollege Erler: Das ist keine Verharmlosung, sondern das ist ganz bitterer Ernst, der uns hier erwartet, und da folge ich auch Ihren Ausführungen. Es darf nicht dazu kommen, daß man wieder nach dem starken Mann ruft. Es darf nicht dazu kommen, daß die Menschen über ihren Hunger den Wert der errungenen Freiheit vergessen.
Deshalb brauchen die Republiken der Sowjetunion jetzt auch verstärkt internationale Hilfe aller Industrieländer. Wir allein würden uns damit maßlos übernehmen; denn wir dürfen nicht wieder in eine Phase deutscher Politik geraten, in der man die Belastbarkeit der Wirtschaft und der Bürger zum Gegenstand eines politischen Disputs mit dem Ergebnis von Minuswachstum und Inflation macht; Begriffe, meine sehr verehrten Damen und Herren, die wir zum Glück durch unsere Politik vergessen konnten.In dem Zusammenhang erinnere ich an die mahnenden Worte des Gutachtens der Fünf Weisen, das uns gestern auf den Tisch gelegt wurde. Wir dürfen uns bei allem, was wir tun, nicht übernehmen; denn wir haben ja noch eine Verpflichtung gerade unseren fünf neuen Ländern gegenüber: die Lebensverhältnisse so schnell wie möglich anzugleichen.Ich will damit nicht abschwächen, sondern die Grenzen aufzeigen, in denen wir den Republiken der Sowjetunion — wie auch immer sie in Zukunft heißen mögen — und natürlich auch den anderen nach Hilfe rufenden osteuropäischen Nachbarstaaten, die wir nicht vergessen dürfen, helfen können und auch helfen müssen.Deshalb begrüße ich die vorliegenden Anträge, die wir intensiv und schnell beraten müssen, damit die Hilfe nicht zu spät kommt.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Gerd Poppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf Grund der dramatischen Situation in der ehemaligen Sowjetunion ist die schnelle und unbürokratische Hilfeleistung ganz sicher ein äußerst dringliches Thema für den Deutschen Bundestag. Die Kürze der Zeit, die uns dafür heute zur Verfügung steht, erlaubt allerdings nur, einige Anstöße für die Ausschußberatungen zu geben,die hoffentlich so schnell wie möglich aufgenommen werden.Dabei sollten wir von Anbeginn an berücksichtigen, daß es traditionelle Ängste in Polen und in anderen Nachbarländern gibt, daß die Unterstützung dieser Länder wegen der Probleme in den Sowjetrepubliken vernachlässigt werden könnte und sich deutsch-russische Vorzugsbedingungen entwickeln könnten. Unbedingt notwendig ist es also, die Hilfe für die ehemalige Sowjetunion konzeptionell in ein Entwicklungsprogramm für ganz Osteuropa einzubinden. Das kann natürlich nicht von der Bundesrepublik allein bewältigt werden. Jeder weiß, daß die Mittel nicht unbegrenzt zur Verfügung stehen. Alle reichen Länder des Westens sind gefordert.
Es bleibt aber dabei, daß sich die Bundesrepublik auf ganz besondere Weise verpflichtet fühlen und die Initiative ergreifen sollte.Aus den vorliegenden Anträgen wird noch nicht ganz klar, wer eigentlich die Adressaten westlicher Hilfeleistungen sein sollen. Die fruchtlose Geldvergabe an die alte Sowjetunion, die entweder versandete oder sogar half, die alten Strukturen an der Macht zu halten, darf jetzt nicht auf der Ebene der Republiken wiederholt werden.
In dem Antrag wird positiv auf die Hilfsaktion des letzten Winters bezug genommen. Ich denke auch, daß z. T. sinnvolle Hilfe geleistet wurde und daß es sehr eindrucksvoll war, wie sich viele Deutsche daran beteiligten.Andererseits kennen wir aber auch die Berichte darüber, daß Päckchen in Armeebeständen gelagert wurden oder vom KGB oder von Mafia-Gruppen entgegengenommen wurden, daß sich einzelne bereicherten und daß mitunter auch unsinnige Lieferungen kamen. Bei der großen Vielfalt von Hilferufen, die uns alle erreichen, sollten unsere Erwägungen vor allem dahin gehen, zum einen die wirklich Bedürftigen auf ganz direkte Weise zu unterstützen und zum anderen Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten; ein Begriff, den der Bundeskanzler gern benutzt, der dadurch aber nicht weniger richtig wird.
Die Hilfe sollte vor allem für ganz konkrete Projekte und Initiativen gegeben werden, und die Empfänger sollten in die Lage versetzt werden, die Resultate unmittelbar und ganz persönlich zu erleben.Lassen Sie mich je zwei Beispiele nennen: Hilfe für in besonderem Maße Bedürftige könnte an das Minsker Komitee „Kinder von Tschernobyl" oder über Gruppen von „Memorial" oder über andere Organisationen an notleidende Opfer des NS-Regimes und des Stalinismus geleistet werden.Neulich wurde mir berichtet, daß eine größere Anzahl ehemaliger KZ-Häftlinge und anderer NS-Opfer in Moldawien, die vor allem in der Zeit leiden mußten, als sich Rumänien mit dem NS-Regime verbündete, in entsetzlicher Not leben und sich aus Deutschland ein
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4868 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1991
Gerd Poppeoder zwei Lkw voller Kartoffeln für diesen Winter wünschen. Das klingt wie eine Lappalie, ist aber bitterer Ernst.Nun zwei Beispiele für Hilfe zur Selbsthilfe: Das könnte u. a. eine Demokratisierungshilfe sein, die diesen Namen verdient. Bisher war das ja eher ein nebulöser Begriff im Rahmen der Ausstattungshilfe. Er könnte z. B. in den neuen Parlamenten zum Leben erweckt werden. Da wäre auch ein sehr direkter Bezug zum Bundestag herstellbar.Zweitens geht es um ein Hilfeersuchen, das von den kleinen Völkern des Nordens kommt. Das sind 26 uns bisher kaum dem Namen nach bekannte Völker, die in ihrer Existenz oder sogar vom Aussterben bedroht sind, z. B. die Kewongun, die zum Volk der Niwchi gehören. Sie konnten jetzt, im Herbst 1991, 30 Jahre nach ihrer Zwangsumsiedlung, in ihre Heimat auf Sachalin zurückkehren. Nun brauchen sie Holzhäuser, eine Anlage zum Salzen und Räuchern von Fischen, eine kleine Fischkonservenlinie, ein Fangschiff, Fangnetze und Reusen, Boote, Außenbordmotoren, eine Kühlanlage, Schneefahrzeuge, Lkw und anderes mehr. Sie sind unglaublich motiviert und stecken voller Ideen. Sie könnten sich Hilfe in Form eines Joint-venture-Abkommens oder auch in Form längerfristiger Kredite vorstellen. Sie wollen also nicht unbedingt etwas geschenkt erhalten. Der Präsident der Vereinigung der sowjetischen Völker des Nordens, Vladimir Sanghi, hat mich gebeten, den Deutschen Bundestag um Unterstützung zu ersuchen, was ich hiermit tue.Ich könnte mir gut vorstellen, daß wir uns in den Ausschüssen und Unterausschüssen intensiv solchen Projekten widmen, beispielsweise auch in Anhörungen, an denen neben Hilfsorganisationen auch die Vertreter derartiger Initiativen teilnehmen und denen auch Empfehlungen an die Bundesregierung folgen könnten.Abschließend noch eine Bemerkung: Geld ist sicher ein gutes Hilfsmittel, wenigstens dann, wenn es an die richtige Adresse kommt. Aber Geld regelt nicht alles.
Mehr Geld ist nicht automatisch gleichbedeutend mit mehr Hilfe.
Den Hilfsbedürftigen in allen Regionen und auf allen Ebenen wäre auch damit sehr gedient, daß Menschen aus dem Westen zu ihnen kommen und sich vor Ort mit ihren Problemen beschäftigen, eigene Erfahrungen und das nötige Know-how vermitteln.Ich hatte in meinen Gesprächen den Eindruck, daß sich viele Menschen in der früheren Sowjetunion solche Besuche aus Deutschland sehr wünschen, und ich hoffe auf die Bereitschaft dazu im ganzen Hause.
Ich erteile jetzt das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär
beim Bundesminister für Wirtschaft, Klaus Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich denke, es ist gut, daß ein breiter Konsens in der Frage der Hilfeleistung der Bundesrepublik Deutschland und ihrer westlichen Partner für die Sowjetunion beziehungsweise für ihre Republiken besteht. Dabei geht es neben der Finanzhilfe im wesentlichen um zwei Kategorien der Unterstützung, nämlich die kurzfristige Hilfe zur Behebung des akuten Versorgungsnotstandes der Bevölkerung und die längerfristig wirkende Hilfe zur Selbsthilfe.Im Bereich der kurzfristigen Versorgungshilfe stehen nach den bilateralen Hilfsaktionen des vergangenen Winters für uns jetzt die Programme der Europäischen Gemeinschaft im Vordergrund die seit Ende 1990 auf den Weg gebracht wurden und mittlerweile rund 4 Milliarden DM umfassen. Hier hat sich gezeigt, daß die Abwicklung Schwierigkeiten bereitet. Die Bundesregierung hat sich deshalb bereit erklärt, das bei uns vorhandene Know-how — vor allem im Bereich der Transport- und Verteilungslogistik — anzubieten und die Dienststellen der Europäischen Gemeinschaft aktiv zu unterstützen. Die Nahrungsmittelhilfe kommt im übrigen indirekt auch anderen mittel- und osteuropäischen Staaten zugute, da die Sowjetunion einen erheblichen Teil der ihr zur Verfügung gestellten Gelder — bis zu 50 % — für Nahrungs- und Medikamentenkäufe in diesen Ländern verwenden kann.Neben diesen kurzfristigen Hilfsmaßnahmen, die nur vorübergehend zur Behebung akuter Notlagen ergriffen werden, ist die längerfristige Hilfe zur Selbsthilfe in Form der sogenannten technischen Hilfe von vorrangiger Bedeutung.
Technische Hilfe bedeutet in diesem Zusammenhang vor allen Dingen die Übertragung von marktwirtschaftlichem Know-how, und zwar einmal auf makroökonomischer Ebene, insbesondere durch wirtschaftspolitische und wirtschaftsrechtliche Beratung, und zum anderen auf mikroökonomischer Ebene, insbesondere durch betriebsbezogene Fördermaßnahmen.Ziel dieser Maßnahmen ist es, einerseits ein investitionsfreundliches legislatives und administratives Umfeld zu schaffen und andererseits die Betriebe zu wettbewerbsfähigen und effizienten Produktionseinheiten umzugestalten.Dabei stehen die Privatisierung der Staatsunternehmen, die Dekonzentration der unternehmerischen Entscheidung und der Aufbau eines aktiven Mittelstands im Produktions- und Dienstleistungsbereich im Vordergrund. Die Bundesregierung hat die Notwendigkeit dieser Art der technischen Hilfe frühzeitig erkannt und eine Reihe von einschlägigen bilateralen Programmen aufgelegt, u. a. im Bereich der Ausbildung von Managern und der Beratung von Unternehmen.
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Parl. Staatssekretär Klaus BeckmannDas Interesse der sowjetischen Seite an diesen Programmen ist so groß, daß die Nachfrage auf Grund der begrenzten Haushaltsmittel bei weitem nicht befriedigt werden kann.Auch die Europäische Gemeinschaft hat — nicht zuletzt auf unser Drängen hin — ein umfangreiches technisches Hilfsprogramm aufgelegt; dies Programm, das allein für 1991 mit rd. 800 Millionen DM ausgestattet ist, stößt bei deutschen Unternehmen und Institutionen auf größtes Interesse.Die offene Informationspolitik der Bundesregierung in einem frühen Stadium der Programmplanung hat dazu beigetragen, daß der größte Teil der Projektvorschläge für die Vergabe der Haushaltsmittel 1991 von deutschen Unternehmen eingereicht wurde.Es liegt nun auf der Hand, daß bilaterale und auch EG-Programme an die sich rasch verändernden politischen und wirtschaftlichen Bedingungen in der Sowjetunion angepaßt werden müssen. Es ist insbesondere auch der Tatsache Rechnung zu tragen, daß die Republiken in Zukunft eine weit stärkere Rolle spielen werden als bisher. Deshalb müssen, meine Damen und Herren, neue Strukturen der Zusammenarbeit geschaffen werden, die der Regionalisierung der Entscheidungsprozesse Rechnung tragen. Auch insoweit hat die Bundesregierung bereits Maßnahmen in die Wege geleitet; z. B. hat der Bundeswirtschaftsminister mit der Regierung der Russischen Föderation vereinbart, ein permanentes Beratungsgremium — also einen runden Tisch — zur Begleitung des wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozesses in Rußland einzurichten.Zusätzlich hat sich die Bundesregierung bereit erklärt, der Russischen Föderation kurzfristig Experten zur Verfügung zu stellen, die sie bei der Reform der Wirtschaftsgesetzgebung beraten.Ebenfalls neu ist eine Expertengruppe „Öl und Gas" mit Vertretern der deutschen Wirtschaft, der Union sowie der Republiken. Ihr Schwerpunkt liegt bei der Schaffung der erforderlichen tatsächlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen für die Bereiche Exploration, Förderung und Transport von Öl und Gas sowie für die Erarbeitung konkreter Projekte. Bekanntlich, meine Damen und Herren, ist dieser Sektor für die Sowjetunion von ganz besonderer Bedeutung, weil sie hier kurzfristig die Möglichkeit hat, ihre Devisensituation durch eine Steigerung der Exporte zu verbessern.Darüber hinaus wird das bestehende Handelsförderungsinstrumentarium durch die Einrichtung von Büros von Delegierten der deutschen Wirtschaft erweitert. In Kürze wird in St. Petersburg ein Büro eröffnet. Die Eröffnung von Büros in Kiew, Moskau und Minsk befindet sich in der Planung. Diese Büros können zu einem späteren Zeitpunkt in bilaterale Außenhandelskammern umgewandelt werden.Meine Damen und Herren, neben diesen bilateralen Maßnahmen wird die Bundesregierung ihre konzeptionelle und finanzielle Zusammenarbeit mit den G-7-Partnern weiterführen. Auf dem Weltwirtschaftsgipfel 1992 in München wird die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion ein besonderer Schwerpunkt sein. Es wird darum gehen, den auf dem Gipfel in Londonbegonnenen Dialog fortzusetzen und weitere Maßnahmen zur Unterstützung des Reformprozesses zu konkretisieren.Als gastgebendes Land ist Deutschland in besonderer Weise gefordert, an der im globalen westlichen Interesse liegenden Stabilisierung der Sowjetunion und ihrer Republiken mitzuwirken. Die Bundesregierung ist daher bestrebt, in Abstimmung mit ihren westlichen Partnern Vorschläge vorzulegen, wie die krisenhafte Entwicklung in der Sowjetunion als Folge der politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen in erster Linie durch langfristig wirkende wirtschaftliche Förderungsmaßnahmen überwunden werden kann.Meine Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Uwe Jens das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich fand es schon bemerkenswert, daß bei den verschiedenen Reden — das kommt ja nicht alle Tage vor — auf beiden Seiten Beifall gespendet wird. Das ist ein gutes Zeichen.
— Freitags immer so? — Vielleicht liegt es auch am Thema.
Ich wollte meinem Kollegen Gernot Erler Dank sagen; denn er hat diesen Antrag in der SPD-Fraktion initiiert und ihn wohl relativ schnell durch die Fraktion gebracht. Wenn ich das richtig sehe, Herr Sprung, läge Ihr Antrag heute nicht vor, wenn der Antrag der SPD-Fraktion nicht schon auf dem Tisch gelegen hätte.
— Nein, nein, natürlich nicht.Ich habe sogar davon gehört, daß Sie intensiv überlegt haben, ob Sie — das wäre eine große Leistung gewesen — nicht doch einmal unserem Antrag hätten zustimmen können.
Aber das klappte dann wohl doch nicht. Sie mußten den eigenen machen, der nun auf dem Tisch liegt.Aber es ist schön, daß wir wenigstens in den Grundansätzen weitgehend Konsens haben. Mir kommt aber unwillkürlich das Wort in den Kopf: Der Worte sind eigentlich genug gewechselt; nun laßt uns endlich Taten sehen.
Nach den lautstarken Ankündigungen auch von Präsident Bush — der kommt ja in seinem eigenen
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Dr. Uwe JensLand nicht zurecht — , aber auch von Bundeskanzler Kohl, Bundesminister Genscher und Herrn Wissmann, den ich hier vermisse, muß jetzt endlich wirklich gehandelt werden. Lassen Sie uns dafür sorgen, daß möglichst bald etwas zustande kommt, daß mehr gemacht wird als bisher.Geben wir uns keinen Illusionen hin. Ich behaupte: Der Transformationsprozeß in der ehemaligen UdSSR führt nicht von alleine zur Demokratie und auch nicht zur Marktwirtschaft. Richtig ist nur, daß ein kommunistisches System abgelöst wird. Aber was daraus wird, ist, so glaube ich, noch völlig offen.Ein Zweites: Aus freien Wahlen hervorgegangene politische Führer in der ehemaligen UdSSR sind zwar mit Sicherheit antikommunistisch, aber sie sind noch keineswegs gute Demokraten.Die Kernaussagen der beiden Anträge von SPD und CDU/CSU und FDP müssen, wie ich das eben schon andeutete, schnellstens und ohne Verzögerung in die Realität umgesetzt werden.Ich wiederhole, was schon gesagt worden ist: Die Deutschen als direkte Nachbarn haben ein unmittelbares Interesse daran, daß sich dort Demokratien mit dezentraler Wirtschaftsordnung entwickeln. Auf deutschem Boden stehen noch immer Hunderttausende sowjetischer Soldaten. Aber nachdem wir jahrelang Milliarden DM für Rüstung ausgegeben haben, können wir jetzt endlich, wenn wir helfen, in friedensfähige Strukturen investieren. Das ist so unwahrscheinlich wichtig.
Schließlich: Wenn es gelingt, den Menschen im Osten bald gewisse Hoffnungen zumindest auf eine Besserung ihrer wirtschaftlichen Situation zu geben, wird der Ansturm auf die Bundesrepublik Deutschland nicht beginnen.
Wenn wir nicht wirksam helfen, steht aber die Aufnahme von Millionen Flüchtlingen unmittelbar bevor. Das Problem, was wir dann zu bewältigen haben, wird unvergleichlich viel größer als das Problem sein, was wir jetzt mit den Asylbewerbern haben.
Bei allen guten Absichten dürfen wir selbstverständlich keine falschen Hoffnungen wecken. Das haben wir heute auch nicht getan. Die Bundesrepublik und alle großen Industrienationen zusammen können Demokratie und Marktwirtschaft in der ehemaligen UdSSR nicht einführen, sage ich. Wir können nur Hilfe leisten. Das Schlagwort Hilfe zur Selbsthilfe ist schon genug gebraucht worden; ich wiederhole es gerne.Wir müssen helfen. Dabei sind wir verpflichtet, auf die wichtigsten Maßnahmen hinzuweisen und den Weg zur Transformation einer zentralen Verwaltungswirtschaft in eine dezentrale, ökologisch orientierte Marktwirtschaft aufzuzeigen.Dazu gehören — zumindest aus meiner Sicht — drei große wichtige Bereiche:Erstens. Die UdSSR braucht eine solide Währung. Das Geld muß wieder Wertmaßstab und Tauschmittel werden. Die Notenpresse in der UdSSR muß sofort eingestellt werden. Man muß für Geld Waren kaufen können. Man muß nicht etwa auf Grund von Bezugsscheinen, sondern mit Geld Waren kaufen können.Zweitens. Der Aufbau der dezentralen Institutionen verlangt nach klaren Verantwortungs- und Eigentumsverhältnissen. Ich bin nicht der Meinung, daß das immer unbedingt Privateigentum sein muß. Es kann auch genossenschaftliches Eigentum sei. Es gibt verschiedene andere Formen von Eigentum. Aber die Verhältnisse müssen klar sein. Jeder muß wissen, worüber er zu entscheiden hat. Das ist ganz wichtig. Die Verantwortung für die Lösung wichtiger gesamtwirtschaftlicher Probleme muß ebenfalls dezentral sein und auf neue Entscheidungsträger übertragen werden, wie bei uns z. B. auf die Tarifvertragsparteien. Das hat sich bewährt.Drittens. Schließlich geht es um die Umgestaltung der realwirtschaftlichen Verhältnisse en détail. Die großen Konzerne sind in kleine, überschaubare Wirtschaftseinheiten zu überführen. Die Infrastruktur im weitesten Sinne muß erheblich verbessert werden. Die Umschulung und Qualifizierung von Arbeitnehmern und Management für eine marktwirtschaftliche Ordnung wird aber Jahre — ich sage sogar: Jahrzehnte — dauern. Herr Schulhoff hat das angesprochen.Aber auch Panikmache über die Kreditfähigkeit der UdSSR ist aus meiner Sicht völlig unangebracht.
Ich muß Herrn Röller wegen seiner beruhigenden Worte sehr loben und habe Herrn Kopper solche unqualifizierten Aussagen eigentlich nicht zugetraut.
Aber ich bin zuversichtlich, meine Damen und Herren — da müssen Sie mithelfen —, daß die G-7-Gruppe, die sich am 17. November in Moskau trifft, die Situation real einschätzt. Wenn sie helfen muß, muß sie auch helfen.
Was mir Sorgen macht, ist folgendes. Wir Deutschen sind in der Tat — das läßt sich nicht leugnen; das kann man leicht nachweisen — der große Geldgeber. Wer wollte das bezweifeln? Aber wir sind, Herr Staatsminister, leider nur ein ganz, ganz kleiner Ratgeber. Wenn ich erlebe, wie Herr Geoffrey Sachs in Polen und in der UdSSR herumsaust, dann weiß ich nicht, ob er den Betroffenen immer die guten und die richtigen Ratschläge gibt, die sie eigentlich brauchen. Ich glaube, auf Grund unserer Erfahrungen könnten wir ihnen manchmal bessere Ratschläge erteilen.Was wir kurzfristig für notwendig halten, fasse ich zusammen. Ich glaube, wir brauchen zwar verschiedene Maßnahmen; aber wir brauchen auch mehr Kooperation, eine Zentralisierung. Wir brauchen klare Anlaufstellen. Man muß drüben wissen, wohin man
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Dr. Uwe Jenssich wenden kann. Das scheint mir furchtbar wichtig zu sein. In unserem Antrag sind solche Anregungen ja enthalten. Aber ich meine, auch der Vorschlag von Herrn Liebahn, Deutsche Bank, ist nicht so ohne weiteres vom Tisch zu wischen: ein deutsch-sowjetisches Expertenteam, gewissermaßen ein gesamtwirtschaftliches Kooperationsbüro; nicht etwa in Düsseldorf — das ist ja grotesk — , sondern wenn, dann, bitte sehr, in Moskau.Wir brauchen einen Förderrat, wie es in unserem Antrag steht, für einzelwirtschaftliche Projekte, der sich insbesondere um Joint-ventures kümmert, aber auch um die Umstrukturierung der sowjetischen Betriebe bemüht.Wir brauchen vor allem Ausbildungshilfe für junge Leute, für junge Wirtschaftler und für jene, die von den Universitäten kommen, die Marktwirtschaft lernen müssen.Ich halte es nicht für gut, daß diese Hilfen sowohl auf das Auswärtige Amt als auch auf das Bundesministerium für Wirtschaft verteilt und damit — das sage ich einmal — zersplittert sind. Es wäre viel sinnvoller, wenn wir die Hilfen im Bundesministerium für Wirtschaft — das ist nun einmal, Herr Staatsminister, das zuständige Ministerium für Marktwirtschaft — konzentrierten. Lassen Sie uns das machen! Das war schon unser Vorschlag im Wirtschaftsausschuß des Deutschen Bundestages. Es darf da keine Zersplitterung geben.Ansonsten können meinetwegen die GTZ, die CarlDuisberg-Gesellschaft oder die Universitäten helfen. Aber die Institutionen Förderrat und Kooperationsrat müssen darüber Bescheid wissen. Sie müssen die Kontakte mit der UdSSR oder den Republiken aufnehmen, um wirksam zu helfen, damit nicht gegeneinander, sondern konzentriert für die eine Sache gearbeitet wird. Alle diese Beratungshilfen wären kostenlos und längerfristig — nicht etwa nur für ein Jahr — zur Verfügung zu stellen.Zu dem, was wir bereits machen können, Herr Sprung, gehört eine völlige Öffnung der Märkte für sowjetische Produkte, so daß man es den Sowjets ermöglicht, Devisen zu erwirtschaften, technische Hilfe, aber auch Hilfe bei der Rohstofförderung zur Steigerung der Produktivität und damit zur Steigerung der Devisenerlöse. Diese Maßnahmen sind dringend erforderlich.Die Bundesregierung muß international verstärkt darauf drängen, die Restriktionen gegenüber der UdSSR auf Grund der COCOM-Liste endgültig und völlig abzuschaffen — was ergibt es noch für einen Sinn, daß die Sowjets von uns keine Glasfasertechnik bekommen? — und ferner die UdSSR bald in den Internationalen Währungsfonds, die Weltbank und das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen aufzunehmen.Aber konkrete Hilfe muß in Zukunft verstärkt auch für Lebensmittel und für Beratung zur Verfügung gestellt werden, wie das in unserem Antrag zum Ausdruck kommt. Das ist sinnvoll und notwendig.Lieber heute in Hilfe investieren, als morgen die Grenzen zumachen, hatte vor kurzem Björn Engholmfestgestellt. Das ist der genaue Grund, weshalb wir heute die Bundesregierung erneut drängen. Sie soll einen Teil dieses Drängens auch auf andere große Industrienationen, wie die USA und Japan, weiterleiten. Aber lassen Sie uns gemeinsam, vielleicht auch mit Hilfe einer kleinen parteiübergreifenden Arbeitsgruppe, an die Arbeit gehen, um konkrete Maßnahmen für die UdSSR zustande zu bringen.Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Ulrich Schmalz das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das ironische Zitat von Kurt Tucholsky: „Wir tun so, als ob wir etwas täten" ist auf die Osteuropahilfe der Bundesrepublik Deutschland nicht anwendbar. Deutschland hat — dies ist bereits ausführlich dargestellt worden — schnell, umfassend und wirksam seine historische Rolle im politischen und ökonomischen Veränderungsprozeß in Osteuropa und in der Sowjetunion wahrgenommen. Dies war eine politische Bringschuld und bleibt eine Aufgabe deutscher Politik; denn die Schaffung ordnungspolitischer Rahmenbedingungen zur Herbeiführung marktwirtschaftlicher Strukturen hat auch eine friedenstiftende Wirkung in Osteuropa.
Der Antrag der Koalition ist überschrieben: „Hilfe zur Selbsthilfe für die Sowjetunion und ihre Republiken". Das heißt, unsere Überlegungen gehen davon aus, daß die geldliche Hilfe eine Sache ist, daß aber viel wichtiger für das Gelingen dieses gigantischen Veränderungsprozesses ist, den politischen Demokratisierungsprozeß zu fördern,
den Aufbau von Selbstverwaltungskörperschaften zu begünstigen, die Entflechtung großbetrieblicher Strukturen, die Privatisierung bisheriger Staatsbetriebe zu unterstützen und das Entstehen neuer mittelständischer Unternehmen durch den Einsatz vorhandenen Know-hows bei der Beratung zu fördern.Der Übergang von der Kommandowirtschaft zu westlich orientierten marktwirtschaftlichen Strukturen ist, wie wir aus eigener Erfahrung und Anschauung wissen, nicht nur mit der Anleitung aus Lehrbüchern zu vollziehen. Hinzu kommt die wahrscheinliche Unterschätzung der Probleme des Übergangs zur Marktwirtschaft. Keiner der Politiker in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die sich sämtlich verbal zur Marktwirtschaft bekennen, spricht aus persönlicher Erfahrung. Dazu kommt die Ungeduld einer desorientierten Bevölkerung, die sich mit dem neuen Phänomen z. B. mangelnder Wettbewerbsfähigkeit und daraus resultierender Arbeitslosigkeit auch psychologisch erst noch vertraut machen muß:Gute Hilfe ist die, die schnell gegeben wird. In insgesamt zehn Einzelplänen des Bundeshaushaltes 1992 sind Ansätze zur Unterstützung des Reformpro-
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Ulrich Schmalzzesses enthalten. Es bedarf allerdings einer sinnvollen Abstimmung. Ressortegoismus ist dabei wenig hilfreich.Wenn wir die vorhandene Kreativität der Menschen in der Sowjetunion, wenn wir ihren guten Ausbildungsstand, wenn wir ihren Mut und wenn wir ihre Erwartungen an die Zukunft sinnvoll unterstützen wollen, können wir uns unsererseits auf vorhandene Instrumente stützen. Beispielsweise enthält der Einzelplan 23, der Haushalt des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit, bewährte sektorübergreifende Institutionen. Ich nenne stellvertretend die GTZ, die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, oder die Deutsche Stiftung für Internationale Entwicklung in Berlin.Damit ich nicht mißverstanden werde: Es geht nicht darum, ein künstliches Entwicklungsländersyndrom in den neuen Republiken zu schaffen. Aber auch andere Länder, z. B. die Vereinigten Staaten oder Schweden, haben ihre bilaterale Hilfe entsprechend ihrer normalen Entwicklungshilfe für Osteuropa organisiert. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, diese Instrumente der Technischen Zusammenarbeit verstärkt einzusetzen.Gerade das durch den Wegfall der alten Autoritäten bedingte Vakuum muß schnell durch neue Strukturen aufgefüllt werden. Dazu gehören im Wege der Politikberatung die Schaffung kommunaler Selbstverwaltungsorgane, Beratung bei der Gesetzgebung, der Aufbau einer leistungsfähigen Finanzverwaltung, die Gestaltung von Selbstverwaltungsvorgängen, Selbstverwaltungsorganen und Verbänden für die Wirtschaft.Wir haben gerade in den neuen Ländern erlebt, wie schwierig der wirtschaftliche Umgestaltungsprozeß ist, wenn es an einer funktionierenden Verwaltung fehlt.In unserem Antrag, im Antrag der Koalitionsfraktionen, sind in den Abschnitten Beratung und Kooperationen die einzelnen Verfahrensschritte beschrieben. Wir plädieren für eine sektorübergreifende Vorgehensweise und hoffen, daß die Staaten der Europäischen Gemeinschaft im Wege einer partnerschaftlichen Lastenteilung diese Anstrengungen mitgestalten.Meine Damen und Herren, es macht Sinn, darüber nachzudenken, ob nicht einzelne Mitgliedsländer den Sowjetrepubliken paten- und partnerschaftlich ihre besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung gewähren sollten. Wir hoffen, daß diese große Anstrengung dazu beiträgt, am 1. Januar 1993 nicht nur den Beginn eines neuen europäischen Zeitalters feiern zu können, sondern auch daß die Sowjetunion und die ihr angehörenden Republiken mit unserer Hilfe ihre erste Feuerprobe auf dem Wege in eine prosperierende Zukunft bestanden haben.Vielen Dank.
Ich erteile jetzt dem Herrn Staatsminister im Auswärtigen Amt, Helmut Schäfer, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist heute zum Ausdruck gekommen, wie ernst wir die Situation in der Sowjetunion beurteilen. Es ist heute auch gesagt worden, wie wichtig es ist, daß die Eingliederung der Sowjetunion und ihrer Republiken in die Weltwirtschaft gelingt, und wie schwierig das sein wird. Wir haben immer wieder zum Ausdruck gebracht, daß es nicht angehen kann, daß die Unübersichtlichkeit der heutigen Lage in der Sowjetunion als Vorwand für Nichtstun gilt. Die Entwicklung in der Sowjetunion birgt viele Risiken in sich, aber wir wissen, sie eröffnet auch Chancen.Ich meine, es ist notwendig, daß wir unsere Bevölkerung auch in der Diskussion in unserem Lande darauf hinweisen, daß eine Hilfe für die Sowjetunion und für die Zukunft der Sowjetunion nicht bedeuten kann, daß wir wieder einmal zur Kasse gebeten werden, sondern daß wir verhindern, meine Damen und Herren, daß eine Entwicklung eintritt, auf Grund der wir in Zukunft allerdings sehr viel mehr zur Kasse gebeten würden, als das jetzt der Fall ist. Ich glaube, das sollten wir in aller Deutlichkeit sagen.
Meine Damen und Herren, ich glaube auch, daß man durchaus ein materialistisches Argument gebrauchen darf — es war in manchen anderen Fällen schon sehr hilfreich, unsere Landsleute gelegentlich mit solchen Argumenten für eine sinnvolle Politik zu gewinnen — , indem man deutlich macht — es ist gesagt worden — , daß beispielsweise die Gefahr besteht, daß durch den wirtschaftlichen Zusammenbruch der Sowjetunion eine zusätzliche massenhafte Flucht von Ost nach West erfolgen könnte, die — machen wir uns hier keine Illusionen! — die Bundesrepublik natürlich erneut betreffen würde. Es liegt im Interesse unserer Menschen, zu verhindern, daß eine solche Entwicklung einsetzt.Man darf vielleicht weiter materialistisch argumentieren und sagen: Die Sowjetunion bietet uns in Zukunft große Marktchancen; denn sie ist doch ein Land, das an Naturschätzen und an Energiequellen reich ist wie kein anderes Land in Europa. Nur bedarf es der Ausbeutung dieser Naturschätze. Dazu bedarf es auch der Mitwirkung der Bundesregierung, des ganzen Westens, indem man den Transfer von Wissen vermittelt, Aus- und Fortbildung ermöglicht und natürlich unsere Wirtschaft zu Privatinvestitionen veranlaßt.Daß das alles nicht so schnell geht und daß natürlich auch unsere Wirtschaft daran interessiert ist, einen sicheren Plafond vorzufinden und nicht in eine Situation hineinzugeraten, in der sie den Auseinandersetzungen zwischen den Republiken und den Unsicherheiten der Zukunft ausgesetzt ist, ist zu verstehen. Aber wenn wir uns die russischen Wünsche genauer ansehen, so darf ich hier einmal den Satz einer russischen Publizistin zitieren, die gesagt hat: Geben Sie uns um Gottes willen keine Fische, sondern geben Sie uns bitte Angelruten! Das macht deutlich, in welche Richtung unsere Unterstützung eigentlich gehen muß.
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Staatsminister Helmut SchäferMeine Damen und Herren, der gesellschaftliche, der wirtschaftliche, der politische Wandlungsprozeß in der Sowjetunion setzt ein neues Beziehungsgeflecht unter den Republiken voraus, das sich nur ganz allmählich ergeben wird und dessen Entwicklung, wie wir wissen, sehr schmerzhaft und sehr kompliziert verläuft. Aber wir sind an einer Erhaltung des Wirtschaftsraumes Sowjetunion interessiert. Wir sind auch daran interessiert — ich sage das ausdrücklich — , daß der Wirtschaftsraum der Völker in der Sowjetunion am Ende seinen Platz findet in einem gesamteuropäischen Wirtschaftsraum und nicht vor den Türen Europas verbleiben darf.Ich glaube, daß bis dahin die Sowjetunion dringend unserer Unterstützung bei der Modernisierung ihres bedeutenden Rohstoff- und Energiesektors bedarf, damit es gelingen wird, durch den Verkauf von Energie- und Rohstoffreserven in den Besitz von Devisen zu kommen, um damit auch Privatinvestitionen zu ermöglichen. Auch das ist sehr wichtig.Meine Damen und Herren, es bedarf vieler westlicher Unterstützung in vielen Bereichen. Wir drängen auf eine faire Lastenverteilung. Wenn ich mir immer wieder so anhöre, was hier — die Kollegin ist schon entschwunden, sie war vielleicht über die vielen Zwischenrufe zu sehr verärgert — so festgestellt wird, wie uns jetzt schon wieder mit dem Blick auf unsere Geschichte gesagt wird, wir hätten eine ganz besondere Verantwortung und müßten besonders viel leisten, wenn Sie alles mal summieren, was mit dieser Prämisse uns im Augenblick zugemutet wird,
meine Damen und Herren, dann, muß ich Ihnen sagen, überschätzt man unsere Möglichkeiten, das alles zu leisten, überschätzt man die materiellen Möglichkeiten, die diesem Land gegeben sind. Ich glaube, alle unsere Freunde sollten es langsam verstehen: Wir können es gar nicht allein in diesem Umfang, wir brauchen dazu die Unterstützung aller anderen westlichen Partner.
Ich meine, wir sollten heute, meine Damen und Herren, besonders die Unterstützung über diesen Winter hinweg betonen und die Versorgungsschwierigkeiten sehen, die es dort geben wird. Aber wir sollten nicht Hungersnöte an die Wand malen, sondern — wie von Herrn Jens völlig zu Recht gefordert worden ist — wir sollten alles tun, damit gerade im Hinblick auf die Nahrungsmittelhilfe schnell gehandelt wird. Das ist bereits der Fall, die Europäische Gemeinschaft hat so beschlossen. Die Lieferungen werden erfolgen.Vielleicht noch ein Gedanke zum Schluß. Ich halte es doch auch für notwendig, daß nicht immer nur der Staat, auch nicht nur die privaten Investoren angesprochen werden. Ich würde es sehr begrüßen, wenn auch von Gemeinde zu Gemeinde, von Stadt zu Stadt und von Region zu Region — es wird ja soviel von dem Europa der Regionen gesprochen — Hilfe auf partnerschaftliche Weise geleistet würde. Das wird sehr viel besser sein, als immer nur auf den Bundestag zu deuten und zusätzliche Forderungen an uns zu stellen.
Lassen Sie uns gerade an der Basis diesen Gedanken verwirklichen! Die Bereitschaft der Deutschen zu helfen ist groß, aber sie ist gößer, wenn sie wissen, wohin die Hilfe geht und wen ich persönlich erreichen kann, meine Damen und Herren.
Ich möchte zum Schluß noch sagen: Wir begrüßen die Entschließung des Europäischen Parlaments ausdrücklich. Wir werden die Entschließung prüfen, und wir sind uns mit Ihnen gemeinsam bewußt, daß wir jetzt in eine Phase kommen, in der Hilfe schnell und sinnvoll gegeben werden kann.Und, Herr Kollege Jens, ein klein bißchen lassen Sie dem Auswärtigen Amt auch eine Chance, mitzuwirken zumindest in der ausländischen Kulturpolitik, und nicht alles dem Wirtschaftsministerium, das bereits in Gestalt meines Freundes Beckmann gierig auf uns schaut, zu geben!Vielend Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/1321, 12/1250 und 12/1580 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Unterhaltsvorschußgesetzes und der Unterhaltssicherungsverordnung
— Drucksache 12/1523 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Familie und Senioren Rechtsausschuß
Ausschuß für Frauen und Jugend
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort unserer Kollegin Frau Parlamentarischer Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonk aus dem Bundesministerium für Familie und Senioren.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Unterhalts-
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Parl. Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonkvorschußgesetzes und der Unterhaltssicherungsverordnung schlägt die Bundesregierung zwei wichtige Maßnahmen auf dem Gebiet der staatlichen Unterhaltssicherung für Kinder vor.Das Unterhaltsvorschußgesetz kommt den Kindern zugute, die mit einem Elternteil zusammenleben und von dem anderen Elternteil keinen Unterhalt bekommen. Hier verbessern wir die Anspruchsvoraussetzungen sowohl hinsichtlich des Lebensalters des Kindes wie auch hinsichtlich der Bezugsdauer. Vom 1. Januar 1993 an erhalten Kinder nicht nur bis sechs Jahre, sondern bis zwölf Jahre einen Unterhaltsvorschuß. Auch die Dauer der Zahlung wird verdoppelt, von zur Zeit noch längstens 36 Monaten auf 72 Monate.Zum zweiten dehnen wir das Unterhaltsvorschußgesetz zum 1. Januar 1992 auf die neuen Länder aus und lösen die dort noch geltende Unterhaltssicherungsverordnung ab.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Deutsche Bundestag diskutiert zur Zeit über eine Neuregelung des Gesetzes zum Schutz des ungeborenen Lebens. Bei allen Meinungsverschiedenheiten über strafrechtliche Fragen besteht doch in allen Fraktionen Übereinstimmung darüber, daß Müttern, die in einem Schwangerschaftskonflikt stehen, alle notwendigen Hilfen angeboten werden müssen, die sie ermutigen können, sich für ihr Kind zu entscheiden. Dazu gehört auch, daß eine Frau, die sich — vielleicht gegen den Willen des Vaters oder Partners — für ihr Kind entscheidet, die Gewißheit haben muß, daß der Unterhalt des Kindes auf jeden Fall gesichert ist. Darauf stellt das Unterhaltsvorschußgesetz ab.Mutter und Kind müssen bei Ausbleiben der Unterhaltszahlungen nicht auf den ihnen zustehenden Unterhalt verzichten — und dies ohne Rücksicht auf die Einkommenslage der Mutter. Diese Sicherheit war bei der Unterhaltssicherungsverordnung der ehemaligen DDR nicht gegeben. Voraussetzung für Leistungen nach dieser Verordnung war nämlich ein vollstreckbarer Unterhaltstitel. Der war aber in Fällen, wo der Aufenthaltsort des Vaters unbekannt war, nicht zu erhalten.Allerdings — das muß man einräumen — wirkte die Verordnung bis zum vollendeten 18. Lebensjahr des Kindes. Angesichts dieses Unterschiedes und weil die Verbesserungen, die wir einführen, erst 1993 in Kraft treten, war bei der Überleitung des Unterhaltsvorschußgesetzes in die neuen Bundesländer eine Regelung zur Besitzstandswahrung notwendig. Deshalb gelten die Bestimmungen der Unterhaltssicherungsverordnung für laufende Fälle im Jahre 1992 noch fort.Meine Damen und Herren, die vorgeschlagene Lösung bedeutet also eine Zusammenführung wesentlicher Elemente des Unterhaltsvorschußgesetzes und der Unterhaltssicherungsverordnung auf einer mittleren Ebene, also einen ausgewogenen Kompromiß.Der Bundeshaushalt übernimmt damit eine zusätzliche Belastung, die ab 1993 mit jährlich etwa 165 Millionen DM zu veranschlagen ist. Ich denke, damit kann sich der Bund als Mitfinancier sehen lassen.Die Neuregelung hat noch eine weitere positive Wirkung: Die vorgeschlagene Erhöhung der Altersgrenze von sechs Jahren auf zwölf Jahre wird hoffentlich auch dazu beitragen, daß der zur Zeit verhältnismäßig hohe Anteil von Sozialhilfeempfängern bei den Alleinerziehenden, die Unterhaltsvorschuß erhalten, zurückgeht. Mit zunehmendem Alter des Kindes wird es ja leichter, eine Betreuung zu organisieren, und damit verbessert sich auch die Möglichkeit, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und sich so wirtschaftlich unabhängig zu machen.Ich wünsche mir, daß wir schnell mit den Beratungen zu Ende kommen, weil ja der Termin 1. Januar 1992 drängt. Wir möchten das Gesetz gerne bis zum Jahresende in Kraft gesetzt haben.Vielen Dank.
Frau Kollegin Erika Simm, Sie sind die nächste Rednerin. Bitte sehr.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Jahr 1979 wurde mit der Verabschiedung des Unterhaltsvorschußgesetzes ein wichtiger Programmpunkt sozialdemokratischer Familienpolitik verwirklicht. Trotz einiger Geburtswehen — der Vermittlungsausschuß mußte seinerzeit bemüht werden, weil die Länder u. a. mit der vorgesehenen Kostenverteilung nicht einverstanden waren — fand der Gesetzentwurf damals Zustimmung bei allen Fraktionen.Ein bisserl hatte seinerzeit die Kollegin Karwatzki von der CDU zwar gemäkelt, ein eigenes Gesetz bräuchte es nicht. Sie sprach von einem „Eintagsfliegengesetz", meinte das aber wohl nicht allzu ernst; denn in der Sache war man sich einig, daß dieses Gesetz für alleinerziehende Elternteile in ihrer bekanntermaßen schwierigen Lebens- und Einkommenssituation eine große Hilfe sein würde.Das hat die Praxis erwiesen. Das Unterhaltsvorschußgesetz in der gegenwärtigen Fassung sichert für Kinder bis zum vollendeten 6. Lebensjahr, die bei einem Elternteil allein leben, den Unterhalt für die Dauer von drei Jahren, und zwar in Höhe des gesetzlichen Regelunterhalts, der für nichteheliche Kinder zu zahlen ist. Er erspart den alleinstehenden Müttern— ganz überwiegend sind es ja Frauen, die die Leistungen des Gesetzes in Anspruch nehmen — auf Grund einer im Jahr 1990 vorgenommenen Änderung— die Frau Staatssekretärin hat sie erwähnt — nun auch die Last, Unterhaltsansprüche für ihre Kinder selber einklagen und beitreiben zu müssen. Wir wissen, wie langwierig, mühsam und ärgerlich Unterhaltsprozesse sein können. Das Gesetz stellt den Unterhalt für Kinder auch dann sicher, wenn ein Unterhaltsanspruch gegen den anderen Elternteil oder ein Anspruch auf Waisenrente nicht besteht.Eine Nachfrage beim Jugendamt meines Wahlkreises hat mir bestätigt, daß sich das Gesetz in der Praxis gut bewährt hat. Die Zahl der Anträge ist in den letzten Jahren stetig gestiegen. Insbesondere durch den Verzicht auf das Vorliegen eines vollstreckbaren Unterhaltstitels sind die Leistungen des Unterhaltsvorschußgesetzes zu einer wichtigen Überbrückungs-
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Erika Simmhilfe für Frauen und deren Kinder in der ersten Zeit nach einer Trennung geworden.Die nun vorgesehenen Verbesserungen der Leistungen nach dem Unterhaltsvorschußgesetz, also die Heraufsetzung des Kindesalters auf zwölf Jahre und die Verlängerung der Leistungsdauer auf 72 Monate ab dem 1. Januar 1993, wird die SPD-Fraktion jedenfalls in der Tendenz mittragen. Daß derartige Leistungsverbesserungen wünschens- und erstrebenswert seien, haben alle Parteien schon 1979 zum Ausdruck gebracht.Wir haben in unserem Gesetzentwurf zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs bei den sozialpolitischen Begleitmaßnahmen gleichartige Verbesserungen des Unterhaltsvorschußgesetzes vorgesehen. Allerdings enthält unser Vorschlag die Heraufsetzung des Kindesalters auf 14 Jahre bei einer Leistungsdauer von 60 Monaten. Hinsichtlich der Kosten dürften sich diesbezüglich keine nennenswerten Unterschiede ergeben. Deswegen gehe ich davon aus, daß bei den Beratungen in den Ausschüssen, wenn wir uns an den sachlichen Erfordernissen orientieren, eine Einigung möglich sein müßte.
Neben der Leistungsverbesserung verfolgt der Gesetzentwurf das Ziel, die Rechtslage bezüglich der Unterhaltssicherung von Kindern Alleinerziehender in den alten und den neuen Bundesländern zu vereinheitlichen. Im sogenannten Beitrittsgebiet gilt die Unterhaltssicherungsverordnung vom 19. Mai 1988 in der Fassung vom 31. August 1990 fort. Das Ziel dieser Rechtsvorschrift entspricht dem des Unterhaltsvorschußgesetzes im wesentlichen. Jedoch bestehen hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen und des Leistungsumfangs erhebliche Unterschiede:So besteht nach der Unterhaltssicherungsverordnung ein Anspruch auf Unterhaltsvorauszahlung generell für minderjährige Kinder, also bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres, in Höhe des tatsächlichen Anspruchs, höchstens jedoch 165 DM monatlich; dies jedoch nur, wenn ein vollstreckbarer Unterhaltstitel vorliegt. Fehlt es an diesem, so wird lediglich eine staatliche „Beihilfe" zum Unterhalt gewährt, die sich auf nur 60 DM beläuft und damit weit hinter den Leistungen des Unterhaltsvorschußgesetzes zurückbleibt, nach dem ja in solchen Fällen Unterhaltsersatz in Höhe des gesetzlichen Regelunterhalts — gegenwärtig bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres monatlich 251 DM — zu leisten ist.Mit dem Gesetzentwurf beabsichtigt die Bundesregierung die Vereinheitlichung der Rechtslage in den alten und den neuen Bundesländern dergestalt herbeizuführen, daß ab dem 1. Januar 1992 auch im sogenannten Beitrittsgebiet das Unterhaltsvorschußgesetz gelten soll. Leistungen nach der Unterhaltssicherungsverordnung sollen nur noch in den Fällen gezahlt werden, in denen die Anspruchsvoraussetzungen bereits für den Monat Dezember 1991 erfüllt waren und kein Anspruch nach dem Unterhaltsvorschußgesetz gegeben ist, und dies auch nur für eine Übergangsfrist von einem Jahr, längstens also bis zum 31. Dezember 1992. Betroffen hiervon sind nach Inkrafttreten der Neuregelung insbesondere die Kinder, welche 1993 älter als zwölf Jahre sein werden.Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß sie mit der einjährigen Übergangsfrist ihrer sozialpolitischen Verpflichtung zur Besitzstandswahrung für die Alleinerziehenden und deren Kinder in den neuen Bundesländern hinreichend Rechnung trage. Seitens des Bundesrates wurden diesbezüglich bereits Bedenken angemeldet und eine Übergangsfrist bis 31. Dezember 1997 vorgeschlagen. Ich teile diese Bedenken. Mit der Frage einer angemessenen Übergangsregelung für die neuen Bundesländer werden wir uns, meine ich, in den anstehenden Ausschußberatungen eingehend auseinandersetzen müssen.
Ich hoffe, daß wir auch da eine Lösung finden, die der gegenwärtig ja noch um einiges schwierigeren Lebenssituation Alleinerziehender und ihrer Kinder in den neuen Bundesländern ausreichend Rechnung trägt. Schließlich haben wir alle gemeinsam die Verpflichtung, dafür Sorge zu tragen, daß nicht gerade die Schwächsten in unserer Gesellschaft nachträglich zu Verlierern der Einheit werden.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Fockenberg.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Unterhaltsleistungen sind eine wirklich wichtige und hilfreiche Maßnahme für Alleinerziehende. Wir von der CDU/CSU-Fraktion sehen die Verpflichtung, gerade diesen Familien, die es besonders schwer haben, ihre Aufgaben zu erfüllen, so weit wie eben möglich zu helfen. Deshalb ist die Gesetzesvorlage im Rahmen der für diese Legislaturperiode vorgesehenen familienpolitischen Maßnahmen von besonderem Gewicht.Das Unterhaltsvorschußgesetz ist im Rahmen des Einigungsvertrages nicht auf das Beitrittsgebiet übergeleitet worden. Dort gilt, wie schon erwähnt worden ist, die Unterhaltssicherungsverordnung der ehemaligen DDR weiter. Das in den alten Bundesländern geltende Unterhaltsvorschußgesetz sichert aus öffentlichen Mitteln — zu 50 % aus Mitteln des Bundes, zu 50 % aus Mitteln der Länder — den Mindestunterhalt von Kindern unter sechs Jahren für längstens 36 Monate. Zum 1. Januar 1992 wird dieses Recht nun auf die neuen Bundesländer übertragen. Nach der im Beitrittsgebiet geltenden Unterhaltssicherungsverordnung wird eine Unterhaltsvorauszahlung nur dann geleistet, wenn das Kind einen vollstreckbaren Unterhaltstitel hat. Bei Fehlen eines solchen Titels wird dem Kind nur eine sehr geringe staatliche Beihilfe gewährt.Der Gesetzentwurf zur Änderung des Unterhaltsvorschußgesetzes und der Unterhaltssicherungsverordnung zielt vor allem auf die Herstellung der
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Winfried FockenbergRechtseinheit auf dem Gebiet des Unterhaltsvorschußrechtes ab. Darüber hinaus ist zum 1. Januar 1993 eine Verbesserung der Ansprüche durch Erhöhung der Altersgrenze auf das 12. Lebensjahr und durch Verlängerung der Leistungsdauer auf sechs Jahre vorgesehen. Besitzstandsverluste, die sich bei Ablösung der Unterhaltssicherungsverordnung durch das Unterhaltsvorschußgesetz für über sechs Jahre alte Berechtigte ab dem 1. Januar 1992 ergeben können, sollen nach Art. 2 des Gesetzes für längstens ein Jahr vermieden werden.Nun fordert der Bundesrat — und das ist von Ihnen, Frau Kollegin, nocheinmal unterstrichen worden — die Besitzstandswahrung für die Berechtigten der ehemaligen DDR nicht nur bis zum 31. Dezember 1992, sondern bis zum 31. Dezember 1997 bei gleichzeitiger Abschaffung des Titelerfordernisses.Die Nichtüberleitung des Unterhaltsvorschußgesetzes im Rahmen des Einigungsvertrags kann zwar so interpretiert werden, daß ein Kompromiß zwischen den Leistungsvoraussetzungen im Unterhaltsvorschußgesetz und denen der Unterhaltssicherungsverordnung des Beitrittsgebietes angestrebt werden sollte. Nie aber war davon die Rede, daß — wie es in der Begründung des Bundesrats heißt — „der in der Unterhaltssicherungsverordnung der ehemaligen DDR festgelegte Zeitraum bis zum 18. Lebensjahr beibehalten werden sollte".Die Regelung für den Unterhaltsvorschuß muß vielmehr, denke ich, in ihrer Gesamtheit gesehen werden. Die staatliche Gesamtleistung der neuen Bundesländer beläuft sich auf ca. 20 Millionen DM, die der alten dagegen auf ca. 232 Millionen DM. Der Leistungsumfang der Unterhaltssicherungsverordnung bei knapp einem Drittel der Bevölkerungsdichte der alten Bundesländer ist demnach trotz der hohen Altersgrenze von 18 Jahren und der uneingeschränkten Leistungsdauer geringer als der des Unterhaltsvorschußgesetzes.Im Ergebnis wird deutlich: Das Unterhaltsvorschußgesetz der Bundesrepublik hat für die Gesamtheit der auf Unterhaltsvorschuß angewiesenen Alleinerziehenden einen erheblich größeren Leistungsumfang als die Unterhaltssicherungsverordnung der ehemaligen DDR.Im übrigen kann ein Weg, wie er aus der Stellungnahme des Bundesrats zur Regierungsvorlage zumindest durchschimmert, nicht der richtige Weg für eine Familienpolitik im vereinten Deutschland sein. Wir können nicht einzelne, für die Familien in den neuen Bundesländern günstigere Voraussetzungen beibehalten und gleichzeitig alles, was in den alten Bundesländern besser geregelt ist, überleiten. Damit würden die Familien in den neuen Bundesländern bessergestellt als die in den alten Ländern. Eine solche „Rosinentheorie", wie ich es einmal nennen darf, schafft Ungleichheiten und damit Ungerechtigkeiten innerhalb der Familienpolitik. Das ist nicht der Weg, den wir uns vorstellen.Herzlichen Dank.
Nun erteile ich der Abgeordneten Frau Uta Würfel das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was verbirgt sich hinter diesen beiden trockenen Vokabeln „Unterhaltsvorschußgesetz" und „Unterhaltssicherungsregelung"? Nach den letzten verfügbaren Zahlen hatten 1989 insgesamt 116 300 Personen Anspruch auf diese Leistung. Sie hatten den Anspruch deshalb, weil sich ein Elternteil den Unterhaltspflichten für seine Kinder im Alter unter sieben Jahren entzogen hat. In der überwiegenden Mehrzahl sind es Familienväter, die sich aus dem Staub machen und nicht mehr für ihre Kinder sorgen.Dieses Verhalten zeigt uns, daß in einer Gesellschaft die sich kinder- und frauenfreundlichere Bedingungen schaffen will, die Väter offensichtlich stärker in die Pflicht genommen werden müssen. Es gilt, die Bewußtseinsbildung zu verstärken, damit sich diese Väter nicht weiterhin so leicht aus ihrer Verantwortung stehlen.
Für viele Frauen, die mit ihren kleinen Kindern von einem Tag auf den anderen alleingelassen werden, meine Damen und Herren, bricht oft eine Welt zusammen. Sie sind mit einer höchst ungesicherten finanziellen Lage konfrontiert. Sie haben kein eigenes Einkommen, weil sie sich ganz der Kindererziehung gewidmet haben, ohne eine Berufstätigkeit auszuüben. In vielen Fällen droht in dieser Situation das Abgleiten in die Sozialhilfe.Neben dem seelischen Leid ist eine Mutter in dieser Situation nun auch noch gezwungen, ihren finanziellen Lebensrahmen in den Griff zu bekommen. Dies geht ohne Unterhaltsvorschuß nicht; denn die Geldsorgen belasten das Familienklima natürlich in dieser Situation zusätzlich. Wir müssen uns vor Augen halten, daß die Erziehungs- und Betreuungsleistung, die sich die Ehepartner früher aufgeteilt haben, in diesem Fall in der Regel allein auf der Mutter lastet. Alleine muß sie nun ihre Entscheidungen abwägen und fällen, die das tägliche Leben der Familien betreffen. Sie können sich vorstellen, daß die Kinder in dieser für sie neuen Lebenssituation verändert reagieren. Sie vermissen ihren Vater. Natürlich ändert sich auch ihr Verhalten.Außer den geschiedenen oder dauernd getrennt lebenden Elternteilen erhalten die Unterhaltsvorschußzahlungen zum größten Teil unehelich geborene Kinder. Ihre Zahl belief sich 1989 auf 45 500; das ist über die Hälfte der Anspruchsberechtigten. Sie sind es vor allen Dingen, denen bereits die Gesetzesänderung von 1990 zugute kam; denn seitdem besteht bei uns hier im Westen ein Anspruch auf Unterhaltsvorschuß auch ohne den Nachweis eines Unterhaltstitels. Damit entfallen die oft mühsamen Prozeduren, bis einem nicht zahlungswilligen Vater die Vaterschaft durch ein gerichtliches Verfahren nachgewiesen werden kann. Dieses Verfahren ist nun seit 1990 unbürokratischer geworden. Jede Mutter mit Kindern im Alter bis zu sieben Jahren, die alleine lebt, verwitwet oder geschieden ist oder nur unregelmäßig Unterhalt erhält,
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Uta Würfelhat einen Anspruch auf die Leistung von 226 DM pro Kind und Monat.Unterhaltsvorschuß ist somit eine finanzielle Unterstützung, um die allergrößten Härten abzumildern. Die Zahlungen garantieren jetzt über sechs Jahre ein sicheres und regelmäßiges Einkommenselement; denn von mehr kann man bei dem Betrag von 226 DM im Monat ja wohl nicht sprechen.
Oft sind es ja gerade junge Frauen, meine Damen und Herren, die sich trotz einer ungewollten Schwangerschaft für das Kind entschieden haben und in dieser Situation in Kauf nehmen müssen, daß sie auf ihren Partner nicht zählen können. Natürlich mindern die Leistungen der Unterhaltsvorschußkasse auch den psychischen Streß zur Beschaffung des notwendigen Geldes, das die Mutter und auch das Kind zum Leben und Gedeihen benötigen. Deshalb ist die Reform des Unterhaltsvorschußgesetzes ein wichtiger Bestandteil des sozialen Maßnahmenkatalogs unseres Schwangerenhilfegesetzes.Natürlich ist die Unterhaltsvorschußregelung auch eine wichtige flankierende Maßnahme für Alleinerziehende in den neuen Bundesländern. Meine Damen und Herren, Sie werden es vielleicht nicht glauben; aber 21 700 Männer haben die Öffnung der Grenzen vor über zwei Jahren genutzt, um sich ihren Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Frauen und Kindern zu entziehen. Die Situation dieser alleingelassenen Familien ist nun noch unsicherer. Denn in den neuen Bundesländern — Sie haben es bereits von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern gehört — ist nach der alten Gesetzgebung ein Unterhaltstitel nötig, um 165 DM monatliche Unterstützung für ein Kind bis zu sechs Jahren zu erhalten. Sie können sich vorstellen, daß das Bestehen von zweierlei Recht inzwischen zu einer Rechtsunsicherheit in den neuen Bundesländern geführt hat und daß die Gerichte auf eine bundeseinheitliche Regelung warten.Ich denke, wir sollten schon, wie es meine Kollegin von der Opposition gesagt hat, den Vorschlag des Bundesrates in dem dafür vorgesehenen Ausschuß eingehend erörtern.Da von dem, was der Bund ausgibt, nur ein Viertel, nämlich etwa 30 Millionen DM, von den „familienflüchtigen" Vätern wieder zurückgeholt werden kann, müssen wir auch überlegen, ob wir die Nachforschungen nach diesen Vätern nicht intensivieren können oder ob wir die gerichtlichen Schritte gegen diese Rabenväter nicht verschärfen müssen, um ihnen auf die Sprünge zu helfen. Denn, meine Damen und Herren, diese Verantwortungslosigkeit der Väter gegenüber ihren Familien ist natürlich letztendlich auch eine Verantwortungslosigkeit gegenüber der Gesamtgesellschaft.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Höll.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der uns vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Unterhaltsvorschußgesetzes und der Unterhaltssicherungsverordnung ist für mich ein erneuter Beweis für die übereilte Angliederung der DDR an die Bundesrepublik Deutschland.
Im überhastet zusammengeschusterten Einigungsvertrag wurden vielleicht nicht zufällig, von der Warte der großen Politik aus betrachtet, scheinbar nebensächliche Bereiche, insbesondere soziale Regelmechanismen, die jedoch für die betroffenen Menschen von existentieller Bedeutung sind, schlicht und ergreifend vergessen. Die Vereinigung zweier komplizierter, gewachsener Systeme des sozialen Zusammenlebens ist eben nicht in einer Hauruckaktion zu bewältigen.Erwachsene Menschen können jedoch versuchen, gegen solche Ungerechtigkeiten zu streiten. Kinder sind dazu nicht in der Lage. Der vorliegende Gesetzentwurf befaßt sich mit einer Gruppe von Kindern, die bereits durch ihre individuelle Biographie in besonderem Maße benachteiligt sind. Die zu regulierenden Unterhaltsvorschußleistungen betreffen ja Kinder, die in nicht mehr intakten Familienverhältnissen leben, in denen sich sogar ein Elternteil nicht mehr in der Lage sieht — oder es nicht will — , weiterhin einen materiellen Zuschuß zum Gedeihen seines Kindes zu leisten.Gerade diesen doppelt betroffenen Kindern zu helfen sollte zuvörderst Aufgabe des Staates sein. Der vorliegende Gesetzentwurf erfüllt diesen Anspruch meiner Meinung nach nicht. Mit dem gestrigen, vom Parlament einmütig verabschiedeten Gesetz über die Rechte des Kindes und der damit eingeleiteten Ratifizierung der UNO-Kinderkonvention durch die Bundesrepublik Deutschland sind wir verpflichtet, alles für das Wohl der Kinder zu tun. Dies beinhaltet meines Erachtens zwingend, daß eine Verschlechterung der Lage von Kindern durch staatliche Gesetze Geist und Buchstaben der UNO-Kinderkonvention widerspricht.Der vorgelegte Gesetzentwurf beinhaltet erstens die Angleichung der rechtlichen Vorschriften der früheren DDR auf dem Gebiet der Unterhaltsvorschußleistungen an die gesetzlichen Regelungen der BRD und zweitens eine Verbesserung der Unterhaltsvorschußleistungen von seiten des Staates ab 1. Januar 1993. Die Heraufsetzung der Altersgrenze von sechs auf zwölf Jahre mit der Möglichkeit der Verlängerung des Bezugs von Unterhaltsvorschußleistungen auf 72 Monate ist eine eindeutige Verbesserung der gesetzlichen Regelung für Anspruchsberechtigte in den alten Bundesländern. Sie ist im Interesse von Kindern und alleinerziehenden Eltern nur zu unterstützen. Warum jedoch die Heraufsetzung der Altersgrenze auf zwölf Jahre beschränkt bleibt, ist für mich nicht nachvollziehbar!Für die Kinder in den neuen Bundesländern sieht die gesetzliche Neuregelung der Angleichung jedoch nicht so gut aus. Auf ihre Kosten sollen 1992 6 Millio-
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Dr. Barbara Höllnen DM und 1993 14 Millionen DM eingespart werden. Diese — ich zitiere —... Rechtsverschlechterung muß im Interesse der Rechtseinheit und unter Berücksichtigung der Tatsache, daß die angespannte Lage der Haushalte von Bund und Ländern keine weitgehende Verbesserung der Leistungen nach dem Unterhaltsvorschußgesetz zuläßt, den Betroffenen zugemutet werden.Das heißt: Im Interesse der Rechtseinheit muß den Betroffenen — und das sind Kinder — eine Verschlechterung zugemutet werden.Ich frage Sie, meine Damen und Herren: Was legitimiert die Bundesregierung, ausgerechnet Kinder für die von der Politik zu verantwortende Art und Weise des Prozesses der Vereinigung beider deutscher Staaten zahlen zu lassen? Ist es nicht beschämend, auf Kosten der Kinder, die unabhängig von ihrem Willen in den neuen Bundesländern geboren sind, die in schlechten sozialen Verhältnissen, in vielfach zerstörten Familienbeziehungen leben, 20 Millionen DM einsparen zu wollen? Das ist vielleicht der Preis für überflüssige Bewaffnung, für den überflüssigen Jäger 90. Einer kostet 135 Millionen DM.Ich bin mir durchaus bewußt, daß es mit der vorgesehenen gesetzlichen Regelung zu einer Verbesserung der Lage eines Teils der Kinder auch in der früheren DDR kommt. Dies darf aber nicht als Begründung dafür dienen, die Lage für eine ganze Reihe von Kindern mit der getroffenen Regelung real zu verschlechtern. Es grenzt für mich schon an Zynismus, wenn ich in der Begründung lese, daß die mit der Ablösung der Unterhaltsvorschußverordnung verbundenen generellen Rechtsverbesserungen und generellen Rechtsverschlechterungen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Wie ein betroffenes Kind das kapieren soll, ist mir unklar.Für Ostkinder sinkt die Altersgrenze von 18 auf 12 Jahre und die Zahlungsdauer von maximal 216 Monaten auf 72 Monate.Für den Fall, daß der alleinsorgeberechtigte Elternteil eine Ehe eingeht, entfällt jeglicher Anspruch auf Unterhaltsvorschuß, obwohl der neue Ehepartner gegenüber dem Kind nicht sorgeverpflichtet ist.Auf Grund unterschiedlicher Regelunterhaltssätze in den alten und in den neuen Bundesländern machen die Anspruchsberechtigten in den neuen Bundesländern auch unter diesem Gesichtspunkt Verlust. Während ein Kind der Altersgruppe 0 bis 6 Jahre im Westen zur Zeit 251 DM bekommt, erhält ein Ostkind nur 165 DM.Da es sich bei dem Unterhaltsvorschuß in keiner Weise um staatliche Geschenke, sondern um rückklagbare Vorableistungen des Staates im Interesse von Kindern handelt, sollte sich der Staat als Sozialstaat erweisen und die soziale Existenz der Anspruchsberechtigten kreditieren.Um zu verhindern, daß Kinder durch Ablauf der Altersbegrenzung und des limitierten Zahlungszeitraums in Notlagen und in die Sozialhilfe getrieben werden, fordert die PDS/Linke Liste die Zahlung von Unterhaltsvorschuß für alle Anspruchsberechtigten —
Frau Kollegin Dr. Höll, ich wäre dankbar, wenn meine zarten Hinweise auf die abgelaufende Redezeit Ihre wohlwollende Beachtung finden würden.
— im gesamten Bundesgebiet und ohne Zahlungsdauerbegrenzung bis zum 18. Lebensjahr.
Ich danke Ihnen.
Danke schön. — Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Debatte.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/1523 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. — Widerspruch erhebt sich nicht. Dann kann ich das als beschlossen feststellen.
Nun kommen wir zu Tagesordnungspunkt 16:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Errichtung eines Bundesausfuhramtes
— Drucksache 12/1461 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft
Auswärtiger Ausschuß
Innenausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Ich habe Ihnen die erfreuliche Mitteilung zu machen, daß sich die beteiligten Damen und Herren und die Geschäftsführer darauf verständigt haben — Ihre Zustimmung vorausgesetzt — , die Reden zu Protokoll zu geben. — Da sich kein Widerspruch erhebt, darf ich auch dies als beschlossen feststellen.
Außerdem darf ich feststellen, daß die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/1461 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse beschlossen worden ist; auch kein Widerspruch.
Dann bleibt mir nur noch übrig, die Sitzung zu schließen, Ihnen ein angenehmes Wochenende zu wünschen und die nächste Sitzung auf Dienstag, den 26. November 1991, 9 Uhr einzuberufen.
Die Sitzung ist geschlossen.