Protokoll:
12057

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 12

  • date_rangeSitzungsnummer: 57

  • date_rangeDatum: 14. November 1991

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 23:20 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 12/57 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 57. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 14. November 1991 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeordneten Johann Paintner 4675 A Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung 4675 A Tagesordnungspunkt 2: Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Heimkehrerstiftung und die Aufhebung des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes (Drucksache 12/1435) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das Inverkehrbringen von und den freien Warenverkehr mit Bauprodukten zur Umsetzung der Richtlinie 89/106:EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Bauprodukte (ABI. EG-Nr. L 40 S. 12) (Bauproduktengesetz) (Drucksache 12/1462) c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes und des Bundesjagdgesetzes (Drucksache 12/1171) d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von Vermögensfragen der Sozialversicherung im Beitrittsgebiet (Drucksache 12/ 1522) e) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt), Dr. Ilja Seifert, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur teilweisen Erstattung des bei der Währungsumstellung am 2. Juli 1990 zwei zu eins reduzierten Betrages für ältere Bürgerinnen und Bürger (Drucksache 12/1400) 4675 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Verhältnisses von Kriegsfolgengesetzen zum Einigungsvertrag (Drucksache 12/1504) 4676A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Bundesärzteordnung und weiterer Bundesgesetze für Heilberufe (Drucksache 12/1524) 4676A Andrea Lederer PDS/Linke Liste (zur GO) 4676B, C Friedrich Bohl CDU/CSU (zur GO) 4676 C Tagesordnungspunkt 3: a) Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (Stasi-Unterlagen-Gesetz) (Drucksachen 12/723, 12/1093, 12/1540, 12/1541) II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 57. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. November 1991 b) Zweite und dritte Beratung des von der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Sicherung und Nutzung der Daten und Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik (Drucksachen 12/ 692, 12/1540) c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Ingrid Köppe und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN I. Gesetzliche Regelungen für die Lagerung, Verwaltung, Sicherung und Nutzung von Unterlagen und Daten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit II. Gesetzliche Regelungen für die Lagerung, Verwaltung, Sicherung und Nutzung staatsbezogener Parteiakten der SED, der Blockparteien und von Massenorganisationen in der ehemaligen DDR (Drucksachen 12/283, 12/1540) Hans Gottfried Bernrath SPD 4677 C Hartmut Büttner (Schönebeck) CDU/CSU 4678A Rolf Schwanitz SPD 4680 B Dr. Jürgen Schmieder FDP 4683 A Ingrid Köppe Bündnis 90/GRÜNE 4686 B Ulla Jelpke PDS/Linke Liste 4688 C Johannes Gerster (Mainz) CDU/CSU 4691B, 4722 C Ingrid Köppe Bündnis 90/GRÜNE 4692A, 4701D Dieter Wiefelspütz SPD 4694 D Dr. Burkhard Hirsch FDP 4696C, 4707 C Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE 4698 C Michael Stübgen CDU/CSU 4700 A Angelika Barbe SPD 4702 B Ortwin Lowack fraktionslos 4704B, 4708 B Otto Schily SPD 4705 D Wolfgang Zeitlmann CDU/CSU 4706 A Dorle Marx SPD 4708 D Monika Brudlewsky CDU/CSU 4710 A Dr. Willfried Penner SPD 4711D Gisela Schröter SPD 4712 B Rainer Eppelmann CDU/CSU 4713D Wolfgang Thierse SPD 4714 D Dr. Berthold Reinartz CDU/CSU 4716 B Gerd Wartenberg (Berlin) SPD 4718B Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär BMI 4720 A Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste 4721 D Markus Meckel SPD 4722 C Hans-Joachim Otto (Frankfurt) FDP (Erklärung nach § 31 GO) 4722 D Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/CSU (Erklärung nach § 31 GO) 4723 D Tagesordnungspunkt 4: Befragung der Bundesregierung (Dritte Verordnung zur Anpassung der Renten und über maßgebliche Rechengrößen in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet; 3. Rentenanpassungsverordnung; Waldzustandsbericht der Bundesregierung 1991; weitere aktuelle Themen) Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 4725 B Rudolf Dreßler SPD 4726 A Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 4726 A Volker Kauder CDU/CSU 4726 B Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 4726 B Rudolf Dreßler SPD 4726 C Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 4726 D Heinz Rother CDU/CSU 4727 A Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 4727 A Klaus Kirschner SPD 4727 A Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 4727 B Karl-Josef Laumann CDU/CSU 4727 C Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 4727 D Julius Louven CDU/CSU 4728 B Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 4728 B Volker Kauder CDU/CSU 4728 C Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 4728 C Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) CDU/ CSU 4728D Dr. Erich Riedl, Parl. Staatssekretär BMWi 4728 D Gerd Andres SPD 4729 B Anton Pfeifer, Staatsminister BK 4729 B Dr. Burkhard Hirsch FDP 4729 C Anton Pfeifer, Staatsminister BK 4729 D Otto Schily SPD 4730 A Gottfried Haschke, Parl. Staatssekretär BML 4730A Otto Schily SPD 4730 B Gottfried Haschke, Parl. Staatssekretär BML 4730 C Marianne Klappert SPD 4730 D Gottfried Haschke, Parl. Staatssekretär BML 4730D Zusatztagesordnungspunkt 4: Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bundesregierung zur gemeinsamen Innenpolitik im Europa der Demokratien nach dem Außenminister-Konklave in Noordwijk Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 57. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. November 1991 III Wolfgang Lüder FDP 4731 A Dr. Christoph Zöpel SPD 4732 A Peter Kittelmann CDU/CSU 4733 A Andrea Lederer PDS/Linke Liste 4734 B Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin AA 4735 B Konrad Weiß (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 4737 A Dr. Andreas Schockenhoff CDU/CSU 4737 D Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast SPD 4738 C Dr. Burkhard Hirsch FDP 4739 D Johannes Singer SPD 4740 D Brigitte Baumeister CDU/CSU 4741 C Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär BMI 4742 B Gerd Andres SPD 4743 C Wilfried Seibel CDU/CSU 4744 C Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU 4745 C Tagesordnungspunkt 1: Fragestunde (Fortsetzung) — Drucksachen 12/1513 vom 8. November 1991 und 12/1550 vom 13. November 1991 — Auswirkungen einer möglichen Zahlungsunfähigkeit der UdSSR und deren Außenhandelsbank DringlAnfr Otto Schily SPD Antw PStSekr Manfred Carstens BMF 4746 B ZusFr Otto Schily SPD 4746 D ZusFr Detlef Kleinert (Hannover) FDP 4747 B Auffassung der Bundesregierung über eine Grundgesetzänderung für den Einsatz der Bundeswehr außerhalb der NATO nach der Ratifizierung des Vertrags über eine Europäische Politische Union MdlAnfr 35, 36 Uta Zapf SPD Antw StM Helmut Schäfer AA 4747C, 4748A ZusFr Uta Zapf SPD 4747D, 4748 B ZusFr Heidemarie Wieczorek-Zeul SPD 4747D, 4748 C ZusFr Otto Schily SPD 4749 B Zunahme der Menschenrechtsverletzungen in Südkorea seit 1990 MdlAnfr 40 Dr. Klaus Kübler SPD Antw StM Helmut Schäfer AA 4749 C ZusFr Dr. Klaus Kübler SPD 4749 D Beteiligung deutscher Firmen an der Bekämpfung von Katastrophen großen Ausmaßes im Ausland MdlAnfr 41 Dr. Klaus Kübler SPD Antw StM Helmut Schäfer AA 4750 B ZusFr Dr. Klaus Kübler SPD 4750 C Strahlenbelastung des Grundwassers durch Verlagerung uranhaltigen Materials im Zusammenhang mit der Sanierung der Wismut AG MdlAnfr 63 Siegrun Klemmer SPD Antw PStSekr Dr. Erich Riedl BMWi 4751 A ZusFr Siegrun Klemmer SPD 4751 B Wiederaufnahme der Uranproduktion bei der Wismut AG durch ein deutsch-französisches Gemeinschaftsunternehmen unter Beteiligung der COGEMA MdlAnfr 64 Siegrun Klemmer SPD Antw PStSekr Dr. Erich Riedl BMWi 4751D ZusFr Siegrun Klemmer SPD 4752 A Tagesordnungspunkt 5: a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Berufsbildungsbericht 1991 (Drucksachen 12/348, 12/1562) b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Aktionsprogramm zur Sicherung der beruflichen Bildung in den neuen Ländern (Drucksachen 12/416, 12/982) Engelbert Nelle CDU/CSU 4752 C Günter Rixe SPD 4754 A Dr. Dietmar Keller PDS/Linke Liste 4755 D Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink FDP 4756 D Marianne Birthler, Ministerin des Landes Brandenburg 4758 C Maria Eichhorn CDU/CSU 4760 B Doris Odendahl SPD 4761 B Maria Michalk CDU/CSU 4763 A Doris Odendahl SPD 4763 D Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär BMBW 4764 C Tagesordnungspunkt 6: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes (Drucksachen 12/42, 12/1535) in Verbindung mit IV Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 57. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. November 1991 Zusatztagesordnungspunkt 5: Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Eckhart Pick, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Ratifizierung der UNO-Konvention über die Rechte des Kindes (Drucksache 12/1547) Heinrich Seesing CDU/CSU 4766 A Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD 4767 C Sabine Leutheusser-Schnarrenberger FDP 4769 C Konrad Weiß (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 4770 B Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste 4771 C Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister BMJ 4772 C Dr. Eckhart Pick SPD 4774 A Herbert Werner (Ulm) CDU/CSU 4775 A Norbert Eimer (Fürth) FDP 4776 A Tagesordnungspunkt 7: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Übertragung der Aufgaben der Bahnpolizei und der Luftsicherheit auf den Bundesgrenzschutz (Drucksachen 12/1091, 12/1537, 12/1538) Joachim Clemens CDU/CSU 4777 B Tagesordnungspunkt 8: Beratungen ohne Aussprache a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zweiten Zusatzprotokoll vom 21. Mai 1991 zum Abkommen vom 16. Juni 1959 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie verschiedener sonstiger Steuern und zur Regelung anderer Fragen auf steuerlichem Gebiete (Drucksachen 12/1241, 12/1560, 12/1561) b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Mitteilung der Kommission: Bericht über die Möglichkeit einer Gruppenfreistellung für Konsortialverträge in der Linienschiffahrt Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates über die Anwendung des Artikels 85 Abs. 3 des Vertrags auf bestimmte Gruppen von Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen zwischen Seeschiffahrtsunternehmen (Drucksachen 12/210 Nr. 170, 12/1219) c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 37 zu Petitionen (Drucksache 12/1486) 4777 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes über die Errichtung und das Verfahren der Schiedsstellen für Arbeitsrecht und zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes (Druck sachen 12/1483, 12/1551) 4777 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der Bundesregierung: Aufhebbare Sechzehnte Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung (Drucksachen 12/990, 12/1517) 4778 A Tagesordnungspunkt 9: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege (Drucksache 12/1217) Dr. Eckhart Pick SPD 4778 D Norbert Geis CDU/CSU 4780 D Dr. Wolfgang Ullmann Bündnis 90/GRÜNE 4782 B Dr. Wolfgang Götzer CDU/CSU 4783 B Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste 4784 B Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister BMJ . 4786 B Dr. Jürgen Meyer (Ulm) SPD 4788 A Norbert Geis CDU/CSU 4789 C Horst Eylmann CDU/CSU 4790 C Detlef Kleinert (Hannover) FDP 4791 C Dr. Franz-Hermann Kappes CDU/CSU 4793 A Dr. Mathilde Berghofer-Weichner, Staatsministerin des Freistaates Bayern 4794 A Tagesordnungspunkt 10: Vereinbarte Debatte zur deutschen und europäischen Weltraumpolitik Christian Lenzer CDU/CSU 4795 D Lothar Fischer (Homburg) SPD 4797 C Christian Lenzer CDU/CSU 4797 D Jürgen Timm FDP 4798 C Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann FDP 4799 C Siegmar Mosdorf SPD 4800B, 4803 B Edelgard Bulmahn SPD 4800 D Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 57. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. November 1991 V Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär BMFT 4801 D Ilse Janz SPD 4804 B Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) CDU/ CSU 4806 A Tagesordnungspunkt 11: a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur dauerhaften sozialen Verbesserung der Wohnungssituation im Land Berlin (Drucksache 12/ 1459) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Achim Großmann, Norbert Formanski, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Mietpreisbindung Berlin (Drucksache 12/1276) Dr.-Ing. Dietmar Kansy CDU/CSU 4807 D Dr. Nils Diederich (Berlin) SPD 4810A Siegfried Scheffler SPD 4810B Joachim Günther, Parl. Staatssekretär BMBau 4812C Dr. Walter Hitschler FDP 4813 D Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE 4814 D Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 4815 C Wolfgang Nagel, Senator des Landes Berlin 4817 A Dr. Walter Hitschler FDP 4818 B Wolfgang Lüder FDP 4819B Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/CSU 4819D Gerd Wartenberg (Berlin) SPD 4820 D Tagesordnungspunkt 12: Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/Linke Liste: Einsetzung eines Untersuchungsausschusses (Drucksache 12/ 1397) Andrea Lederer PDS/Linke Liste 4821 B Nächste Sitzung 4822 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 4823* A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 7 (Entwurf eines Gesetzes zur Übertragung der Aufgaben der Bahnpolizei und der Luftsicherheit auf den Bundesgrenzschutz) Joachim Clemens CDU/CSU 4823* C Günter Graf SPD 4824* D Dr. Burkhard Hirsch FDP 4826* A Ulla Jelpke PDS/Linke Liste 4826* D Ingrid Köppe Bündnis 90/GRÜNE 4827* C Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär BMI 4828* A Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 12 (Antrag betr. Einsetzung eines Untersuchungsausschusses) Thomas Kossendey CDU/CSU 4829* B Walter Kolbow SPD 4829* D Jürgen Koppelin FDP 4830* D Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE 4831* B Anlage 4 Bereitstellung des Truppenübungsplatzes Nochten der ehemaligen NVA für den Braunkohlenabbau MdlAnfr 1 — Drucksache 12/1513 — Angela Stachowa PDS/Linke Liste Antw PStSekr Dr. Ottfried Hennig BMVg 4831* D Anlage 5 Bedrohungsanalyse für die beim NATO-Gipfel in Rom vereinbarte Personalstärke des Bündnisses MdlAnfr 2 — Drucksache 12/1513 — Hans Wallow SPD Antw PStSekr Dr. Ottfried Hennig BMVg 4832* A Anlage 6 Positionen ehemaliger Angehöriger der NVA und des MfS in Sicherheits- und Militärdienststellen in Ländern der Dritten Welt MdlAnfr 34 — Drucksache 12/1513 — Rolf Schwanitz SPD SchrAntw StM Helmut Schäfer AA 4832* B Anlage 7 Intervention gegen die Verdreifachung der Hinrichtungen im Iran und die zunehmenden Verhaftungen von Frauen wegen „ungenügender Verschleierung" MdlAnfr 37 — Drucksache 12/1513 — Heinz Seesing CDU/CSU SchrAntw StM Helmut Schäfer AA 4832* C Anlage 8 Ursachen für den Anstieg der Zahl der Asylbewerber aus der Türkei MdlAnfr 38 — Drucksache 12/1513 — Hans Wallow SPD SchrAntw StM Helmut Schäfer AA 4832* D VI Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 57. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. November 1991 Anlage 9 Abschneidung der im Norden des Iraks lebenden Kurden von der Versorgung durch die irakische Regierung und Armee MdlAnfr 39 — Drucksache 12/1513 — Monika Ganseforth SPD SchrAntw StM Helmut Schäfer AA 4833* A Anlage 10 Berücksichtigung deutscher Sicherheitsinteressen hinsichtlich der HADES Kurzstrekkenraketen im Rahmen der deutsch-französischen militärischen Zusammenarbeit MdlAnfr 42 — Drucksache 12/1513 — Jürgen Augustinowitz CDU/CSU SchrAntw StM Helmut Schäfer AA 4833* B Anlage 11 Bereitstellung von Bundesmitteln für ein Soforthilfeprogramm für die Sowjetunion und ihre Republiken MdlAnfr 43, 44 — Drucksache 12/1513 — Gernot Erler SPD SchrAntw StM Helmut Schäfer AA 4833* C Anlage 12 Bemühungen um ein gemeinsames Soforthilfeprogramm der Industrieländer für die Sowjetunion und ihre Republiken MdlAnfr 45, 46 — Drucksache 12/1513 — Albrecht Müller (Pleisweiler) SPD SchrAntw StM Helmut Schäfer AA 4834* A Anlage 13 Integrierung der Angebote aus den mittel-und osteuropäischen Ländern in das Soforthilfeprogramm für die Sowjetunion und ihre Republiken MdlAnfr 47, 48 — Drucksache 12/1513 — Renate Rennebach SPD SchrAntw StM Helmut Schäfer AA 4834* C Anlage 14 Beseitigung der Probleme im Zusammenhang mit dem Transport, der Zwischenlagerung und der Verteilung von Hilfsgütern in der Sowjetunion und ihren Republiken MdlAnfr 49, 50 — Drucksache 12/1513 — Norbert Gansel SPD SchrAntw StM Helmut Schäfer AA 4835* B Anlage 15 Verhinderung der Zerstörung sorbischer Ortschaften durch den Braunkohlenabbau in der Region Weißwasser MdlAnfr 62 — Drucksache 12/1513 — Angela Stachowa PDS/Linke Liste SchrAntw StSekr Dr. Erich Riedl BMWi 4835* C Anlage 16 Stand der Verhandlungen über das Rüstungs- und Standortekonversionsprogramm nach der Ministerpräsidentenkonferenz MdlAnfr 65 — Drucksache 12/1513 — Ludwig Stiegler SPD SchrAntw PStSekr Dr. Erich Riedl BMWi 4836* A Anlage 17 Anzahl der deutsch-sowjetischen Joint Ventures (Vergleich Nov. 90/91); Beseitigung der Probleme MdlAnfr 66, 67 — Drucksache 12/1513 — Markus Meckel SPD SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 4836* B Anlage 18 Beratungshilfe für die Sowjetunion; Einrichtung von Handelskammern in sowjetischen Städten im Rahmen der deutsch-sowjetischen Wirtschaftshilfe MdlAnfr 68, 69 — Drucksache 12/1513 — Dr. Uwe Jens SPD SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 4837* A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 57. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. November 1991 4675 57. Sitzung Bonn, den 14. November 1991 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Adam, Ulrich CDU/CSU 15. 11. 91 Dr. Altherr, Walter CDU/CSU 15. 11. 91 Antretter, Robert SPD 15. 11. 91 * Bargfrede, Heinz-Günter CDU/CSU 15. 11. 91 Berger, Johann Anton SPD 15. 11. 91 Bindig, Rudolf SPD 15. 11. 91 * Dr. Brecht, Eberhard SPD 15. 11. 91 Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 15. 11. 91 * Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 15. 11. 91 Peter Harry Clemens, Joachim CDU/CSU 15. 11. 91 Doppmeier, Hubert CDU/CSU 15. 11. 91 Duve, Freimut SPD 15. 11. 91 Ehrbar, Udo CDU/CSU 15. 11. 91 Dr. Feige, Klaus-Dieter Bündnis 15. 11. 91 90/GRÜNE Fischer SPD 15.11.91 (Gräfenhainichen), Evelin Friedhoff, Paul FDP 15. 11. 91 Ganschow, Jörg FDP 15. 11. 91 Gattermann, Hans H. FDP 15. 11. 91 Dr. Glotz, Peter SPD 15. 11. 91 Göttsching, Martin CDU/CSU 15. 11. 91 Gröbl, Wolfgang CDU/CSU 15. 11. 91 Dr. Hauchler, Ingomar SPD 15. 11. 91 Henn, Bernd fraktionslos 15. 11. 91 Janovsky, Georg CDU/CSU 15. 11. 91 Koltzsch, Rolf SPD 15. 11. 91 Kors, Eva-Maria CDU/CSU 15. 11. 91 Kretkowski, Volkmar SPD 15. 11. 91 Mascher, Ulrike SPD 15. 11. 91 Dr. Menzel, Bruno FDP 15. 11. 91 Dr. Meyer zu Bentrup, CDU/CSU 15. 11. 91 * Reinhard Dr. Modrow, Hans PDS 15. 11. 91 Molnar, Thomas CDU/CSU 15. 11. 91 Dr. Müller, Günther CDU/CSU 15. 11. 91 * Nolte, Claudia CDU/CSU 15. 11. 91 Paintner, Johann FDP 15. 11. 91 Dr. Pfaff, Martin SPD 15. 11. 91 Pfuhl, Albert SPD 15. 11. 91 * Rauen, Peter Harald CDU/CSU 15. 11. 91 Reimann, Manfred SPD 15. 11. 91 * Rempe, Walter SPD 15. 11. 91 Reuter, Bernd SPD 15. 11. 91 Dr. Riege, Gerhard PDS 15. 11. 91 Roth, Wolfgang SPD 15. 11. 91 Sauer (Salzgitter), Helmut CDU/CSU 15. 11. 91 Schaich-Walch, Gudrun SPD 15. 11. 91 Graf von CDU/CSU 15. 11. 91 Schönburg-Glauchau, Joachim Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Schütz, Dietmar SPD 15. 11. 91 Dr. Soell, Hartmut SPD 15. 11. 91 Dr. Stavenhagen, Lutz G. CDU/CSU 15. 11. 91 Vogel (Ennepetal), CDU/CSU 15. 11. 91 * Friedrich Voigt (Frankfurt), SPD 15. 11. 91 Karsten D. Dr. Vondran, Ruprecht CDU/CSU 15. 11. 91 Vosen, Josef SPD 15. 11. 91 Dr. Warnke, Jürgen CDU/CSU 15. 11. 91 Welt, Jochen SPD 15. 11. 91 Wollenberger, Vera Bündnis 15. 11. 91 90/GRÜNE Zierer, Benno CDU/CSU 15. 11. 91 * *für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 7 (Entwurf eines Gesetzes zur Übertragung der Aufgaben der Bahnpolizei und der Luftsicherheit auf den Bundesgrenzschutz) Joachim Clemens (CDU/CSU): Erstens. Der Bundesgrenzschutz hat durch die Überwindung der deutschen Teilung einen nicht unwesentlichen Teil seiner Grenzsicherungs- und Kontrollaufgaben entlang der früheren deutsch-deutschen Grenze - Gott sei dank - eingebüßt. Durch das zwischen einigen europäischen Staaten vereinbarte, wenn auch vom Deutschen Bundestag noch nicht ratifizierte Schengener Abkommen sind die Kontrollen entlang der Grenze zu Frankreich und den Benelux-Staaten erheblich reduziert worden. Sie werden in den nächsten Jahren völlig beseitigt, auch wenn der Bundesgrenzschutz mit reduzierter Stärke in diesem Grenzbereich noch präsent bleibt. Der Wegfall der Binnengrenzen im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft wird bzw. hat teilweise schon im Vorgriff darauf zu einer weiteren Reduzierung von Aufgaben des Bundesgrenzschutzes geführt. Grenzsicherungs- und Kontrollaufgaben finden in Zukunft nur noch an den EG-Außengrenzen statt, d. h. vornehmlich an der Grenze zu Polen und der CSFR, entlang der Nordsee- und Ostseeküste, in den Seehäfen und den Flughäfen. Zweitens. Bei den Flughäfen bietet sich aus rationellen Gründen die völlige Sicherheitsüberwachung durch den BGS, d. h. die Übernahme sämtlicher Luftsicherheitsaufgaben an, die zumindest teilweise eigentlich den Ländern obliegen. Entsprechende Übertragungsanträge der Länder auf den Bundesgrenzschutz sind für alle großen Flughäfen schon jetzt angekündigt. Außerdem ist im Rahmen einer rationellen Zentralisierung aller bundespolizeilichen Aufgaben auch für die bundesinterne Übernahme der Bahnpolizei und des Fahndungsdienstes der Deutschen Bundesbahn durch den BGS zu plädieren. 4824* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 57. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. November 1991 Im Einigungsvertrag sind schon mit der Unterstützung der Länder die bahnpolizeilichen Aufgaben in den neuen Bundesländern auf den BGS übertragen worden. Es ist absolut unverständlich, was die A-Länder — eigentlich ist es nur das Land Nordrhein-Westfalen — anficht, gegen die Übertragung dieser neuen Aufgaben auf den BGS verfassungsmäßige Bedenken vortragen zu müssen. Diese Bedenken sind rechtlich völlig unerheblich. Der Bund hat nach Art. 73 Nr. 6 GG die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für die Bahnpolizei. Auch liegt die Verwaltungskompetenz für diesen Bereich nach Art. 87 GG bzw. Art. 87 d GG beim Bund. Die Aufzählung der einzelnen Verwaltungszweige in Art. 87 ff. GG ist lediglich in Abgrenzung zu den Länderkompetenzen vorgenommen worden. Sie schließt eine Verlagerung von Aufgaben innerhalb der Bundesverwaltung in keiner Weise aus. An der Rechtsstaatlichkeit des Entwurfs kann damit kein begründeter Zweifel bestehen. Die Bedenken des Landes NRW sind völlig unverständlich angesichts der Tatsache, daß der Bund die Luftsicherheitsaufgaben der Länder übernimmt, die zu einer Entlastung der Länder bei entsprechender Belastung des Bundes führen. Das Land NRW muß sich fragen lassen, warum es den entsprechenden Passagen des Einigungsvertrages und damit der Übernahme der Bahnpolizei im Beitrittsgebiet durch den Bundesgrenzschutz zugestimmt hat. Schließlich sind mit diesem Gesetz theoretisch mögliche Kompetenzrangeleien zwischen Bundes- und Länderpolizeien auf dem Bahnhofsgelände vernünftig abgegrenzt worden, ganz abgesehen davon, daß es in der Praxis vor Ort schon in der Vergangenheit zwischen Bahnpolizei und Landespolizei gut geklappt hat. Es besteht keinerlei Grund für die Länder, ihre Zustimmung zu diesem Gesetz zu versagen — ganz im Gegenteil! Mit der Übertragung der beiden neuen Einzeldiensttätigkeiten auf den BGS, d. h. die Polizei des Bundes, wird das Spektrum der Bundesgrenzschutzaufgaben abgerundet, die weggefallenen Tätigkeiten werden mehr als kompensiert. Durch die Übernahme dieser Aufgaben wird aber die bisherige Struktur des Bundesgrenzschutzes verändert. Bei einer Sollstärke von rund 30 000 Polizeivollzugs- und Verwaltungsbeamten bzw. Angestellten und Arbeitern wird der Anteil der Einzeldiensttätigkeiten erheblich aufgestockt, zu Lasten der für die Gewährleistung der inneren Sicherheit dringend benötigten Bundesgrenzschutzverbände. Die Zunahme von Einzeldiensttätigkeiten ist für das für den BGS noch zu schaffende attraktive Berufsbild von positiver Bedeutung. Ich möchte das für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion klar herausstellen. Auf der anderen Seite stellen die verbandsmäßig gegliederten Einsatzkräfte des BGS das Rückgrat der Bundespolizei zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit dar, auch dann, wenn es sich dabei für den BGS nicht um originäre Aufgaben handelt, sondern der BGS nur auf Anforderung der Bundesländer tätig werden kann. Trotz unbesetzter Planstellen in einer Größenordnung von 4 000 mit einer Tendenz bis zu 6 000 und trotz eines personalmäßig unzureichend ausgestatteten Einzeldienstes (GSE) sind die BGS-Verbände verpflichtet, erhebliche Kräfte für die neuen Einzeldienstaufgaben (Tagesaufgaben) abzustellen. Beispiel: Der im nächsten Jahr in Betrieb gehende neue Flughafen München verlangt 600 Einsatzkräfte, die überwiegend vom Grenzschutzkommando Süd, d. h. von den Verbänden gestellt werden müssen. Diese Kräfte fehlen bei Einsätzen zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf den aufkommenden Rechtsextremismus, aber auch auf den vorhandenen Linksextremismus. Außerdem kommt erschwerend hinzu, daß die ebenfalls verbandsmäßig gegliederten Bereitschaftspolizeien der Länder nur sehr begrenzt über Einsatzkräfte verfügen. Bei diversen Ländern stehen sie überwiegend nur auf dem Papier. Daraus folgt, daß bei der Schwächung der BGS-Verbände und fehlenden Bereitschaftspolizeieinheiten eine Gefahr für die innere Sicherheit und damit für die Sicherheit unserer Bürger bei schwierigen Sicherheitslagen entsteht. Da eine notwendige, personelle Aufstockung des Bundesgrenzschutzes nicht realistisch erscheint — es muß erst einmal die riesige Anzahl von Fehlstellen durch verstärkte Ausbildung, d. h. „über Bedarf" abgebaut werden — , bedarf es zunächst einer von der IMK vorzunehmenden Sicherheitsanalyse und darauf aufbauend eines Sicherheitskonzeptes für ein Zusammenwirken aller polizeilichen Verbandskräfte von Bund und Ländern im Interesse der inneren Sicherheit der Bundesrepublik. Dieses Sicherheitskonzept ist mehr als überfällig! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt die Übernahme der neuen Bundesgrenzschutzaufgaben. Das schließt aber nicht aus, auf die von diesem Gesetz zugleich ausgelösten unerwünschten Folgen hinzuweisen. Dieser Pferdefuß darf nicht unerwähnt bleiben. Unsere Devise muß lauten, einerseits mehr Attraktivität durch zusätzliche Einzeldiensttätigkeiten für die Beamten des Bundesgrenzschutzes zu schaffen, ohne aber dadurch die BGS-Verbandsaufgaben zu beeinträchtigen, also alles zu tun, um die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit trotz einer schwierig werdenden Sicherheitslage zu gewährleisten. Günter Graf (SPD): Der Bundesgrenzschutz ist ein unverzichtbarer Teil der Sicherheitseinrichtungen des Bundes und der Länder. Sein Auftrag ist es, den Bürger und seinen Staat vor Gefahren zu schützen. Die Bilanz seiner Leistungen, wie sehr nachdrücklich im letzten Tätigkeitsbericht von 1990 dargestellt, ist beachtlich, und den Angehörigen des Bundesgrenzschutzes gebührt dafür Dank und Anerkennung. Die gestiegenen Anforderungen, die heute an die Sicherheitsorgane unseres Landes gestellt werden, haben sich auch auf den Bundesgrenzschutz ausgewirkt. Der dem Bundesgrenzschutz im Jahre 1951 übertragene Auftrag der polizeilichen Sicherung der Grenzen der Bundesrepublik Deutschland beschreibt heute nur noch einen ganz geringen Teil der Verantwortung, die der Bundesgrenzschutz für die innere Sicherheit unseres Landes übernimmt. Nicht zuletzt der Wegfall der innerdeutschen Grenze und der geplante Abbau der polizeilichen Kontrollen des grenzüberschreitenden Verkehrs an Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 57. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. November 1991 4825 * den EG-Binnengrenzen haben dazu geführt, die Situation des Bundesgrenzschutzes neu zu überdenken. Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten stets in aller Deutlichkeit dafür ausgesprochen, den Bundesgrenzschutz zu einer leistungsfähigen und stets einsatzbereiten Polizei des Bundes fortzuentwickeln. Die Voraussetzungen hierfür hat der Deutsche Bundestag mit dem 1972 verabschiedeten Bundesgrenzschutzgesetz geschaffen. Dieses damals verabschiedete Gesetz erschloß dem BGS, unter Verzicht auf polizeifremde, dem Soldatenrecht entlehnte Regelungen, eine gesicherte polizeiliche Zukunft. Es ist unzweifelhaft, daß der Bundesgrenzschutz heute ein integrierter Bestandteil im System der Sicherheitseinrichtungen von Bund und Ländern ist, dessen Aufgaben eindeutig polizeilichen Charakter haben. In diese Richtung zielt auch der hier heute zur Beratung anstehende Gesetzentwurf zur Übertragung der Aufgaben der Bahnpolizei und der Luftsicherheit auf den Bundesgrenzschutz. Mit diesem Gesetz werden die Rechtsgrundlagen dafür geschaffen, daß die bahnpolizeilichen Aufgaben einschließlich der Aufgaben des Fahndungsdienstes der Deutschen Bundesbahn sowie auf Antrag des jeweiligen Landes die Aufgaben zum Schutz vor Angriffen auf die Sicherheit des Luftverkehrs auf den Bundesgrenzschutz übertragen werden. Im übrigen dient dieses Gesetz auch dem Zweck der Rechtsangleichung, da der Bundesgrenzschutz in den neuen Bundesländern die genannten Aufgaben auf Grund des Einigungsvertrages bereits wahrnimmt. Darüber hinaus wird mit diesem Gesetz die Zuständigkeitsabgrenzung und die Zusammenarbeit zwischen einem bahnpolizeilichen Dienstzweig im Bundesgrenzschutz und der Landespolizei gesetzlich präzisiert. Damit wird der berechtigten Forderung der Ständigen Konferenz der Innenminister/-senatoren der Länder vom 3. Mai 1991 Rechnung getragen, die seinerzeit durch Beschluß eine Abgrenzungsvereinbarung zwischen Bund und Ländern gefordert hat. Dieses ist nunmehr erfolgt. Außerdem erhält erstmalig die Unterstützung des Bundeskriminalamtes durch den Bundesgrenzschutz bei der Wahrnehmung von Personenschutzaufgaben eine gesetzliche Grundlage. Kritisch ist hier allerdings anzumerken, daß eine Lösung hinsichtlich der Gleichbehandlung der Unterstützungskräfte im Bereich des Personenschutzes für das BKA nicht gegeben ist. Zur Klarstellung: Die Beamten des Bundeskriminalamtes gehören sämtlich dem gehobenen und höheren Dienst an — Besoldungsgruppen ab A 9 aufwärts — , die im Personenschutz eingesetzten Beamten des BGS hingegen durchweg dem mittleren Dienst — Besoldungsstufen A 6 bis A 9. Diese Ungleichbehandlung kann nicht richtig sein und bedarf einer entsprechenden gesetzlichen Regelung, die zumindest eine Gleichstellung in der Bezahlung für eine gleiche Arbeit sicherstellt. Die sicherheitspolitischen Defizite in der Bundesrepublik Deutschland werden immer unübersehbarer. Dieses gilt in ganz besonderer Weise für die neuen Bundesländer, in denen das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Polizei Tag für Tag schwindet und die Gewaltbereitschaft zunimmt. Es scheint, als sei die Polizei einschließlich des Bundesgrenzschutzes vollkommen überfordert. Ich denke, wir stimmen überein, daß dieser Zustand nicht länger hingenommen werden kann. Das Miteinander der Länderpolizeien und des Bundesgrenzschutzes in den neuen Bundesländern muß neu überdacht werden. Es muß auch seinen Niederschlag in der wiederholt angemahnten Fortschreibung des Konzepts zur inneren Sicherheit finden. Insoweit fordert die SPD-Bundestagsfraktion eine massive materielle und personelle Unterstützung der Polizei in den neuen Bundesländern. Dies allein reicht sicherlich nicht aus, sondern vielmehr ist es notwendig, auch die Motivation der Beamtinnen und Beamten in erheblichem Maße zu steigern. Es ist sicher nicht motivierend, wenn Unterstützungskräfte des BGS-West in den neuen Ländern in menschenunwürdigen Unterkünften — wie z. B. in Zittau — untergebracht werden. Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß derzeitig dort Jagd auf Mäuse und Kakerlaken gemacht wird, die, so wurde mir berichtet, in aller Kürze dem Bundesinnenminister übersandt werden, um auf diese sicherlich sehr drastische Weise auf diese Mißstände aufmerksam zu machen. Notwendig ist ganz sicherlich auch eine Neukonzeption in Richtung Ausbildung mit dem Ziel, diese der der Länderpolizeien anzugleichen. Demotivierend wirkt sicherlich auch, wenn Unterstützungskräfte des BGS-West mit Dienstkraftfahrzeugen auf eine fast 20stündige Dienstreise geschickt werden, um „Westkräfte" in den neuen Bundesländern abzulösen, die dann erneut eine fast 20stündige Fahrt vor sich haben. Dieses vor dem Hintergrund, daß Hubschrauber leerstehen und sicherlich sinnvoll für den Transport derartiger Kräfte eingesetzt werden könnten. Das heute hier zur Debatte stehende Aufgabenübertragungsgesetz kann sicherlich nur als ein erster Schritt verstanden werden, die strukturellen, personellen und sozialen Probleme des Bundesgrenzschutzes zu lösen. Insoweit erscheint es der SPD-Bundestagsfraktion dringend geboten, das BGS-Gesetz in seiner Gänze zu novellieren. Dabei wird auch daran zu denken sein, künftig auf den Namen „Bundesgrenzschutz" zu verzichten sowie den Kombattantenstatus des BGS der Vergangenheit angehören zu lassen. Die Neubewertung einschließlich der Aufstiegs- und Besoldungsfragen muß in enger Anlehnung an die Polizeien der Länder erfolgen. Diese grundsätzliche Novellierung des BGS-Gesetzes wird sicherlich dann auch Auswirkungen auf die Neustrukturierung des Bundesgrenzschutzes in seiner Gesamtheit mit den damit verbundenen Standortfragen haben. Es kommt einer Mißachtung des Parlaments gleich, wenn der Innenminister, vertreten durch seinen Staatssekretär, noch am gestrigen Tage im Innenausschuß gegenüber den Innenausschußmitgliedern den Eindruck erweckt, in der Standortfrage 4826* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 57. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. November 1991 sei eine abschließende, endgültige Entscheidung noch nicht gefallen, einen Tag später jedoch bereits die Kommandeure des BGS nach St. Augustin einlädt, um ihnen dort das endgültige Konzept der BGS-Neustrukturierung inklusive der Festlegung der Standorte vorzustellen. So gesehen war die Innenausschußsitzung zu diesem Punkte vertane Zeit und somit eine reine „Showveranstaltung". Ich würde mir wünschen, daß es in Kürze im Plenum des Deutschen Bundestages Gelegenheit geben wird, die so dringenden akuten Probleme der inneren Sicherheit miteinander zu diskutieren. Was den heute zu verabschiedenden Gesetzentwurf zur Übertragung der Aufgaben der Bahnpolizei und Luftsicherheit angeht, stimmt die SPD-Bundestagsfraktion diesem zu. Dr. Burkhard Hirsch (FDP): Das ist ein wichtiges Gesetz, weil es eine neue Entwicklung im Bereich des Bundesgrenzschutzes einleitet. Es stärkt die Luftsicherheit und entlastet in diesem Bereich die Polizei der Länder. Es stärkt die Sicherheit im Bahnbereich und entlastet auch hier die Polizei der Länder. Aber es regelt gleichzeitig, entgegen der ursprünglichen Regierungsvorlage, die Zusammenarbeit zwischen dem BGS auf der einen Seite und den Polizeien der Länder auf der anderen Seite. Diese Regelung ist nicht kleinlich und nicht kasuistisch, sondern verlangt die vertrauensvolle Zusammenarbeit in der Praxis, die gegenseitige Abstimmung, ohne die die innere Sicherheit nicht funktionieren kann. Wir haben die begründete Hoffnung, daß die im ersten Durchgang vom Bundesrat streitig gestellte Verfassungsfrage von den Ländern nun anders gesehen wird. Wir haben immer betont, daß wir für diese Haltung der Länder Verständnis haben und daß wir uns die Übernahme der Aufgaben der Bahnpolizei nicht anders vorstellen können als in völliger Übereinstimmung mit den Ländern. Diesem Ziel sind wir nun wesentlich nähergekommen. Gleichzeitig beinhaltet das Gesetz aber auch wesentliche neue Regelungen über die innere Struktur des BGS. Die traditionelle Trennung von Grenzschutzkommandos und Grenzschutzdirektionen — also Exekutive und Verwaltung — wird aufgehoben. Sie werden zu Grenzschutzpräsidien zusammengeführt. Das entspricht der allgemein bewährten Organisation der Polizeien der Länder und entspricht im übrigen der erheblich gewachsenen Bedeutung des polizeilichen Einzeldienstes. Der BGS wird einen Schritt weiter zur normalen Polizei. Das wiederum führt zu der Frage, wie das Verhältnis der Polizei des Bundes zu den Polizeien der Länder insgesamt geregelt werden soll. Wir haben immer wieder betont, daß die Fortschreibung des gemeinsamen Sicherheitsprogramms von Bund und Ländern aus den 70er Jahren eine wesentliche und für die innere Sicherheit entscheidende Aufgabe ist, der sich die Innenministerkonferenz nicht länger entziehen darf. Hier ist es nicht mit punktuellen Aufträgen getan, sondern es geht um die Fortschreibung gemeinsamer Stärkevorstellungen, um die Abstimmung der Laufbahnregelungen, um die Anpassung der Besoldungsregelungen und um die Angleichung der Stellenpläne von BGS und Landespolizeien. Es geht auch um das gemeinsam festzulegende Stärkeverhältnis zwischen den Bereitschaftspolizeien der Länder und dem Bundesgrenzschutz. Das ist in einer Zeit, in der die Polizeien der fünf neuen Bundesländer ihre Aufgabe noch nicht voll erfüllen können, von elementarer Bedeutung für alle. Ebenso mahne ich die Innenministerkonferenz, endlich über die politischen Grenzen hinaus zu einer Abstimmung der Polizeigesetzgebung zu kommen, die sich immer mehr auseinanderentwickelt. Gegenüber dem Bundesinnenminister ist die baldige Vorlage eines Gesetzentwurfes anzumahnen, der die spezifischen Rechtsgrundlagen für die Datenerhebung und Datenverarbeitung des BGS regelt und der endlich die polizeilichen Befugnisse, insbesondere für die verstärkt wahrzunehmenden einzeldienstlichen Aufgaben, festlegt. Wir fragen uns auch, ob wir noch eine Grenzschutzdienstpflicht brauchen oder den Kombattantenstatus für die BGS-Verbände. Die Beamten des Grenzschutzes haben ein Anspruch darauf, daß der Gesetzgeber hier bald klare Verhältnisse schafft. Lassen Sie mich mit zwei Äußerlichkeiten schließen. Ich will keine Empfindlichkeiten wecken, aber natürlich muß man die Frage stellen, ob der Bundesgrenzschutz auch dann weiter so heißen soll, wenn sich seine Aufgaben in der Wirklichkeit doch erheblich verändern. Schließlich möchte ich eine Frage wiederholen, die ich schon bei anderer Gelegenheit mit großer Offenheit gestellt habe: ob es nicht wirklich an der Zeit sein könnte, nun auch das äußere Erscheinungsbild des BGS dem der Polizeien aller Bundesländer anzupassen. Wenn aus Kommandeuren Präsidenten werden, dann ist das ja kein Abstieg, sondern ein Ausdruck für den Wandel der Zeit, für ein sich wandelndes Selbstverständnis, und es sollte niemandem schwerfallen, das auch äußerlich sichtbar zu machen. Wir hoffen, daß dieses Gesetz schnell in Kraft tritt und daß der Bundesrat es nun akzeptieren wird. Auf diesem Gesetz beruht auch die Zukunftsplanung des BGS, und wir haben eine Verantwortung den Beamten gegenüber, ihnen nach so langer Unsicherheit die Gewißheit zu geben, daß und wo sie gebraucht werden. Ulla Jelpke (PDS/Linke Liste): Vor fast genau drei Jahren schrieb der Staatssekretär im Bundesministerium des Innern Neusel einen Brief an den Innenausschuß zur „Entwicklung und Gestaltung des Bundesgrenzschutzes als Polizei des Bundes über das Jahr 2000 hinaus". In diesem Schreiben ging Neusel wie selbstverständlich auch auf die Aufgabenerweiterung des BGS ein. „Verfassungsrechtliche Fragen und Fragen der politischen Durchsetzbarkeit" sah er auf sich zukommen. Im Zuge dieser Aufgabenerweiterung wurde die erste Hürde 1989 mit dem Auslandseinsatz des BGS in Namibia genommen. Vor dem Bundestag erklärte der innenpolitische Sprecher der FDP Hirsch sinngemäß, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 57. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. November 1991 4827* daß es keiner Verfassungsänderung bedürfe, da es sich nur um einen singulären Fall handele. Für die im Gesetz vorgeschlagenen Aufgabenerweiterungen sind die verfassungsrechtlichen Probleme genauso geblieben. Wäre es nach der CDU/ CSU gegangen, dann hätte man diese Ausdehnung der Befugnisse des BGS auf dem Verordnungswege geregelt. Der Kollege Hirsch wollte immerhin eine gesetzliche Regelung. Verfassungsrechtliche Probleme mochte er bei dem weiteren Ausbau des BGS zur Bundespolizei wiederum nicht erkennen. Der Bundesgrenzschutz wird also in der Zukunft Aufgaben der Bahnpolizei und der Luftsicherheit übernehmen. Diejenigen, die meinten, daß mit dem Zerfall des ehemaligen Ostblocks, besonders durch den Anschluß der DDR, der ursprüngliche Auftrag des BGS wegfallen würde, mußten erkennen, daß die Umstrukturierungen im bundesdeutschen Sicherheitsapparat sehr weitreichend gemeint waren. Und so werden sie in dem Gesetz jetzt auch angewandt. Demnächst wird man sich an Bilder gewöhnen müssen, die man bisher eher aus Militärdiktaturen gewohnt war. Schwer bewaffnete Grenzschützer, die auf Bahnhöfen und Flugplätzen patroullieren. Und welche Grenzen wird der Bundesgrenzschutz auf bundesdeutschen Bahnhöfen und Flugplätzen schützen? Offensichtlich die der Festung Europa. Was heute schon BGS-Einheiten auf ausländischen Flughäfen in der sogenannten Dritten Welt verrichten, sollen sie hier perfektionieren: die Abschottung und Aussortierung von einreisenden Asylbewerberinnen und Asylbewerbern und Immigrantinnen und Immigranten beispielsweise. Aber auch allgemeine kriminalpolizeiliche Aufgaben und Aufgaben der allgemeinen Gefahrenabwehr sollen wahrgenommen werden. Die Bundesregierung strebt das Ziel an, dem BGS neue Tagesaufgaben im Bereich der inneren Sicherheit zu übertragen. Die Aufgabenstruktur des BGS erweitert sich in qualitativer Hinsicht; es wird eine neue komplexe polizeiliche Aufgabenwahrnehmung durch den BGS geschaffen. Das Bundesinnenministerium als nationale Sicherheitsbehörde, wie es sich heute selbst bezichtigt, würde damit seine Machtfülle erweitern und die staatliche Macht weiter zentralisieren. Einmal mehr sieht auch die Bundesregierung keine „verfassungsrechtlichen Hindernisse" für die Aufgabenerweiterung des BGS. Dabei weiß sie sehr wohl, daß sie den Aufbau einer zentralen Bundespolizei mit allgemeinen und kriminalpolizeilichen Aufgaben weiter vorantreibt. Vor allem in diesem Punkt teilen wir die Kritik des Bundesrates an diesem Gesetzentwurf. Der Bundesrat weist in seiner Stellungnahme vom 5. Juli 1991 mit Recht darauf hin, daß die Zuweisung von Aufgaben an den Bundesgrenzschutz durch den Gesetzentwurf eine Qualität erreicht, „die geeignet ist, die vom Grundgesetz den Ländern — und eben aus wohlerwogenen Gründen nicht dem Bund — vorbehaltene grundsätzliche Zuständigkeit für die Polizei auszuhöhlen". Wir stimmen deshalb gegen den Gesetzentwurf. Ingrid Köppe (Bündnis 90/GRÜNE): Der zur Abstimmung anstehende Gesetzentwurf will insbesondere dem Einzeldienst des Bundesgrenzschutzes zusätzliche Aufgaben übertragen: — durch Übernahme des Bahnpolizeidienstes, — von dessen Fahndungsdienst, — zur Sicherung der Flughäfen, — im Bereich Personenschutz ergänzend zum BKA. Zugleich wird die Umorganisation des BGS geregelt. Ich kann mich kurz fassen: Die Gruppe Bündnis 90/ DIE GRÜNEN wird diesen Entwurf ablehnen, und zwar aus folgenden Gründen: Erstens. Die Entwurfsbegründung und der Bericht des federführend beratenden Innenausschusses machen deutlich, daß es bei diesen Änderungen weniger um verkehrspolitische Notwendigkeiten geht, sondern darum, den BGS insgesamt attraktiver zu machen und in seinem truppenpolizeilichen Kern zu stärken. Da können wir nicht folgen. Uns erscheint die nun schon Jahre währende krampfhafte Suche nach neuen Tagesaufgaben für den BGS ziemlich skurril; als Beleg für diese beliebige Suche nenne ich nur das Stichwort „BGS 2000" — die Kundigen unter Ihnen wissen Bescheid. Skurril ist dies angesichts der ideologischen Sturheit, mit der am Fortbestand einer teuren Bundes-Truppenpolizei festgehalten wird, zu deren politischer und haushaltsmäßiger Legitimation seit geraumer Zeit eine Art „Garnierung" mit mehr Tagesaufgaben ersonnen wird. Aus anderen Bereichen wie etwa der Zivilverteidigung kennen wir ja allerdings dieses ordnungspolitisch motivierte, krampfhafte Festhalten an überlebten Strukturen ebenso; die angestrebte „Frischzellenkur" ist dort genausowenig überzeugend. Ich gehe auf zwei mögliche Einwände ein: Erster Einwand: das BKA werde doch entlastet. Aber glaubt ernsthaft jemand, daß dies erstmals weitere Stellenforderungen des Amtes verhindern würde? Zweiter Einwand: Die Länder, insbesondere im Osten, können ihre Aufgaben bei „großen Lagen" nicht allein bewältigen, im übrigen sei auch die Entlastung von der Flugsicherung nötig. Aber mit diesem Argument kann nicht die grundsätzliche — und aus guten Gründen in der Verfassung stehende — Länderzuständigkeit für Polizeifragen nach und nach ausgehöhlt werden. Auch aus dieser Erwägung hat der Bundesrat das Vorhaben — u. a. auf Grundlage des Rechtsgutachtens von Herrn Prof. Papier — wegen Verfassungswidrigkeit abgelehnt. Wessen politische Phantasie sich in der Alternative erschöpft, der Bund müsse mit dem BGS einspringen, ist zu bedauern. Hier kann und muß den Ländern stattdessen durch Modifizierung des Finanzausgleichs bei der Verteilung des Steueraufkommens geholfen werden, auf eigenen Beinen zu stehen. Wir sagen: Abbau des Bundesgrenzschutzes auf null; großzügige Hilfen für die dort Beschäftigten zum 4828* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 57. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. November 1991 Umstieg in die Länderpolizeien oder in andere Behörden. Zweitens. Ich vermisse etwas in diesem Gesetz, was überfällig ist und dringlicher gewesen wäre als dieser Aufgaben- Zuwachs: die schon lange angemahnten und seit bald 10 Jahren ausstehenden Regelungen der Datenverarbeitung beim BGS. Und auffällig scheint mir auch, daß die Novelle des BGS-Gesetzes nicht genutzt wurde, endlich die bisher nicht vorhandene Rechtsgrundlage für Auslandseinsätze des BGS über § 4 hinaus vorzuschlagen und auch die öffentliche Diskussion über deren Sinn und Unsinn zu riskieren. Stattdessen schickt man die BGS-Beamten anscheinend lieber weiter rechtswidrig hinaus nach Marokko oder anderswo. Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär bei Bundesminister des Innern: Bei der heutigen Beschlußfassung über das Gesetz zur Übertragung der Aufgaben der Bahnpolizei und der Luftsicherheit auf den Bundesgrenzschutz geht es um eine wichtige Entscheidung für die Zukunft des Bundesgrenzschutzes. Es geht vor allem aber auch um einen Beitrag zur Gewährleistung der inneren Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland. Mit der Vollendung der staatlichen Einheit Deutschlands hat sich der Auftrag des Bundesgrenzschutzes, die mitten durch unser Land gezogene frühere Demarkationslinie zu sichern, erfüllt. Tiefgreifende Folgen für seine grenzpolizeilichen Aufgaben wird auch der geplante Abbau der Kontrollen an den Binnengrenzen des zusammenwachsenden Europas haben. Auf der anderen Seite sind dem Bundesgrenzschutz an den Grenzen zu Polen und zur Tschechoslowakei neue Aufgaben zugewachsen. Zudem nimmt er in den neuen Bundesländern die bahnpolizeilichen Aufgaben und die Aufgaben zum Schutz vor Angriffen auf die Sicherheit des Luftverkehrs schon seit dem 3. Oktober 1990 wahr. Damit ist eine Neuorientierung des Bundesgrenzschutzes unerläßlich. Sie wird mit der Entscheidung über den vorliegenden Gesetzentwurf und den Entscheidungen von Bundesinnenminister Dr. Schäuble über die künftige Organisation des Bundesgrenzschutzes abgeschlossen sein. Ausgangspunkt dafür ist die nach Überzeugung der Bundesregierung unverändert bestehende Notwendigkeit, zur Bewältigung besonderer Sicherheitslagen effiziente Polizeiverbände vorzuhalten. In dieser Funktion sind verbandsmäßig gegliederte Polizeikräfte des Bundesgrenzschutzes unverzichtbar. Sie ergänzen komplementär die Bereitschaftspolizeien der Länder. In der zwischen Bund und Ländern abgestimmten Konzeption für die innere Sicherheit ist der Bundesgrenzschutz ein integraler Bestandteil. Die Erfahrungen der Vergangenheit zeigen, daß alle Bundesländer auf die Unterstützung durch den Bundesgrenzschutz angewiesen sind. Dies gilt heute in besonderem Maße für die neuen Länder. Seit dem 3. Oktober 1990 ist kaum eine Woche vergangen, in der Verbände des Bundesgrenzschutzes nicht bei besonderen Anlässen in den neuen Bundesländern eingesetzt gewesen sind. Vor diesem Hintergrund dient die geplante Übertragung der Aufgaben der Bahnpolizei und der Luftsicherheit vor allem zwei sicherheitspolitisch bedeutsamen Zielen. Zum einen geht es um eine unmittelbare Entlastung der Landespolizei, die frei werdenden Kräfte in Schwerpunktbereichen der Kriminalitätsbekämpfung einsetzen können. Dieser Effekt ist bei Übernahme der Luftsicherheitsaufgaben besonders augenfällig. Er tritt aber auch bei Übernahme der bahnpolizeilichen Aufgaben ein. Zum anderen muß der Bundesgrenzschutz im gesamtstaatlichen Interesse auch künftig in der Lage bleiben, die ihm zugedachte verbandspolizeiliche Unterstützungsfunktion für die Länder wahrzunehmen. Dazu bedarf der Bundesgrenzschutz einer gesicherten Zukunftsperspektive durch ein abgerundetes Spektrum polizeilicher Aufgaben im Kompetenzbereich des Bundes. Der Beruf eines Polizeivollzugsbeamten im Bundesgrenzschutz wird angesichts der demographischen Entwicklung nur dann genügend Anziehungskraft für den Nachwuchs haben, wenn er ein breites Angebot an künftigen Verwendungsmöglichkeiten in attraktiven eigenen Dienstzweigen vorweisen kann. Damit ist die Übertragung der neuen Aufgaben eine Frage von grundlegender Bedeutung. Ohne diese Weiterentwicklung bliebe der Bundesgrenzschutz auch in Zukunft hauptsächlich auf seine Funktion als Verbandspolizei beschränkt. Angesichts der zunehmend schwierigeren Personalsituation, die sich überdies durch die in den Ländern verfolgte Aufwertung des polizeilichen Einzeldienstes weiter verschärfen wird, wäre der BGS auf Dauer kaum lebensfähig. Die Leistungsfähigkeit des Bundesgrenzschutzes und seiner Verbände wird folglich durch die Übertragung der neuen Aufgaben nicht etwa geschwächt, wie gelegentlich zu hören ist. Im Gegenteil: Die neuen Aufgaben sind wichtige Voraussetzungen dafür, den Bestand des Bundesgrenzschutzes als eigenständige Polizeiorganisation des Bundes zu sichern. Bei alledem werden die Verbände des Bundesgrenzschutzes trotz der unvermeidlichen Personalumschichtungen zu den einzeldienstlichen Aufgaben in bezug auf personelle Stärke und Effizienz auch künftig ein zentrales sicherheitspolitisches Instrument bleiben. Für den Personalbestand des Bundesgrenzschutzes erweist sich im übrigen positiv, daß sich mehr als 90 % der Beamten der Bahnpolizei für den Wechsel in den Bundesgrenzschutz ausgesprochen haben. Diese Mitarbeiter sind in den Reihen des Bundesgrenzschutzes herzlich willkommen. Nicht zuletzt das Anliegen, auch künftig über leistungsfähige BGS-Verbände zu verfügen, ist maßgebliche Grundlage für die Entscheidungen, die Minister Dr. Schäuble in diesen Tagen über die neue Organisation des Bundesgrenzschutzes trifft. Eine Expertenkommission aus Vertretern des Ministeriums, der Bundesgrenzschutzbehörden sowie der Personalvertretungen hat dafür die entsprechenden Vorschläge vorgelegt, um dem Bundesgrenzschutz den passenden organisatorischen Rahmen für seine veränderte Aufgabenstellung zu geben. Der Bericht dieser Arbeitsgruppe wurde allen Beteiligten in Politik und Verwaltung zugeleitet mit dem Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 57. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. November 1991 4829* Ziel, durch eine breite Diskussion der darin enthaltenen Vorschläge eine möglichst hohe Akzeptanz der anstehenden Entscheidungen unter Einbeziehung aller relevanten Gesichtspunkte zu ermöglichen. Ein wichtiger Punkt der Neuorganisation, der mit einem Änderungsvorschlag des Innenausschusses bereits in die jetzt vorliegende Fassung des Gesetzentwurfes eingeflossen ist, liegt darin, die Organisation des Bundesgrenzschutzes an die polizeilichen Strukturen in den Ländern anzugleichen. Dies entspricht seiner geänderten Aufgabenstellung und scheint mir auch BGS-politisch bedeutsam. Mit der Übernahme der neuen Aufgaben wird der Bundesgrenzschutz über einen abgerundeten Aufgabenbestand verfügen. Er bewegt sich in verfassungsrechtlich einwandfreier Weise ausschließlich im Rahmen der nach dem Grundgesetz dem Bund zugewiesenen Kompetenzen. Die Länder brauchen keinerlei Einschränkung ihrer Polizeihoheit zu befürchten. Die Weichen für die Zukunft des Bundesgrenzschutzes sind gestellt. Wir erwarten, daß die gesetzgeberischen und organisatorischen Entscheidungen von allen Angehörigen des Bundesgrenzschutzes loyal mitgetragen und umgesetzt werden. Ich bitte um Ihre Zustimmung zu dem Gesetzentwurf. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 12 (Antrag betr. Einsetzung eines Untersuchungsausschusses) Thomas Kossendey (CDU/CSU): Die CDU/CSU- Fraktion erwartet eine vollständige Aufklärung des in Rede stehenden Sachverhaltes, so wie sie dem Verteidigungsausschuß gegenüber von den zuständigen Ministern angekündigt worden ist. Danach erst werden wir entscheiden, ob und wie in den parlamentarischen Gremien weiterverfahren wird und welche Konsequenzen wir ziehen müssen. Aus diesem Grunde lehnen wir den Antrag der PDS-Fraktion zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses nach Art. 44 des Grundgesetzes ab. Lassen Sie mich aber für unsere weitere Arbeit an diesem Problem einige deutliche Markierungspunkte aufzeigen: 1. Wir sind der Meinung, daß die wehrtechnische Zusammenarbeit mit Israel einen hohen Stellenwert hat. Sie ist für uns eine moralische Verpflichtung, sie ist politisch sinnvoll und sie ist auch rechtlich zulässig. Gerade deswegen dürfen die von uns gewollten wehrtechnischen Unterstützungen nicht ins rechtliche Zwielicht geraten, wie dies in Hamburg durch das Handeln von Mitarbeitern bei Bundesbehörden geschehen ist. 2. Wir wollen vollständige Aufklärung über die Aktivitäten des BND und des BMVg. Nichts darf in diesem Zusammenhang unklar bleiben. Die verantwortlichen Minister und der BND-Chef sind aufgefordert, den rechtlichen und tatsächlichen Grauschleier endlich zu lüften. Alle Berichte und Aussagen, die wir im Verteidigungsausschuß zu diesem Thema hören werden, müssen auch das Kriterium der politischen Verantwortung beinhalten. 3. Diese politische Verantwortung ist mehr als die strafrechtliche Verantwortung, sie ist mehr als die zivilrechtliche oder auch die moralische Verantwortung. Sie ist vielmehr der demokratische Schutz vor Willkür, Ermessensmißbrauch oder gar gesetzwidrigem Handeln der Bürokratie. Ohne politische Verantwortung hätten wir die Alleinherrschaft der Bürokratie, die Hannah Arendt treffend als „Herrschaft des Niemand" bezeichnet hat. 4. Bei der Beurteilung dieses Falles sollten wir im Verteidigungsausschuß auch andere gleich und ähnlich gelagerte Fälle seit dem Tage der Rahmenvereinbarung über die Zusammenarbeit zwischen Bundesnachrichtendienst und Bundeswehr im Jahre 1979 auf den Tisch bringen. Es ist für uns nämlich höchst unangenehm, mit der Realität nur scheibchenweise konfrontiert zu werden. Es stärkt übrigens auch nicht das Vertrauen in die politische Kontrolle der beteiligten Häuser, wenn man das Gefühl bekommt, daß die jeweilig zuständigen Mitarbeiter gewissermaßen lebende „tote Briefkästen" sind, die man erst mit dem politischen und juristischen Hebel öffnen kann. 5. Dankbar bin ich über die schnelle Reaktion der Mitglieder der parlamentarischen Kontrollkommission, die die entsprechenden Spielregeln für die demokratische Kontrolle der Dienste verbessern wollen. Auf diese Art und Weise können wir demnächst hoffentlich effektiver verhindern, daß sich durch vielleicht gutgemeinte, politisch aber so nicht gewollte Aktivitäten — die sich möglicherweise auch parallel zum geltenden Recht abspielen — einen Art von Schattenaußenpolitik entwickelt, die unter dem Motto „Pleiten, Pech und Panzer" Schatten auf unsere Beziehungen zu Israel werfen. 6. Zum Schluß möchte ich noch eine Einladung an die Kollegen der PDS/Linke Liste aussprechen. Schauen Sie, wir sprechen so oft in diesem Zusammenhang von parlamentarischer Kontrolle: Der Verteidigungsausschuß ist auch ein parlamentarisches Gremium, in dem die Regierung kontrolliert wird, ein Gremium, in dem es etliche Informationen gibt, manche zugegebenermaßen erst auf intensive Nachfrage. Gerade gestern haben Sie dort — wie so häufig — gefehlt. Schauen Sie doch mal rein, hören Sie doch mal zu, diskutieren und fragen Sie mit uns die Regierung zu diesem Sachverhalt! Das Risiko, dabei klüger zu werden, müßten Sie allerdings in Kauf nehmen. Solange Sie sich allerdings in den schon zur Verfügung stehenden Gremien nicht um die Aufklärung des Sachverhaltes gemeinsam mit uns bemühen, solange können wir Ihre Forderung nach Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses auch nicht recht ernst nehmen und lehnen deshalb Ihren Antrag ab. Walter Kolbow (SPD): Die SPD lehnt den Antrag aus zwei Gründen ab: Zum einen sprechen formale Gründe dagegen, denn nach Art. 44 des Grundgesetzes konstituiert sich der Verteidigungsausschuß als 4830* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 57. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. November 1991 Untersuchungsausschuß, wenn dafür ein entsprechender Beschluß gefaßt wird. Ein Sonderausschuß ist in der Verfassung nicht vorgesehen. Zum anderen zielt der Antrag in die falsche Richtung. Nicht der BND, sondern das Verteidigungsministerium und Bundesminister Dr. Stoltenberg sind in das Zentrum der Affäre gerückt. Der BND war zwar im Hamburger Fall als „Abwickler" tätig, das BMVg jedoch stellte gesetzeswidrig Kriegswaffen und Geräte zur Verfügung. Wir wissen darüber hinaus inzwischen, daß es zu anderen „Material"-Übergaben gekommen ist, an denen der BND überhaupt nicht beteiligt war: Indizien dafür, daß die Dienstaufsicht auf höchster Ebene und die politische Kontrolle der Leitung des BMVg nicht funktioniert hat. Die SPD bleibt dessenungeachtet bei ihrer Position — die ich letzte Woche bereits öffentlich vertreten habe — , daß der Verteidigungsausschuß als Untersuchungsausschuß tätig werden muß, wenn der bis Ende des Monats angekündigte Abschlußbericht die off enen Fragen nicht lückenlos und umfassend beantwortet sowie zur Abstellung der offenkundigen Mängel weitere zufriedenstellende Änderungen von Verfahren und Kontrolle der Zusammenarbeit von BMVg und BND vorschlägt. Zur Zeit sieht es jedoch eher nach dem Gegenteil aus: Mit jeder neuen Erklärung oder dem Schweigen des Verteidigungsministeriums werden neue Fragen aufgeworfen. So zeigt der im Hamburger Hafen aufgedeckte ungenehmigte Waffentransport, daß das BMVg offenbar munter zwischen wehrtechnischer Zusammenarbeit und Ersatzteillieferungen an Israel mischte. Wie sonst ließe sich die Anwesenheit von zwei Ersatzteilpaketen für ehemalige NVA-Schützenpanzer BMP 1 und BMP 2 in dieser Lieferung erklären, die doch offiziell der wehrtechnischen Erprobung dienen sollte? Ist der daraus zu ziehende Schluß nicht logisch, daß es mindestens eine weitere Lieferung mit solchen Schützenpanzern an Israel gegeben haben muß? Die SPD hat zwar Hinweise darauf, aber auch hier ist der Verteidigungsminister nicht in der Lage, eine befriedigende Erklärung zu geben. Wir fragen uns allerdings auch, was eigentlich der Bundesfinanzminister über die Hamburger Waffenaffäre weiß, wo doch die Zollbehörde, die ihm untersteht, über den abwickelnden BND Informationen erhalten hatte. Uns ist inzwischen zwar die Rahmenvereinbarung zwischen Kanzleramt und BMVg über die Zusammenarbeit mit dem BND bekannt. Auf welcher Grundlage und mit welcher Legitimation aber „regiert" der BND in andere Ressorts hinein? Einer „Welt"-Veröffentlichung vom 3. November 1991 wurde nicht widersprochen, daß der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr Admiral Dieter Wellershoff über alle Vorgänge, die die Zusammenarbeit des BMVg mit dem BND betrafen, unterrichtet war. Von ihm wurde kein negatives Votum zu den Waffenlieferungen bekannt: Eine „feine" Qualifikation wäre das für einen Präsidenten der Bundessicherheitsakademie. Eine „ddp"-Meldung vom 12. November 1991 legt nahe, daß noch mehr an unangenehmen Enthüllungen für die Hardthöhe zu erwarten ist. Die Agentur hatte unter Berufung auf eine Aussage des PDS-Fraktionsvorsitzenden im Schweriner Landtag berichtet, daß offensichtlich auch ein Raketenschiff der NVA — richtiger: ein Flugkörperschnellboot — an Israel verkauft oder abgegeben wurde. Auch dazu erfolgte bisher kein Dementi aus dem BMVg. Die SPD stellt außerdem die Frage, wer denn den Rest des NVA-Gerätes erhalten hat, der bisher abgegeben wurde, wenn nur ein Teil nach Israel ging? Meine Vermutung, daß die „Hennig-Liste" vom 10. Oktober 1991 nicht nur Israel nicht enthielt, dürfte damit nicht unzutreffend sein. Schließlich ist die Frage zu stellen, welche Rolle der Verteidigungsminister selbst in dieser Affäre spielt. Ist er nur, wie der „Spiegel" am Montag in der Überschrift seines Berichtes schrieb, „ahnungslos und vergeßlich" oder ist nicht doch, wie ich Ende März bereits erklärte, „seine Autorität zunehmend verfallen" ? Hat die Ebene der beamteten Staatssekretäre auf eigene Faust Politik getrieben, als die Marine Schiff-SchiffFlugkörper mit Kenntnis hoher militärischer und ziviler Amtsinhaber auf der Hardthöhe nach Israel lieferte, oder wurden diese Soldaten und Beamten bewußt als „Filter und Koordinatoren" eingesetzt, um im Falle der Entdeckung der ungesetzlichen Handlungen die politische Leitung aus der Schußlinie zu halten? Sollen wir wirklich glauben, daß eher preußischkorrekte Beamte als Dunkelmänner gearbeitet haben? Deutet nicht alles darauf hin, daß jetzt ein Stabsabteilungsleiter als Bauernopfer vorgesehen ist? Fragen über Fragen. Die SPD ist gespannt auf die Vorlage des Abschlußberichtes in zwei Wochen. Von dessen inhaltlicher Auswertung wird sie die Einsetzung des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuß abhängig machen. Dann wird auch über die politische Zukunft des Verteidigungsministers Stoltenberg zu reden sein — wenn es denn noch eine gibt. Jürgen Koppelin (FDP): Eigentlich hätte ich erwartet, daß dieser Antrag zurückgezogen worden wäre. Fast alle im Antrag genannten und aufgestellten Fragen sind inzwischen beantwortet worden, u. a. in der Sitzung des Verteidigungsausschusses am 6. November. Und damit könnten wir eigentlich zur Tagesordnung übergehen, außer daß ich noch einmal anmerken möchte, daß wir zu Beginn der Legislaturperiode lange über die Beteiligung der parlamentarischen Gruppen in der Ausschußarbeit diskutiert haben. Dadurch ist auch Ihnen von der PDS/Linke Liste ein Sitz im Verteidigungsausschuß eingeräumt worden. Wenn Sie Ihren Sitz wahrnehmen würden, dann hätten Sie diesen Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses nicht gestellt, sondern hätten sich an der Ausschußarbeit und an der Aufklärungsarbeit beteiligt. Die FDP wird Ihren Antrag nicht unterstützen, sondern ablehnen. Das wird die FDP jedoch nicht davon abhalten, eine lückenlose Aufklärung über die Beteiligung des Bundesnachrichtendienstes und des Verteidigungsministeriums bei Waffenlieferungen — und zwar nicht nur an Israel — zu fordern. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 57. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. November 1991 4831* Viele gestellte Fragen sind bereits beantwortet, viele Fragen sind noch offen. Darüber besteht unter allen Einvernehmen. Wir haben uns ja selbst eine Frist bis Ende des Monats gesetzt, damit noch offene Fragen beantwortet werden können. Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit eine Bemerkung zu Rücktrittsforderungen machen. Ich kann nur davor warnen, bereits heute Urteile über Personen zu fällen oder Rücktritte zu fordern, ohne daß wir uns bereits abschließend eine Meinung gebildet haben. Ich selber werde in der Presse auch mit einer Rücktrittsforderung zitiert. Eine eindeutige Presseente! Vorschnelle Urteile helfen nicht bei der Aufklärung des Falles. Wir haben das Ergebnis abzuwarten und dann zu werten. Diesen Anspruch haben auch die Betroffenen, und so halte ich es schon für einen schlechten Stil, wenn Kollegen von der SPD in die Sitzung des Verteidigungsausschusses gehen, um die Berichte und die Antworten auf unsere Fragen durch den Bundesverteidigungsminister, durch den Staatsminister im Kanzleramt und durch den Chef des Bundesnachrichtendienstes zu hören, diese Kollegen von der SPD aber bereits draußen vor der Tür ihre fertigen Presseerklärungen abgeben, ohne die Berichterstattung abzuwarten. Unsere Haltung ist klar: Wir arbeiten an der präzisen Aufklärung des Falles, ohne Schonung und Berücksichtigung des Ansehens der Personen — aber mit Fairneß, die jeder Betroffene erwarten darf. Bis zum Monatsende erwarten wir die Aufklärung aller noch offenen Fragen. Dann werden wir uns unsere Meinung bilden, und es kann sein — das schließe ich nicht aus —, daß wir dann einen Untersuchungsausschuß fordern werden. Aber dann fordern wir ihn, weil wir unzufrieden sind mit dem, was uns an Antworten gegeben wurde. Als Zwischenstand kann ich heute nur sagen: Ich sehe nicht, daß die Bundesregierung zu irgendeinem Zeitpunkt irgendeine Antwort schuldig geblieben ist, im Gegenteil, der Eindruck der FDP ist, daß die Bundesregierung selbst an der Aufklärung dieser Affäre mitarbeitet und Interesse daran hat, alle gestellten Fragen zu beantworten. Gerd Poppe (Bündnis 90/DIE GRÜNEN): Der Verlauf der Geschichte ist bekannt: Das Bundesministerium der Verteidigung übergibt dem BND Kriegsgerät der ehemaligen Nationalen Volksarmee, die dann vom BND als Landwirtschaftsgeräte deklariert werden. Die Wasserschutzpolizei Hamburg findet — da nicht informiert — Landwirtschaftsgeräte mit Ketten und Tarnanstrich, als deren Empfänger wird der israelische Geheimdienst Mossad enttarnt. Der weitere Gang ist ebenfalls bekannt: Obwohl es sich hier um einen besonders dreisten Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz handelt, hat niemand der politisch Verantwortlichen etwas gewußt. Verantwortung übernehmen will natürlich niemand. Nach wie vor besteht Staatsminister Stavenhagen darauf, daß das Kanzleramt mit der Sache nicht befaßt war, obwohl es seit dem 11. September 1971 eine Rahmenvereinbarung zwischen dem Chef des Bundeskanzleramtes und dem Bundesminister der Verteidigung über die Zusammenarbeit von BND und Bundeswehr gibt. In dieser Vereinbarung ist vorgeschrieben, daß sich Bundeswehr und BND, erforderlichenfalls der Verteidigungsminister und der Chef des Bundeskanzleramtes, abstimmen müssen. Nachdem die Bundesregierung die Normalität geheimdienstlicher Waffentauschprojekte proklamiert hat, versucht nun jeder Verantwortliche den Schwarzen Peter loszuwerden. Aber so kann man sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Dieser Waffendeal verdeutlicht, daß Geheimdienste nicht durch einen kleinen, ohnehin Teilen des Parlamentes verschlossenen Zirkel kontrollierbar sind. Außerdem erschweren die personellen Austauschprozesse zwischen Regierung und Geheimdienstführung eine wirksame Kontrolle. Dieser neuerliche Versuch des BND, seine eigene Außenpolitik zu betreiben, unterstreicht die Notwendigkeit, unserer Gruppe einen Sitz in der PKK einzuräumen und diese Kontrollfunktion nicht durch eine Scheinreform weiter abzuschotten. „Mein Name ist Hase" reicht als Entschuldigung für mangelhafte und dilletantische Kontrolle nicht aus. Nach wie vor schließt das Bündnis 90/GRÜNE die Notwendigkeit eines Untersuchungsausschusses nicht aus, um diese geheimdienstlichen Waffengeschäfte aufzudecken. Unsere Fragen in den Fachausschüssen sind in keinster Weise befriedigend beantwortet worden. So möchten wir wissen, ob neben dem Kriegswaffenkontrollgesetz auch die Rahmenvereinbarung verletzt wurde, oder ob die Behauptung von Staatsminister Stavenhagen unwahr ist. Dennoch wollen wir erst den Bericht der Bundesregierung abwarten und dann entscheiden, ob eine parlamentarische Untersuchung des Vorgangs notwendig ist. Aus unserer Sicht muß der Bericht der Bundesregierung allerdings auf frühere Verwicklungen des BND in Waffengeschäfte eingehen und glaubhafte Versicherungen enthalten, die derartige Waffenschiebereien zukünftig ausschließen. Anlage 4 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Ottfried Hennig auf die Frage der Abgeordneten Angela Stachowa PDS/ Linke Liste (Drucksache 12/1513 Frage 1): Gibt es seitens der Bundesregierung Überlegungen bzw. die Bereitschaft, das unbewohnte Militärgebiet (Truppenübungsplatz Nochten der ehemaligen NVA der DDR, jetzt der Bundeswehr) nördlich des gegenwärtigen Tagebaus für den Abbau zur Verfügung zu stellen und damit die Devastation der genannten Ortschaften und der unersetzbaren Landschaft zu verhindern? Nach dem heutigen Stand der Planungen erscheint es erforderlich, den Truppenübungsplatz Nochten auch zukünftig für die Ausbildung der Bundeswehr zu nutzen. Beim Truppenübungsplatz handelt es sich um ein schmales, in West-Ost-Richtung langgestrecktes Gelände. Die Abgabe von Flächen nord-ostwärts des Tagebaus Reichwalde zur Vermeidung einer Devastation der Ortschaften Viereichen und Hammerstadt würde eine Teilung des Platzes bewirken. Die weitere militärische Nutzung müßte aus Effektivitätsgründen 4832* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 57. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. November 1991 in Frage gestellt werden, da bereits erhebliche Flächen zur Abgabe aus der militärischen Nutzung vorgesehen sind. Der Truppenübungsplatz Nochten ist für die Truppenteile des Heeres/Territorialkommando Ost in seinem so bereits jetzt verkleinerten Umfang unverzichtbar. Anlage 5 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Ottfried Hennig auf die Frage des Abgeordneten Hans Wallow (SPD) (Drucksache 12/1513 Frage 2): Welche Bedrohungsanalyse liegt der beim NATO-Gipfel in Rom vereinbarten Personalstärke des Bündnisses zugrunde? Auf dem NATO-Gipfel in Rom wurde neben der allgemeinen Gipfel-Erklärung das neue strategische Konzept des Bündnisses verabschiedet. Das Strategiedokument stellt bezüglich der Bedrohung sinngemäß fest: Die NATO ist der Bedrohung durch einen großangelegten Angriff nicht mehr ausgesetzt. Es bleiben jedoch Risiken und Herausforderungen unterschiedlicher Art und Ausprägung aus vielen Richtungen. Sie sind schwer vorherzusehen und schwer einzuschätzen. Zur Personalstärke des Bündnisses wurde während des NATO-Gipfels in Rom keine Festlegung getroffen. In der Gipfel-Erklärung wird allgemein ausgesagt, daß die Streitkräfte kleiner und flexibler werden. Anlage 6 Antwort des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Frage des Abgeordneten Rolf Schwanitz (SPD) (Drucksache 12/1513 Frage 34): Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber, ob ehemalige Angehörige der NVA und des Ministeriums für Staatssicherheit bis zum heutigen Tage in hohen Positionen der Sicherheits- und Militärapparate verschiedener Staaten der Dritten Welt Dienst tuen, und was gedenkt die Bundesregierung zu unternehmen, damit hierdurch das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland in der Dritten Welt nicht Schaden nimmt? Der Bundesregierung liegen bisher keine Erkenntnisse vor, in welchen Staaten der Dritten Welt ehemalige Angehörige der NVA oder des MFS in Positionen der Sicherheits- bzw. Militärapparate tätig sind. Sollten solche Fälle bekannt werden, stehen der Bundesregierung Maßnahmen zur Verfügung, um hierauf zu reagieren. Anlage 7 Antwort des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Frage des Abgeordneten Heinrich Seesing (CDU/CSU) (Drucksache 12/1513 Frage 37): Welche Maßnahmen unternimmt die Bundesregierung angesichts der offiziell bestätigten Verdreifachung der Hinrichtungen im Iran in den ersten sieben Monaten des Jahres 1991 und der immer zahlreicher werdenden Verhaftungen von Frauen wegen angeblich „ungenügender Verschleierung", um auf die Einhaltung der Menschenrechte im Iran hinzuwirken? Die u. a. von der iranischen Volksmojahedin verbreiteten Informationen zu der Zunahme von Hinrichtungen in Iran sowie den Verhaftungen von Frauen wegen angeblich ungenügender Verschleierung hat die VN-Unterkommission zur Verhinderung der Diskriminierung und zum Schutze von Minderheiten in einer Resolution im August 1991 aufgegriffen. Die Bundesregierung nimmt Hinweise auf Verletzungen der Menschenrechte in Iran sehr ernst. Auf nachhaltiges Drängen der Bundesregierung und anderer westlicher Regierungen hat sich die iranische Regierung 1989 bereiterklärt, mit dem Sonderberichterstatter der VN-Menschenrechtskommission die Zusammenarbeit aufzunehmen. Die Bundesregierung hat auf der Grundlage von zwei Berichten des Sonderberichterstatters gemeinsam mit ihren EG-Partnern und anderen westlichen Ländern im März 1991 eine Resolution zur Frage der Menschenrechte in Iran miteingebracht. Iran hat sich nach schwierigen Verhandlungen und nicht zuletzt auf Grund deutschen Einflusses bereiterklärt, diese Resolution mitzutragen. In dieser Resolution wurde die Sorge über anhaltende Vorwürfe, daß es immer noch Menschenrechtsverletzungen in Iran gibt, zum Ausdruck gebracht und Iran aufgefordert, Abhilfe zu schaffen. Die Bundesregierung unterstützt darüber hinaus alle Initiativen der laufenden VN-Generalversammlung, mit denen auf eine Verbesserung der Menschenrechtssituation in Iran hingewirkt wird. Die iranische Regierung hat u. a. auch Vertretern der Bundesregierung versichert, daß der Sonderberichterstatter der Menschenrechtskommission der VN zu dem mandatsmäßig vorgesehenen Besuch in Iran willkommen ist. Der Sonderberichterstatter soll dabei Vorwürfen über Menschenrechtsverletzungen nachgehen. Die Bundesregierung ist überzeugt, daß dies der geeignete Weg ist, um zu einer schrittweisen Verbesserung der Menschenrechtslage in Iran zu gelangen. Anlage 8 Antwort des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Frage des Abgeordneten Hans Wallow (SPD) (Drucksache 12/1513 Frage 38) : Welche konkreten Ursachen sind nach Auffassung der Bundesregierung dafür maßgeblich, daß aus dem NATO-Partnerstaat Türkei bis zum 31. Oktober 1991 in diesem Jahr mit 19 132 Personen die drittgrößte Nationalitätengruppe in der Bundesrepublik Deutschland um politisches Asyl nachsuchte? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 57. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. November 1991 4833* Die Gründe für den von Ihnen geschilderten Vorgang sind vielfältig. Vorausschicken möchte ich, daß die Anerkennungsquote unter 10 % liegt. Schon dies macht deutlich, daß — wie bei anderen Staaten — in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle andere Motive als die politische Verfolgung eine Rolle spielen. Bei der Türkei sind dies aber nicht nur wirtschaftliche Gründe, sondern auch verwandtschaftliche und freundschaftliche Bindungen zu den etwa 1,6 Millionen türkischen Staatsangehörigen, die sich ständig in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Anlage 9 Antwort des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Frage der Abgeordneten Monika Ganseforth (SPD) (Drucksache 12/1513 Frage 39): Treffen Meldungen zu, nach denen die überwiegend von Kurden bewohnten Gebiete im Norden des Iraks durch die irakische Regierung und Armee von der Versorgung abgeschnitten sind, die Straßen gesperrt, und tausende öffentlich Bedienstete ihre Arbeit niederlegen müssen, und was unternimmt die Bundesregierung? Nach den der Bundesregierung zur Kenntnis gelangten Meldungen muß davon ausgegangen werden, daß die irakische Führung tatsächlich solche Maßnahmen eingeleitet hat oder noch durchzuführen gedenkt. Die Bundesregierung wurde vom Generalsekretär der Patriotischen Union Kurdistan, Jalal Talabani, von dieser Entwicklung unterrichtet. Die Bundesregierung hat umgehend ihre Partner in der EG unterrichtet. Diese Unterrichtung hat dazu beigetragen, daß die drei ständigen westlichen Sicherheitsratsmitglieder bei dem Ständigen Vertreter Iraks bei den Vereinten Nationen vorstellig geworden sind. Die Bundesregierung hat ihren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft darüber hinaus vorgeschlagen, eine Erklärung abzugeben und Saddam Hussein zum Einlenken aufzufordern. Unabhängig davon leistet die Bundesregierung im Rahmen der humanitären Hilfe Beiträge, mit denen der kurdischen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, Kleidung, aber auch Baumaterial und anderen dringend benötigten Dingen verstärkt geholfen werden soll, um sie in ihrer schwierigen Lage nach Kräften weiterhin zu unterstützen. Anlage 10 Antwort des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Frage des Abgeordneten Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU) (Drucksache 12/1513 Frage 42): Teilt die Bundesregierung meine Auffassung, daß gerade im Zuge der verstärkten deutsch-französischen Zusammenarbeit auf militärischem Gebiet auch von Frankreich mehr Rücksichtnahme auf deutsche Sicherheitsinteressen, die von HADES Kurzstreckenraketen mit einer Reichweite von unter 500 km selbstverständlich berührt werden, erwartet werden sollte, und welche Initiativen hat sie bereits ergriffen bzw. wird sie ergreifen? Die Bundesregierung hat ihre Haltung gegenüber allen Gesprächspartnern nachdrücklich vertreten, daß landgestützte Nuklearwaffen kürzerer Reichweite nicht in die neue europäische Sicherheitsstruktur passen. Sie erwartet, daß die diesbezüglichen begrüßenswerten Entscheidungen der Präsidenten Bush und Gorbatschow im Prozeß der nuklearen Abrüstung über die beiden Großmächte hinaus eine neue Dynamik bewirken. Die französische Regierung hat sich die Entscheidung, welche Folgerungen sie für das Hadès-Programm zieht, selbst vorbehalten. Die französische Nuklearpolitik ist nicht Gegenstand der deutsch-französischen Zusammenarbeit auf militärischem Gebiet. Anlage 11 Antwort des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Fragen des Abgeordneten Gernot Erler (SPD) (Drucksache 12/1513 Fragen 43 und 44): In welchem Umfang ist die Bundesregierung darauf vorbereitet, im bevorstehenden Winter kurzfristig im Rahmen eines Soforthilfeprogramms Güter des alltäglichen Lebensbedarfs in die Sowjetunion und ihre Republiken zu liefern, wenn dort ernsthafte Versorgungsengpässe auftreten? Welche Finanzmittel hält die Bundesregierung für ein solches Soforthilfeprogramm bereit, bzw. welche Mittel können kurzfristig für ein solches Programm bereitgestellt werden? Zu Frage 43: Bereits im Winter 1990/91 wurde zur Koordinierung der Hilfsprogramme in der Sowjetunion unter Federführung des Auswärtigen Amtes eine entsprechende interministerielle Koordinierungsstelle geschaffen. Der in diesem Zusammenhang eingerichtete „Arbeitsstab Sowjetunionhilfe" im Auswärtigen Amt setzt auch im Winter 1991/92 seine Arbeit fort. Die dort vorliegenden Erfahrungen und geschaffenen Organisationsstrukturen erlauben eine kurzfristige Reaktion durch humanitäre Hilfslieferungen auf evtl. auftretende Versorgungsengpässe im Winter 1991/92. Das Auswärtige Amt ist in diesem Zusammenhang in fortlaufendem Kontakt mit der Unionsregierung und den interessierten Republiken. Bereits zum jetzigen Zeitpunkt sind durch die Zurverfügungstellung von Transportkapazitäten auf dem Land- und Luftweg für Aktionen der nichtstaatlichen Träger von Hilfslieferungen die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen worden. Eine Erhöhung der Transportkapazität wäre ggf. kurzfristig möglich. Zu Frage 44: Die der Bundesregierung vorliegenden Informationen lassen noch kein klares Bild für etwa im Winter 1991/92 zu erwartende Versorgungsstörungen zu. Die Bundesregierung ist derzeit mit den Partnern der Europäischen Gemeinschaft und des G-7-Kreises um eine entsprechende Klärung bemüht. Es ist jedoch damit zu rechnen, daß derartige Versorgungsengpässe sich verschärft erst im weiteren Verlauf des Winters 1991/92 zeigen werden. Die Bundesregierung 4834* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 57. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. November 1991 wird dann im Rahmen einer ausgeglichenen internationalen Lastenteilung reagieren. Bereits auf der Sitzung am 7. Oktober 1991 hat der Rat der Wirtschafts- und Finanzminister der Europäischen Gemeinschaft eine von der Bundesregierung mitgetragene Grundsatzentscheidung getroffen, über die bisher gewährte Nahrungsmittelhilfe im Wert von 250 Millionen ECU und die Kreditbürgschaft über 500 Millionen ECU hinaus der Sowjetunion eine Kreditfazilität in Höhe von 1,25 Milliarden ECU für den Import von Nahrungsmitteln und Medikamenten einzuräumen. Die Gesamthilfe der Europäischen Gemeinschaft beläuft sich somit auf 2 Milliarden ECU. Von den auf die Europäische Gemeinschaft in diesem Zusammenhang zukommenden Lasten entfallen entsprechend dem derzeit gültigen Schlüssel für den EG-Haushalt ca. 28 % auf die Bundesrepublik Deutschland. Anlage 12 Antwort des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Fragen des Abgeordneten Albrecht Müller (Pleisweiler) (SPD) (Drucksache 12/1513 Fragen 45 und 46): Welche Erfolge haben bisher die Bemühungen der Bundesregierung gehabt, andere Industrieländer zu gemeinsamen Anstrengungen zugunsten einer kurzfristig wirksamen Wirtschafts- und Soforthilfe für die Sowjetunion und ihre Republiken zu gewinnen? Wie viele Mittel halten andere Industrieländer nach Erkenntnissen der Bundesregierung für ein kurzfristig umzusetzendes Soforthilfeprogramm für die Sowjetunion und ihre Republiken bereit? Zu Frage 45: Die Bundesregierung war maßgeblich am Zustandekommen der Beschlüsse der EG beteiligt, der Sowjetunion technische Hilfe (400 Millionen ECU) und Nahrungsmittelhilfe zu leisten. Die Nahrungsmittelhilfe wird in Höhe von 250 Millionen ECU kostenlos gewährt. Für Lebensmittelimporte stellt die EG darüber hinaus Kreditgarantien zur Verfügung (500 Millionen ECU). Die EG faßte am 7. Oktober 1991 schließlich den Beschluß, der Sowjetunion und deren Republiken für Bezüge von Agrarerzeugnissen, Nahrungsmitteln und Erzeugnissen des medizinischen Bedarfs ein weiteres mittelfristiges Darlehen von bis zu 1,25 Milliarden ECU zu gewähren. Die Bundesregierung drängt auf rasche Umsetzung der Beschlüsse. Auf Deutschland entfallen jeweils 28 % der Kosten, entsprechend EG-Haushaltsanteil. Bei Lieferung für die Sowjetunion aus den mittelosteuropäischen Ländern (Dreiecksgeschäfte) sollen deren Liefermöglichkeiten berücksichtigt werden. Die Bundesregierung hat sich mit der EG-Kommission und den EG-MS nachdrücklich dafür eingesetzt, daß andere Industriestaaten, insbesondere die USA und Japan, ähnliche Anstrengungen unternehmen. Zu diesem Zweck hat sich die Bundesregierung engagiert an Koordinierungsgesprächen im Rahmen der G 7 beteiligt. Zu Frage 46: Die Bundesregierung setzt sich für eine ausgewogene Aufteilung der Lasten zwischen den Mitgliedern der Gruppe der 7 bei der Finanzierung von Nahrungsmittellieferungen ein. Sie steht mit den Partnern in ständigem Kontakt. Nach Kenntnis der Bundesregierung stellen die USA 1991 Kreditgarantien in Höhe von 1,5 Milliarden US-$ und für 1992 eine weitere Mrd. zur Verfügung. Japan hat Kreditgarantien von 2,5 Milliarden US-$ angekündigt, hiervon 500 Millionen US-$ als Kredite für Käufe von Nahrungsmitteln und Medikamenten. Kanada hat für 1991/92 1,5 Milliarden US-$ für Kredite für Weizenkäufe zur Verfügung gestellt. Weiterhin wurden 150 Millionen US-$ zum Kauf anderer Nahrungsmittel eingeräumt. Einzelheiten über Vorsorgemaßnahmen anderer westlicher Staaten sind der Bundesregierung nicht bekannt. Anlage 13 Antwort des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Fragen der Abgeordneten Renate Rennebach (SPD) (Drucksache 12/1513 Fragen 47 und 48): Welche Angebote und Wünsche aus den mittel- und osteuropäischen Ländern liegen der Bundesregierung vor oder sind ihr bekannt, kurzfristig Lebensmittel und andere Güter des unmittelbaren Bedarfs in die Sowjetunion und ihre Republiken zu liefern, wenn dies von dritter Seite finanziert bzw. kreditiert wird? In welcher Weise ist die Bundesregierung bereit und darauf vorbereitet, diese Angebote wahrzunehmen und im Rahmen eines Soforthilfeprogramms für die Sowjetunion und ihre Republiken Lieferungen aus den mittel- und osteuropäischen Staaten in besonderer Weise zu berücksichtigen? Zu Frage 47: Die Bundesregierung ist von den Regierungen Polens, Ungarns und der CSFR über Liefermöglichkeiten dieser Staaten bei den sog. Dreiecksgeschäften unterrichtet worden. Auch in den baltischen Staaten sowie in Bulgarien besteht grundsätzlich Interesse. Die Durchführung der Dreiecksgeschäfte, d. h. Lieferung insbesondere von Lebensmitteln dieser Staaten an die Sowjetunion bzw. die Republiken bei Bezahlung durch Mittel, die von der EG zur Verfügung gestellt werden, liegt bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaft. Die Bundesregierung hat daher diesen Staaten geraten, ihre Lieferungen im unmittelbaren Kontakt mit der EG-Kommission zu konkretisieren. Die EG-Kommission hat sich bereits an die Mission der infragekommenden Staaten in Brüssel gewandt, um die tatsächlichen Liefermöglichkeiten zu erfahren. Nach erster Einschätzung der EG-Kommission beträgt Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 57. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. November 1991 4835* das wertmäßige Volumen der Lieferfähigkeit der MOE-Staaten ca. 750 Millionen ECU. Dies entspricht in etwa dem Betrag, den die EG für Dreiecksgeschäfte zur Verfügung stellt (25 % des von der EG verbürgten Kredits in Höhe von 500 Millionen ECU = 125 Millionen ECU; 50 % des von der EG gewährten Kredits in Höhe von 1 250 Millionen ECU = 625 Millionen ECU). Zu Frage 48: Die praktische und technische Durchführung der Lieferungen von Nahrungsmitteln aus den mittel- und osteuropäischen Staaten an die Sowjetunion und ihre Republiken im Rahmen der Dreiecksgeschäfte liegt bei der EG-Kommission. Die Bundesregierung setzt sich in der Gemeinschaft für eine weitgehende Nutzung der Lief ermöglichkeiten der mittel- und osteuropäischen Staaten ein. Dies liegt im Interesse einer raschen und effizienten Hilfe für die Sowjetunion und ihre Republiken wie auch im Interesse der liefernden Staaten. In einigen dieser Staaten sind durch den weitgehenden Zusammenbruch des Handels mit Agrargütern unter den Partnern des ehemaligen RGW Überschüsse entstanden, die auf diesem Wege abgebaut werden und für Deviseneinkünfte sorgen. Die Dreiecksgeschäfte liegen auch im Interesse einer Wiederbelebung des Handels in Osteuropa. Auf deutschen Vorschlag hin wurden die baltischen Staaten in die Liste der Lieferländer aufgenommen. Anlage 14 Antwort des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Fragen des Abgeordneten Norbert Gansel (SPD) (Drucksache 12/1513 Fragen 49 und 50): Welche Erfahrungen liegen der Bundesregierung aus der Vergangenheit und in besonderer Weise aus den Hilfsprogrammen des Winters 1990/1991 über technische und logistische Probleme beim Transport, der Zwischenlagerung und Verteilung von Hilfsgütern in die Sowjetunion und ihrer Republiken vor? Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, zur Beseitigung solcher Engpässe und Schwierigkeiten kurzfristig vor dem Anlaufen eines Soforthilfeprogramms für die Sowjetunion und ihre Republiken in diesem Winter beizutragen? Zu Frage 49: Bei einer Abgabe von Hilfsgütern in die staatlichen sowjetischen Verteilungskanäle unterliegen auch diese den dort feststellbaren Verlusten bei Transport, Lagerung und Verteilung. Angesichts des durchaus ausreichenden landwirtschaftlichen Bruttoproduktionsniveaus sind es jedoch gerade diese Umstände, die zu den bereits im Winter 1990/91 zu beobachtenden Versorgungsengpässen geführt haben. Bei den Hilfsprogrammen, insbesondere der nichtstaatlichen karitativen Träger, ist es demgegenüber gelungen, durch eine Durchführung der Transporte in eigener Regie und eine Übergabe der Hilfsgüter unmittelbar an Bedürftige bzw. entsprechende soziale Institutionen derartige Verluste weitgehend auszuschließen. Zu Frage 50: Der Arbeitsstab Sowjetunionhilfe im Auswärtigen Amt wird auch im Winter 1991/92 seine Arbeit fortsetzen. Neben der weiteren Zurverfügungstellung von Transportkapazitäten auf dem Land- und Luftweg sind dadurch die organisatorischen und strukturellen Voraussetzungen geschaffen, um kurzfristig auch entsprechende Programme der deutschen nichtstaatlichen Träger von Hilfslieferungen effizient zu unterstützen. Anlage 15 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Erich Riedl auf die Frage der Abgeordneten Angela Stachowa (PDS/Linke Liste) (Drucksache 12/1513 Frage 62): Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung zur Einflußnahme auf die Weiterführung des Braunkohleabbaus in der Region Weißwasser bei gleichzeitiger Berücksichtigung der berechtigten Forderungen der Einwohner, die sorbischen Orte Viereichen, Hammerstadt und Umgebung zu erhalten und nicht Opfer der Bagger werden zu lassen? In der Fragestunde am 20. März dieses Jahres habe ich ausgeführt, daß die von der ehemaligen DDR ohne Rücksicht auf die Belange von Mensch und Umwelt ausgebaute Braunkohleförderung sehr deutlich zurückgeführt werden wird, aus heutiger Sicht auf unter 150 Millionen t jährlich. Von 38 Tagebauen fördern gegenwärtig noch 20, langfristig werden es voraussichtlich höchstens noch 8 sein. In der Region Weißwasser arbeiten drei Großtagebaue, von denen der Tagebau Bärwalde bereits gestundet wurde. Damit können auch mehrere große sorbische Dörfer erhalten bleiben. Die Tagebaue Nochten und Reichwalde versorgen das Großkraftwerk Boxberg, das nach dem Konzept der Stromversorgungsunternehmen modernisiert und erweitert werden soll. Im Vorfeld des Tagebaus Reichwalde liegen die beiden kleinen Orte Viereichen und Hammerstadt mit zusammen 170 Einwohnern. Die künftige Abbaukonzeption des Unternehmens und damit auch die Entscheidung über Erhalt oder Verlegung der Orte werden nach den Regeln des Raumordnungs-, Planungs- und Genehmigungsverfahrens des Freistaates Sachsen behandelt, das auch eine Anhörung der Einwohner einschließt. Der Bund hat hier keine eigene Kompetenz. Die unvermeidbare Reduzierung des Braunkohlebergbaus und der Kohleverarbeitung in der Lausitz erfordert einen drastischen Abbau der Arbeitsplätze. Die Bemühungen, den Braunkohlebergbau in der Lausitz unter Wahrung ökologischer Kriterien zu erhalten — wenn auch auf niedrigerem Niveau — , ist für die Wirtschaftskraft des Lausitzer Raumes von erheblicher Bedeutung und damit unmittelbar auch für 4836' Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 57. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. November 1991 die Sorben. Umsiedlungen und Verlegungen von einzelnen Ortschaften sind dabei unvermeidbar. Anlage 16 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Erich Riedl auf die Frage des Abgeordneten Ludwig Stiegler (SPD) (Drucksache 12/1513 Frage 65): Wie ist der Stand der Verhandlungen über das Rüstungs- und Standortekonversionsprogramm nach der Ministerpräsidentenkonferenz, und bis wann ist mit einer Konkretisierung der politischen Versprechungen zu rechnen? Die Bundesregierung hatte sich auf der Sitzung des Vermittlungsausschusses am 14. Juli 1991 mit den Bundesländern verständigt, ein Konversionsprogramm bis zum 30. September 1991 zu erstellen. In der Zwischenzeit hat auf den verschiedenen Ebenen eine Vielzahl von Gesprächen über das Konversionsprogramm stattgefunden. Im September 1991 zeichnete sich ab, daß der seinerzeit im Vermittlungsausschuß ins Auge gefaßte Termin für die Ausarbeitung eines Konversionsprogramms nicht zu halten war. Deshalb haben die Ministerpräsidenten in dem Gespräch beim Bundeskanzler am 19. September 1991 eine Arbeitsgruppe auf politischer Ebene eingesetzt, um die Entscheidung über ein Konversionsprogramm vorzubereiten. Diese Arbeitsgruppe ist am 12. November 1991 zu einer Sitzung unter Vorsitz des Bundesministers für Wirtschaft zusammengekommen. Der Bund hat auf dieser Sitzung sein Angebot für ein Konversionsprogramm vorgestellt. Anlage 17 Antwort des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die Fragen des Abgeordneten Markus Meckel (SPD) (Drucksache 12/1513 Fragen 66 und 67): Wie viele deutsch-sowjetische Joint-ventures bestehen im November 1991 im Vergleich zum November 1990 und welche aktuellen Probleme, die in der innenpolitischen Entwicklung der Sowjetunion und ihrer Republiken ihren Ursprung haben, sind der Bundesregierung bekanntgeworden? Welche Möglichkeiten wird die Bundesregierung nutzen, um zur Überbrückung aktueller Schwierigkeiten der deutsch-sowjetischen Gemeinschaftsunternehmen beizutragen und ihre wirtschaftlichen Aktivitäten auch für die Zukunft sicherzustellen? Zu Frage 66: Die genaue Zahl deutsch-sowjetischer Joint Ventures ist der Bundesregierung nicht bekannt: Das hängt damit zusammen, daß deutsche Unternehmen bei der Gründung von Joint Ventures im Ausland nicht meldepflichtig sind. Es gibt lediglich eine statistische Erfassung von Beteiligungen an Unternehmen im Ausland, deren Bilanzsumme 500.00 DM übersteigt und an denen die deutsche Beteiligung mindestens 20 % beträgt. Ende 1989 gab es nach der Bestandsstatistik der Deutschen Bundesbank 14 deutsch-sowjetische Gemeinschaftsunternehmen mit deutschen Beteiligungen in Höhe von 206 Millionen DM. Wir wissen aus der Transferstatistik, daß im Jahr 1990 24 Millionen DM und im ersten Halbjahr 1991 13 Millionen DM neu in der Sowjetunion investiert worden sind. Über weitere deutschsowjetische Joint-Ventures, deren Zahl auf ca. 400 geschätzt wird, gibt es keine näheren Angaben, weil sie meist nur auf dem Papier stehen oder nur geringfügige Anfangsinvestitionen vorgenommen haben. Allgemein werden die Gründung und das Funktionieren von Joint Ventures in der Sowjetunion durch das Fehlen eines marktwirtschaftlichen Umfeldes und unklare Rahmenbedingungen behindert. Insbesondere hemmen auch die weiterhin unklare Rechtslage auf dem Gebiet der Wirtschaftsgesetzgebung sowie der akute Kapitalmangel potentieller sowjetischer Joint Venture-Partner den Ausbau bestehender Partnerschaften. Ein ernstes Hindernis für ein verstärktes Engagement der deutschen Wirtschaft ist ferner die unklare Zuständigkeitsverteilung zwischen der Union und den Republiken. Es fehlt derzeit vor allem an Ansprechpartnern mit eindeutigem und verläßlichem Zuständigkeitsbereich. Zu Frage 67: Seit dem gescheiterten Putsch vom August 1991 unternimmt die Bundesregierung durch intensive Kontakte mit der Unionsregierung und den Regierungen der Republiken alles ihr Mögliche, um eine Kontinuität der bilateralen wirtschaftlichen Zusammenarbeit sicherzustellen. Die Bundesregierung ist seit dem Inkrafttreten des deutsch-sowjetischen Investitionsschutzvertrages am 5. August 1991 in der Lage, Bundesgarantien für deutsche Direktinvestitionen in der Sowjetunion zu übernehmen und trägt hiermit dazu bei, die Risiken zu mildern, die mit solchen Kapitalanlagen verbunden sind. Der Bund hat seit August 1991 für drei Investitionsvorhaben Bundesgarantien über 50 Millionen DM übernommen. Außerdem liegen derzeit weitere 41 Anträge über eine Summe von 187 Millionen DM vor. Die Kapitalanlagegarantie, die den Investor vor politischen Risiken schützt, ist ein wichtiger Beitrag zur Gründung und Fortentwicklung deutsch-sowjetischer Joint Ventures. Die Bundesregierung plant außerdem vor allem folgende Maßnahmen, um das Umfeld für deutsch-sowjetische Joint Ventures zu verbessern: 1. Entsendung von deutschen Experten für die Beratung der RSFSR bei ihrer Wirtschaftsgesetzgebung. 2. Durchführung von Seminaren und Gesprächskreisen für Entscheidungsträger in der Wirtschaftspolitik auf der Ebene der Union und der Republiken. 3. Förderung der Projektbetreuung durch deutsche Wirtschaftsberater. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 57. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. November 1991 4837 * 4. Unterstützung von Exportförderungsseminaren für die sowjetische Wirtschaft. Anlage 18 Antwort des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die Fragen des Abgeordneten Dr. Uwe Jens (SPD) (Drucksache 12/1513 Fragen 68 und 69): In welchem Umfang sind derzeit deutsche Einrichtungen und Organisationen in Programme von Beratungshilfe für die Sowjetunion und ihre Republiken einbezogen, und in welcher Weise plant die Bundesregierung, diese Beratungshilfe auszuweiten? In welchen Städten der Sowjetunion und ihrer Republiken unterhält oder plant die Bundesregierung Handelskammern, und welche Bedeutung mißt die Bundesregierung den Handelskammern im Rahmen deutsch-sowjetischer Wirtschaftshilfe zu? Zu Frage 68: Die Beratungshilfe für die Sowjetunion und die Republiken ist innerhalb der Bundesregierung auf das Auswärtige Amt und das Bundesministerium für Wirtschaft konzentriert. Im Etat des Auswärtigen Amtes sind im Rahmen eines Haushaltsgesamtansatzes von 14 Millionen DM für das Jahr 1991 für Maßnahmen für Aus- und Weiterbildung von Fach- und Führungskräften der Wirtschaft in der Sowjetunion Mittel in Höhe von rd. 11 Millionen DM vorgesehen. Das Bundesministerium für Wirtschaft leistet Beratungshilfe in folgenden Bereichen: — Gefördert werden Informations- und Beratungsveranstaltungen zu Fragen der wirtschaftlichen Kooperation und der Annäherung der sowjetischen Wirtschaft an den Weltmarkt. Dafür stehen 1991 Mittel in Höhe von 200 000 DM zur Verfügung. Für 1992 ist ein gleicher Haushaltsansatz beantragt. — Für Kurzzeitseminare für sowjetische Führungskräfte steht 1991 ebenfalls ein Betrag von 200 000 DM zur Verfügung. Ein Bleichhoher Betrag ist für 1992 vorgesehen. — Die Durchführung von Consultingprojekten zur Umstrukturierung von Unternehmen in der Sowjetunion wird 1991 — im Rahmen eines Gesamtförderprogramms für alle osteuropäischen Länder in Höhe von 10 Millionen DM — mit einem Betrag von rd. 3,5 Millionen DM gefördert. Für 1992 — im Rahmen eines beantragten Gesamtansatzes von 16,6 Millionen DM — ist für das Gebiet der Sowjetunion ein Betrag in Höhe von rd. 6 Millionen DM vorgesehen. — Schließlich ist für Beratungszwecke die Einrichtung von Büros von Delegierten der deutschen Wirtschaft in einzelnen Republiken der Sowjetunion vorgesehen. Träger dieser Einrichtungen sind DIHT und BDI (Ost-Ausschuß der Deutschen Wirtschaft). Die Büros werden vom Wirtschaftsministerium mit Haushaltsmitteln gefördert. Dafür sind 1991 rd. 800 000 DM vorgesehen. Für 1992 ist ein Betrag von 3,5 Millionen DM geplant. Zu Frage 69: Die Bundesregierung plant derzeit nicht die Einrichtung von bilateralen Auslandshandelskammern in Republiken der Sowjetunion. Die vorerwähnten Büros von Delegierten der deutschen Wirtschaft nehmen allerdings im Rahmen ihrer organisatorischen und personellen Möglichkeiten auch die Funktionen von Auslandskammern wahr. Sie können im übrigen als Vorstufe für die Einrichtung solcher Kammern angesehen werden. Es ist daher möglich, daß Auslandshandelskammern zu einem späteren Zeitpunkt gegründet werden, wenn das wirtschaftliche Umfeld dies erlaubt und als zweckmäßig erscheinen läßt.
Gesamtes Protokol
Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205700000
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, die Sitzung ist eröffnet.
Als erstes möchte ich gern dem Kollegen Paintner, der am 11. November seinen 65. Geburtstag gefeiert hat, einen herzlichen Glückwunsch aussprechen. Er ist nicht da, aber es wird ihm sicherlich ausgerichtet werden.

(Beifall)

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Zusatzpunkte, die dafür vorgesehen sind, sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde: Situation von Studium und Lehre im geeinten Deutschland (In der 56. Sitzung bereits erledigt.)

2. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Verhältnisses von Kriegsfolgengesetzen zum Einigungsvertrag — Drucksache 12/1504 —
3. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Bundesärzteordnung und weiterer Bundesgesetze für Heilberufe — Drucksache 12/1524 —4: Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zur gemeinsamen Innenpolitik im Europa der Demokratien nach dem Außenminister-Konklave in Noordwijk
5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Eckhart Pick, Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Dr. Herta Däubler-Gmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Ratifizierung der UNO-Konvention über die Rechte des Kindes — Drucksache 12/1547 —6. Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes über die Errichtung und das Verfahren der Schiedsstellen für Arbeitsrecht und zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes — Drucksachen 12/ 1483, 12/1551 —7. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu der Verordnung der Bundesregierung: Aufhebbare Sechzehnte Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung — Drucksachen 12/990, 12/1517 —
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll abgewichen werden, soweit dies bei einzelnen Punkten der Tagesordnung erforderlich ist. Sind Sie mit dieser Verfahrensweise einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun auf den Tagesordnungspunkt 2 sowie die Zusatzpunkte 2 und 3:
2. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Heimkehrerstiftung und die Aufhebung des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes
— Drucksache 12/1435 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß (federführend)

Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß mitberatend
und gem. § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das Inverkehrbringen von und den freien Warenverkehr mit Bauprodukten zur Umsetzung der Richtlinie 89/106/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Bauprodukte (ABI. EG-Nr. L 40 S. 12) (Bauproduktengesetz — BauPG)
— Drucksache 12/1462 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (federführend)

Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes und des Bundesjagdgesetzes
— Drucksache 12/1171 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß (federführend)

Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von Vermögensfragen der Sozialversicherung im Beitrittsgebiet
— Drucksache 12/1522 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Ausschuß für Gesundheit



Vizepräsidentin Renate Schmidt
e) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt), Dr. Ilja Seifert, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur teilweisen Erstattung des bei der Währungsumstellung am 2. Juli 1990 zwei zu eins reduzierten Betrages für ältere Bürgerinnen und Bürger
— Drucksache 12/1400 —
Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß (federführend)

Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
ZP 2 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des D-Markbilanzgesetzes
— Drucksache 12/1467 —
Überweisungsvorschlag : Rechtsausschuß (federführend)

Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
ZP 3 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhof es
— Drucksache 12/1468 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß (federführend) Finanzausschuß
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Mir liegt ein Antrag zur Geschäftsordnung vor. Frau Lederer hat sich zu Wort gemeldet. Frau Kollegin, Sie haben das Wort.

Andrea Lederer (PDS):
Rede ID: ID1205700100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich beantrage gemäß § 20 Abs. 2 der Geschäftsordnung eine Änderung der Tagesordnung. Ich beantrage, daß der Tagesordnungspunkt „Einsetzung eines Untersuchungsausschusses" zur Untersuchung der Waffenlieferungen des BND nicht heute nacht gegen 23 oder 23.30 Uhr behandelt wird, sondern unmittelbar nach der Fragestunde.
Zur Begründung folgendes: Wenn der Bundesnachrichtendienst in einer Nacht- und Nebelaktion Waffen verschiebt, muß das noch lange nicht bedeuten, daß im Bundestag bei Nacht und Nebel dieses brisante Thema debattiert wird.

(Gerhard Reddemann [CDU/CSU]: Unverschämt!)

Wir haben diesen Antrag bereits vor zehn bis 14 Tagen eingereicht. Es ist durchaus möglich, kurzfristig Themen einzuschieben und frühzeitig zu behandeln, so daß ein solches Thema auch die entsprechende Aufmerksamkeit erfährt.
Ich beantrage daher, diesen Tagesordnungspunkt früher zu behandeln und bitte um Zustimmung, wenn Sie nicht den Eindruck erwecken wollen, daß eine Ablehnung damit zusammenhängt, daß unsere Gruppe diesen Antrag gestellt hat.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205700200
Frau Kollegin, wir haben folgendes Problem. Sie hätten diesen Antrag auf Änderung und Umstellung der Tagesordnung nach § 20 unserer Geschäftsordnung Abs. 2 bis gestern abend 18 Uhr stellen müssen. Sie haben ihn nicht fristgemäß gestellt. Deshalb bin ich nicht in der Lage, über diesen Antrag abstimmen zu lassen.
Sie wollen noch einmal das Wort dazu? — Bitte.

Andrea Lederer (PDS):
Rede ID: ID1205700300
Gemäß § 126 der Geschäftsordnung ist auch in Abweichung von der Geschäftsordnung die Abstimmung über einen solchen Antrag zur Änderung der Tagesordnung möglich.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205700400
Wenn Sie das mit Ihrem Geschäftsordnungsantrag gemeint haben sollten, dann lasse ich gerne darüber abstimmen. Dafür ist eine Zweidrittelmehrheit der hier Anwesenden notwendig.
Ein weiterer Antrag zur Geschäftsordnung vom Kollegen Bohl.

Friedrich Bohl (CDU):
Rede ID: ID1205700500
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch wenn ich davon ausgehe, daß für diesen Geschäftsordnungsantrag keine Zweitdrittelmehrheit vorhanden ist, so möchte ich doch darauf hinweisen, daß wir uns im Ältestenrat einvernehmlich auf die Tagesordnung geeinigt hatten, auch auf die Plazierung des hier schon angesprochenen Tagesordnungspunktes. Es kann keine Rede davon sein, daß das sozusagen zu später Stunde nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll, was Sie offenbar meinen.
Im übrigen möchte ich darauf hinweisen, daß wir uns bemühen, auch den Gruppen bei der Plazierung der von ihnen gewünschten Tagesordnungspunkte gerecht zu werden. Das bedeutet natürlich, daß die Gruppen nicht unbedingt immer um 9 oder 10 Uhr mit ihren Tagesordnungspunkten plaziert werden können. Wir haben aber beim letztenmal einen von Ihnen gewünschten Antrag am Donnerstag um 12 Uhr aufgesetzt, also zu einer sehr günstigen Zeit. Das bedeutet, daß Sie dann an anderen Sitzungstagen nicht so günstige Tageszeiten bekommen.
Ich wollte doch dies ausführen, damit nicht der Eindruck entsteht, wir würden die Gruppen unfair behandeln oder immer in die Nachtzeit verweisen.
Aus diesen Gründen, meine ich, können wir mit gutem Gewissen den Antrag der PDS ablehnen.

(Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Dieses Thema nachts!)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205700600
Ich lasse nun abstimmen, und zwar nach § 126 unserer Geschäftsordnung, wofür eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist. Wer für den Antrag der Gruppe der PDS/Linke Liste ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Die Zweidrittelmehr-



Vizepräsidentin Renate Schmidt
heit ist nicht erreicht worden. Damit ist diese Änderung unserer Tagesordnung nicht vorgenommen worden.
Ich rufe nun auf den Tagesordnungspunkt 3:
a) Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (Stasi-Unterlagen-Gesetz — StUG)

— Drucksachen 12/723, 12/1093 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des
Innenausschusses (4. Ausschuß)

— Drucksache 12/1540 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Rolf Schwanitz
Hartmut Büttner (Schönebeck) Dr. Jürgen Schmieder
Ingrid Köppe
bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 12/1541 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Deres
Ina Albowitz Rudolf Purps (Erste Beratung 31. und 41. Sitzung)

b) Zweite und dritte Beratung des von der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Sicherung und Nutzung der Daten und Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik
— Drucksache 12/692 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuß)

— Drucksache 12/1540 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Rolf Schwanitz Hartmut Büttner (Schönebeck) Dr. Jürgen Schmieder
Ingrid Köppe

(Erste Beratung 31. Sitzung)

c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses (4. Ausschuß)

zu dem Antrag der Abgeordneten Ingrid Köppe und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
I. Gesetzliche Regelungen für die Lagerung, Verwaltung, Sicherung und Nutzung von Unterlagen und Daten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit
II. Gesetzliche Regelungen für die Lagerung, Verwaltung, Sicherung und Nutzung staatsbezogener Parteiakten der SED, der Blockparteien und von Massenorganisationen in der ehemaligen DDR
— Drucksachen 12/283, 12/1540 —
Berichterstattung: Abgeordnete Rolf Schwanitz
Hartmut Büttner (Schönebeck) Dr. Jürgen Schmieder
Ingrid Köppe
Zum Stasi-Unterlagen-Gesetz liegen ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP sowie fünf Änderungsanträge der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache vier Stunden vorgesehen. Gibt es dazu anderweitige Vorstellungen? — Dies ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster hat das Wort als Berichterstatter unser Kollege Hans Gottfried Bernrath.

Hans Gottfried Bernrath (SPD):
Rede ID: ID1205700700
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich möchte zu Beginn der Debatte für den Innenausschuß den Gang der Beratungen und den Abschluß der Beratungen noch einmal kurz darstellen. Grundlage für die Beratungen sind die Ihnen vorliegenden Drucksachen, ergänzt um drei Anträge: einen Änderungsantrag des Abgeordneten Otto, einen Änderungsantrag der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE und einen Änderungsantrag, der von den Koalitionsfraktionen zusammen mit der SPD eingebracht worden ist.
Dieser Antrag muß an einer Stelle noch ergänzt werden, nämlich auf Seite 2. Dort heißt es in der vorletzten und letzten Zeile: „keine überwiegenden Interessen". Das muß heißen: „keine überwiegend schutzwürdigen Interessen" .
Im übrigen können diese vorliegenden Drucksachen dann zur Grundlage Ihrer Beratungen gemacht werden.
Ich möchte Ihnen noch kurz andeuten, daß wir nach der Einbringung des Gesetzes im Unterausschuß des Innenausschusses achtmal, und zwar meist ganztägig, den Inhalt des Gesetzes, die Zielrichtung des Gesetzes beraten haben. Wir haben dann das Ergebnis der Beratungen im Innenausschuß aufgenommen und dort
— ich weiß die Zahl nicht genau — in vielen Sitzungen, in einer Anhörung und in vielen Einzelgesprächen, auch mit den Bürgerrechtsgruppen, beraten, insbesondere unter dem Gesichtspunkt, daß es sich um eine völlig neue Rechtsmaterie handelt, daß wir mit diesem Stasi-Unterlagen-Gesetz, wie es verkürzt heißt, die schwierige Balance widerstreitender Grundrechte zu bewältigen hatten.
Außerdem mußten wir etwas ganz Außergewöhnliches tun, nämlich zum erstenmal Akten, nämlich Staatsakten, nicht in die Archive bringen, sondern
— und das ist das genaue Gegenteil — sie öffentlich zugänglich machen — hier liegt auch das Mißverständnis in der Öffentlichkeit — , damit wir die unseligen Hinterlassenschaften des SED-Regimes ebenso öffentlich bewältigen können. Von daher bitte ich Sie auch, den Kolleginnen und Kollegen im Innenausschuß Recht widerfahren zu lassen, auch wenn es hier und da Kritik gab. Die ganzen Beratungen standen unter dem Gesichtspunkt der Öffnung der Akten, Schutz der Betroffenen. Es sollte aber auch der Nachweis erbracht werden, wer die Verantwortlichkeit für den Inhalt der Akten hat und welche Folgerungen sich



Hans Gottfried Bernrath
daraus ergeben. Insofern ist das Gesetz wie eine Zeitung gestern schrieb, in der Welt ohne Beispiel.
Archive werden nicht verschlossen, sondern sie werden geöffnet. Wir geben damit auch der Presse alle Möglichkeiten — für uns selbstverständliche Möglichkeiten —, nach Einsichtnahme in die Akten ihrerseits zum Inhalt der Akten Stellung zu nehmen. Es gibt nur die ganz selbstverständliche, auch im geltenden Recht, verankerte Einschränkung, nämlich dann, wenn es sich um personenbezogene Daten handelt, die in die private Sphäre der Menschen hineinwirken. Dann gelten die allgemeinen Regeln, die wir noch einmal in das Gesetz übernommen haben, um damit deutlich zu machen: Um mit der Vergangenheit fertig zu werden, brauchen wir Offenheit, aber auch Schutz für die Betroffenen.
Unter diesem Gesichtspunkt bitte ich Sie, die Beratungen heute im Plenum des Deutschen Bundestages abzuschließen.
Danke schön.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205700800
Nun hat der Kollege Hartmut Büttner das Wort.

Hartmut Büttner (CDU):
Rede ID: ID1205700900
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Verabschiedung des Stasi-UnterlagenGesetzes erfüllt der Deutsche Bundestag eine wichtige Forderung des Einigungsvertrages. Der Staatssicherheitsdienst als „Schwert und Schild der SED" war das Instrument des Regimes zur Unterdrückung der eigenen Bevölkerung. Die Stasi hat menschenrechtswidrig bespitzelt, denunziert und erpreßt, die wirtschaftliche Existenz von Menschen zerstört, sie physisch und psychisch mißhandelt und sogar getötet.
Als Beleg, wie weit der Arm der Stasi reichte, möchte ich nur eine einzige Quelle zitieren, nämlich die „Stuttgarter Zeitung" vom 28. Oktober dieses Jahres. Ich zitiere:
In Leipzig ... seien die Überreste eingeäscherter Leichen auf einer Friedhofswiese verstreut oder im Auftrag des Staatssicherheitsdienstes Baustoffen beigemischt worden. ... Im Februar 1982 habe Stasi-Chef Erich Mielke angeordnet, Verräter notfalls auch ohne Todesurteil zu vernichten. Die Stasi hatte zwischen 1950 und 1962 zudem 300 Menschen aus dem Ausland entführt.
Soweit allein dieses einzige Zitat.
Die Stasi war darüber hinaus förderndes Mitglied im Verein des internationalen Terrorismus. Kontakte und Zusammenarbeit mit arabischen Terrorgruppen, der spanischen ETA, der Roten Armee Fraktion und sogar mit Rechtsextremisten, wie der Wehrsportgruppe Hoffmann, sind mittlerweile bekanntgeworden.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf versuchen wir, den Schaden, den diese verbrecherische Organisation angerichtet hat, zu begrenzen und aufzuarbeiten. Dabei betreten wir gesetzgeberisches Neuland. Deshalb ist das Stasi-Unterlagen-Gesetz auch keine abgeschlossene Bibel. Es wird sich im Alltag bewähren müssen. Schon jetzt wissen wir, daß es nach Eingang erster praktischer Erfahrungen sicherlich novelliert und fortgeschrieben werden muß. Das betrifft eine ganze Reihe. von Regelungen, so die Verjährungsfristen, den Umgang der Überprüfungsmöglichkeiten für die Gauck-Behörde und die Arbeit des Bundesbeauftragten.
Wir legen heute ein Gesetz vor, das den Persönlichkeitsschutz von Stasi-Opfern in den Mittelpunkt stellt. Alle anderen Interessen und Begehrlichkeiten müssen dahinter zurückstehen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Sicherheitsbehörden, Nachrichtendienste, Wissenschaftler und nicht zuletzt die Presse haben Schwierigkeiten zu akzeptieren, daß die auf rechtswidrige Weise zustande gekommenen Stasi-Akten mit besonderen Schutzvorschriften ausgestattet werden müssen.
Mit dem Gesetz will der Deutsche Bundestag dazu beitragen, daß der innere Frieden in den neuen Bundesländern gefördert wird. Voraussetzung für Versöhnung ist das Wissen um die eigene Akte, die Möglichkeit, durch Kenntnis der wahren Spitzel endlich wieder Vertrauen in den Freundes- und Bekanntenkreis einkehren zu lassen. Jeder Bürger hat das Recht, Auskunft zu bekommen, ob in den Stasi-Unterlagen Informationen zu seiner Person enthalten sind. Er darf Einsicht nehmen und kann sich auch eine Kopie seiner Akte herausgeben lassen.
Wir wissen, wir investieren mit der Nennung der Klarnamen von Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes gegenüber dem Opfer viel Vertrauen in die bespitzelten Menschen. Trotzdem kann die Information über den gesammelten Datenunrat einen Schock auslösen. Die Behörde Gauck und auch die Länderbeauftragten sollten deshalb eine opferbezogene psychologische Betreuung vorsehen.
Wie haben in den parlamentarischen Beratungen bewußt den Personenkreis erweitert, über den die Behörde Gauck den anfragenden Stellen Auskünfte geben darf. Hierzu gehören Betriebsräte, ehrenamtliche Richter, haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter der Kirchen und die Vorstände politischer Parteien bis zur Kreisebene. Mit dieser Erweiterung wird nicht die Regelanfrage eingeführt oder eine neue Hexenjagd provoziert, wie einige Kritiker dieser Regelung meinen, vielmehr geben wir den Menschen in den Betrieben, den Kirchen, Parlamenten und Vorständen lediglich die Möglichkeit, eigenverantwortlich zu entscheiden, wer auf eine etwaige Mitarbeit für den unseligen Staatssicherheitsdienst überprüft werden soll. Wir maßen uns in dieser Frage nicht an, die Menschen in den neuen Bundesländern zu bevormunden.
Wenn wir diesen Kreis zu eng ziehen würden, müßte die Behörde Gauck diese Diskussion aushalten. Tausende von Anfragen, die bereits jetzt beim Sonderbeauftragten eingegangen sind, dürften sonst nicht beantwortet werden. Deshalb ist es ein weiteres Stück Zutrauen in ein verantwortliches Handeln der Betroffenen, wenn wir es den Verbänden, Organisationen, Parteivorständen und der Wirtschaft in den



Hartmut Büttner (Schönebeck)

neuen Bundesländern überlassen, entsprechende Anträge zu stellen.
Nach einer Phase der Aufarbeitung muß es aber auch einen Prozeß der Reintegration der Täter von gestern geben können. Wir müssen aufpassen, daß sich die Stasi nicht als innenpolitischer Sprengsatz neu organisiert. Es gibt Anzeichen dafür. Die ersten Vorboten einer Formierung ehemaliger Mitarbeiter finden wir in den Stasi-Selbstorganisationen ODOM und ISOR. Ich halte das für eine sehr bedenkliche Entwicklung.
Vergebung und Verzeihung setzen allerdings Sühne und Demut voraus. Dieser Weg ist für die Opfer der Diktatur, die heute häufig ohne Arbeit sind, nur gangbar — das sage ich auch mit aller Klarheit und Deutlichkeit —, wenn er nicht direkt vom Stasi-Amt in den Aufsichtsrat oder in eine staatliche Funktion führt.

(Beifall bei der CDU/CSU — Peter Conradi [SPD]: Direkt zum BND!)

Die Beschäftigung ehemaliger MfS-Angehöriger sollte in den nächsten Jahren nicht an den Schaltstellen von Wirtschaft und Gesellschaft erfolgen, sondern in dienenden Funktionen von Produktion und Verwaltung.
Mich schmerzt es sehr — das will ich in dieser Debatte ebenfalls sagen — , daß wir auch mit diesem Gesetzentwurf die Verantwortung der Befehlshaber der Stasi nur unvollkommen erfassen können. Ich gucke bewußt in eine direkte Richtung. Wir haben im Gesetz das hierzu Mögliche geregelt. So sind Personen, die gegenüber der Stasi rechtlich oder faktisch weisungsbefugt waren, den Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes gleichgestellt worden. Wir müssen aber weiter Lösungen suchen, um auch diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die als Politbüromitglieder, als Bezirks- und Kreissekretäre der Stasi die Anweisungen gegeben haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Berliner Justizbehörden haben die Aufgabe, die Regierungskriminalität des untergegangenen SED-Regimes durch gerechte Verfahren zu bewältigen. Der Deutsche Bundestag gibt mit dem Stasi-Unterlagen-Gesetz und mit einer Novellierung des Archivgesetzes die notwendigen Zugriffsmöglichkeiten auf Akten zur Aufklärung der Rolle der verantwortlichen Polittäter durch die Richter und Staatsanwaltschaften.
Jetzt ist aber die Solidarität der anderen Bundesländer gefordert. Nur wenn genügend Staatsanwälte und Kriminalbeamte den Berliner Ermittlungsbehörden zur Verfügung gestellt werden, kann es wirklich zu zeitnahen Urteilen kommen. Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um den um sich greifenden Vorwurf zu bekämpfen: Die kleinen Stasitäter hängt man, die großen läßt man laufen. Ich finde es mittlerweile unerträglich, wie sich prominente SED- und Stasi-Repräsentanten in Talkshows und in den Zeitungsspalten erneut breitmachen, während ihre Opfer nicht mehr vorkommen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Ich sage auch in Anbetracht von soviel Öffentlichkeit: Ein großer Teil der deutschen Medienlandschaft hat seine Verantwortung bei der Aufarbeitung der deutschen Geschichte leider nicht genutzt. Ich halte es für skandalös, daß der mit dem Sektglas parlierende Altsozialist den Insassen von Bautzen völlig verdrängt hat. Auch aus diesem Grund halte ich die Kritik des Zeitungsverlegerverbandes und anderer Organisationen für nicht zutreffend, das Stasi-UnterlagenGesetz schränke die Pressefreiheit ein.

(Beifall bei der SPD)

Richtig ist vielmehr, daß Art. 5 Abs. 2 des Grundgesetzes aussagt, daß die schrankenlose Pressefreiheit ihre Begrenzung in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze findet. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz ist ein solches allgemeines Gesetz. Die Presse hat hinreichend Möglichkeiten, sich legal Zugang zu den nötigen Informationen zu verschaffen. Es ist weder nötig noch wünschenswert, daß der Schaden, der den Opfern zugefügt wurde, durch zusätzliches kommerzielles Ausschlachten der persönlichen Akten auch noch erhöht wird.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Jedermann — jedermann! — muß die vagabundierenden Stasi-Akten an die Gauck-Behörde zurückgeben, unabhängig davon, ob er dafür viel Geld bezahlt hat oder welcher Institution er angehört.
Bei der Einbringung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes haben wir versprochen, daß wir im Rahmen der parlamentarischen Beratung Anregungen und Kritik prüfen und sinnvolle Vorschläge aufnehmen würden. In zahllosen Beratungen im Unterausschuß und im Innenausschuß ist dieses Versprechen umgesetzt worden; Herr Bernrath hat darauf hingewiesen. So finden wir jetzt Regelungen über Jugendsünden, Verjährungsfristen, den Anspruch auf Löschung der eigenen Daten und zahllose weitere wichtige Detailfragen in diesem Gesetzentwurf vor. Ich erinnere an die Anhörung in Berlin, die im wesentlichen die Position der einbringenden Fraktionen unterstützt hat und ebenfalls zu Änderungen im Gesetzestext führte.
Wir haben aber auch den Mut, solche Anträge abzulehnen, die in der tatsächlichen Handhabung unpraktikabel, ungesetzlich oder ideologisch fixiert sind. Dazu zählen zahlreiche Anträge des Bündnisses 90/ GRÜNE und auch der Vorschlag, die Organisationsform der Behörde Gauck zu ändern.
Nach intensiver Prüfung des aus Sachsen stammenden Vorschlages sind wir zu dem Ergebnis gekommen, daß eine Anstalt des öffentlichen Rechts uns in dieser Frage mehr Staatsnähe brächte. Dem Sonderbeauftragten soll nach diesem Vorschlag ein Verwaltungsrat übergeordnet werden, der eine paritätische Vertretung zwischen Ländern und Bund vorsieht. Da die Stimme des Bundes bei Stimmengleichheit jedoch den Ausschlag gibt, würde dieses Modell zu einer vom Bund zutiefst abhängigen Institution führen. Unser Vorschlag einer Bundesoberbehörde, in der Rechtsstellung mit dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz vergleichbar, sichert die für diese Arbeit notwendige Unabhängigkeit.



Hartmut Büttner (Schönebeck)

Wir haben allerdings den Ländereinfluß deutlich verstärkt. Neben der Möglichkeit der begleitenden Arbeit durch Länderbeauftragte haben wir die Stimmenanteile im parlamentarischen Beirat erheblich zugunsten der Länder verändert. Die Zahl der vom Bund vorzuschlagenden Beiratsmitglieder wird von zehn auf sieben verringert. Die Länder werden jetzt neun statt sechs Beiratsmitglieder stellen. In der Begründung haben wir deutlich gemacht, daß die Mehrheit der Mitglieder des Beirates aus den neuen Ländern kommen soll.
Die dezentrale Lagerung bei zentraler Verwaltung sichert den Bürgern zwischen Rostock und Zittau eine bürger- und ortsnahe Einsichtnahme ihrer persönlichen Akten.
Aus all diesen Gründen — ich könnte noch mehr aufzählen — halte ich den jetzt so gefaßten Vorschlag für überzeugend und für vernünftig.
Wir haben auch die Verantwortung, ein Gesetz zu schaffen, das personell und finanziell zu bewältigen sein wird. Mein Appell gilt deshalb dem ganzen Haus, vor allem aber den Haushältern. Denn dieses Gesetz kann nur umgesetzt werden, wenn die Behörde Gauck auch so ausgestattet wird, daß der zu erwartende Ansturm bewältigt werden kann.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es waren keine leichten Beratungen. Auch wenn nicht alle zustimmen können, möchte ich allen danken, die in monatelangen Diskussionen am Zustandekommen dieses Gesetzes mitgewirkt haben: den Mitgliedern des Unterausschusses und des Innenausschusses, den Mitarbeitern des Innenministeriums, den Bürgerkomitees und den neuen Ländern. Einen besonderen persönlichen Dank an zwei Freunde — das darf ich auch sagen — : an Rolf Schwanitz und Jürgen Schmieder.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Wir standen im Spannungsfeld zwischen den klassischen Regelungsformen eines gewachsenen Rechtsstaates und den Erfordernissen einer nicht zu Ende gebrachten friedlichen Revolution. Wir haben gute gesamtdeutsche Beratungen zu einem guten gesamtdeutschen Ergebnis gebracht.
Ich darf Ihnen für Ihre Geduld danken.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205701000
Als nächster hat unser Kollege Rolf Schwanitz das Wort.

Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1205701100
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der uns heute in zweiter und dritter Lesung vorliegende Gesetzentwurf gleicht ein großes Defizit in der Auseinandersetzung mit dem SED-Unrechtsregime aus.
Die seit dem 3. Oktober 1990 in den Besitz der Bundesrepublik gelangten Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit wurden durch die Regelungen des Einigungsvertrages weitgehend geschlossen. Eine Nutzung war nur im Wege der Rehabilitierung, in ganz eingeschränktem Maße zur Strafverfolgung und bei Personalüberprüfungen bezüglich hauptamtlicher oder inoffizieller Tätigkeit im Bereich des öffentlichen Dienstes möglich. Ein direkter Zugang für die Opfer des Systems, also für jene, die direkt unter den Repressionen des Staatssicherheitsdienstes leiden mußten, war nach dem Einigungsvertrag nicht möglich.
Auch die Auseinandersetzung mit dem gesamten Unrechtssystem litt unter dieser Regelung, die nun schon seit mehr als einem Jahr besteht. Die Aufarbeitung blieb lediglich auf Material beschränkt, das im Verlaufe der Entwicklung auf dem einen oder anderen Weg aus dem Bereich des Ministeriums für Staatssicherheit oder aus dem Bereich des späteren Sonderbeauftragten verbracht worden war. Eile war also geboten. Jenen Bespitzelten, vom MfS Verfolgten mußte schnellstmöglich Zugang zu den über sie gespeicherten Informationen verschafft werden.
Aber es ging auch darum, Parteien, Verbänden, der Kirche und Betrieben endlich die Möglichkeit einzuräumen, sich selbst Kenntnis zu verschaffen, nicht nur von Offenbarungen durch die Medien abhängig zu sein, sondern sich selbst aus eigenem Willen und eigener Kraft dem Problem der Unterwanderung und Durchdringung durch MfS-Mitarbeiter — seien es nun Inoffizielle Mitarbeiter oder Offiziere im besonderen Einsatz — zuzuwenden.
Dennoch war bei den Beratungen zu beachten, daß das seit dem 3. Oktober 1990 in den Verfügungsbereich der Bundesregierung gelangte Aktenmaterial im eigentlichen Sinne unrechtmäßig entstandenes Material darstellt; entstanden unter permanenter Verletzung von Persönlichkeitsrechten, indem Menschen durch Inoffizielle Mitarbeiter bespitzelt, mittels Wanzen belauscht, durch Kameras gefilmt worden sind, indem Briefe geöffnet, Telefonate widerrechtlich aufgezeichnet worden sind — alles fein säuberlich mit deutscher Akribie und sozialistischem Planungsfanatismus in Aktenform gegossen.
Dieses Aktenmaterial müßte eigentlich durch bundesdeutsche Stellen von Amts wegen vernichtet werden. In der Tat gab es Ende 1990 und Anfang 1991 viele Stimmen, die forderten, dieses Aktenmaterial zu vernichten. Es war ein langwieriger und zäher Diskussions- und Lernprozeß, von dieser Position zu einer Position der Öffnung und des Zugangs zu kommen.
Ich bin dankbar dafür, daß es nach zähen und kräfteraubenden Verhandlungen gelungen ist, dieses Vorhaben interfraktionell zu tragen. Den Teilnehmern an den interfraktionellen Beratungen sage ich ausdrücklich meinen Respekt und meine Anerkennung für ihre Kompromißbereitschaft und für die offene Arbeitsatmosphäre. Es war für mich eine positive politische Erfahrung, daß Parteien aus Regierung und Opposition bei komplizierten Sachthemen auch zueinander finden können und zu Dialog und gemeinsamem Handeln fähig sind —

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

eine Form der Politik, die ja gerade wir in den neuen Bundesländern angesichts der wachsenden Probleme erwarten und wünschen.



Rolf Schwanitz
Dennoch wurden die Verhandlungen auch durch kritische und — ich will das offen sagen — an vielen Stellen auch überzogene öffentliche Reaktionen, zum Teil aus diesem Haus, begleitet.
Ich habe es sehr bedauert, daß es nicht gelungen ist, dieses Gesetz gemeinsam mit dem Bündnis 90 einzubringen und weiter vorzubereiten. Als die Berichterstatter der Fraktionen CDU/CSU, FDP und SPD Ende März noch gemeinsam mit Frau Köppe vom Bündnis 90/GRÜNE an einem Tisch saßen und über den Entwurf berieten in der Hoffnung, daß alle ursächlich am Thema Interessierten zu einer gemeinsamen Diskussion finden können, da war klar, daß man nicht in jedem Punkt alles wird kritiklos tragen können. Dennoch hat sich Frau Köppe Ende Mai der Einbringerrunde entzogen; sie hat diese Einbringerrunde verlassen. Auch das Angebot quasi als kritischer, aber konstruktiver Begleiter weiterhin an den Vorbereitungen der Einbringerfraktionen teilzunehmen, hat sie ausgeschlagen.
Statt dessen hat sie ihre Tätigkeit in den Medienbereich verlegt und mit kräftiger Unterstützung der Presse die eigenen Argumente als Wahrung von Bürgerinteressen dargestellt und die Arbeitsergebnisse der anderen keines positiven Wortes gewürdigt. Dies war eine Enttäuschung für mich. In diesem Vorgehen hat sich Frau Köppe sehr wohl von jenen Kollegen in ihrer Gruppe aus der Volkskammerzeit unterschieden, mit denen sehr oft gerade bei solch brisanten Themen eine konstruktive Zusammenarbeit möglich war.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, was nun hier als Stasi-Unterlagen-Gesetzentwurf vorliegt, wird den Erwartungen der großen Mehrheit der Bürger in den alten und den neuen Bundesländern durchaus gerecht, was auch und vor allem dann klar wird, wenn man einen Blick in die Länder Osteuropas wirft.
Wir haben seit der Einbringung des Gesetzes im Mai umfangreich und intensiv weiter über den Entwurf gestritten. Allein die Sozialdemokraten haben über 74 Änderungen in die Diskussion gebracht, die fast vollständig eingearbeitet wurden. Betroffene und Dritte, also jene Personen, die durch das MfS mit geheimdienstlichen Mitteln bespitzelt und überwacht wurden, d. h. die eigentlichen Opfer, werden umfassenden Zugang zu den über sie angelegten Aktenbeständen erhalten.
Dies bedeutet Auskunftsrecht für jeden Bundesbürger darüber, ob etwas über ihn aktenseitig vorhanden ist. Dies bedeutet Einsicht der Betroffenen und Dritten in die zu ihrer Person vorhandenen Akten. Dabei wollen wir, daß der Staat nicht erneut vormundschaftlich vor die Betroffenen tritt, sondern die zu ihrer Person geführten Opferakten nach § 10 Abs. 4 des Gesetzes möglichst vollständig zur Einsicht vorlegt. Des weiteren bedeutet dies Herausgabe von entsprechendem Aktenmaterial in kopierter Form zur freien Verwendung durch die Opfer von damals.
Neu — übrigens auch gegenüber dem damaligen Volkskammergesetz — ist, daß Betroffene das Recht
erhalten, Namen und Identifizierungsinformationen ihrer Peiniger von damals zu erhalten. Beispielsweise hier geht die Regelung in der uns nun vorliegenden Fassung weit über die Volkskammerintentionen hinaus. Dies ist in der Öffentlichkeit oft verdreht und einseitig dargestellt worden.
Eine echte Auseinandersetzung und Aufhellung des persönlichen Leidensweges wird damit möglich. Die Bewältigung der Vergangenheit muß — will sie für die Zukunft eine dauerhafte Wirkung hinterlassen — gerade bis in die individuellen Bereiche auch zwischen Täter und Opfer hineinreichen können. Dafür bietet diese Klarnamensnennung erstmals eine Chance.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Staatssicherheitsdienst war jedoch nicht nur Unterdrückungsorgan gegenüber politisch Andersdenkenden und Oppositionellen. Er hatte vielmehr auch eine sich uns mehr und mehr in ihrer tatsächlichen Dimension erschließende Kontroll- und Überwachungsfunktion im SED-Staat. Das MfS war bestrebt, ein flächendeckendes Netz von Informanten und Spitzeln über die DDR, aber vor allem über nach dem Sicherheitsverständnis der SED besonders gefährliche gesellschaftliche Bereiche zu legen. Vor allem die Kirchen, Hochschulen, Universitäten, der Kulturbereich, die Leitungsetagen in Kombinaten und Betrieben, Staatsorgane, Parteien, Massenorganisationen und andere Bereiche mehr wurden einer besonderen, intensiven Spitzeltätigkeit unterzogen. Diese Unterwanderungen waren ursächlich verantwortlich dafür, daß notwendige Vertrauensverhältnisse und offene Arbeitsatmosphären in diesen Bereichen nur selten aufgebaut werden konnten. Dieses Erbe lebt fort.
Wir standen deshalb vor der Aufgabe, neben der Möglichkeit, Angehörige des öffentlichen Dienstes auf eine eventuelle MfS-Mitarbeit zu überprüfen — wie dies nach dem Einigungsvertrag bereits möglich war —, vergleichbare Überprüfungsmöglichkeiten für andere gesellschaftliche Bereiche zu schaffen.
Der uns nun vorliegende Gesetzentwurf eröffnet solche Möglichkeiten, beispielsweise für Vorstände von Parteien, für leitende Funktionen in Verbänden, für Notare und Rechtsanwälte, aber auch für Betriebsleitungen und Kirchen. Dieser Teil des Gesetzes war der in den Fraktionen wohl am heftigsten umstrittene Teil. Es hatte zeitweilig den Anschein, als würde das Vorhaben einer gemeinsamen Gesetzesinitiative aller Fraktionen des Hauses daran zerbrechen.
Wenn wir heute eine Fassung vor uns liegen haben, die nun — wenn auch mit großen Bauchschmerzen vieler — dieses Anliegen trägt, so erwächst dies vor allem daraus, daß letztendlich die Erkenntnis gesiegt hat, daß sich der Staat nicht vormundschaftlich vor die Aufarbeitungsinteressen der Institutionen und Organisationen stellen darf. Wir wollen — um es deutlich zu sagen — keinen Zwang zum Aufspüren des letzten Inoffiziellen Mitarbeiters in der äußersten gesellschaftlichen Nische. Wir können uns aber ebensowenig gegen berechtigte Überprüfungsbegehren öffentlicher und nichtöffentlicher Stellen wenden.



Rolf Schwanitz
Allerdings erfordern diese Auskunftsmöglichkeiten ein ausgewogeneres und differenzierteres Vorgehen dieser Stellen gegenüber dem eigentlichen Problemkreis, welches ich persönlich zur Zeit noch nicht in allen Bundesländern erkennen kann. Doch Verantwortung kann nur aus Tätigkeit erwachsen. Eine Tätigkeitsbeschränkung hingegen verschafft keine Möglichkeit für einen notwendigen Bewußtseinswandel.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, sehr umstritten war in der Vergangenheit — auch wenn in den letzten Wochen die Diskussion dieses Thema vielleicht ein wenig überlagert hat — die Frage nach der Rechtsstellung und der Organisationsstruktur der Behörde des Bundesbeauftragten. Es war einer der wichtigsten und bedeutsamsten Punkte des ehemaligen Volkskammergesetzes, daß diese Aktenhinterlassenschaft durch eine politisch unabhängige Behörde verwaltet werden muß. Auf die politische Unabhängigkeit des Bundesbeauftragten ist folglich bei der Gesetzesdiskussion besonderer Wert gelegt worden.
Die nun entstandene Konstruktion bietet gute Voraussetzungen dafür, daß der Bundesbeauftragte künftig frei von politischer Einflußnahme seiner sensiblen Tätigkeit nachgehen kann. Die Behörde des Bundesbeauftragten soll eine Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesinnenministers werden. Die Dienstaufsicht insbesondere hinsichtlich personal- und dienstrechtlicher Fragen liegt also künftig beim Bundesinnenminister. Die Rechtsaufsicht soll die Bundesregierung wahrnehmen. Die Disziplinarbefugnis ist an den Bundespräsidenten geknüpft. Zur Abberufung des Bundesbeauftragten aus disziplinarischen Gründen müssen beispielsweise Sachverhalte vorliegen, die auch bei einem Richter auf Lebenszeit eine Abberufung möglich machen würden.
Eine Fachaufsicht — dies ist der entscheidende Punkt — , also die weisungsseitige Einflußnahme auf die täglichen Amtsgeschäfte, ist nicht vorgesehen. Dies verhindert im Gegensatz zum — vor allem durch den Freistaat Sachsen diskutierten — Modell einer öffentlich-rechtlichen Anstalt, daß die Auskunftstätigkeit des Bundesbeauftragten durch politische Einflußnahme subjektiven Interessen unterworfen wird und daß der Streit über politisch passende oder unpassende Auskünfte die Tätigkeit der Behörde künftig beschränken kann.
Wenn die Frage, ob man auf die Auskunftstätigkeit des Bundesbeauftragten künftig politischen Einfluß ausüben kann, mit Verabschiedung dieses Gesetzes hoffentlich geklärt sein wird, und zwar mit Nein beantwortet sein wird, dann wird man sich endlich darum kümmern müssen, wie mit diesen Auskünften umgegangen werden muß. Nicht die Einflußnahme auf die Auskunft soll uns künftig beschäftigen — hier wird es klare Rechtsrahmen geben — , sondern wir müssen uns darum kümmern, wie verantwortungsvoll mit diesen Auskunftsergebnissen umgegangen werden muß. Dies ist die eigentliche Problematik. Insbesondere hier liegt, sei es nun über die Tätigkeit des Beirates oder über das Wirksamwerden neu zu schaffender Landesbeauftragter in den neuen Bundesländern, die eigentliche Verantwortung und Mitwirkungsebene der neuen Bundesländer.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich noch einige Bemerkungen zum Zugang der Medien zu den Unterlagen machen. Es soll künftig — wir haben es vom Kollegen Bernrath vorhin bereits gehört — keine Zugangsbeschränkung der Medien hinsichtlich der Täterakten mehr geben. Die Strafvorschrift des Gesetzes stellt nur noch die unmittelbare Veröffentlichung aus Originalunterlagen der eigentlichen Opfer unter Strafe. Dies ist der Kernbereich des unbedingt notwendigen Schutzes, insbesondere im Spannungsfeld zwischen Art. i und Art. 5 des Grundgesetzes. Dies wird in der Öffentlichkeit entgegen den Intentionen der Presse sicherlich auch weiterhin kritisch hinterfragt werden. Vielen Menschen wird diese Offenheit zu weit gehen. Zumindest von einem Täterschutz kann in diesem Zusammenhang keinerlei Rede mehr sein.
Ich persönlich habe in den letzten Wochen über die Macht der vierten Gewalt im Staat, also über die der Medien, sehr viel gelernt. Der Inhalt des Gesetzes wurde in der Öffentlichkeit falsch dargestellt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)

Kollegen aus dem Hause wurden kampagnenmäßig diffamiert.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Die Medien waren sich offensichtlich einig, denjenigen, die dieses Gesetz maßgeblich erarbeitet haben, keine Chance zu geben, in der Öffentlichkeit den tatsächlichen Inhalt des Gesetzes darzustellen.
Was bleibt, ist die Erkenntnis, daß die Vertreter der Medien im Vorfeld der Beratungen sicher direkter hätten eingebunden werden müssen; hier liegt ein Versäumnis. Was bleibt, ist aber auch die Erkenntnis, daß der legitime Anspruch, vierte Gewalt im Staat zu sein, quasi als demokratischer Ausgleich für das Versagen der anderen Gewalten, dort endet, wo die Wahrnehmung subjektiver Interessen das Handeln der Medien bestimmt.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Das ist eine bittere Erkenntnis für einen Abgeordneten aus den neuen Bundesländern, der mit speziellen Demokratievorstellungen in dieses Haus gekommen ist.
Meine Damen und Herren, es besteht kein Zweifel daran — Kollege Büttner hat auch dies angedeutet —, daß das, was wir hier in mühevoller Arbeit nun in dem Gesetzentwurf zusammengetragen haben, nicht der Weisheit letzter Schluß ist. Niemand kann zum jetzigen Zeitpunkt die Hand dafür ins Feuer legen, daß sich die eine oder andere Stelle nicht als fehlerhaft herausstellen wird und daß in nicht allzu ferner Zeit nicht über eine Novellierung nachgedacht werden muß. Es bleiben auch die Bauchschmerzen, die die Wessis an den einen Stellen und die Ossis an den anderen Stellen des Gesetzes haben. Wir eröffnen



Rolf Schwanitz
dennoch gerade für die Opfer — dies war eine zentrale Forderung des Herbstes 1989 — endlich jenen langersehnten und notwendigen Zugang, auf den man vor allem in den neuen Bundesländern so lange hat warten müssen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Ich bitte Sie deshalb über alle Fraktionen und alle Gruppen dieses Hauses hinweg um eine breite Zustimmung zu diesem Gesetz.
Danke.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205701200
Nun hat unser Kollege Dr. Jürgen Schmieder das Wort.

Dr. Jürgen Schmieder (FDP):
Rede ID: ID1205701300
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da werden Informelle Mitarbeiter ihrer Kumpanei mit der Stasi überführt. Sie leugnen hartnäckig ihre Schuld und sitzen weiter unverfroren in deutschen Parlamenten, z. B. im Sächsischen Landtag. Dort wollen fünf Stasibelastete Abgeordnete ihren Platz nicht räumen. Darunter befindet sich einer, der in den Zeiten der SED-Herrschaft in der SED-Bezirksleitung Chemnitz verantwortlicher Mitarbeiter für Fragen der inneren Sicherheit und damit einer der engsten Vertrauten des ersten Sekretärs der SED-Bezirksleitung war. Dieser Herr hat Mitte Dezember 1989 in einer öffentlichen Veranstaltung in dem sicheren Gefühl seiner Macht einige führende Köpfe der Bürgerbewegung Neues Forum im Bezirk Chemnitz als Drahtzieher der Verleumdungskampagne gegen die DDR bezichtigt und sie persönlich für den Fall verantwortlich und haftbar machen wollen, daß in ihrer Heimatstadt eine weitere Demonstration stattfinden würde, und das in einer Zeit, meine Damen und Herren, als die Messen über das SED-Regime bereits gelesen waren und die SED dabei war, über die Station SED/PDS Etikettenschwindel in Reinkultur zu betreiben,

(Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU] : Sehr gut!)

nur um die Millionen — oder sollte ich besser sagen, die Milliarden — an Parteigeldern zu erhalten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Diese Herrschaften — das beweist das vorher Gesagte — glaubten echt noch, das Volk ließe sich beschwichtigen, würde die Straße freiwillig und unverrichteter Dinge räumen, der alte Geist könnte wieder einziehen, und man könnte abrechnen, so wie man es gewohnt war. Der genannte Herr ist jetzt übrigens Landesvorsitzender der PDS in Sachsen und Fraktionsführer im Landtag.

(Dr. Burkhard Hirsch [FDP]: Hört! Hört! — Weiterer Zuruf von der FDP: Unerhört!)

Analog dazu nutzten einige der SED-Honoratioren unter den für sie günstigen Bedingungen in der Regierungszeit Modrows und auch danach die Chance, sich als Geschäftsführer von Firmen bzw. in Betriebsräte einzubringen.
Des weiteren gibt es — ich möchte sie fast als Nachfolgerorganisation bezeichnen — Zusammenschlüsse
ehemaliger Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes unter dem Namen ISOR und die Vereinigung von Mitarbeitern der drei bewaffneten Ministerien der ehemaligen DDR namens ODOM. Diese Organisationen nehmen für sich in Anspruch, natürlich rein informelle Interessenvertretungen zu sein. Es wäre aber ein Narr, der glaubte, daß sich diese Damen und Herren nur mit ihren eigenen sozialen Problemen beschäftigen würden. Es scheint dringend angeraten, ein wachsames Auge auf sie zu werfen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Der Organisation ODOM übrigens steht eine Dame vor, die gleichzeitig — wie sollte es anders sein? — selbstverständlich Mitglied der PDS ist.

(Andrea Lederer [PDS/Linke Liste]: Informieren Sie sich doch mal!)

So steht es im Verfassungsschutzbericht 1991 geschrieben.
Die Gründung dieser Organisationen, das Hineinschieben ehemaliger Vertrauter in bestimmte Schlüsselstellungen der Wirtschaft, der Kommunalverwaltungen, des öffentlichen Dienstes, in den Sicherheitsbereich und sogar in Parlamente und Landesregierungen beweist die Hartnäckigkeit und das Zusammengehörigkeitsgefühl dieser Leute und eben auch die Tatsache, daß man, wie althergebracht, völlig kaltschnäuzig vorgeht und die Positionen nicht freiwillig räumt.
So, meine Damen und Herren, stellt sich das Bild aus der Sicht vieler meiner Mitbürger in den neuen Bundesländern dar. Es ist schockierend.
Werden Informelle Mitarbeiter mit ihrer Schuld konfrontiert, d. h. ihre Vergangenheit holt sie ein, dann gibt es nicht wenige, die im Brustton der Überzeugung so lange wie möglich ihre Mitarbeit leugnen.

(Vereinzelt Zustimmung bei der CDU/CSU)

Vielfach hören Personalkommissionen oder Vertreter der Sonderbehörde dann den ganz banalen Satz: „Na ja, wenn ihr das so sagt, dann wird es halt so sein." — Andere verharmlosen ihre Mitarbeit und ziehen sich darauf zurück, daß sie doch keiner Person etwas zuleide getan hätten und daß ihre Arbeit im wesentlichen doch nur ein völlig unbedeutendes Mosaiksteinchen gewesen sei.
An dieser Stelle irren die Herrschaften aber, denn jedes auch noch so kleine Mosaiksteinchen hat der Stasi geholfen, das ganze Volk jahrzehntelang zu unterdrücken und viele Mitbürger in ihrem Persönlichkeitsrecht einzuschränken, schlimmer noch, ihre Menschenwürde zu verletzen.
Trotzdem vertrete ich die Meinung, daß man nun nicht jedes kleinen der über 100 000 hauptamtlichen und über 500 000 inoffiziellen Mitarbeiter habhaft werden muß. Viele wurden nur ein einziges Mal eingesetzt, oder sie waren völlig untergeordnet z. B. im technischen Bereich oder in einem Wachregiment für die Stasi tätig.
Uns geht es vorrangig um die Großen, um die Führungsoffiziere und vor allem um die politischen Hin-



Dr. Jürgen Schmieder
termänner. Es klingt wie Hohn, aber viele betreiben noch immer ihre privaten Giftküchen, gehen mit geklauten Stasi-Akten hausieren, dürfen sich in den Medien produzieren und erhalten dafür noch horrende Geldbeträge.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD — Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!)

Honecker beispielsweise soll für ein Interview 180 000 DM kassiert haben. Ist das nicht pervers? Soll das ewig so weitergehen? Soll man das etwa auch noch unterstützen?
Wir haben aus all dem die Verpflichtung abgeleitet, einen Gesetzentwurf zu konzipieren, der diese Machenschaften unterbindet, den Befindlichkeiten der Mitbürger im Osten gerecht wird, einen weitgehenden Schutz für Opfer und Dritte sicherstellt, ein Gesetz, das Jugendsünden verzeiht und selbst Stasi-Täter nicht für vogelfrei erklärt. Dieses Gesetz war gesetzgeberische Schwerstarbeit, eine echte Pioniertat, da etwas Vergleichbares nicht existiert. Es regelt den Umgang mit der Hinterlassenschaft eines der schlimmsten Kapitel der deutschen Geschichte. Eigentlich ist dieses Gesetz ein Experiment.
Unser Gesetz gibt jedem Bürger das Recht, Auskunft zu verlangen, ob zu seiner Person in den StasiUnterlagen Informationen enthalten sind. Es wird unterschieden zwischen Mitarbeitern — das sind hauptamtlich oder informell Beschäftigte des MfS — , Begünstigten — das sind Personen, die von der Stasi geschützt oder gefördert worden sind — , Betroffenen — also Menschen, über die das MfS Informationen gesammelt und gespeichert hat — und Dritten; das sind solche Personen, deren Daten im Rahmen der Ausspähung nebenbei angefallen sind. Betroffenen und Dritten gibt das Gesetz das Recht auf Einsicht und Herausgabe von Kopien der sie betreffenden Akten, des weiteren das Recht, die Informationen und Unterlagen, die sie erhalten haben, nach ihrem Willen zu verwenden.
Die Stasi-Unterlagen werden im Rahmen einer Bundesbehörde erschlossen, geordnet, verwahrt und zentral verwaltet. In der Behörde wird ein Beirat gebildet, der den Beauftragten bei der Wahrnehmung seiner Verpflichtungen unterstützt. Zur Abwicklung der Geschäfte wird eine Benutzer- und Gebührenordnung erlassen.
Alle Personen und nichtöffentlichen Stellen müssen Stasi-Unterlagen, die sie von der Stasi, von Mittelsmännern oder aus anderen Quellen haben, an die Bundesbehörde zurückgeben. Die Unterlagen können von Strafverfolgungsbehörden zur Abwehr einer drohenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit verwendet werden. Sie dürfen für jegliche politische und historische Forschung verwendet werden. Täterakten sind nicht geschützt bzw. werden durch die Bundesbehörde nur von den schutzwürdigen Interessen Dritter befreit. Betroffenen und Dritten steht das Recht zu, ihre Akte eigenverantwortlich veröffentlichen zu lassen. Bevor die Betroffenen Einsicht bzw. die Kopien ihrer Unterlagen erhalten, werden auch diese von schutzwürdigen Interessen Dritter befreit.
Insbesondere für die Medien eröffnen sich durch dieses Gesetz vielfältige Möglichkeiten, ihren verfassungsrechtlich gesicherten Auftrag zu erfüllen und bei der politischen und historischen Aufarbeitung mitzuwirken. Unter empfindlicher Strafe steht allerdings, wer Unterlagen im Sinne des Gesetzes oder deren Kopien veröffentlicht bzw. im Wortlaut abdruckt. Der bloße Besitz von Kopien oder Unterlagen ist im Fall des Bekanntwerdens nach Ablauf einer Frist von drei Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes bußgeldpflichtig.
Dieser Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/ CSU, FDP und SPD regelt den Umgang mit den Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes. Er stellt aber keine Verfahrensvorschrift für die Bewertung der Ergebnisse einer Überprüfung dar. Hierzu sind in den einzelnen Bereichen Richtlinien und Vorschriften festzulegen. Mit diesem Gesetz, so glauben wir, müßte es gelingen, das riesige Paket von über 200 Kilometern Aktenlänge, von mehreren tausend Säcken voll mit zerrissenen Unterlagen, von den über 6 Millionen Personendossiers zu beherrschen, die notwendigen Recherchen durchzuführen und die Rechte der Betroffenen und der Dritten in vollem Umfang abzudecken.
Wie kompliziert die Materie ist, verdeutlicht sich dadurch, daß in den zerrissenen Unterlagen, die durch die Mitarbeit vieler Helfer in großen Teilen wieder zusammengefügt wurden, und zwischen den vorvernichteten Materialien Abhörprotokolle der ständigen Vertretung der alten Bundesrepublik in Berlin, Sachdokumente, die die Vorgänge des 17. Juni 1953 belegen, Datenerfassungsbelege, die die Stasi in einem zentralen Speicher der kommunistischen Geheimdienste eingespeist hat, und ein völlig neuer Typus von Personendossiers, der neben den genannten 6 Millionen weitere Tausende von Personen betrifft, gefunden worden sind.
Die Unterlagen enthalten viele Hinweise auf die Verbrechen, die die Stasi begangen hat, wie Waffenhandel, Menschenschmuggel, Hinrichtungen, Auftragsmord, Rauschgiftdelikte, Sabotage, Wahlbetrug, Raub, Diebstahl, Hehlerei, Verletzung des Postgeheimnisses, psychiatrische Behandlung von Regimegegnern, Folterungen und Kastrationen. Die Menschenrechte wurden in der ehemaligen DDR schlichtweg mit Füßen getreten.
Diese Greueltaten hat die Stasi jedoch nicht allein vollbracht. Es gab für die Unterdrückung des Volkes, also die Diktatur nach innen, neben der Stasi noch die Abteilung K 1 der Kriminalpolizei und die politischen Drahtzieher im Politbüro und die Bezirks-Einsatzleitungen der SED. Deshalb war es für uns selbstverständlich, daß die Unterlagen aller politischen, zeitlichen und organisatorischen Vorläufer- und Nachfolgeorganisationen gemäß § 1 mit eingeschlossen sind, wenn das Gesetz der Überschaubarkeit halber von „Staatssicherheit" spricht.
Unter den Begriff „Unterlagen" fallen sämtliche Informationsträger, unabhängig von der Form der Speicherung, insbesondere Akten, Dateien, Pläne, Filme sowie sonstige Bild- und Tonaufzeichnungen, ebenso deren Kopien, Abschriften und sonstige Duplikate und die zur Auswertung erforderlichen Hilfs- und



Dr. Jürgen Schmieder
Findmittel wie z. B. automatische Programme der elektronischen Datenverarbeitung, sprich: alle Unterlagen, die die Stasi selbst angefertigt hat bzw. die irgendwann in ihren Besitz gelangt sind. Darunter fallen auch alle der Stasi überlassenen Akten von Gerichten und Staatsanwaltschaften.
Alle öffentlichen Stellen unterstützen die Sonderbehörde beim Auffinden der Unterlagen der Stasi und haben Anzeige- und Herausgabepflicht. Der Bundesbeauftragte hat das Recht, von nichtöffentlichen Stellen die Herausgabe aller Unterlagen, die bei der Stasi entstanden sind, und deren Kopien und Duplikate zu verlangen; denn die Unterlagen können personenbezogene Daten über Betroffene und Dritte enthalten, und sie enthalten in den meisten Fällen Informationen, die schutzwürdige Interessen Dritter betreffen. Den Schutz der Interessen Betroffener und Dritter, also die Rechte nach Art. 1 und 2 des Grundgesetzes, stellt das Gesetz in den Vordergrund, handelt es sich bei den Unterlagen doch um unrechtmäßig angefertigte und auch das Intimleben verletzende Unterlagen oder wenigstens um unrechtmäßig in den Besitz der nichtöffentlichen Stelle gelangte Unterlagen.
Zum einen sind die Unterlagen, da sie in staatlichen Behörden angefallen sind, jetzt in das Erbe des Staates Bundesrepublik Deutschland übergegangen. Der Staat muß den Umgang mit diesen Unterlagen regeln, und dazu muß er sie besitzen. Zum anderen könnte die Nichtherausgabe Betroffene bei der Aufarbeitung persönlicher Angelegenheiten benachteiligen oder deren Rehabilitation unmöglich machen und darüber hinaus die lückenlose Beweisführung gegenüber Tätern beeinträchtigen.
Jeder hat das Recht auf Auskunft, Einsicht in Unterlagen oder die Herausgabe von Unterlagen. Der Antrag ist schriftlich zu stellen, unter Nachweis der Identität, der Vertretungsvollmacht und gegebenenfalls der Eilbedürftigkeit. Bei der Gewährung dieser Rechte werden die Unterlagen stets von Inhalten, die sich auf schutzwürdige Interessen Dritter oder anderer Betroffener beziehen, befreit. Betroffenen und Dritten wird zudem das Recht zugestanden, ihre Unterlagen ab dem 1. Januar 1997 anonymisieren oder löschen zu lassen.
Nahen Angehörigen von Vermißten oder Verstorbenen steht gleichfalls das Recht auf Auskunft, Einsicht und Herausgabe zu. Mitarbeitern der Stasi ist auf Antrag Auskunft über ihre personenbezogenen Daten zu erteilen. Es ist nämlich nicht selten der Fall, daß jemand Opfer und Täter in einer Person ist. Dem soll durch die getroffene Regelung Rechnung getragen werden.
Bei der Auskunft oder Einsicht werden dem Betroffenen die Klarnamen der Inoffiziellen Mitarbeiter, also die Namen der Spitzel und Denunzianten, genannt. Das ist für uns ein unabdingbar zu gewährendes Recht. Der Staat kann und darf diese Informationen nicht behalten und damit die Stasi-Mitarbeiter weiter in ihrem Wissensvorteil belassen. Jeder Betroffene kann dann selbst entscheiden, ob und wie weit er seine Vergangenheit aufarbeiten will.
Bedenken wir hierbei, daß der gesamte Wendeprozeß friedlich abgelaufen ist. Warum soll es ausgerechnet jetzt Mord und Totschlag geben?

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Die Aufarbeitung und die Konfrontation Täter/Opfer hat in einigen Fällen bereits jetzt stattgefunden und ist ebenfalls friedlich verlaufen. Außerdem wird die Auskunft und Akteneinsicht weitestgehend durch Informationen über Rechtsbeistand und durch psychologische Betreuung begleitet, und es wird auf die Befindlichkeiten der Betroffenen eingegangen.
Das Gesetz sieht vor, Personen mit ihrer Kenntnis — und die Betonung liegt hier auf „mit ihrer Kenntnis" — auf eine Mitarbeit bei der Stasi zu überprüfen, wenn sie z. B. Mitglieder einer Regierung, Abgeordnete, Mitglieder des Beirates, Angehörige kommunaler Vertretungskörperschaften sind oder als Personen im öffentlichen Dienst, als Notar oder Rechtsanwalt weiterbeschäftigt oder tätig werden wollen. Weiter werden Vorstandsmitglieder, Geschäftsführer, Betriebsteilleiter oder vergleichbare leitende Angestellte in Betrieben einer juristischen Person überprüft. Keine Berücksichtigung finden hierbei alle eventuellen Aktivitäten vor dem 18. Lebensjahr. Damit wird ein Jugendschutz sichergestellt. Das entspricht z. B. einer der wesentlichsten Forderungen der FDP.
Für Untersuchungsausschüsse erstreckt sich nach dem Gesetzentwurf das Recht der Beweiserhebung auch auf die Unterlagen der Stasi.
Unterlagen generell und Unterlagen, soweit in ihnen personenbezogene Informationen über Betroffene und Dritte enthalten sind, dürfen verwendet werden zur Aufklärung von Straftaten nach dem Waffengesetz, dem Kriegswaffenkontrollgesetz und dem Betäubungsmittelgesetz sowie zur Aufklärung ähnlich schwerer Straftaten.
Ein dritter Abschnitt des Gesetzes regelt die allgemeine Verwendung der Unterlagen, also für die Presse und andere Zwecke der historischen und politischen Aufarbeitung. Grundsätzlich stehen hierfür alle Unterlagen zur Verfügung, soweit in den Unterlagen die schutzwürdigen Interessen Dritter anonymisiert worden sind. Eine Ausnahme hiervon bilden die Unterlagen über Betroffene und Dritte. Hier liegt die Verwendung in der Hand dieser Personen selbst.
Unterlagen über Personen der Zeitgeschichte, Inhaber politischer Funktionen oder Amtsträger in Ausübung ihres Amtes stehen gleichfalls für die allgemeine Verwendung zur Verfügung, wenn die schutzwürdigen Interessen dieser Personen angemessen berücksichtigt sind.
Die Rechte und die Möglichkeiten für die Presse und die Medien sind sehr weitgehend. Die Akten der Täter und der Personen der Zeitgeschichte stehen nach Schwärzungen nach Maßgabe der schutzwürdigen Interessen uneingeschränkt zur Verfügung. Die Sonderbehörde kann hier keine Ermessensentscheidung treffen, sondern ist zur Herausgabe verpflichtet.



Dr. Jürgen Schmieder
Der Vorwurf der Presse, es erfolge eine Zensur oder gar ein Täterschutz, ist schlichtweg erfunden und ungerechtfertigt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich möchte hier die Frage aufwerfen, aber nicht tiefschürfend beantworten, wer denn hier Täter privilegiert und die Täter in Stellungnahmen jeglicher Art die Opfer verhöhnen läßt. Die Tatsache, daß hierbei beträchtliche Mittel fließen, läßt die Täter und die privaten Giftköche noch einmal profitieren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Die bisher praktizierte Regelung gemäß Einigungsvertrag könnte so interpretiert werden, daß die Aufarbeitung der Stasi-Problematik behindert wird. Der neue Gesetzesvorschlag allerdings, einschließlich des gemeinsamen Änderungsantrags, sichert die verfassungsrechtlich garantierten Rechte der Presse nach Art. 5 des Grundgesetzes, unter Beachtung der schutzwürdigen Interessen der Betroffenen.
Streitpunkt war lange Zeit — meine beiden Vorredner sind dankenswerterweise darauf schon eingegangen, so daß ich mich in dieser Beziehung, auch in Anbetracht der Zeit, relativ kurzfassen kann — die Struktur der Bundesbehörde. Der Gesetzentwurf sieht vor, daß eine selbständige Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern geschaffen wird. Der Bundesbeauftragte hat eine Zentralstelle in Berlin und Außenstellen in den neuen Bundesländern. Die fixierten Rechte wie Auskunft, Einsicht usw. können sowohl in der Zentralstelle als auch in den einzelnen Außenstellen wahrgenommen werden.
Alle anderen Vorschläge, die Struktur der Behörde betreffend, wie etwa die Schaffung einer Anstalt des öffentlichen Rechts, sind unpraktikabel und untauglich. Sie würden eine Aufarbeitung sogar behindern oder verzögern.
Meine Damen und Herren, der vorgelegte Gesetzentwurf von CDU/CSU, FDP und SPD einschließlich des gemeinsamen Änderungsantrags stellt eine Konsenslösung dar. Damit ist der Auftrag des Einigungsvertrags erfüllt, und es liegt ein Gesetz vor, welches nicht den Anspruch erhebt, perfekt zu sein. Aber es ist praktikabel und ermöglicht den Einstieg in die Bewältigung der Gesamtproblematik. Ich bitte Sie um Zustimmung.
Der Bundesrat sollte seinerseits ebenfalls schnellstmöglich zustimmen, um nicht die Folgen auf die Personalstärke der Bundesbehörde tragen zu müssen.
Danke schön.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205701400
Nun hat die Kollegin Ingrid Köppe das Wort.

Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1205701500
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Gesetz zum Umgang mit den Stasi-Akten muß sich daran messen lassen, inwieweit es die Forderungen derjenigen erfüllt, die den Auflösungsprozeß mit sehr viel Mut und teils hohem persönlichen Risiko eingeleitet haben. Endlich soll es nach diesem Gesetz für die Stasi-Opfer ein grundsätzliches Auskunfts- und Einsichtsrecht bezüglich ihrer Akten geben. Endlich haben Politiker begriffen, daß die Stasi-Opfer ein Recht darauf haben, die Namen derjenigen zu erfahren, von denen sie bespitzelt wurden.

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Wieso „endlich"?)

— Es hat lange genug gedauert. — Dieses Gesetz präzisiert nun auch die Möglichkeiten zur Überprüfung von Abgeordneten, Ministern, Kirchenvertretern und Angestellten auf eine frühere Stasi-Mitarbeit.
Das alles sind alte Forderungen der Bürgerbewegung. Wir sind froh, daß sie nun prinzipiell erfüllt werden. Es hat, wie gesagt, lange, sehr lange gedauert; insgesamt zwei Jahre.
Eine Beurteilung des vorliegenden Gesetzentwurfs wäre aber unzureichend, wenn wir es bei einem oberflächlichen Blick auf jene prinzipiellen Gewährleistungen, auf erreichte Fortschritte sowie auf die wenigen ins Auge springenden Regelungen belassen würden. Der gesamte Gesetzentwurf ist komplexer und hat einen Januskopf.
So können den Opfern ihr prinzipielles Recht auf Einsicht in ihre Akten und die Herausgabe von Kopien verwehrt werden, wenn dies einen „unverhältnismäßigen" bürokratischen Aufwand verursachen würde. Außerdem müssen die Betroffenen für Duplikate ihrer Unterlagen Gebühren zahlen, deren Höhe der Bundesinnenminister nach Ermessen festsetzen darf. Daraus ergibt sich unsere Befürchtung, daß besonders lange oder intensiv bespitzelte Stasi-Opfer für ihre Akten am meisten Geld zahlen müssen. Wir sprechen uns gegen die Einschränkung dieser Opferrechte aus und haben dazu entsprechende Änderungsanträge vorgelegt.
Das Gesetz sieht vor, daß auch Behörden Opferakten nutzen können. Diese Opferakten sind jedoch ein Stück geklautes Privatleben, gestohlen durch StasiBespitzelungen. Hätten nun — wie von den Fraktionen so oft versprochen und betont — die Interessen der Opfer bei der Regelung des Umgangs mit diesen Akten tatsächlich Vorrang, so müßte der Gesetzgeber garantieren, daß niemand ohne Einwilligung der Betroffenen — außer ihnen selbst — in diese Akten sehen darf.

(Zuruf von der CDU/CSU: Auch nicht die Presse!)

Statt dessen aber will der Erbe dieser Akten, der Staat Bundesrepublik Deutschland, diese Opferakten durch seine Behörden nutzen, und zwar ohne Zustimmung und regelmäßig ohne Kenntnis der Betroffenen.
Diese grundsätzliche Weichenstellung des Gesetzentwurfs der Fraktionen muß um so mehr befremden, wenn man sich daran erinnert, daß deren Politiker diese Akten noch vor einem Jahr vernichten oder ins Bundesarchiv verschleppen wollten.

(Friedrich Bohl [CDU/CSU]: ,,Verschleppen", „ins Bundesarchiv"?)




Ingrid Köppe
Das ist ihnen wegen der lautstarken Proteste, vor allem aus dem Osten, nicht gelungen. Die Politiker wurden gezwungen, die Rechte der Opfer zumindest verbal zu akzeptieren. Sie wollen diese Rechte jedoch offenbar nur unter der Bedingung einräumen, daß gleichzeitig auch staatliche Behörden das Stasi-Wissen über bespitzelte Bürgerinnen und Bürger für sich nutzen dürfen. Diese zwanghafte Scheinalternative „vernichten oder selbst aneignen" entlarvt die Formel vom Vorrang der Opferrechte letztendlich als phrasenhaftes Lippenbekenntnis.
Als kümmerlichen Ersatz für die eigentlich erforderliche Einwilligung der Betroffenen in die ausnahmsweise behördliche Nutzung ihrer Akten postulierten die Fraktionen zunächst, daß sich daraus niemals Nachteile für die Opfer ergeben dürften. Selbst diese unbefriedigende Schutznorm wurde jedoch in der allerletzten Abstimmung im Ausschuß in einem ganz entscheidenden Bereich wieder beseitigt, nämlich dem der Strafverfolgung. Denn jetzt können grundsätzlich Strafermittlungsverfahren gegen Stasi-Opfer eingeleitet werden, u. a. sogar allein auf Grund der von der Stasi zusammengetragenen Informationen. Davor sollen nur diejenigen Opfer geschützt sein, deren persönliche Angaben die Stasi z. B. unter Folter, durch Schlafentzug, Drogen erpreßt hat.
Im übrigen sollen die Opferdossiers auch zur bloßen Verhütung drohender Straftaten und zur Gefahrenabwehr genutzt werden können. Auch dazu haben wir Ihnen einen Änderungsantrag vorgelegt, der grundsätzlich die Einwilligung der Opfer für fremde Nutzung ihrer Unterlagen fordert.
Der Gesetzentwurf gibt auch den Geheimdiensten weite Zugriffsrechte auf Stasi-Unterlagen. Sie können vertrauliche und staatswohlgefährdende Unterlagen — mit oder ohne Beteiligung der Parlamentarischen Kontrollkommission — aus den Archiven ersatzlos aussondern. Sogar ausländische Dienste dürfen diese Akten auswerten und weiterverwenden.
Schließlich werden die Dienste von der für alle Behörden geltenden Verpflichtung befreit, die schon jetzt in ihrem Besitz befindlichen Stasi-Akten zur Vervollständigung der Stasi-Archive wieder herauszugeben. Hierdurch werden die Forderungen von Bevölkerung und Volkskammer der ehemaligen DDR, aber auch Zusagen der Bundesregierung in ihr glattes Gegenteil verkehrt. Die unter allen Parteien unumstrittene Regelung im Volkskammergesetz über die StasiAktennutzung, wonach ein geheimdienstlicher Zugriff strikt ausgeschlossen sein sollte, wird selbst von denjenigen Kollegen in diesem Hause heute locker verdrängt, die diese Entscheidung damals mit getroffen haben.
Daß einerseits ergänzend zum Einigungsvertrag völkerrechtlich verbindlich vereinbart wurde, auch das Verbot jeglicher geheimdienstlicher Nutzung als einen Grundsatz des Volkskammergesetzes bei einer künftigen gesetzlichen Regelung „umfassend zu berücksichtigen", und daß andererseits nun das genaue Gegenteil festgeschrieben wird, zeigt aufs neue deutlich, wie wertlos Politikerversprechen sind.
Erinnern wir uns: Die Regierung Modrow wollte im Dezember 1989 die Auflösung der Stasi verhindern, indem sie anordnete, ein Verfassungsschutz und ein
Nachrichtendienst sollten gebildet werden und die Stasi-Akten erben. Es sollte geheim bleiben, was geheim war. „Etikettenschwindel!" riefen wir damals und konnten dieses Vorhaben noch verhindern.
Unter der Regierung de Maizière wurde die Offenlegung der Stasi-Vergangenheit behindert, verschleppt, verboten. Gleichzeitig aber bekamen westdeutsche Geheimdienste Stasi-Akten mit Einwilligung des Innenministers Diestel, offenbar auf Vermittlung seines damaligen Beraters Werthebach, der heute als Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz mit Informationen aus eben diesen Akten weiter arbeiten kann. Bis heute hat uns die Bundesregierung nicht mitteilen wollen, wieviel Akten mit Angaben über wieviel Stasi-Opfer so an die Dienste verschoben wurden und was die Dienste mit den Informationen aus diesen Akten gemacht haben.
Heute nun wollen Sie, meine Damen und Herren, legitimieren, was damals heimliche Praxis war. Wenn Sie den Geheimdiensten Stasi-Akten geben, bleiben diese Akten geheim, jedenfalls bis zur Auflösung dieser Dienste. Niemand sonst als diese Geheimdienste wird jene Akten nutzen können. Sie werden ersatzlos aus dem Archivbestand ausgesondert oder verschwinden im Giftschrank der Behörde Gauck.
Zur schonungslosen Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit gehört die Offenlegung jeglicher StasiTätigkeit auch in den Bereichen Spionage, Spionageabwehr, Terrorismus und Extremismus. Die auf diesen Feldern eingesetzten operativen Mittel und Methoden waren weitgehend identisch mit den gegen die inneren Oppositionen angewandten Vorgehensweisen. Deshalb wäre es für die Aufarbeitung und die Forschung verheerend, wenn nun genau die Unterlagen über genau diese Arbeitsweisen im Giftschrank unter des Innenministers direkter Aufsicht weggeschlossen werden sollen. Nur, weil sich die westlichen Dienste für diese Akten interessieren, sollen sie nach diesem Gesetz ein Nutzungs- und AussonderungsPrivileg erhalten.
An diesem Punkt wird zweierlei deutlich:
Erstens. Die Auflösung eines Geheimdienstes, egal, welches Staatssystem er sicherte, gibt Auskünfte nicht nur über diesen einen konkreten Dienst, sondern auch über allgemein übliche geheimdienstliche Arbeitsweisen und greift damit die Existenz anderer Dienste an.
Zweitens. Der vorliegende Gesetzentwurf bewertet die Geheimdienstinteressen der Bundesrepublik Deutschland höher als das Interesse der Opfer nach umfassender und schonungsloser Aufarbeitung.
Bündnis 90/DIE GRÜNEN beantragt die Streichung aller geheimdienstlichen Nutzungsbefugnisse in diesem Gesetzentwurf.
Zu der Medienregelung, die leider erst in den letzten Tagen in den Mittelpunkt des Interesses rückte. Es ist bezeichnend für das Verhalten der Mehrheit in diesem Hause, daß Sie die von uns seit gut einem halben Jahr immer wieder vorgebrachte Kritik an Ihrem Zensur-Vorhaben nicht hören wollten, ignorant abgetan und wahrscheinlich noch nicht einmal wahrgenommen haben.



Ingrid Köppe
Sie sind erst aufgewacht und waren erst dann zum Einlenken bereit, als Ihnen unsere Kritik aus Presse, Funk und Fernsehen entgegenschallte und Sie befürchten mußten, daß die Medien Ihren Gesetzentwurf nicht als grandiosen Erfolg feiern würden.
Ihr neuer Änderungsvorschlag enthält Verbesserungen, entspricht leider aber immer noch dieser skizzierten Grundhaltung. In aller Hast wurde eine unausgereifte Regelung vorgelegt, die immer noch ordnungspolitischen Anliegen den Vorrang vor dem Schutz von Pressefreiheit und Persönlichkeitsrechten gibt. Denn immer noch sollen auch die Medien bei Bußgelddrohung alle Kopien abgeben müssen, sofern die Gauck-Behörde diese nicht amtlich autorisiert zur Verfügung gestellt hat. Die Strafdrohung in Ihrem Änderungsantrag ist in sich unstimmig.
Daher legen wir auch zur aufeinander abgestimmten Sicherung von Pressefreiheit und Persönlichkeitsrechten einen Änderungsvorschlag vor und bitten Sie ernsthaft, diesem nunmehr zu folgen.
Die Gesetzeinbringer haben inzwischen mehrmals angekündigt, daß es in einem Jahr eine Novellierung des Gesetzes geben soll. Das zeigt nochmals, wie unausgereift außer der Medienregelung auch der ganze Entwurf selbst den Verfassern zu sein scheint.

(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Ich denke, es geht Ihnen nicht schnell genug!)

In diesem einjährigen Probelauf werden aber Fakten geschaffen, u. a. die mögliche Ausplünderung der Archive durch die Dienste.
Vor über einem Jahr lehnten es die westdeutschen Unterhändler des Einigungsvertrages ab, das Volkskammergesetz zum Umgang mit den Stasi-Akten als weitergeltendes Recht in den Einigungsvertrag zu übernehmen. Heute werden ihre Motive deutlich. Das Ost-Gesetz berücksichtigte nicht die Staatsinteressen der Bundesrepublik und wollte die Verwaltung der Unterlagen zur Aufgabe der Länder machen. In Ihrem Gesetzentwurf werden die Ländervertreter mit einem Beiratsposten ohne Kompetenzen abgespeist.
Die ursprüngliche Forderung der Bürgerbewegung nach Auflösung der Staatssicherheit, umfassender Offenlegung und schonungsloser Aufarbeitung dieser Vergangenheit wird von Ihnen zwar formal aufgegriffen, meine Damen und Herren, aber in Ihrem Gesetzentwurf so weit verdreht, daß die behördlichen Nutzungsinteressen gegenüber Opferrechten eindeutigen Vorrang genießen.

(Zuruf von der PDS/Linke Liste: Das sagt Gauck anders!)

Um ein Bild zu gebrauchen: ich bin nicht bereit, hinzunehmen, daß künftige Opfer mit Auskünften, eingeschränkten Einsichtsmöglichkeiten und teuer zu bezahlenden Kopien,

(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Das ist doch völlig falsch, was Sie da sagen! In welcher Welt leben Sie denn eigentlich?)

also quasi mit Brosamen am Katzentisch abgespeist werden, während sich z. B. Polizei und Dienste an der gedeckten Tafel sattessen dürfen.
Ich lehne den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen und der SPD ab.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE — Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das wird das Land schadlos überstehen!)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205701600
Als nächste hat Frau Ulla Jelpke das Wort.

Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1205701700
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das heute zur Abstimmung stehende Gesetz hat in letzter Minute mehr öffentliche Aufmerksamkeit erreicht als in den ganzen Monaten davor zusammengenommen. Der Gegenstand des Streits, ein staatlich verordneter Maulkorb für die Medien, wäre bei der Entstehung der Auseinandersetzung um den Umgang mit den Stasi-Unterlagen völlig undenkbar gewesen. Staatliche Zensur und Kontrolle, Verhinderung unangenehmer Informationen, das war geradezu eine Existenzgrundlage des MfS. Auch die Forderung der Stasi-Auflöser in der damaligen DDR ging gegen jegliche Zensur, gegen jegliche Schnüffelei, gegen die umfassende Gängelung der Bürger und Bürgerinnen. Für all das stand zu Recht oder manchmal auch zu Unrecht das MfS der DDR.
Zu Beginn der Debatte über eine gesetzliche Regelung stand ein Gesetz der damaligen DDR. Noch in der Volkskammer wurde das Gesetz zur Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit bzw. des Amtes für nationale Sicherheit verabschiedet. Ziel des Gesetzes war die politische, historische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des ehemaligen Mf S.
Weitere Grundsätze des Gesetzes waren dezentrale Verwahrung der Daten und Unterlagen durch parlamentarisch kontrollierte, unabhängige Landesbeauftragte, umfassende Auskunftserteilung an die Betroffenen, gesetzlich begrenzte Nutzung durch die Behörden und Verbot der Nutzung oder Übermittlung für nachrichtendienstliche Zwecke sowie eine Nutzung zu wissenschaftlichen Zwecken, bei der die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen geachtet werden, und Nutzung für die Rehabilitierung der Betroffenen und Strafverfolgung der Täter.
Heute urteilt ein aktiver Bürgerrechtler, Mitglied des Leipziger Komitees zur Auflösung der Stasi, im „Spiegel" über die Entwicklung damals. Ich zitiere:
Die letzte Volkskammer hat unter Gaucks Federführung ein Gesetz verabschiedet, das die weitere Auflösung der Akte Stasi sichern sollte. Unser Selbstbewußtsein war das von Siegern, und wir wollten Selbstbestimmung. Doch die Bonner Unterhändler zogen uns damals über den Tisch, Stück für Stück. Sicher, sie hörten sich die Vorschläge der Bürgerkomitees an, aber mit dem Einigungsvertrag probte die Bundesregierung den Putsch.
Zu dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf sagt derselbe Konrad Taut:
Mit dem neuen Gesetz soll die Macht des Westens über die Vergangenheit des Ostens sanktio-



Ulla Jelpke
viert werden. Für die Bürger des Ostens ist das ein Tritt in die Weichteile.
Der Bürgerbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Herr Gauck, unter dessen Federführung das Volkskammergesetz verabschiedet worden war, sieht allerhand Grund, mit dem Gesetzentwurf zufrieden zu sein. Er behauptet, die wesentlichen Grundsätze der Demokratiebewegung seien garantiert.
Interessant ist schon, diese widersprüchliche Einschätzung der Grundsätze der Demokratiebewegung nachzuvollziehen.
Dieser Gegensatz verlockt geradezu dazu, sich im Zusammenhang mit der Gesetzesberatung einige Eckdaten der kurzen Geschichte des Gesetzes noch einmal vor Augen zu führen.
Der Einigungsvertrag enthielt einen allgemeinen Verweis auf das Volkskammergesetz, aber erst nach großem öffentlichen Druck, einschließlich eines Hungerstreiks, wurde nachverhandelt.
Im September 1990 erklärten die Regierungen, daß ein zukünftiges gesamtdeutsches Gesetz umfassend die Grundsätze des Volkskammergesetzes übernehmen wolle. Ausdrücklich lehnten aber die Vertreter der Bundesregierung die Übernahmen des Volkskammergesetzes ab.
Noch in der vorläufigen Benutzerordnung des Sonderbeauftragten gibt es keinerlei Nutzungsrechte für die Dienste. Der Sonderbeauftragte kann dafür aber von jeder öffentlichen Stelle, also auch den Sicherheitsbehörden, die Herausgabe von Unterlagen und Kopien fordern.
Vernichtet und anderweitig aus dem Verkehr gezogen wurden schon damals Akten in unbekanntem Ausmaß, und zwar nicht, wie einige von Ihnen immer gern behaupten, durch alte SED-Seilschaften. Bis zum Herbst 1990 wurden Unterlagen teilweise durch westliche Dienste vernichtet. Auf Drängen der Bundesregierung wurden an den Verfassungsschutz Unterlagen des MfS gegeben und teilweise auf Anweisung vernichtet.

(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Haben die Modrows Akte geklaut?)

Der Bundesnachrichtendienst besorgte sich Akten, und auch das Bundeskriminalamt war im Geschäft. Für laufende Ermittlungen besorgte sich vor allein die Staatsschutzabteilung des Bundeskriminalamtes Unterlagen. Angefordert wurden vom Innenminister der Bundesrepublik zuvor schon alle Akten, die im MfS über Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik angelegt worden waren.
Die Innenministerkonferenz der BRD hatte bereits im Juni/Juli 1990 beschlossen, alle illegalen Abhörunterlagen des MfS zu vernichten, darunter auch diejenigen über die U-Boot-Geschäfte mit Südafrika.
All das mußte natürlich berücksichtigt werden, wenn von Vollständigkeit der Unterlagen die Rede ist. All das muß auch berücksichtigt werden, wenn heute von „illegal beschaffen" und manchmal teuer bezahlten Unterlagen bei den Medien die Rede ist, die an die Gauck-Behörde abgeliefert werden sollen. Nicht jede Zeitung oder jedes Bürgerkomitee hat die Macht, sich
das Recht auf Aussonderung in einem Gesetz bestätigen zu lassen, wie es den Geheimdiensten möglich war.
Doch zurück zu der kurzen Geschichte des Gesetzentwurfs. In der folgenden Zeit legten die verschiedenen Dienste Ansprüche auf den Tisch. Im Bundesinnenministerium wurden Arbeitsmaterialien ausgearbeitet, Formulierungshilfen unterbreitet. Gemeinsamer Tenor all dieser Arbeiten war: Der Zugang zu den Akten müßte rechtsstaatlich und wirkungsvoll erreicht werden.
Aus dem ursprünglichen Verbot des Zugriffs und der Nutzung wurde mehr und mehr eine Diskussion über die Regelung des Zugriffs. Bemüht wurden vor allem Formulierungen wie — Zitat — „Wohl des Bundes und eines Landes". Was damit gemeint sein könnte, macht die Vernichtung von U-Boot-Unterlagen betreffend Südafrika möglicherweise deutlicher als lange juristische Ausführungen. Die Dienste wollten Zugriff zur Eigensicherung, d. h. zur Abdeckung ihrer Arbeitsweise und ihrer Quellen. Mit geschützt werden sollten auch gleich die Dienste befreundeter Staaten. Selbstverständlich spielten Begriffe wie Paragraphen, Gefahrenabwehr, Vorfeldermittlung und Prävention eine immer größere Rolle.
Eingang gefunden haben diese Forderungen an vielen Stellen des Gesetzes. Erwähnen will ich hier nur das Problem der Aussonderung bzw. der gesonderten Aufbewahrung von Unterlagen, den Giftschrank der Gauck-Behörde. Dahin können Unterlagen kommen, wenn der Bundesminister des Innern im Einzelfall erklärt, daß das Bekanntwerden der Unterlagen die öffentliche Sicherheit gefährdet oder sonst dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten würde.
Dabei kann man sich durchaus vorstellen, daß darunter Akten über Wirtschaftsbeziehungen fallen. Beispielsweise könnte auch die beschränkte Aussagegenehmigung von Herrn Gauck vor dem Schalck-Ausschuß so begründet werden. In den Giftschrank könnten Unterlagen über Waffendeals und ähnliches kommen. Der Gesetzentwurf bietet jetzt ein breites Regelwerk für den legalen Zugang der Nachrichtendienste zu den Unterlagen, auch zu personenbezogenen Opferakten.

(Dr. Burkhard Hirsch [FDP]: Ausgesprochener Schwachsinn!)

Es ist durchaus nicht übertrieben, davon zu sprechen, daß die westdeutschen Geheimdienste in weiten Bereichen das Erbe der Stasi bereits angetreten haben. Herr Gauck soll für diesen Fall seinen Rücktritt angekündigt haben.
In dieser Situation — ich möchte das ausdrücklich betonen — ist es eine große Leistung, daß das Bündnis 90/GRÜNE in der Frage des Zugriffs der Geheimdienste nicht kompromißbereit gewesen ist. Hier liegt für mich ein ganz entscheidender Unterschied der beiden Gesetzentwürfe.
Zur Geschichte des Gesetzentwurfs gehört auch die Verletzung elementarer Rechte der Demokratie, nämlich die nichtgleichberechtigte Teilnahme der Opposition an den Beratungen und den Informationen über



Ulla Jelpke
den Gesetzentwurf. In diesem Bundestag war die Gruppe PDS/Linke Liste als eine der kleinen Oppositionsgruppen auf besondere Weise von der Diskussion ferngehalten worden. Sie war während der ganzen entscheidenden Zeit der Vorbereitungen des Gesetzentwurfs von dessen Beratung im Unterausschuß des Innenausschusses ausgeschlossen.

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Wir können doch nicht den Bock zum Gärtner machen!)

Um Einheit zu demonstrieren und offensichtlich um Zugeständnisse zu erhalten, stellte die CDU/CSU-Fraktion einen Sitz in diesem Ausschuß dem Bündnis 90/GRÜNE zur Verfügung.

(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Schön, daß Sie das würdigen!)

Die Gruppe PDS/Linke Liste konnte daran erst nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Sommer 1991 teilnehmen.
Meine Damen und Herren, im Beharren auf dem Verbot für den nachrichtendienstlichen Zugriff auf die Unterlagen haben wir den Entwurf des Bündnisses 90/GRÜNE immer unterstützt, auch wenn er in den Beratungen des Unterausschusses des Innenausschusses völlig vernachlässigt worden ist.
An einem Punkt allerdings sind sich die beiden Entwürfe, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, allzu nahe. Diese zweite Seite des Entwurfs des Bündnisses 90/GRÜNE begründet Enthaltung und Gegenstimme meiner Gruppe. Die Nähe der beiden Entwürfe liegt in der Definition von Betroffenen und Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des MfS einerseits und dem Problem der Nutzungsrechte von öffentlichen und nichtöffentlichen Stellen andererseits.
Insbesondere im Hinblick auf die Überprüfung bzw. die Feststellung einer Stasi-Mitarbeit differenzieren beide Entwürfe viel zuwenig. Meines Erachtens gilt noch immer, für den Mehrheitsentwurf sogar verschärft, die Aussage des Gutachters Gößner bei der Expertenanhörung zum Gesetzentwurf im Sommer dieses Jahres — ich zitiere — :
Bislang fehlt eine verbindliche Bewertung der unterschiedlichen Arten von Tätigkeiten und Mitarbeitsformen. Das bedeutet, daß zunächst jegliche MfS-Mitarbeit, auf welcher Ebene sie auch immer stattgefunden hat und welchen konkreten Gehalt sie auch immer gehabt haben mag, undifferenziert der vorweggenommenen Verurteilung anheimfällt.
Diese Art des Umgangs mag in der unmittelbaren Umbruchsituation verständlich gewesen sein, verbunden mit dem Ziel, eine eigene demokratische Gesellschaft entwickeln zu wollen.
Wenn der Schlachtruf „Stasi" aber nur noch gebraucht wird, um ganz andere Ziele zu verfolgen, kann von Aufarbeitung keine Rede mehr sein. Es geht dann nur noch um Abrechnung. Wenn sogenannte Stasi-Enthüllungen dazu verwendet werden, die Charité aufzulösen, oder wenn Uni-Institute gesäubert werden und der öffentliche Dienst durchgekämmt werden soll und wenn pauschal wegen MfS-Mitarbeit die Renten gekürzt werden, dann kann von Einzelfallgerechtigkeit und Verhältnismäßigkeit hier wirklich nicht mehr die Rede sein.
Eine simple Gegenüberstellung verdeutlicht den willkürlichen Kern dieses Vorgehens. Das Bundesinnenministerium verschickt einen Rundbrief mit einem Musterüberprüfungsbogen für den öffentlichen Dienst in die neuen Länder. Die Überprüfungen werden streng und mit allem Nachdruck durchgeführt. Niemand kann sich dem entziehen. Auf der anderen Seite wird vom Bündnis 90/GRÜNE und von der PDS/ Linke Liste die Überprüfung aller Bundestagsabgeordneten gefordert. Es folgt eine wochenlange, mit allen Raffinessen des Verfassungsrechts geführte Debatte. Hier wird dann plötzlich vorgetragen, daß als unabdingbare Voraussetzung zur Überprüfung ein konkreter Verdacht gegeben sein muß.
Meine Damen und Herren, nach dem Mehrheitsentwurf dürfen Unterlagen, die keine personenbezogenen Informationen über Betroffene oder Dritte enthalten, durch öffentliche und nicht-öffentliche Stellen zur Überprüfung verwendet werden, und zwar ohne Einwilligung, bis hin zu Geschäftsführern oder Rechtsanwälten. Mit Einwilligung geht das bis zu Betriebsräten bzw. der Bewerbung für derartige Posten. Diese nahezu uferlose Überprüfung wird ergänzt durch eine Ausweitung des Täter- bzw. Mitarbeiterbegriffs, die die Möglichkeit der politischen Abrechnung unter dem juristischen Mäntelchen noch verschärft. Vorschriften für Mitarbeiter gelten auch für Personen, die gegenüber Mitarbeitern der Stasi hinsichtlich deren Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst rechtlich oder faktisch weisungsbefugt waren. Begünstigte Personen sind solche, die vom Staatssicherheitsdienst wesentlich gefördert worden sind. All das sind Definitionen, die der politischen Willkür bei der Beurteilung und praktischen Konsequenzen daraus Tür und Tor öffnen.
Meine Damen und Herren, die Macht des Westens über den Osten wird besonders deutlich bei der Organisation der Behörde. Ausgeschaltet wurden die neuen Länder, völlig abgelehnt wurde eine dezentrale Lagerung und Verwaltung. Die gemeinsame Kommission der neuen Länder und verschiedene Appelle von Abgeordneten der Landtage wurden schlichtweg übergangen. Wenn ich bedenke, wie viele Sonderregelungen im Verlaufe der noch sehr kurzen Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit in Gesetzes- und Verordnungsformen geschaffen worden sind, dann erschrecken die ablehnenden Argumente gegen eine dezentrale Verwaltung in den neuen Ländern durch ihre bürokratische Kaltschnäuzigkeit.
Der Sachverständige Klinghardt, Vertreter der gemeinsamen Kommission der neuen Länder bei der Expertenanhörung zu diesem Gesetzentwurf, brachte es auf den Punkt. Ich zitiere:
Die Einigungsvertragsparteien haben trotz heftigen Widerspruchs in der Volkskammer deren Grundsatz nicht übernommen. Sie haben statt dessen erklärt, sie wollten die Grundsätze des Gesetzes umfassend berücksichtigen. Es gab damals eine Zusage an die Bürgerinnen der neuen Länder. Es ist noch immer keine Antwort darauf gegeben worden, wieso eigentlich diese Zusage nicht eingehalten worden ist.



Ulla Jelpke
„Umfassende Berücksichtigung", hieße eben auch: dezentrale Verwaltung der Unterlagen und Anbindung der Verantwortlichen an die Länderparlamente. Zu Zeiten des Einigungsvertrages wurden Zusagen gemacht, die hinterher durch argumentative Winkelzüge und bürokratische Vorwände nicht eingehalten worden sind. So dürfen die neuen Länder in einem ziemlich einflußlosen Beirat die Mehrheit haben.
Es ist kein Zufall, daß auch in meinem Beitrag die Betroffenen ganz am Ende stehen. Das ist exakt auch ihre Position im Gesetzgebungsverfahren und im Gesetzentwurf selbst, seit die Bundesregierung Herr des Verfahrens ist. Öffentlich wird als Hauptergebnis des Gesetzes abgefeiert, daß Betroffenen nun endlich umfassender Einblick in ihre Unterlagen gewährt wird, daß sie sich rehabilitieren können und daß sie gegebenenfalls auch Strafverfahren einleiten können. Die Praxis wird anders aussehen. Der Zugang ist eingeschränkt, behindert durch bürokratische Verfahren, durch Aussonderung, durch Verweigerung der Einsicht in manche Hintergrundunterlagen. Der Zugang ist zudem gepflastert mit Auflagen und kleinlichen Vorschriften.

(Zuruf von der FDP: Welche denn beispielsweise?)

Die individuellen Akten sind hauptsächlich Teile der großen Aufarbeitungsmaschine der Gauck-Behörde. In welchem Ausmaß und mit welchen Zielen mit ihrer Geschichte umgegangen wird, haben die Menschen im Osten längst nicht mehr in der Hand; denn den Alltag, in dem das Versprechen nach Einsicht eingelöst werden soll, prägen bürokratische Floskeln. Hier verbergen sich Möglichkeiten des alltäglichen kleinlichen und bürokratischen Mißbrauchs, gegen den Gegenwehr kaum noch möglich ist. Die Betroffenen sind mit diesem Gesetz in die Rolle von Bittstellern gedrängt worden, wenn sie um Auskunft ersuchen wollen.

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das glauben Sie doch selbst nicht!)

Der Gesetzentwurf bedeutet die Enteignung der Menschen von ihrer Geschichte in der ehemaligen DDR,

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist völlig falsch! Die Enteignungen sind vorher gelaufen!)

und er festigt den bisherigen, von Sieger- und teilweise Rachementalität geprägten Umgang mit der DDR-Vergangenheit. Wir stimmen deswegen dem Koalitionsentwurf nicht zu.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zuruf von der FDP: Das trifft uns aber hart!)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205701800
Nun hat der Kollege Johannes Gerster das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Johannes Gerster (CDU):
Rede ID: ID1205701900
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Staatssicherheitsdienst in der früheren DDR war eine mit preußischer Gründlichkeit organisierte und operierende Verbrecherbande, die nur ein Ziel verfolgte, den Menschen in der DDR so das Kreuz zu brechen,
daß diese vier Jahrzehnte nicht wagten, ihre Peiniger zum Teufel zu jagen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ein Glück, daß durch eine friedliche Revolution die Menschen diese Fesseln abwerfen konnten, und natürlich müssen wir uns nun von weiteren Fesseln befreien. Sie, Frau Jelpke, könnten mehr als durch Reden glaubwürdig einen Beitrag leisten, wenn Sie den früheren Befehlshaber der Stasi in Dresden, Herrn Modrow, auffordern würden, sein Mandat im Bundestag niederzulegen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Meine Damen, meine Herren, wir leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Aufarbeitung der Altlasten aus dieser Zeit, und gegen die falschen Behauptungen meiner beiden Vorrednerinnen stellen wir die Rechte der Stasi-Opfer in den Mittelpunkt, die ein Interesse daran haben, zu erfahren, wie ihr Lebensweg durch die Untaten des Staatssicherheitsdienstes verändert und beeinflußt wurde.
Wir wissen: Bei der Aufarbeitung der SED- und Stasi-Vergangenheit stößt der Rechtsstaat mehrfach an seine Grenzen, die Grenzen des rechtlich Möglichen und Zulässigen. Die Menschen wollen diesen Rechtsstaat, gleichzeitig aber auch, daß dieser ordentlich und konsequent mit der Vergangenheit aufräumt. Verbrechen und Untaten der Stasi sprengen aber evident den innerhalb eines Rechtsstaates vorstellbaren Rahmen, und dennoch muß gelten: Wer den Rechtsstaat will, der darf bei der Aufarbeitung der StasiVergangenheit die Grenzen des Rechtsstaates nicht überschreiten. Mit anderen Worten: Wie die friedliche Revolution einen Preis kostete, nämlich den Preis, daß viele Untäter und auch Verbrecher des alten Systems zunächst einmal untertauchen konnten — und bedauerlicherweise z. B. auch in der freien Wirtschaft sehr lohnende Beschäftigungen fanden — , so kostet natürlich auch der Rechtsstaat seinen Preis; denn wir räumen mit dem Rechtsstaat den Tätern von gestern sämtliche Rechte des Rechtsstaates bei der Verfolgung ihrer Taten ein.
Friedliche Revolution wie auch Rechtsstaat kosten eben ihren Preis. Dieser ist aber in jedem Falle billiger und bekömmlicher als der Preis, den wir zahlen müßten, wenn wir keine friedliche Revolution gehabt hätten oder wenn wir rechtsstaatliche Prinzipien über Bord werfen würden.
Meine Damen, meine Herren, lassen Sie mich hier ein Wort zu Frau Köppe sagen. Frau Köppe, mir tat es leid, mir das heute anhören zu müssen, was Sie gesagt haben. Wir sind nicht im Besitz der absoluten Wahrheit, und wir haben sicherlich auch bei diesem sehr schwierigen Gesetz Fehler gemacht; aber hier zu unterstellen, der Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland wolle sich der Akten bemächtigen, und zwar zu Lasten der Opfer, ist schlicht eine Unwahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Genauso widersprechen Sie sich, wenn Sie uns einerseits vorwerfen, es wäre endlich Zeit geworden, daß



Johannes Gerster (Mainz)

wir das Gesetz machen, und uns andererseits Hast vorwerfen. Das paßt doch alles nicht zusammen. Sie waren eingeladen — und bleiben eingeladen —, an der Gesetzesberatung mitzuwirken — in Respekt vor jenen, die sich heute in Ihrem Bündnis organisiert haben und damals in anderen Parteien an der Revolution mitgewirkt haben.
Aber überlegen Sie bitte einmal, ob nicht auch Sie glaubwürdiger würden, wenn Sie es seinlassen würden, in Aktionsbündnissen mit der PDS, mit Frau Jelpke, Frau Braband, Frau Schenk zu Aktionen gegen Ausländerfeindlichkeit aufzurufen. Ich rate Ihnen, achtzugeben, in welche Kumpanei Sie sich begeben. Wenn Sie hier mit moralischen Ansprüchen auftreten, sollten Sie sich sehr überlegen, mit wem Sie umgehen, denn: Sage mir, mit wem du gehst, und ich sage dir, wer du bist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205702000
Herr Kollege Gerster, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Köppe?

Dr. Johannes Gerster (CDU):
Rede ID: ID1205702100
Ja.

Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1205702200
Sind Sie erstens bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich mich bis zum Schluß an den Gesetzesberatungen beteiligt habe, so auch heute noch, indem wir einen Änderungsantrag zu Ihrem Entwurf eingebracht haben, und sind Sie zweitens bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es mir egal ist, mit wem ich gegen Ausländerfeindlichkeit auftrete,

(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Aha!)

und daß ich hoffe, in Zukunft auch mit Ihnen gemeinsam gegen Ausländerfeindlichkeit auftreten zu können?

Dr. Johannes Gerster (CDU):
Rede ID: ID1205702300
Das erste stimmt. Ich glaube Ihnen Ihren zweiten Punkt fast, daß es Ihnen nämlich egal ist, mit wem Sie sich herumtreiben.

(Oh!-Rufe von der SPD)

— Politisch.

(Werner Schulz [Berlin] [Bündnis 90/ GRÜNE]: Stumpf!)

Meine Damen, meine Herren, vor dem Hintergrund dieser sehr schwierigen Materie mußten wir natürlich von der Grundlage ausgehen, daß alle Stasi-Unterlagen durch Verstöße gegen elementare rechtsstaatliche Grundsätze entstanden sind. Es handelt sich eben um Material, das in einem Rechtsstaat gar nicht existieren dürfte; das ist hier bereits wiederholt gesagt worden.
Allerdings gilt auch hier, daß die Normen des Grundgesetzes seit dem Tag der Wiedervereinigung auch für diese Akten verbindlich sind. Es ist richtig — ich glaube, es ist von den Kollegen Schwanitz und Büttner gesagt worden — : Es war sehr wohl — Frau Köppe, dahinter steht nicht Bösartigkeit — eine Überlegung wert, ob man dieses rechtswidrige Material zerstört, ob man es vernichtet.
Wir konnten und können es aus folgenden Gründen nicht vernichten: wegen der Interessen gerade der Stasi-Opfer an der Aufklärung der Einflußnahme der Staatssicherheit auf ihren Lebensweg, wegen der Notwendigkeit der Rehabilitierung und der Notwendigkeit von Wiedergutmachungsleistungen, die kommen werden, wegen der Bestrafung Schuldiger und natürlich wegen der historischen, politischen und juristischen Aufarbeitung.
Wenn es sich aber um rechtswidrige Akten handelt, muß — das haben die Menschen, die uns in den letzten Tagen kritisiert haben, offenbar noch nicht verstanden — um so mehr der Schutz von Persönlichkeitsrechten im Vordergrund stehen. Er muß im Vordergrund all dessen stehen, was hier zu regeln ist.
Hinzu kommt, daß in der Phase der Revolution und danach Teile der Stasi-Dossiers durch weitere rechtswidrige Handlungen, durch Diebstahl, Raub, möglicherweise auch Hehlerei und andere Straftaten, dem Staat entzogen und verschoben wurden. Dabei spricht vieles dafür, daß die Diebe und Räuber nicht im Kreise der Stasi-Opfer, sondern in der Regel im Kreise der Stasi-Täter gesucht werden müssen; denn nur diese kannten das System der Aktenverwahrung und wußten, was sie suchen mußten und was sie wo stehlen wollten.
Es wäre lebensfremd, anzunehmen, daß diese Personen von der Versuchung frei gewesen wären, die Beweise ihrer eigenen Untaten zu beseitigen und mit den Resten Geschäfte zu machen. Dabei sieht die Wirklichkeit leider so aus, daß es immer wieder Leute gibt, die für solche Unterlagen viel Geld zahlen, entweder um Zeitungsauflagen in die Höhe zu treiben oder um sich in anderer Form mit vermeintlichen oder tatsächlichen Sensationen präsentieren zu können. Dann wird der Wahrheitsbeweis oft sehr spät geführt. Die Wahrheit wird sehr spät an das Tageslicht kommen. Ein nicht wiedergutzumachender Schaden könnte drohen.
Deswegen war es zu Beginn der Beratungen über dieses Gesetz Meinung aller — auch des Bündnisses 90 — , daß die Stasi-Unterlagen wieder in der Gauck-Behörde zusammengefaßt werden müssen. Deswegen gibt es eine Rückgabepflicht für die Akten, die auf Grund rechtswidriger Taten aus diesem Archiv entzogen worden sind.
Es ist schon eine abenteuerliche Vorstellung, daß diese Regelung, die ja im Interesse der Opfer getroffen worden ist, öffentlich so polemisch kritisiert wird,

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

wobei auch die Kritik unberechtigt ist, wir hätten das in einer Nacht-und-Nebel-Aktion gemacht. Wir — die Kollegen Schwanitz, Büttner, Schmieder und andere — haben am 25. April 1991 vor der Bundespressekonferenz auf diesen Sachverhalt hingewiesen und haben gesagt: Sogar die Kirchen und Medien werden verpflichtet, diese Unterlagen zurückzugeben, wenn sie sich nicht strafbar machen wollen. Wir haben damals sogar auf das Verfassungsrisiko hingewiesen. Wir haben am 24. Mai in einer zweiten Pressekonfe-



Johannes Gerster (Mainz)

renz wieder darauf hingewiesen und haben wörtlich in einem Papier dargelegt:
Alle Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes werden beim Bundesbeauftragten zusammengeführt, um eine einheitliche Handhabung beim Umgang mit ihnen zu gewährleisten. Dazu trifft alle öffentlichen und nichtöffentlichen Stellen, auch Presseunternehmen, eine Anzeige- und Herausgabepflicht, wenn sich bei ihnen Unterlagen des Stasi befinden.
So der Originaltext von Mai diesen Jahres.
Es kann also überhaupt keine Rede davon sein, daß wir irgendjemanden überfahren wollten; gerade der Presse waren diese Regelungen bekannt.
Deswegen sind die insbesondere vom „Spiegel" in den letzten Tagen angefachten Kampagnen, auch schon wegen des damit verbundenen Vokabulars, eine Zumutung und unangemessen. Wenn von skandalösem Angriff auf die Pressefreiheit, von Maulkörben, von Zensur oder davon gesprochen wird, daß die Absicht bestehe, mit den gefundenen Regelungen Täter zu schützen, dann ist festzustellen: Diese maßlosen Vorwürfe gehen an den Tatsachen vorbei; sie gehen unter die Gürtellinie.
Meine Damen, meine Herren, hier wird auch verkannt, was Art. 5 des Grundgesetzes — es geht dort um die Pressefreiheit — eigentlich schützt. In Art. 5 wird für jeden ausdrücklich das Recht garantiert, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten — aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten! Es kann aber doch niemand behaupten, daß es sich bei der Giftküche mit den Stasi-Unterlagen um eine solche allgemein zugängliche Quelle handelt; das Gegenteil muß doch der Fall sein, und dies gebietet bereits der Schutz der Opfer.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Im Einigungsvertrag wurden damals unter dem Zeitdruck keine ins einzelne gehenden Regelungen getroffen. Nach dem Einigungsvertrag gilt, daß die Unterlagen grundsätzlich gesperrt sind. Also ist es auch die Wahrheit, daß erst durch das Stasi-Unterlagen-Gesetz ein beträchtliches Stück Offenheit geschaffen wird. Das heißt aber nicht, daß die Unterlagen öffentlich sind. Es sind Unterlagen, die dem Staat gehören und die sich zunächst in staatlicher Hand befinden müssen, vor allem weil es eben besonders brisante Unterlagen sind.
Da diese Unterlagen — ich wiederhole dies — in rechtswidriger Weise zusammengestellt worden sind, ist ein besonders sensibler Umgang mit ihnen notwendig. Hier den Medien einen ungehinderten Zugang zu eröffnen, würde sämtliche Grundsätze unseres Rechtssystems durchbrechen; denn, meine Damen, meine Herren, es ist doch anerkanntermaßen und völlig unstreitig so, daß die Medien nicht zu allen öffentlichen Akten Zugang haben. Die Medien haben z. B. keinen Zugang zu den Personalakten des Bundes, obwohl diese rechtmäßig entstanden sind. Wenn man aber zu rechtmäßig entstandenen Akten keinen unmittelbaren Zugang haben kann, kann zu rechtswidrig entstandenen Akten ein solcher Zugang natürlich erst recht nicht eingeräumt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Das heißt: Es ist eine Fehleinschätzung zu glauben, daß es irgendwo einen Anspruch für die Medien gäbe, in staatliche Unterlagen Einsicht nehmen und sie ohne Einschränkung veröffentlichen zu können.
Ich finde es besonders bitter, daß angesichts dieser Tatsache, die natürlich auch den Vertretern der Medien bekannt ist, der Vorwurf der Zensur erhoben wird, der ja — ich sage das bewußt — in sehr böswilliger Weise davon ablenkt, was tatsächlich geregelt wird.

(Zuruf von der CDU/CSU: Genau so ist es!)

„Zensur" bedeutet ja, daß Berichte vorgelegt werden, zensiert werden und dann erst veröffentlicht werden können. Davon kann aber überhaupt keine Rede sein. Geregelt wird lediglich der geordnete Zugang zu diesen Akten und eine rechtsstaatlich geordnete Verwendung dieser Akten, keinesfalls ein Eingriff in die einzelnen Verlautbarungen der Pressevertreter.
Besonders verletzend war auch die in den letzten Tagen immer wieder zu lesende Behauptung, durch die Regelungen des Stasi-Unterlagen-Gesetzes sollten Täter geschützt werden. Das ist absurd. Jeder, der das Gesetz liest, muß sehen, daß im Mittelpunkt der Regelungen der Schutz der Stasi-Opfer steht. Jedes Stasi-Opfer bekommt Anspruch auf Auskunft über alles, was der Stasi mit ihm angestellt hat, auch über die Namen der Stasi-Mitarbeiter und der Denunzianten. Diese Informationen, einschließlich der Namen der Stasi-Mitarbeiter und der Denunzianten, kann das Opfer selbst veröffentlichen oder an die Medien zur Veröffentlichung weitergeben. Ich bin sicher, daß gerade über diese Möglichkeiten der Opfer ein Stück Aufarbeitung der Geschichte der DDR stattfinden wird. Ich sage ganz offen: Hier vertraue ich den Opfern mehr als jedem anderen, wenn es darum geht, wahrheitsgemäß zu berichten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Der Vorwurf, der Gesetzentwurf wolle Täter schützen, lenkt im übrigen von den wahren Schützern ab. Wenn jemand in Deutschland die Honeckers, Wolfs, SchalckGolodkowskis und deren Handlanger stützt, begünstigt und weich bettet, dann sind es doch die — es sind Gott sei Dank nicht alle; es ist eine Minderheit — Medienorgane, die diesen Leuten Selbstdarstellungsforen in Bild und Text bieten und dafür noch Millionen von Mark zahlen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Würden deutsche Presseorgane auf die Zahlung von Starhonoraren an die Täter von gestern und übrigens auch auf die groß angelegte Verbreitung von deren Lügengeschichten verzichten und dafür den Opfern von gestern den gleichen Raum und die gleiche Zeit in den Magazinen einräumen, wäre mehr für die wahrhaftige Aufarbeitung der DDR-Vergangen-



Johannes Gerster (Mainz)

heit geleistet und mehr für die Gerechtigkeit getan, als es das beste Gesetz kurzfristig leisten kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Durch die nun vorgesehenen Regelungen werden die Zugangs- und Verbreitungsmöglichkeiten zu und aus dem Stasi-Archiv erweitert und nicht eingeengt. Auch wenn es einige Vertreter der Medien nicht wahrhaben wollen: Nach Inkrafttreten des Stasi-Unterlagen-Gesetzes werden sie einen weiteren Zugang zu den Stasi-Unterlagen haben als nach der derzeitigen Rechtslage. Gerade der fast unbegrenzte Zugang der Opfer zu ihren Unterlagen wird in der Regel am schnellsten und am wirkungsvollsten zur Enttarnung von Tätern von gestern führen. Ich bin sicher, dies wird sich sehr schnell zeigen, wenn das Gesetz erst einmal in Kraft ist.
Meine Damen, meine Herren, mit diesem Gesetz betreten wir Neuland, ein sehr schwieriges Neuland; denn es gibt historisch keinen einzigen Parallelfall, der uns Hilfe hätte geben können. Erst die Erfahrung bei der Anwendung dieses Gesetzes, erst die Praxis im Umgang mit der Stasi-Hinterlassenschaft können letztlich Aufschluß darüber geben, was möglicherweise in Zukunft geändert und verbessert werden muß.
Diesen Sachverhalt haben wir nie bestritten, sondern immer wieder hervorgehoben. Auch weitere Beratungen und ein weiteres Zuwarten würden an dieser Tatsache, an dieser Schwierigkeit allerdings nichts ändern; denn auch dann hätten wir ein Gesetz ohne Einzelkenntnisse über den Inhalt der Stasi-Akten machen und schon deshalb wiederum die gleichen Risiken eingehen müssen.
Auch aus diesem Grunde, aus der Tatsache, daß wir nicht letztverbindlich für alle Zeiten diese Probleme regeln müssen, mußte dem Anspruch der Opfer, jetzt endlich ein Gesetz zu bekommen, Vorrang vor anderen Überlegungen eingeräumt werden.
Die Opfer von gestern sollen einerseits endlich erfahren können — so sie es wollen —, was mit ihnen angestellt wurde, und andererseits sollen sie sicher sein, daß sie, die Opfer im Unrechtsstaat waren, im Rechtsstaat nun nicht ein zweites Mal zum Opfer werden. Diesem Hauptziel dient das Gesetz, und um dieses wichtigen Zieles wegen wird die CDU/CSU-Bundestagsfraktion diesem Gesetz zustimmen.
Meine Damen, meine Herren, lassen Sie mich noch ein Wort zu den Beratungen sagen. Es ist auch dies von meinen Vorrednern angesprochen worden: CDU/ CSU, FDP und SPD haben sich in langen, ausführlichen Beratungen — kein Mensch hat das gezählt; aber ich schätze, 120, 130 Stunden waren es bestimmt — bemüht, angesichts der Schwierigkeit, die letzten Endes in der notwendigen Vereinbarkeit von Art. 1 des Grundgesetzes — Würde des Menschen — und Art. 5 des Grundgesetzes — Pressefreiheit — liegt, einen handhabbaren, vernünftigen Kompromiß zu finden.
Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen, insbesondere nicht nur denen von der FDP, sondern auch denen von der SPD, danken, daß sie mit der Union dieses Gesetz tragen. Ich verstehe übrigens nicht die
Aufregung, daß einmal über die Koalitionsgrenzen hinaus Gemeinsamkeit geschaffen worden ist.

(Dieter Wiefelspütz [SPD]: Wer regt sich auf?)

— In Teilen der Presse wird es so dargestellt, als gebe es ein großes Bündnis, das zum Teil praktisch gegen Presse und gegen andere gerichtet sei.

(Franz Müntefering [SPD]: Das gibt es mit Ihnen nicht!)

— Das gibt es in den Medien schon, Kollege Müntefering.

(Franz Müntefering [SPD]: Das Bündnis mit Ihnen gibt es nicht!)

Ich bin der Meinung, daß es eine gute Sache ist und daß es hoffen läßt, daß wir in dieser schwierigen Frage der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit hier zu großem Konsens finden. Ich fände es gut, wenn das stilbildend auch für weitere wichtige Aufgaben wäre.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

In diesem Zusammenhang appellieren wir an alle, beim Umgang mit den Stasi-Akten gesetzestreu und verantwortungsvoll zu handeln. Nur wenn wir uns bei der Behandlung der Stasi-Hinterlassenschaft ebenso verantwortungsvoll erweisen, wie es diejenigen waren, die unter ungleich größeren Risiken durch eine friedliche Revolution den Stasi-Unterdrückern das Handwerk legten, nur wenn wir die gleiche Verantwortung aufbringen, werden wir unserer Pflicht zur Aufarbeitung und Überwindung der Stasi-Vergangenheit gerecht werden. Nur so können wir Gerechtigkeit und damit inneren Frieden im vereinigten Deutschland auf Dauer sichern.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205702400
Nun hat der Kollege Dieter Wiefelspütz das Wort.

Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):
Rede ID: ID1205702500
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zum Eingang meines Beitrages einige wenige Worte zu den Ausführungen von Frau Köppe und Frau Jelpke sagen. Nach meinem Eindruck sind diese Beiträge eigentlich als Versuch zur Desinformation der Öffentlichkeit einzuschätzen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Im Grunde sind sie geprägt von einer sektiererischen Wahrnehmung der Wirklichkeit oder, genauer gesagt, von der Verweigerung geprägt, Wirklichkeit — auch kritisch — wahrzunehmen, einen Gesetzestext zu lesen, ihn zu verstehen, ihn nicht absichtlich mißzuverstehen. Ich denke, das könnten wir eigentlich von jedem Kollegen und jeder Kollegin in diesem Hause erwarten.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)




Dieter Wiefelspütz
Ich will noch einmal hervorheben — die Wahrheit muß man ständig wiederholen —, daß im Mittelpunkt dieses Gesetzes die schutzwürdigen Interessen der Opfer der Stasi-Krake stehen; nichts anderes als das ist das zentrale Anliegen dieses Gesetzes.
Die Vollständigkeit der Akten ist außerordentlich wichtig. Deswegen verlangen wir, daß im Interesse der Opfer die Originale und Duplikate zurückgeführt werden müssen;

(Jutta Braband [PDS/Linke Liste]: Die Opfer brauchen nicht die Weitergabe an den Verfassungsschutz!)

denn nur wenn die Akten vollständig sind — auch Herr Gauck ist dieser Auffassung — , können die Opfer ihre Interessen wahrnehmen, indem sie Einsicht in ihre Akten nehmen können.
Auch für die historische, politische und juristische Aufarbeitung sind vollständige Akten eine unerläßliche Voraussetzung.

(Abg. Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Herr Briefs, hören Sie doch einmal zu, was ich sage; dann unterhalten wir uns anschließend. Ich möchte jetzt im Zusammenhang vortragen.
Das Thema der Nachrichtendienste ist völlig überschätzt worden. Natürlich ist es in Ordnung, wenn kritisch nachgefragt wird: Was passiert mit den Unterlagen, die bei den Nachrichtendiensten der Bundesrepublik Deutschland oder beim Bundeskriminalamt gelandet sind? Bitte lesen Sie das im Gesetzentwurf nach: Alle natürlichen Personen, alle öffentlichen Stellen, auch die bundesdeutschen Nachrichtendienste, müssen sämtliche Unterlagen — bis auf wenige Ausnahmen — zurückgeben, damit die Akten vollständig sind. Auch in diesem Punkt bitte ich, die Wahrheit dieses Gesetzes zur Kenntnis zu nehmen und nicht die Öffentlichkeit falsch zu informieren.

(Dr. Willfried Penner [SPD]: Das gleiche gilt auch für den Nutzen!)

Ich will mich in meinem Beitrag auf die presserechtlichen Bestimmungen dieses Gesetzes beschränken. Es hat in den letzten Wochen reichlich Aufregung gegeben.

(Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Zu Recht!)

Die Presse äußerte sich spät, aber gewaltig. Ich kann mich nicht entsinnen, daß in den letzten Jahren zentrale Bestimmungen eines wichtigen Gesetzentwurfs so stark auf Kritik und Ablehnung gestoßen sind wie die presserechtlichen Bestimmungen des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. Von einer großen Koalition des Vertuschens und von Zensur der Presse war die Rede. Es gab Schlagzeilen wie diese: „Ein Maulkorb für die Presse", „Das Stasi-Unterlagen-Gesetz — ein zynischer Witz". Was war geschehen?

(Vorsitz: Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg)

Über Monate hat der Bundestag in Gestalt seiner Fachausschüsse das Stasi-Unterlagen-Gesetz beraten. Uns allen war und ist klar: Für dieses Gesetz gibt es kein Beispiel in der deutschen Rechtsgeschichte,
weil es für den zumeist stillen Terror der Stasi, für diese erschreckend perfekte, aber letztlich zum Glück doch nicht erfolgreiche Unterwanderung des eigenen Volkes kein reales Beispiel gibt.
Uns allen war und ist klar: Die von uns allen angestrebte innere Einheit unseres Landes hat viel mit dem Gesetz zu tun, das wir heute verabschieden wollen. Es wird von großer Bedeutung sein, ob uns ein überzeugendes Gesetz in einem äußerst schwierigen Problemfeld gelungen ist. Wer von uns kann sich dabei ganz sicher sein, daß uns dieser große Wurf gelungen ist?
Dieses Gesetz ist auch ein Wagnis. Es beinhaltet Risiken, die mit letzter Sicherheit nicht abschätzbar sind. Vor allem wird es darauf ankommen, daß wir der erschreckenden Wirklichkeit der Stasi-Akten gewachsen sind.
Entscheidender Mittelpunkt des Gesetzes sind die Interessen der Opfer des Stasi-Terros; dies ist unsere gemeinsame Grundüberzeugung. Es gehört ebenso zu den elementaren Zwecken des Gesetzes, „die historische, politische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes zu gewährleisten und zu fördern". So steht es ausdrücklich im Gesetz. Es war uns von Anfang an klar, daß das nicht ohne die Presse erfolgreich geleistet werden kann. Besser ist es hier, positiv zu formulieren: Die Aufarbeitung des Stasi-Syndroms kann nur mit einer engagierten Presse erfolgreich geleistet werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Auch dies ist stets eine fundamentale Grundübereinstimmung aller drei Fraktionen gewesen.
Leider, liebe Kolleginnen und Kollegen, garantieren edle Absichten des Gesetzgebers noch kein gutes und überzeugendes Gesetz. Im Mittelpunkt unserer monatelangen Beratungen standen vielfältige Problemkreise, allerdings nicht die presserechtlichen Vorschriften. Auch die Presse selber war monatelang nicht daran interessiert; Herr Gerster hat zu Recht darauf hingewiesen.
Vor zwei, drei Wochen erwachte das Interesse. Ich räume ein, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir, d. h. die Presse und der Bundestag, hätten genug Gründe gehabt, vorher ausgiebig miteinander zu reden. Das ist erst spät, dafür aber um so vehementer am vergangenen Montag geschehen. Weil gegenseitige Schuldzuweisungen nur einen beschränkten Unterhaltungswert haben, haben sich die Vertreter der Fraktionen am Dienstag noch einmal zusammengesetzt, um die presserechtlichen Vorschriften des Stasi-UnterlagenGesetzes zu würdigen und um zu prüfen, ob man nicht Veränderungen, Verbesserungen herbeiführen sollte.
Wir haben für die zweite Lesung des Gesetzentwurfs einige wichtige Änderungen vereinbart. Diese Änderungen haben den gemeinsamen Sinn, den Zugang der Presse zu den Akten der Gauck-Behörde zu erleichtern — ich betone: zu erleichtern. Dies war stets die Absicht der Fraktionen, die dieses Gesetz eingebracht haben. Aber offenbar ist uns im ersten Anlauf die schwierige Abwägung zwischen den Interessen



Dieter Wiefelspütz
der Opfer der Stasi einerseits und den legitimen Interessen der Presse andererseits nicht ganz gelungen.
Ich will es auf den Punkt bringen: Was von CDU/ CSU, SPD und FDP als Opferschutz gemeint war, ist von der Presse als fürsorgliche Bevormundung, um es höflich auszudrücken, verstanden worden.
Ich denke, wir, die Fraktionen, haben uns bewegt. Die zentrale Strafvorschrift des § 36 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes ist völlig umgebaut worden. Strafbar ist nur noch das vom Opfer nicht genehmigte wörtliche Zitieren aus Opferakten. Wenn man bedenkt, daß die Opferakten vielfach auf extrem rechtswidrige Weise zustande gekommen sind, ist die Frage mancher Kollegen berechtigt, ob wir vielleicht mit dieser neuen Regelung nicht zu weit gegangen sind.

(Dr. Willfried Penner [SPD]: Datenschutzbeauftragter!)

Ich mache darauf aufmerksam, daß es Opfer geben wird, die sofort nach Inkrafttreten des Gesetzes die Beseitigung ihrer Akte einfordern werden; das wird es geben, und keineswegs nur in Einzelfällen. Ob ein solcher Anspruch nicht erst im Jahre 1997, wie es der Bundestag heute regeln wird, sondern schon jetzt begründet ist, wird letzlich das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden haben. Ich bin nahezu sicher, daß das Gericht angerufen werden wird.
Natürlich ist die Berichterstattungsmöglichkeit der Presse nicht unbeschränkt — das ist inzwischen klargestellt worden — , auch nicht nach den Änderungen, die wir am Gesetzentwurf durch unsere Änderungsanträge vornehmen werden; denn selbstverständlich gilt das allgemeine Presserecht. Es wird allerdings — wie auch in anderen Fällen — so sein, daß die Presse selber dafür verantwortlich ist, daß sie die Abwägung zwischen den Interessen der Berichterstattung, der historischen Aufarbeitung und dem Intimbereich der Personen, über die sie berichtet, richtig trifft. Wenn das nicht geschieht, wird man sich vor Gericht in Gestalt von Unterlassungsklagen, Schadenersatzansprüchen und ähnlichen Instrumentarien wiederfinden, aber es wird keine staatliche Bevormundung in diesem Bereich geben. Ich glaube, das ist ein wichtiger Beitrag.
Es gab einen weiteren wichtigen Punkt, den wir geändert haben. In § 26 Abs. 2 des Gesetzentwurfs, der auch für die Presse gilt, ist — ich sage es verkürzt — geregelt, daß die Gauck-Behörde im Benehmen mit dem Beirat eine Genehmigung aussprechen muß, wenn die Presse Zugang zu personenbezogenen Akten von Persönlichkeiten der Zeitgeschichte, von Funktionsträgern der ehemaligen DDR und ähnlichen Personen haben will. Diese Vorschrift erschien uns nach nochmaliger Würdigung als unpraktisch. Sie erweckte auch den Eindruck, als habe, was nicht gemeint war, die Gauck-Behörde ein Ermessen bei ihrer Entscheidung über den Zugang. Weil wir das so kritisch gesehen haben, haben wir uns einvernehmlich in der Überzeugung getroffen, daß § 26 Abs. 2 ersatzlos gestrichen werden sollte. Ich bin sehr dankbar dafür, daß dies möglich gewesen ist. Auch dies ist eine wichtige Hilfe.
Wir haben uns auch darauf verständigt, daß Abschriften von Akten, die bei der Presse und bei anderen Stellen vorhanden sind, nicht zurückgegeben werden müssen. Auch dies ist, glaube ich, eine wichtige Hilfe für die Presse.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Stasi-Unterlagen-Gesetz hat eine große Bedeutung für den inneren Frieden in ganz Deutschland. Ich wünsche uns, daß wir alle, auch die Presse, verantwortungsbewußt und mit Augenmaß mit diesem Gesetz umgehen werden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205702600
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Burkhard Hirsch.

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1205702700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin noch lange nicht mit dem Erlebnis fertig, wie leicht es gewesen ist, offenkundig Falsches über den Inhalt dieses Gesetzes darzustellen, als ob wir eine Bande von Verschwörern seien, und wie viele das geglaubt haben. Man kann den Inhalt des Gesetzes nachlesen. Es sind — auch in dieser Debatte — offenkundig falsche Behauptungen immer wieder unverdrossen vorgetragen worden: das Gesetz führe eine Zensur ein oder die Presse dürfe nur zu enumerativ aufgeführten Zwecken über Stasi-Täter berichten oder der Gesetzentwurf sei in überstürzter Eile und mit großer Heimlichkeit behandelt worden oder die Opfer müßten für sie betreffende Auskünfte aus den Akten oder für Einsichtnahme irgendwelche Gebühren bezahlen, prohibitive Gebühren gar. Das alles ist falsch.
Es ist auch besonders ärgerlich, daß teilweise so getan wird, als ob dieser Bundestag eine feindliche Macht sei, die sich nach vollzogener Eroberung der Akten bemächtige und sie den eigentlichen Eigentümern wegnehme.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Dieser Bundestag ist von allen Deutschen gewählt worden, und wir lassen auch nicht zu, daß eine Mauer zwischen Abgeordneten aus Deutschland-Ost und Deutschland-West gebaut wird, auch nicht in den Köpfen. Wir sind manchmal den Wünschen unserer Kollegen aus den fünf neuen Bundesländern sehr zögernd gefolgt, aber es gibt keinen Unterschied in der Legitimation für Entscheidungen über unsere Vergangenheiten in Ost und in West.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Der Gesetzgeber ist bei diesem Gesetz in einer einzigartigen Lage: Wir sehen uns einem papierenen Erbe gegenüber, das in der deutschen Geschichte ohne Beispiel ist. Jedem Besucher in der Normannenstraße in Berlin stockt der Atem, wenn er die unglaublichen Aktenmengen sieht, die sich aus der jahrelangen Bespitzelung der Bürger der ehemaligen DDR ergeben haben, beschämend nach Inhalt, nach Umfang und nach Methoden. Tröstlich ist allenfalls, daß



Dr. Burkhard Hirsch
diese höchste Entfaltung staatlicher Neugier und Sammelwut nichts genützt hat.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Im Gegenteil: Was als höchste Machtentfaltung dieses Staates gelten konnte, nämlich seine Bürger gläsern zu machen, hat gleichzeitig entscheidend zu seinem Ende beigetragen, weil dieser Staatssicherheitsdienst zum Motor der Entfremdung zwischen Staat und Bürgern geworden war. Ein Staat, der das Vertrauen seiner Bürger verloren hat, kann sich auf Dauer nicht behaupten, weil Macht ohne Autorität nichts anderes ist als schlichte Gewalt.
Aber immerhin: Diesem System haben 100 000 hauptamtliche und gut 500 000 sonstige Mitarbeiter gedient. Von ihnen haben sich bisher nur wenige bekannt. Die meisten hoffen, im Aktenwust unerkannt entkommen zu können.
Wenn wir mit diesem Gesetz die Akten öffnen, dann entscheiden wir nur formal über die Akten, inhaltlich aber über das Schicksal dieser Menschen. Das ist das eigentliche Problem. Viele Kritiker des Gesetzes haben das monatelang völlig unbeachtet gelassen und schließlich in den letzten Tagen aus den Augen verloren. Wir reden nicht über irgendwelche Akten. Sie enthalten unsägliche Details. Wer die in staatlicher Hand befindlichen Akten nur insoweit öffnen will, als nicht das Privatleben von Menschen, als nicht ihre Menschenwürde in Gefahr ist, der übt keine Zensur, der verdeckt nicht, der schützt nicht Täter, sondern der versucht, einem elementaren Grundwert unserer Verfassung gerecht zu werden.
Die Grundfrage dieses Gesetzes heißt nicht, ob es, wem auch immer, erlaubt sein soll, gekaufte, gestohlene oder veruntreute Akten zu veröffentlichen oder sie im Original oder in Kopie zurückzugeben. Die Grundfrage ist, wie wir zum Rechtsfrieden in dem Teil unserer Gesellschaft kommen, der über seine eigene Vergangenheit zutiefst verunsichert ist

(Beifall des Abg. Dieter Wiefelspütz [SPD])

und in dem Mißtrauen gegenüber dem Nachbarn und dem Kollegen besteht.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ CSU und der SPD)

Ich bin mir während der monatelangen Beratungen niemals sicher gewesen, ob wir darauf die richtige Antwort geben. Friedrich Karl von Savigny schreibt 1814 vom „Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung", es täuschten sich diejenigen, die glaubten, daß jedes Übel nur auf ein abhelfendes Gesetz warte, um dann auf der Stelle zu verschwinden:

(Dr. Willfried Penner [SPD]: Und der war Positivist!)

Ist einmal in der allgemeinen Ansicht eine bestimmte und mögliche Richtung sichtbar, so kann diese durch Gesetzgebung häufig unterstützt werden, aber hervorgebracht wird sie durch diese nicht. Wo sie gänzlich fehlt, wird jeder Versuch einer erschöpfenden Gesetzgebung den gegenwärtigen Zustand nur noch schwankender machen und die Heilung erschweren.
Das Gesetz allein wird unsere Probleme nicht lösen. Wir fragen uns auch, ob wir zur Gesetzgebung den nötigen Abstand haben. Es gibt keine „allgemeine Ansicht" im Sinne Savignys, und doch müssen wir entscheiden.
Unsere Antwort ist, erstens die Akten für jedermann in gleicher Weise in größtmöglichem Umfang zu öffnen, um die Opfer zu rehabilitieren und die Täter zu erkennen, und zweitens den Mißbrauch der Akten zu verhindern, indem die Opfer weitestgehend geschützt bleiben, insbesondere ihre Privatheit geachtet wird. Wenn wir dem Opfer das in unserer Rechtsordnung eigentlich selbstverständliche Recht nicht geben, seine verfassungswidrig entstandene Akte vernichten zu lassen, dann sind wir ihm gegenüber in besonderer Weise verpflichtet, seine Privatheit und damit seine Menschenwürde zu achten.
Die Grundentscheidung ist also die Öffnung der Akten, das Recht der Opfer, ihre Spitzel und ihre Denunzianten und deren Einfluß auf das eigene Leben offen zu erkennen. Wir glauben nicht, daß der Staat das Recht hat, dem Opfer zu sagen, er kenne zwar Denunziant und Täter, nenne ihn aber nicht, weil das Opfer es menschlich möglicherweise nicht verkraften werde. Das geht nicht. Der Staat ist kein genereller Amtsvormund für jedermann. Wir müssen auf der anderen Seite aber auch daran denken, wie viele Menschen wir in einen Rechtfertigungs- und Erklärungszwang versetzen und wie viele Pranger wie errichten. Wir kennen die unerträglich Selbstgerechten, die selbst nie ernsthaft in Versuchung waren und das für eine Tugend halten. Wir glauben aber, daß ohne diese Offenlegung das öffentliche und persönliche Mißtrauen nicht zu überwinden ist.
Das Gesetz geht noch weiter. Es verlangt nicht nur die Offenlegung gegenüber dem Opfer, sondern auch gegenüber der Öffentlichkeit. In dieser Frage, insbesondere bei der nun möglichen generellen Anfrage über ganze Bevölkerungsgruppen — Abgeordnete, Kommunalvertreter, leitende Mitarbeiter, Rechtsanwälte, Synodale, Betriebsräte, Parteivorstände —, sind wir bis an die Grenze des Möglichen gegangen. Wir haben zwar die Jugendsünden ausgeklammert, aber doch diese Art der Anfrage bis zum Jahr 2007 zugelassen. Ich sage Ihnen, daß es ganz und gar unserer Rechtstradition widerspricht, einem Täter über einen so langen Zeitraum hinweg eine Tat, welcher Art auch immer, nachzuhalten:

(Dr. Willfried Penner [SPD]: Bundeszentralregister!)

15 Jahre! Wenn ich Zweifel am Gesetz habe, dann an diesem Teil, der einen Zug der Erbarmungslosigkeit hat und nicht die Kraft findet, zu sagen, daß in fünf oder sechs Jahren, jedenfalls in diesem Jahrhundert, die allgemeine Durchleuchtung der Vergangenheit endet, wenn nicht ein individuelles Opfer Klage oder Anklage erhebt.
Unsere Kollegen aus den fünf neuen Bundesländern haben eine große Verantwortung, rechtzeitig für eine Novellierung dieses Gesetzes zu sorgen, wenn wir in größerer Entfernung von der Vergangenheit wieder gelernt haben, zwischen vorwerfbarer Schuld und Verstrickung in ein System zu unterscheiden.



Dr. Burkhard Hirsch
Es ist mir, Frau Köppe, nicht wichtig genug, hier wieder auf das allgemeine Gerede einzugehen, die Nachrichtendienste würden zugrapschen, die neuen Bundesländer würden nicht genügend berücksichtigt und was sonst noch alles.
Eine Bemerkung muß ich auf den Sonderbeauftragten Gauck beziehen: Wer ihn als einen SchäubleUntergebenen bezeichnet, der tut dem Mann unrecht, der innerlich frei und souverän ist,

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE)

der tut dem Gesetz urirecht, weil es ausdrücklich die fachliche Unabhängigkeit des Sonderbeauftragten festschreibt und der tut schließlich dem Minister unrecht, dessen Ruf untadelig ist. Kein Innenminister, der seine fünf Sinne zusammenhat, wird überdies versuchen, auf den Sonderbeauftragten einen politischen Druck auszuüben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die zweite Bemerkung richtet sich an die Presse. Es ist gefährlich, sich mit ihr anzulegen, aber es muß etwas klargestellt werden: Sie muß Akten, die ihr nicht gehören, abliefern wie jeder andere Bürger auch. Anders kann das Opfer nicht rehabilitiert, und anders kann der Täter nicht erkannt werden.
Aber unbeschadet bleibt das Recht der Presse, im Rahmen der allgemeinen Pressegesetze alles zu veröffentlichen, was ihr an Informationen zugetragen wird. Sie kann außerdem ohne jede Einschränkung jede Akte veröffentlichen, die ein Opfer von der Sonderbehörde erhalten hat und die von ihm frei verwendet werden kann.
Schließlich bekommt die Presse wie jeder andere auch Einblick in die in staatlicher Verwaltung befindlichen Akten, wie das in keinem anderen Verwaltungszweig gegeben ist — und das bei Personen der Zeitgeschichte und bei Amtsträgern mit voller Namensnennung. Wenn die Behörde dabei Akten zur Verfügung stellen soll, in der auch die Privatsphäre des Betreffenden oder des Opfers oder einer dritten Person berührt wird, dann muß die Behörde prüfen, wie sie berechtigte Interessen der Betroffenen schützt. Wer das als Zensur bezeichnet oder als Maulkorb,

(Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das ist geltendes Recht!)

der hat nicht verstanden, daß es hier nicht um die Presse geht, sondern darum, ob eine Behörde durch die Veröffentlichung einer Akte, wem gegenüber auch immer, die Rechte, auch die Verfassungsrechte, eines Menschen verletzt.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Meine dritte Bemerkung richtet sich an die Fraktionen der CDU/CSU und insbesondere der SPD: Wir halten es für eine wichtige politische Entscheidung, daß wir dieses Gesetz über die Koalitionsgrenzen hinaus gemeinsam verabschieden. Das ist keine Selbstverständlichkeit; aber es ist ermutigend, daß wir in einer solchen Frage von menschlicher und nationaler
Bedeutung zu gemeinsamen Entscheidungen gefunden haben.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205702800
Das Wort hat der Abgeordnete Poppe.

Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1205702900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Hirsch, eine Vorbemerkung: Ich unterstütze sehr das, was Sie zur Person von Jochen Gauck gesagt haben. Es entspricht auch dem, was in den Bürgerbewegungen im allgemeinen über ihn gesagt wird. Ich muß aber auch betonen, daß Frau Köppe in ihrem Redebeitrag nichts Gegenteiliges gesagt hat.
Ich gehöre dem Wortlaut dieses Gesetzentwurfs nach zur Kategorie der Betroffenen. Ich bin etwa 20 Jahre lang ein operativer Vorgang gewesen. Gestatten Sie mir deshalb, daß ich auf eine recht persönliche Weise mit diesem Problem hier umgehe.
Mir ist neulich beim Aufräumen ein Blatt Papier in die Hände gefallen, das mein damals siebenjähriger Sohn im Jahre 1987 beschrieben hatte. Darauf standen, scheinbar zusammenhanglos, zwei Sätze:
Heute war der erste Tag, an dem es schneite. Die Stasi war da und hat Poppoff
— das bin ich — mitgenommen.
Dann las ich auf einem zweiten Blatt Papier, was einige Zeit zuvor ein Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi, den ich jahrelang für meinen Freund gehalten habe, seinem Führungsoffizier über unsere erste Begegnung mitgeteilt hat.
Meine Frau und ich hätten in einer Diskussion über Frieden und Menschenrechte einen Text eingebracht und die Anwesenden zur Unterschrift aufgefordert. Dieser Text hätte — ich zitiere — „eindeutig eine scharfe Gewichtung gegen die Sowjetunion und gegen die Staaten des Warschauer Vertrags" und nähme ebenso eindeutig, „wenn auch mit geschickten taktischen Formulierungen, Position und Partei für die sogenannten parlamentarischen Demokratien der westlichen Welt". Soweit der IM im O-Ton.
Es ist wohl nicht allzu weit hergeholt, wenn ich einen Zusammenhang vermute zwischen solchen Sätzen dieses und anderer Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit und der lapidaren Feststellung des Sohnes über das zeitweilige Abhandenkommen seines Vaters.
Am Ende des dreiseitigen Spitzelberichts steht folgender Satz: „Mit Poppes habe ich mich sehr gut verstanden, wir tauschten die Adressen aus, und sie luden mich zu sich nach Hause ein." Von da an hat uns der IM oft besucht, hat Süßigkeiten und freundliche Worte für die Kinder mitgebracht, widmete uns hin und wieder eines seiner Gedichte und wurde einer der aktivsten Mitarbeiter unserer Menschenrechtsgruppe. Die Stasi-Berichte schrieb er weiter, und sie wurden um so ausgefeilter, je länger unsere Freundschaft währte. Als seine Stasi-Tätigkeit bekannt wurde, stellte er seine Besuche bei uns ein. Meine



Gerd Poppe
Kinder fragten, warum er nicht mehr komme, und seit ich es ihnen erklärt habe, fragen sie: Warum hat er das getan?
Ich würde es ihnen sagen, wenn ich es wüßte. Vorerst aber weiß ich nur eines: Erlebnisse dieser Art gehören zu den Alltagserfahrungen tausender Menschen in der früheren DDR, gerade solcher, die den aufrechten Gang erprobten, die unbequem für die Herrschenden waren und die — das sei gern zugestanden — auch im demokratischen Gemeinwesen der neuen Bundesrepublik nicht zu den Bequemsten gehören werden.
Mit diesen Erlebnissen müssen wir umzugehen lernen, die dunklen Stellen in unserer Biographie aufhellen, die Deformationen des früheren Systems und der Persönlichkeitsstrukturen seiner Helfershelfer aufdecken. Alles muß ans Licht, hat mein Kollege Ullmann gesagt, und er hat recht damit. Jede Verdrängung des Geschehenen verstellt uns den Weg zum Neuanfang. Jedes Schweigen macht uns hilflos gegenüber neuem Unrecht.
Nicht die schmerzliche Wahrheit ist zu fürchten, sondern eher der reibungslose Übergang zu einer neuen Tagesordnung. Trauer und Wut, die uns beim Lesen unserer Akten überkommen, werden uns nicht auf Dauer beherrschen. Nicht die vielbeschworenen Rachegelüste werden letztendlich die Folge der Lektüre sein, sondern die Wiederaufnahme des Gesprächs, die Neuentdeckung verloren geglaubter Jahrzehnte.
Das Leben in der Diktatur war nicht einfach wertlos. Das werden uns gerade die Geschichten der vielen Namenlosen zeigen, von denen in den Akten zu lesen sein wird, daß sie sich nicht haben verbiegen lassen, trotz des noch so ausgetüftelten Repressionsapparats.
Die Akten lügen nicht und sagen auch nicht die Wahrheit. Trotz ihrer Unrechtmäßigkeit und bei all ihrer Widerwärtigkeit können sie gleichwohl Hilfsmittel unserer Selbstfindung werden.
Meine Damen und Herren, es versteht sich von selbst, daß der Umgang mit diesem furchtbaren stalinistischen Erbe ein exakt beschriebenes Verfahren voraussetzt, das möglichst im Konsens zwischen allen Demokraten über alle Parteibarrieren hinweg zu entwickeln ist. Es muß den Bedingungen des Rechtsstaats entsprechen und den Betroffenen gerecht werden. Es muß die Opfer schützen und den öffentlichen Diskurs ermöglichen. Es muß schließlich von den idealen Zielsetzungen gewissermaßen auf die Ebene des Behördenalltags heruntergezerrt werden. Es ist ein komplizierter Versuch, das Unaussprechliche in Regeln zu fassen, und niemand kann sich dabei seiner Routine bedienen.
Nun ist das besondere Problem bei der Ausarbeitung dieses Gesetzes, daß zwei ganz verschiedene Grunderfahrungen aufeinanderprallen: Die einen haben eine langjährige Kenntnis der rechtsstaatlichen Normen und des Verwaltungsaufbaus der Bundesrepublik aufzuweisen, die anderen — z. B. Vertreter der Bürgerbewegung, die ja mitgearbeitet haben — ihre persönlichen Erlebnisse und die mittlerweile zweijährige Praxis der Stasi-Auflösung, der Aktensicherung und -auswertung. Beide konnten in manchen Fragen nicht zueinander finden. Ich bin Optimist und sage: diesmal noch nicht.
Die drei Fraktionen des Bundestages wären gut beraten, wenn sie sich stärker auf diejenigen einließen, die an Runden Tischen, bei der Besetzung der StasiGebäude, in den Bürgerkomitees, in der Volkskammer und in der Behörde des Sonderbeauftragten unverzichtbare Erfahrungen gesammelt haben. Wären sie ausreichend berücksichtigt worden, hätten wir jetzt nicht zwei Gesetzentwürfe, sondern einen.
Andererseits verkenne ich nicht, daß das Gesetz, das die Mehrheit dieses Hauses verabschieden wird, unseren Forderungen in sehr wesentlichen Teilen entspricht,

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, der SPD und der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP — Dieter Wiefelspütz [SPD]: Respekt!)

über die Forderungen des Einigungsvertrages und teilweise auch des Volkskammergesetzes hinausführt.

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Eben!)

Ich bin froh, daß wir mit der Aufarbeitung unserer Akten nun bald beginnen können.
Unübersehbar aber sind auch die Schwächen, die meine Kollegin Köppe im einzelnen beschrieben hat. Der angemessene Umgang mit dem Problem verträgt sich nicht mit ermittlungstechnischen und strafrechtlichen Bestimmungen, die gegebenenfalls auch auf die Betroffenen zurückfallen können. Er verträgt sich nicht mit geheimdienstlicher Tätigkeit und nicht mit Zensurmaßnahmen jedweder Art. Im übrigen, meine Damen und Herren, kann ich die durchgängige Medienschelte, die hier stattgefungen hat, nicht nachvollziehen. Erinnern Sie sich doch bitte daran, daß auch viele Medien mit dem Thema sehr verantwortungsvoll umgegangen sind! Erinnern Sie sich auch daran, wer hier in Ihren vorderen Reihen noch sitzen würde, wenn es bestimmte Berichte nicht gegeben hätte!

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der SPD)

Es bleibt im Gesetzentwurf auch noch einiges offen, was heute noch nicht problematisiert wurde. Ich nenne mit Blick auf die Einsichtnahme in die Akten bzw. auf die Übergabe der Duplikate nur ein Beispiel: Es fehlt mir die Formulierung, daß nur die überwiegend schutzwürdigen Interessen Dritter anonymisiert werden sollen. Denn wenn man die persönlichen Informationen über Dritte — auf die hier Bezug genommen wird — zu weitgehend interpretiert, besteht die Gefahr, daß wir mit diesen Unterlagen wirklich nichts mehr anfangen können.
Herr Gerster, ich bin nicht der Auffassung — entschuldigen Sie, ich muß Sie einmal beim Telefonieren unterbrechen —,

(Heiterkeit beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Ich bitte um Entschuldigung, war kein böser Wille!)




Gerd Poppe
daß die Akten dem Staat gehören. Ich bin nach wie vor der Auffassung, daß die Akten in erster Linie uns, nämlich den Betroffenen, gehören.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Deshalb werde ich die paar Kopien mit Berichten über mich selbstverständlich behalten, es sei denn, ich stelle bei der Durchsicht meiner Stasi-Akte fest, daß sie der Gauck-Behörde verlorengegangen sind.
Schließlich sage ich Ihnen noch etwas zum Abstimmungsverhalten von Bündnis 90/GRÜNE: Wir vertreten unterschiedliche Auffassungen, zwar nicht im Grundsatz, aber in manchen Details. Ich werde mich bezüglich beider Gesetzentwürfe der Stimme enthalten, und zwar nicht aus Unentschlossenheit, sondern um deutlich zu machen, daß ich die Arbeit an diesem Gesetz noch lange nicht für abgeschlossen halte.
Schönen Dank, meine Damen und Herren.

(Beifall im ganzen Hause)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205703000
Das Wort hat der Abgeordnete Stübgen.

Michael Stübgen (CDU):
Rede ID: ID1205703100
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich ergreife hier das Wort nicht nur als Mitglied des Parlaments und als Mitglied des Innenausschusses und des StasiUnterausschusses, sondern auch als Betroffener, als Bürger der ehemaligen DDR, über den eventuell auch Opfer-Akten der Stasi irgendwo herumliegen, wobei ich hoffe, daß sie bei der Gauck-Behörde lagern. Ich habe mir als ehemaliger DDR-Bürger aber das Wissen bewahrt, daß das Wesen und der Bestand des unseligen SED-Regimes nicht auf den Begriff und die Funktion der Stasi reduziert werden können. Das MfS/ AfNS ist nur eine der Mißgeburten dieses Unrechtsstaates.
Selbstverständlich — ich glaube, darüber sind wir uns alle einig — sind diesem Gesetz Grenzen gesetzt. Dennoch ist für mich völlig unverständlich — ich bin verärgert darüber; das ist heute schon einige Male deutlich gemacht worden — , daß dieser umfangreiche Gesetzentwurf in der öffentlichen Diskussion nunmehr auf die Pflicht zur Herausgabe von Unterlagen, u. a. für Presseorgane, reduziert wird, wie es in § 9 dieses Gesetzentwurfes festgeschrieben und heute noch mit Änderungsanträgen beschlossen werden soll.
Demgegenüber hat der Gesetzentwurf drei umfassende, grundsätzliche Ziele: Erstens. Den weitestgehenden — das ist schon einige Male gesagt worden —Persönlichkeitsschutz für die Opfer der Stasi. Zweitens. Förderung der historischen und politischen Aufarbeitung des SED-Sozialismus, die dieses Gesetz in vielen Bereichen erst ermöglicht. Drittens. Soweit es möglich ist, will das Gesetz den Zugriff auf Beweismaterial eröffnen, um eine Strafverfolgung von StasiVerbrechen auf der Grundlage des Rechtsstaats zu ermöglichen.
Jedoch — das ist so; das müssen wir uns eingestehen und zur Kenntnis nehmen — haben diese Verbrecher innerhalb eines rechtsstaatlichen Verfahrens Möglichkeiten der Rechtfertigung und Verteidigung, die sie denen, die ihnen ausgeliefert waren und die sie verfolgt und gejagt haben, nie zugestanden haben. Hier erscheint vielen meiner Mitbürger die eigentliche Stärke des Rechtsstaats — dafür stehe ich, und dafür bin ich im Parlament — als Schwäche.
Wie ich erwähnt habe, geht es in weiten Teilen dieses Gesetzes um den Schutz der Opfer, nicht, wie einige selbsternannte Bürgerrechtler darstellten, um den Schutz der Täter. Es ist unsinnig, zu behaupten, das Stasi-Unterlagen-Gesetz schütze die Täter.
Dies zeigt bereits ein Blick auf § 23 Abs. 1. Hier wird der Staatsanwaltschaft die Kompetenz eingeräumt — das ist, wenn das Gesetz in Kraft getreten ist, erstmals möglich — , zur Verfolgung von Straftaten im Zusammenhang mit dem Regime der ehemaligen DDR, insbesondere Straftaten im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes, auch Akten über Betroffene und Dritte zu verwenden. Erst mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ist ein wirksamer Aktenzugriff für die Staatsanwaltschaft gegeben. Erst dann kann eine Aburteilung der Täter effizient und ausreichend beginnen.
Ich möchte Sie nochmals darauf hinweisen, daß die Aufklärung von Straftaten des SED-Regimes nicht in erster Linie Sache von Bürgerbewegungen oder Medien ist. Gewiß haben sie eine wichtige kontrollierende und flankierende Bedeutung in dieser Frage. Aber in einem Rechtsstaat ist die Aufklärung von Verbrechen Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Nur eine in den Bahnen des Rechtsstaats vorgenommene Aufarbeitung der Stasi-Machenschaften verspricht auf Dauer Erfolg.
Darüber hinaus ermöglicht oder erleichtert dieses Gesetz — deshalb ist es sehr wichtig, daß es jetzt verabschiedet wird und Anfang 1992 in Kraft tritt — die Rehabilitation von Stasi-Opfern.
Grundvoraussetzung für Rehabilitation ist der Nachweis der gezielten Benachteiligung durch den Staatssicherheitsdienst. Dem trägt § 13 Rechnung. Dort wird den Opfern das Recht der Einsicht in ihre Akten und die Bekanntgabe der Klarnamen derer, die Informationen über sie gesammelt oder solche verwertet haben, garantiert.
Ich bin fest überzeugt, daß wir mit diesem Gesetz das, was die Bürger im Herbst 1989 auf den Straßen vom Gesetzgeber verlangt haben, weitestgehend erfüllen.
Die zentrale Aussage des von den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP eingebrachten Gesetzentwurfs lautet: Grundsätzlich hat jedermann das Recht, Einsicht in die über ihn gesammelten Informationen zu nehmen, um die Einflußnahme der Staatssicherheit auf sein persönliches. Schicksal aufklären zu können.
Das Recht der Opfer auf Einsicht in die über sie gesammelten Informationen ist nahezu unbeschränkt.



Michael Stübgen
Es gibt Beschränkungen nur dann, wenn in den Akten personenbezogene Informationen über Betroffene als Opfer oder Dritte enthalten sind.
Dazu möchte ich, weil das — gerade mit Blick auf den Beitrag von Herrn Poppe vor mir — zur Klarstellung wichtig ist, aus § 2 Abs. 4 zitieren — ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir zuhören würden, Herr Poppe — : Durch die Verwendung der Unterlagen „dürfen überwiegende schutzwürdige Interessen anderer Personen nicht beeinträchtigt werden".
Als Beispiel möchte ich eine Nachrichtensendung in dieser Woche anführen, in der der von mir soeben zitierte Passus wiedergegeben wurde, aber mit einer kleinen Auslassung wiedergegeben wurde. Es hieß dort nicht mehr: Durch die Verwendung der Unterlagen „dürfen überwiegende schutzwürdige Interessen anderer Personen nicht beeinträchtigt werden", sondern — man muß genau hinhören — : Durch die Verwendung der Unterlagen „dürfen überwiegende Interessen anderer Personen nicht beeinträchtigt werden" .
Diese sinnentstellende Wiedergabe im Zusammenhang mit der Behauptung, wir wollten mit dem Gesetz die Täter schützen, scheint sich zu bestätigen. Tatsächlich aber soll dieser Passus den Schutz der Opfer garantieren, und zwar als die zentrale Aussage und durchgängige Linie in diesem gesamten Gesetz. Die Notwendigkeit dieser Einschränkung müßte eigentlich — davon bin ich fest überzeugt — jedem aus Datenschutzgründen ersichtlich sein.
Ich möchte noch einmal auf etwas hinweisen, damit ich nicht mißverstanden werde. Ich erwarte und begrüße eine kritische Begutachtung des Gesetzentwurfs durch die freien Medien. Genauso erwarte ich aber, daß trotz kritischer Betrachtung dieser Gesetzentwurf korrekt und seriös dargestellt wird. Aus diesem Grund möchte ich auf die Definition von „Betroffenen" und „Dritten" eingehen, denn hier scheint eine gewisse Verwirrung zu herrschen.
Zu dem Personenkreis der Betroffenen zählen diejenigen, über die der Staatssicherheitsdienst auf Grund zielgerichteter Informationserhebung oder Ausspähung einschließlich heimlicher Informationserhebung Daten gesammelt hat. Die Personengruppe der Dritten sind andere Personen, sonstige Personen, über die der Staatssicherheitsdienst zwar Informationen gesammelt hat, aber nicht zielgerichtet, deren Daten also eher zufällig im Rahmen einer Ausspähung angefallen sind, die, wie man auch sagen kann, zufällig ins Netz gegangen sind, ohne daß der Staatssicherheitsdienst zunächst und auch in der Folgezeit besonderes Interesse an diesen Personen hatte.
Nur gegenüber diesen sogenannten Dritten wird eine weitere Einschränkung des Rechts auf Einsichtnahme gemacht, daß die beantragte Auskunft über vorhandene Stasi-Unterlagen von der Gauck-Behörde nur dann erteilt werden kann, wenn der dafür erforderliche Aufwand nicht außer Verhältnis zu dem vom Antragsteller geltend gemachten Informationsinteresse besteht. Dies resultiert aus der Tatsache, daß es über die Dritten weder Findungskarteien noch geordnete Aktensammlungen gibt. Es handelt sich um eine rein technische Realität, der wir mit unserem Gesetz
Rechnung tragen müssen. Gerade in den Gesprächen des Ausschusses haben wir immer gesagt, wir würden den Dritten normalerweise dasselbe Recht einräumen wollen, weil sie ja auch irgendwie Opfer sind; aber es geht technisch nicht in dieser Form zu lösen. Soweit es möglich ist, soll das Gesetz aber auch das Recht dieser Dritten garantieren.
Frau Köppe ist gerade nicht anwesend. Ich will sie trotzdem ansprechen. Ich gehe davon aus, denn wir hatten zig Stunden im Unterausschuß und auch im Innenausschuß zusammengesessen, daß sie sich intensiv mit dieser Gesetzesvorlage beschäftigt hat. Deshalb muß ich davon ausgehen, daß sie wider besseres Wissen fälschlicherweise gegenüber den Medien behauptet hat, daß im § 4 Abs. 4 die Einschränkung auch für den Kreis der Betroffenen, also der Opfer, gelte. Ich meine, Frau Köppe müßte genau wissen, daß dies nicht den Tatsachen entspricht. Ich halte es für fatal, daß sie auch heute wieder in diesem Hause dieses Gesetz verwässert hat, indem sie behauptet, die Opfer selber unterlägen Einschränkungen. Das ist nicht der Fall. Bitte, lesen Sie das Gesetz noch einmal genauer durch.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Außerdem stelle ich bei der Kollegin Köppe ein bedenkliches Maß an Demokratieunfähigkeit fest. Sie war bei den Sitzungen des Unterausschusses dabei. Dort sind wir im Zuge demokratischer Mehrheitsfindung zu Ergebnissen gekommen, und sie hat ihren Einfluß geltend gemacht.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205703200
Herr Abgeordneter, die Wiederanwesenheit der Abgeordneten Frau Köppe veranlaßt sie zu einer Zwischenfrage. Sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen?

Michael Stübgen (CDU):
Rede ID: ID1205703300
Darf ich bitte den einen Satz zu Ende führen. — Sie hat ihren Einfluß geltend gemacht, und wir sind trotz Unterschieden in einzelnen Positionen, wie gesagt, zu Ergebnissen gekommen. Jetzt zieht sie es vor, den Medien gegenüber falsche Behauptungen aufzustellen und ausgerechnet unter den Leuten grundlos Panik zu verbreiten, die ohnedies jahrelang unter dem Stasi-Terror gelitten haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205703400
Frau Abgeordnete Köppe, bitte schön.

Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1205703500
Ist Ihnen bekannt, daß die von mir genannten Einschränkungen des Rechts auf Einsichtnahme für Betroffene in § 10 Abs. 5 Ihres Gesetzentwurfes formuliert sind. Ich zitiere:
Sind andere Unterlagen nicht oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand auffindbar, erstreckt sich das Recht auf Einsicht und Herausgabe auf Duplikate .. .
Das ist dieser unverhältnismäßige bürokratische Verwaltungsaufwand, der die Einsichtnahme verhindern kann. Ist Ihnen das bekannt?

(Zurufe von der CDU/CSU: Für Dritte!)





Michael Stübgen (CDU):
Rede ID: ID1205703600
Entschuldigen Sie, Frau Köppe. Bitte, lesen Sie das Gesetz genau. Ich habe das Gesetz nicht hier, weil das Pult etwas klein ist. Es handelt sich hier um Dritte, wo das Einsichtsrecht beschränkt werden kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Bei Betroffenen und Opfern geht es darum, daß sie zum Teil nicht die Originalunterlagen einsehen können, wenn überwiegend schutzwürdige Interessen von Dritten zu sehr betroffen sind. Aber wenn Sie erlauben, würde ich gerne weitermachen. Wir können uns anschließend gerne bei einem Bier oder einem Sekt darüber unterhalten.

(Heiterkeit und Zurufe)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205703700
Herr Abgeordneter Stübgen, darf ich die Einladung zu einem Getränk als eine Ablehnung der Bereitschaft, eine weitere Frage zu beantworten, interpretieren?

Michael Stübgen (CDU):
Rede ID: ID1205703800
Eine Einladung als erstes und eine Ablehnung als zweites.
Ebenso halte ich es für besonders wichtig — und dies soll das Gesetz auch garantieren — , daß den zu Unrecht einer Mitarbeit beim Staatssicherheitsdienst Verdächtigten Hilfestellung zu geben ist. Gerade diese Personengruppe bekommt mit Inkrafttreten dieses Gesetzes die Möglichkeit, den Gerüchten und Verdächtigungen ein Ende zu setzen,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

indem sie Auskunft verlangen kann, ob, und, wenn ja, welche Informationen über sie vorhanden sind. Das muß das Gesetz leisten, und es kommt in der Form eigentlich zu spät; ich weiß das als Wahlkreisabgeordneter in den neuen Bundesländern. Nur wenn durch dieses Gesetz Täter und die zu Unrecht Verdächtigten voneinander unterschieden werden können, ist eine Beseitigung der augenblicklich herrschenden Unsicherheit, die teilweise unerträglich ist, in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland und insbesondere in den neuen Ländern möglich.
Dieses Gesetz bietet die Grundlagen dafür. Ich bitte deshalb um Ihre Zustimmung und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205703900
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Barbe.

Angelika Barbe (SPD):
Rede ID: ID1205704000
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Umgestaltung in der DDR ist belastet durch die unbewältigte Vergangenheit. Wir wissen es alle, Angst lähmt die Menschen, verdächtigt zu werden oder als Schuldige entdeckt zu werden. Wie sagte es Pfarrer Gartenschläger, als ihn Mitglieder des Gemeindekirchenrates fragten, warum er sich nicht gleich nach der Wende dazu bekannt hätte, IM gewesen zu sein? Er sagte: „Aus Angst, aus scheißender Angst. " Diese Angst ist es, die uns dort lähmt.
Andere fühlen sich diffamiert, weil man sie als DDR-Bürger pauschal mit dem SED-Regime gleichsetzt. Wut, Resignation breitet sich bei denen aus, die als Betroffene schon wieder von denen betrogen werden,
die auch in der DDR-Zeit über sie herrschten. Sie haben noch nicht einmal Entschädigung bekommen; der Entwurf liegt erst vor. Das Gesetz ist noch gar nicht in Kraft.
Das Vertrauen in die Politik, in Institutionen, in Behörden geht nach und nach zurück. Sind die Enthüllungen berechtigt, fragen sich manche, oder lenken sie nur von sozialen Problemen ab? Es herrscht Verunsicherung, die kleinen Leute sollen jetzt für alles verantwortlich gemacht werden, die ehemals Mächtigen sitzen am Tegernsee, wie Schalck-Golodkowski, oder heimsen Höchstgeldbeträge für Interviews ein, siehe Honecker oder die Talkshows mit Markus Wolf.
Ich möchte Jürgen Fuchs zitieren, der in seinem Buch schreibt:
Die Stasi hat keine legale Macht mehr, die offiziellen Lügen, all der Druck ist weg, aber Gewalt ist immer möglich. Neue Diktaturversuche kann es geben, neue List, neue Varianten der alten Machtanmaßung. Es gibt kein endgültiges Vorbei und Vorüber. Man muß auf der Hut sein, ohne eine Atmosphäre der Heimlichkeit und des Mißtrauens zu kultivieren. Diese Heimlichkeit der Macht muß weg. Öffentlichkeit, Kontrollierbarkeit, Akteneinsicht müssen her.
Um diese Akteneinsicht haben wir seit eineinhalb Jahren gerungen. Da spreche ich alle Kolleginnen und Kollegen aus allen Parteien und Fraktionen an: zuerst in der Volkskammer, dann in der Normannenstraße, um die Akten vor dem Verschwinden zu bewahren, und seit knapp einem Jahr im Bundestag. Es geht bei der Erarbeitung dieses Gesetzes, das die Akteneinsicht regeln soll, nicht darum, daß wir Lösungen anbieten. Es geht um Regeln der Auseinandersetzung, es geht um Beteiligungsmöglichkeiten der Gesellschaft an der Auseinandersetzung, es geht um eine Ethik des politischen Handelns, wie Klaus Hartung es ausdrückt.
Der Mangel an Vorstellungskraft behindert uns noch immer gegenseitig dabei, in Ost und West zu erfühlen, wie es dem anderen auf der anderen Seite ergangen ist und wie es ihm jetzt ergeht. Einige Beispiele der Auseinandersetzungen kann ich hier stellvertretend nennen; sie zeigen ein wenig diese Diskrepanzen auf, die wir miteinander auszutragen hatten. Da ging es auch zwischen West und Ost und zwischen Parteien hoch her.
Erstens. Der Zugriff der Nachrichtendienste ist und war ein solch wunder Punkt, denn in der Volkskammer haben wir die Nutzung dieser unrechtmäßig erworbenen Informationen verboten. Wir haben jetzt eine Regelung, die eine parlamentarische Kontrolle dieser Aktenherausgabe regelt. Ich bin dankbar dafür, daß wir diesen Kompromiß eingegangen sind, daß eine Zustimmung der parlamentarischen Kontrollkommission jetzt eine Kontrollmöglichkeit eröffnet.
Was steht eigentlich hinter diesem großen Mißtrauen gegenüber Nachrichtendiensten? Es steht die Frage dahinter, ob sie wirklich so durchschaubar und kontrollierbar sein können, daß kein Machtmißbrauch erfolgt. Sie müssen da einfach auch unsere Erfahrungen, die wir im Osten hatten, mitberücksichtigen,



Angelika Barbe
wenn diese Frage immer wieder kritisch gestellt wird.
Zweitens: Es ging um das Recht der Untersuchungsausschüsse; denn selbstverständlich soll in den Landtagen, sollen in den Landesparlamenten die Rechte der Untersuchungsausschüsse nicht eingeschränkt werden. Lange Auseinandersetzungen gab es bei uns, weil befürchtet wurde, daß zuviel Privates durch skrupellose Geschäftemacher an Medien weitergegeben werden könne oder einfach nur Wahlkampfmaterial, um den politischen Gegner zu diffamieren.
Drittens. Die Überprüfungsmöglichkeiten sollten per Gesetz geregelt werden; wir haben schon darüber gesprochen. Aber es gab einen Punkt, an dem es auch erstmalig eine Koalition der Ostabgeordneten gegenüber den Westabgeordneten gab. Da haben harte Auseinandersetzungen und auch gute Argumente dazu beigetragen, daß ein Kompromiß gefunden wurde. Es ging nämlich darum, Ausnahmen für kirchliche Mitarbeiter oder kirchliche Ehrenamtsträger zu schaffen. Dies haben wir verhindern können. Denn eine solche Klausel hätte bedeutet, daß Eigeninitiativen, eigene Möglichkeiten der Vergangenheitsaufarbeitung behindert worden wären. Ich denke da an die Initiative der Pastoren Pahlke, Neubert, Görtz, die Initiative „Recht und Versöhnung", die mit ihrem Auftrag in den Kirchen der neuen Bundesländer keine Chance gehabt hätten. Diese Initiative ruft dazu auf, daß Kirchen den Menschen wieder Orientierung geben können, glaubwürdige Orientierung. Denn es geht um Gerechtigkeit, Wahrheit, Frieden und die eigene Aufarbeitung dazu.
Schon 1959 hatte Gottfried Fork erklärt, daß Spitzeldienst mit dem Auftrag der Kirche unvereinbar ist. Wir suchen jetzt nach Frieden und Aussöhnung, die aber gibt es nicht zum Nulltarif. Vor der Vergebung steht das Bekenntnis der Schuld. Und dazu ist jetzt Gelegenheit und Zeit.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Ich denke da an mein eigenes Erlebnis im Friedenskreis Pankow. Seit ich weiß, daß die Pastorin, die uns dort den Widerstand möglich gemacht hat, von Verbrechern — so bezeichne ich sie — umgebracht werden sollte — der Führungsoffizier hat es jetzt zugegeben: weil sie Radfahrerin war und bekannt war, daß sie die Verkehrsregeln nicht so gut beherrscht hat, ist ein Plan ausgearbeitet worden, sie durch einen Verkehrsunfall umzubringen — , seit ich das weiß, bin ich erst recht wütend und kann nicht sofort vergeben und die Hand reichen. Ich denke, das können Sie alle verstehen.
Für mich ist es auch unmöglich zuzustimmen, wenn jetzt der Ruf laut wird, ehemalige MfS-Mitarbeiter in den öffentlichen Dienst einzustellen. Warum wird jetzt verharmlost? Warum sollen sich denn jetzt die Opfer auf einmal „nicht so haben"? Der Staatssicherheitsdienst unterlag damals keiner demokratischen Kontrolle. Er hatte nur die Aufgabe, Angst zu schüren. Er entwarf und befolgte Zersetzungsstrategien. Sie regelten, daß der berufliche Mißerfolg organisiert wurde; wahre und unwahre Angaben wurden miteinander vermischt, der Ruf wurde geschädigt. Die Leute hatten keine Chance, sich irgendwie zu wehren, weil sie auch keine Chance hatten, an ein solches Material heranzukommen und zu beweisen, daß es so war.
Wir dürfen nicht vergessen, der Eintritt in das MfS war freiwillig. Leute, die dort mitarbeiteten als hauptamtliche Mitarbeiter, hatten einen militärischen Dienstrang. Sie sind an der Waffe ausgebildet worden, sie haben Verpflichtungserklärungen unterschrieben, und sie hatten Privilegien. Sollen wir uns erpressen lassen von denen, die jetzt schon wieder Privilegien im öffentlichen Dienst verlangen, nach dem Motto: Gesetz ist Gesetz, und was schert mich mein Geschwätz und meine Tat von gestern?
Es gab auch Auseinandersetzungen in der Frage: Wie wird in den Parteien überprüft? Wie können wir den Kandidaten, die wir für unsere Parteien, für unsere Gremien aufstellen, ermöglichen, wenn sie es auch selber wollen, überprüft zu werden? Ich denke, dazu gehört Demokratieverständnis, und es gehört dazu, daß wir mit dem Gesetz eine Möglichkeit geschaffen haben, Demokratie bei uns in den neuen Bundesländern überhaupt erst einmal zu stärken.
Es gab auch eine Auseinandersetzung bei der Frage der Überprüfung der Bundestagsabgeordneten. Ich verweise da noch einmal, obwohl ich alle Gegenargumente kenne, meine Kolleginnen und Kollegen, die sagen, auch die freiwillige Überprüfung kommt für uns nicht in Frage, darauf, daß dem Rechtsbewußtsein mehr geschadet wird, wenn der Sonderbeauftragte im Rahmen der Spontanermittlung — das kann er jetzt im Rahmen dieses Gesetzes — jemanden entlarvt, der sich nicht freiwillig hat überprüfen lassen.
Zum § 36 brauche ich nicht mehr viel zu sagen. Ich verweise aber die Medienvertreter auf ihre eigene Aussage, die sie uns allen zugeschickt haben, wenn es darum geht, auch Betroffene zu schützen, denn sie schrieben uns:
Verleger wie Journalisten bleiben gefordert, das ihnen zur Verfügung stehende Informationsmaterial stets mit großem Verantwortungsbewußtsein auch auf Veröffentlichungszwecke hin zu prüfen.
Wir werden die Medien beim Worte nehmen. Wir werden sehen, ob sie sich verantwortungsvoll daran halten und die schutzwürdigen Interessen von Betroffenen wahrnehmen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Noch ein Wort zur Gerechtigkeit. Die Frage des Rechts beherrscht uns sehr stark. Die Diskussionen sind heftig. Es geht nicht allein um die Bestrafung der Täter; es geht um Gerechtigkeit, um das Verständnis und die Identifikation mit dem neuen Rechtssystem. Es wird immer gesagt, das zur Tatzeit geltende Recht ist ausschlaggebend, und wer dagegen nicht verstoßen hat, kann nicht nach später gültigem Recht verurteilt werden. Die Stasi und die SED haben sich bis zur Wende eigene Gesetze gegeben, die auch gegen Menschenrechte verstoßen haben. Dennoch kann man dieser Verbrecher — so bezeichne ich sie — nicht habhaft werden, weil man ihnen keine Einzelverbre-



Angelika Barbe
chen nachweisen kann und weil es keinen internationalen Gerichtshof gibt, der diese Verbrechen ahnden könnte.
Ich möchte deshalb fordern, daß diese Verbrecher nach den Grundsätzen des Bundesverfassungsgerichtes, dem Staschinsky-Urteil von 1962, verurteilt werden. Ihre Bestrafung nach diesem Urteil muß möglich sein.
Zum zweiten möchte ich meine Kolleginnen und Kollegen darum bitten, eine Enquete-Kommission hier im Bundestag einzusetzen, um eine Aufarbeitung der Vergangenheit möglich zu machen. Es müssen dann Bürgerrechtskomitees und Betroffene einbezogen werden und die Vergangenheitsaufarbeitung hier im Bundestag neben dem Alltagsgeschäft ermöglicht werden.
Zum Schluß möchte ich noch sagen: Ich stimme dem Gesetz zu, wenn auch mit Bauchschmerzen und auch wenn nicht alles, was ich erreichen wollte, eingearbeitet ist. Wir werden sicher novellieren müssen. Aber wir wollen schon jetzt in die Akten schauen, und wir wollen wissen, warum wir verzweifelt waren. Wir wollen dieses aufarbeiten können. Es geht um Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden. Und es geht noch immer darum, daß sich die darin Verstrickten im persönlichen Gespräch mit den Bespitzelten dazu bekennen können. Sie können es auch öffentlich tun — auch heute — , wie es Gottfried Gartenschläger oder unsere Kollegin Jutta Braband getan haben. Sie haben meine Achtung, weil sie die Angst überwunden haben. Dies wünsche ich mir auch für den IM, den Gerd Poppe vorhin erwähnt hat. Leider schweigt er.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem Bündnis 90/GRÜNE)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205704100
Und nun hat der Abgeordnete Lowack das Wort.

Ortwin Lowack (CSU):
Rede ID: ID1205704200
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag steht heute an einem Wendepunkt, auch wenn das vielen Kolleginnen und Kollegen vielleicht noch gar nicht so bewußt ist. Das Parlament soll ein Gesetz beschließen, das zwar viele hervorragende Gedanken, das aber auch und leider einen zentralen Angriff auf die Pressefreiheit enthält,

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Ach! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Das ist falsch!)

die ich als einen wichtigen und zentralen Punkt unserer freiheitlichen Demokratie ansehe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jeder von uns ist immer wieder darüber enttäuscht, daß er von Journalisten mißverstanden wird. Die Journalisten interpretieren den Politiker oft anders, als er glaubt, daß es richtig wäre. Wir sollten trotzdem die große Leistung, die gerade in diesem Bereich bei der Aufklärung von Tatbeständen geleistet wurde, nicht unterbewerten. Hier wurde ein ganz wichtiger Beitrag geleistet, daß viele Dinge bewußt geworden sind, die wir vorher gerade nicht wußten.
Gerade die Menschen in den neuen Bundesländern, die die Pressefreiheit als eines der wenigen Dinge, die für unsere Demokratie typisch sind, schon jetzt erleben können — neben den vielen Problemen, die sie immer noch mitbekommen — , müssen heute zur Kenntnis nehmen, daß der Pressefreiheit in Zukunft nur noch zugänglich ist, was aus einer Behörde — dazu noch der des Bundesinnenministers — kommt.

(Dr. Burkhard Hirsch [FDP]: Stimmt doch nicht!)

Ich frage Sie: Ist das tatsächlich so beabsichtigt, und wenn ja: Wer hat das beabsichtigt?

(Dr. Willfried Penner [SPD]: Allgemeines Verwaltungsrecht! Sie müssen das genau durcharbeiten!)

— Lieber Kollege Penner, das ist ein Zusammenspiel der etablierten Parteien, das noch einmal den Verdacht weckt, irgend etwas gebe es hier eben doch zu vertuschen. Natürlich ist es so, daß die SPD befürchtet, daß über die Kontakte aus früheren Zeiten doch mehr herauskommt, als der Öffentlichkeit bisher bekannt ist.

(Zuruf von der SPD: Unerhört!)

Natürlich befürchten CDU und FDP, daß durch die Aufnahme vieler Mitglieder in den neuen Bundesländern auch Kontakte ermittelt werden könnten, die zu ermitteln nicht im Interesse einer Parteiführung liegt, die befürchten muß, daß nachher immer wieder einzelne Kollegen aus den Parlamenten wieder hinausfliegen.
Nur, diejenigen, die nicht mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet hatten — das ist ja wohl die Regel, gerade auch bei den Kollegen aus den neuen Bundesländern in den genannten Parteien — , gerade diese Kollegen werden im Bild der Öffentlichkeit, der Menschen, für die sie im Parlament sind, ebenfalls diskreditiert, weil der Eindruck entsteht, auch für sie gelte ein Gesetz, das im Grunde genommen kaschieren soll.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wollen Sie sich denn überprüfen lassen?)

Es wäre in diesem Falle durchaus interessant, zu erfahren, was damals tatsächlich passiert ist, als noch Ende 1988 die Bundesregierung eine Vereinbarung mit dem alten Regime über Leistungen von 8,6 Milliarden DM abgeschlossen hat, an denen pikanterweise der derzeitige Bundesinnenminister mitbeteiligt war. Schalck ist eben doch noch nicht aus den Zeilen, und er sollte es auch nicht sein; diese Sache muß aufgeklärt werden!
Weil ich gerade beim Kollegen Schäuble bin: Kollege Schäuble hat vorgestern bei der Tagung der Lokalpresse in Bonn etwas gesagt, was ich tatsächlich verheerend finde. Ich darf ihn zitieren — im Zusammenhang mit dem Stasi-Unterlagengesetz — : „Es gilt, die Fortsetzung der Arbeit der Staatssicherheit unter dem Zeichen der Pressefreiheit zu verhindern. " Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das ist schon knallharte Machtpolitik. Das ist fast schon etwas Zynismus, der hier zum Ausdruck kommt. Ich habe ein persönliches Problem, weil ich den Kollegen



Ortwin Lowack
Schäuble sehr schätze; aber wenn das seine Einschätzung des Problems ist, wenn hier die Politik versucht, in dieser Art und Weise Pressefreiheit auf ein ganz anderes Gleis abzuschieben, dann sehe ich tatsächlich eine Gefahr, die unserem Staat schadet.
Das sind die Hauptpunkte der Kritik: Es kann doch nicht wahr sein, daß in Zukunft mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft wird, wer Stasi-Unterlagen oder Teile davon oder Duplikate öffentlich mitteilt, völlig gleichgültig, welche Interessen hier wahrgenommen werden und welche Interessen an der öffentlichen Darstellung bestehen. Daß man bereits herausgenommen hat, daß auch die Speicherung, Übermittlung, Nutzung strafbar sein sollen, zeigt das schlechte Gewissen, das man zweifellos hatte. Leider hat dieses schlechte Gewissen keinerlei Auswirkungen auf den Tatbestand des § 37, den Bußgeldtatbestand, wonach mit einem Bußgeld bis zu 500 000 DM belegt wird, wer nicht oder nicht rechtzeitig Anzeige erstattet, daß er Stasi-Unterlagen hat.
Jetzt frage ich Sie: Wo ist denn eigentlich in diesem Gesetz geregelt, was Stasi-Unterlagen sind? Gibt es hier nicht eine Reihe von Kollegen, die ganz eindeutig nicht irgendwelche Unterlagen gekauft haben, sondern die sie — zum Teil anonym — zugeschickt bekommen haben? Sie haben dann trotzdem eine gesetzliche Mitwirkungspflicht.
Noch eine Frage: Betrifft — um noch einmal auf den Straftatbestand der öffentlichen Mitteilung zurückzukommen — das auch Aussagen im Parlament? Betrifft das auch die Diskussion hier?
Eine weitere Frage: Ist in dem Gesetz — Sie können mich gern belehren; vielleicht habe ich es überlesen — vorgesehen, daß die Gauck-Behörde — so darf ich sie heute einmal bezeichnen — Strafanzeige erstatten muß, wenn sich aus den ihr vorgelegten Unterlagen der dringende Tatverdacht strafbarer Handlungen ergibt? Das wäre doch eine wichtige Regelung, die hier zu treffen wäre. Bitte, Sie können mich belehren, ob sie da ist oder nicht.
Was meint eigentlich der Abänderungsantrag der Fraktion, wenn von überwiegenden Interessen die Rede ist, wobei ich einräume, daß er sicherlich besser ist als die bisherige Formulierung der „überwiegend schutzwürdigen" Interessen.
Wenn Herr Gauck in dem Interview, das vorhin zitiert wurde, davon spricht, daß mit dem Gesetz der Presse ein weites Betätigungsfeld überhaupt erst eröffnet würde, und wenn er sagt, er wolle dazu beitragen, daß die Arbeit der Presse seriöser würde, und weiter sagt, es müßten alle Unterlagen dahinkommen, wo sie hingehörten, dann weiß doch jeder, daß das Dinge sind, die man nicht ernst nehmen kann. Das Interview ist ja auch am 11. 11. abgedruckt worden.
Aber es kann doch nicht wahr sein, daß der Innenminister oder eine Behörde des Innenministers in Zukunft darüber entscheidet, ob die Presse seriös berichtet oder nicht. Merken Sie nicht, welche Verschiebung hier eintritt? Ein Parlament im westlichen Ausland würde lachen, wenn es diese Dinge zu diskutieren hätte, und ich staune nur, mit welcher Unbetroffenheit wir in diese Diskussion hineingehen.
Wenn nun der Vorwurf, es ginge hier um einen Maulkorb, zurückgewiesen wird — beleidigt zurückgewiesen wird — , dann darf ich nur darauf hinweisen: In Zukunft führt es doch immer zur Strafbarkeit, wenn ein Journalist Dinge mitteilt, bei denen die Unterlagen bei der Behörde liegen; denn er kann entweder nicht den Nachweis für seine Darstellung führen, was dann üble Nachrede oder Verleumdung ist, oder er hat die Unterlagen; dann hat er sich strafbar gemacht, weil er sie nicht abgeliefert hat. Er kann sich also in Zukunft aussuchen, was er macht. Strafbar ist er in diesem Fall immer.
Da für mich auch der modifizierte Gesetzentwurf ein Angriff auf die Pressefreiheit ist, den ich nicht billigen kann, und da ich für mehr und nicht für weniger Aufklärung bin und auch dagegen bin, daß eine Bundesbehörde Noten an die Journalisten verteilen kann, beantrage ich, daß wir über die Straf- und Bußgeldbestimmungen, d. h. §§ 36 und 37, getrennt abstimmen, damit man von vornherein richtig gewichten kann.
Ich habe abschließend die herzliche Bitte, Kollege Johannes Gerster: Die Äußerungen, die hier in diesem Zusammenhang gefallen sind, mit Worten wie „journalistische Büchsenspanner", „Opportunisten", „Ignoranten" — —

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205704300
Herr Abgeordneter Lowack, ich muß Ihnen zwei Mitteilungen machen: Erstens. Im Grunde genommen ist Ihre Redezeit abgelaufen. Zweitens. Der Abgeordnete Schily möchte eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie bereit, die noch zu beantworten?

Ortwin Lowack (CSU):
Rede ID: ID1205704400
Wenn ich dann noch meinen letzten Satz beenden darf, gerne.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205704500
Den letzten Satz billige ich Ihnen zu. Wenn Sie den noch mit der Antwort an Herrn Schily verbinden könnten, wäre das besonders glücklich.

Ortwin Lowack (CSU):
Rede ID: ID1205704600
Ich werde mich bemühen, Herr Präsident.

Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1205704700
Herr Kollege Lowack, sind Sie eigentlich dafür, daß illegal abgehörte Telefongespräche straflos veröffentlicht werden können?

(Manfred Richter [Bremerhaven] [FDP]: Das sind geklaute Akten! — Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das ist die Frage!)


Ortwin Lowack (CSU):
Rede ID: ID1205704800
Nein, die Frage lautet doch hier ganz anders. Es gibt doch heute schon die Frage, ob etwas strafbar ist oder nicht.

(Manfred Richter [Bremerhaven] [FDP]: Das sind gestohlene Akten!)

Ich will nur eines haben: daß nicht eine staatliche Behörde darüber entscheidet, worüber berichtet werden kann und worüber nicht.
Aber vielleicht darf ich zu meinem letzten Satz zurückkommen. Lieber Johannes Gerster, es gab schon bessere Äußerungen, die ich von dir gehört habe. Aber mit dieser Äußerung diskreditierst du im Grunde genommen eine sonst ja weitgehend seriöse Arbeit,



Ortwin Lowack
die ich aber dort, wo es um die Frage der Pressefreiheit geht, trotzdem kritisieren muß.

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Auf einem groben Klotz mußte ein grober Keil kommen! Das ist manchmal so!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205704900
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Zeitlmann.

Wolfgang Zeitlmann (CSU):
Rede ID: ID1205705000
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte eingangs meiner Ausführungen etwas vielleicht Ungewöhnliches tun und den Herren, die uns im Unterausschuß und im Ausschuß seitens des Ministeriums begleitet haben, ganz herzlich für ihre Mitarbeit danken, nämlich dem Herren Ministerialdirigenten Wedler — —

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Direktor!)

— Ministerialdirektor, Entschuldigung.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Herr Wedler hat mir manchmal richtig leid getan, welcher Druck von uns während der nächtlichen Sitzungen ausging, wie schnell wir Unterlagen, Änderungen und Korrekturen wünschten. Ich sage das auch deshalb, weil Herr Wedler Ende dieses Jahres, glaube ich, in Pension geht und weil es sein letztes großes Gesetz war. Herr Wedler, herzlichen Dank und alles Gute.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Gerade in den letzten Tagen war vielfach zu hören, mit der Verabschiedung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes kämen die Stasi-Akten unter Verschluß, der Zugang würde von staatlichem Wohlwollen abhängig gemacht. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Das StasiUnterlagen-Gesetz schafft vor allem für die Opfer der Bespitzelung durch die Stasi Auskunfts-, Einsichts-
und Herausgabeansprüche.
Die Rechte der Betroffenen sind bewußt weit ausgelegt. Wir wissen, daß bei der Umsetzung dieser Regelung in der Praxis noch viele Schwierigkeiten zu überwinden sein werden. Nicht einfach wird es vor allem sein, eine ausreichende Zahl geeigneter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Zentralstelle und für die Außenstellen des Bundesbeauftragten zu finden.
Eine ganze Reihe der Antragsteller wird eine Zeitlang auf eine Auskunft warten müssen. Angesichts der Vielzahl der schon heute bei der Behörde Gauck vorliegenden Anträge auf Auskunft und der immensen Zahl von Bespitzelten wird dies selbst bei größten Anstrengungen nicht vermeidbar sein. Wer besonders unter den Machenschaften der Stasi zu leiden hatte, muß bevorzugt eine Auskunft erhalten. Vorrang müssen auch die Anfragen erhalten, ohne die der weitere Aufbau einer rechtsstaatlichen Justiz und Verwaltung nicht vorwärts geht.
Ich hoffe, daß diejenigen, die eine längere Wartezeit in Kauf nehmen müssen, Verständnis dafür haben werden, daß zwangsläufig Prioritäten gesetzt werden müssen.
Auf Grund der Auskunft über die bei der Stasi über sie gesammelten Informationen werden die Opfer die Einwirkung der Stasi auf ihr persönliches Schicksal aufklären können. Damit allein ist jedoch die Hinterlassenschaft der Stasi und des Unrechtsstaates nicht bewältigt. Ein wichtiger, wenn auch sehr schwieriger Punkt ist die Bestrafung der Täter. Das Gesetz stellt natürlich hierfür die Stasi-Unterlagen zur Verfügung.
Gerade bei der juristischen Aufarbeitung wird deutlich, wie wichtig es ist, daß die Unterlagen des Bundesbeauftragten so vollständig wie möglich sind. Zu der Pflicht zur Herausgabe an die Gauck-Behörde gab es deshalb keine Alternative. Hätten wir etwa hinnehmen sollen, daß ein Strafverfahren oder ein Rehabilitierungsverfahren möglicherweise nicht geführt werden kann, weil sich die Originalunterlagen in der Hand von Privatleuten oder der Medien befinden?
Die Täter müssen zur Verantwortung gezogen werden; die Opfer müssen wir schützen. — Dieser Grundgedanke zieht sich wie ein roter Faden durch das Gesetz. Mit den heute vorliegenden Änderungen wird diese Intention auch für die Verwendung von Unterlagen durch Presse, Rundfunk und Fernsehen klargestellt.
Die Aufklärung der Unrechtstaten des SED-Regimes ist allein mit den Stasi-Unterlagen nicht möglich. Vor allem die Akten der SED müssen deshalb zugänglich sein. Möglicherweise finden sich gerade dort die Informationen, die eine Bestrafung der Hauptverantwortlichen in der DDR ermöglichen. Die Unterlagen der SED müssen deshalb so schnell wie möglich öffentlicher Verwaltung unterstellt und zugänglich gemacht werden. Die Änderung des Bundesarchivgesetzes, die wir derzeit beraten, muß alle für die Bewältigung der DDR-Vergangenheit erforderlichen Unterlagen umfassen. Der bisherige Entwurf bezieht sich nur auf Unterlagen, soweit sie die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben betreffen. Nach der Begründung sollen individualbezogene Unterlagen ausgenommen sein. Damit die Täter dieses Regimes zur Verantwortung gezogen werden können und den Opfern Gerechtigkeit widerfahren kann, wäre zu überlegen, ob personenbezogene Unterlagen von Funktionären ab einer bestimmten Stufe ebenfalls an das Bundesarchiv abzugeben sind. Ergibt sich die Rolle bestimmter Funktionsträger im SED-Apparat nur aus solchen individualbezogenen Unterlagen, so sind auch diese als staatliche Unterlagen einzustufen.
Auf die Vorschriften, die die Nutzung der Unterlagen für die Überprüfung von Personen auf eine offizielle oder inoffizielle Tätigkeit bei der Stasi regeln, wurde vorhin schon ausführlich eingegangen.
Auf wenig Verständnis stießen die angeblichen Begehrlichkeiten der Nachrichtendienste. In diesem Zusammenhang wurde immer wieder darauf verwiesen, daß vor allem die Menschen in den neuen Bundesländern in diesem Punkt durch ihre schlechten Erfahrungen mit der Stasi besonders empfindlich seien. Aus diesem Grunde haben wir im Stasi-Unterlagen-Gesetz die Zugangsmöglichkeiten für den Verfassungsschutz und für die Nachrichtendienste so weit beschränkt, wie dies im Hinblick auf die innere Sicherheit gerade noch vertretbar ist.



Wolfgang Zeitlmann
Von Bedeutung sind die Stasi-Unterlagen im Aufgabenbereich unserer Nachrichtendienste für die Bereiche Spionage, Spionageabwehr, gewalttätiger Extremismus und Terrorismus.
Die Stasi hat eng mit anderen östlichen Nachrichtendiensten zusammengearbeitet. Die diesbezüglichen Unterlagen der Stasi sind deshalb auch heute noch für die Spionageabwehr eine wichtige Informationsquelle.
Aufgabe des Verfassungsschutzes ist es, unsere freiheitliche Ordnung vor ihren Feinden zu schützen. Während sich die Tätigkeit der Stasi gegen jede der SED unerwünschte Meinung gerichtet hat, gilt das Augenmerk des Verfassungsschutzes denjenigen, die angetreten sind, unsere freiheitlich-demokratische und rechtsstaatliche Ordnung zu beseitigen. Ich bin überzeugt, daß sich gerade die Menschen in den neuen Ländern dessen bewußt sind, welche Bedeutung Freiheit und Recht haben. Aus leidvoller Erfahrung wissen sie, welchen Stellenwert diese für uns so selbstverständlichen staatlichen Garantien hab en. Die Demokratie muß bereit sein, ihre Werte zu verteidigen. Einen Beitrag dazu leistet der Verfassungsschutz.
Unsere Nachrichtendienste werden nur auf der Grundlage gesetzlich zugewiesener Aufgaben und Befugnisse tätig und unterstehen parlamentarischer Kontrolle. Stasi und Verfassungsschutz gleichzusetzen ist deshalb ebenso absurd, wie es absurd wäre, die in der DDR durchgeführten Wahlen mit unseren Wahlen, die alte Volkskammer mit dem Deutschen Bundestag gleichzusetzen.
Der Entwurf des Stasi-Unterlagen-Gesetzes wurde von Anfang an in engem Kontakt mit der Bürgerbewegung erarbeitet. Ein großer Teil der Vorstellungen, die dabei deutlich wurden, hat Eingang in den jetzt vorliegenden Gesetzentwurf gefunden.
Ich wünsche mir, daß das Stasi-Unterlagen-Gesetz einen echten Beitrag zum inneren Frieden leisten wird. Die Strukturen und die Arbeitsweise der Stasi sind allerdings schwer durchschaubar. Deshalb ist nicht ausgeschlossen, daß sich im Vollzug des Gesetzes Mängel und Lücken ergeben werden, die nach unserem heutigen Kenntnisstand nicht vorhersehbar sind.
Die teilweise erhobene Forderung, einzelne Regelungen nochmals zu diskutieren, hätte aber nicht weitergeführt. Wir können die Menschen nicht länger warten lassen. Auch wird es gerade erst die Praxis sein, die möglicherweise Korrekturbedarf aufdecken wird. In diesem durchaus wahrscheinlichen Fall müssen einzelne Vorschriften des Gesetzes noch einmal geändert werden.
In diesem Zusammenhang denke ich an die Bedenken, die u. a. vom Rechtsausschuß bezüglich der „Endlagerung" der Justizakten kamen. Wir sind der Meinung, daß man dies in einigen Jahren neu überprüfen muß, wenn die Staatsanwaltschaften und die Gerichte in den fünf neuen Ländern entsprechende, ordnungsgemäße Strukturen aufweisen, damit es auch in dieser Frage zu einer einheitlichen Regelung in ganz Deutschland kommt. Wir waren aber der Meinung, daß man weitere Änderungen in der jetzigen
Situation nicht verantworten könnte. Ich wollte dies nur im Hinblick auf die Bedenken, die aus dem Rechtsausschuß kamen, ansprechen.
Meine Damen und Herren, herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205705100
Ich erteile dem Abgeordneten Burkhard Hirsch das Wort.

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1205705200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich sehe den Kollegen Lowack nicht mehr im Raum.

(Ortwin Lowack [fraktionslos]: Er ist trotzdem noch hier!)

— Wunderbar, verehrter Herr Kollege.
Ich möchte die wenigen Minuten Redezeit, die wir noch haben, darauf verwenden, Ihre Fragen zu beantworten, damit, wenn man das Protokoll liest, nicht der Eindruck entsteht, daß Ihre Bedenken berechtigt seien.
Zunächst einmal haben Sie nach der Herausgabepflicht gefragt. Die Herausgabepflicht, das würden Sie, wenn Sie nachschlügen, falls Sie die Unterlage zur Hand haben sollten in § 7 finden: Jede natürliche Person und jede sonstige nicht-öffentliche Stelle hat dem Bundesbeauftragten auf dessen Verlangen unverzüglich Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes herauszugeben, soweit diese nicht Eigentum der natürlichen Person oder der nicht-öffentlichen Stelle sind, einschließlich der davon gezogenen Kopien. Das heißt, diese Vorschrift wiederholt nur die Herausgabepflicht, die jeder Nichteigentümer dem Eigentümer gegenüber hat und geht nur in einem Punkt über das ohnehin allgemein geltende Recht hinaus, soweit sie sich nämlich auf selbstgezogene Kopien bezieht. Der Verstoß dagegen ist keine Straftat, sondern nur eine bußgeldbewehrte Ordnungswidrigkeit.
Zur Strafvorschrift in § 36. Wer von diesem Gesetz geschützte Originalunterlagen oder Duplikate von Originalunterlagen mit personenbezogenen Informationen über Betroffene oder Dritte, also Schnüffelopfer, ganz oder in wesentlichen Teilen im Wortlaut öffentlich mitteilt, wird mit Freiheitsstrafe bedroht. Dazu gehört nach allgemeinem Recht — das muß ich Ihnen als Jurist nicht erklären — die Rechtswidrigkeit der Veröffentlichung.
Dritte Bemerkung. § 2 a Abs. 2 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes sagt ausdrücklich: Jeder einzelne hat das Recht, die Informationen und Unterlagen, die er vom Bundesbeauftragten erhalten hat, im Rahmen der allgemeinen Gesetze zu verwenden. Da jedes Opfer das uneingeschränkte Recht hat, die Herausgabe seiner Akten zu verlangen, folgt daraus, daß jede herausgegebene Opferakte zu jeder denkbaren pressemäßigen Verwendung frei ist.
Vierte Bemerkung. Das Gesetz enthält keine Bestimmungen darüber, daß in irgendeiner Weise die Verwendung von Informationen, die einer Redaktion zugetragen werden, verboten sei. Selbstverständlich kann jede Redaktion jede ihr zugetragene Informa-



Dr. Burkhard Hirsch
tion über Täter oder Opfer im Rahmen der allgemeinen Pressegesetze verwenden.
Letzte Bemerkung. Die Verwendungsbeschränkungen, die in § 26 beschrieben sind, beziehen sich ausschließlich auf die Akten, die sich im Besitz der Sonderbehörde befinden, und regeln, wann diese Sonderbehörde Akten veröffentlichen darf, sei es einem Dritten gegenüber, einem zeitgeschichtlichen Forscher, einem Interessierten oder einer Redaktion gegenüber. Für diese Veröffentlichung stellt das Gesetz folgende Regeln auf:
Erstens. Soweit es sich um Akten handelt, die sich auf eine x-beliebige Person — Müller, Lehmann, Schulze — beziehen, werden lediglich die Namen gelöscht. Der Inhalt selbst bleibt unberührt.
Zweitens. Soweit es sich um Amts- oder Funktionsträger handelt, werden die Akten mit voller Namensnennung veröffentlicht, mit einer Einschränkung: Soweit die Amtsträger, Funktionsinhaber oder Personen der Zeitgeschichte selber Schnüffelopfer waren, selber bespitzelt worden sind oder sich in den Akten Einzelheiten über ihr Privatleben befinden, wird auch dieses Material anonymisiert, was ich für eine Selbstverständlichkeit halte.

(Dr. Willfried Penner [SPD]: Es sei denn, sie sind zugleich Begünstigte!)

— Es sei denn, sie sind zugleich Begünstigte, wurden also vom Staatssicherheitsdienst geschützt.
Letzte Bemerkung zu einer Frage, die vorhin Frau Köppe aufgeworfen hatte: Selbstverständlich hat jedes Opfer, also jeder Beschnüffelte, ohne jede Einschränkung ein Recht darauf, die Informationen seiner Akte zu bekommen und sie gebührenfrei einzusehen. Die verwaltungsmäßige Beschränkung, also die Abwägung mit dem bürokratischen Aufwand, bezieht sich nur auf sogenannte Dritte, also auf Personen, über die sozusagen im Beihau Informationen entstanden sind, für die nicht eine gesonderte Opferakte besteht. Ich bitte also wirklich, diese Dinge zu unterscheiden. Sie ergeben sich klar aus dem Gesetzestext. Ich wäre wirklich dankbar, wenn jeder Kritiker sich nicht nur die Mühe machen würde, zu sagen, an welchen Paragraphen, an welchen Vorschriften er Anstoß nimmt, sondern auch die Mühe, dieselben vorher auch zu lesen.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205705300
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Lowack das Wort.

Ortwin Lowack (CSU):
Rede ID: ID1205705400
Lieber Kollege Dr. Hirsch, ich bin gerne bereit, mit Ihnen anschließend noch ein kleines Rechtsgespräch zu führen.

(Dr. Willfried Penner [SPD]: Aber Sie sind nicht fähig dazu!)

— Ich bin nun auch gelernter Jurist und in der alten bayrischen Rechtstradition groß geworden, auch noch Mitglied im Bayrischen Richterverein — wenn das eine besondere Auszeichnung sein sollte. — Ich bin gerne bereit, mit Ihnen darüber zu diskutieren. Ich
möchte Ihnen nur zur Kenntnis bringen, daß ich den ursprünglichen Gesetzentwurf kenne wie den in der Fassung des 4. Ausschusses, und daß ich mich auch bemüht habe, trotz der Verwirrung in den letzten Tagen noch die letztgültigen Formulierungen und Vorschläge zu bekommen. Es ist hervorragend, daß Sie die Klarstellung vorgenommen haben; ich bin Ihnen dankbar. Ich bin sogar der Auffassung, daß es ein echter Fortschritt ist, daß das dadurch dokumentiert wurde, daß es jetzt im Bundestagsprotokoll steht.
Nur, die grundsätzliche Frage ist, daß die Veröffentlichung eben doch strafbar ist. Sie sagen, sie kann gerechtfertigt sein. Natürlich; dann müssen wir uns darüber unterhalten, wann eine Rechtfertigung vorliegt, es sei denn, Sie wollen es der Praxis hinterher überlassen, wie sie das Problem löst. Ich weise nur auf die Lücke hin und auf das Problem; dann kann man darüber sprechen. Deswegen habe ich, ohne zum Gesetz im übrigen nein zu sagen, zu den beiden Vorschriften in den §§ 36 und 37 gesprochen. Ich habe mich bemüht, in der mir zustehenden leider nur sehr kurzen Redezeit die Punkte herauszugreifen, die mir besonders problematisch erschienen sind.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205705500
Herr Abgeordneter Lowack, erlauben Sie dem Präsidenten, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß die zur Abstimmung stehenden Gesetze und Vorlagen links und rechts beim Eingang ausliegen. Sie können sich dort jederzeit bedienen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Nur, nicht jeder, der liest, versteht auch schon!)

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Marx.

Dorle Marx (SPD):
Rede ID: ID1205705600
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Als in München gebürtige Juristin möchte ich hier doch kurz voranstellen, daß auch ich die Rechtsansichten des Kollegen Lowack nicht teile.
Das Stasi-Unterlagen-Gesetz ist ein Experiment. Wir räumen den Bürgerinnen und Bürgern eine aktive Rolle bei der Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit ein. Das uneingeschränkte Recht der Opfer auf Einsicht in die zu ihnen vorliegenden Unterlagen ist ein Novum.
Der Kollege Büttner hat in der Presse noch einmal darauf hingewiesen, daß viele Opfer auf die Gelegenheit warten, ihren Freundeskreis neu zu ordnen. Ich glaube, dieser Satz macht den Schwerpunkt deutlich, über den wir hier heute reden.
Der Repressionsstaat DDR tritt in den Akten nicht anonym in Erscheinung. Oft haben Freunde und nächste Verwandte — warum auch immer — in Form einer umfassenden Bespitzelung Informationen über die Opfer zugetragen.
Wir verzichten — auch dies wurde schon von vielen Kollegen erwähnt — auf eine staatliche Vormundschaft bei dieser persönlichen Vergangenheitsbewältigung. Aber wir werden Hilfen anbieten. Auf einen umfassenden Schutz der Opferdaten können und wollen wir nicht verzichten.
Die Stasi-Bespitzelungsberichte wären — das wird oft vergessen — , hätte sie ein westdeutscher Dienst

Dorle Marx
oder eine westdeutsche Strafverfolgungsbehörde gesammelt, von Amts wegen zu vernichten. Die Volkskammer der DDR hat im Fall der Stasi-Akten im Interesse der historischen und politischen Aufarbeitung die Entscheidung zur Aufbewahrung getroffen. Dies gibt den Opfern nun endlich die Chance zur Einsicht, bringt aber auch die Gefahr des Mißbrauchs dieser Akten mit sich. Die ausnahmsweise Aufbewahrung dieser Daten verpflichtet daher zu ihrem besonderen Schutz. Die Sensibilität der Daten erfordert auch zwingend ihre Zusammenführung.
Bei der ersten Lesung des gemeinsamen Gesetzentwurfs, wurde mir für den Satz, daß jede Akte, die bei staatlichen Stellen verbleibe, für die Aufarbeitung der Betroffenen nicht zur Verfügung stehe, Zustimmung zuteil. Dieser Satz gilt aber auch für die Pretiosen, die die Medien erworben haben.
Unser Gesetzentwurf ist in der ,Öffentlichkeit breit diskutiert worden. Die Opferschutzbestimmungen haben die Presse zum Vorwurf verleitet, wir wollten verschleiern. Die Möglichkeit der Gauck-Behörde, künftig auch über Betriebsräte oder etwa über Kirchenvorstände Auskunft zu erteilen, hat uns andererseits den Vorwurf eingebracht, wir leisteten der Gesinnungsschnüffelei Vorschub. Beides ist falsch, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Die Täter, die sich bisher versteckt halten, haben Angst vor diesem Gesetz. Auch das muß hier einmal erwähnt werden. Wir haben als Abgeordnete von Stasi-Mitarbeitern — teilweise anonym — Post erhalten, die durch ihre Enttarnung besondere persönliche Nachteile und zum Teil auch Gewaltakte fürchten. Die Angst der Täter scheint mir doch auch Ausweis genug dafür zu sein, daß wir hier tatsächlich ein taugliches Mittel für die individuelle Aufarbeitung wählen, um endlich mit dieser beginnen zu können.
Jeder ,,Ossi", der sich um ein öffentliches Amt oder Mandat bewirbt, muß sich derzeit die Frage gefallen lassen, ob denn nicht vielleicht auch er ein Diener der Stasi gewesen sei. Die Verengung auf die „Ossis" verwundert mich übrigens; sie ist sicherlich nicht immer gerechtfertigt.
In der Sache selbst schaffen wir mit dem Auskunftsrecht der Gauck-Behörde keine Regelanfrage, wie befürchtet, sondern gerade auch eine Möglichkeit der Verdächtigten, sich gegenüber dem Vorwurf einer Stasi-Mitarbeit zu entlasten. Diese Möglichkeit bestand bisher in weiten Bereichen überhaupt nicht. Trotzdem sollten wir nicht verdrängen, daß die Aufdeckung bisher verleugneter Stasi-Tätigkeit auch zu unberechtigter Ausgrenzung führen mag. Ich hoffe, daß sich die ökonomische Lage in absehbarer Zeit so verbessert, daß sie es erlaubt, daß der Demonstrationsslogan aus der Wendezeit „Stasi in die Produktion" wiederbelebt werden kann und daß auch diesen vielen Menschen dann einstmals Resozialisierungschancen eröffnet werden können.
Die wichtige und richtige Aufgabe der historischen Aufarbeitung ruft neben den direkt Betroffenen eine große Zahl interessierter Zaungäste auf den Plan. Diese Zaungäste, von denen heute schon mehrfach die Rede war, müssen sich, soweit sie den Zugang zu den Opferakten fordern, die Prüfung und Eingrenzung ihrer möglichen Einsichtnahme gefallen lassen. Helfer bei der politischen und historischen Aufarbeitung sind nötig und erwünscht. Voyeure wollen und müssen wir ausschließen. Die Gauck-Behörde ist kein Stasi-Disneyland.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Niemand verkennt den unverzichtbaren Beitrag der Medien bei der Aufarbeitung. Aber auch hier hat der Opferschutz Grenzen zu setzen. Die Bespitzelungsberichte ich sagte es bereits — sind Akten, die es in diesem Staat in anderen Bereichen nirgendwo geben dürfte. Im Aufarbeitungsinteresse wurde auf die Löschung verzichtet. Warum, liebe Kolleginnen und Kollegen, und warum, meine Damen und Herren von der Presse, soll die Presse daher nicht verpflichtet sein, ihren Beistand bei der Aufarbeitung von der Zustimmung der Opfer abhängig zu machen?

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Ja, sehr wahr!)

Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß heute über den Ticker von Associated Press eine Meldung gekommen ist, nach der der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Herr Einwag, erklärt hat, daß nach der nun für die Presse vorgesehenen Regelung die Daten von Opfern in der Zukunft strafrechtlich geringer geschützt würden als jede andere personenbezogene Information nach dem Bundesdatenschutzgesetz. Ich meine, wir sollten dann bei einer Novellierung doch möglicherweise eher darüber nachdenken, ob wir hier nicht sogar über die Schmerzgrenze hinausgegangen sind, anstatt uns über angeblich bestehende Täterbegünstigung hier noch weiter zu streiten.
Die zahlreichen Begehrlichkeiten Dritter in bezug auf den Zugang auch im Bereich der Opferakten läßt mich zunehmend daran zweifeln, ob wir wirklich das Recht dazu haben, an Stelle der Opfer die an und für sich gebotene Löschung auszusetzen. Wenn Mißbrauchsmöglichkeiten nicht ausgeschlossen werden können, haben wir, meine ich, eigentlich kein Recht, den Löschungsanspruch des Opfers durch Parlamentsbeschlüsse bis 1997 aufzuschieben.

(Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich meine, daß schon jetzt ein Recht der Opfer bestehen müßte, die Löschung ihrer Daten zu verlangen. Der Hinweis, die Betroffen würden sich eventuell im Hinblick auf künftige Rehabilitierungs- oder Entschädigungsansprüche mit einer Löschung Schaden zufügen, überzeugt mich nicht. Manch einer wird gern auf eine künftige materielle Wiedergutmachung verzichten, um den Mißbrauch seiner Akte auszuschließen. Auch der zweite Einwand, die Erschließung sei noch nicht so weit fortgeschritten, daß jedem Löschungsbegehren stattgegeben werden könnte, ist keine hinreichende Rechtfertigung dafür, die Löschung dort, wo sie schon jetzt möglich wäre, weiter aufzuschieben. Da es den Gerichten aber sicherlich möglich sein wird, hier zu korrigieren, stimme ich dem gemeinsamen Gesetzentwurf trotz meiner Bedenken heute zu und bitte Sie, dies ebenfalls zu tun, damit die Aufarbeitung



Dorle Marx
durch die Opfer nun endlich und zeitnah beginnen kann.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Gerd Poppe [Bündnis 90/GRÜNE])


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205705700
Nunmehr hat die Abgeordnete Frau Brudlewsky das Wort.

Monika Brudlewsky (CDU):
Rede ID: ID1205705800
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Für uns ehemalige DDR-Bürger ist es wie ein Schlag ins Gesicht, wenn der nette Herr Wolf am Kaminfeuer über seine Aktivitäten berichten kann, die so schlimm doch gar nicht gewesen seien. Zwischendurch zeigen große Zeitungen hübsche Bildchen: Herr Wolf als liebender Vater usw. Es gab Leute bei uns, die diese Zeitungen spontan zerrissen haben. Oder der arme, bedauernswerte Herr Honecker, der alte, kranke Mann, kann lustig seine alten Parolen über die Bildschirme verbreiten. Oder seine edle Gattin Margot, die die verbogenen Rückgrate und Seelen unserer Kinder mit auf dem Gewissen hat; sie, die die Mauer pries, beschwert sich, daß man sie nicht frei reisen lassen wolle; und es gibt wahrhaftig Leute, die diese Parolen glauben.

(Die Saalbeleuchtung fällt aus — Zurufe von der SPD: Bei Honecker geht das Licht aus! — Stasi raus aus dem Bundestag! — Zuruf von der FDP: Da sehen Sie mal, welche Macht der Herr Honecker heute noch hat! — Zuruf von der CDU/CSU: Herr Präsident! Sorgen Sie mal für Licht!)

— Genau.
Die Fernsehanstalten, die dies sendeten — dies sei hier gesagt — , tragen zum Unfrieden der Nation bei, wenn sie diese verlogenen Leute, die mit ihren Memoiren noch dazu viel Geld verdienen, zu sich einladen. Ist das Absicht? So dumm kann man doch nicht sein, diese verheerenden Folgen in den Herzen unserer Menschen nicht zu erahnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich fordere die Medien aus diesem Grunde einmal auf: Laden Sie statt dessen Leute ein, die wirklich etwas zu erzählen haben; Leute, die in Bautzen saßen oder auf der Rummelsburg; Leute, die heute Wracks sind, die ihre Angst nicht mehr loswerden, die nachts schreiend aufwachen; Leute, die die Tortur einer Ausreise hinter sich haben. Ich habe einige solcher sogenannter Ausreisewilliger begleitet, d. h. ich habe geholfen, Briefe an die amtlichen Stellen zu schreiben. Ich habe z. B. die Kisten und die persönlichen Dinge zur Aufbewahrung in der Wohnung gehabt, die später begutachtet und nachgeschickt wurden. Das war sehr, sehr schlimm. Ich habe mit diesen Leute nächtelang zusammengesessen, ihnen zugehört und Mut gemacht, durchzuhalten. Es handelte sich in allen Fällen um Familienzusammenführung. Monate und Jahre hat es gedauert, bis sie ausreisen durften. Wir im Ort kennen die Stasi-Leute, die die Gespräche mit diesen Menschen führten, mit diesen Menschen, die oft am Ende ihrer Kraft waren, die oft schon reif für die Psychiatrie waren.
Die Verantwortlichen in den Kreisen oder Städten waren im Republikmaßstab zwar klein, aber groß in ihrem Bereich. Sie hatten die Macht in den Städten und Kreisen. Mit welchem Sadismus diese kleinen Könige in dem jeweiligen Rat des Kreises z. B. gerade die Ausreisewilligen behandelten und schikanierten, spottet jeder Beschreibung. Sind das wirklich nur die kleinen Leute? Nein, denn diese Herren und Damen in Städten und Kreisen und Bezirken hatten zu DDR-Zeiten dort Hauptverantwortung. Sie hatten die Macht verliehen bekommen von der allmächtigen Arbeiterpartei, wie sie sich leider nannte.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Verstehen Sie doch bitte unsere Menschen, die jetzt frustriert auf dieses Gesetz warten! Wer kann denn Interesse haben, daß es noch hinausgezögert wird? Sind es entweder noch unentdeckte Täter, oder sind es Geschäftemacher, die gern weiter unbehelligt mit gestohlenen und eventuell frisierten Akten großes Geld machen wollen? Unsere Menschen wollen durchgängig keine Rache; glauben Sie mir! Dann wären unsere Leute bei der Wende nicht mit der Kerze, sondern gleich mit dem Messer in der Hand auf die Straße gegangen. Unsere Leute wollen keine Abrechnung, Frau Jelpke, sie wollen Gerechtigkeit. Sie werden auch nach diesem Gesetz friedlich bleiben. Ich vertraue darauf. Unsere Menschen wollen Honecker und Wolf z. B. nicht auf dem Sofa in der Talk-Show, sondern auf der Anklagebank vor Gericht sehen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und der SPD)

Aber auch die kleinen Könige, die ich vorhin erwähnte, in den Städten und Kreisen sollen nicht weiter auf Thronen sitzen, die ihnen nicht zustehen. Unsere Menschen wollen auch den zweiten Sekretär der SED-Kreisleitung nicht als Betriebsdirektor und den Mitarbeiter der Abteilung Inneres im Kreis nicht auf dem Arbeitsamt wiedertreffen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Sie wollen die Inoffiziellen Mitarbeiter, die man zum größten Teil schon kennt, nicht mit der Waffe in der Hand als Jagdgenossen wiedertreffen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Besonders hier schwingt bei unseren Menschen große Angst mit. Bei der Wende riefen wir damals: Stasi in die Volkswirtschaft! Ich erinnere mich noch gut an die Demonstrationen. Wir waren begeistert. Aber wir meinten damit nicht: Stasi in die Chefetagen, in die öffentlichen Ämter oder in die Parlamente. Nein, wir meinten: Arbeitet einmal, für wenig Geld, wie wir, die Kleinen, es ein Leben lang taten. Wir meinten doch nicht die Putzfrau, den Hausmeister, den Kraftfahrer. Wir meinten die, die Schreibtischtäter waren, auch die kleinen Könige im Kreis.
Übrigens, einmal muß es auch von dieser Stelle gesagt werden: Bürgerbewegungen werden nicht nur vom Bündnis 90 vertreten. Viele unorganisierte Menschen gehören dazu. Viele andere haben mit mir z. B.



Monika Brudlewsky
an der Basis der CDU und vieler kleiner Parteien auch für die Anerkennung des Neuen Forums gestritten.

(Zuruf des Abg. Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste])

— Auch mit der Ost-CDU, natürlich. Das können Sie natürlich nicht wissen, weil Sie in Holland lebten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Primitiver gehts nicht!)

— Auch Ihr Zwischenruf war primitiv.
Es ist unerträglich, daß nie erwähnt wird, daß Bürgerbewegungen eigentlich parteiübergreifend sind, bis auf die alten SED-Genossen natürlich. Frau Köppe
— sie bereitet wohl gerade die Demo mit der PDS vor —, ich erkenne Ihre Arbeit hoch an. Ich hoffe, man übermittelt Ihnen das.

(Zuruf von der CDU/CSU)

— Ja, eine Demo wird gerade vorbereitet, gemeinsam mit der PDS.

(Zuruf von der SPD: Das ist doch wohl unglaublich!)

Ich erkenne Ihre Arbeit hoch an, Frau Köppe. Aber Sie sind nicht die Retterin der Nation. Auch Sie waren auf das Volk angewiesen, auf viele Unbekannte, die jetzt wieder in die Unbekanntheit zurückgetreten sind. Sie alle wollten den Sturz der Regierung. Vergessen Sie das nicht! Das mußte einfach einmal hier gesagt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Jetzt, wo es brenzlich wird und das Gesetz bald in Kraft tritt, gestehen überall ehemalige Inoffizielle Mitarbeiter, die eventuell bald enttarnt werden, ihre ganz, ganz kleine, unschuldige Rolle in dem Netz. Keiner hat wirklich mitgemacht. Niemand war schuld. Münchhausen war ein Waisenknabe gegen alle diese unschuldigen Opfer in der SED-Verantwortung. Also ehrlich: Wer soll glauben, daß das ZK alles allein getan hat? 6 Millionen Aktenbündel — —

(Dr. Ulrich Janzen [SPD]: Was haben Sie in der Stadtverordnetenversammlung in Oschersleben gemacht? — Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Was haben Sie bei der Ost-CDU gemacht? Da haben Sie mitgemacht!)

— Das erzähle ich Ihnen.

(Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Sie haben mitgemacht! Bei der Ost-CDU!)

— Ja, bei der Ost-CDU, von 1973 bis 1979. Ich habe mitgemacht,

(Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Sie haben mal mitgemacht!)

indem ich da schon die Wahrheit gesagt habe. Dann hat man mich hinausgeschmissen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und der SPD — Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Sie haben mitgemacht! Richtig schön mitgemacht!)

— Ich habe mitgemacht und habe dann erkannt, daß wir nur von der SED abhängig waren.

(Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Das glaube ich Ihnen nicht! — Weitere Zurufe des Abg. Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste])


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205705900
Herr Kollege Briefs, Sie haben nicht das Wort.

(Zuruf von der FDP: Dieser Beckmesser!)


Monika Brudlewsky (CDU):
Rede ID: ID1205706000
Ich weiß, was ich getan habe, und ich stehe dazu. Man weiß genau
— man hört mich ja über den Fernseher —

(Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Sie gehören zu den Tätern!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205706100
Herr Abgeordneter Briefs!

Monika Brudlewsky (CDU):
Rede ID: ID1205706200
Man weiß genau, daß ich zu meinem Wort stand. Wer mich in Oschersleben kennt — in diesem Ort bin ich seit 24 Jahren verheiratet —, weiß, daß ich offen und ehrlich meinen Weg gegangen bin. Dort kennt man mich. Sie haben keine Ahnung.

(Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Sie haben mal wieder die Kurve bekommen!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205706300
Herr Kollege Briefs, ich lasse Sie rausschmeißen, wenn Sie so weitermachen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD — Johannes Gerster [Mainz] [CDU/ CSU]: Das wäre jedenfalls kein Verlust!)

Frau Abgeordnete, der Abgeordnete Penner möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Willfried Penner (SPD):
Rede ID: ID1205706400
Herr Kollege Briefs, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß es sich bei der Kollegin um eine direkt gewählte Abgeordnete handelt, und zwar in dem Bereich, aus dem sie kommt?

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205706500
Herr Abgeordneter Penner, ich würde nicht geschäftsordnungsmäßig verfahren, wenn ich jetzt nicht den Hinweis auf Dreiecksbemerkungen machte.

(Dr. Willfried Penner [SPD]: Er trifft auf tiefes Verständnis! — Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Herr Kollege Penner wußte das! Um so mehr Respekt haben wir!)

— Danke schön.
Frau Abgeordnete, Sie können fortfahren.

Monika Brudlewsky (CDU):
Rede ID: ID1205706600
Ich danke.
Ich möchte noch ergänzen, damit nicht gesagt wird, es sei die Unwahrheit: Ich bin nachher selber aus diesem Parlament zurückgetreten, weil ich einfach gemerkt habe, daß man dort nicht mitarbeiten kann. Ich habe damit dem Rausschmiß vorgebeugt.
Uns wären ohne dieses Gesetz weiterhin die Hände gebunden, um in den Chefetagen und Arbeitsämtern,



Monika Brudlewsky
in den Finanzämtern und in den Schulen wirklich aufzuräumen. Unsere Arbeitslosen, die oft gegen diesen Staat angingen und die Wende mit durchtrugen, verstehen die Welt nicht mehr, wenn der Stasi-Mann oder die -Frau den meist guten Posten behält und sie zu Tausenden gehen müssen.
Es ist auch nur eine halbe Erkenntnis, zu behaupten, das Gewaltpotential würde steigen, wenn diese ehemaligen Stasi-Leute ihre Positionen nicht behielten, wenn sie denn dank des Gesetzes entdeckt würden. Warum soll man sie nicht wenigstens aus den ersten Reihen herausnehmen, wo sie wirklich nicht hingehören? Es ist viel schlimmer, diese Leute, die uns bekannt sind, in den Chefetagen sitzen zu lassen, in den Arbeitsämtern und Aufsichtsräten. Da können sie uns sehr gefährlich werden mit weiteren Intrigen und eigener Personalpolitik. Ihre alten Waffen haben diese Burschen sowieso noch.
Was die Arbeiter und Angestellten empfinden, läßt mich als Volksvertreter nicht kalt. So kämpfe ich weiter gegen diese weitverbreitete Einstellung, man müsse diese Leute in ihren Posten lassen. Das StasiUnterlagen-Gesetz könnte helfen, den frustrierten Arbeiter oder Arbeitslosen Gerechtigkeit spüren zu lassen. Wir haben im Innenausschuß und im Unterausschuß nicht wochenlang beraten, um diesen Gesetzentwurf jetzt in den Papierkorb zu werfen. Das Gesetz ist eine Möglichkeit, in diesem Sumpf mit den Aufräumarbeiten anzufangen.
Jedes Gesetz hat Mängel. Verzögern wir es dennoch nicht noch mehr! Laßt uns beginnen, damit sich die Unruhe im Land legt! So können wir auch über die Gerechtigkeit, aber eben nur über die Gerechtigkeit, zur Vergangenheitsbewältigung und zum Verzeihen übergehen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205706700
Und nun spricht die Abgeordnete Frau Schröter.

Gisela Schröter (SPD):
Rede ID: ID1205706800
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Heute stellen wir im Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf zur Beratung, den Regierungskoalition und SPD gemeinsam einbringen. Gerade für uns neue Abgeordnete ist das eine sehr wertvolle Erfahrung, die das Verständnis für das Funktionieren parlamentarischer Demokratie schärft. Die Arbeit im Ausschuß war im Gegensatz zu dem Eindruck, der in der Öffentlichkeit über parlamentarische Auseinandersetzung vorherrscht, weder polemisch noch von parteipolitischen Gegensätzen geprägt, sondern sachlich, effektiv und von gegenseitigem Verständnis bestimmt.
Die sensible Frage, wie die Unterlagen der Staatssicherheit der ehemaligen DDR zu behandeln seien, wie man mit dem vielfältig dokumentierten Unrecht umgeht, mit Akten, die es gar nicht geben dürfte, hätte eine hemdsärmelige Auseinandersetzung auch nicht vertragen.
In den Beratungen war ja auch zu berücksichtigen, daß ein Gesetzentwurf erarbeitet werden sollte, an
den der hohe Anspruch gestellt wird, nicht nur Rechtsgrundlage für den Umgang mit einem Teil der deutschen Vergangenheit zu sein, sondern auch Grundlage für das Wiederherstellen einer gerechten Ordnung. Der Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit ist zwar schmal, erscheint aber einer Öffentlichkeit, die jahrzehntelang nach Gerechtigkeit gehungert hat, schier unüberbrückbar. Auch für uns Abgeordnete aus den neuen Ländern war es nicht immer ganz leicht, uns im Grenzbereich der moralischen Forderung nach Gerechtigkeit und des Rechtsstaatsverständnisses, das in den alten Ländern seit 40 Jahren eingeübt worden ist, ohne Gleichgewichtsstörungen zu bewegen. Für das Verständnis und die Unterstützung, die uns unsere westdeutschen Kollegen in der Fraktion, im Stasi-Unterausschuß und im Innenausschuß entgegenbrachten, bin ich ganz besonders dankbar.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Das Gesetz, das wir einbringen, sieht trotz mitunter anderslautender Aussagen entscheidende Verbesserungen gegenüber den ursprünglichen Entwürfen vor. Sicher hat es bereits in der demokratisch gewählten Volkskammer der DDR einen Versuch gegeben, das Unrecht der Vergangenheit aufzuarbeiten. Dieses Gesetz erwies sich aber — vielleicht lag es an der Kürze der Zeit; das Ende der DDR ließ sich ja schon absehen — in unserem Rechtsstaat als unzureichend, und zwar schon im Bereich der Definition der Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes. Ich will das an zwei Beispielen deutlich machen.
Das Volkskammergesetz bezog sich ausschließlich auf Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit und auf Unterlagen, die von den Mitarbeitern dieser unrühmlichen Behörde erstellt und verwaltet wurden. Mitarbeiter und Unterlagen z. B. der SED-Kreisleitungen und der Sonderkommission der Volkspolizei, der berüchtigten K 1, kamen im Gesetz nicht vor, hatten also in der Definition mit der Staatssicherheit nichts zu tun.
Diese Definition wurde deshalb entscheidend erweitert. Mitarbeiter der Staatssicherheit ist laut Definition unseres gemeinsamen Gesetzentwurfs — das steht in § 4 Abs. 2 — jeder, der die rechtliche und faktische Weisungsbefugnis gegenüber der Staatssicherheit hatte. Damit hat sich der Kreis der Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes entscheidend vergrößert. Endlich sind auch die uns im Osten wohlbekannten und gefürchteten SED-Größen wie die Ersten Sekretäre der Bezirks- und Kreisleitungen als Mitarbeiter des MfS definiert;

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

denn sie hatten die faktische Weisungsbefugnis gegenüber der Stasi, auch wenn sie in keiner Personalliste des Ministeriums für Staatssicherheit auftauchen.
Viele im Osten kennen die wunderbare Verwandlung der Kreisleitungen der SED in unbescholtene Bürger, die von nichts gewußt und schon gar nie etwas veranlaßt haben. Bis jetzt konnte man sie aus ihrer Deckung und Tarnung nicht aufstören. Das neue Ge-



Gisela Schröter
setz gibt uns die Handhabe, endlich auch die Schuldigen dieser Ebene zur Verantwortung zu ziehen.
Ohne das Problem jetzt an einer Person festmachen zu wollen, fällt mir hierzu der Fall Modrow ein. Als Erster Bezirkssekretär war er praktisch geborenes Mitglied der Staatssicherheit, da er faktisch weisungsbefugt war. Ich hoffe, daß er sich einer Überprüfung nicht wird entziehen können.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der PDS/Linke Liste)

Die Beispiele aus unseren Wahlkreisen, aus unserer Erinnerung, aus den Schilderungen unserer Bekannten fallen uns zwanglos ein. Damit wir uns richtig verstehen, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Ich rede hier nicht dem Denunziantentum und einer Hexenjagd das Wort. Es erscheint mir aber außerordentlich wichtig, um das Zusammenwachsen unserer beiden Landesteile zu fördern und das Verständnis für das Funktionieren totalitärer Regime zu stärken, die Verflechtung zwischen der allmächtigen SED und ihrem allgegenwärtigen Überwachungsapparat möglichst lückenlos aufzuarbeiten.
Was für die SED-Stasi-Connection gilt, gilt ebenso für die Verbindungen zwischen K 1 und Sicherheitsdiensten. Wer ausreisewillige Freunde oder Verwandte hatte, vielleicht gar selbst einen Ausreiseantrag gestellt hatte oder sonst als politisch unzuverlässig galt, wurde ja nicht von Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes verhaftet, verhört und Repressalien ausgesetzt; den Erfüllungsgehilfen in diesen Dingen spielte das Sonderdezernat K 1 der Volkspolizei. Auch die Mitarbeiter dieser Polizeiabteilung sind bisher durch die Maschen des Gesetzes geschlüpft. Sie waren als Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes nicht erkennbar und damit nicht belastet. Die neue Definition in § 4 unseres Gesetzentwurfs wird auch diesen Herrschaften die Tarnkappe von den Köpfen nehmen und ihre Unterlagen einer Untersuchung zugänglich machen.
Vielleicht empfinden manche westdeutschen Bürger unser Insistieren auf Entlarvung und Zur-Verantwortung-Ziehen der Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes als kleinlich und rachsüchtig. Ich möchte Ihnen ein Beispiel aus meiner persönlichen Erfahrung schildern, das mir außerordentlich nahegegangen ist und mich heute noch bewegt.
1970 wurde ein Freund meines Bruders, den auch ich sehr gut kannte, wegen staatsfeindlicher Tätigkeit zu sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Die staatsfeindlichen Tätigkeiten bestanden in der Hauptsache darin, daß er Mitschnitte eines Auftritts von Wolf Biermann an Bekannte weitergeben hatte und außerdem schon dadurch verdächtig war, daß er selbst Gedichte geschrieben hatte. Er kam, nachdem er die letzten elf Monate in Einzelhaft verbracht hatte, im Oktober 1974 im Rahmen einer Amnestie frei. Viele von uns wissen heute, daß die Freiheit mit einer erzwungenen Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst erkauft worden sein muß. Im Januar 1975 nahm er sich das Leben, nachdem er in einem Abschiedsbrief an meinen Bruder geschildert hatte, daß er dem Druck nicht gewachsen sei.
Die Leute, die meinen Bruder abholten, verhörten und den Brief beschlagnahmten, waren keine Mitarbeiter des MfS, es waren Angehörige des K 1. Die MfS-Leute waren zwar im Hintergrund zugegen, traten aber nach außen nicht in Erscheinung. Waren diese Leute keine Mitarbeiter der Staatssicherheit? —Unser Gesetzentwurf sieht sie eindeutig als Mitarbeiter per Definition, und ich begrüße das.
Auf der anderen Seite frage ich mich natürlich: Wäre unser Freund aus härterem Holz geschnitzt gewesen, was wäre aus ihm geworden? Er fiele unter mehrere Definitionen unseres Gesetzentwurfes. Er wäre sowohl Mitarbeiter der Staatssicherheit als auch Betroffener und Opfer gewesen. Selbst bei vorsichtiger Einschätzung gehe ich davon aus, daß etliche solcher Schicksale landauf und landab zu finden sind.
Was soll man von dem Fall eines anderen Bekannten meiner Familie halten, der wegen versuchter Republikflucht mit 16 Jahren verurteilt wurde und nach seiner Freilassung fröhlich Berichte für die Stasi schrieb? Dank seiner jugendlichen Unbekümmertheit, mit der er uns auch berichtete, daß er über uns nur Gutes zu erzählen hätte, litt er wohl weniger unter der Belastung, zum Spitzel gemacht worden zu sein. Heute würde seine Tätigkeit nach unserer Definition wohl als Jugendsünde abgetan; denn er war noch unter 18 Jahren.
Die Verabschiedung dieses Gesetzes ist meiner Meinung nach einer der wichtigsten Schritte zur Bewältigung unserer Vergangenheit und zum Zusammenwachsen beider Teile unserer vereinten Bundesrepublik. Nicht nur die Ostdeutschen, die übergangslos aus einer Diktatur in eine andere gerutscht sind, müssen die tiefsitzenden Ängste und Persönlichkeitsveränderungen erkennen und damit den ersten Schritt zu ihrer Überwindung tun. Auch die Westdeutschen müssen die Möglichkeit haben, gedanklich nachzuvollziehen, wie ein totalitäres System Personen und eine ganze Gesellschaft verändern, geradezu verkrüppeln kann. Unser Gesetz kann zu diesem Bewußtseinsprozeß beitragen, indem es Verstrickungen und Verflechtungen transparent macht und indem es zu Abschreckungszwecken aufdeckt, wie eine Diktatur funktioniert.
Sie sehen, dieser Gesetzentwurf ist mit vielen Hoffnungen befrachtet. Wir haben uns die Beratungen nicht leichtgemacht und glauben, daß er wenigstens einem Teil der Erwartungen, die in ihn gesetzt werden, gerecht werden kann.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205706900
Das Wort hat der Abgeordnete Rainer Eppelmann.

Rainer Eppelmann (CDU):
Rede ID: ID1205707000
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Endlich liegt es auf dem Tisch, das Gesetz zum Schutz des ausgeschnüffelten Lebens.
Es ist für mich ein gutes Zeichen, daß die übergroße Mehrheit dieses Hauses an diesem Gesetzestext aktiv mitgearbeitet hat und dieses Gesetz heute gemeinsam verabschieden wird. Es schmerzt mich, daß zumindest



Rainer Eppelmann
ein Teil der Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/GRÜNE gemeinsam mit SED/PDS und Linker Liste die Zustimmung verweigern wird. Ich hätte gut hören können, wenn Gerd Poppe aus Unkenntnis der Biographie von Frau Brudlewsky die Fragen an sie gestellt hätte, die vorhin gestellt worden sind. Es war für mich unerträglich, sie aus der Ecke da links zu hören.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Endlich liegt eine gesetzliche Regelung auf dem Tisch, die es den ausgeschnüffelten Opfern ermöglicht, Informationen über Schnüffler und Spione zu erhalten.
Endlich hat der einzelne Bürger die Möglichkeit, abklären zu lassen, ob es auch über ihn Eintragungen in den Akten der Staatssicherheit gibt und was die Stasi über ihn gesammelt hat.
Aber endlich wird mit dieser gesetzlichen Regelung auch die Möglichkeit geschaffen, den Mißbrauch, den Diebstahl und den Verkauf solcher Akten und die Bereicherung durch sie unter Strafe zu stellen.
Ich achte die große Leistung von Journalisten als einem helfenden und aufklärenden Regulativ in unserer Gesellschaft, und zwar nicht nur in diesem Zusammenhang. Ich habe aber im eigenen Leben schmerzhaft erfahren müssen, daß Journalisten nicht immer nur ehrenvoll, verantwortungsvoll, sensibel und vorsichtig mit dem tatsächlichen oder vermuteten Wissen über andere Menschen umgegangen sind.

(Gerlinde Hämmerle [SPD]: Leider die Wahrheit!)

— So ist es.
Ich bin froh darüber, daß es nichr mehr nur in das Ermessen eines Journalisten oder eines Zeitungsverlegers gestellt ist, ob die Information, X, Y oder Z sei eventuell Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit gewesen, auf der ersten Seite einer großen Tageszeitung oder in der Nachrichtensendung eines Rundfunk- oder Fernsehsenders erscheint. Zum Glück entscheiden darüber nicht länger allein diese Personen.
Uns allen ist hoffentlich deutlich, daß dieses Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik nur Rahmenbedingungen schaffen kann, d. h. äußere Grenzen des Schutzes zieht. Nicht nur von den hier versammelten Kolleginnen und Kollegen, sondern von uns allen, von uns Deutschen wird es abhängen, ob dieses Gesetz mehr sein kann als ein Archivierungsgesetz und eine Beschreibung, wie man mit diesem fürchterlichen Archiv umzugehen hat.
Dieses Gesetz wird nur dann helfen können, leidvolle DDR-deutsche Geschichte aufzuarbeiten, wenn sich jeder selbstkritisch prüft, ob die Einsicht in seine Akten für ihn wirklich hilfreich ist. Der Benutzer muß wissen, daß er zwar nach dem Studium seiner Akten klüger ist, aber daß er möglicherweise ärmer wird, weil er Freunde und Kollegen verliert.
Die Öffentlichkeit wird darauf zu achten haben, daß die Praxis dieses Gesetzes nicht zu einer Atmosphäre
des Abrechnens und des gegenseitigen Zerstörens führt, sondern zu mehr Gerechtigkeit, zu mehr Begreifen, zu mehr Verstehen, damit sich so etwas nie wieder 'bei uns und unter uns wiederholen kann.
Dieses Gesetz kann auch ein Hilfsmittel dazu sein, daß Opfer und Täter und Dritte lernen, gereinigt von der Last der Vergangenheit, neu miteinander umzugehen.
Ich hoffe sehnlich, daß die Verabschiedung dieses Gesetzes der neue Anstoß für manchen der vielen Täter sein kann, von sich aus noch heute auf sein Opfer zuzugehen, sich zu offenbaren und so selber Versöhnung mit einzuleiten und vorzubereiten. Das wäre nach meiner Meinung der größte Erfolg, den dieses Gesetz, das wir heute verabschieden, überhaupt haben kann.
Dieses Gesetz ist für mich ein erstes Gesetz dieser Art, ein erster Versuch, unsere Geschichte aufzuarbeiten. Es wird sich ab sofort in der Praxis zu bewähren haben. Es wird ganz sicher dazu führen, daß wir an Hand der Erfahrungen, die wir von morgen an machen, dieses Gesetz ändern und korrigieren werden.
Es erscheint mir sinnvoll, daß — es sei mir erlaubt, das so salopp zu sagen — die Gauck-Behörde und die Bundesregierung zumindest einmal jährlich Berichte über die Erfahrungen mit dem Umgang mit diesem Gesetz anfertigen und der Öffentlichkeit vorstellen.
Für mich ist heute ein besonderer Tag, weil ich als einer, der jahrelang darunter gelitten hat, daß er von der Staatssicherheit beobachtet, kontrolliert und ausgeschnüffelt wurde, erleben kann und mit daran beteiligt ist, daß nicht nur dieser Zustand abgestellt ist, sondern auch die Opfer Schutz und die Täter Gerechtigkeit erfahren.
Danke schön.

(Beifall im ganzen Hause)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205707100
Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgang Thierse.

Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1205707200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie gehen wir auf befreiende Weise mit einer Vergangenheit um, die uns noch immer gefangen hält? Das ist das Thema, von dem wir heute einen Ausschnitt — nur einen Ausschnitt — behandeln. Die moralische, juristische, menschliche Aufarbeitung der Stasi- und SED-Vergangenheit in der ExDDR ist bisher nicht so recht in Gang gekommen. Vielleicht wäre das auch zuviel verlangt nach zwei Jahren des deutschen Einigungsprozesses, in denen mit einer gewissen Unausweichlichkeit ökonomische, finanzielle , soziale Probleme im Vordergrund gestanden haben. Bisher jedenfalls ist es uns nur gelungen, den atavistischen Akt eines Schauprozesses mundgerecht in seine medienwirksamen Bestandteile zu zerlegen und zu konsumieren: telegene Talkshows mit dem frischgebackenen Biedermann vom Tegernsee, tägliche Prozeßberichte über die Mauerschützen und das wöchentliche Interview mit Markus Wolf. Was hängen bleibt, ist der populäre und böse Verdacht, die Kleinen



Wolfgang Thierse
hängt man und die Großen läßt man laufen. Ich hoffe, dieser Verdacht bestätigt sich nicht.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Aber dieser Verdacht wird ostzulande verstärkt, wenn man in Betrieben, auf Behörden, in Parteien, ja selbst in Regierungsämtern altvertrauten Vertretern wieder begegnet, die nicht den Umweg über die herbstlichen Straßen gemacht haben, sondern besonders wendig auf den Stühlen sitzen geblieben sind, auf denen sie vorher schon waren. Da machen sich Unzufriedenheit, Enttäuschung, Verbitterung breit. Der Versuch, wie Schlemihl schattenlos aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu gelangen, ist vergeblich, wie es die wiederholten Übungen von mancherlei Parteigängern zeigen. Mit Schuldverschiebungen, mit Abwendung von der eigenen Vergangenheit, also ohne Schatten, ohne Erinnerung kann man sich nicht aus der Geschichte stehlen. „Und ist so gut, als wär es nicht gewesen" , läßt Goethe Mephisto als teuflische Verführung formulieren. Man täusche sich nicht! Die Schatten werden je länger, je später die Stunde.
„Vergebung um der Gebrechlichkeit der menschlichen Einrichtungen willen" , wie es die Kleistsche Marquise von O. in schöner Anstrengung sich selber abverlangt, wäre zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine allzu schnelle, allzu glatte Lösung, ein Akt individueller Größe, gewiß; aber als Maxime der Gesellschaft kommt der Verzicht auf Strafe dem Verzicht auf Recht gleich, so wie der Verzicht auf Erinnerung dem Verzicht auf Geschichte gleichkommt. Bleibt uns also die Strafjustiz, die mit ihren strengen und zugleich notwendigerweise beschränkten Methoden Herrschaftskriminalität, systemimmanente Menschenrechtsverletzungen und schlichte Verbrechen in die Balance der Gerechtigkeit zu bringen versuchen muß.
Das ist das eine und das Notwendige. Auch dafür schafft das Gesetz, das wir heute verhandeln, notwendige Voraussetzungen.
Andererseits aber ist es üblich geworden, Pauschalurteile zu fällen, ganz flott, von robuster Klarheit. So lese ich in der „taz" vom 11. 11. — um nur ein Beispiel von vielen zu zitieren — wörtlich:
Die Stasi war kein Ministerium, sie war die DDR-Gesellschaft sui generis. Ein Volk, das sich aus mindestens einer halben Million aktiven Spitzeln zusammensetzt, ein paar Millionen Mitläufer und einige hunderttausend Unzufriedene und Kritiker zählte, ist ein Spitzelvolk.
Recht so! Aber ich habe da gelebt, wir haben da gelebt mit unserer kleinen hilflosen Anständigkeit. Also wehre ich mich, verlange Differenzierung ohne Beschönigung, bestehe auf der Unterscheidung von Tätern und Opfern, so viele Grauzonen es dazwischen gab. Es gibt den Unterschied!

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem Bündnis 90/GRÜNE sowie des Abg. Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste])

Ich wehre mich gleichermaßen gegen Dämonisierung und Mystifizierung und vor allem gegen diese barmherzig-erbarmungslosen Pauschalierungen. Wo
alle irgendwie schuldig sind, sind ja alle irgendwie unschuldig!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der Abg. Jutta Braband [PDS/Linke Liste])

Dabei weiß ich doch: Wir bringen ein schlimmes Erbe mit in die deutsche Einheit. Unfreiwillig gewiß, aber was hilft uns das schon? Es war ein System der Angst. Jürgen Fuchs hat es in einer sehr dramatischen Formulierung so genannt: Ein Auschwitz in unseren Seelen bereite sich da vor. Die Allmacht der Stasi, es war eine Realität. Sie hat nicht nur die ganze Gesellschaft durchdrungen, sie hat auch Besitz von Personen ergriffen und sie verwandelt, wie man an den Fällen Schnur, Böhme, Anderson sehen kann. Das Erschrekken verlangt uns Mut zur Anstrengung der Differenzierung ab und nicht vorauseilende Resignation, das zynische, sich weise gebende Sein-Lassen und auch nicht das allzu schnelle Wedeln mit dem Mantel der Nächstenliebe. Aufarbeitung tut not.
Ich will ausdrücklich sagen: Ich finde, die Leistung dieses Gesetzes liegt zunächst, von allen Einzelheiten abgesehen, in zwei Punkten. Erstmalig in der deutschen Geschichte vielleicht in der Geschichte überhaupt gelingt es, die Akten, die Archive eines Geheimdienstes zu öffnen und den Opfern zugänglich zu machen. In der deutschen Geschichte ist das schon einmal — nach 1945 — nicht passiert.
Zweitens sehe ich die Leistung darin, daß sich hier — das finde ich phantastisch — wirkliche Annäherung zwischen den Deutschen vollzogen hat

(Vorsitz: Vizepräsidentin Renate Schmidt)

in dem mühevollen schmerzlichen Prozeß der Annäherung von Gefühlen, von Einsichten, der Überwindung von Vorbehalten gegeneinander. Denn das wissen wir doch: Es gab eine ganz unterschiedliche Gefühlslage zwischen Ost und West, die Angst vor der Regelanfrage im Westen, die Angst vor dem gläsernen Menschen, die Sorge um die Pressefreiheit.
Auch so ein Satz, Herr Kollege Gerster, den Sie heute früh gesagt haben — „Die Akten gehören dem Staat" —, und die Emphase, in der Sie es gesagt haben: Ich verstehe das formal durchaus. Aber können Sie verstehen, daß ich anders darüber rede? Meine Akte ist ein mir bisher unbekannter Teil meiner selbst, vielleicht gefährlich, vielleicht harmlos, wahrscheinlich lächerlich, finster oder grotesk, ein trüber Spiegel von mir, ein Zerrspiegel, aber ein Teil von mir selbst, nicht nur Eigentum des Staates.

(Beifall bei der SPD, der FDP und dem Bündnis 90/GRÜNE — Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Ich habe gesagt „zunächst"!)

— Ich habe ja zugestanden, daß ich das formal durchaus verstehe. Ich wollte noch einmal die Unterschiede in der Ausgangslage beschreiben.
Ich denke, daß in einer mühevollen einjährigen Arbeit wirklich Annäherung passiert ist. Das ist — trotz aller Mängel im einzelnen — ein Beispiel dafür, wie Einigung erfolgen kann. Wir sind uns sicher einig: Dieses Gesetz bietet bestenfalls einen Rahmen für das, was passiert. § 19 z. B. verursacht bei mir keine jubelnde Zustimmung.



Wolfgang Thierse
Was wird ab Januar 1992 passieren? Ich glaube nicht — ich wundere mich fast darüber —, daß es Rachefeldzüge geben wird, sondern es wird ein massenhaftes Gesprächsbedürfnis geben. Ich will verstehen, warum der, der ein Nachbar ist, ein Freund, ein Verwandter, der genauso ist wie ich, zum Denunzianten geworden ist, an einer ganz kleinen Stelle plötzlich anders gehandelt hat als ich selbst. Es wird ein massenhaftes Gesprächsbedürfnis geben, den Versuch, die anderen zu verstehen, sich selbst zu verstehen. Das ist die eigentliche Dimension, um die es bei der Aufarbeitung der Vergangenheit geht.
Hannah Arendt hat in einem Essay über Lessing mit dem Untertitel „Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten" geschrieben:
Sofern es überhaupt ein Bewältigen der Vergangenheit gibt, besteht es in dem Nacherzählen dessen, was sich ereignet hat. Aber auch dieses Nacherzählen, das Geschichte formt, löst keine Probleme und beschwichtigt kein Leiden, es bewältigt nichts endgültig. Vielmehr regt es, solange der Sinn des Geschehens lebendig bleibt — dies kann durch sehr lange Zeiträume der Fall sein — , zu immer wiederholendem Erzählen an.
Dies ist übrigens das Ziel des Vorschlags, der mit dem Stichwort „Tribunal" nur sehr verzerrt wiedergegeben ist: eine strenge, auch öffentliche Form zu finden, in der wir uns die bitteren Wahrheiten zumuten können.
Recht und Moral sind — leider — nicht unbedingt identische Dinge. Die schmerzliche Erfahrung dieser Differenz, so uralt sie ist, werden auch wir wieder machen müssen. Sie darf nicht zu moralischer Überheblichkeit oder zu Zynismus führen. Beides sind Gefährdungen, die vor uns liegen. Man muß sie nüchtern sehen und das Notwendige trotzdem tun.
Versöhnung ist nicht Resignation. Sie setzt die Anstrengung um die Wahrheit voraus. Dieser Anstrengung können wir nicht ausweichen. Ihr Ziel ist aber — zuletzt — Versöhnung.

(Beifall im ganzen Hause)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205707300
Das Wort hat der Kollege Dr. Bertold Reinartz.

Dr. Bertold Reinartz (CDU):
Rede ID: ID1205707400
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist heute ausgiebig darüber debattiert worden, inwieweit die im Stasi-Unterlagen-Gesetz enthaltenen Bestimmungen einer verfassungsrechtlichen Überprüfung standhalten im Hinblick auf die in Art. 5 des Grundgesetzes garantierte Meinungs- und Pressefreiheit. Unschwer ist zu erkennen, daß harsche Kritik der Medienvertreter volle Wirkung gezeigt und eifrige Korrekturbemühungen ausgelöst hat. Es gehört zu den ungeschriebenen Regeln des Standesrechtes eines Lobbyisten, daß er nach erfolgreichem Abschluß seiner Bemühungen das Ergebnis gleichwohl als noch unzureichend beklagt.
Auch die über viele Legislaturperioden erfahrenen Parlamentarier werden sich nur schwer an einen Fall erinnern, in dem es Vertretern einer Interessengruppe gelang, binnen zwei Tagen einen solchen Gesamterfolg zu verzeichnen. Hierin liegt nun ganz augenscheinlich die praktische Bestätigung dessen, was
viele wissen, die veröffentlichte Meinung selten zum Ausdruck bringt und was im Grundgesetz bislang jedenfalls keinen Eingang gefunden hat, nämlich daß die Medien die vierte Gewalt im Staat darstellen, wobei die numerische Reihenfolge vielleicht zufällig ist. Der Rechtsausschuß würde sich jedenfalls glücklich schätzen, wenn seine Anregungen und Änderungsvorschläge bei diesem Gesetzesvorhaben auch eine solche Beachtung gefunden hätten.
Die pauschale Kritik der Medienvertreter hat nicht nur Beachtung gefunden, sondern konnte mit dem eilig zusammengestellten Änderungen auch ein konkludentes Eingeständnis von scheinbar nicht gehöriger Beachtung des hehren Grundsatzes der Pressefreiheit bei schuldbewußt gesenkten Augenlidern bewirken.

(Hans Gottfried Bernrath [SPD]: Ich habe sie nicht gesenkt!)

Es erscheint schon fragwürdig, wenn jetzt Personen der Zeitgeschichte, Inhaber politischer Funktionen oder Amtsträger in Ausübung ihres Amtes bei Unterlagen mit personenbezogenen Informationen in ihrer Behandlung durch Presse, Rundfunk und Film den Mitarbeitern und Begünstigten des Staatssicherheitsdienstes gleichgestellt sein sollen. Die Sache wird so richtig glattgestellt, jedenfalls für die Medien, durch die geänderte Formulierung der Strafvorschrift in § 36. Nunmehr wird lediglich die Wortlautveröffentlichung unter Strafe gestellt.
Bislang waren vom Gesetz geschützte „personenbezogene Informationen" Grundlage eines strafrechtlich relevanten Fehlverhaltens. Nach der jetzigen Formulierung kann die Wortlautdarstellung aus Stasi-Unterlagen in indirekter Rede mit geringfügigen sprachlichen Abweichungen ein strafrechtlich relevantes Verhalten nicht mehr begründen. Politiker sollten sich dann vielleicht künftig auch nicht mehr darüber beklagen, daß sie durch die weite Rechtsprechung mit höchstrichterlicher Billigung zum Freiwild für Beleidiger oder Verleumder werden, wenn der Bundestag als höchstes Gesetzgebungsorgan den Inhaber einer politischen Funktion oder Amtsträger bei der Frage des Schutzbedürfnisses im Zusammenhang mit der Verbreitung personenbezogener Informationen in die Reihe von Staatssicherheitsdienstmitarbeiter oder -begünstigten stellt.
Wir alle wissen, daß nach neuester Akten-WegeStrecken-Schätzung des Sonderbeauftragten die dort gesammelten, auf rechtswidrige Weise, in widerwärtigster Form zusammengetragenen Informationen eine Gesamtlänge von 202 km, Aktenstück an Aktenstück, erreichen. Dieses Aktenlager offenbart sich als das größte illegale Informationssammelsystem in der Menschheitsgeschichte. Nach dem Nazi-Regime haben wir es also in einem Teil unseres vereinigten Vaterlandes erneut mit qualitativ und quantitativ unvergleichbarem Unrecht zu tun, wobei die Betroffenen dieses Unrecht im wesentlichen innerhalb der deutschen Bürgerschaft zu finden sind.
Das Interesse an der Aufarbeitung dieses Unrechts bei den Menschen in den alten und den neuen Bundesländern ist zweifellos sehr unterschiedlich — alles andere wäre auch verwunderlich. Einigkeit besteht



Dr. Bertold Reinartz
bei all denjenigen, die sich ein wenig mit diesem dunklen Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte befassen, darüber, daß eine Vernichtung dieses Papier- und Datenträgerunrechts nicht in Betracht kommen kann. Der Grund liegt auch darin, daß die Folgen nicht auf das Papier beschränkt blieben.
Der Unrechtsstaat DDR hat in das Leben von vielen Menschen auf Grund dieser rechtswidrig zusammengetragenen Informationen in brutaler Weise eingegriffen. Menschen landeten in Gefängnissen, wurden gefoltert, ermordet, Familienangehörige wurden mit in staatliche Torturen einbezogen. Eine Lebensplanung ohne Einbeziehung dieses menschenverachtenden Informationssystems wurde praktisch für alle unmöglich gemacht, soweit sie nicht unmittelbar in den Kreis der Täter einzubeziehen waren.
Diese rechtswidrig zusammengetragenen Informationen über Menschen können nicht von vornherein als sachlich richtige Behauptungen oder Tatsachendarstellungen betrachtet werden. Selbst wenn im Einzelfall Schilderungen den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen, bleibt die Bewertung des Informanten, die Einordnung in das Gesamtgeschehen fragwürdig. Jeder weiß, daß auch in Schriftstücken, in Akten gezielte oder fahrlässige Falschinformationen enthalten sein können, etwa weil der Verfasser die Dinge so beschrieben hat, wie er sie gerne gesehen hätte, oder er sein eigenes Fortkommen mit möglichst interessanten Falschdarstellungen fördern wollte. Wie fragwürdig hinsichtlich der Einzeldarstellung müssen dann Informationen sein, die in einem solch menschenverachtenden System zusammengetragen worden sind?
Das Stasi-Unterlagen-Gesetz, das heute zur Beschlußfassung vorliegt, berücksichtigt in sensibler und angemessener Weise die mit einem solchen ungeheuerlichen, menschenunwürdigen Ausspionierungssystem zwangsläufig verbundenen Problemstellungen. In der heutigen Debatte wurde auf die Spannungsfelder hingewiesen, die dieses Gesetz unter angemessenem Interessenausgleich zu berücksichtigen und schließlich auch zu lösen hatte. Dies konnte nicht überall gelingen, aber ich bin sicher, daß dies weitgehend gelungen ist.
Der Rechtsausschuß hat seine Vorschläge mit dem Ziel eingebracht, eine an den Prinzipien des Rechtsstaates orientierte Aufarbeitung dieses Massenunrechtes zu fördern und gemeinsam mit den übrigen verantwortlichen Mitgliedern dieses Hauses und der Bundesregierung zu gewährleisten.
Zu bedauern ist allerdings, daß der Anregung des Rechtsausschusses im Zusammenhang mit der Regelung des Rechtes auf Auskunft, Einsicht und Herausgabe von dem Staatssicherheitsdienst überlassenen Akten nicht entsprochen wurde.
Der Rechtsausschuß hatte vorgeschlagen, den Akten von Gerichten und Staatsanwaltschaften die strafrechtlichen Ermittlungsakten des Staatssicherheitsdienstes gleichzustellen, soweit diese als Strafverfolgungsbehörde tätig geworden waren. Die strafrechtlichen Ermittlungsakten des Staatssicherheitsdienstes werden jetzt den allgemeinen Regeln der Stasi-Akten
unterworfen. Ihre Verwendung ist damit für die Strafverfolgungsbehörden weitgehend eingeschränkt.
Ziel war es, die Akten mit Ausnahme der Akten von Gerichten und Staatsanwaltschaften in der Behörde des Bundesbeauftragten zusammenzuhalten. Dies hätte jedoch auf andere, das Legalitätsprinzip weniger beeinträchtigende Weise geschehen können. Es soll nicht verkannt werden, daß es sich bei dieser Regelung um die Lösung des Spannungsverhältnisses zwischen dem Schutz des Bürgers vor der Verwendung personenbezogener Daten und damit dem Schutz der Individualrechte des Bürgers einerseits und dem Legalitätsprinzip andererseits, das seine Wurzeln im Rechtsstaatsprinzip findet, handelt.
Die Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen jeder Art selbst vorzunehmen oder von der Kriminalpolizei vornehmen zu lassen. Sie kann dabei von allen öffentlichen Behörden Auskunft verlangen. Gerade dieses Auskunftsrecht jedoch wird durch den Ausschluß der strafrechtlichen Ermittlungsakten des Staatssicherheitsdienstes beeinträchtigt. Damit wird im Ergebnis die Arbeit der Staatsanwaltschaft mit beeinträchtigt. Die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit, alle der Staatsanwaltschaft geboten erscheinenden Beweismittel beizuziehen, wird in Frage gestellt.
Unbefriedigend ist diese im Gesetzentwurf gefundene Auflösung des Spannungsverhältnisses deshalb, weil gerade die strafrechtlichen Ermittlungsakten des Staatssicherheitsdienstes, soweit dieser als Strafverfolgungsbehörde tätig geworden ist, möglicherweise die brisantesten Fälle und Informationen enthalten. Brisant dürften diese Informationen in vielen Fällen deshalb sein, weil die Stasi wohl kaum aus lauteren Motiven derartige Akten den Gerichten und Staatsanwaltschaften nicht zur Verfügung gestellt hat. Während die Justiz in der DDR jedenfalls den Schein eines rechtsstaatlichen Verfahrens wahren wollte — ihn gegebenenfalls auch gelegentlich gewahrt hat — , galt diese Einschränkung für die Unrechtsbehörde der Stasi nicht.
Nun könnte man sich diesem Konflikt mit dem Hinweis entziehen, daß rechtsstaatswidrig gewonnene Erkenntnisse nach unseren strafprozessualen Bestimmungen und den dazu entwickelten Verwendungsverboten ohnehin keine Berücksichtigung finden würden. Hier würde man allerdings die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren verkürzt bewerten. Die Staatsanwaltschaft hat sowohl belastende wie auch entlastende Umstände zusammenzutragen. Würde sie bei den Ermittlungsakten des Staatssicherheitsdienstes in seiner Eigenschaft als Strafverfolgungsbehörde auf Informationen stoßen, die zur Entlastung des Angeschuldigten führen, so hätte sie diese zu berücksichtigen. Dies entspricht der hinreichenden Beachtung des Legalitätsprinzips.
In der Praxis kommt ein weiteres Problem hinzu. Die Staatsanwaltschaften werden in aller Regel keine Hinweise auf das Vorliegen von Stasi-Ermittlungsakten besitzen. Ihnen fehlt die notwendige Grundlage zu einer Anforderung von Akten bei der Behörde des Bundesbeauftragten. In den normalen Ermittlungsakten werden sich nur selten Hinweise auf Stasi-Ermittlungsakten finden. Der Bundesbeauftragte hingegen wird diese in ihrer Negativqualität besonders zu be-



Dr. Bertold Reinartz
wertenden strafrechtlichen Ermittlungsakten nur auf konkrete Anforderung herausgeben können, weil dies das Gesetz so vorschreibt. Da die Staatsanwaltschaften jedoch nicht wissen, was sie anfordern sollen, bleibt ein enormer Bestand an Strafermittlungsakten auf Dauer für die staatsanwaltschaftliche Ermittlungsarbeit unerschlossen.
Der Rechtsausschuß hat deshalb Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift des § 14 a geäußert, weil sich diese Bestimmung zu Lasten einer wirksamen Strafrechtspflege auswirkt, und dies zugunsten wie auch zu Lasten des Angeschuldigten. Die Individualrechte werden auch im Strafverfahren effektiv geschützt. Den verfahrensrechtlichen Sicherungen im Spannungsfeld zwischen Strafanspruch des Staates und rechtlich geschützten Interessen von Opfern wird durch die Verwendungsverbote im Strafverfahren Rechnung getragen. § 14 a trägt dem jedoch nicht Rechnung. Er stuft in dieser Fragestellung den Sonderbeauftragten höher ein als die zur Ermittlung von Straftaten berufenen Staatsanwaltschaften.
Auf die Frage des Rechtsweges und die Lösung von Kompetenzkonflikten in solchen Fällen sei nur am Rande hingewiesen.
Zweifellos, meine Damen und Herren, ist das, was sich im Ministerium für Staatssicherheit ereignet hat, in seiner Ungeheuerlichkeit einzigartig. Diese Situation macht auch eine besondere Lösung erforderlich. Wohler würde ich mich fühlen, wenn der Sonderbeauftragte und seine Behörde in das allgemeine Gefüge der rechtsstaatlichen Ordnung eingegliedert wäre und nicht eine — wenn auch gesetzlich legitimierte — Sonderrolle bei bescheidenen Kontrollmöglichkeiten einnehmen könnte.

(Dr. Willfried Penner [SPD]: Was meinen Sie damit?)

— Das, was ich gerade gesagt habe.

(Dr. Willfried Penner [SPD]: Das ist mir unbegreiflich!)

Als Mitglied des Rechtsausschusses sei mir ein bewundernder Blick auf das Durchsetzungsvermögen der Medienvertreter gestattet. Was dem Rechtsausschuß in einem verfassungsrechtlich wichtigen Bereich in viermonatigen Bemühungen nicht gelang, ist den Vertretern der Medien binnen zwei Tagen gelungen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Willfried Penner [SPD]: Sie waren nicht dabei! Was meinen Sie denn damit?)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205707500
Als nächster hat unser Kollege Gerd Wartenberg das Wort.

Gerd Wartenberg (SPD):
Rede ID: ID1205707600
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man so wie ich und viele Kolleginnen und Kollegen in den letzten Wochen und Monaten an der Erarbeitung dieses Gesetzeswerks beteiligt war, so kam man immer wieder in große Selbstzweifel, ob das, was wir versuchen wollten, überhaupt gelingen könnte. Ich habe mich manchmal in einer Situation befunden, daß ich gedacht habe: Ich möchte damit nicht mehr befaßt sein.
Das ging sehr, sehr vielen so. Das hat etwas mit dem Hintergrund dieser Materie zu tun. Daran muß man sich immer wieder erinnern.
Es geht hier um die Lebensläufe von 6 Millionen Menschen, gute Lebensläufe, miese Lebensläufe. Diese Daten über Lebensläufe, die eigentlich überhaupt nicht existieren dürfen, sollten nun in ein Regelungswerk eingebunden werden, so daß einerseits die Opfer Zugang haben und andererseits eine historische Aufarbeitung möglich ist und Täter identifiziert werden können.
Unter diesem Aspekt muß jedem klar sein, daß bei sechs Millionen Lebensläufen — Wolfgang Thierse hat eindrucksvoll geschildert: gestohlenen Lebensläufen — die Schutzvorschriften extrem hoch sein müssen.

(Beifall bei der SPD und der FDP)

Ich muß sagen: Es hat mir Angst gemacht, wie einige Vertreter der Presse diese Schutzvorschriften, zu denen wir verpflichtet sind, vollmundig angegriffen und als Zensur bezeichnet haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wenn in diesen Akten die sensibelsten Daten über 6 Millionen Menschen enthalten sind und diese Akten nach unserem Rechtsstaatsverständnis, wenn sie bei uns erhoben worden wären, eigentlich vernichtet werden müßten, dann kann es nicht angehen, daß es in irgendeines Belieben stehen kann, wie man mit diesen Akten umgeht, wann man sie veröffentlicht oder wann man sie verwendet.
Das gilt genauso für die Akten, die — auf welche Art auch immer — aus diesen Beständen herausgekommen sind. Wenn heute Privatpersonen, Verlage oder Presseorgane Akten von Betroffenen haben — und sie haben Akten von Betroffenen; das geben sie auch zu — , sollten sie sich darüber klar sein, daß das ein Stück gestohlenes Leben ist, das nur den Betroffenen gehört. Deswegen müssen diese Akten in die GauckBehörde zurückkommen. Es kann nicht angehen, daß gegen eine solche Vorschrift Sturm gelaufen wird.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Wer versündigt sich an dem Betroffenen, wenn der Betroffene nicht an seine Akte heran kann, weil sie nicht in der Gauck-Behörde ist? Derjenige, der sie unrechtmäßig in seinem Besitz behält. Derjenige, der gegen diese Regelung der Rückgabepflicht polemisiert, macht sich selbst an dem Betroffenen schuldig. Auch dies muß mit aller Deutlichkeit gesagt werden.
Wir haben eine Regelung für die Presse in dem Gesetz vorgesehen, die der Presse sehr weit entgegengekommen ist. Ich habe dabei meine Bedenken unter dem Aspekt des Schutzes dieser Akten, wie ich ganz offen sage. Weil es sich um einen Sonderfall der deutschen Geschichte, um einen Sonderfall eines Aktenbestandes handelt, können die schutzwürdigen Belange von Betroffenen nicht hoch genug veranschlagt werden. Es ist geradezu absurd, wenn be-



Gerd Wartenberg (Berlin)

hauptet wird, hier wollten sich ein paar Politiker selbst schützen. Diese 6 Millionen Menschen können ja wohl qua Definition nicht in erster Linie Politiker sein. Das ist einfach dummes Zeug.
Aber es gibt auch andere Fragestellungen, die einen an diesem Gesetzeswerk zweifeln lassen. Wir haben, um die Aufarbeitung möglich zu machen, um den Zugang der Opfer nicht einzuschränken und auch um Täter zu identifizieren, bestimmte Regelungen unseres Rechtsstaates in diesem Gesetz nicht übernommen. Das ist problematisch. Ein Punkt ist der, daß alle Informationen und Daten aus 42 Jahren DDR heute zur Überprüfung abgerufen werden können. Nach unserem Bundeszentralregistergesetz darf über eine Straftat, welche auch immer, nach 15 Jahren nicht mehr Auskunft gegeben werden. Das heißt, wir haben auch hier eine weite Öffnung, die hart an der Grenze dessen ist, was mit unserem Rechtsstaat übereinstimmt.
Das bedingt aber auch, der der Schutz besonders hoch sein muß. Wir haben — das hat die Kollegin Marx angesprochen — im Moment keine Regelung, nach der der Betroffene ab sofort den Anspruch auf Löschung seiner Akte, seiner Daten hat. Jeder weiß: Eigentlich müßte dieser Anspruch gegeben sein. Es gibt gute Gründe, warum man wegen der historischen Aufarbeitung und der Verknüpfung verschiedener Akten der Betroffenen dieses fünf Jahre lang aussetzt. Aber wenn man das macht, ist der Zwang für uns um so größer gewesen, wiederum Schutzvorschriften einzuführen.

(Beifall bei der SPD)

Wenn man sich diesen Zusammenhang vor Augen hält, muß ich diejenigen, die das in der Öffentlichkeit immer wieder vertreten, kritisieren, wenn sie sagen, der Anspruch, dem wir gerecht werden müßten, nämlich Menschen zu schützen, sei ein Maulkorb für andere. Diese Diskussion kann so einfach nicht aufrechterhalten werden.
Es gibt einen weiteren Punkt, mit dem ich als westdeutscher Abgeordneter Probleme habe. Das ist der weite Katalog der Überprüfungen, wobei ich glaube, daß es, weil die Verdächtigungen im Raum stehen, keine andere Möglichkeit gibt, daß die sehr weite Passivlegitimation, d. h. die Möglichkeit, bei der GauckBehörde abzufragen, ob jemand verstrickt gewesen ist, notwendig ist. Aber wenn daraus resultiert, daß wir die Aufarbeitung der Geschichte der DDR darauf verengen, daß diejenigen, die nach diesem Gesetz Täter gewesen sind, sozusagen der einzige Sündenbock der Geschichte der DDR sind, dann wird die Aufarbeitung der Historie mißlingen,

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

dann wird es nur zu einer Ausgrenzung kommen, die die Wahrheit über 42 Jahre verdrängen wird.
Dieser Verdrängungsmechanismus durch dieses Gesetz kann als eine gute Gelegenheit verstanden werden, von der eigentlichen Geschichte einer Gesellschaft abzulenken, die sich mit einem diktatorischen System arrangieren mußte oder auch Widerstand geleistet hat, wie auch immer.
Der entscheidende Punkt wird sein, daß durch den Zugang zu den Akten von Betroffenen vielleicht etwas entsteht, das man das öffentliche Gespräch über die eigene Rolle, das eigene Leben in diesem totalitären System nennen kann. Wenn das gelingt, kommen wir, glaube ich, in einen Prozeß des historischen Umgangs mit diesen 42 Jahren DDR hinein, der Perspektive hat und der auch für uns im Westen eine hohe Bedeutung haben kann.
Ein weiterer Punkt, der mir Bauchschmerzen macht, ist: Die Stasi-Akten werden in einer Behörde mit mehr als 3 000 Mitarbeitern liegen. Mehr als 3 000 Menschen beschäftigen sich mit einem Aktenbestand, den es eigentlich nicht geben darf, in dem es um die Lebensgeschichte von Menschen geht. Das ist problematisch und schwierig. Es geht aber nicht anders, wenn man den Betroffenen, die ihre Akten einsehen wollen, gerecht werden will. Aber wir müssen uns dessen bewußt sein, daß es in diesem Gesetz mehrere Aspekte gibt, die dazu führen können, daß das StasiArchiv weiterlebt in einer Art und Weise, wie wir alle es nicht wollen.
Auch deswegen werden wir schon im nächsten Jahr sehr genau zu prüfen haben, ob der Regelungsmechanismus dieses Gesetzes ausreicht oder ob es Fehlentwicklungen gibt. Das macht mir große Sorge. Ich glaube, wir sollten auch realistisch genug sein, in diesem Moment die Unzulänglichkeit zu sehen, die von vornherein mit diesem Gesetz verbunden war.
Meine Damen und Herren, dieser Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden wollen, ist unter den schwierigen Bedingungen, die ich geschildert habe, unter den schwierigen Eckpunkten konkurrierender Grundrechte eine Möglichkeit — vielleicht nicht die beste, aber eine Möglichkeit — , in der Zukunft mit dieser Materie umzugehen. Wir alle, die wir uns in dem Ausschuß damit beschäftigt haben, waren uns klar darüber: Wir werden relativ bald Novellierungen vornehmen müssen, weil bestimmte Dinge anders laufen werden, als wir uns das vorstellten.
Dennoch bitte ich auch die Öffentlichkeit, uns abzunehmen, daß wir es uns mit diesem Gesetz so schwer gemacht haben, wie ich das in den elf Jahren, in denen ich diesem Hause angehöre, noch nicht erlebt habe. Alle waren sich bewußt, daß dieses Unterfangen voller Risiken ist, daß es letzten Endes unzulänglich sein wird. Unter diesen Voraussetzungen bitte ich alle, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen, auch diejenigen, die an Einzelpunkten Kritik haben.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, am Schluß der Debatte möchte ich — auch im Namen aller, die mitgearbeitet haben — noch einen Dank aussprechen an Herrn Gauck und Herrn Geiger, die uns in diesem schwierigen Bereich sehr geholfen haben,

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem Bündnis 90/GRÜNE)




Gerd Wartenberg (Berlin)

aber ganz besonders auch an Herrn Wedler aus dem Bundesinnenministerium.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem Bündnis 90/GRÜNE)

In der Öffentlichkeit sind Beamten gegenüber häufig große Vorurteile zu hören. Aber wer einmal in einem solchen Ausschuß erlebt hat, daß stündlich, ja minütlich Formulierungen verworfen, daß bis spät in die Nacht neue Formulierungen eingebracht wurden und daß am nächsten Morgen die Formulierungsvorschläge vorliegen mußten, der weiß, was dort geleistet worden ist. Normalerweise ist es nicht üblich, daß man Beamten in einer Debatte dankt, aber Sie gehen heute in Pension, und wir wünschen Ihnen alles Gute, Herr Wedler.
Recht herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem Bündnis 90/GRÜNE)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205707700
Nun hat der Parlamentarische Staatssekretär Eduard Lintner das Wort.

Eduard Lintner (CSU):
Rede ID: ID1205707800
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie dem Vertreter der Bundesregierung in dieser Debatte zum Schluß noch ein paar kurze Anmerkungen.
Mit der zweiten und dritten Lesung des Entwurfs eines Stasi-Unterlagen-Gesetzes ist es in noch nicht einmal einem Jahr gelungen, eine völlig neue, schwierige, gleichzeitig aber auch sehr brisante und teilweise höchst unappetitliche Materie im Konsens zwischen den großen Fraktionen gesetzgeberisch zu bewältigen. Das ist eine sehr gute Leistung, wie ich meine.
Das Stasi-Unterlagen-Gesetz verfolgt das Ziel, die unsägliche Hinterlassenschaft des Ausspähungs- und Überwachungsapparates des untergegangenen SED-Staates rechtsstaatlich geordnet zu bewältigen. Es soll u. a. — das ist hier schon häufig herausgestellt worden — den Schutz der Betroffenen und Dritten sicherstellen, aber natürlich auch die öffentliche Aufarbeitung dessen gewährleisten, was die SED und ihr Staatssicherheitsdienst in 40 Jahren angerichtet haben.
Über 200 km Akten mit meist rechtswidrig angelegten Dossiers über rund 6 Millionen Menschen mußten übernommen werden. Diese Unterlagen müssen einerseits nutzbar gemacht werden, um den Opfern des Unrechtsregimes überhaupt die Möglichkeit zu geben, sich zu rehabilitieren und Genugtuung zu erlangen. Andererseits müssen diese Materialien aber unter größtmöglichem Schutz des Persönlichkeitsrechts des Opfers für die öffentliche, insbesondere auch für die juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes, also beispielsweise auch für die strafrechtliche Verfolgung der Täter, aufbereitet werden.
Über den Umgang mit diesem Material enthält der Einigungsvertrag nur vorläufige Vorschriften. Die Unterlagen sind danach grundsätzlich gesperrt. Diese noch von der Volkskammer geschaffenen vorläufigen
Regelungen tragen insbesondere den Bedürfnissen der Opfer des Staatsicherheitsdienstes nicht genügend Rechnung. So haben die Betroffenen derzeit noch nicht einmal das Recht, die zu ihrer Person angelegten Unterlagen überhaupt einzusehen. Aber auch die staatlichen Belange, wie etwa die Strafverfolgung oder die Aufdeckung der vielfältigen Verflechtungen der Stasi, erfordern angemessene Regelungen, wie sie hier, so meine ich, gefunden worden sind.
Schon die Zusatzvereinbarung zum Einigungsvertrag enthielt deshalb die Aufforderung an den gesamtdeutschen Gesetzgeber, unverzüglich eine endgültige gesetzliche Regelung über die Verwendung der Unterlagen zu treffen. Diesen Auftrag, meine Damen und Herren, erfüllt dieser Gesetzentwurf.
Auf einige Schwerpunkte möchte ich abschließend kurz eingehen.
Erstens. Die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes werden unter der zentralen Verwaltung eines Bundesbeauftragten zusammengeführt, unabhängig davon, ob sie einen Personenbezug aufweisen oder nicht. Soweit sich diese Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes noch nicht beim Bundesbeauftragten befinden, werden die Besitzer mit Recht verpflichtet, ihm dies unverzüglich anzuzeigen und ihm die Unterlagen zu übergeben, sofern sie nicht ihr rechtmäßiges Eigentum sind. Nur so ist sichergestellt, daß die Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes wirklich überhaupt vollständig aufgearbeitet werden kann.
Zweitens. Personen, über die der Staatssicherheitsdienst zielgerichtet Informationen gesammelt hat, also die Opfer sowie Dritte, über die Daten dabei angefallen sind, haben einen Anspruch auf Zugang zu den über sie gespeicherten Informationen. Hier wird deutlich, daß es bei dem tragenden Grundsatz geblieben ist, daß die Opfer die Möglichkeit haben sollen, umfassend selbst aufzuklären, wie der Stasi in ihr Lebensschicksal eingegriffen hat.
Für unser normales Rechtsempfinden ist es dabei weiß Gott nicht selbstverständlich, daß Mitarbeiter und Denunzianten namentlich benannt werden. Viele von uns befürchten auch jetzt noch, daß dadurch ein großer Unfriede bis hinein in Familien heraufbeschworen wird. Wir haben aber diesen Schritt gewagt, um der überwiegenden Stimmung und dem Gerechtigkeitsempfinden der Menschen in den neuen Ländern Rechnung zu tragen. Wir appellieren aber auch an sie, von den Möglichkeiten dieses Gesetzes ganz, ganz verantwortlich Gebrauch zu machen.
Drittens. Politische Mandatsträger, Beschäftigte in der öffentlichen Verwaltung, Mitarbeiter der Kirchen und Führungskräfte der Wirtschaft sowie andere Personen in sensiblen Positionen können danach auf ihre frühere Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst überprüft werden. Dabei soll — was berechtigt ist — eine Mitarbeit unberücksichtigt bleiben, die nach Beendigung des 18. Lebensjahres nicht mehr fortgesetzt worden ist.
In diesem Zusammenhang möchte ich aber betonen, daß das Gesetz lediglich die Möglichkeit zur Überprüfung eröffnet. Ob und in welchem Umfang von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, muß jeweils die anfrageberechtigte Stelle in eigener Ver-



Parl. Staatssekretär Eduard Lintner
antwortung entscheiden. Ihr obliegt es dann auch, gegebenenfalls die Konsequenzen aus den Mitteilungen des Bundesbeauftragten zu ziehen.
Dabei sollte im konkreten Einzelfall sehr wohl abgewogen werden, ob eine festgestellte Mitarbeit für den Staatssicherheitsdienst ihrer Qualität und auch ihrer Quantität nach so schwerwiegend war, daß die Ausübung eines Mandats oder einer Beschäftigung nicht zumutbar ist; denn — auch das ist teilweise zum Ausdruck gekommen — der Staatssicherheitsdienst war ja in seinen Methoden nicht wählerisch, so daß die Grenzen zwischen Tätern und Opfern teilweise verschleiert sind.
In dieser Abgrenzung lag auch eine der Hauptschwierigkeiten bei der Formulierung des Gesetzes. Eine pauschale Ausgrenzung von hunderttausend und mehr Menschen aus unserer Gesellschaft ohne Ansehen der persönlichen Schuld müßte zwangsläufig zu schweren gesellschaftlichen Problemen führen und wäre unseres Rechtsstaates nicht würdig.
Viertens. Der Bundesbeauftragte wird durch einen Beirat unterstützt. In dem Beirat stellen die Mitglieder aus den neuen Bundesländern die Mehrheit. Außerdem ist für die neuen Bundesländer die Möglichkeit eröffnet, Landesbeauftragte zu bestellen, denen sie eigene Kompetenzen zuweisen können. Zu denken ist hier insbesondere an die psychosoziale Betreuung der Opfer, die die Ungeheuerlichkeiten, die der StasiStaat ihnen zugefügt hat, nicht allein verkraften können.
Damit wird gleichzeitig deutlich, daß die Vorwürfe, die neuen Länder würden bei der Verwaltung der Unterlagen ungenügend berücksichtigt, leerlaufen. Durch den Beirat mit seinen umfassenden Beratungsaufgaben sowie die Landesbeauftragten wird der verfassungsrechtliche Rahmen für eine Beteiligung der Länder an einer ausschließlichen Verwaltungsaufgabe des Bundes voll ausgeschöpft. Hinweise auf die besondere Betroffenheit der Menschen in den neuen Ländern greifen nach meiner Überzeugung zu kurz; denn immerhin enthalten die Stasi-Unterlagen auch personenbezogene Informationen über etwa zwei Millionen Bürger aus den alten Bundesländern.
Fünftens. Es werden die Voraussetzungen geschaffen, daß die Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes historisch und politisch aufgearbeitet werden kann. Der Bundesbeauftragte kann Dokumentations- und Ausstellungszentren unterhalten. Für Forschung und politische Bildung, für Presse, Rundfunk und Film stehen die Unterlagen offen, soweit dies mit dem Persönlichkeitsrecht der Personen, über die Informationen in diesen Unterlagen enthalten sind, vereinbar ist.
Eine Veröffentlichung personenbezogener Informationen ist aber außer mit Einwilligung der betroffenen Personen auch zulässig, sofern es sich um Informationen über Personen der Zeitgeschichte oder Amtsträger in Ausübung ihres Amtes handelt, soweit sie nicht selber Betroffene sind. — Das, Herr Reinartz, hatten Sie, glaube ich, bei Ihrem Studium überlesen.
Durch den von mir begrüßten Änderungsantrag der Fraktionen wird zudem sichergestellt, daß über StasiMitarbeiter und -Begünstigte berichtet werden kann.
Wir wollen ja das Opfer und nicht etwa den Täter schützen.
Meine Damen und Herren, das Gesetz läßt daher der Presse nach unserer Auffassung genügend Spielraum zur Beschaffung der erforderlichen Informationen, die dann ja auch veröffentlicht werden können.
Ich hoffe, daß diejenigen recht behalten werden, die meinen, die weite Offenlegung von Strukturen, Taten und vor allem Namen von Stasi-Mitarbeitern und Denunzianten werde zur Herstellung des inneren Friedens in den neuen Ländern wesentlich beitragen und nicht etwa zu Haß, zu Übergriffen oder gar zur Lynchjustiz führen.
Meine Damen und Herren, die Auswirkungen des Gesetzes werden wir deshalb sehr, sehr genau beobachten müssen. Wir müssen auch jederzeit für eine notwendige Novellierung offen sein. Dadurch wird es dann im Bedarfsfall möglich sein, falsche Weichenstellungen zu korrigieren. Diese für uns alle ja eher ungewöhnliche Flexibilität ist nötig und nicht ehrenrührig; haben wir es doch mit einer völlig neuartigen und äußerst schwierigen Materie zu tun, bei der wir immer noch erst einen begrenzten Überblick darüber haben, was bedacht werden muß.
Zum Schluß lassen Sie auch mich noch allen in den Fraktionen, bei denen ja neben den Kolleginnen und Kollegen sehr viele Mitarbeiter an der Erarbeitung des Gesetzentwurfs beteiligt waren, für die schnelle und intensive Arbeit danken. Dieser Dank gilt selbstverständlich auch den Mitarbeitern des Bundesministeriums des Innern; sie sind schon genannt worden.
Diese konzentrierte Anstrengung hat zu einem sehr beachtenswerten, guten Erfolg geführt. Ich glaube, Sie alle haben damit den Auftrag aus dem Einigungsvertrag, im Sinne der betroffenen Menschen zu handeln, auch erfüllt.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205707900
Nun hat Herr Professor Heuer das Wort zu einer Kurzintervention bis zu zwei Minuten.

Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS):
Rede ID: ID1205708000
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Vertreter der Regierung hat eben gesagt, daß mit dem Stasi-Unterlagen-Gesetz verantwortlich umgegangen werden müsse. Er hat ferner ausgeführt, wir müßten erreichen, daß von diesem Gesetz nicht eine innere Auseinandersetzung, sondern innerer Friede ausgehe.
Ich meine, daß sich das auch auf die Art und Weise, wie wir hier miteinander umzugehen haben, beziehen sollte. Von einer Abgeordneten — ich glaube, es war Frau Schröter — ist hier etwas zum Abgeordneten Modrow gesagt worden. Er wurde persönlich angegriffen. Es fiel die Formulierung vom geborenen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP — Ingrid Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Das stimmt doch! Das war er doch!)




Dr. Uwe-Jens Heuer
Ich meine, daß eine solche Tonart nicht geeignet ist, ein Klima des Gesprächs zu erzeugen, von dem hier die Rede war.
Der Abgeordnete Modrow — das Entscheidende über ihn ist bekannt — war Erster Sekretär der Bezirksleitung Dresden. Über seine Rolle dort sind wir weitgehend informiert.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Einschätzungen über ihn sind bekannt. Er war Ministerpräsident der Deutschen Demokratischen Republik. Er wurde von vielen in der DDR und auch von vielen in Westdeutschland, auch von den dortigen Medien, als Reformer und Hoffnungsträger bezeichnet.

(Zuruf von der SPD: Wie der Schalck!)

— Nein, er wurde nicht wie der Schalck bezeichnet, sondern damals von vielen in der DDR — ich wiederhole das — und auch von vielen hier in der Bundesrepublik Deutschland als Reformer angesehen. Viele haben ihn aufgesucht. Es sind sicher auch Damen und Herren hier, die das damals getan haben.
Ich meine, ein ehrliches Bild der Geschichte — davon hat heute der Abgeordnete Thierse gesprochen — muß das einbeziehen. Man kann das Bild der Geschichte nicht willkürlich entstellen.

(Gerhard Reddemann [CDU/CSU]: Wie Sie es möchten!)

Ich denke, daß wir uns darum in unseren Diskussionen bemühen müßten.
Ich meine auch, daß Formulierungen wie die, daß ein ganzes Volk verkrüppelt worden ist, nicht fallen sollten, vor allem nicht von Abgeordneten, die aus diesem Teil Deutschlands stammen.

(Ingrid Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Die zwei Minuten sind aber um!)

Sie sollten auch über Ihre Kinder nicht in dieser Weise reden.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205708100
Herr Professor Heuer, Ihre Zeit ist abgelaufen; Sie hatten nur zwei Minuten.

Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS):
Rede ID: ID1205708200
Darf ich noch einen zweiten Satz sagen?

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205708300
Einen Satz noch, aber einen kurzen.

Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS):
Rede ID: ID1205708400
Meine zweite Bemerkung: Es ist die Forderung nach einer Überprüfung von Hans Modrow gefallen. Diese Überprüfung ist vor neun Monaten beantragt worden. Die Ergebnisse sind uns für gestern zugesagt worden; sie sind aber bis heute nicht bekanntgegeben worden.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205708500
Es liegen jetzt insgesamt noch drei Wortmeldungen zu Kurzinterventionen vor. Ich würde nach der zweiten entscheiden, ob ich noch eine dritte zulasse. Als erster erhält Herr Kollege Markus Meckel das Wort, dann Herr Gerster. Ich bitte Sie, sich an die zwei Minuten zu halten.

Markus Meckel (SPD):
Rede ID: ID1205708600
Herr Kollege Heuer, was ich soeben gehört habe, hat mich zutiefst erschüttert. Ich denke, es wäre sehr angemessen gewesen, wenn der Vertreter der PDS, die die Nachfolgeorganisation der SED ist, an diesem Tag wenigstens ihr Bedauern darüber geäußert hätte, was ihre Vorgängerorganisation in 40 Jahren getan hat.

(Lebhafter Beifall bei der SPD, der CDU/ CSU, der FDP und beim Bündnis 90/ GRÜNE)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205708700
Nun Herr Kollege Gerster.

Dr. Johannes Gerster (CDU):
Rede ID: ID1205708800
Frau Präsidentin! Mich hat das gleiche Motiv veranlaßt, mich zu melden. Ich kann mich, nachdem Herr Meckel gesprochen hat, kurz fassen.
Herr Professor Heuer, im Amtlichen Handbuch des Bundestages steht, daß Sie seit 1948 Mitglied der SED waren. Ich empfehle Ihnen, sich anläßlich der Verabschiedung dieses Gesetzes heute für die Verbrechen, die im Namen der SED an unzähligen Opfern begangenen wurden, zu entschuldigen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205708900
Frau Kollegin Babel, wünschen Sie auch noch das Wort? — Nein.
Mir liegen noch zwei Wortmeldungen zu Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor.
Als erster hat der Kollege Hans-Joachim Otto das Wort.

Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1205709000
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit den meisten meiner Vorredner bin ich darin einig, daß der kurz vor Toresschluß erarbeitete Änderungsantrag der Fraktionen dem Gesetzentwurf einige Giftzähne gezogen hat. Dies ist das Ergebnis von massiver Kritik außerhalb, aber auch innerhalb dieses Hauses. Ich begrüße diese Nachbesserung ausdrücklich.
Trotz dieses Änderungsantrages, der, wie ich finde, mit allzu heißer Nadel genäht wurde, bestehen meines Erachtens noch verfassungsrechtliche und politische Bedenken gegen den Gesetzentwurf, so daß ich persönlich mich außerstande sehe, dem Gesetzentwurf meine Zustimmung zu erteilen.
Aus Zeitgründen möchte ich Ihnen hier nur einen Punkt, mein Hauptbedenken, kurz vortragen. Es liegt darin, daß die Presse nach dem Gesetzentwurf nur solche Stasi-Unterlagen publizieren darf, die zuvor von der Gauck-Behörde — bei Verschlußsachen übrigens vom Bundesinnenminister — zur Verwendung freigegeben worden sind. Im Umkehrschluß bedeutet



Hans-Joachim Otto (Frankfurt)

dies ein pauschales Veröffentlichungsverbot für alle übrigen Stasi-Akten.

(Zuruf von der SPD: Wenn Sie an der gesamten Beratung teilgenommen hätten, würden Sie das so nicht sagen!)

— Liebe Frau Kollegin, ich habe mich sehr intensiv an dieser Diskussion beteiligt. Ich glaube, dieser Vorwurf geht wirklich völlig ins Leere. Ich habe auch Ihre Rede gehört. Ich bin einfach anderer Meinung als Sie, und Sie werden mir hoffentlich das Recht zugestehen, hier meine Meinung zu sagen.

(Hans Gottfried Bernrath [SPD]: Selbstverständlich!)

Hieran ändert die Einschränkung der Strafvorschrift
— das will ich klarstellen — nichts; man muß hier Zivilrecht und Strafrecht sauber unterscheiden.
In der offiziellen Begründung des Entwurfs heißt es zwar, die Presse dürfe auch Unterlagen veröffentlichen, die ihr von Betroffenen, Dritten oder Mitarbeitern zugetragen wurden. Dies entspricht meiner Meinung nach jedoch nicht dem Gesetzestext, denn die Befugnis dieser Personen, ihre eigenen Akten nach Einsicht verwenden zu dürfen, ergibt noch keine Befugnis der Presse zur Veröffentlichung. Vielmehr folgt aus der Systematik des Gesetzes eindeutig, daß nur die von Gauck freigegebenen Unterlagen veröffentlicht werden dürfen, somit keine anderen.
Bei dieser Regelung sind augenfällig einige der Verlockung erlegen, dem „Spiegel", dem „Stern" und anderen unbequemen Organen, die erklärtermaßen zahlreiche Stasi-Akten in ihren Giftschränken lagern, eins auszuwischen. Dies mag menschlich durchaus verständlich sein; allein, unser Grundgesetz spielt hier nicht mit.
Ein pauschales Veröffentlichungsverbot für eine bestimmte Art von Informationen hat es bisher meines Wissens in der Bundesrepublik noch nicht gegeben. Im Gegenteil, das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Entscheidungen klargestellt, daß es einer Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht und der Pressefreiheit jeweils im konkreten Einzelfall bedarf. In seinem berühmten Lebach-Urteil heißt es wörtlich — ich darf zitieren — :
Es ist durch Güterabwägung im konkreten Fall zu ermitteln, ob das verfolgte öffentliche Interesse generell und nach der Gestaltung des Einzelfalls den Vorrang verdient, ob der beabsichtigte Eingriff in die Privatsphäre nach Art und Reichweite durch dieses Interesse gefördert wird und im angemessenen Verhältnis zur Bedeutung der Sache steht.
Meine Damen und Herren, folgt man der über Jahrzehnte entwickelten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, so ist jedenfalls eine pauschale, vom Gesetzgeber quasi für alle Fälle vorweggenommene Entscheidung zugunsten des Persönlichkeitsrechts und zu Lasten der Pressefreiheit nicht mit Art. 5 des Grundgesetzes vereinbar. Sie ist im übrigen auch eine pauschale Mißtrauensbekundung gegenüber den Journalisten.

(Otto Schily [SPD]: Sie täuschen sich!)

In seinem Wallraff-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht den Geltungsbereich der Pressefreiheit ausdrücklich auch auf die Veröffentlichung rechtswidrig beschaffter oder erlangter Informationen erstreckt und erklärt, dabei komme der Pressefreiheit insbesondere dann ein besonderes Gewicht zu, wenn die Presse rechtswidrige Zustände oder Verhaltensweisen offenbare, an deren Aufdeckung ein überragendes öffentliches Interesse besteht. Meine Damen und Herren, es gibt wohl kaum einen anderen Bereich, an dessen Aufdeckung ein größeres öffentliches Interesse besteht, als die Vorgehensweise dieser widerlichen Stasi-Spitzelmaschinerie.
Ich bin also — um das abschließend zu sagen — zu dem Ergebnis gekommen, daß die Verfassungsmäßigkeit dieses Gesetzentwurfs zumindest in Frage steht. Wenn das Bundesverfassungsgericht seine bisherige Rechtsprechung nicht abrupt ändert, dürfte das pauschale Verbot der Veröffentlichung jeglicher StasiUnterlagen, die nicht von Gauck freigegeben worden sind, gegen das Grundrecht auf Pressefreiheit verstoßen.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205709100
Herr Kollege, darf ich Sie bitten, zum Ende zu kommen, und zwar sofort.

Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1205709200
Ich bedaure es sehr, daß wohl auch über dieses Gesetz das letzte Wort nicht in Bonn, sondern in Karlsruhe gesprochen wird.

(Beifall bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste und des Bündnisses 90/GRÜNE)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205709300
Als nächster hat zu einer persönlichen Erklärung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung Herr Professor Dr. Wolfgang von Stetten das Wort.

Dr. Freiherr Wolfgang von Stetten (CDU):
Rede ID: ID1205709400
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Obwohl ich die Notwendigkeit von Vergangenheitsbewältigung nicht leugne und die Ernsthaftigkeit und das Ringen der großen Mehrheit dieses Hauses um einen gerechten Weg anerkenne, kann ich dem vorliegenden Gesetz nur schwer zustimmen. Ich kann ihm nur deshalb zustimmen, weil sich auf Grund dieser sehr würdigen Debatte und der sehr unwürdigen Beiträge und der Uneinsichtigkeit der PDS meine Entscheidung geändert hat.
Ich glaube nämlich, daß die Möglichkeit bzw. das Recht zur weitgehenden Einsicht nicht zur Bewältigung der Vergangenheit beiträgt, sondern befürchte, daß wir nach einem vierzigjährigen Schnüffelsystem zehn Jahre oder länger das Unrecht dieser Vergangenheit erschnüffeln, und das mit der bekannten deutschen Gründlichkeit. Wir werden dafür viele Kräfte verschleißen, die wir viel dringender für den Aufbau der Zukunft benötigten. Wir geraten in Gefahr, pharisäerhaft über Menschen zu urteilen, in deren Situation zumindest wir im Westen uns nicht hineinversetzen konnten und auch nicht können.
Ich verkenne die berechtigten Interessen der Unterdrückten, der Gedemütigten und Bespitzelten nicht, verstehe auch ihre Wut und ihre Abscheu über die



Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
Menschen, die sie mißbraucht und verraten haben. Dennoch halte ich dort, wo nicht Verbrechen oder Vergehen vorliegen, Vergebung und Gnade für eine Möglichkeit. Summum ius summa saepe in iuria heißt auf deutsch: Das höchste Recht ist oft das höchste Unrecht, oder anders ausgedrückt: Gnade kann das höchste Recht sein. Das weist auf diesen Weg. Ein Rechtsstaat leidet darunter nicht.
Die 4000jährige Geschichte ist eine Aneinanderreihung von Kriegen, grausamer Unterdrückung, aber eben auch von Frieden, Vergebung und Amnestie. Spanien und Portugal haben ihre grausamen rechten Diktaturen ohne die gründliche Vergangenheitsbewältigung zu den Akten gelegt und haben inneren Frieden. Der Bundespräsident lobte an diesem Montag Präsident Mugabe, weil er um der Freiheit seines Landes willen mit den bisherigen Kolonialherren zusammenarbeitete und sie nicht wegen vorangegangener Verfehlungen und Unterdrückungen verfolgte.
Wir sollten darüber mindestens nachdenken, insbesondere weil die Freiheit von 17 Millionen Deutschen ohne Blutvergießen gekommen ist. Zumindest sollten wir aber ohne Rechthaberei sensibel für notwendige Änderungen bleiben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205709500
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor.
Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung, und zwar zunächst über den von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP sowie der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Stasi-Unterlagen-Gesetzes auf den Drucksachen 12/723, 12/1093 und 12/1540.
Der Gesetzentwurf ist bekanntlich von allen Fraktionen eingebracht worden. Ich weise darauf noch einmal hin, weil die Fraktion der SPD in der Drucksache 12/1540 versehentlich nicht erwähnt worden ist.
Wir stimmen zunächst über die Änderungsanträge der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN ab.
Zuerst stimmen wir über den Änderungsantrag auf Drucksache 12/1553 ab, der Ihnen vorliegt und der sich in seinen Buchstaben a bis d auf die Änderungen der §§ 6, 7, 27a und 36 bezieht. Die Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN verlangt über diese vier Änderungsanträge getrennte Abstimmung.
Wer stimmt für den Änderungsantrag unter dem Buchstaben a? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist bei einer Enthaltung abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag unter Buchstabe b? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen ist auch dieser Änderungsantrag abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag unter Buchstabe c? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Auch dieser Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag unter Buchstabe d? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Auch dieser Änderungsantrag ist abgelehnt.
Jetzt stimmen wir über den Änderungsantrag auf Drucksache 12/1554 ab. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Dieser Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wer stimmt für den Antrag der Abgeordneten Ingrid Köppe und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/1555? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Bei einigen Stimmenthaltungen ist dieser Änderungsantrag ebenfalls abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 12/1556? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Auch dieser Änderungsantrag ist abgelehnt.
Nun kommen wir noch zu dem Änderungsantrag auf Drucksache 12/1557. Wer stimmt für diesen Antrag? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Auch dieser Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wir stimmen jetzt über den Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 12/1563 mit der vom Vorsitzenden des Innenausschusses heute morgen vorgetragenen Ergänzung ab. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei wenigen Gegenstimmen und Stimmenthaltungen ist dieser Änderungsantrag angenommen.
Wir kommen jetzt zum Gesetzentwurf in der Ausschußfassung mit den soeben beschlossenen Änderungen. Der Abgeordnete Lowack hat zu den §§ 36 und 37 getrennte Abstimmung verlangt.
Ich rufe daher zunächst die §§ 1 bis 35 in der Ausschußfassung mit den gerade beschlossenen Änderungen auf. Wer stimmt für diese Paragraphen? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Bei wenigen Gegenstimmen und Stimmenthaltungen sind die §§ 1 bis 35 angenommen.
Jetzt rufe ich den § 36 in der Ausschußfassung mit der beschlossenen Änderung auf. Wer stimmt für diesen geänderten § 36? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Bei wenigen Gegenstimmen und Stimmenthaltungen angenommen.
Wir kommen damit zu § 37 in der Ausschußfassung. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — § 37 ist angenommen.
Ich rufe die §§ 38 bis 40, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei wenigen Gegenstimmen und Stimmenthaltungen angenommen. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Es ist fristgemäß beantragt worden, unmittelbar in die dritte Beratung einzutreten. Sind Sie damit einverstanden? — Dies ist der Fall.
Wir kommen damit zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP sowie der Bundesregierung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Bei einigen Gegenstimmen



Vizepräsidentin Renate Schmidt
und Stimmenthaltungen ist der Gesetzentwurf damit angenommen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)


(Vorsitz: Vizepräsident Hans Klein)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205709600
Meine Damen und Herren, wir haben noch zwei Abstimmungen durchzuführen.
Zunächst zu dem Tagesordnungspunkt 3 b. Es geht um den Gesetzentwurf der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN über die Sicherung und Nutzung der Daten und Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik — Drucksache 12/692 —.
Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/1540 unter Ziffer 2, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN abstimmen.
Wer stimmt dafür?

(Zuruf der Abg. Ingrid Köppe [Bündnis 90/ GRÜNE])

— Ich habe deutlich gesagt, Frau Kollegin: Ich lasse über den Gesetzentwurf der Gruppe Bündnis 90/ DIE GRÜNEN abstimmen. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir stimmen jetzt noch zu Tagesordnungspunkt 3 c über die Beschlußempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 12/1540 unter Ziffer 3 zu dem Antrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/283 ab. Der Innenausschuß empfiehlt, den Teil I des Antrags für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf: Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat mitgeteilt, daß sich das Kabinett u. a. mit der 3. Rentenanpassungsverordnung und dem Waldzustandsbericht der Bundesregierung 1991 befaßt hat.
Ich erinnere an unsere Regeln, nach denen im Anschluß an diese Themen Fragen zu anderen Bereichen gestellt werden können.
Das Wort für den einleitenden Bericht hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm.

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1205709700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der 1. Januar 1992 ist ein wichtiges rentenpolitisches Datum: Ab 1. Januar 1992 gibt es ein gemeinsames Rentenrecht in ganz Deutschland. Die so umgestellten Renten in den neuen Bundesländern werden zum 1. Januar 1992 um 11,65 % angehoben.
Wir haben in beiden Teilen Deutschlands das gleiche Rentenniveau, nämlich rund 70 % der vergleichbaren Löhne. Da die Löhne in den neuen Bundesländern noch niedriger sind, sind die Renten es auch noch. Aber die Aufholjagd hat — und das nicht erst heute — begonnen; die Abstände verringern sich.
Mit der Sozialunion betrug das ostdeutsche Rentenniveau 30 % der Renten in Westdeutschland. Mit der Rentenanpassung zum 1. Juli 1990 stiegen die Renten auf 40 %, zum 1. Januar 1991 auf 46 %, zum 1. Juli 1991 auf 50 %. Jetzt sind sie bei 56,7 % angekommen. Deshalb ist richtig — das weist auch das Ifo-Institut nach — : Die Kaufkraft der Renten hat zugenommen. Ein Ein-Personen-Haushalt hatte im Oktober eine — unter Berücksichtigung der Mieterhöhungen — um 45 % höhere Kaufkraft.
Man kann sich das auch an der Standardrente deutlich machen: Sie betrug vor der deutschen Einheit, vor der Sozialunion 520 DM. In den 520 DM sind bereits Zahlungen aus der freiwilligen Zusatzrentenversicherung enthalten. Diese Rente beträgt heute 993 DM. Sie ist also in eineinhalb Jahren um 90 % angehoben worden.
Man kann die Bedeutung dieser Rentenerhöhungen erst richtig ermessen, wenn man auch die mit der Renten-Überleitungsgesetzgebung verbundenen Verbesserungen berücksichtigt. Die Überleitungsgesetzgebung ist ja die gemeinsame Leistung von FDP, SPD und CDU/CSU.
Die Hinterbliebenenrenten werden verbessert: 900 000 Frauen werden eine bessere Hinterbliebenenrente erhalten. Die durchschnittliche Erhöhung allein der Hinterbliebenenrente wird 280 DM ausmachen. 150 000 Witwen werden zum erstenmal eine Witwenrente erhalten.
Die Altersgrenze wird gesenkt. Das gibt 200 000 Bundesbürgern in den neuen Bundesländern die Gelegenheit, früher in Rente zu gehen als nach dem alten Recht. Das ist im übrigen auch eine Entlastung des Arbeitsmarktes.
Der Zugang zur Invaliditätsrente wird verbessert. Nach dem alten DDR-Recht gab es diese Rente nur für solche Arbeitnehmer, deren Erwerbs- und Berufsfähigkeit zu zwei Dritteln eingeschränkt war. Das wird jetzt dem westdeutschen Rentenrecht angepaßt, so daß nach unseren Schätzungen zwischen 100 000 und 150 000 Arbeitnehmer mit gesundheitlichen Einschränkungen diese Rente in Anspruch nehmen können.
Die Kriegsopferversorgung beteiligt sich an dieser Rentenanhebung. Auch die Kriegsopfer erhalten also eine Erhöhung ihrer Kriegsopferrente um 11,65 %.
Dennoch, Herr Präsident, will ich hier die Gelegenheit wahrnehmen, darauf hinzuweisen, daß von den 280 000 Anträgen auf Kriegsopferrente jetzt genau 80 000 bearbeitet sind. Das finde ich unerträglich. Daher von diesem Platz aus mein Appell an die staatliche Sozialverwaltung, die Kriegsopferrente nicht auf dem Papier stehenzulassen — das Gesetz ist seit dem 1. Januar in Kraft —, sondern dafür zu sorgen, daß alle, die Rechtsansprüche haben, diese auch genießen können.

(Beifall des Abg. Erich G. Fritz [CDU/CSU])





Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205709800
Ich bitte, zunächst Fragen zur 3. Rentenanpassungsverordnung zu stellen. — Herr Abgeordneter Dreßler.

Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID1205709900
Herr Minister, in der Zielsetzung der 3. Verordnung wird u. a. gesagt, daß diese Verordnung unter Berücksichtigung des Netto-Rentenniveaus in der Bundesrepublik Deutschland konzipiert worden ist. Ich möchte Sie fragen: Ist die Berechnungsgrundlage, für das wie es in der Verordnung heißt, Beitrittsgebiet präzise deckungsgleich mit der Berechnungsgrundlage West? Wenn nein: Worin bestehen die Unterschiede in der Berechnungsgrundlage, die zu dem ausgewiesenen Vomhundertsatz von 11,65 führen?

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205710000
Herr Bundesminister, bitte.

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1205710100
Herr Kollege Dreßler, die Aktualisierung der jeweiligen Renten hat, was die neuen Bundesländer anbelangt, einen anderen Bezugspunkt als in den alten Bundesländern. In den alten Bundesländern folgen wir den Lohnentwicklungen im Abstand von einem Jahr. Das ist in den neuen Bundesländern nicht möglich gewesen. Dann hätten wir beim Einstieg auf alte DDR-Löhne Bezug nehmen müssen. Deshalb sind die 11,65 % Rentenanpassung an der erwarteten Lohnerhöhung des ersten alten Jahres 1992 gemessen. Aber es führt zu dem Ergebnis, daß rechts wie links, West wie Ost, neu wie alt das NettoRentenniveau um die 70 % pendelt.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205710200
Der nächste Fragesteller ist der Abgeordnete Volker Kauder.

Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1205710300
Herr Minister, in der Debatte am 26. April ist von der Opposition behauptet worden, das Renten-Überleitungsgesetz könne nicht fristgemäß zum 1. Januar 1992 in Kraft treten. Wie sieht es nun aus? Besteht tatsächlich diese Gefahr? Oder werden die Menschen in den neuen Bundesländern rechtzeitig ihre Rentenbescheide erhalten?

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1205710400
Die Rentenversicherungsträger haben uns diese Zusage gegeben.
Ich will bei dieser Gelegenheit ausdrücklich auf die große Leistung der Rentenversicherungsträger hinweisen. Sie werden fast 4 Millionen Renten umstellen und erhöhen müssen, nämlich 3 Millionen Versichertenrenten und 900 000 Witwenrenten, und zwar in relativ kurzer Zeit. Aber ich will auf die Leistung aufmerksam machen, die diese Rentenversicherungsträger bereits bei der Sozialunion geleistet haben. Da haben sie innerhalb von 14 Tagen ebenfalls fast 4 Millionen Renten umgestellt, ausgerechnet und ausgezahlt. Das wird sicherlich in der Geschichte des deutschen Sozialstaats eine der großen Leistungen der Sozialversicherung sein. Ich nehme Ihre Frage zum Anlaß, den Rentenversicherungsträgern auch dafür zu danken.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205710500
Herr Kollege Dreßler noch einmal.

Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID1205710600
Herr Minister, in der Frage des Fraktionskollegen aus der CDU/CSU-Fraktion wurde gesagt, die SPD habe in der ersten Lesung des Renten-Überleitungsgesetzes behauptet, die Rentenbescheide zum 1. Januar 1992 seien nicht möglich; es wurde die Frage angeschlossen, ob es doch möglich gemacht worden sei. Dies veranlaßt mich, Sie zu bitten, sich mit mir gemeinsam zu erinnern, daß sich die Kritik der Opposition in der ersten Lesung des RentenÜberleitungsgesetzes ausdrücklich auf eine Äußerung des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger bezog, die, wenn sie unerfüllt bleibe, die Möglichkeit der Auszahlung nicht berücksichtige.
Zweitens darf ich Sie in diesem Zusammenhang fragen, ob Sie sich daran erinnern, daß anläßlich der zweiten und der dritten Lesung des Renten-Überleitungsgesetzes ein gemeinsamer längerer Änderungsantrag zum Entwurf der Bundesregierung diesem Hause vorgelegen hat, den Sie mit mir und weiteren Kollegen der Fraktionen bis in die Nacht vor der zweiten und der dritten Lesung zu einer einvernehmlichen Regelung führten. Das würde dann dazu führen, daß Sie Ihrem Fraktionskollegen in dieser Frage möglicherweise ein wenig Nachhilfeunterricht schenken könnten.

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1205710700
Herr Kollege — —

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205710800
Verzeihung, Herr Bundesminister, ich muß noch erst eine kleine Bemerkung zur Geschäftsordnung machen.

(Rudolf Dreßler [SPD]: Die habe ich erwartet!)

Herr Kollege Dreßler, ich nehme an, es hat allen ein professionelles Vergnügen bereitet, wie Sie einen etwas längeren Debattenbeitrag in Frageform gekleidet haben. Aber ich darf nun bitten, daß Sie sich alle daran erinnern, daß diese Regierungsbefragung ein Regelwerk hat, zu dessen Inhalt es gehört, daß möglichst kurze Fragen gestellt werden und die Regierung — übrigens ebenfalls möglichst kurz — antwortet.

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1205710900
Herr Präsident, deshalb will ich jenen Teil, der über die Bande gespielt ist, Ihrer Empfehlung entsprechend nicht berücksichtigen, sondern nur die Frage selbst. Und die beantworte ich wie folgt.
Ich entsinne mich immer an das, was Sie und ich gemeinsam gemacht haben.

(Heiterkeit)

Ich entsinne mich weniger an das, was Sie und ich nicht gemeinsam gemacht haben. Es hat der Rente gutgetan, und es hat der Rentenversicherung gutgetan.
Ich bedanke mich bei dem Kollegen Kauder, daß er mir die Möglichkeit gegeben hat, den Rentnern in den neuen Bundesländern zu sagen: Wir haben alles getan, damit ihre Rente rechtzeitig ausgezahlt werden kann.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205711000
Die nächste Frage stellt der Abgeordnete Heinz Rother.




Heinz Rother (CDU):
Rede ID: ID1205711100
Herr Minister, zum 1. Januar 1992 wird in den neuen Bundesländern die dort bisher nicht bestehende Regelung eingeführt, daß die Rentner an den Kosten für ihre Krankenversicherung beteiligt werden. Führt das nicht unter Umständen dazu, daß sich die Vorteile aus der Rentenanpassung etwa halbieren?

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1205711200
Nun, wir haben ja auch auf Anfrage klargestellt, daß die Rente zunächst um den Betrag angehoben wird, der als Rentnerbeitrag anschließend an die Krankenversicherung gezahlt wird, so daß sich von da her keine Rentenminderung ergibt. Ich will nur darauf aufmerksam machen, daß schon bisher die Rentenversicherung einen Beitrag an die Krankenversicherung gezahlt hat, daß sich aber ab 1. Januar auch der Rentner dort wie im Westen an dem Krankenversicherungsbeitrag beteiligt, ohne deshalb befürchten zu müssen, daß die Anpassung ab 1. Januar 1992 aus diesem Grunde für ihn niedriger ist; denn wir erhöhen die Rente zunächst einmal um diesen Betrag.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205711300
Herr Kollege Laumann, Sie haben sich zwar schon eine Weile gemeldet, aber wir versuchen hier immer, ein bißchen Koalition und Opposition zu mischen. Deshalb gebe ich das Wort zu einer Frage zunächst dem Kollegen Klaus Kirschner.

Klaus Kirschner (SPD):
Rede ID: ID1205711400
Herr Minister, nachdem Sie vorhin gerade so viel Lob, Eigenlob und anderes Lob, verteilt haben, was Ihnen ja auch zusteht, frage ich Sie: Hat das Kabinett heute auch über Ihr Interview im ,,General-Anzeiger" gesprochen, in dem Sie erklärt haben, die Selbstbeteiligung sei der einzige Flop der Reform? Damit meinten Sie ja Ihr sogenanntes Gesundheits-Reformgesetz. Da, was die Festbeträge angeht, statt der angepeilten 80 bis 90 % gerade nur ein Drittel erreicht ist, frage ich: Gehen Sie, Herr Bundesarbeitsminister, der Sie ja lobender Vater der sogenannten Gesundheitsreform sind, davon aus, daß dieses Gesundheits-Reformgesetz nun am Ende ist? Wann ist mit einem neuen zu rechnen?

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1205711500
Herr Kollege Kirschner, ich hoffe, Sie stimmen dem mir erwünschten Lob zu, daß die Gesundheitsreform verhindert hat, daß wir heute einen Beitrag von 14,2 % haben. Wie Sie sich entsinnen können, waren die Beiträge Jahr für Jahr um 0,5 % gestiegen. Das haben wir nicht nur verhindert, sondern die Beiträge sind gesunken. Diese Beitragssenkung macht eine Ersparnis von über 50 Milliarden DM aus. Das wird viel zuwenig gewürdigt.
Richtig ist, Herr Kollege Kirschner, daß der Teil der Gesundheitsreform, den die Selbstverwaltung zu übernehmen hatte, nicht mit der gleichen Entschlossenheit durchgesetzt wurde wie das, was wir als Gesetzgeber zu verantworten haben. Deshalb sind beispielsweise die Festbeträge derzeit nur bei einem Stand von 30 %. Die Selbstverwaltung hat hier offenbar an Kraft verloren. Ich will darauf aufmerksam machen, daß das Modell Festbeträge in unserem Nachbarland Holland fast den gesamten Medikamentenbereich abdeckt. Allerdings ist dort der Festbetrag nicht von der Selbstverwaltung, sondern von dem Verordnungsgeber durchgesetzt worden. Es bleibt die
große Verantwortung, daß die Selbstverwaltung ihre Aufgabe so ernst nimmt, wie sie der Gesetzgeber im Interesse der Versicherten ernst genommen hat.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205711600
Ich bin mir nicht ganz sicher, Herr Bundesminister, ob die Gesundheitsreform heute im Kabinett behandelt wurde.

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1205711700
Diese Frage habe ich möglicherweise — —

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205711800
Nein, nein; es ist völlig richtig, daß Sie eine Ihnen gestellte Frage beantworten.

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1205711900
Dann will ich noch hinzufügen, daß die Gesundheitsreform heute in der Kabinettssitzung keine Rolle gespielt hat; denn nicht jedes Interview, das ich gebe, wird im Kabinett diskutiert.

(Heiterkeit)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205712000
Ich wäre den nächsten Kollegen dankbar, wenn sie noch Fragen zur Rentenanpassungsverordnung stellen würden.
Als nächster Herr Kollege Karl-Josef Laumann.

(Gerd Andres [SPD]: Lauter bestellte Fragen! Das ist ja unglaublich!)


Karl-Josef Laumann (CDU):
Rede ID: ID1205712100
Herr Minister, das Renten-Überleitungsgesetz hat es mit sich gebracht, daß wir in den nächsten Jahren, zumindest so lange, bis wir den wirtschaftlichen Aufschwung in Ostdeutschland geschafft haben, erhebliche Beitragsmittel, die hier im Westen aufgebracht werden, zur Finanzierung der Renten in Ostdeutschland brauchen. Es gibt bei uns, wie das, glaube ich, in einer Wohlstandsgesellschaft wohl immer so ist, natürlich auch Leute, die jetzt um die Stabilität und Solidität unserer Rentenfinanzen fürchten.
Ich möchte Sie fragen: Wie beurteilen Sie die Sicherheit der Finanzierung unserer Rentenversicherung?

(Lachen bei der SPD — Gerd Andres [SPD]: Bravo!)


Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1205712200
Herr Präsident, ich nehme den Zuruf der SPD sehr gerne auf:

(Gerd Andres [SPD]: Unglaublich!) Die Rente ist sicher.


(Detlev von Larcher [SPD]: Das also ist die Kontrolle der Regierung!)

Ich will ausdrücklich darauf aufmerksam machen, daß diese Aufholjagd der Renten in den neuen Bundesländern nur zu sehr berechtigt ist. Das ist jener Personenkreis, der am längsten unter Unrecht gelitten hat; es ist jener Personenkreis, dem die wenigste Zeit zur Verfügung steht, dies wettzumachen, weniger Zeit jedenfalls als den Jüngeren.
Was unsere gesamte Rentenversicherung anbelangt, will ich darauf aufmerksam machen, daß wir



Bundesminister Dr. Norbert Blüm
jetzt einen Beitrag von 17,7 % haben; dies wird auch im nächsten Jahr so sein. Als wir die Rentenversicherung 1982 in unsere Regierungsverantwortung übernahmen, waren es 18 %; wir hatten schon einmal 19,2 %, wir haben sogar zu Beginn dieses Jahres noch 18,7 % gehabt. 1994 werden wir nach unseren Berechnungen 18,5 % haben — das ist immer noch weniger als zu Anfang dieses Jahres —; 1995 werden es 18,2 % sein. Das ist weniger, als wir gemeinsam bei der Rentenreform 1989 geschätzt haben; da haben wir nämlich gemeinsam 19 % geschätzt. Wir kommen aber bei 18,2 % an.
Insgesamt, Herr Präsident, ist natürlich die deutsche Einheit auch mit einer großen Solidarleistung westdeutscher Kassen für Ostdeutsche verbunden. Insgesamt macht dieser Transfer vier Beitragspunkte aus. Ich finde, das ist eine große Solidaritätsleistung. Ich denke allerdings, daß Entlastung auch daraus folgt: Wenn sich die wirtschaftlichen Verhältnisse bessern, werden sich auch diese Beitragslasten vermindern.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205712300
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, dazu liegen noch zwei Wortmeldungen vor; eine dritte ist angesagt. Ich würde aber nach 25 Minuten doch noch gerne die Chance eröffnen, einige andere Themen zu diskutieren. Ich möchte also darum bitten, daß wir es damit bewenden lassen.
Die nächste Wortmeldung kommt von dem Kollegen Julius Louven.

(Gerd Andres [SPD]: Noch solch eine bestellte Frage! Das ist ja unglaublich! Machen Sie doch Arbeitsgruppen!)


Julius Louven (CDU):
Rede ID: ID1205712400
Herr Kollege Andres, warten Sie doch mal ab. Ich habe meine Frage noch gar nicht gestellt.
Herr Minister, ich habe soeben noch in meinem Büro gehört, wie Sie ausführten, daß von den 280 000 Antragsberechtigten in der Kriegsopferversorgung bisher 80 000 eigen positiven Bescheid haben. Ich bin mit Ihnen der Meinung, daß diese Zahl unbefriedigend ist. Sicherlich sind hier die Landesversorgungsverwaltungen zuständig.
Ich frage Sie: Sehen Sie von seiten des Bundes eine Möglichkeit, hier zu helfen, um die Verfahren zu beschleunigen?

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1205712500
Herr Kollege Louven, ich empfinde das wie Sie als unerträglich. Der Bund hat dafür keine Rechtsmittel. Es bleibt bei dem eindringlichen Appell an die Länder. Ich halte es für unerträglich, daß von den Kriegsopfern, die seit dem 1. Januar kriegsopferrentenberechtigt sind, nur 27 % seitdem eine Kriegsopferrente haben. Es wird zwar nachgezahlt; dennoch gilt: Wir können einen Sozialstaat, der nur Gesetze produziert, aber nicht dafür sorgt, daß sie umgesetzt werden, nicht hinnehmen.
Was die angebotenen Hilfen anbelangt, so kommen sie aus allen Ländern Westdeutschlands. Ich glaube, ein Weg, mit dem die Bearbeitung verkürzt werden könnte, ist — diese Empfehlung haben wir schon öfter gegeben — , Vorabentscheidungen zu treffen, vorauszuzahlen und dann endgültige Zahlungen nach der Bearbeitung zu leisten. Aber eine Witwe ist eine Witwe; sie kann doch jetzt bereits eine Kriegsopferwitwenrente bekommen. Ein Prothesenträger hat ein Bein verloren, wenn er eine Beinprothese hat. Da sollten Vorabentscheidungen getroffen werden; denn wie Sie glaube ich, wir können es nicht verantworten, daß viele Kriegsopfer auf ihre Kriegsopferrente warten.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205712600
Die letzte Frage zu dem Thema stellt der Kollege Volker Kauder.

Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1205712700
Herr Minister, in der Debatte über das Rentenüberleitungsgesetz hat die Frage eine besondere Rolle gespielt, wie die Rentensituation der Frauen in den neuen Ländern ist. Können Sie kurz sagen, wie die Situation sich dort darstellt, wie sich die Sache entwickelt hat, ob die Frauen tatsächlich die Verlierer in der Rente gewesen sind?

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1205712800
Herr Kollege Kauder! Ich habe ja vorhin gesagt, die umgestellten Renten werden um 11,65 % erhöht. Das kann in einigen Fällen dazu führen, daß das nicht 11,65 % der ausgezahlten Rente sind. In anderen Fällen führt das dazu, daß es mehr als 11,65 % der Renten sind. Wenn man Durchschnittswerte greift, beträgt auf den ersten Blick bei den Frauen die Erhöhung durchschnittlich nicht 11,65 %, sondern 9 %, bei den Männern durchschnittlich 16 %. Wenn man allerdings berücksichtigt, daß bei der Umstellung auch die Hinterbliebenenrente — bei manchen zum erstenmal — aufgebessert wird, dann entspricht dieser Betrag bei den Frauen 21 %. Ich glaube, gerade die Witwen profitieren davon, daß jetzt das westdeutsche Rentenrecht auch in den neuen Bundesländern gilt. Denn in der DDR stürzte die Rente des Mannes, wenn die Frau eine eigene Rente hatte, auf 25 % ab. Sie wird jetzt auf 60 % erhöht.
Der langen Rede kurzer Sinn: Ich glaube, daß es gerade die Witwen sind, die von der deutschen Einheit kräftig profitieren. Und das gönnen wir ihnen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205712900
Vielen Dank, Herr Bundesminister. Wir können jetzt zu anderen Themenbereichen kommen. Bereits gemeldet haben sich dazu die Kollegen Martin Mayer, Gerd Andres und Otto Schily. Zunächst Herr Mayer.

Dr. Martin Mayer (CSU):
Rede ID: ID1205713000
Hat sich die Bundesregierung mit dem Langzeitprogramm der Europäischen Raumfahrtagentur ESA und insbesondere der Finanzierung des Raumfahrzeugs „Hermes" befaßt? Wenn ja: Mit welchem Ergebnis?

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205713100
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, bitte.

Dr. Erich Riedl (CSU):
Rede ID: ID1205713200
Herr Präsident! Herr Abgeordneter! Unmittelbar vor der Kabinettsitzung hat es ein Koalitionsgespräch zu diesem Thema gegeben, und zwar im Hinblick auf die Festlegung der Verhandlungspositionen der Bundesregierung bei der am kommenden Montag in München stattfindenden ESA-Weltraumkonferenz. Der Bundesminister für



Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Erich Riedl
Forschung und Technologie, Dr. Heinz Riesenhuber, hat das Ergebnis dieses Koalitionsgesprächs dem Bundeskabinett mitgeteilt.
Ich habe jetzt ein Problem, Herr Abgeordneter. Der Bundeskanzler hat die Absicht, die in der Koalition festgelegte und von Herrn Bundesminister Riesenhuber dem Kabinett vorgetragene Linie heute nachmittag bzw. morgen vormittag im Rahmen des deutschfranzösischen Gipfeltreffens mit Staatspräsident Mitterrand und den Fachministern zu besprechen. Er hat gebeten, daß in der Öffentlichkeit hierüber erst berichtet wird, wenn diese Gespräche abgeschlossen sind, weil, wie Sie wissen, Deutschland und Frankreich zu den wichtigsten europäischen Weltraumnationen gehören und deshalb eine dominierende Rolle auf der ESA-Weltraumkonferenz spielen.
Ohne diese Vertraulichkeit, die notwendig und richtig ist und den Usancen entspricht, zu verletzen, kann ich Ihnen aber sagen, daß die Bundesregierung ihre bisherige Position der aktiven Beteiligung an der bemannten und unbemannten Raumfahrt in der Zukunft gemeinsam mit Frankreich und den europäischen Weltraumnationen, vor allen Dingen unter Berücksichtigung der ja nicht nur bei uns in Deutschland, sondern auch in Frankreich und anderswo vorherrschenden haushälterischen Schwierigkeiten fortsetzen wird.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205713300
Danke, Herr Dr. Riedl.
Die nächste Frage betrifft wiederum ein anderes Thema. Bitte Herr Kollege Gerd Andres.

Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1205713400
Wie zu hören war, hat das Bundeskabinett heute die Ausländerbeauftragte ernannt. Nachdem Frau Schmalz-Jacobsen erst noch ihren Job als Generalsekretärin der FDP erledigen mußte, war in der letzten Woche zu lesen, daß es Koalitionsverhandlungen über die inhaltliche Zuständigkeit sowie um die materielle und personelle Ausstattung dieses Amtes gegeben hat. Deswegen frage ich die Bundesregierung, ob heute Beschlüsse hinsichtlich der Aufwertung und der Ausstattung dieses Amtes gefaßt wurden.

Anton Pfeifer (CDU):
Rede ID: ID1205713500
Herr Präsident! Herr Kollege, es ist richtig, daß die Bundesregierung heute Beschlüsse zur Erweiterung des Aufgabenbereichs der Ausländerbeauftragten gefaßt hat. Es ist ebenfalls richtig, daß heute im Kabinett beschlossen worden ist, dem Haushaltsausschuß des Bundestages vorzuschlagen, auch die Ausstattung zu verbessern.

(Gerd Andres [SPD]: Darf ich dazu noch eine Frage stellen?)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205713600
Herr Kollege, die Geschichte ist so: Ich habe zwei Themen angekündigt. Zu einem der beiden Themen hat sich jetzt der Kollege Schily gemeldet. —
Frau Klappert, zu welchem Thema wollten Sie eine Frage stellen?

(Marianne Klappert [SPD]: Waldschadensbericht!)

Herr Kollege Schily, bitte.

(Dr. Burkhard Hirsch [FDP]: Herr Präsident, zur Ausländerbeauftragten!)

— Bitte, Herr Kollege Hirsch.

(Gerd Andres [SPD]: Dann hätte ich auch noch eine Frage stellen können!)

— Herr Andres, auch zum Ausländerbeauftragten?

(Gerd Andres [SPD]: Ja!)

— Entschuldigung, aber ich denke, daß jeweils eine Frage genügt. Sie, Herr Andres, haben eine Frage gestellt. Jetzt stellt der Kollege Hirsch eine Frage, und dann kommen wir zum Waldschadensbericht. Das ist doch wohl fair.

(Gerd Andres [SPD]: Das kommt darauf an, was Herr Hirsch sagt!)

Bitte, Herr Kollege Hirsch.

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1205713700
— Ich will wahrscheinlich dasselbe fragen wie Sie, Herr Andres.

Dr. Norbert Herr (CDU):
Rede ID: ID1205713800
Würde es Ihnen etwas ausmachen, uns und der Öffentlichkeit vielleicht etwas mehr darüber zu sagen, wie die Ausstattung finanziell und personell und in bezug auf den Zugang zu Entscheidungen nach dem Beschluß der Bundesregierung aussehen wird?

(Beifall bei der SPD)


Anton Pfeifer (CDU):
Rede ID: ID1205713900
Herr Kollege Hirsch, der Kabinettsbeschluß zielt darauf, daß die haushaltsmäßigen Auswirkungen der Tätigkeit der Beauftragten durch die Einstellung der notwendigen Sach- und Personalkosten im jeweiligen Haushalt zu berücksichtigen sind. Dabei ist dem Umstand Rechnung zu tragen, daß sich das räumliche Aufgabengebiet der Beauftragten durch die Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands vergrößert hat. Die Einzelheiten sind dem Haushaltsausschuß vorgetragen worden. Es geht sowohl um die Ausstattung mit Personalmitteln als auch um die Aufstockung von Sachmitteln.

(Dr. Burkhard Hirsch [FDP]: Nennen Sie doch die Zahlen! Die sind doch bekannt! Sagen Sie es doch auch den Kollegen!)

— Es tut mir leid, aber ich möchte an dieser Stelle nicht dem Finanzminister, der das dem Haushaltsausschuß vorgetragen hat, vorgreifen.
Der zweite Punkt: Was den Auftrag angeht, so erstreckt er sich auf die ausländischen Arbeitnehmer sowie die übrigen Ausländer, die sich auf Grund einer Aufenthaltserlaubnis, einer Aufenthaltsberechtigung, einer bilateralen staatlichen Vereinbarung oder einer EG-rechtlichen Vereinbarung in der Bundesrepublik aufhalten — einschließlich der nachzugsberechtigten Familienangehörigen, also nicht nur auf die ausländischen Arbeitnehmer. Darüber hinaus ist auch festgelegt worden, daß beispielsweise bei der Vorbereitung von Gesetzen und Rechtsverordnungen sowie bei sonstigen Angelegenheiten, die den Aufgabenbereich der Beauftragten betreffen, die Beauftragte beteiligt



Staatsminister Anton Pfeifer
wird. Das sind, glaube ich, wesentliche Ausweitungen der Zuständigkeiten im Vergleich zur seitherigen Regelung.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205714000
Danke, Herr Staatsminister. — Nun zur nächsten Frage zum Waldzustandsbericht Herr Abgeordneter Schily.

Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1205714100
Da bereits bekanntgeworden ist, daß nach dem Waldschadensbericht außerordentlich besorgniserregende Krankheitsbilder der deutschen Wälder festzustellen sind, frage ich die Bundesregierung, welche Konsequenzen denn heute erörtert 'Norden sind, die aus diesem Waldschadensbericht zu ziehen sind.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205714200
Bitte, Herr Staatssekretär.

Gottfried Haschke (CDU):
Rede ID: ID1205714300
Der Waldschadensbericht ist heute im Kabinett vorgetragen worden, und wir wissen alle, wie es in den Wäldern aussieht und wie der Zustand in den einzelnen Bundesländern ist. Er ist im Altbundesgebiet und in den neuen Bundesländern unterschiedlich. Es gibt deutliche Schäden: In den Altbundesländern sind 18 % des Waldes, in den neuen Bundesländern 38 % des Waldes stark geschädigt. Es ist zu verzeichnen, daß sich die Schäden in den Altbundesländern von 1986 bis 1989 leicht verbessert haben und 1991 wieder eine leichte Verschlechterung eingetreten ist.

(Zuruf von der SPD: Beantworten Sie doch die Frage!)

Es sind heute keine Beschlüsse dazu gefaßt worden, wie in entsprechender Weise Abhilfe geschaffen wird, sondern in dem Waldschadensbericht sind künftige Handlungsschwerpunkte herausgestellt worden. Das sind natürlich die Maßnahmen für die Luftreinhaltung, natürlich auch die Maßnahmen für die Bodenreinhaltung, die von der Industrie geforderte und überhaupt von der gesamten Volkswirtschaft geforderte Rückführung des Schadstoffausstoßes — auch im Bereich der Landwirtschaft — , die Verringerung der Immissionen und alles, was in diesen Zusammenhang gehört. Darüber läßt sich hier vieles sagen; aber das ist alles in diesem Zustandsbericht enthalten, und der hat Zustimmung gefunden.

(Abg. Marianne Klappert [SPD] meldet sich zu einer Frage)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205714400
Ich wollte gern zunächst noch eine Frage zulassen. — Sie lassen sich lieber vertreten. Bitte, Herr Schily!

Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1205714500
Ich glaube nicht, daß meine Fraktionskollegin sich vertreten lassen will; sie ist nur so gütig, mir in diesem Falle eine Zusatzfrage zu ermöglichen, und dafür bedanke ich mich ausdrücklich.
Von der Möglichkeit, Herr Staatssekretär, vieles zu sagen, haben Sie hier bedauerlicherweise keinen Gebrauch gemacht. Das, was Sie uns hier aus dem Waldschadensbericht mitgeteilt haben, konnte man bereits
in den Zeitungen lesen. Das lediglich zu wiederholen ist nicht der Sinn einer solchen Befragung.

(Beifall bei der SPD)

Ich hätte gern gewußt, welche konkreten Maßnahmen die Bundesregierung auf Grund dieser besorgniserregenden Tatbestände, die in dem Waldschadensbericht zutage treten, beschlossen hat. Ich verhehle es nicht, ich halte das Waldsterben in Mitteleuropa für eine der größten ökologischen Katastrophen, und ich fordere von der Bundesregierung, daß sie etwas in die Wege leitet, damit dieses Waldsterben gestoppt wird. Dann möchte ich nicht solche Sprechblasen, wie Sie sie von sich gegeben haben, hören. Ich möchte eine konkrete Antwort haben.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205714600
Herr Kollege Schily, wir stellen hier Fragen und geben keine Bewertung ab.

(Otto Schily [SPD]: Entschuldigung! — Detlev von Larcher [SPD]: Aber er hat recht!)


Gottfried Haschke (CDU):
Rede ID: ID1205714700
Lieber Herr Kollege, ich sagte Ihnen ja: Die künftigen Handlungsschwerpunkte sind herausgestellt worden. Das sind die Luftreinhaltung, die zügige Verringerung der Schadstoffemissionen aus der Energieerzeugung, den Industrieanlagen, vor allen Dingen in den neuen Bundesländern, aber auch grenzüberschreitend — wie uns ja bekannt ist — die Herabsetzung der Stickstoffoxid- und anderen Emissionen im Straßenverkehr und dergleichen Dinge. Ich nenne weiterhin die Verringerung der CO2-Emissionen um 25 bis 30 % bis zum Jahre 2005 im Vergleich zu 1987 sowie im Blick auf die UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung im Jahre 1992 die Forderung, eine völkerrechtlich verbindliche Klimakonvention mit Protokollen über eine CO2-Minderung und den Schutz der Wälder zu vereinbaren.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205714800
Frau Abgeordnete Klappert.

Marianne Klappert (SPD):
Rede ID: ID1205714900
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bereit, auf Grund des jetzt vorgelegten Waldschadensberichtes nun endlich eine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung für den Kfz-Verkehr einzuführen? Die zweite Frage lautet: Ist die Bundesregierung auf Grund der nachweisbaren Erfolge der Kompensationskalkungen bereit, diese Maßnahmen zu bezuschussen, damit die Waldbesitzer von den hohen Kosten befreit werden können?

Gottfried Haschke (CDU):
Rede ID: ID1205715000
Was die Geschwindigkeitsbegrenzung betrifft, möchte ich Ihnen von seiten meines Hauses sagen, daß wir dafür nicht zuständig sind, daß das vielmehr ein allgemeines Problem ist, was in der Diskussion ist und hier nicht zur Debatte steht.
Was die Hilfe für die Betroffenen angesichts der neuen Waldschäden angeht, muß ich Ihnen sagen: Diese Problematik steht noch offen. Hier ist keine Zusage irgendeiner finanziellen Unterstützung für den einzelnen Waldbesitzer getroffen worden.




Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205715100
Danke sehr, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Die für die Befragung der Bundesregierung vorgesehene Zeit ist mit einer kleinen Überschreitung abgelaufen. Ich beende die Befragung.
Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zur gemeinsamen Innenpolitik im Europa der Demokratien nach dem Außenminister-Konklave in Noordwijk
Die Fraktion der FDP hat eine Aktuelle Stunde zu dem genannten Thema verlangt. Als erstem erteile ich dem Abgeordneten Wolfgang Lüder das Wort.

Wolfgang Lüder (FDP):
Rede ID: ID1205715200
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gestern und vorgestern haben die Außenminister der europäischen Staaten in Noordwijk einen weiteren Schritt zur Vorbereitung der Europäischen Union, die auf dem europäischen Gipfel in Maastricht im Dezember verabschiedet werden soll, verabredet. Nach den vielen offiziellen multilateralen und bilateralen Konferenzen der Vergangenheit, über die wir hier in der letzten Woche diskutiert haben, haben die Minister auf dem Weg zur europäischen Effektivität jetzt Anleihe bei der Sprache des Vatikans genommen: Sie gingen ins Klonkave, wie sie es selbst nannten.

(Hermann Rind [FDP]: Steigt der weiße Rauch auf?)

Heute, einen Tag danach, wollen wir gerne wissen, ob auf der Suche nach mehr Demokratie für die Europäische Union auch wirklich weißer Rauch aufsteigen kann.
In der vergangenen Woche haben wir hier in der ausführlichen Beratung zum NATO- und zum EG-Gipfel viele Fragen der Europäischen Union besprochen. Aber ein Feld blieb ausgeklammert: die Innenpolitik.
Eine Europäische Union aber wird nach Meinung meiner Fraktion — ich glaube, da stehen wir nicht allein — von den europäischen Bürgern nur dann akzeptiert werden, wenn sie nicht nur wirtschaftliche Zusammenarbeit garantiert und internationale politische Gemeinsamkeit anstrebt. Die Europäische Union muß auch eine Union europäischer Bürger sein. Sie muß Bürgerrechte europäisch garantieren. Im Europa ohne Grenzen soll ja auch die Bewegungsfreiheit der Bürger grenzenlos sein. Es soll und wird also auch eine europäische Innenpolitik geben und geben müssen.
Für die Verantwortlichen für die innere Sicherheit wird die Europäische Gemeinschaft und nicht mehr der Einzelstaat im Vordergrund stehen. Der Standard im Datenschutz, dem Grundfreiheitsrecht für alle europäischen Bürger, muß europäisch garantiert sein. Die Rechtsstaatsgarantie für den Bürger gegen Eingriffe des Staates muß europaweit einheitlich verankert sein. Die Kriminalitätsbekämpfung kann nicht mehr kleinstaatlich national erfolgen. Sie wird europäische Dimensionen annehmen.
Auch die Ausländerpolitik, also die Politik für und über jene Mitbürger, die keinen europäischen Paß tragen, muß europäisch angenähert sein.

(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Was sagen Sie dazu, daß das jetzt auf 1995 verschoben ist?)

Die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und auch der Schutz des einzelnen zur Wahrung seines Anspruchs auf politisches Asyl müssen europaweit garantiert werden.
Allein diese Themenfülle zeigt, welche Wegstrecke noch abzuschreiten ist. Wie weit der Weg gesteckt ist, haben wir aus manchen Mitteilungen erfahren. Aber wir müssen diesen Weg gehen.
Die europapolitische Herausforderung für die Innenpolitik ist damit nur andeutungsweise umrissen. Ich habe nur einige Themen nennen können.
Wir unterstützen das Bestreben, auf allen diesen Gebieten europäische Lösungen zu erreichen, aber nur, wenn und soweit erstens in Europa Regierungs- und Kommissionshandeln parlamentarisch effektiv kontrolliert sind,

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, CDU/ CSU und der SPD)

wenn und soweit zweitens in Europa Verwaltungshandeln gerichtlich überprüfbar ist und wenn und soweit drittens die Individualrechte der Bürger Europas in einem Maße geschützt sind, wie es die Grundwerte unseres Grundgesetzes wollen.

(Beifall bei der Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Europa darf nicht um jeden Preis kommen. Wir brauchen die Sicherheit, daß die Befugnisse des Parlaments ausgeweitet werden. Hier unterstützen wir voll das, was die Bundesregierung auch öffentlich immer wieder verlautbaren läßt.
Aber wir wollen mehr. Wir wollen keine innenpolitischen Entscheidungen, die parlamentarisch nicht kontrollierbar sind. Wir wollen keine Gefährdungen dahin gehend, daß Rechte des Bürgers eingeschränkt werden, ohne daß entweder das Europaparlament oder die nationalen Parlamente nicht nur das Sagen bei der Einrichtung, sondern überhaupt das Sagen sowie ein Fragerecht haben, und zwar ein effektiveres,

(Beifall der Abg. Heidemarie WieczorekZeul [SPD])

als wir das eben bei der sogenannten Regierungsbefragung erlebt haben.
Es geht hier darum, deutlich zu machen, daß ein Europa der Demokratien ein demokratisches Europa sein muß, mit Rechten für den Bürger, wie wir sie in Jahren erarbeitet haben und wie sie unser Grundgesetz für unsere Bürger beispielhaft vorsieht. Wir wollen nicht die Besten in Europa sein, aber Grundwerte und Grundrechte sollen geschützt sein, bevor wir innenpolitische Kompetenzen auf andere übertragen.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)





Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205715300
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Dr. Christoph Zöpel.

Dr. Christoph Zöpel (SPD):
Rede ID: ID1205715400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Auseinandersetzung in diesem Hause über europapolitische Fragen vollzieht sich ja nun in gedrängter Folge in Aktuellen Stunden. Das ist natürlich nicht schlecht, aber entbehrt nicht ganz einer gewissen Tragik; denn die ordentliche Behandlung in diesem Hause ist erheblich behindert worden,

(Beifall bei der SPD)

nämlich durch das Gezerre um die Bildung eines Europaausschusses. Wenn Sie, Herr Kollege Lüder von der FDP, jetzt auf diese aktuelle Eile dringen, dann ist das, wenn man die Vergangenheit, die letzten Wochen, Revue passieren läßt, besonders ironisch.

(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: So ist es!)

Ihr Bekenntnis dazu, daß die wichtigste innenpolitische Frage in Europa die Frage der Demokratie und echter parlamentarischer Rechte eines voll funktionsfähigen Parlaments ist, findet Zustimmung. Es wäre aber schön gewesen, wenn der gleiche Einsatz für die schnelle und zügige Behandlung europäischer Fragen in diesem Parlament gezeigt worden wäre.

(Beifall bei der SPD)

In der Verknüpfung mit der Innenpolitik zeigt sich — vielleicht sogar noch deutlicher als bei den wirtschaftlichen und bei den sicherheitspolitischen Fragen — , wie eng der Zusammenhang zwischen einem veränderten Europa und einem vielleicht dann auch veränderten oder nach Möglichkeit eben nicht veränderten politischen Klima in Deutschland sein würde. Das Thema Nr. 1, das Sie auch angesprochen haben, die Rechte der Polizei, macht das ja deutlich. Herr Kollege Dr. Hirsch, ich sehe Sie an und sage: Zweifellos ist es richtig, daß es polizeiliche Kompetenzen auf europäischer Ebene geben muß, weil eben die Verbrecher europäisch agieren. Aber ohne die Chance, daß parlamentarische Ausschüsse, notfalls parlamentarische Untersuchungsausschüsse, aufpassen, was denn dann eine europäische Polizei macht, geht es nicht.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Peter Kittelmann [CDU/CSU])

Hier zeigt sich natürlich auch der Zusammenhang mit den föderalen Strukturen in Deutschland; denn bisher sind es ja überwiegend die Parlamentsausschüsse oder die Parlamente der Länder als Ganze, die aufpassen, daß die Polizei gut funktioniert, wie das überwiegend ja in Ihrer Amtszeit in Nordrhein-Westfalen der Fall war, Herr Kollege, wie ich hinzufügen möchte.
Die Tatsache, daß die Debatte hier im Parlament und damit auch in der deutschen Öffentlichkeit verhindert worden ist, hat natürlich dazu beigetragen, daß das Thema Europa mißbraucht werden konnte, mißbraucht werden konnte als Alibi oder als etwas Drohendes, das uns daran hindert, die richtigen Regelungen zu treffen. Ein Thema ist uns ja schon so vorgeführt worden — meine Kollegin, Frau Sonntag, wird darauf zurückkommen — , bei dem im Hinblick auf
Europa unsere Entscheidungsmöglichkeiten hier im Parlament beschränkt werden sollten, nämlich das Asylrecht.
Nun ist es ja schön, daß sich auch der Europaausschuß in diesem Parlament mit den Kolleginnen und Kollegen aus anderen europäischen Parlamenten endlich wieder funktionell treffen kann. Vor allem für die Kollegen von der CDU, Herr Kittelmann, war es doch überraschend, daß bei unserem Zusammentreffen mit dem holländischen Europaausschuß nicht die Sorge, Deutschland habe ein zu liberales Asylrecht, im Mittelpunkt besorgter Fragen stand, sondern die Frage, ob wir unser Asylrecht entliberalisieren. Das bewegte die Niederländer. Als Sozialdemokrat blicke ich zufrieden auf dieses Zusammentreffen mit Europäern zurück.
Das, was bis jetzt — ich will es deutlich sagen — in den Vereinbarungen, in den Entwürfen zur Politischen Union zu den Rechten des Europäischen Parlaments niedergeschrieben ist, genügt uns Sozialdemokraten nicht.

(Beifall bei der SPD)

Das sehen auch andere Länder so; das ist wichtig. Die Niederländer und die Italiener sehen es teilweise so. Die Fragen nach der Ratifizierung können nicht primär an Deutschland gerichtet werden, da wir nach dem Vereinigungsprozeß in einer besonderen Lage sind. Aber es kann sein, daß wir nach Maastricht hier und in den anderen Parlamenten mehr Zeit für Europa und für die Behandlung der Verträge haben, weil wegen mangelnder parlamentarischer Rechte nicht so schnell ratifiziert werden kann.
Der Mangel an parlamentarischen Rechten kann auch nicht dadurch ausgeglichen werden, daß man nun, wie man hört, auf neue Ideen kommt, z. B. Zusammenkünfte europäischer Parlamente zu organisieren, die ein funktionsfähiges Europaparlament ersetzen könnten.

(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Wir hätten gern gewußt, was diese merkwürdige Konstruktion soll!)

Hier kann die Erfahrung unseres Föderalismus, glaube ich, lehren. Man stelle sich vor: Ein Zusammentreten der deutschen Landtage ersetze den Bundestag in seinen Kontrollrechten gegenüber der Bundesregierung.

(Beifall bei der SPD)

Selbst eingefleischten Föderalisten schaudert es bei dieser Vorstellung. Von daher kann ein föderaler Staat den anderen Europäern nur sagen: Nur das Parlament, das auf der Ebene tätig ist, auf der die von ihm zu Kontrollierenden agieren, ist in der Lage, sie wahrhaft zu kontrollieren.

(Beifall bei der SPD)

Damit haben wir ein weiteres Defizit angesprochen, daß nämlich nun die Kommission und vor allem der Präsident der Kommission nicht vom Europäischen Parlament gewählt werden soll. Ich glaube, ein Verantwortlicher, der von denen, denen er Rede stehen und Auskunft geben muß, in seinem Amt, wenn er sich schlecht benimmt, nicht gefährdet werden kann,



Dr. Christoph Zöpel
hat ein anderes Verhältnis ihnen gegenüber als einer, der tatsächlich kontrolliert werden kann.
Es blinkt hier Rot, ein Warnlicht für mich, aber auch ein Warnlicht für alle Regierungen, die die Parlamente noch immer nicht richtig ernst nehmen.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und der FDP — Gerd Andres [SPD]: Kittelmann lacht darüber!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205715500
Herr Abgeordneter Peter Kittelmann, Sie haben das Wort.

Peter Kittelmann (CDU):
Rede ID: ID1205715600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Je näher der Gipfel in Maastricht rückt, desto deutlicher sehen wir, wie wenig Zeit eigentlich noch bleibt,

(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Das stimmt!)

die Regierungskonferenzen zu einem erfolgreichen Ende zu führen.

(Zuruf von der SPD: Sie hätten ja eher anf angen können!)

Es bleibt unser Ziel: Maastricht darf nicht scheitern.

(Dr. Burkhard Hirsch [FDP]: Europa darf nicht scheitern!)

Die Vision Europa darf nicht von kleinkarierten Bedenkenträgern verschüttet werden. Wir, die Parlamentarier, müssen die Öffentlichkeit aufwühlen und deutlich machen, welch ein kostbares Kapital unserer gemeinsamen Zukunft verspielt zu werden droht.
Gerade Sie, Herr Zöpel, haben soeben wieder gezeigt — deswegen hat das rote Licht zu Recht geleuchtet — , wie viele Sekunden man zu unnötiger Schau nach hinten verwenden kann, um hier ein bißchen Oppositionsdenken hineinzubringen. Wir sind uns doch viel näher, als Sie zugeben.
Das gestern abgeschlossene Treffen der Außenminister in Noordwijk, dessen Ergebnis uns enttäuscht, wird hoffentlich dazu führen, daß in den jeweiligen Mitgliedstaaten der Entscheidungsprozeß für die Regierungskonferenz intern in die richtige Richtung forciert wird.
Lassen Sie mich kurz einige Punkte anreißen, auf die die Kollegen anschließend im einzelnen eingehen werden.

(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Und -innen!)

Die gestern erzielte Einigung über die Aufstockung der Zahl der deutschen Abgeordneten im Europäischen Parlament um 18 Vertreter der neuen Bundesländer ist — das sollte an sich auch bei Ihnen an erster Stelle gestanden haben — ein ermutigendes Zeichen. Wir danken dafür.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ein bißchen Beifall auch von Ihnen wäre nicht schlecht gewesen.

(Gerd Andres [SPD]: Was haben Sie denn dafür geliefert?)

Wir hoffen, daß hier ein Signal für ein wirklich demokratisches und handlungsfähiges Parlament gesetzt wird. Wenn die Briten in Noordwijk dem Europaparlament auch ein echtes Mitbestimmungs- und Vetorecht zugestanden haben, so bleibt diese Konzession doch nur auf den Bereich der Binnenmarktfragen beschränkt. Das ist zuwenig.
Die künftige Union muß parlamentarisch kontrolliert werden. Eine Mitentscheidung des Parlaments ist überall dort einzuklagen, wo der Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit entscheidet. Wirkliche Demokratie bleibt in Europa so lange aus, bis das Europäische Parlament über echte demokratische Strukturen verfügt. Geschieht das nicht, bleibt das Schlagwort vom Europa der Bürger eine Farce; denn der Bürger findet sich dann in Europa eben nicht wieder. Er würde sich an der Wahlurne verweigern.
Im Rahmen einer Politischen Union muß eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gewährleistet sein. Die EG braucht unverzüglich ein entsprechendes Instrumentarium, um ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis zu stellen.
So wie in der Außenpolitik brauchen wir aber auch im Bereich der Innen- und Rechtspolitik gemeinschaftliche Lösungen. Gerade in diesem Bereich fällt es uns schwer, die europäischen Partner zu überzeugen. Das hat Noordwijk bewiesen.
Gerade die Asyldiskussion in Holland, Herr Zöpel, hat bewiesen, daß dort durch gezielte Desinformationen der SPD falsche Vorstellungen bestanden haben.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD — Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Ungeheuerlich!)

Am Schluß des Gespräches waren wir uns nämlich plötzlich wieder alle einig. Das hätten Sie lieber mitteilen sollen, statt über den Anfang des Gesprächs zu berichten.

(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Wer Europaparlamentsrechte zentraler machen will, der darf nicht über Asylund Sicherheitspolitik reden!)

Organisierte Kriminalität und Drogenhandel müssen aber unbedingt gemeinschaftlich und einheitlich angegangen werden; das haben Herr Lüder und teilweise auch Herr Zöpel angesprochen. Im Bereich der organisierten Kriminalität, besonders des Drogenhandels, laufen wir Gefahr, die Chancen zu einer wirklichen Lösung des Problems zu versäumen. Wir wissen, was bei uns in Europa mit der Drogenmafia in immer stärkerem Maße geschieht. Der Bundeskanzler hat zu Recht betont, daß sich hier ein gewaltiges Machtpotential entwickelt, von dem erhebliche Gefahren für die Gesellschaft ausgehen.
Der zu unterzeichnende Vertrag muß auf eine föderale Struktur der Gemeinschaft abzielen. Länder und Regionen müssen sich einbringen können und spezifische Kompetenzbereiche behalten. Subsidiarität — und das heißt am Ende Identifikation des Bürgers mit seinem Europa — muß unser aller Ziel bleiben. Die parallele Entwicklung von Politischer Union und Wirtschafts- und Währungsunion muß gewährlei-



Peter Kittelmann
stet bleiben. Von der CDU/CSU wird der Bundesregierung die volle Unterstützung bei der Forderung nach dieser Parallelität zugesagt.
Europa ist größer als die EG. Die notwendige Vertiefung darf die Erweiterung der Gemeinschaft nicht ausklammern. Gerade die Aspiranten Osteuropas brauchen deutliche Signale, die auf eine volle Mitgliedschaft verweisen. Wir würden symbolische und — auch darauf hat der Kanzler zu Recht verwiesen — moralische Zeichen setzen, wenn wir die beitrittswilligen Staaten zunehmend schon jetzt an den Beratungen beteiligen.
Wir haben mehrfach einen Forderungskatalog aufgestellt, den wir jetzt immer wieder bis zum Treffen in Maastricht wiederholen werden, der die Punkte aufgreift, die ich eben erwähnt habe. Wir müssen im schwierigen Abstimmungsprozeß mit unseren Partnern alle Hebel in Bewegung setzen, um unsere Forderungen soweit wie möglich in Vorgesprächen zu vermitteln und am Verhandlungstisch durchzusetzen. Keiner von uns will, daß in Maastricht die Verwirklichung eines gemeinsamen und demokratischen Europas scheitert. Wir sollten darum alles tun, um zu einem gemeinschaftlichen Ergebnis zu kommen.
Da auch für mich jetzt hier das rote Licht leuchtet, meine Schlußbemerkung:

(Gerd Andres [SPD]: Gott sei Dank!)

Sie sollten gerade bei solchen Debatten auf kleinkarierte Bemerkungen verzichten und zeigen, daß wir hier im wesentlichen alle gemeinsam an einem Strick ziehen.
Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205715700
Die Redezeit in Aktuellen Stunden ist knapp. Wenn das rote Licht leuchtet, ist sie abgelaufen,

(Heiterkeit)

und zwar gleichgültig, ob man die Zeit zu einem weltweiten Appell nutzt oder noch einmal zu einem Angriff auf die Opposition.
Als nächste hat die Abgeordnete Andrea Lederer das Wort.

Andrea Lederer (PDS):
Rede ID: ID1205715800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kaum mehr als ein kümmerliches Vetorecht des Europäischen Parlaments in nur zweitrangigen politischen Fragen ist das bescheidene Ergebnis des Noordwijk-Treffens der EG-Außenminister — und das in Sachen Demokratisierung der EG. Doch selbst das scheint noch umstritten, und damit bleibt die Entscheidungskompetenz für EG-Fragen dort, wo sie schon immer war: im exklusiven Kreis der EG-Bürokraten und auf Regierungsebene.
Von den Beteuerungen, daß weiter an Forderungen der Bundesregierung festgehalten wird, erwarten wir uns nicht allzu viel. Dabei war doch angeblich dem Bundeskanzler und seinem Außenminister so sehr daran gelegen, die Kompetenzen des Europäischen Parlamentes zu stärken. Daß die Bundesregierung, auch wenn sie mit dem Ergebnis von Noordwijk nicht ganz zufrieden ist, dennoch damit leben kann, hat seinen Grund. Es geht ihr doch vor allem um eine gößere demokratische Legitimation, aber nicht so sehr um tatsächliche Demokratie, und zwar nicht nur der Form nach, sondern auch dem Inhalt nach. Hierin besteht ein ganz gravierender Unterschied.
Die Stärkung der Entscheidungsbefugnisse des Europaparlaments wird nämlich in der Praxis nichts daran ändern, daß sich die parlamentarischen Demokratien in Westeuropa auf eine rein äußerliche Hülle für die Interessenverwaltung durch die großen, eben nicht demokratisch legitimierten Institutionen reduzieren.
Dafür liefert das Schengener Abkommen einen sehr guten Beweis. Die geheimen Verhandlungen der hohen Beamten und Polizeioffiziere, die Schaffung eines Euro-FBI über die gemeinsame Antiterror- und Drogenbekämpfung erfolgten in einer Institution, die es eigentlich nicht geben dürfte und die durch nichts legitimiert ist. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages erfuhren in der Vergangenheit meist erst im nachhinein und sehr lückenhaft von den Diskussionen und Ergebnissen.
Wenn man sich die Ergebnisse des Schengener Abkommens im einzelnen ansieht, dann wird auch deutlich, daß dort nicht ein Mehr an Demokratie, sondern der Abbau demokratischer Grundrechte verwirklicht wurde. Mit dem Aufbau eines umfassenden westeuropäischen Datenverbundes, dem sogenannten Schengener Informationssystem, sollen vor allem ausländische Bürgerinnen und Bürger lückenlos erfaßt werden, unbeschadet der Tatsache, daß einzelne EG-Länder nicht einmal im Ansatz über datenschutzrechtliche Bestimmungen verfügen.

(Wolfgang Lüder [FDP]: Das stimmt doch gar nicht! Schengen lesen!)

— Herr Kittelmann ist eben selber darauf eingegangen, daß genau da die Unterschiede bestehen.

(Dr. Burkhard Hirsch [FDP]: Es ist doch trotzdem einfach falsch, wie man durch Nachlesen feststellen kann!)

Mit dem Beschluß, daß nur noch ein Land für einen Asylantrag zuständig ist, wird hierzulande die Änderung des Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes begründet. In der Praxis hat das beispielsweise zur Folge, daß ein tamilischer Flüchtling, der hier einen Asylantrag stellt, mit seiner Ausweisung rechnen müßte; denn nur etwa ein Prozent aller tamilischen Flüchtlinge werden bei uns anerkannt. In Frankreich hingegen liegt die Anerkennungsquote bei 60 %. Der tamilische Flüchtling hätte jedoch nach dem Schengener Abkommen keinerlei Chancen mehr, im Falle der Abweisung in der Bundesrepublik einen neuen Asylantrag in Frankreich zu stellen. Die Anerkennungsquote in Frankreich sagt aber aus, daß dort die Bedrohung für tamilische Flüchtlinge in ihrer Heimat mit Recht für wesentlich höher gehalten wird. Wir fordern, daß dieses Abkommen gekündigt wird, weil es keinen demokratischen Fortschritt, sondern Rückschritt bedeutet.

(Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Das ist doch Phraseologie und entspricht nicht dem Wesen des Abkommens!)




Andrea Lederer
Mit einer Stärkung der Rechte des Europaparlaments ist es nicht getan, solange nicht eine wirkliche Mitwirkung, Miteinbeziehung und Mitentscheidung der einzelnen Bürger verwirklicht ist. Wir treten für eine radikale Demokratisierung der Gesellschaft und ihrer Strukturen, die von unten, von den einzelnen Kommunen über die Länder und Staaten, wachsen muß,

(Dr. Burkhard Hirsch [FDP]: Radikal, das liegt Ihnen, was?)

für mehr Demokratie in den Betrieben und allen kommunalen Belangen ein.
Wir engagieren uns für ein Europa der offenen Grenzen nicht nur im Innern, sondern auch gegenüber den Menschen, die wegen Krieg, Folter und Hunger ihre Heimat verlassen müssen.
Mit der Stärkung der Rechte des Europaparlaments ist es nicht getan, solange die EG nicht grundsätzlich mit einer Wirtschaftspraxis bricht, die sich durch den Raubbau an Ressourcen zum Schaden der Umwelt auszeichnet und die sich vor allem auf Kosten der Dritten Welt vollzieht, solange diese EG also dazu nicht gewillt ist und keine Maßnahmen zur Überwindung des Nord-Süd-Konflikts ergreift und solange nicht endlich Abschied genommen wird von einer Sicherheitsdoktrin, die ausschließlich auf einer Politik der militärischen Stärke basiert und machtpolitische Interessen in aller Welt gegebenenfalls militärisch durchsetzen will.
Ich danke.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205715900
Das Wort hat die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Frau Ursula SeilerAlbring.

(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Jetzt erfahren wir endlich die Sache mit dem Kongreß!)


Ursula Seiler-Albring (FDP):
Rede ID: ID1205716000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, einen Tag nach dem Konklave in Noordwijk Ihnen hier eine erste Bewertung der Ergebnisse vortragen zu können. Es ist ja vorhin mehrfach über die Farbe des Rauches spekuliert worden.

(Dr. Burkhard Hirsch [FDP]: Weiß!)

— Der Rauch ist leider noch nicht weiß, Herr Kollege Dr. Hirsch; er ist noch relativ gemischt. Das befriedigt uns überhaupt nicht. Wir wollen mit dem Ergebnis nicht leben, Frau Kollegin, sondern wir wollen es verbessern, nicht zuletzt auf dem Konklave Nr. 2 am 2. Dezember in Brüssel, spätestens aber natürlich beim Europäischen Rat, der dann Mitte Dezember stattfinden soll.
Dennoch kann ich sagen, daß wir in Noordwijk substantielle Fortschritte und Annäherungen der Positionen erzielen konnten. Es bleibt allerdings eine ganze Reihe von Dingen, die bis zum Treffen in Maastricht noch zu erledigen sein werden.
Ich sage Ihnen dabei ganz offen, meine Damen und Herren, daß wir bei unseren Bemühungen vor zwei wesentlichen Problemen stehen. Einmal sieht sich Großbritannien aus einer Reihe von auch in der Öffentlichkeit diskutierten und daher bekannten Gründen nicht hinreichend in der Lage, den Weg der europäischen Integration so zu beschreiten, wie dies die meisten der kontinentalen Partner für notwendig erachten.
Zum anderen haben die südlichen Mitglieder der Gemeinschaft im Rahmen der Debatte zur wirtschaftlichen und sozialen Kohäsion bei der politischen Union sowie bei der Wirtschafts- und Währungsunion recht weitgehende Vorstellungen zur Überwindung des Nord-Süd-Gefälles in der Gemeinschaft und auch über soziale und finanzielle Transfers entwickelt. Sie wollen damit nicht mehr bis 1992 warten, wenn die Überprüfung der Strukturfonds und der Eigenmittel der Gemeinschaft ohnehin auf der Tagesordnung der Gemeinschaft stehen werden.
Dennoch hat Noordwijk, wie ich vorhin schon sagte, vor allen Dingen aus deutscher Sicht eine Reihe substantieller Fortschritte gebracht. Es wurde vorhin hier bereits erwähnt, daß alle Partner der Erhöhung der Zahl der deutschen Abgeordneten im Europäischen Parlament von 81 auf 99 zugestimmt haben. Sie haben sich nicht der Erkenntnis verschlossen, daß sich die Repräsentanz von 17 Millionen neuen EG-Bürgern niederschlagen muß und eine angemessene und faire Repräsentanz im EP anderweitig nicht gewährleistet wäre.
Der Bundesminister hat es darüber hinaus — das ist für unsere neuen Bundesländer von ganz entscheidender Bedeutung — erreicht, daß weiterhin die notwendige Unterstützung der neuen Bundesländer durch die Beibehaltung des eigentlich zur Streichung vorgesehenen Art. 92 Abs. 2 c des EWG-Vertrages, der bestimmte Beihilfen für die von der deutschen Teilung betroffenen Gebiete als mit dem gemeinsamen Markt vereinbar erklärt, gewährt werden kann, und zwar — das sage ich ausdrücklich — ohne irgend eine zeitliche Limitierung.
Auch unseren Bundesländern können wir heute sagen, daß wir einen großen Teil ihrer Forderungen durchsetzen konnten.
Erstens. Wir werden einen beratenden Ausschuß der Regionen erhalten, der als selbständiger Ausschuß mit einem generellen Selbstbefassungsrecht zu allen relevanten Fragen — zusätzlich zu ausdrücklich zugestandenen Kompetenzen in einzelnen Bereichen — tätig sein kann.
Zweitens. Die Fortentwicklungsklausel des Art. 235 des EWG-Vertrages bleibt in der alten Fassung bestehen, worauf die Länder zur Wahrung ihrer Kompetenz besonderen Wert gelegt haben.
Drittens. Die Länder werden darüber hinaus zukünftig die Gelegenheit haben, dann, wenn Probleme angesprochen werden, die die Länder betreffen, in Abstimmung mit der Bundesregierung im Ministerrat sprechen zu können.
Viertens. Das Subsidiaritätsprinzip wird in einklagbarer Form sowohl in der Präambel als auch im Vertrag selbst festgeschrieben. Ich muß allerdings sagen, daß die Formulierung, die nun von der Präsidentschaft vorgeschlagen worden ist, noch nicht unseren Vorstellungen entspricht. Die Bundesregierung wird die-



Staatsministerin Ursula Seiler-Albring
ses spezielle Anliegen der Länder, dem sie sich, wie gesagt, auch angeschlossen hat, weiter vertreten.
Wichtig ist auch, daß uns der Einstieg in die Mitentscheidung des Europäischen Parlaments beim Gesetzgebungsverfahren gelungen ist. Trotz fortbestehender britischer Vorbehalte dürfte dem Parlament eine Reihe von Anwendungsfällen auch über den Bereich des Binnenmarktes, der vorhin schon angesprochen worden ist, hinaus zugebilligt werden. Die Mehrheiten, die sich gestern und vorgestern in Noordwijk dafür abgezeichnet haben, sind so groß, daß ich hier eine echte Erfolgschance — wenn vielleicht nicht für das zweite Konklave, aber dann sicherlich für Maastricht — sehe.

(Peter Kittelmann [CDU/CSU] und Dr. Werner Hoyer [FDP]: Sehr gut!)

Dabei bereitet der Sozialbereich — dies muß ich ausdrücklich sagen — unseren britischen Partnern besondere Probleme.

(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Wo sind die substantiellen Aussagen zum Kongreß?)

— Frau Kollegin, vielleicht lassen Sie mich erst ausreden; dann kann ich gern auch auf Ihre Frage bezüglich des Kongresses eingehen, wenn mir dann noch Zeit bleibt.

(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Ja, sehr gut! — Gerd Andres [SPD]: Wahrscheinlich bleibt keine mehr!)

— Keine Bange! Ich spreche schnell genug. Ich kann diese Frage noch beantworten.
Wir erreichten auch die Aufnahme einer besonderen Revisionsklausel zur späteren Ausdehnung des Anwendungsbereichs. Ich denke, auch das ist etwas, was wir ausdrücklich begrüßen können.
Entgegen deutschen Vorstellungen wird allerdings das Verfahren der Mitentscheidung nach einem fehlgeschlagenen Einigungsversuch in dem vorgesehenen Vermittlungsausschuß nicht eingestellt, sondern mit der Möglichkeit eines negativen Votums des EP fortgesetzt werden.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir müssen der Tatsache Rechnung tragen, daß wir zu zwölft sind. Wenn wir überhaupt das Vermittlungsverfahren eingeleitet haben — Sie wissen, daß die deutsche Bundesregierung genau das Verfahren, das auch Sie befürworten, immer wieder nachdrücklich verlangt hat — und sich dem nur zwei weitere Mitgliedstaaten plus die Kommission anschließen, werden wir es wahrscheinlich nicht ändern können. Allerdings, finde ich, ist es schon sehr gut und sehr positiv zu würdigen, daß wir hier einen Einstieg gefunden haben.
Wie ich sagte, bleibt bis Maastricht einiges zu tun. Das gilt für die Bestimmung neuer Kompetenzen, etwa bei dem schwierigen und vor allen Dingen von Frankreich und von der Kommission betriebenen Industriekapitel, bei der genauen Ausgestaltung des Umweltschutzkapitels und anderer. Wegen der Vorstellungen unserer britischen Freunde haben wir auch große Mühen, die intergouvernementale Komponente in der künftigen Vertragsstruktur der Union nicht auf
Kosten der Gemeinschaftskomponente überzubetonen. Wahrscheinlich werden wir erst auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs in Maastricht die zentralen Bereiche der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der innen- und justizpolitischen Zusammenarbeit lösen können. Bei der Außen- und Sicherheitspolitik ist beispielsweise die Frage des Einstiegs in Mehrheitsentscheidungen in diesem bei einigen Partnern noch besonders stark von traditionellen Souveränitätsgesichtspunkten bestimmten Gebiet offen.
Was nun die Innen- und Justizpolitik betrifft, so sind wir in Maastricht nicht über den vorliegenden Entwurf der niederländischen Präsidentschaft hinausgekommen. Wir begrüßen zwar die generelle Bereitschaft unserer Partner einschließlich Großbritanniens, die Bereiche der Asyl-, Einwanderungs-, Flüchtlings- und Ausländerpolitik sowie der polizeilichen Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der internationalen Kriminalität zu einem vertraglich festgeschriebenen Bestandteil koordinierter europäischer Politik zu machen. Das reicht uns aber nicht. Wirkliche Fortschritte, meine Damen und Herren, sind in diesem Bereich auf europäischer Ebene letztlich nur durch die Schaffung von Gemeinschaftszuständigkeiten mit einer entsprechend starken Initiativrolle der Kommission zu erzielen.
Nun sind wir Realisten und mit einem schrittweisen Vorgehen durchaus einverstanden. Was uns als erster Einstieg in Gemeinschaftspolitik von den meisten Partnern jedoch angeboten wird, z. B. Visapolitik, Kontrolle an den Außengrenzen, reicht nicht aus. Auch für die neu zu schaffende europäische kriminalpolizeiliche Zentralstelle Europol müssen über das anfängliche Sammeln von Informationen und Daten hinaus letztendlich in einer Gemeinschaftsperspektive konkrete Zuständigkeiten bei der Bekämpfung der international organisierten Kriminalität, insbesondere im Drogenbereich, in Aussicht genommen werden.
Nun zu Ihrer Frage, Frau Kollegin, zur Sache mit dem Kongreß. Sie wissen, daß das ein ganz besonderes Anliegen unserer französischen Partner ist.

(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Ein unsinniges!)

— Das ist Ihre Bewertung. Ich denke, jedes Migliedsland muß das Recht und die Chance haben, Dinge, die ihm als ganz besonders wichtig erscheinen, in diese Regierungskonferenzen einzubringen. Wir tun das auch, einmal mit mehr, einmal mit weniger Erfolg. Wir werden sehen, was schließlich mit dem Kongreß passiert.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Das heißt, es gibt keine Festlegung! — Gerd Andres [SPD]: Das wenigstens scheint perfekt zu sein!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205716100
Das Wort hat der Abgeordnete Konrad Weiß.




Konrad Weiß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1205716200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Fraktion hat diese Redezeit in der Hoffnung angemeldet, rechtzeitig über das informiert zu werden, was im Konklave geschehen ist.

(Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Dann hätten Sie nur zuzuhören brauchen!)

Im allgemeinen Trend hin zum Dreiparteienstaat, der in Deutschland zu verspüren ist, hat es die Bundesregierung auch in diesem Fall unterlassen, meine Fraktion, die Gruppe Bündnis 90/GRÜNE, rechtzeitig über die Ergebnisse zu informieren.

(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Uns auch nicht! Wenn wir darauf warten würden, könnten wir lange warten!)

Ich kann also nur von dem ausgehen, was ich eben von der Frau Staatsministerin gehört habe.

(Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Europa-Ausschuß! Jeden Mittwoch um 15 Uhr!)

Ich möchte zumindest zu zwei, drei Punkten etwas sagen.
Ich kann der Erhöhung der Zahl der Abgeordneten im Europaparlament, die jetzt vollzogen worden ist, natürlich mit Freude zustimmen. Aber für mich ist das kein so großer Grund zum Jubeln wie offenbar für die Regierung. Ich halte das eher für eine Selbstverständlichkeit. Wenn in einem Land 161/2 Millionen Einwohner dazukommen, ist es wohl selbstverständlich, daß sich auch die Anzahl der Abgeordneten erhöht.

(Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Auch über Selbstverständlichkeiten darf man sich freuen, Herr Kollege! — Dr. Andreas Schokkenhoff [CDU/CSU]: Das muß man den anderen aber erst beibringen!)

— Ich freue mich auch. Aber ich wollte nur sagen, daß die Regierung daraus nicht einen solchen Sieg machen muß, wie das eben geschehen ist.

(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Wenn sonst nichts da ist!)

— Da es sonst nichts gibt, verstehe ich schon, daß man sich an solch kleinen Erfolgen hochziehen kann.

(Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Frau Staatsministerin, wir stimmen mit dieser Kritik nicht überein!)

Das, was hier zur Innen- und Justizpolitik gesagt worden ist, betrachtet meine Fraktion, die Gruppe Bündnis 90/GRÜNE, mit Sorge. Wir haben die Befürchtung, daß wir auf dem Wege zum einheitlichen Europa und zu der vorgesehenen Ausländer- und Asylpolitik mit der Kontrolle der Außengrenzen eher auf dem Weg hin zu einem Überwachungsstaat sind. Ich frage mich: Wie soll das in der Praxis aussehen? Ich komme aus einem Land, in dem gerade die Mauer abgerissen worden ist. Wollen wir Europa erneut abschotten? Wollen wir um Europa herum eine Mauer mit Schießscharten bauen?

(Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Mit was? Schießscharten?)

— Ich kann mir nicht vorstellen, wie das aussehen soll.

(Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Dann sagen Sie es doch nicht! Ich finde es nicht fair, was Sie da machen!)

— Herr Kollege, ich habe konkrete Angaben der Regierung darüber vermißt, welche Vorstellungen damit verbunden sind.

(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Vor allem welche parlamentarische Kontrolle!)

Ich kann wirklich nicht davon ausgehen, daß die Vorstellungen über Asyl- und Einwanderungspolitik, die ich in den letzten Wochen und Monaten aus der Regierungskoalition gehört habe, auch nur im geringsten dazu angetan wären, etwas Konstruktives zur Lösung dieses Problems zu leisten.

(Beifall bei der SPD)

Das muß man hier doch wirklich einmal sagen. Ich will Sie nicht langweilen — wir haben da unsere eigenen Vorstellungen; die habe ich an dieser Stelle schon mehrfach vorgetragen — , aber ich will doch sagen, daß eine Abschottung Europas gerade gegen Flüchtlinge, gegen Einwanderer und Einwanderinnen, die doch in Deutschland auch erwünscht sind, die wir auch brauchen, wenn man es ganz realistisch sieht, nicht sinnvoll erscheint. Auch Ihr Kollege Geißler sagt das doch. Wenn man einmal auf den Lebensbaum schaut, weiß man, daß die Glatzköpfe, die heute eine künstliche Glatze haben, wenn sie eine natürliche Glatze haben werden, darauf angewiesen sein werden, daß es Ausländerinnen und Ausländer gibt, die hier in Deutschland ihre Rente mit verdienen. Das muß man bei dieser Gelegenheit doch auch einmal sagen.

(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Das ist wahr!)

Meine Damen und Herren, ich will Sie nicht länger mit Allgemeinplätzen über Europa langweilen.

(Zuruf von der SPD: Richtig!)

Meine Erfahrungen als jemand, der aus der DDR kommt, mit Europa sind außerordentlich gering. Das gestehe ich gern zu. Ich habe unmittelbar nach der Wende aus Brüssel ein Paket mit einer Europafahne geschickt bekommen. Viel mehr habe ich von Europa noch nicht gespürt.

(Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Wir laden Sie ein, Mittwoch, 15 Uhr Europaausschuß!)

Vielen Dank.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205716300
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Andreas Schockenhoff.

Dr. Andreas Schockenhoff (CDU):
Rede ID: ID1205716400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will mich auf die Verhandlungsergebnisse von Noordwijk zur Harmonisierung der Innen- und Rechtspolitik beschränken.
Die Öffnung der Binnengrenzen 1992 macht es dringend erforderlich, neue Instrumentarien zur Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden zu schaffen. Leider konnte sich die Bundesregierung mit ihrer For-



Dr. Andreas Schockenhoff
derung noch nicht durchsetzen, bis zum 31. Dezember 1993 eine europäische kriminalpolizeiliche Zentralstelle zu errichten. Die Drogenmafia arbeitet zu 95 % grenzüberschreitend. Der freie Personen- und Warenverkehr bringt zusätzliche Risiken durch das international organisierte Verbrechen. Deshalb muß ein Europa ohne Grenzen auch auf Gemeinschaftsebene reagieren können, insbesondere bei der Koordinierung von Ermittlungen und Fahndungen und beim Aufbau von Informationsdateien. Unser Ziel ist ein Standard in Europa, wie er unserem Zustand in der Bundesrepublik im Verhältnis der Bundesländer untereinander entspricht.
Das bisher erreichte Verhandlungsergebnis ist unbefriedigend. Wir unterstützen die Bundesregierung deshalb nachdrücklich in ihrer Forderung, Europol bis Maastricht auf der Tagesordnung zu lassen und dort zum Verhandlungsgegenstand zu machen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir unterstützen die Bundesregierung auch in ihren Bemühungen um eine Vereinheitlichung der Asylpolitik der EG, um mit der dramatischen Flüchtlingsbewegung innerhalb Europas fertig werden zu können. Der deutsche Vorschlag sieht vor, die gesamte Asylpolitik in die Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft zu stellen. Die große Mehrheit der Mitgliedstaaten ist allerdings bislang nicht bereit, der Kommission die entsprechenden Kompetenzen zuzugestehen. Die meisten wollen die Problematik zwischenstaatlich, also ohne Einbeziehung Brüssels, angehen.
Andere Mitgliedstaaten nehmen keine Asylbewerber auf, die aus Ländern kommen, in denen es keine politische Verfolgung mehr gibt, oder die aus Staaten einreisen, in denen sie schon vor Verfolgung sicher waren.
Herr Kollege Zöpel, Sie haben dargestellt, daß die Niederländer keine Reform unseres Asylrechts wollen. Das ist mir klar. Solange zwei Drittel der Asylbewerber in der Europäischen Gemeinschaft ihren Antrag in der Bundesrepublik stellen,

(Peter Kittelmann [CDU/CSU]: So ist es!)

haben unsere EG-Partner doch kein Interesse an einer Lösung, die dazu führt, daß zu ihnen mehr und zu uns weniger kommen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Unsere Nachbarn weigern sich, das Zugangsproblem der Bundesrepublik zu einem Verteilungsproblem innerhalb der Gemeinschaft zu machen.

(Peter Kittelmann [CDU/CSU]: So wie es die Länder bei uns machen!)

Wer ein europäisches Asylrecht will, muß deshalb auch bereit sein, deutsche Sonderregelungen aufzugeben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es ist doch eine Illusion, auf der Basis von Art. 16 in der jetzigen Form eine einheitliche Regelung in Europa zu erwarten.
Im Juli dieses Jahres beantragten 22 000 Personen politisches Asyl in der Bundesrepublik, im August
über 28 000 und im Oktober bereits über 33 500. Alle Bemühungen, die Verfahren zu beschleunigen, werden durch die steigende Bewerberflut überrollt, solange das Zugangsproblem nicht gelöst ist. Keiner will das Asylrecht aushöhlen. Politisch verfolgte Menschen aus anderen Ländern müssen in der Europäischen Gemeinschaft menschenwürdig aufgenommen werden und vor Intoleranz und Gewalt Schutz finden. Um dieses Grundrecht zu sichern, müssen wir den Mißbrauch verhindern und die Personengruppen vom Asylverfahren ausschließen, die unseren Schutz nicht brauchen, weil sie überhaupt nicht gefährdet sind.
Es erstaunt mich, Herr Kollege Weiß, von einem ehemaligen Bürger der DDR in diesem Zusammenhang die Vokabel „Überwachungsstaat" zu hören.
Die Grundvoraussetzung für die Harmonisierung auf europäischer Ebene ist die Reform unseres Asylrechts. Deshalb fordern wir die SPD-Fraktion auch heute noch einmal auf: Beenden Sie Ihre Blockade, helfen Sie mit, das Asylrecht zu sichern und eine gemeinsame europäische Asylpolitik zu ermöglichen! Stimmen Sie endlich einer Ergänzung unseres Grundgesetzes zu!

(Beifall bei der CDU/CSU)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205716500
Frau Kollegin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Sie haben das Wort.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD):
Rede ID: ID1205716600
Herr Präsident! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Wir können nahtlos an dieses Thema anschließen, denn in diesen Tagen hat die CDU/CSU, wie Sie wissen, mit der Unterschrift der Herren Dregger und Bötsch großformatige Anzeigen geschaltet. Dort wird in einem knappen Satz noch einmal die Gewalt gegen Ausländer verurteilt, aber dann sogleich wieder litaneihaft — wir haben es eben von Herrn Schockenhoff wieder gehört — die Änderung des Grundrechts auf Asyl als alleiniges Allheilmittel gegen den Zuzug von Flüchtlingen gepriesen.
Nun kennen wir ja diese Methode, diese unzulässige und unselige Verengung der Zuwandererfrage auf die Diskussion um Art. 16 des Grundgesetzes. Ich frage, was das alles mit dem heutigen Thema der Aktuellen Stunde zu tun hat.

(Dr. Burkhard Hirsch [FDP]: Sehr richtig!)

— Ich muß daran anschließen, Herr Hirsch, auch wenn ich Ihren Zwischenruf höre: Es hat insofern sehr viel damit zu tun, als nach christdemokratischer Logik jedem, der an unserem Grundrecht auf Asyl festhalten will — Sie ja Gott sei Dank auch —, wie ein Rettungsanker das Argument der europäischen Einigung vorgehalten wird, nämlich unser Individualanspruch sei damit nicht mehr zu halten, also könne man dieses Recht und seine Änderung auch gleich auf dem Präsentierteller feilbieten.
Nur: Dieses Spiel geht eben nicht auf. Es wurde bereits gesagt: Der EG-Ministerrat hat mit 10 : 2 Stimmen vor wenigen Tagen entschieden, daß die Kompetenz in dieser Angelegenheit nicht auf die europäische Ebene übertragen wird. Damit stürzen die Vorschläge des Abgeordneten Schäuble zur Eingrenzung von Art. 16 des Grundgesetzes wie ein Kartenhaus



Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
zusammen; denn sie setzen voraus, liebe Kollegen und Kolleginnen, daß die europäischen Länder mitmachen.
Deswegen noch einmal unser Appell um unserer historischen Verantwortung und um unserer Pflichten zur Humanität gegenüber Menschen, die eben doch als Bedrohte und Verfolgte zu uns kommen, willen: Lassen Sie endlich ab von diesem Feldzug gegen das Asylrecht, denn es eignet sich nicht zur Hetze und auch nicht zum Schachern wie auf dem Basar, wie wir es heute wieder hören mußten!

(Beifall bei der SPD)

Und Herr Schockenhoff, lassen Sie endlich dieses schreckliche Vokabular wie „Flut" und „Überschwemmung". Lassen Sie es bitte bleiben!

(Beifall bei der SPD — Gunnar Uldall [CDU/ CSU]: Sie müssen sauber argumentieren!)

— Sie reden von „Schwemme" und nicht von Zahlen.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, wir haben genug andere Möglichkeiten, innenpolitische Angelegenheiten europäisch anzugehen, auch in dieser Frage. Da reicht das Betätigungsfeld weit hinaus über die etwaige Eindämmung illegaler Einreisen, die einheitliche Bekämpfung von Schleppern und Schleuserorganisationen und intensiveren Kontrollen. Das sind ja nur kleine polizeiliche und ausländerrechtliche Mittel.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, reden wir doch im Zusammenhang mit dem offenen Europa einmal davon, wie wir Menschen in ihrer Heimat helfen, damit sie nicht fliehen und zu uns kommen müssen!

(Beifall bei der SPD)

Reden wir von einem Europäischen Amt für Migrationsfragen, reden wir von einem Europäischen Flüchtlingsamt, das Daten und Fakten über Menschenrechtsverletzungen sammelt und anbieten kann! Auf diesem Gebiet können wir europapolitisch wuchern, da können wir uns austoben. Wir sind gern bereit, auf diesem Gebiet dabei zu sein.

(Beifall bei der SPD)

Es wird einfach Pflicht und dringend, daß Europa nicht immer salbungsvoll von Weltoffenheit redet, sondern konkret danach handelt.

(Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Wir hören, daß die Unionsbürgerschaften jetzt auf 1995 verschoben werden sollen. Es wäre fatal, wenn im Europaparlament bei der nächsten Wahl wiederum nach dem alten Modus gewählt würde. Das wäre kein europapolitischer und weltpolitischer Fortschritt.
Wie wäre es denn, liebe Kollegen und Kolleginnen, wenn wir deshalb das sich einigende Europa dazu animierten, das kommunale Wahlrecht für EG-Ausländer rasch einzuführen und verfassungsrechtlich ganz sattelfest zu verankern?

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Wolfgang Lüder [FDP])

Der Bundespräsident — er gehört in dieser Diskussion erwähnt — hat dieser Tage wieder höchst Bemerkenswertes zur Zuwandererfrage gesagt. Er meinte, Herr Schockenhoff, es werde immer schwieriger, Schutz vor Verfolgung und Schutz vor Verelendung eindeutig voneinander zu unterscheiden. Wie wahr!

(Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Und deswegen soll man erst gar nicht den Versuch unternehmen, Frau Kollegin, was?)

Er sprach von einem — ich zitiere — „integrierten, bundesstaatlich strukturierten, demokratisch kontrollierten, offenen, großen Europa in toleranter, multiregionaler Vielfalt" . Wie schön, wenn es dazu käme, und wie erbärmlich, liebe Kollegen, daß diese Thesen des wirklich europäisch denkenden Präsidenten in Ihren Reihen diffamiert werden,

(Beifall bei der SPD, der FDP und dem Bündnis 90/GRÜNE)

heute noch mit einem entsprechenden Begriff des Kollegen Gerster. Er hat diese Thesen — leider ist er nicht hier — als „kindisch" bezeichnet. Wir müssen es hier einfach noch einmal erwähnen.

(Otto Schily [SPD]: Herr Gerster soll sich hier hinstellen und sich dafür entschuldigen! — Peter Kittelmann [CDU/CSU], zu Abg. Otto Schily [SPD] gewandt: Herr Schily, haben Sie keine anderen Probleme? Wofür Sie sich schon alles hätten entschuldigen müssen, es aber nicht tun! Ihr Zwischenruf ist doch albern! — Weitere anhaltende Zurufe von der CDU/CSU und der SPD)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205716700
Frau Kollegin, das verlängert Ihre Redezeit nicht.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD):
Rede ID: ID1205716800
Ich habe jetzt einen Moment Pause gemacht. Lassen Sie mir noch 30 Sekunden. Ich will nur noch einen Schlußsatz bringen.
Wissen Sie, man hört sonst immer so viel Lob für die typisch deutschen Standards, die man in das vereinte Europa hinüberretten möchte. Wir reden von unserer besonderen Zurückhaltung bei militärischen Einsätzen. Wir reden von unseren strengen Umweltschutzregelungen, von dem dichten sozialen Netz, kurz von allem, was den Reiz von „Made in Germany" ausmacht. Aber bei allen Problemen, die ich nicht verharmlosen möchte: Wir sollten es auch fertigbringen, auf unser Asylrecht ein bißchen stolz zu sein.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205716900
Das Wort hat der Abgeordnete Burkhard Hirsch.

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1205717000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte eigentlich nicht vor, über das Asylrecht zu sprechen. Da aber immer wieder behauptet wird, daß niemand das Asylrecht antasten wolle, muß man einfach noch einmal wiederholen — bis auch Sie es begriffen haben —,

(Beifall bei der SPD)

daß die bayerische Landesregierung im Bundesrat einen Gesetzentwurf eingebracht hat, der zum Ziel hat,
der Regierung die Möglichkeit zu geben, das Asyl-



Dr. Burkhard Hirsch
recht abzuschaffen. Das ist die nackte Wahrheit! Ich habe bisher nicht gehört — außer in Zurufen —, daß sich die Bundestagsfraktion der CDU/CSU von diesem Gesetzentwurf formell distanziert hat. Das ist die nackte Wahrheit!

(Otto Schily [SPD]: So ist es! — Gerd Andres [SPD]: Leider!)

Frau Lederer muß ich sagen: Ich kann mich immer kaum beherrschen, wenn sich ein Vertreter der SED, die sich nun PDS nennt, hinstellt und den Zustand Europas beklagt, nachdem Sie 40 Jahre lang zur Spaltung Europas beigetragen haben, und zwar in erster Linie.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Wenn Sie sagen, es gäbe ein Datensystem, mit dem der Bürger in Europa gläsern gemacht werde — wir haben ja nun gerade über das System der SED lange genug gesprochen —, dann lesen Sie bitte das Schengener Abkommen und nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß darin ausdrücklich steht, daß der Datenaustausch nach diesem Abkommen nur mit den Ländern stattfindet, in denen Datenschutzvorkehrungen getroffen worden sind, die dem europäischen Datenstatut entsprechen.
Herr Kollege Weiß, was Sie gesagt haben, hat mich wirklich betroffen gemacht, nämlich Ihre Bemerkung, daß Sie von Europa — außer einem Ihnen zugeschickten Paket — wenig gemerkt hätten. Es ist doch so, daß man begreifen muß, daß unser Lebensstandard, unsere wirtschaftliche Situation, die Attraktivität des Westens ohne Europa nicht bestünde

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

und daß diese Situation wesentlich mit dazu beigetragen hat, unsere freiheitlichen Ideale im anderen Teil Deutschlands durchzusetzen.

(Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Ich glaube, das sollte man bei keiner Diskussion vergessen.
Noordwijk ist wichtig, Maastricht ist noch wichtiger, aber wichtig allein ist Europa. Ich würdige das, was die Frau Staatsministerin zu dem vorgetragen hat, was in Noordwijk erreicht worden ist. In der Tat darf man nicht geringschätzen, daß gerade im Interesse der neuen Bundesländer 18 Mandate mehr gewonnen worden sind und daß dafür natürlich andere Positionen, die gerne vertreten worden wären, zurückgestellt werden mußten.
Was unser eigentliches Thema angeht, nämlich ein demokratisches bzw. parlamentarisches Europa: In diesem Bereich bleibt festzustellen, daß das Europaparlament bisher nicht mehr als ein Vetorecht —(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

keine aktive, gestaltende Rolle — im Bereich der Innenpolitik bekommen hat. Das ist zwar ein Fortschritt — ich will das nicht bestreiten —, aber er ist in Anbetracht der elementaren Fragen zu gering, sei es, daß es sich um polizeiliche Rechte, sei es, daß es sich um andere Dinge handelt. Ich folge allem, Herr Kollege
Zöpel, was Sie dazu gesagt haben. Irgendeine polizeiliche Institution ohne parlamentarische Kontrolle kann es mit Liberalen selbstverständlich nicht geben.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Ich würdige das, was hier über das Asylrecht gesagt worden ist. Verehrter Herr Kollege, Sie müssen den Bogen etwas weiter spannen. Sie müssen in den Papieren der Europäischen Gemeinschaft lesen, daß dort in voller Breite alle Länder der Europäischen Gemeinschaft, ausgenommen Irland, als Einwanderungsländer bezeichnet werden, und daß kein europäischer Politiker sich den Luxus leistet wie Sie, nur über ein Asylrecht zu sprechen, ohne gleichzeitig in Bedacht zu ziehen, daß wir uns einer Einwanderungsbewegung aus vielen Gründen gegenübersehen, die man nicht voneinander trennen kann.

(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Das habe ich gerade getan!)

Wenn wir eine Lösung des Asylproblems haben wollen, dann geht das nur zusammen mit einer Behandlung der Frage der Einwanderung nach Westeuropa überhaupt.

(Zuruf von der SPD)

Ich will zum Schluß sagen: Es ist ganz bitter und falsch, in eine Entwicklung hineinzukommen, in der weder das Europäische Parlament etwas sagen kann noch wir, wenn wir hier bei der Ratifizierung von Regierungsabkommen, an deren Ausarbeitung das Parlament nicht beteiligt ist, reduziert werden auf die Frage: Ja oder nein, bist Du für Europa oder gegen?

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Das ist keine zu akzeptierende Lösung im Bereich europäischer Innenpolitik. Die Bundesregierung sollte die Diskussion zu dieser Frage nicht verstehen als einen Angriff auf ihre Leistungen — so ist das von uns nicht gesehen und nicht beabsichtigt — , sondern als eine Stärkung ihrer Verhandlungsposition, daß sie ihren Partnern zeigen kann, daß hier in der Bundesrepublik Deutschland der Entschluß ein Europa nur demokratisch und parlamentarisch zu haben, von allen Teilèn des Hauses getragen wird.

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205717100
Das Wort hat der Abgeordnete Johannes Singer.

Johannes Singer (SPD):
Rede ID: ID1205717200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als wir über das Schengener Abkommen debattiert haben, sind von allen Seiten Ausgleichsmaßnahmen gefordert worden. Wir waren uns klar, daß wegen des Wegfalls der Kontrollen an den Binnengrenzen etwas zum stärkeren Schutz der Außengrenzen, der sogenannten nassen Grenzen der EG geschehen müsse, daß auch die Kontrollmöglichkeiten, die von Zoll und Polizei an den Binnengrenzen ausgeübt werden, jeweils ins Inland zurückverlegt werden sollen. Wir haben damals schon unsere Befürchtungen geäußert, daß Rechtsschutzdefizite beim Schengener-Informationssystem entstehen würden.



Johannes Singer
Ich gehe heute einen Schritt weiter. Ich sehe die Gefahr, daß Demokratiedefizite entstehen und daß gerade auf dem Gebiet der Innen- und Justizpolitik in Europa nicht ausreichend für parlamentarische Kontrolle gesorgt wird. Wir wissen, daß wir Souveränitätsrechte abgeben sollten und müßten an europäische Einrichtungen, daß wir ein europäisches Fahndungsamt brauchen, Europol genannt, daß wir einen auf europäischer Ebene organisierten elektronischen Datenverbund dringend benötigen und daß es keinen Sinn mehr macht, wenn die Polizeibehörden der Mitgliedsländer jeweils nur ihr eigenes Vorgärtchen behärkeln. Auf der anderen Seite kann ich mich an kein europäisches Land erinnern, das in den vergangenen Jahren nicht hin und wieder durch heftige Polizeiskandale erschüttert worden wäre. Das heißt, die Übertragung von Hoheitsrechten, von Souveränitätsrechten, im Bereich von Polizei und Justiz muß einhergehen mit der demokratischen Kontrolle durch legitimierte Parlamentarier.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn ich sehe, daß in den Regierungskonferenzen zwar ein Untersuchungsausschuß für das Europäische Parlament vorgeschlagen wird, dessen Zuständigkeit sich aber gerade nicht auf das Gebiet der Innen- und Justizpolitik erstrecken soll, sondern daß dieser Bereich in der sogenannten intergouvernementalen Zusammenarbeit verbleibt, dann kann ich mich damit nicht zufrieden geben und dann können wir das auch so nicht hinnehmen. Die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der inneren Angelegenheiten der Justiz besteht im wesentlichen aus dieser reinen Regierungsverabredung. Da wird in der Trevi-Gruppe — das ist eben mit Recht kritisiert worden — alles mögliche abgesprochen und vereinbart. Die Öffentlichkeit erfährt nichts davon. Die nationalen Parlamente erfahren nichts davon. Es gibt keine Möglichkeit, einmal kritisch nachzufragen. Es gibt keine Möglichkeit, etwas vor aller Öffentlichkeit auch zu diskutieren. Das kann so nicht hingenommen werden. Polizei- und Justizbehörden haben die besondere Befugnis, in Individualrechte einzugreifen. Diese sehr starken Eingriffsmöglichkeiten in Bürgerrechte müssen durch den Schutz kompensiert werden, den die Öffentlichkeit und eine parlamentarische Erörterung bieten.
Lassen Sie mich ganz am Schluß vielleicht noch einen Schlenker zu den Kollegen der CDU/CSU machen. Sie haben ja, Herr Kollege, sehr eindrucksvoll die in den letzten Wochen gestiegene Zahl der Asylbewerber zitiert. Ich halte Ihnen den Bericht des Bundesministers des Innern vom 5. November vor; er ist neun Tage alt. Da heißt es — ich zitiere mit Genehmigung des Herrn Präsidenten — : „Die Zahl der Asylbewerber ist gegenüber dem Vormonat stark angestiegen. Dies ist auf den hohen Zugang aus dem vom Bürgerkrieg heimgesuchten Jugoslawien zurückzuführen. " Wollen Sie diese Leute, die vor dem Bürgerkrieg aus Jugoslawien flüchten, einfach zurückschicken? Wollen Sie die Kurden zurückschicken, die vor den Gewaltmaßnahmen der türkischen Armee flüchten? Das sind doch die Probleme. Der starke Anstieg der Zahl beruht doch nicht darauf, daß wir Asylanten aus der Schweiz oder aus Schweden aufnehmen müßten, sondern es geht um Leute, bei denen Sie selber nicht müde werden zu betonen, daß für sie das Asylrecht in keiner Weise angekratzt werden soll. Dann seien Sie bitte auch so ehrlich, die Probleme so darzustellen, wie sie derzeit tatsächlich sind.
Danke schön.

(Beifall bei der SPD)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205717300
Frau Kollegin Brigitte Baumeister, Sie haben das Wort.

Brigitte Baumeister (CDU):
Rede ID: ID1205717400
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unser Ziel bis Maastricht ist klar. Die beiden Regierungskonferenzen über die Politische Union und über die Wirtschafts- und Währungsunion sollen zum Erfolg geführt werden. Die immer noch vorhandenen ökonomischen Disparitäten und die unterschiedlichen Auffassungen der Wirtschaftsordnungen lassen den Übergang der Gemeinschaft in eine Wirtschafts- und Währungsunion schwierig werden. Wir unterstützen deshalb die Bundesregierung nachdrücklich in ihrem Bemühen, Maastricht zu einem Erfolg werden zu lassen.
Ich möchte an dieser Stelle auch nicht verhehlen, daß es für mich selbstverständlich ist, daß es die Politische Union ohne die Wirtschafts- und Währungsunion nicht geben kann.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Eines ist klar, meine Damen und Herren. Wenn wir uns auf den unumkehrbaren Prozeß der Wirtschafts- und Währungsunion einlassen, muß sichergestellt sein, daß alle beteiligten Staaten einvernehmlich die gemeinsamen Maßnahmen mittragen. Die Wirtschafts- und Währungsunion muß wohldurchdacht sein und muß auch auf einem soliden Fundament stehen.
Auch nach der Vollendung des Binnenmarktes werden sicher noch begrenzt wirtschaftliche Hürden zwischen den nationalen Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten vorhanden sein. Entscheidende Maßnahmen sind die erfolgreiche Koordinierung der nationalen Geldpolitiken der betreffenden Staaten und Umsetzung der gemeinsamen Maßnahmen.
Ziele einer stabilitätsgerechten europäischen Wirtschaftsintegration sind Priorität der Geldwertstabilität, Autonomie für die Europäische Zentralbank, Autonomie für die nationalen Notenbanken und Konvergenz der Wirtschaftspolitik. Unverzichtbare Voraussetzungen sind hierbei Preisstabilität, freiheitliche wirtschaftliche Ordnung und gesunde Staatsfinanzen. Eindeutig muß sichergestellt werden, daß die Finanzierung öffentlicher Haushaltsdefizite ebenso ausgeschlossen bleibt wie die Haftung der Gemeinschaft oder einzelner Mitgliedstaaten für die Verbindlichkeiten anderer Mitgliedstaaten. Diese Regelungen müssen vertraglich abgesichert sein. Haushaltsdisziplin muß im Zweifelsfall mit Sanktionsmöglichkeiten durchgesetzt werden.
Auch in der zweiten Stufe muß die Geldpolitik in der allgemeinen Zuständigkeit der nationalen Währungsbehörden bleiben. Die einzelnen Zentralbanken müssen unabhängig sein und gesetzlich auf das Ziel der Geldwertstabilität verpflichtet sein.



Brigitte Baumeister
Die Bundesregierung sollte mit Nachdruck darauf bestehen, daß erst in der Endstufe das europäische Zentralbanksystem als die für die Geldpolitik zuständige gemeinschaftliche Institution errichtet wird. Diese Zentralbank muß absolut unabhängig sein und muß auf das Ziel der Geldwert- und Preisstabilität verpflichtet werden. Wirtschaftlich nicht vertretbar sind die Forderungen einiger südländischer Mitgliedstaaten nach einem zusätzlichen Finanzausgleich zur Kompensation der durch die Wirtschafts- und Währungsunion hervorgerufenen Anpassungskosten. Aus deutscher Sicht sind keine zusätzlichen Steuerlasten mehr vertretbar.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Was wir als Deutsche in die europäische Wirtschafts- und Währungsunion einzubringen haben, ist viel: eine harte Währung und eine der wichtigsten Reservewährungen der Welt. Diese Errungenschaften dürfen wir nicht preisgeben. Wir müssen sie im Gegenteil erhalten und sie ebenso den europäischen Partnern nutzbar machen. Deshalb kann es ehrlicherweise nicht als nationaler Egoismus abgetan werden, wenn wir fordern: Ohne ausreichende Konvergenz der wirtschaftlichen Grunddaten und der wirtschaftspolitischen Auffassungen ist ein Erfolg — für mich — nicht denkbar. Es wäre unverantwortlich und außerdem nicht praktikabel, wollte man die Stabilität beispielsweise der D-Mark in die europäische Währungsunion einbringen, ohne gleichzeitig die Volkswirtschaften auf einen koordinierten Kurs zu bringen. Zudem bin ich davon überzeugt, daß die europäische Wirtschafts- und Währungsunion nur dann ein Erfolg werden kann, wenn es uns gelingt, die Unabhängigkeit der zu schaffenden, europäischen Zentralbank sicherzustellen und sie auf das Ziel der Geldwertstabilität zu verpflichten.
Das gemeinsame Europa wird für mich bedeuten: Wirtschafts- und Währungsunion unter einer akzeptablen Mitwirkung des Europäischen Parlamentes. Das eine hat ohne das andere keinen Sinn. Beide Entwicklungen müssen gleichzeitig und parallel abgeschlossen werden. Dann werden wir die politische und wirtschaftliche Union mit einem einheitlichen Währungsraum mit einer einheitlichen Währung auch vollenden können.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zustimmung des Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP])


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205717500
Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, Eduard Lintner, das Wort.

Eduard Lintner (CSU):
Rede ID: ID1205717600
Sehr geehrter Herr Präsident! Die Regierungskonferenzen zur Politischen Union und zur Wirtschafts- und Währungsunion der Europäischen Gemeinschaft werden mit dem Europäischen Rat in Maastricht am 9. und 10. Dezember 1991 abgeschlossen. Wir sind uns alle einig: Für die Europäische Gemeinschaft sollten beide Konferenzen zu einer Stärkung ihrer Befugnisse und für den Bürger zu einem erkennbaren Schritt in Richtung auf ein vereintes Europa führen.
Meine Damen und Herren, der bisherige Verlauf der Regierungskonferenzen hat erwartungsgemäß gezeigt, daß die Notwendigkeit, die Europäische Gemeinschaft mit neuen Kompetenzen auszustatten, in den Mitgliedstaaten ganz unterschiedlich gesehen wird. Insgesamt aber überwiegt erkennbar der Wille, am Ende doch zu vorzeigbaren Ergebnissen und damit einen wichtigen Schritt weiterzukommen. Das hat sich jetzt im Bericht der Kollegin über Noordwijk gezeigt.
Die Frau Kollegin Staatsminister Seiler-Albring hat von dort auch schon berichten können, daß man in manchen Dingen, die beispielsweise den Regionalismus betreffen, weitergekommen ist. Ich möchte mich daher jetzt auf einige Aspekte konzentrieren, die noch nicht genannt worden sind.
Ein solcher Aspekt ist beispielsweise, daß wir im Hinblick auf die Schaffung einer echten europäischen Union auch die vertragliche Verankerung einer EG-Bürgerschaft sowie die Aufnahme von EG-eigenen Grundrechten in den Gemeinschaftsverträgen für notwendig ansehen. Auch hier bestehen im übrigen nicht nur hier im Raume keine Meinungsverschiedenheiten, sondern ebenfalls nicht zwischen dem Bund und den Bundesländern. Das bedingt zunächst natürlich, daß die entsprechenden nationalen Rechte angepaßt werden müssen. So erklärt sich auch die Anpassungsfrist bis Dezember 1994 ganz ohne Hintersinn.
Meine Damen und Herren, insbesondere im Hinblick auf die Öffnung der Grenzen bei Realisierung des Binnenmarktes 1993 sind von herausragender politischer Bedeutung für die Bundesregierung die Schaffung verbindlicher Regelungen der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Flüchtlings-, Asly- und Einwanderungspolitik sowie eine Verbesserung der polizeilichen Zusammenarbeit auf der Gemeinschaftsebene. Zwischen Bund und Ländern bestehen auch hier keine grundsätzlichen Auffassungsunterschiede; denn auch die Länder haben sich für Befugnisse der Gemeinschaft auf dem Gebiet des materiellen Asylrechts und auch des Asylverfahrensrechts ausgesprochen.
Ausgehend von den Schlußfolgerungen des Europäischen Rates am 28. und 29. Juni 1991 in Luxemburg hat die Bundesregierung in Brüssel einen Artikelentwurf für eine EG-Kompetenz zur Vereinheitlichung von Vorschriften auf den Gebieten der Asylpolitik und der Ausländerpolitik vorgelegt. Dieser Entwurf sieht u. a. eine umfassende Harmonisierungskompetenz der Gemeinschaft auf dem Gebiet des Ausländerrechts vor. Wirksame Maßnahmen der Gemeinschaft in diesem Bereich können nach Auffassung der Bundesregierung nur noch getroffen werden, wenn die EG selbst umfassende Befugnisse dafür erhält.
Die Notwendigkeit, innerhalb der Staaten der Europäischen Gemeinschaften zu einer Harmonisierung der Ausländer- und Asylpolitik zu kommen, wird eigentlich von allen EG-Staaten anerkannt. In einem Europa ohne Binnengrenzen müssen auch diese Bereiche — das sehen alle ein — harmonisert werden. Unterschiedliche Auffassungen bestehen leider — und das konnte auch in Noordwijk noch nicht be-



Parl. Staatssekretär Eduard Lintner
reinigt werden — hinsichtlich der Wege, die dazu einzuschlagen sind.
Die Bundesregierung hält an ihren Vorschlägen für eine Harmonisierung des Rechts durch die EG selbst fest. Bis wir dies erreicht haben, konzentrieren wir uns eben auf die Möglichkeit der Zusammenarbeit zwischen den Regierungen. Insoweit ist natürlich als Teil dieser Diskussion und der Einwanderungs- und Asylproblematik auch die Problematik des deutschen Art. 16 und des deutschen Asylrechts relevant.
Schade, der Herr Kollege Hirsch ist nicht mehr da. Ich wollte nur darauf hinweisen, daß natürlich auch die Bayerische Staatsregierung das Asylrecht nicht abschaffen will, sondern sie will es umwandeln in die Form einer institutionellen Garantie. Soviel nur zur Korrektheit, damit nicht falsche Verdächtigungen entstehen.

(Zuruf von der SPD: Kein Individualanspruch mehr!)

— Das ist richtig, Umwandlung in ein institutionell garantiertes Recht.

(Zurufe von der SPD)

Soweit zur notwendigen Ergänzung, glaube ich, zu Aufklärungszwecken.

(Zuruf von der SPD: Gnade vor Recht!)

— Pflichtgemäßes rechtsstaatliches Ermessen, lieber Herr Kollege, ist damit gemeint und nicht Gnade und auch nicht Willkür.
In gleicher Weise wichtig ist die wirksame Bekämpfung des internationalen Drogenhandels und auch des organisierten Verbrechens im europäischen Rahmen. Zwischen Bund und Ländern besteht Einvernehmen, daß der grenzüberschreitenden Kriminalität auch mit neuen Organisationsformen zu deren Bekämpfung begegnet werden muß. Die bisher schon vorhandene Regierungszusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten reicht nach deutscher Auffassung dafür nicht aus.
In Abstimmung mit den Ländern hat die Bundesregierung daher auch hier einen Artikelentwurf ausgearbeitet, der die Voraussetzungen für eine Unterstützung der nationalen Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden und für die Koordinierung von Ermittlungen und Fahndungen durch eine Europäische Kriminalpolizeiliche Zentralstelle oder, populärer abgekürzt, Europol ermöglichen soll. Diese Europol-Stelle soll zunächst unter anderem folgende Aktivitäten ausüben können: Unterstützung der nationalen Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden, insbesondere bei der Koordinierung von Ermittlungen und Fahndungen, Aufbau von Informationsdateien, zentrale Informationsauswertung und -bewertung zur Erstellung von Lagebildern und zum Erkennen von Ermittlungsansätzen, Sammlung und Auswertung nationaler Präventionskonzepte zur Weitergabe an die Mitgliedstaaten und zur Erstellung gesamteuropäischer Präventionsstrategien — ich weise nur auf die Rauschgiftproblematik hin — , Maßnahmen der ergänzenden Schulung, Forschung, Kriminaltechnik, des Erkennungsdienstes usw.
Zu einem späteren Zeitpunkt muß aber dann überprüft werden dürfen, ob Europol auch Handlungsbefugnisse in den einzelnen Mitgliedstaaten eingeräumt werden sollen.
Inwieweit die deutschen Vorschläge durchsetzbar sein werden, muß letztlich politisch auf dem Gipfel in Maastricht entschieden werden. Ich gehe davon aus, daß die von der Bundesregierung eingebrachten Vorschläge dort noch einmal sehr sorgfältig diskutiert und auch geprüft werden.
Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205717700
Das Wort hat der Kollege Gerd Andres.

Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1205717800
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu den Schlüsselfragen bei den EG-Vertragsreformen gehören für uns die demokratischen Rechte des Europäischen Parlaments. Ohne eine entsprechende Ausgestaltung der Rechte des Parlaments ist ein demokratischer Prozeß für uns auf europäischer Ebene nicht denkbar.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Deswegen wird die SPD auch im weiteren Verfahren darauf dringen und ihr Verhalten beim späteren Ratifikationsverfahren davon abhängig machen, daß und wie die demokratischen Rechte bei den Regierungskonferenzen geregelt und gelöst worden sind.

(Beifall bei der SPD)

Eine Anmerkung zu Frau Staatsminister Seiler-Albring. Selbstverständlich begrüßen wie die Aufstokkung um 18 Sitze.

(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Unsere Forderung!)

— Es ist unsere Forderung. — Aber es wäre natürlich gut gewesen, hier von Frau Seiler-Albring einmal zu erfahren, auf welche Kompromisse sich die Bundesregierung für die Erfüllung dieser Forderung eingelassen hat. Es wäre auch sinnvoll gewesen, hier ein Mares Wort zu den Konferenzen zu hören und dazu, wie die Bundesregierung diesen Vorschlag beurteilt und wie sie sich im weiteren Verfahren zu diesem Vorschlag verhalten wird.
Ich fände es auch gut — dies vielleicht als ein Hinweis an Herrn Lüder —, wenn die FDP beim europäischen Prozeß nicht nur die Innenpolitik im Auge hätte, sondern in diesen Zusammenhängen ein entsprechendes Augenmerk auch auf die sozialpolitischen Konstruktionen und Regelungswerke richten würde.

(Wolfgang Lüder [FDP]: Haben wir immer! Aber das ist die nächste Runde!)

Wenn man eine Aktuelle Stunde beantragt, hätte man das mit hineinnehmen können, denn ich denke, auch dies ist ein ganz zentraler Punkt, an dem man exemplarisch nachweisen kann, welche Bedeutung die Verankerung demokratischer Rechte und Mitwirkungsmöglichkeiten für das Europäische Parlament für den europäischen Prozeß beinhaltet.
4744 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 57 Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. November 1991
Gerd Andres
Wir können festhalten, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß es in den letzten Jahren doch ganz wesentlich auf die Initiative des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses zurückzuführen war, daß es bei einer ganzen Reihe von Richtlinien, die insbesondere den sozialpolitischen Bereich der Verträge betreffen und die die Schritte hin zum gemeinsamen Binnenmarkt erst richtig ermöglichen, Fortschritte gegeben hat. Wenn Frau Staatsminister Seiler-Albring sagt, es sei wohl zu erwarten, daß insbesondere das britische Verhalten in den Bereichen der sozialpolitischen Regelungen nicht sehr viel Hoffnung zuläßt, dann ist dies schon eine Beurteilung, bei der die Bundesregierung eigentlich aufzufordern ist, nicht zuzulassen, daß mit dem Begriff der Politischen Union Etikettenschwindel betrieben wird.
Die Gestaltung der sozialen Einheit Europas ist für uns ein Dreh- und Angelpunkt. Wer verfolgt, welche Bedeutung das für die Menschen praktisch hat, dem muß klar sein, daß in diesem Zusammenhang die Verankerung von Rechten für das Europäische Parlament eine ganz, ganz große Bedeutung hat.
Es kommt darauf an, nicht nur zuzulassen, daß für das Europäische Parlament Vetorechte vorgesehen sind, so wie das der niederländische Entwurf jetzt vorsieht, sondern auch zu erkennen, daß diese Vetorechte bei weitem nicht ausreichen können, auch dann nicht, wenn diese Rechte auf mehr Politikbereiche ausgedehnt werden, als dem Parlament mit dem Kooperationsvertrag bei der Binnenmarktgesetzgebung derzeit zustehen. Das Europäische Parlament darf sich in diesen Zusammenhängen nicht einfach nur in eine Neinsagerrolle drängen lassen. Wir dürfen auch als nationale Parlamente ein solches Verständnis und eine solche Funktion nicht hinnehmen,

(Beifall bei der SPD und der FDP)

sondern wir müssen darauf achten, daß das Europäische Parlament gestaltende Funktionen bekommt.
Ich halte es für außerordentlich enttäuschend, daß die niederländische Präsidentschaft für den Sozialbereich eine Verankerung der Mehrheitsentscheidung im Rat mit vollen demokratischen Mitentscheidungsrechten des Europäsichen Parlaments in ihren Entwurf zur Vertragsreform nicht aufgenommen hat. Ich sehe sehr wohl, daß es gegenüber der luxemburgischen Präsidentschaft, insbesondere in den Regelungen zu Art. 118b, Fortschritte gibt, daß hier Verbesserungen festzustellen sind. Aber wenn wir nicht erreichen können, daß demokratische Mitwirkung über das Europäische Parlament vertraglich festgeschrieben und verbindlich geregelt wird, dann wird in der Beurteilung der Menschen genau dieser Etikettenschwindel den Prozeß der europäischen Einheit weiter begleiten. Die Bundesregierung muß sich die Frage gefallen lassen, ob sie sich bei den bisherigen Vertragsverhandlungen nicht auf Nebenkriegsschauplätze hat abdrängen lassen. Die Bundesregierung muß sich fragen lassen, ob sie sich nicht verzettelt hat und ob es nicht notwendig ist, daß sie noch vor Maastricht entscheidende Initiativen in die Wege leitet, um die entsprechende Verankerung demokratischer Rechte und Beteiligung des Europäischen Parlaments dann letztendlich in Maastricht auch zu erreichen.

(Beifall bei der SPD und der FDP)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205717900
Herr Kollege Wilfried Seibel, Sie haben das Wort.

Wilfried Seibel (CDU):
Rede ID: ID1205718000
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Zentrum europäischer Geistesgeschichte steht die Befreiung des Menschen von der Unterdrückung und der Kampf um die Rechte, sein Leben in freier Selbstbestimmung leben zu können. Die französische Revolution hat nicht nur den europäischen Kontinent verändert, sondern darüber hinaus auch weite Teile der Welt. Der amerikanische Beitrag zu dieser Entwicklung wird nicht geschmälert, wenn man behauptet: Europa ist die Wiege der Demokratie.
Unsere jüngste Geschichte nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges hat zunächst nur in Westeuropa dazu geführt, daß Freiheit und Demokratie — praktiziert im Parlamentarismus freigewählter Abgeordnetenversammlungen — zum Kennzeichen Europas wurden, dies bei stark gegenläufigen Entwicklungen in anderen Teilen der Welt. Unser Beispiel hat sicherlich dazu beigetragen, daß insbesondere in den letzten drei Jahren mutige Bürger in Aufständen und Revolutionen, ganz besonders in Mittel- und Osteuropa, endlich die Fesseln kommunistischer Unterjochung abwerfen konnten.
Wir alle empfinden die tägliche Spannung, die von der Entwicklung im östlichen Teil Europas ausgeht. Einerseits müssen dort Politiker sich selbst in ihren neuen demokratischen Rollen finden und definieren, sie müssen dies in Gemeinschaft in Parlamenten organisieren, sie sollen Regierungsstrukturen aufbauen, die nicht von zentralistischen Schaltstellen aus gesteuert werden - und das alles bei gleichzeitig immensen Problemen der Daseinsfürsorge für die eigene Bevölkerung und für den Zusammenhalt der Nationen. Wir alle — und das kann ich hier sicherlich einvernehmlich sagen — sind in der Pflicht, diesen Prozeß zu begleiten, zu fördern und entschieden dafür einzutreten, daß er nicht zurückgedreht wird.
Europa war und ist ganz besonders heute der Kontinent freiheitlicher Demokratie. Was für die einzelnen Staaten gilt, bleibt dort, wo Europa sich selbst organisiert, in der EG, weit hinter der Norm zurück. Wir alle sind nicht zufrieden mit den demokratischen Rechten, die das Europäische Parlament gegenüber der Kommission und gegenüber dem Ministerrat hat. Das Europäische Parlament hat Kontrollrechte und Mitwirkungsrechte, aber dies nur sehr eingeschränkt: nach den Beratungen in Noordwijk nun auch für die Gesetzgebung für den Binnenmarkt 1993. Diese Erweiterung ist erfreulich zu vermerken. Sie bleibt allerdings weit hinter den Erfordernissen und auch weit hinter unseren Wünschen zurück.
Ich bekenne mich selbst eindeutig zu der Rede des Präsidenten des Europäsichen Parlaments, Baron Crespo aus Spanien, der vor wenigen Tagen zum Stand der Beratungen deutliche Worte gefunden hat.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Sehr gut!)

Den nationalen Parlamenten wurden in der Vergangenheit Kompetenzen entzogen, ohne daß die Befugnisse des Europäischen Parlaments entsprechend ge-



Wilfried Seibel
stärkt wurden. Dieses Demokratiedefizit muß abgebaut werden. Tatsächlich fehlen dem Parlament in Straßburg wesentliche Rechte. Aus dem Kooperationsverfahren muß ein Mitwirkungsrecht werden.
Meine Damen und Herren, wir sollten aber auch gerecht und ehrlich mit uns selbst umgehen: Die Entwicklung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere die der Europäischen Gemeinschaften, ist nicht durch dramatische Entscheidungen vorangebracht worden. Die EG hat sich beharrlich über kleine und kleinste Schritte weiterentwickelt, und auch das Parlament hat lange und intensiv um die Ausweitung seiner Rechte kämpfen müssen.
Ich glaube, daß die in Maastricht anstehende Entscheidung, die ihre Qualität durch die unaufhebbare Gleichzeitigkeit der Beschlußfassung über die Wirtschafts- und Währungsunion und die Politische Union hat, uns wiederum einen Schritt voranbringen wird, obwohl dies nicht reicht und obwohl dies der eingangs geschilderten geistesgeschichtlichen Verpflichtung nicht gerecht wird.
Politik ist die Kunst des Möglichen oder — wie Werner Weber gesagt hat — das geduldige Bohren dicker Bretter. Wir alle sind aufgefordert, den Bohrer nicht abzusetzen — im Gegenteil: kräftig drehen und das dicke Brett geduldig und entschlossen bohren!
In der letzten Woche hat uns alle der Bundesrat mit einem entschlossenen Votum darauf aufmerksam gemacht, daß klare Bestimmungen für die Wahrung der Subsidiarität oder der Rechte der Regionen in Europa beständig einzufordern sind.
Auch hier gilt: Die Verhandlung durch die Bundesregierung ist zu loben, weil sie diese Forderung im Prinzip hat durchsetzen können. Die Bundesländer oder die Provinzen erhalten eine eigenständige Vertretung in Brüssel, die zu allen politischen Projekten der EG gehört werden muß. Dieser neu zu bildende Regionalausschuß hat ein Klagerecht, und die Länderminister haben die Möglichkeit zur Mitsprache im Ministerrat.
Das alles kann uns natürlich nicht uneingeschränkt zufriedenstellen. Wir sollten uns aber darauf besinnen, daß der bei uns gut funktionierende Föderalismus nicht der alleinige Maßstab für die Durchsetzung dieser Forderung sein kann. Bitte, bedenken Sie alle, was ähnliches für das Verhältnis der Provinzen und der Zentralregierung zum Beispiel in Spanien oder anderswo bedeuten könnte.
Eine streitige und massive Durchsetzung dieser Forderung darf nicht dazu führen, daß jugoslawische Effekte in den Staaten der EG — und ganz besonders auch nicht in den Staaten, die zur EG dazukommen wollen — ausgelöst werden.
Das erfreulichste zum Schluß: Unter allen EG-Partnern ist Zustimmung dazu erzielt worden, daß die bisherigen 18 Beobachter aus den neuen Bundesländern zukünftig vollständige Mitglieder mit allen Rechten und natürlich auch allen Pflichten im Europäischen Parlament sein würden.
Ich glaube, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es ist für uns nicht nur Anlaß zur Freude, sondern auch
Anlaß, allen Partnern in der EG dafür recht herzlichen Dank zu sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205718100
Das Wort hat Herr Abgeordneter Christian Schmidt.

Christian Schmidt (CSU):
Rede ID: ID1205718200
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mir obliegt es, das Ceterum censeo in diese Aktuelle Stunde einzubringen. Wir wollen Europa nach dem Grundsatz der Subsidiarität bauen. Dieser Grundsatz heißt, daß natürlich nicht alle Kompetenzen von den Nationalstaaten, den Bundesländern, den Regionen und auch den Kommunen auf die europäische Ebene übertragen werden können. Es bleiben jedoch wesentliche Politikbereiche, ohne die es eine tragfähige Politische Union nicht geben kann. Mehrere sind ausführlich angesprochen worden.

(V o r s i t z : Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg)

Aber neben den innenpolitischen Fragen, die hier bereits ausführlich diskutiert worden sind, gehören hierzu auch die Fragen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Auch hier hat das Konklave von Noordwijk Europa nicht sehr vorangebracht.
Es bleibt zu hoffen, daß sich in den noch verbleibenden gut drei Wochen bis Maastricht die Kohl/Mitterrand-Initiative vom 14. Oktober 1991 im Vertragsentwurf über die Politische Union niederschlägt. Mancher in Europa scheint noch nicht zu der Erkenntnis bereit zu sein, daß eine starke wirtschaftliche einerseits und eine schwache fragmentarische politische Einigung Europas andererseits auf die Dauer keinen Bestand haben kann.

(Peter Kittelmann [CDU/CSU]: So ist es!)

Die Frage „Quo vadis, Europa?" stellt sich doch in Wahrheit nicht nur für uns Deutsche, wie wohl mancher in Europa glaubt, sondern in der gleichen Schärfe auch für andere Staaten, sei es Frankreich, Spanien oder insbesondere Großbritannien.
Wer die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik auf eine rein intergouvernementale Konsultationsschiene leiten möchte, läuft Gefahr, daß der europäische Zug im weltpolitischen Maßstab insgesamt abgehängt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Welches Land in der Europäischen Gemeinschaft würde denn nach gehöriger Selbstprüfung nicht zu der Erkenntnis gelangen, daß außenpolitische Einflußnahme und Gestaltungsmöglichkeit im ausgehenden 20. Jahrhundert nicht mehr mit nationalem, sondern mit europäischen Vorzeichen geschrieben werden müssen? Hinzu kommt noch, daß sich Europa insgesamt seiner nordatlantischen Bündnispartner versichern muß, zum eigenen Schutz, aber auch zur Stabilisierung der weltweiten Entwicklungen.
Auch und gerade das wiedervereinigte Deutschland, das einen nationalen Sonderweg für sich kategorisch ausschließt, ist bereit, seine Politik in die europäische Gemeinschaft einzubetten. Diese Botschaft zur gemeinsamen europäischen Politik von Kohl und



Christian Schmidt (Fürth)

Mitterrand, wie bereits erwähnt, legt hierfür ein beredtes Beispiel ab.

(Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Die Bundesregierung im Verein mit den heute bei uns zu Gast weilenden französischen Partnern sollte deswegen die verbleibende Zeit bis Maastricht nutzen, noch zögerliche andere Partner in der Europäischen Gemeinschaft nicht nur von der Unabdingbarkeit einer gemeinsamen Innenpolitik, sondern auch von der Unabdingbarkeit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu überzeugen und deutlich zu machen, daß Maastricht hier einen Meilenstein für die zukünftige Entwicklung Europas setzen muß.
Es gilt auch im Jahre 1991 das Wort von Konrad Adenauer, das er nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft in der französischen Nationalversammlung geäußert hat: Es wird mehr als eine Generation dauern, bis solch eine Möglichkeit wiederkommt. Jetzt haben wir diese Möglichkeit in der Hand. Wir sollten nicht noch einmal eine Generation vertrösten müssen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205718300
Meine Damen und Herren, damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf: Fragestunde
— Drucksache 12/1513 —
Bevor ich die Dringlichkeitsfrage des Abgeordneten Schily aufrufe, möchte ich das Haus auf folgendes aufmerksam machen. Mir liegen relativ wenige Fragen vor. Unterstellt, daß die Fragestunde nicht extensiv ausgenutzt wird, könnte ich mir vorstellen, daß wir einen Teil der Zeit, die wir verloren haben, wieder einholen, wenn wir mit Tagesordnungspunkt 5 — es handelt sich um die Diskussion über den Berufsbildungsbericht — eher anfangen. Ich möchte also die Geschäftsführer der Fraktionen bitten, dafür Sorge zu tragen, daß die entsprechenden Redner im Hause sind.
Dies vorausgeschickt, eröffne ich die Fragestunde. Ich rufe die Dringlichkeitsfrage des Abgeordneten Schily auf:
Welche finanziellen Auswirkungen für die öffentlichen Haushalte sowie für das private und öffentliche Kreditgewerbe erwartet die Bundesregierung für den Fall der Zahlungsunfähigkeit der UdSSR und deren Außenhandelsbank, die nach den jüngsten Äußerungen des Vorstandssprechers der Deutschen Bank, Hilmar Kopper, möglicherweise schon in nächster Zeit eintreten wird, und welchen sofortigen Handlungsbedarf sieht die Bundesregierung?
Hier steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Manfred Carstens zur Verfügung. — Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Manfred Carstens (CDU):
Rede ID: ID1205718400
Bislang sind im Zahlungsverkehr mit der sowjetischen Außenwirtschaftsbank, die für die zentrale Abwicklung des äußeren Zahlungsverkehrs der Sowjetunion verantwortlich ist, keine Zahlungsrückstände aufgetreten.
Die gesamte äußere Verschuldung der Sowjetunion ist insbesondere im Vergleich zu den großen Rohstoffvorkommen der Sowjetunion nicht übermäßig hoch. Der einschneidende politische und wirtschaftliche Umgestaltungsprozeß hat allerdings die Devisensituation der Sowjetunion erschwert. Die maßgebenden Industrieländer stehen in einem Dialog mit der sowjetischen Regierung und den Regierungen der Republiken über Maßnahmen mit dem Ziel, möglichen zeitweiligen Liquiditätsproblemen zu begegnen und die Kreditwürdigkeit sowohl der Union als auch der Republiken zu festigen.
Als erstes Ergebnis dieser Bemühungen haben Union und Republiken Ende Oktober 1991 in Moskau eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet, in der sich Union und Republiken gesamtschuldnerisch haftbar erklärten für die bestehenden Auslandsschulden der UdSSR bzw. ihrer Rechtsnachfolger und in der die Außenwirtschaftsbank ermächtigt wurde, gegenüber den Gläubigern als zentraler Ansprechpartner aufzutreten. Die Bedienung der sowjetischen Auslandsschulden wurde damit auf eine breitere Basis gestellt.
Über weitere Maßnahmen zur Vermeidung von eventuellen Liquiditätsengpässen der Außenwirtschaftsbank wird zur Zeit gesprochen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205718500
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter, bitte schön.

Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1205718600
Verfügt die Bundesregierung über Informationen, wie hoch die Auslandsverbindlichkeiten der UdSSR insgesamt sind und welche Liquiditätsreserven der Außenhandelsbank der UdSSR zur Verfügung stehen?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Ich kann Ihnen wohl beantworten, welche Verbindlichkeiten gegenüber der Bundesrepublik Deutschland bestehen; zu der Frage nach den Reserven, die wirklich vorhanden sind, gibt es nach meiner Information aber keine gesicherte Basis.
Das Gesamtobligo der UdSSR gegenüber der Bundesrepublik Deutschland aus Gewährleistungen beläuft sich derzeit auf ca. 33 Milliarden DM. Hinzu kommen Forderungen aus der Abwicklung des Transferrubel-Verrechnungsverkehrs von ca. 16 Milliarden DM. Die Forderungen der deutschen Banken betragen ca. 13 Milliarden DM.
Dies sind — das füge ich hinzu — Höchstbeträge, die nicht gleichzusetzen sind mit tatsächlichen Ausfällen. Die Sowjetunion ist im Prinzip ein ressourcenreiches Land — ich sagte es eben schon —, das jedenfalls längerfristig bei angemessener Wirtschaftspolitik einen geregelten Zahlungsverkehr gewährleisten können sollte.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205718700
Weitere Zusatzfrage, bitte schön, Herr Abgeordneter Schily.

Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1205718800
Herr Staatssekretär, Sie wissen ja, daß ich das Ganze nicht aus dem heiteren Himmel frage, sondern daß es Äußerungen des Vorstandsspre-



Otto Schily
chers der Deutschen Bank, Hilmar Kopper, gegeben hat, die durchaus alarmierend sind. Vor dem Hintergrund dieser Information möchte ich Sie denn doch fragen — das ist meine zweite Zusatzfrage — : Mit welchen Haushaltsrisiken rechnet denn die Bundesregierung im Blick auf die prekäre Finanzlage der UdSSR, und in welcher Weise werden diese Risiken von der Bundesregierung berücksichtigt, nicht zuletzt auch unter Hinweis auf jüngste Äußerungen des früheren Kanzlerberaters Teltschik, nach denen womöglich auch die Gefahr eines Machtwechsels in der Sowjetunion besteht?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Was kommende politische Probleme in der Sowjetunion betrifft, so handelt es sich ja — das haben Sie in Ihrer Frage auch deutlich werden lassen — um eine hypothetische Frage, und es bietet sich nicht an, darauf hypothetisch zu antworten, weil man politische Schwierigkeiten nicht unterstellen sollte, bestenfalls oder schlimmstenfalls abwarten muß, was sich in der Sowjetunion weiter tun wird.

(Otto Schily [SPD]: Vorkehrungen treffen!)

Aber eines möchte ich ganz deutlich sagen: In Diskussionen, in öffentlichen Veranstaltungen oder auch in Ausschüssen des Deutschen Bundestages sind mir, bezogen auf Ausfälle und Risiken, gelegentlich Zahlen in zweistelliger Milliardenhöhe je Jahr genannt worden, was aber völlig absurd ist.
Wenn es überhaupt zu Ausfällen kommen sollte, was wir in Abstimmung mit den G-7-Ländern und durch Gespräche mit der Sowjetunion zu verhindern trachten, dann würden es Ausfälle in einer erheblich niedrigeren Größenordnung sein, für die notfalls sogar Vorsorge getroffen werden könnte, ohne das Zahlengerüst in der mittelfristigen Finanzplanung des Bundes erheblich zu verändern.
Aber, wie gesagt, wir legen großen Wert darauf, mit den G-7-Ländern, mit der Sowjetunion und mit den Unionsrepubliken zu einer Lösung zu kommen, die alles das, was man befürchten könnte, nicht zum Tragen kommen läßt. Insofern bin ich guter Dinge, daß möglicherweise schon in wenigen Tagen erklärt werden kann, daß Zahlungsschwierigkeiten in der Sowjetunion nicht bestehen, und man hinreichend Zeit hat, um all das, was dort an sonstigen Schwierigkeiten vorhanden sein sollte, in Ruhe abklären zu können.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205718900
Danke schön.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Kleinert. Bitte sehr, Herr Abgeordneter.

Detlef Kleinert (FDP):
Rede ID: ID1205719000
Herr Staatssekretär, sind auch Sie der Meinung, daß Herr Cartellieri, Vorstandsmitglied der Deutschen Bank, vielleicht recht hat, daß wir zu viele Banken haben, aber daß es auf jeden Fall richtig ist, daß wir zu große Banken haben und daß sich die größte von ihnen in viel zuviele Dinge einmischt, in die sie sich besser nicht einmischen sollte?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Herr Abgeordneter Kleinert, hierauf möchte ich antworten, daß
auch ich mich persönlich über die öffentlichen Äußerungen in diesem Fall von Herrn Kopper mindestens sehr gewundert habe.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205719100
Danke schön. Dann kann ich den Bereich der Dringlichkeitsfrage abschließen.
Den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung brauche ich nicht aufzurufen, weil die Frage 1 der Abgeordneten Frau Stachowa und die Frage 2 des Abgeordneten Wallow auf deren Wunsch schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Herr Staatsminister Helmut Schäfer steht uns zur Beantwortung zur Verfügung. Der Abgeordnete Rolf Schwanitz hat gebeten, die Frage 34 schriftlich zu beantworten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 35 der Abgeordneten Frau Uta Zapf auf:
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß mit der Ratifizierung des Vertrages über eine Europäische Politische Union der Verteidigungsbegriff der UN-Charta und nicht der Verteidigungsbegriff des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland für die Bundesrepublik Gültigkeit erlangt, und daß es nach der Ratifizierung keiner Grundgesetzänderung zum Einsatz von bundesdeutschen Truppen „out-of-area" bedarf?
Herr Staatsminister, Sie haben das Wort.

Helmut Schäfer (FDP):
Rede ID: ID1205719200
Frau Kollegin, im Zusammenhang mit der Ratifizierung des Vertrages über eine Politische Union stellt sich die Frage einer Änderung des Verteidigungsbegriffs des Grundgesetzes im Hinblick auf den sich abzeichnenden Inhalt dieses Vertrages nicht.

(Beifall der Abg. Heidemarie WieczorekZeul [SPD])


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205719300
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Zapf.

Uta Zapf (SPD):
Rede ID: ID1205719400
Bedeutet das, Herr Staatsminister, im Klartext, daß die Bundesregierung nach wie vor davon ausgeht, daß auch im Rahmen europäischer Truppen keine „out of area"-Einsätze bundesdeutscher Streitkräfte oder bundesdeutscher Soldaten geschehen können, es sei denn, das Grundgesetz wäre geändert?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Frau Kollegin, Sie haben den Sachverhalt völlig richtig wiedergegeben.

Uta Zapf (SPD):
Rede ID: ID1205719500
Danke sehr.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205719600
Frau Zapf hat keine weitere Zusatzfrage. Dann Frau WieczorekZeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1205719700
Ich wollte gern vom Herrn Staatsminister wissen, ob er mit der Interpretation, die er jetzt von seiten der Bundesregierung gegeben hat, Auffassungen widerspricht, die besagen, es gebe durch die Formulierung des Sicherheitsbegriffs in dem Entwurf des Vertrages zur Europäischen Politischen Union eine immanente Überwin-



Heidemarie Wieczorek-Zeul
dung des Auftrags der Bundeswehr, der nach wie vor auf Verteidigung orientiert ist.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Frau Kollegin, es ist natürlich so, daß es Partner

(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Bundesregierung!)

innerhalb des Vertragswerkes gibt, die eine solche Interpretation für denkbar halten. Das gilt nicht für die Bundesregierung.
Ich darf noch einmal darauf hinweisen, daß für die Bundesrepublik Deutschland wegen der Bestimmungen unserer Verfassung die Möglichkeit, anderen Staaten bei der Ausübung des kollektiven Selbstverteidigungsrechtes Beistand zu leisten, nur im Rahmen der Verträge über die NATO, das Nordatlantische Bündnis, und die Westeuropäische Union möglich ist. Es wird sich an unserer rechtlichen Auffassung, daß es zu derartigen Weiterungen einer Änderung des Grundgesetzes bedarf, nichts ändern.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205719800
Danke schön. Zu der Frage 35 liegt keine weitere Wortmeldung vor.
So kann ich die Frage 36 der Abgeordneten Frau Uta Zapf aufrufen:
Ist die Bundesregierung von ihrer Auffassung abgerückt, daß ein „ out-of-area " -Einsatz bundesdeutscher Soldaten eine Änderung des Grundgesetzes voraussetzt?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich kann im Grunde nur wiederholen: Die Haltung der Bundesregierung in dieser Angelegenheit ist unverändert.

Uta Zapf (SPD):
Rede ID: ID1205719900
Das ist mir klar, Herr Staatsminister. Ich habe die Frage natürlich deshalb gestellt, weil ich nicht wußte, was Sie auf die erste Frage antworten würden.
Ich habe trotzdem zu dieser Frage, die schon im Zusammenhang mit der ersten Frage beantwortet wurde, noch eine Zusatzfrage. Ich wüßte gerne, ob die Bundesregierung ihren Partnern diesen Tatbestand bei den Verhandlungen über die sicherheitspolitische und außenpolitische Union und bei der Planung von europäischen Streitkräften ganz deutlich gemacht hat und ob den Partnern damit auch deutlich ist, daß zumindest bundesdeutsche Kräfte im Rahmen von integrierten Truppen bei sogenannten Friedensmissionen, wie das immer heißt, nicht teilnehmen würden. Zum Beispiel sind auch andere Einsätze durch NATO-Truppen im Rahmen des NATO-Vertrages abgedeckt. Geht denn die Bundesregierung vor dem Hintergrund dieser Tatsache davon aus, daß es überhaupt Sinn macht, solche Truppen aufzustellen, zumal ich keinerlei Informationen habe, daß die Bundesregierung die Zweitdrittelmehrheit zu einer Grundgesetzänderung in diesem Parlament in absehbarer Zeit finden wird?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Frau Kollegin, Meinungen von Parteien ändern sich laufend.

(Heiterkeit)

Ich kann feststellen, daß wir unseren Partnern den
derzeitigen juristischen Stand klargemacht haben. Er
ist ihnen auch seit vielen Jahren bekannt. Auf Grund unseres Verhaltens in sehr vielen Fällen dieser Art mußten wir das immer wieder betonen. Es ist also nicht neu, daß wir den Partnern klarmachen müssen, daß das Grundgesetz dieses noch nicht hergibt. Aber die Erwartungshaltung unserer Partner hat sich natürlich angesichts der sich verändernden Weltlage und insbesondere der ständigen deutschen Forderungen nach dem Einsatz von Friedenstruppen — etwa in Jugoslawien — gewandelt.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205720000
Zweite Zusatzfrage, Frau Zapf.

Uta Zapf (SPD):
Rede ID: ID1205720100
Die Bundesregierung lebt dann also ein bißchen nach dem Prinzip Hoffnung, daß sich z. B. die Meinung der SPD in dieser Frage verändern wird.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Frau Kollegin, Sie haben gerade einen neuen Fraktionsvorsitzenden gewählt, der zu dieser Frage eine sehr differenzierte Meinung vertreten hat.

(Heiterkeit)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205720200
Frau Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1205720300
Ich wollte als Vorbemerkung darauf hinweisen, daß der neue Fraktionsvorsitzende die Position, die wir in Fragen der Europäischen Politischen Union bezogen haben, genauso mit teilt. Herr Schäfer, ich sage das, damit Sie keine Illusionen haben; es ist immer schlecht, wenn man von Illusionen ausgeht.
Mit Blick auf Ihre Interpretation des Verhältnisses zwischen Europäischer Politischer Union und dem deutschen Grundgesetz wollte ich fragen, auf welcher verfassungsrechtlichen Basis der Vorschlag der deutsch-französischen Verteidigungsinitiative erfolgt ist.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Frau Kollegin, da es sich dabei nicht um einen Vorschlag handelt, der aus dem Sachbereich des Auswärtigen Amtes kam, wäre ich dankbar, wenn Sie Ihre Frage an die Stellen der Bundesregierung richten würden, die diese spezielle Frage aus ihrem Sachverstand heraus noch besser beantworten können, als ich das tun kann.

(Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD] meldet sich zu einer weiteren Zusatzfrage)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205720400
Frau Wieczorek-Zeul, ich möchte auf zwei Dinge aufmerksam machen: Sie haben lin Grunde genommen nur eine Zusatzfrage; aber da bin ich bekanntermaßen nicht so fürchterlich kleinlich. Nur, wir müssen aufpassen, daß wir nicht den Zusammenhang zu der ursprünglichen Frage verlieren. — Bitte schön.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1205720500
Um Gottes Willen; jetzt war es gerade so schön spannend. Jetzt frage ich, da Herr Schäfer sagt, für das Auswärtige Amt könne er dazu nichts sagen: Heißt das, daß in Noordwijk jetzt bei den Verhandlungen der Außenminister das Außenministerium nicht zur deutsch-französi-



Heidemarie Wieczorek-Zeul
schen Verteidigungsinitiative verhandelt hat, weil es in diesen Bereich nicht die ausreichenden Informationen hat, und ist dieser Teil vielleicht deshalb nicht mit aufgenommen worden?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Frau Kollegin, Sie kommen jetzt zu einem weiteren Sachverhalt. Ich kann dazu nur sagen: Ihre erste Frage, die ich beantwortet habe, bezog sich auf die Hintergründe der Aufstellung eines deutsch-französischen Korps, also einer Erweiterung der schon vorhandenen Brigade. Ich habe, glaube ich, in meinen Ausführungen sehr deutlich gemacht, daß sich dadurch an unserer Verfassungslage nichts geändert hat, daß aber die Diskussion über unsere Verfassungslage nicht nur hier, sondern auch im Ausland anhält, daß darüber hinaus Erklärungen abgegeben worden sind, daß wir im Rahmen einer Änderung des Grundgesetzes unsere Verfassungslage auch in diesen Fragen neu bedenken müssen. Auch angesichts des wachsenden Interesses der internationalen Öffentlichkeit an der Frage, wie lange sich Deutschland in bestimmten Fragen noch so zurückhalten kann wie bislang, gehe ich davon aus, daß wir alle in den Fraktionen darüber nachdenken müssen. Ich halte den Vorwurf, ich gäbe mich einer Illusion hin, den ich Ihnen gerne abnehme, für nicht ganz gerechtfertigt. Ich gebe mich der Vorstellung hin, daß wir alle lernen, unsere Verantwortung in Zukunft so wahrzunehmen, wie es, glaube ich, international nötig ist, insbesondere dann, wenn wir als Deutsche ständig verlangen, daß solche Friedenstruppen eingesetzt werden, aber gleichzeitig unseren erstaunten Freunden mitteilen, daß wir uns auf Grund der Verfassungslage nicht daran beteiligen können.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205720600
Abgeordneter Schily.

Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1205720700
Herr Staatsminister Schäfer, soll ich die Antwort auf die zuvor gestellte Frage meiner Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul so verstehen, daß die deutsch-französische Verteidigungsinitiative mit dem Auswärtigen Amt überhaupt nicht abgestimmt worden ist?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Nein, das wäre falsch. Ich sage nur, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, die das hier immer sehr geschickt einführt, hat ein Thema herausgestellt, das mit dem ursprünglichen Sachverhalt, glaube ich, nicht so sehr im Zusammenhang stand, daß ich nun auch noch die Hintergründe der Entstehung der deutsch-französischen Brigade hier darlegen sollte. Das war eigentlich meine Antwort.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205720800
Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, die ursprüngliche Frage lautete, welche Einstellung die Bundesregierung bezüglich der Änderung des Grundgesetzes beim Einsatz „out of area" hatte. Dazu ist eine klare Antwort gegeben worden. Sie haben in geschickter Form — das hat der Staatsminister ja gesagt — mit Ihren Zusatzfragen die ursprüngliche Frage sehr ausgedehnt. Insofern, meine ich, ist der Sachverhalt wirklich ausgiebig befragt worden. Ich schließe ihn damit auch ab.
Die Frage 37 des Abgeordneten Heinrich Seesing, die Frage 38 des Abgeordneten Hans Wallow und die Frage 39 der Abgeordneten Monika Ganseforth werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Nun kommen wir zur Beantwortung der Frage 40 des Abgeordneten Dr. Kübler:
Kann die Bundesregierung Meldungen bestätigen, wonach in Südkorea laut einem jüngst veröffentlichten Bericht der „Korean Bar Association" seit dem Amtsantritt von Präsident Roh Tae Woh mehr Menschenrechtsverletzungen als vorher registriert wurden, und zwar wurden in der Zeit von Januar 1990 bis November 1990 1 872 Verhaftungen aus politischen Gründen sowie zwischen Dezember 1987 und November 1990 insgesamt 4 176 Verhaftungen mit der Begründung registriert, die verhafteten Personen gefährdeten die Sicherheit des Landes, und welche Initiativen wird die Bundesregierung ergreifen, um deutlich und international wahrnehmbar auf die Unterlassung von Menschenrechtsverletzungen in Südkorea hinzuwirken?
Herr Staatsminister, Sie haben das Wort.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die in der vorliegenden Frage ausgewiesene Zahl von Verhaftungen in der Republik Korea stimmt im großen und ganzen auch mit den Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen überein. Auf Grund der Politik der südkoreanischen Regierung, die Zahl der Festnahmen, Inhaftierungen und Entlassungen nicht zu veröffentlichen, ist eine genaue Feststellung der tatsächlichen Zahl der Verhaftungen nicht möglich.
Nach koreanischer Darstellung wurden die Verhaftungen auf Grund von Verstößen gegen bestehende Gesetze, wie gegen das nationale Sicherheitsgesetz, das Gesetz gegen den Gebrauch von Brandbomben oder das Versammlungsgesetz, durchgeführt. Wie viele der Verhafteten tatsächlich als gewaltfreie politische Gefangene, also als Gefangene, die sich nicht der Gewalt bedient haben, zu gelten haben, ist schwer einzuschätzen. Ihre Zahl wird von Beobachtern — dazu zählt auch „Amnesty" — auf mindenstens 150 bis 200 geschätzt.
Die Bundesregierung hat der Menschenrechtsfrage in der Republik Korea immer ihre Aufmerksamkeit geschenkt. Menschenrechtsfälle waren u. a. Thema während des Staatsbesuches des koreanischen Präsidenten Roh Tae Woh in Deutschland im November 1989 und während des Staatsbesuches des Herrn Bundespräsidenten in Korea im Februar dieses Jahres.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205720900
Eine Zusatzfrage, Herr Dr. Kübler.

Dr. Klaus Kübler (SPD):
Rede ID: ID1205721000
Herr Staatsminister, kann man Näheres darüber erfahren, in welcher Form und mit welcher Intensität der Herr Bundespräsident die Menschenrechtsverletzungen in Südkorea angesprochen hat?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich gehe davon aus, daß der Herr Bundespräsident die Menschenrechtsfragen bei seinen Besuchen und bei den Gesprächen, die er führt — ich hatte die Ehre, sie gelegentlich mitzuerleben — in der uns allen als richtig erscheinenden Form angesprochen hat.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205721100
Eine weitere Zusatzfrage.




Dr. Klaus Kübler (SPD):
Rede ID: ID1205721200
Herr Staatsminister, geht die Bundesregierung davon aus, daß die Menschenrechtsverletzungen in Südkorea in Zukunft abnehmen werden? Für den Fall, daß dies nicht so sein wird, wird die Bundesregierung kurzfristig auf EG-Ebene oder auf UN-Ebene entsprechende Initiativen ergreifen?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, wir hoffen gemeinsam mit allen Fraktionen in diesem Haus, daß Menschenrechtsverletzungen, gleichgültig wo sie stattfinden, abnehmen, insbesondere auch in Südkorea. Wir haben das sehr deutlich gemacht, sowohl in Gesprächen auf bilateraler Ebene in Seoul zwischen den Botschaftern als auch, um auf den letzten Teil Ihrer Frage zu kommen, wiederholt in Gesprächen der EG-Botschafter bei der südkoreanischen Regierung. Wir werden das natürlich in Zukunft, wenn es nicht nachläßt, weiter verfolgen. Weitere Konsequenzen sind dann zu überlegen, wenn sich der Sachverhalt tatsächlich so ändern würde, wie Sie es gerade befürchtet haben.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205721300
Es gibt keine weiteren Zusatzfragen zur Frage 40.
Ich rufe damit die Frage 41 des Abgeordneten Kübler auf:
Welche Planungen und Vorkehrungen hat die Bundesregierung für eine künftige deutsche Beteiligung an Katastrophenbekämpfungen großen Ausmaßes wie zum Beispiel beim Löschen der brennenden Ölquellen in Kuwait getroffen, bei dem die Bundesrepublik Deutschland nicht beteiligt war, und welche Folgerungen für künftige Beteiligungen von deutscher Seite zieht die Bundesregierung aus dieser Nichtbeteiligung deutscher Firmen an den Löscharbeiten in Kuwait?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Für die Bekämpfung von Großkatastrophen, Herr Kollege, verfügt die Bundesrepublik Deutschland im staatlichen und im nichtstaatlichen Bereich über ein personell und technisch hochstehendes Katastrophenschutzsystem, das neuesten Einsatzkonzepten gerecht wird und international Ansehen genießt. Deswegen wird die deutsche Hilfe bei Großkatastrophen weltweit in Anspruch genommen, wobei sich die Bundesregierung von dem Prinzip leiten läßt, sich nicht aufzudrängen, aber dann zu helfen, wenn sie darum gebeten wird.
Sowohl von seiten der deutschen Industrie als auch von staatlicher Seite wird ständig an der Verbesserung des nationalen und internationalen Katastropheneinsatzes gearbeitet, dies vor allem im Hinblick auf die gestiegenen Risikofaktoren Bevölkerungswachstum, moderne Technologie und Umwelt.
Im Falle Kuwait lagen Angebote der deutschen Industrie vor, die von der Bundesregierung unterstützt wurden. Daß sie nicht angenommen wurden, ist im Zusammenhang mit der starken ausländischen Konkurrenz und den damals herrschenden besonderen Marktgesetzen zu sehen. Die Bundesregierung strebt eine enge weltweite Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Großkatastrophen an. Mit einer Reihe von Staaten bestehen bereits Abkommen über eine gegenseitige Katastrophenhilfe. Es ist auch auf die wachsende Zahl informeller Kontakte zwischen deutschen staatlichen und nichtstaatlichen Stellen und ihren ausländischen Partnern hinzuweisen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205721400
Zusatzfrage, bitte schön.

Dr. Klaus Kübler (SPD):
Rede ID: ID1205721500
Herr Staatsminister Schäfer, verfügt die Bundesregierung nicht über die Information, daß Angebote von deutscher Seite an die kuwaitische Seite zur Teilnahme an den Löscharbeiten erst Mitte August erfolgt sind, also zu einem relativ späten Zeitpunkt, während Löschmannschaften aus neun anderen Ländern, u. a. aus Ungarn und Persien, seit April, Mai, Juni dort löschen? Haben Sie nicht den Eindruck, daß hier von deutscher Seite sehr, sehr spät gehandelt worden ist?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, da Sie, soviel ich weiß, selbst dort gewesen sind, nehme ich an, daß Sie wissen, daß nicht das Auswärtige Amt die für den Einsatz von Helfern bei Katastrophen zuständige Behörde ist, sondern ein anderes Ministerium.
Es ist hier im Deutschen Bundestag — Herr Präsident, wenn ich darauf hinweisen darf — zu genau dieser Frage sehr ausführlich von einem Vertreter des zuständigen Ministeriums Stellung genommen worden. Ich erinnere mich, bei dieser Fragestunde dabeigewesen zu sein und zugehört zu haben, wie mein Kollege Staatssekretär genau diese Frage sehr ausführlich beantwortet hat.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205721600
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Dr. Kübler, bitte schön.

Dr. Klaus Kübler (SPD):
Rede ID: ID1205721700
Herr Staatsminister, ist die Bundesregierung der Auffassung, daß sie durch dieses sehr späte Eingreifen eigentlich nur bestätigt hat, daß sie hinsichtlich ihrer Fähigkeit, in Katastrophenfällen rasch handeln und sich in Zukunft an so etwas wie Task-Forces beteiligen zu können, auf jeden Fall keinen Anlaß zu großen Hoffnungen gegeben hat, daß in der Zukunft mit Verbesserungen in diesem Bereich zu rechnen sein wird?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich bin wirklich nicht zuständig für den Katastropheneinsatz, aber ich darf in dem Zusammenhang noch einmal darauf hinweisen, daß der Fall Kuwait nicht unbedingt typisch zu sein braucht. Ich erinnere mich an andere Einsätze, die relativ schnell über die Bühne gingen, etwa an den Einsatz von Löschfahrzeugen beim Brand auf dem Berg Athos. Dieser Einsatz wurde von uns in die Wege geleitet, wofür mir die Mönche bei einem Besuch im vergangenen Jahr sehr herzlich gedankt haben. Es gab also eine ganze Reihe von Fällen, in denen wir sehr schnell helfen konnten, aber es ist nicht immer ganz so schwierig, wie im Falle Kuwait.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205721800
Ich teile dem Haus mit, daß der Abgeordnete Jürgen Augustinowitz um schriftliche Beantwortung der von ihm eingebrachten Frage 42 gebeten hat. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Fragen 43 und 44 des Herrn Abgeordneten Gernot Erler, 45 und 46 des Herrn Abgeordneten Albrecht Müller (Pleisweiler), 47 und 48 der Abgeordneten Frau Renate Rennebach und 49 und 50 des Abgeordneten Gansel werden gemäß Nr. 2 Abs. 2 unserer



Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
Richtlinien schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Herr Staatsminister, ich darf mich bei Ihnen bedanken.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft auf. Herr Staatssekretär Dr. Riedl steht uns zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Die Frage 62 der Abgeordneten Frau Stachowa soll auf Wunsch der Fragestellerin schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 63 der Abgeordneten Frau Klemmer auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß bei laufenden WismutSanierungsmaßnahmen aus der sog. Gessentalhalde uranhaltiges Material in die Tagebau-Mulde bei Ronneburg verfrachtet wird, deshalb das Wasser aus der Mulde zur Vermeidung von radioaktiver Belastung des Grundwassers abgepumpt werden muß und diese Maßnahme keineswegs so lange durchgeführt werden kann, wie die Gefahr einer Strahlenbelastung besteht und daß die einzige Möglichkeit zur Vermeidung von Gefahren eine mehrere Meter dicke Abdichtung nach US-Standard wäre, und ist die Bundesregierung bereit, dieses Vorgehen sofort zu stoppen und für langfristig wirksame Sanierungsmaßnahmen zu sorgen?

Dr. Erich Riedl (CSU):
Rede ID: ID1205721900
Herr Präsident! Frau Abgeordnete, die Bundesregierung ist in Kenntnis gesetzt worden. Es ist ihr deshalb bekannt, daß das Material der Laugungshalde Gessental derzeit von der sowjetischdeutschen Aktiengesellschaft Wismut in den Tagebau Lichtenberg transportiert wird. Die Bundesregierung hält diese Maßnahme nicht zuletzt auch auf Grund entsprechender gutachtlicher Stellungnahmen für sinnvoll, da dadurch das Gefährdungspotential, das von dem Haldenmaterial an seinem alten Standort ausgeht, nicht beseitigt, aber verringert werden kann.
Die Fassung und Aufbereitung des Sickerwassers ist unabhängig vom Standort erforderlich und im Tagebau Lichtenberg besser durchführbar als am bisherigen Standort. Eine mehrere Meter dicke Abdichtung zwischen dem abgekippten Haldenmaterial und dem im Tagebau darunterliegenden uranerzhaltigen Gestein wurde von den Gutachtern nicht für erforderlich gehalten.
Die Frage der langfristigen Wirksamkeit verschiedener Sanierungsmaßnahmen und Sanierungsalternativen wird derzeit noch im einzelnen untersucht.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205722000
Zusatzfrage, bitte schön, Frau Abgeordnete Klemmer.

Siegrun Klemmer (SPD):
Rede ID: ID1205722100
Herr Staatssekretär, können Sie mir bitte zunächst sagen, von wem diese Gutachten für die Wismut erstellt worden sind oder ob die Wismut diese Gutachten selber gemacht hat? Dann komme ich auf meine Frage vom 16. Oktober 1991 im Zusammenhang mit der Gesamtkonzeption der Sanierung zurück. Sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß es endlich an der Zeit ist, die betroffene Region, die Gemeinden und die Landratsämter mitreden zu lassen, sie zumindest im Vorfeld zu informieren, wenn sie schon nicht beteiligt werden? Sie haben mir am 16. Oktober geantwortet, daß es auch Ihrem Demokratieverständnis entspricht, daß das Gutachten, das
Ihnen und dem Ministerium von Herrn Töpfer vorliegt, nicht länger unter Verschluß gehalten wird. Wann werden Sie Ihren damaligen Worten endlich Taten folgen lassen?
Dr. Erich Riedl, Parl. Staatssekretär: Frau Abgeordnete, zum zweiten Teil Ihrer Frage muß ich auch heute sagen: Ich stimme Ihnen völlig zu. Ich werde der Geschichte nachgehen, warum das bisher nicht veröffentlich wurde. Ich sehe auch überhaupt keinen Grund, die entsprechenden Bürgergremien, Gemeinderat usw., nicht zu informieren. Ich gehe dieser Geschichte nach. Ich dachte — ich sage Ihnen das ganz offen — , das sei schon erledigt.
Zum ersten Teil Ihrer Frage muß ich auf die Akten bei uns zurückgreifen. Ich sage Ihnen zu: Sie bekommen eine Liste oder ein DIN-A-4-Blatt, auf dem steht, welche Gutachter herangezogen worden sind, von wem sie herangezogen worden sind und wie der Gutachterauftrag lautet.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205722200
Weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete? — Nein.
Dann rufe ich die Frage 64 der Abgeordneten Frau Klemmer auf:
Ist die Bundesregierung in der Lage, eindeutig zu dementieren, daß ein deutsch-französisches Gemeinschaftsunternehmen die Uranproduktion auf dem Wismut-Gelände wieder aufnehmen, d. h. Lagerstätten und Minen ihrer ursprünglichen Bestimmung zuführen will, bzw. kann die Bundesregierung konkrete unmißverständliche Aussagen zum Zweck des in diesem Zusammenhang geplanten deutsch-französischen Unternehmens unter Beteiligung des französischen Atomkonzerns Cogema machen?
Dr. Erich Riedl, Parl. Staatssekretär: Frau Abgeordnete! Herr Präsident! Zum ersten Teil der Frage darf ich antworten: Die Bundesregierung hat dies bereits eindeutig dementiert. Frau Abgeordnete, ich bin gerne bereit, dieses Dementi zu wiederholen. Aber Dementis werden in der Qualität nicht besser, wenn sie multipliziert und wiederholt werden. Es ist falsch, was hier behauptet worden ist.
Über das Zustandekommen dieser Falschmeldung über eine Wiederaufnahme der Uranproduktion liegen keine belastbaren Erkenntnisse vor. Möglicherweise handelt es sich um einen Übersetzungsfehler bei einem Interview eines Vertreters der franzöischen Firma Cogema. Das ist die einzige Erklärung, die wir haben.
Was falsch ist, ist falsch. „Falsch" kann man auch nicht steigern, wie Sie wissen. Ich kann nur immer wiederholen: Falsch ist eines der wenigen Adjektive, die man nicht steigern kann.

(Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink [FDP]: „Weiß" geht auch nicht!)

— Weiß, gnädige Frau, geht auch nicht. Aber hübsch, wie in Ihrem Fall, ginge.
Der zweite Teil der Frage bezieht sich auf den Gesellschaftszweck des deutsch-französischen Unternehmens. Es handelt sich um die Gesellschaft für Dekontaminierung, Sanierung und Rekultivierung GmbH DSR, an dem Cogema, Interuran und Wismut zu je einem Drittel beteiligt sind. Die Gesellschaft wurde im Januar 1991 gegründet und hat das Ziel, die



Parl. Staatssekretär Dr. Erich Riedl
Planung und Durchführung von Sanierungsarbeiten bei Bergbaualtlasten sowie Erzaufbereitungsaltlasten im In- und Ausland zu übernehmen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205722300
Zusatzfrage, bitte schön, Frau Klemmer.

Siegrun Klemmer (SPD):
Rede ID: ID1205722400
Herr Staatssekretär, leider ist bei dem Thema, mit dem wir uns hier beschäftigten müssen, so wenig weiß und noch viel weniger hübsch. Können Sie etwas genauer definieren, was die Aufgabe dieser Gesellschaft ist, ob zumindest das Drittel Anteil, das die Wismut in diese Gesellschaft eingebracht hat, der regelmäßigen Kontrolle Ihres Ministeriums unterliegt und ob der Zweck, den diese Gesellschaft verfolgt, im Auftrag Ihres Ministeriums verfolgt wird?
Dr. Erich Riedl, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident! Frau Abgeordnete, das letzte kann ich mit Ja beantworten, soweit ich weiß. Die Frage nach dem Gesellschaftszweck will ich Ihnen dadurch beantworten, daß ich Ihnen den Gesellschaftsvertrag zuleite.
Was die Rechts- und Fachaufsicht anbetrifft, Frau Abgeordnete — entschuldigen Sie, daß ich es so sage — : Sie können sich bei deutschen Ministerien darauf verlassen, daß sie die ausüben.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205722500
Keine weiteren Zusatzfragen.
Der Abgeordnete Stiegler hat gebeten, die Frage 65 schriftlich zu beantworten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Fragen 66 und 67 des Abgeordneten Markus Meckel werden nach Nr. 2 Abs. 2 unserer Richtlinien ebenso schriftlich beantwortet wie die Fragen 68 und 69 des Abgeordneten Dr. Jens. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit sind wir am Ende der Fragestunde. Herr Staatssekretär, ich möchte mich aber noch bei Ihnen für die Beantwortung der Fragen bedanken, bevor Sie das Haus verlassen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft (21. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Berufsbildungsbericht 1991
— Drucksachen 12/348, 12/1562 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Engelbert Nelle Günter Rixe
Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft (21. Ausschuß) zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Aktionsprogramm zur Sicherung der beruflichen Bildung in den neuen Ländern
— Drucksachen 12/416, 12/982 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Rainer Jork Günter Rixe
Dirk Hansen
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Ich möchte zunächst die Zustimmung des Hauses einholen, daß der Vorschlag des Ältestenrates, eine Debattenzeit von einer Stunde festzulegen, akzeptiert wird. — Das ist offensichtlich der Fall.
Dann kann ich die Aussprache eröffnen, Zunächst erteile ich dem Abgeordneten Engelbert Nelle das Wort.

Engelbert Nelle (CDU):
Rede ID: ID1205722600
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei der Einbringung des Berufsbildungsberichtes 1991 habe ich hier im Parlament auf das Ergebnis einer Emnid-Umfrage verwiesen und ausgeführt, daß 14 % der jungen Menschen eines Jahrgangs heute ohne Ausbildungsabschluß sind. Im einzelnen hat sich bei dieser Umfrage folgendes Bild ergeben: Die Zahl der Mädchen und Jungen ohne Berufsabschluß ist gleich groß. Die Hälfte hat überhaupt keine Berufsausbildung angestrebt und wollte, so die Umfrage, sofort nach Schulabgang jobben. Ein Viertel hat einen Ausbildungsplatz im gewünschten Ausbildungsberuf nicht erhalten und darum eine andere Ausbildung nicht angestrebt. Ein letztes Viertel hat die Berufsausbildung abgebrochen oder die Prüfung nicht bestanden.
Zur gleichen Zeit erfahren wir täglich von einem großen Facharbeitermangel in der Wirtschaft, der sich vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung eher vergrößern als verringern wird. Wir dürfen also nicht tatenlos zusehen, wie in einem volkswirtschaftlich so wichtigen Bereich die Schere zwischen Angebot und Nachfrage bei Ausbildungsplätzen immer weiter auseinandergeht. Nach einer Mitteilung des BMBW gab es in den neuen Ländern zum 30. September noch 6608 offene Stellen und, man höre und staune, in den alten Ländern 128 534 offene Stellen.
Über drei Schlüssel für eine Nachwuchssicherung will ich nunmehr einige Ausführungen machen.
Erstens. Wir müssen über bessere und neue Wege und Möglichkeiten der Berufsfindung entsprechend der Begabung des einzelnen nachdenken. Im einzelnen fordern wir: Verbesserung der Berufsberatung bei den Arbeitsämtern.

(Doris Odendahl [SPD]: Das ist richtig!)

Vielleicht könnten wir einmal im Ausschuß eine Debatte darüber führen, vor allen Dingen auch mit den Beteiligten der Bundesanstalt für Arbeit.

(Doris Odendahl [SPD]: Gute Idee!)

Wir fordern für Schulabgänger mehr Praktika in Betrieben der Wirtschaft und in der Verwaltung, bessere und vor allen Dingen lesbare Informationen über Berufsinhalte für Eltern und Lehrer, Eignungstests mit künftigen Berufsanfängern zur Feststellung vorhandener Begabungsfelder. Und wir fordern auch die Einrichtung von Lehrstellenmärkten. Hier sind vor allem die Kammern gefragt.
Mit Hinblick auf die Länder erlaube ich mir die Frage: Warum sollte nicht die Hauptschule mit berufs-



Engelbert Nelle
vorbereitenden Inhalten belegt werden? Jedenfalls kann man darüber nachdenken und so die Hauptschule aus der stiefmütterlichen Ecke, in der sie ist, herausholen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ein zweiter Schlüssel ist die Differenzierung der beruflichen Bildung. Die Qualität eines Ausbildungssystems wird auch daran gemessen, welche Möglichkeiten es beispielsweise für schwächere bietet. Jungen und Mädchen, die trotz aller Hilfen an den Mindestanforderungen herkömmlicher Ausbildungsberufe scheitern, müßten leistungsgerechte Qualifikationsangebote erhalten. Dabei ist an neue, auf diesen Personenkreis zugeschnittene Ausbildungsberufe zu denken, die stärker praktisch ausgerichtet sind und möglicherweise — darüber ist natürlich noch zu diskutieren — auch nur mit einem praktischen Ausbildungsabschluß enden.
In diesem Zusammenhang erinnere ich auch an die mit Erfolg praktizierte Förderung benachteiligter Jugendlicher nach § 40 c des Ausbildungsförderungsgesetzes. Herr Staatssekretär, in der gestrigen Presseerklärung Ihres Ministeriums ist ja sehr eindrucksvoll von 55 000 Jugendlichen die Rede, die in diesem Jahr so gefördert werden.
Der dritte Schlüssel zur Nachwuchssicherung ist die Steigerung der Attraktivität beruflicher Bildung. Solange die berufliche Ausbildung bei vielen Jugendlichen und Eltern als zu wenig chancenreich gilt, werden wir eine Sicherung des Fachkräftenachwuchses nur schwer erreichen können. Wir verfügen zwar über ein ausgereiftes Instrumentarium, wirtschaftsstrukturelle, technische und auch ökologische Veränderungen, aber auch pädagogisch-didaktische Neuerungen in die Berufsausbildung einzubringen. Damit gehört unsere Ausbildung zweifelsohne zu den modernsten der Welt. Trotzdem mangelt es der dualen Ausbildung an Attraktivität gegenüber anderen Bildungswegen, weil gleichwertige Optionen für den weiteren Bildungsweg fehlen. Vor allem muß die Gleichwertigkeit der Abschlüsse tatsächlich sichergestellt werden, und es müssen weitere Karrieremöglichkeiten im Berufsleben für dual ausgebildete Fachkräfte eröffnet werden. Wir drängen die Jugendlichen sonst verstärkt in schulische Bildungswege, weil diese vermeintlich mehr bieten als die Berufsausbildung. Dies muß sich rasch ändern. Mit der jetzt beginnenden Begabtenförderung in der beruflichen Bildung ist ein erster Schritt zu mehr Chancengleichheit und Gleichwertigkeit getan.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Weitere Schritte müssen folgen. Wir betonen eben nicht nur in Sonntagsreden die Gleichwertigkeit allgemeiner und beruflicher Bildung, sondern wir handeln auch. Darum begrüßen wir, Herr Staatssekretär, den gelungenen Start der in diesem Jahr ins Leben gerufenen Begabtenförderung in der Berufsausbildung. Mit nahezu 3 000 Stipendiaten sind die finanziellen Möglichkeiten in diesem Jahr fast ausgeschöpft. Im kommenden Haushaltsjahr steht uns der doppelte Betrag, nämlich 20 Millionen DM, zur Verfügung. Damit kann 1 % eines Jahrgangs gefördert werden — viel zuwenig, wie wir meinen. Darum müssen wir in
den nächsten Jahren eine weitere Steigerung anstreben. Mittelfristig muß ein ähnliches Finanzvolumen erreicht werden wie bei der Begabtenförderung für Studenten und Nachwuchswissenschaftler. Ich glaube, in diesem Jahr sind das in unserem Haushalt 110 Millionen DM.
Ich möchte noch ein paar Sätze zum europäischen Binnenmarkt und zur Weiterbildung sagen. Es muß auf Grund meiner begrenzten Redezeit bei dem Appell auch und vor allem an die Wirtschaft bleiben, die Weiterbildung von sich aus noch stärker in den Vordergrund zu stellen als bisher. Wenn ich von Weiterbildung spreche, will ich wenigstens daran erinnern, daß uns Weiterbildung und Fortbildung von Lehrern an berufsbildenden Schulen sowie die Fortbildung des gesamten Ausbildungspersonals der Betriebe ein Anliegen ist, denn ohne eine hohe Qualifikation der Ausbilder und Lehrer stellen wir auch die duale Ausbildung in Frage.
Ich möchte kurz noch etwas zu den überbetrieblichen Ausbildungsstätten sagen. Herr Staatssekretär, ich wünsche mir eher für morgen als für übermorgen, daß die Flächendeckung, die wir in den alten Ländern haben, auch in den neuen Ländern vorhanden ist. Wir haben bei dem Besuch einer überbetrieblichen Ausbildungsstätte in Halle an der Saale gehört, wie wichtig diese betriebsbegleitende Ausbildung in den überbetrieblichen Ausbildungsstätten ist. Ich möchte Sie bitten, daß wir auch in den nächsten Jahren immer wieder Mittel einsetzen, um sowohl in den neuen als auch in den alten Bundesländern diese überbetrieblichen Ausbildungsstätten stets auf dem modernsten, auf dem neuesten Stand zu halten, vor allem was die Maschinen angeht.
Ich komme zum Schluß. „Wissenschaftsraum Bonn" — so lautete die Überschrift über einem Pressebericht Ihres Ministeriums, Herr Staatssekretär, vom 17. Oktober 1991. Wir begrüßen diese Initiative des Bildungs- und des Forschungsministers. Diese Initiative ist auch in meiner Arbeitsgruppe der CDU/CSU-Fraktion beraten worden. Es geht darum, Bonn als Ausgleich für den verlorenen Regierungs- und Parlamentssitz als Verwaltungs-, Wissenschafts-, Forschungs- und Bildungszentrum auszubauen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Günter Rixe [SPD])

Notwendig wären dabei natürlich ein Verbleib der beiden Ministerien für Bildung und Wissenschaft bzw. Forschung und Technologie in Bonn, der mögliche Ausbau und die Ergänzung der vorhandenen Universität durch eine TU sowie die Gründung von Fachhochschulen, aber auch der Zuzug von wissenschaftlichen und Forschungseinrichtungen aus anderen Regionen der Bundesrepublik nach Bonn.
Ich fordere für meine Arbeitsgruppe, für die Arbeitsgruppe Bildung und Wissenschaft der CDU/CSU, daß Bonn auch zum Zentrum, zum Schwerpunkt der Berufsbildung in Deutschland wird. Die konsequente Folge wäre dann

(Zuruf von der SPD: Nürnberg nach Bonn! — Weitere Zurufe von der SPD)




Engelbert Nelle
— geahnt, kann ich nur sagen — , daß auch das Bundesinstitut für Berufsbildung von Berlin nach Bonn verlegt würde.

(Beifall bei der CDU/CSU — Günter Rixe [SPD]: Sie sollten mal Nürnberg hierher holen!)

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und bitte Sie, der Beschlußempfehlung nachher zuzustimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205722700
Das Wort hat der Abgeordnete Rixe.

Günter Rixe (SPD):
Rede ID: ID1205722800
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Berufsbildungsbericht wird den Vorgaben des Berufsbildungsgesetzes nicht gerecht. Er sollte darauf angelegt sein, die Einheit in der beruflichen Bildung für die Bundesrepublik darzustellen. Allein die optische Darstellung und die Trennung in alte und neue Länder widersprechen diesem Gebot. Dabei verhehle ich nicht, daß die besondere Zeit des Übergangs in den neuen Ländern besondere Maßnahmen erfordert, allerdings nicht auf Dauer.
Wenn davon gesprochen wird — ich zitiere den Berufsbildungsbericht — , „die notwendigen berufsbildungspolitischen Beiträge zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erneuerung in den neuen Bundesländern" erreichen zu wollen, dann hört sich das so an, als ob für die neuen Länder etwas ganz anderes geschaffen werden soll als das, was den Bestimmungen des Berufsbildungsförderungsgesetzes entspricht.
Es besteht die Gefahr, daß diese Länder immer eine Region für sich bleiben werden, wenn die Weichen jetzt nicht entsprechend gestellt werden. Hierfür fehlen aber im Bericht die Konzepte. Das ist im übrigen, meine Damen und Herren, eine der gravierendsten Schwächen dieses Berufsbildungsberichtes, so daß ich anrege, ihn hier so nicht zur Kenntnis zu nehmen, wie wir es eigentlich vorhatten.
Für den Aufbau und die Schwerpunkte des Berufsbildungsberichtes 1992 hat die SPD im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft detaillierte Vorschläge gemacht.
Der Berufsbildungsbericht beschreibt die Situation in Ost und West teilweise sehr ausführlich. Er zieht daraus aber keine Konsequenzen — und wenn, dann sind es die falschen.
Ich will Ihnen einige Beispiele nennen.
Erstens. In den neuen Ländern wird in altbekannter Weise an die Verantwortung der Wirtschaft appelliert. Dies ist von der Systematik in der beruflichen Ausbildung her zwar richtig, doch unterstellt dies eine funktionierende Wirtschaft in den fünf neuen Ländern. Aber wir wissen, wie sie aussieht.
Zweitens. Die Fördermaßnahme mit 5 000 DM für das erste Ausbildungsjahr für alle Betriebe mit weniger als 20 Beschäftigten steht demzufolge gar nicht im Berufsbildungsbericht, obwohl sie ein Ansatzpunkt für staatliche „subsidiäre" Maßnahmen ist. Leider ist die „Lehrstellenhilfe" viel zu schwach geraten; das ist
also wieder zu kurz gesprungen. Das zeigen die nur knapp 10 000 Anträge. — Ich habe mir sagen lassen, daß es mittlerweile 12 000 sein sollen. — Hier wäre eine umfangreichere Unterstützung, wie von uns vorgeschlagen, sicher besser angekommen.
Die SPD hat Ihnen heute einen Antrag zur Beschlußfassung vorgelegt, einen Antrag, wonach die Ausbildung in allen Betrieben, soweit ihre Ausbildungsquote 5 % übersteigt, durch Übernahme von Ausbildungskosten, u. a. aus Bundesmitteln für 1992/ 1993, während der gesamten Ausbildungsdauer gefördert werden soll.
Drittens. Hinsichtlich der Frage der Qualität der Ausbildungsplätze in den neuen Ländern und der damit zusammenhängenden Handlungsfelder erfährt man aus dem Berufsbildungsbericht nichts, außer Allgemeinheiten. Statt dessen wird immer wieder auf eine gesunde, marktorientierte Wirtschaftsstruktur abgestellt. Fördermaßnahmen für die Wirtschaft stehen im Vordergrund. Die Förderung der gesamten Berufsbildung unter Einschluß der Berufsschulen findet nicht das Interesse des Berichts.
Viertens. Auch perspektivisch bleibt der Berufsbildungsbericht hinsichtlich der neuen Länder hinter dem zurück, was man erwarten konnte. Er schweigt zu den Tendenzen, die absehbar waren. Ich darf wieder zitieren:
Im außerbetrieblichen Bereich wird sich der Bund mit seinen Fördermaßnahmen darauf konzentrieren, vorhandene Kapazitäten in der Übergangsphase zu erhalten und nutzbar zu machen.
Solche Formulierungen helfen nicht bei der Frage, wie die Ausbildungsangebote künftig verteilt sein sollen.
Fünftens. Bei rund 40 % außerbetrieblicher Ausbildung ist das ja wohl ein Mißverhältnis zu dem auch von der Bundesregierung bekräftigten Vorrang der betrieblichen Ausbildung. Dieses kann man für einen Übergang akzeptieren. Das tun wir auch, und wir werden dies auch unterstützen. Wir haben eben von Herrn Nelle gehört, die Zahl steigt. Wir sind schon bei 55 000 in den fünf neuen Ländern.
Aber die Bundesregierung muß doch deutlich sagen, wie sie langfristig, auch in den neuen Ländern, eine Quote der außerbetrieblichen Ausbildung von 5 % erreichen will. Anderenfalls besteht die Gefahr, daß sich erstens viele Betriebe völlig aus der Berufsausbildung verabschieden, zweitens schafft das auch Folgekosten und Folgeansprüche — wir haben in der Aktuellen Stunde darüber gesprochen — , wenn diese Ausbildungseinrichtungen erst einmal etabliert sind — das ist ja mein Problem — , und drittens muß die Qualität der außerbetrieblichen Ausbildung gesichert werden. Dies betrifft auch die Berufe, in denen dort ausgebildet werden soll.
Zu der Frage, wie der Bund im nächsten und übernächsten Jahr neue Ausbildungsplätze schaffen will, schweigt der Bericht ganz. Alle jetzigen Plätze sind ja wohl besetzt und durch die jetzt längeren Ausbildungszeiten auf Grund der dreieinhalbjährigen Ausbildung werden auch andere Plätze nicht so schnell wieder frei. Hier müßten wir eigentlich jetzt — und



Günter Rixe
das hätte die Regierung in dem Bericht machen müssen — Konzepte aufschreiben.
So wie im Berufsbildungsbericht für die neuen Länder die Perspektiven fehlen oder nicht detailliert genug aufgezeigt wird, wie an den Stand der beruflichen Ausbildung in den alten Bundesländern angeknüpft werden soll, so fehlen für die Jugendlichen aus den Ländern der alten Bundesrepublik auch jetzt wieder einmal die Perspektiven — wie schon in vorherigen Berufsbildungsberichten. Herr Nelle hat eben davon gesprochen, daß es eine große Zahl von freien Ausbildungsplätzen in dieser Bundesrepublik gibt. Aber, ich komme jetzt zu dem — und Sie, Herr Nelle, haben auch die EMNID-Umfrage angesprochen: Wir haben nach dieser EMNID-Umfrage 45 000 jugendliche Langzeitarbeitslose in den alten Ländern. Das sind 14 %. Da müßten wir ansetzen. In der ganzen Zeit von 1960 bis 1969 sind das nach dem Mikrozensus ca. 1,5 Millionen. Auch die können wir nicht im Regen stehen lassen.
Das ist natürlich auch die Quittung für die Probleme der nicht ausgebildeten Jugendlichen in den 70er und 80er Jahren. Wir haben in jedem Bericht darauf hingewiesen, daß sich auch die westdeutsche Wirtschaft aus der Berufsausbildung ziemlich zurückgezogen hat. Es geht aber um jeden Menschen, und deswegen ist es wichtig, daß wir uns auch die 1,5 Millionen in den alten Ländern einmal vornehmen und im Ausschuß einmal darüber diskutieren, was man eigentlich langfristig machen kann. Einfache Ausbildung finden wir natürlich im Berufsbildungsbericht wieder, wie gestern im Ausschuß, bei der die praxisorientierte Ausbildung von zwei Jahren vorangetrieben werden soll. Ich selber und auch meine Fraktion lehnen dies ab, weil wir nicht wissen, ob eine nur praktische Ausbildung von zwei Jahren — die Theorie lassen wir ein bißchen am Rande — ausreicht, damit die so ausgebildeten jungen Leute in dieser Computergesellschaft auch im Jahre 1998 oder 1996 immer einen Arbeitsplatz finden. Ich habe meine Befürchtung. Wenn man dann wieder an die Umfrage des EMNID-Instituts erinnert — und Herr Staatssekretär, Sie oder Ihr Ministerium hat die Umfrage ja in Auftrag gegeben — wollen ja 60 % dieser Jugendlichen diese Ausbildung von zwei Jahren nicht. Deswegen werden sie sie auch nicht anfangen. Das ist mein Problem.
Zum Schluß — ich habe noch etwas Zeit — zu den Frauen im Berufsbildungsbericht. Bezüglich der Vermittlungschancen der jungen Frauen spricht der Bericht davon, daß sie annähernd die gleichen Chancen wie die jungen Männer haben. Dieses gilt aber doch nur für den statistischen Durchschnitt. Im konkreten Fall trifft das häufig nicht zu. Der Bericht selbst weist auf den Seiten 10 und 11 auf die bestehenden, z. T. gravierenden Ungleichbehandlungen hin. Er beläßt es aber bei den Handlungsmöglichkeiten dabei, lediglich Informationskampagnen zur Erweiterung des Berufsspektrums und Möglichkeiten des Ausbaus der beruflichen Weiterbildung für Frauen zu beschreiben. Warum eigentlich an diesem Punkt nicht konkreter?
Seit unserer Debatte am 13. Juni haben Sie diesen Feststellungen nichts hinzugefügt. Das halte ich für schwach, und für mich wird dadurch deutlich, wie
wenig ernst Sie es mit der Frage der Ausbildung junger Frauen nehmen.
Letzter Punkt: Eine weitere im Bericht nicht beantwortete Frage ist: Welche Rolle wird der Lernort „Berufsschule" im geeinten Deutschland angesichts der künftigen Herausforderungen an eine qualifzierte Berufsausbildung einnehmen? Die heute schon problematische, z. T. alarmierende materielle und personelle Ausstattung der Berufsschulen greift der Bericht gar nicht auf. Er verschweigt sie. Das Thema Berufsschule wird nur im Zusammenhang mit dem Aufbau des dualen Systems in den neuen Ländern behandelt.

(Engelbert Nelle [CDU/CSU]: Das ist ja auch geklärt!)

— Natürlich ist das geklärt; aber, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, das Problem der Berufsschulen in den fünf neuen Ländern müssen auch wir hier im Ausschuß diskutieren. Wir können nicht nur einfach sagen, daß es im dualen System Aufgabe der Länder ist, wenn wir wissen, daß auch das Programm Aufschwung Ost für die neuen Länder an diesem Punkt in den Kommunen, wenn man in die Städte hineingeht, nicht ausreicht.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

Es hat ja mal in diesem Bundestag einen Beschluß gegeben. Das habe ich mir sagen lassen. Da war ich noch gar nicht hier. Damals hat der Bund in der reichen westdeutschen Bundesrepublik auch ein Programm für die Berufsschulen in den alten Ländern aufgelegt. Das ist doch nun wichtig, und da können wir nicht einfach nur über Aufschwung Ost reden. Die Berufsschule ist ein großes Problem. Natürlich müssen wir mit den Ländern über das Fachklassenprinzip, über eine moderne Ausstattung reden. Alles das muß natürlich besprochen werden.
Als Letztes — die Uhr leuchtet zwar nicht schon rot, aber gelb — nun etwas, was Herr Nelle auch schon angesprochen hat. Wir sollten uns nämlich — dies ist im Berufsbildungsbericht zwar benannt, aber nicht ausgewogen — überlegen, wie wir denn nun endlich die Forderung nach Gleichberechtigung von allgemeiner Bildung und beruflicher Bildung umsetzen. Ich denke, das ist ein wichtiger Punkt für die nächste Zeit. Damit will ich enden.
Danke schön.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205722900
Das Wort hat der Abgeordnete Keller.

Dr. Dietmar Keller (PDS/LL):
Rede ID: ID1205723000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wegen der verwirrenden Vielfalt der Drucksachen, auf die dieser Tagesordnungspunkt Bezug nimmt, will ich mich der Einfachheit halber nur zu dem mir gestern zugegangenen Änderungsantrag der SPD äußern und auch da nur zum ersten Punkt.
Den 282 000 zu Fragen ihrer beruflichen Ausbildung bei den ostdeutschen Arbeitsämtern um Rat



Dr. Dietmar Keller
Nachsuchenden, von denen dann, auf welche Weise auch immer, 146 000 Lehrstellenbewerber übrig blieben, konnten lediglich 62 800 betriebliche Ausbildungsplätze angeboten werden. Das heißt, daß noch nicht einmal jeder zweite Bewerber einen betrieblichen Ausbildungsplatz bekommen konnte. Während die Priorität der betrieblichen Ausbildung als politisches Ziel verkündet wird, ist die Praxis der Förderung durch die Bundesregierung gegenüber der Förderung in den alten Bundesländern nicht nur zweitklassig. Ich möchte das beweisen.
Auf der Ruhrgebietskonferenz am 24. Februar 1988 ging die Bundesregierung davon aus, daß — ich zitiere — :
für eine Region wie das Ruhrgebiet, die von tiefgreifenden strukturellen Veränderungen der Wirtschaft geprägt ist, Bildung und Ausbildung entscheidende Investitionen für die Zukunft sind. Den jungen Menschen müssen Zukunftsperspektiven gesichert werden. Gleichzeitig muß der Fachkräftenachwuchs gesichert werden, den die Region benötigt, um die anstehenden großen Zukunftsaufgaben lösen zu können.
Nun hört man solche Worte auch in bezug auf Ostdeutschland; aber die Taten unterscheiden sich. Im Sonderprogramm für das Ruhrgebiet stellte die Bundesregierung von 1989 bis 1994 75 Millionen DM für die laufenden Kosten von etwa 1 800 Ausbildungsverhältnissen in drei Jahrgängen mit abnehmender Teilnehmerzahl zur Verfügung. Selbst wenn man die uns unbekannte Abnahme der Teilnehmerzahl außer acht läßt, bleiben stolze 41 676 DM pro Ausbildungsverhältnis, davon immerhin 27 000 DM pro Lehrling an Ausbildungsvergütung.
In der DDR standen pro Ausbildungsjahr etwa 180 000 betriebliche Ausbildungsplätze zur Verfügung. Angeboten wurden bis zum Beginn des Lehrjahres 1991/92, wie gesagt, 62 800 betriebliche Plätze. Im wesentlichen aus dieser Differenz errechnet sich bei Übertragung des Ruhrgebietsansatzes von 41 667 DM pro Platz ein rechnerischer Finanzbedarf von ca. 5 Milliarden DM für den Erhalt einer bedarfsdeckenden betrieblichen Ausbildung im Osten Deutschlands. Hinzu kommt der Mehrbedarf an Ausbildungsplätzen durch die Verlängerung der Ausbildungszeiten und die Verkürzung der Schulpflicht von zehn auf neun Jahre in einigen der neuen Bundesländer.
Während die Bundesregierung also gern von der Schaffung gleicher Bildungsverhältnisse redet, war ihr in der Tat der Erhalt von 1 800 Ausbildungsverhältnissen im Ruhrgebiet 75 Millionen DM, von reichlich 100 000 Plätzen im Osten in einer völlig ähnlichen Situation statt der vergleichbaren 5 Milliarden DM keinen Pfennig wert.
Nachdem man diese mathematisch errechneten Milliardenbeträge gewissermaßen eingespart hatte, wurde von der Bundesregierung das 250-MillionenProgramm für die Schaffung von 50 000 zusätzlichen Ausbildungsplätzen in Betrieben mit weniger als 20 Arbeitnehmern aufgelegt, also eine Förderung eines Ausbildungsplatzes mit 5 000 DM, weniger als ein Achtel der Ruhrgebietsförderung. Kein Wunder,
daß diese knauserige Förderung erst für 12 000 Plätze beantragt wurde. Auch das wäre nicht in dieser Höhe geschehen, wenn die neuen Bundesländer auf diese Förderung nicht noch kräftig draufgesattelt und die unsinnige Beschränkung der Bundesförderung auf Betriebe mit unter 20 Beschäftigten bei der Landesförderung nicht ignoriert hätten.
Die SPD schlägt in Punkt 1 ihres Änderungsantrags eine Förderung betrieblicher Ausbildungsplätze durch Übernahme der Ausbildungslast nach Erreichung einer Ausbildungsquote von 5 % vor. Das halte ich für einen bemerkenswerten Fortschritt gegenüber ihrem Aktionsprogramm vom April dieses Jahres, als sie die Förderung noch auf 5 000 DM je Ausbildungsjahr oder vergleichsweise auf 36 % der Ruhrgebietsförderung limitierte.
Da die Koalitionsfraktionen jedoch laut Beschlußempfehlung und Bericht auf Drucksache 12/982 noch nicht einmal der im SPD-Aktionsprogramm vorgesehenen Förderung der betrieblichen Ausbildung zustimmen wollten, sollten sie auch den Mut aufbringen, den ostdeutschen Jugendlichen zu sagen, daß für sie schon 36 % einer vergleichbaren westdeutschen Ausbildungsförderung zuviel des Guten wäre.
Die von der SPD vorgeschlagene Förderung der betrieblichen Ausbildung ist auch wegen der gegenwärtigen Förderung der außerbetrieblichen Ausbildung nach § 40 c des Ausbildungsförderungsgesetzes dringend notwendig; denn die Priorität der betrieblichen Ausbildung wird so lange frommer Wunsch bleiben, solange für deren Förderung weniger getan wird als für die außerbetriebliche Ausbildung.
Ich kann deshalb der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft, die durch die Koalitionsmehrheit zustande gekommen ist, nicht zustimmen. Ich werde dem Antrag der SPD zustimmen, da er in einer Reihe von Punkten entgegen der Regierungspolitik in die richtige Richtung weist.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205723100
Nun erteile ich der Abgeordneten Frau Funke-Schmitt-Rink das Wort.

Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink (FDP):
Rede ID: ID1205723200
Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! Die Bilanz der Ausbildungssituation 1991 in den neuen Bundesländern weist auf eine erfolgreiche Politik. Es ist gelungen, den insgesamt rund 145 700 bei den Arbeitsämtern gemeldeten Jugendlichen eine Lehrstelle zu vermitteln.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Mitte Oktober standen rund 6 600 unbesetzten Stellen nur noch 2 000 Jugendliche ohne Ausbildungsplatz gegenüber. Dieses hervorragende Ergebnis ist durch die gemeinsamen Anstrengungen der Betriebe, der Wirtschaft und der Verwaltung in den neuen und alten Bundesländern, die Ausbildungsangebote öffentlicher Stellen und konkrete Maßnahmen der Bundes-



Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink
regierung — siehe Ausbildungskampagne Ost — zustande gekommen.

(Zuruf von der SPD: Vor allem durch den Druck der SPD!)

Wir dürfen freilich nicht die Augen vor den großen Problemen des unausgewogenen und gespaltenen Ausbildungsmarktes im Osten und Westen verschließen. Es gilt, Lehren zu ziehen und schon jetzt die Weichen für die nächsten Jahre richtig zu stellen. Das will ich an sechs Punkten deutlich machen; fünf Punkte beziehen sich auf die neuen Bundesländer, der sechste auf ganz Deutschland.
Erstens. Eine Sonderauswertung des Berufsbildungsinstituts der zehn Berufsgruppen mit dem jeweils höchsten Nachfrageüberhang, d. h. mit Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz, und mit dem höchsten Angebotsüberhang, d. h. unbesetzten Ausbildungsplätzen, ergab, daß es in ausgesprochen boomenden Wirtschaftsbereichen, z. B. in den Bau- und Gesundheitsberufen und bei den Waren- und Dienstleistungskaufleuten, zu wenige Ausbildungsplätze im Vergleich zur Bewerberzahl gab. Andererseits gab es zu wenige Bewerber und Bewerberinnen um Lehrstellen in zukunftsorientierten Berufen wie Chemie-, Fach-, Elektriker- und Metallberufen. Daraus folgt: In den attraktiven Berufen muß für mehr Ausbildungsplätze geworben, die Jugendlichen müssen aber auch flexibler und besser beraten werden.

(Zuruf von der FDP: Richtig!)

Zweitens. Keine dauerhafte Lösung stellt die hohe Zahl der außerbetrieblichen Ausbildungsplätze 1991 dar, ca. 38 000, d. h. 35 % aller Lehrlinge. Hier sind die Mädchen überproportional vertreten. Es ist zu befürchten, daß am Markt vorbei ausgebildet wird und daß die Ausbildungsverhältnisse nicht zu festen Arbeitsverhältnissen werden. Das Handwerk, das im Westen etwa ein Drittel aller Lehrstellen stellt, fällt fast völlig aus mit nur 8 000 Lehrstellen.

(Günter Rixe [SPD]: So ist es!)

Wir haben die dringende Aufgabe, eine mittelständische Wirtschafts- und Ausbildungsstruktur zu entwickeln. Da sind Sie doch ganz meiner Meinung, nicht?

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Günter Rixe [SPD]: Natürlich! Vollkommen richtig!)

Im übrigen gilt regional übergreifend immer noch, daß die Auszubildenden strukturell wie inhaltlich noch nicht mit Qualifikationen ausgestattet werden, die den Herausforderungen einer modernen Dienstleistungsgesellschaft entsprechen.
Drittens. Ein weiteres Problem ist die Tatsache, daß ein Großteil der Auszubildenden nicht den Wunschberuf realisieren kann. Dies gilt wieder besonders für Mädchen, die oft entgegen ihren Wünschen nur einen Ausbildungsplatz in einem typischen Frauenberuf bekommen haben und sich so in einer beruflichen Sackgasse befinden — Sackgassenberuf.
Viertens. Das größte Problem stellt nach wie vor die personelle und sächliche Ausstattung der rund 700 Berufsschulen dar. Geht die Abwicklung der Lehrer und Lehrerinnen nicht schneller, wird die Fort- und Weiterbildung der Lehrer nicht stärker unterstützt — z. B. von den alten Bundesländern durch Abordnung von Lehrern und Lehrerinnen — und wird nicht sehr schnell und unbürokratisch die Modernisierung der Schulen eingeleitet — z. B. durch die 5 Milliarden DM aus dem Gemeinschaftswerk Ost an die Kommunen — , kommt es 1992 im Osten womöglich zu einer Berufsbildungskatastrophe und einer Welle von Ausbildungsflüchtlingen in den Westen.
Fünftens. Die Mittelzuweisung ist extrem einseitig. Während die Berufsförderungswerke im Geld schwimmen, kann in den Berufsschulen wegen fehlender Mittel und mangels weiter qualifizierter Lehrer und Lehrerinnen kein angemessener Unterricht gegeben werden.

(Zuruf von der FDP: Sehr richtig!)

Vergessen wir nicht: 75 % aller Jugendlichen zwischen 17 und 19 Jahren besuchen eine berufliche Schule. Deshalb müssen in den Haushalten des Bundes und der Länder hier die Prioritäten endlich zugunsten der Berufsbildung und Ausbildung geändert werden.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Sechstens. Mein letzter Punkt weist auf das Kernproblem der Bildungspolitik der 90er Jahre hin, nämlich die Weiterbildung des dualen Systems in Richtung auf Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung. Die Bildungsreform der 70er Jahre — meine Herren, meine Damen, Sie erinnern sich noch — hatte vor allem das Postulat der Chancengleichheit und die soziale Öffnung des Bildungswesens zum Ziel. Mehr höhere Bildung galt zugleich als Bürgerrecht und als Erfordernis des Beschäftigungssystems. Sehr richtig. Nur, die Bildungspolitik der 90er Jahre muß neue Antworten geben. Um es holzschnittartig zu formulieren: Die Bildungspolitik der 90er Jahre muß die soziale Integration der Jugendlichen über eine bildungsadäquate Beschäftigung im Beruf gewährleisten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir Liberalen begrüßen ausdrücklich die Zielsetzung der Regierung, die berufliche Bildung als gleichwertigen Teil des Bildungswesens auszubauen. Ein Schritt in die richtige Richtung ist das Programm der beruflichen Begabtenförderung, das in diesem Jahr begonnen wurde.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Lachen bei der SPD — Günter Rixe [SPD]: Jetzt haben Sie aber wieder einen Schritt zurück getan! — Doris Odendahl [SPD]: Das ist doch kein Schritt, Frau Kollegin!)

— Hören Sie doch erst einmal zu, was ich jetzt sage.
Aber eine solche Bildungspolitik muß schon in der Sekundarstufe II anfangen. Es wird höchste Zeit, die beruflichen Schulen wieder als das zu konzipieren, was sie eigentlich sein sollen, nämlich die Oberstufen aller Schulformen neben dem Gymnasium,

(Beifall bei der SPD)




Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink
und sie genauso wie diese Schulform zu fördern und auszustatten. Die räumliche Trennung von der allgemeinbildenden Mittelstufe und die Separierung der Kollegien müssen abgebaut werden.
Ziele sind erstens, die duale Ausbildung zum gleichwertigen Bildungsgang der Sekundarstufe II zu machen, und zweitens, weiterhin die berufliche Fort- und Weiterbildung im Sinn der Höherqualifizierung auszubauen.
Diese Forderung nach Gleichwertigkeit drückt sich in den Sorgen der Wirtschaft um einen ausreichenden Fachkräftenachwuchs ebenso aus wie in den jüngsten Hilferufen der Universitäten, die auf Grund der hohen Studentenzahlen ihren Bildungsauftrag nicht mehr erfüllen können.
Im vereinten Deutschland 1991 studieren 1,71 Millionen Jugendliche. 1,51 Millionen Jugendliche haben sich für einen Ausbildungsvertrag entschieden, also weniger, davon 14 % mit Abitur. Jugendliche zwischen 18 und 21 Jahren haben zu 31 % inzwischen die Hochschulreife. Um es drastisch zu formulieren: Wir sind Zeugen einer Hypertrophierung der Universitätsausbildung: immer mehr, immer länger, immer schlechter, immer ungerechter

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Eckart Kuhlwein [SPD]: Dahrendorf sah das alles ganz anders!)

— das war noch in den 70er Jahren, lieber Herr Kuhlwein, wir sind jetzt in den 90ern —,

(Eckart Kuhlwein [SPD]: Und Sie gehen zurück in die 50er!)

ungerecht vor allem gegenüber denjenigen, die dann noch ihren Weg ohne Universitätsausbildung gehen müssen, soweit es diese Gruppen dann überhaupt noch gibt.
Wir können diese Entwicklung nur in den Griff bekommen, wenn die Bildungspolitik endlich tragfähige Konzepte erarbeitet, die die Attraktivität von beruflicher Bildung und Praxis steigern. Dazu gehören auch die Fachschulen, die Akademien und die Fachhochschulen. Hier sind natürlich in erster Linie die Länder gefragt, vor allem die Kultusministerkonferenz. Bisher ist freilich wenig geschehen. Es droht die Gefahr, daß die Länderminister die größte bildungspolitische Herausforderung seit den 70er Jahren verschlafen. Sie reiben sich jetzt erstaunt die Augen, was ihnen da widerfährt.

(Zuruf von der FDP: Sie haben es schon verschlafen!)

Also muß der Bundesbildungsminister tätig werden.
Meine Herren, meine Damen, wenn die berufliche Aus- und Weiterbildung — ich komme zum Schluß — in Richtung auf eine Gleichwertigkeit gegenüber dem akademischen Bereich Erfolg haben soll, wenn nicht 50 % eines Jahrgangs eine Universitätsausbildung durchlaufen sollen und müssen, muß der Bund mehr Kompetenzen bekommen, z. B. im Sinne der Koordination und im Sinne von Stichentscheid bei bestimmten Fragen der beruflichen Ausbildung und der Berufsabschlüsse. Das ist mein Fazit.
Danke.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205723300
Nun spricht die Ministerin für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg, Frau Marianne Birthler.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1205723400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte diese Beratung zum Anlaß nehmen, aus der Sicht einer Ministerin, die tagtäglich mit den Veränderungen in der beruflichen Bildung konfrontiert ist, die Situation in den neuen Bundesländern am Beispiel Brandenburgs aufzuzeigen und zu sagen, welche Politik für die nahe Zukunft dringend erforderlich ist.
Wir können heute, gut ein Jahr seit Inkrafttreten des Berufsbildungsgesetzes und nach dem Anlaufen des Ausbildungsjahres 1991/92, feststellen, daß wenigstens die Versorgung der Jugendlichen mit Ausbildung weitgehend gesichert ist. Dies ist aus meiner Sicht im übrigen eine politische Selbstverständlichkeit.
Die Versorgung wurde allerdings im wahrsten Sinne des Wortes teuer erkauft. Die Betriebe wurden durch massive Förderprogramme des Bundes und der Länder — auch des Landes Brandenburg — sowie enorme Mittel der Bundesanstalt für Arbeit im Rahmen des Benachteiligtenprogramms und sonstiger Fördermaßnahmen weitgehend von ihrer Pflicht zur Finanzierung der Berufsbildung entbunden. Wir können wohl schon jetzt davon ausgehen, daß es im nächsten Jahr diese Förderungspolitik nicht mehr geben wird.
Die zunächst gesicherte Ausbildungsplatzversorgung darf allerdings nicht den Blick für die weiterhin bestehenden oder auch neuen Probleme trüben. Ich nenne hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit die folgenden:
Erstens. Ein erheblicher Teil der Jugendlichen ist nur in Berufsgrundbildungs- bzw. Berufsvorbereitungsjahren oder in Fördermaßnahmen der Arbeitsämter untergekommen. Die Qualität dieser Maßnahmen muß vielfach angezweifelt werden. Die Jugendlichen parken hier nur für eine gewisse Zeit und stehen dann erneut vor dem Problem, einen Ausbildungs- oder gar Arbeitsplatz finden zu müssen.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der SPD)

Zweitens. Auch in den Betrieben ist die Qualität der Ausbildung noch vielfach unzureichend. Insbesondere die Ausstattung und die Qualifikation der Ausbilderinnen und Ausbilder bedürfen dringend der Verbesserung. Ähnliches gilt — das sage ich hier auch als zuständige Bildungsministerin — für die Berufsschulen und ihre Lehrerinnen und Lehrer.
Allerdings müssen wir auch differenzieren. Nicht alle Ausbildungsgänge in der ehemaligen DDR waren automatisch weniger qualifiziert als die westlichen. In unter DDR-Bedingungen besonders erstrebenswerten Berufen — als Beispiel die Friseure und Friseurinnen — befinden sich zur Zeit bei uns ausgesprochen qualifizierte Jugendliche, die durch die neuen Ausbil-



Ministerin Marianne Birthler (Brandenburg)

dungsordnungen und Rahmenlehrpläne eher unterfordert sind und sich buchstäblich langweilen.
Drittens. Die Struktur der Ausbildungsstätten entspricht auch keineswegs der Struktur in den alten Bundesländern. Etwa die Hälfte der Jugendlichen wird in den neuen Bundesländern bei außerbetrieblichen Trägern ausgebildet, ein weiterer Teil in den Lehrwerkstätten der alten Kombinate. Klein- und Mittelbetriebe, die in den alten Bundesländern schwerpunktmäßig die Ausbildung tragen, sind erheblich unterrepräsentiert.

(Alois Graf von Waldburg-Zeil [CDU/CSU]: Das ist klar! Weil es sie noch nicht gibt!)

Viertens. Dementsprechend ist die Struktur der neu abgeschlossenen Ausbildungsverhältnisse beispielsweise in Brandenburg den zukünftigen Anforderungen noch völlig unangemessen. Auch ohne jetzt schon zu wissen, wohin die wirtschaftliche Entwicklung in den einzelnen, bisher monostrukturierten Regionen der neuen Bundesländer gehen wird, bedarf es doch einer gewissen regionalen ökonomischen Grundversorgung. Entsprechend fehlen vor allem noch Ausbildungsplatzangebote, z. B. in den kaufmännischen Berufen für den Groß- und Außenhandel, als Industriekaufmann/-kauffrau, aber auch in Dienstleistungsberufen, insbesondere in Handwerksberufen. Andererseits heißt das auch, daß jetzt zum Teil fehlqualifiziert wird und damit für die Zukunft der Umschulungsbedarf vorprogrammiert ist.
Fünftens. Zu besonderer Sorge veranlaßt die berufliche Bildung der Absolventen von Förderschulen. Hier soll und muß mit Programmen gefördert werden, sonst werden diese Jugendlichen im freien Spiel der Kräfte zerrieben. Mit Verlaub, das ist mir wesentlich wichtiger als die Förderung von Begabten.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der SPD)

Ich kann mir nämlich eine Förderung von Begabungen vorstellen. Die findet man nämlich durch die Bank bei allen Jugendlichen.
Sechstens. Ein Problem liegt mir — auch als zuständige Jugendministerin — besonders am Herzen: die Verunsicherung der Jugendlichen und die sich daraus ergebenden sozialen und politischen Folgen. Die Verunsicherung betrifft diejenigen, die sich jetzt erstmalig einen Ausbildungsplatz auf dem freien Markt suchen mußten, übrigens völlig unabhängig davon, wo sie parteipolitisch anzusiedeln sind. Sie haben dabei viel Eigeninitiative entwickelt, wurden aber häufig enttäuscht. Die Unübersichtlichkeit der Situation, auch die Uninformiertheit mancher zuständigen Behörde haben sicherlich zu vielen beruflichen Fehlentscheidungen geführt.
Verunsichert sind auch die Auszubildenden in den zweiten und dritten Ausbildungsjahren, deren Verträge umgestellt wurden und die vor ungewissen Prüfungssituationen und darüber hinaus häufig vor anschließender Arbeitslosigkeit stehen. Viele Ausgebildete haben immer noch Ängste wegen der Anerkennung ihrer Abschlüsse.
Schließlich steht aber auch das Personal in der beruflichen Bildung noch vor einer teilweise ungewissen
Zukunft. Die bisher von der Gesellschaft getragenen Risiken wurden individualisiert. Damit müssen viele Menschen erst noch fertigwerden.
Diese Brüche stellen für viele Menschen, insbesondere jüngere, eine Überforderung dar, die zusammen mit einer Reihe weiterer Ursachen zu der gegenwärtig heftig diskutierten Gewaltbereitschaft führt, aber auch zu Rückzug, Mißtrauen und Selbstzerstörung.
Die Versorgungslage für das nächste Jahr ist angesichts der genannten Probleme im Moment noch nicht abschätzbar. Ich plädiere daher für eine sorgfältige Analyse der bisherigen Entwicklung — um nicht zu sagen: Evaluation — , um dann auf einer gesicherten Datenbasis die notwendigen Konzepte zu entwikkeln.
Allerdings dürfte eines schon jetzt klar sein: Die neuen Bundesländer haben nur eine Chance, im Konkurrenzkampf um Standorte für neue Industrien und Großunternehmen zu bestehen: Das sind qualifiziert ausgebildete Jugendliche.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der SPD)

Die Jugendlichen werden nur dann bei uns im Osten bleiben, wenn ihnen attraktive, den westlichen Bundesländern ebenbürtige Ausbildungsmöglichkeiten geboten werden. Davon sind wir noch Lichtjahre entfernt.
Als ersten Schritt schlage ich deshalb vor, die Programme zu prüfen. Dabei sollten wir uns an folgenden Grundsätzen orientieren: Erstens. Wichtigster Träger der Berufsausbildung müssen die Betriebe sein, die in eigener Verantwortung und aus eigener Tasche ausbilden. Staatliche Maßnahmen müssen deshalb darauf gerichtet sein, daß mehr ausbildende Klein- und Mittelbetriebe entstehen. Als Stichworte nenne ich: Fortbildung, Umschulung und Beratung, die die Menschen befähigt, Betriebe zu gründen und zu betreiben, und eine Politik der Treuhand, die die Entstehung von Kleinbetrieben fördert.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der SPD)

Stillegungen oder das Warten auf Investoren sind hier wenig hilfreich.
Zweitens müssen zukünftig Investitionen in staatliche Einrichtungen, insbesondere in die Bildungsinfrastruktur, Vorrang vor der Subventionierung von Ausbildungskosten der Betriebe haben.
Drittens. Wenn dann noch Förderung von Ausbildungsplätzen erfolgt, dann statt mit der Gießkanne gezielte Förderung zukunftsorientierter Strukturen.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der SPD)

Erst mit einer solchen Neuausrichtung der Förderpolitik wird es gelingen, langfristig das Problem fehlender hochwertiger Ausbildungsplätze zu lösen und gleichzeitig den Jugendlichen eine Perspektive für ihre Beschäftigung zu geben.
Folgende Einzelfragen möchte ich noch besonders ansprechen: Die Qualität der Berufsausbildung ist mit der Frage der Qualifikation der Ausbilderinnen und



Ministerin Marianne Birthler (Brandenburg)

Lehrerinnen verknüpft. Hier kommen auf uns immense Aufgaben zu. Wir wissen noch nicht, wie wir sie lösen können.
Nicht nur auf den Bereich der Qualifizierung kommen diese Aufgaben zu, sondern vor allem auf die Entwicklung der Berufsschulen. Der Bund will erfreulicherweise genügend Haushaltsmittel für die überbetriebliche Ausbildung in den neuen Bundesländern bereitstellen. Jetzt kommt es bei der Planung darauf an, daß Bildungsstätten entstehen, die langfristig lebensfähig sind.
Es ist für die neuen Länder — so sehen wir das jedenfalls — ein Glücksfall, daß sich das Bundesinstitut für Berufsbildung in Berlin befindet.

(Beifall bei der SPD)

In der Vergangenheit habe ich schon vielfältige Unterstützung durch dieses Bundesinstitut erhalten. Allerdings wünsche ich mir, daß dieses Institut die neuen Bundesländer angesichts der Dimension der Aufgaben noch stärker als bisher unterstützt.
Der Bund muß sich an einem Investitionsprogramm für die Erneuerung der Berufsschulen beteiligen, um die Bildungsinfrastruktur in den Regionen der neuen Länder zu stärken. Sie können mir wirklich glauben, daß ich sehr darauf achte, daß die Bildungshoheit der Länder nicht angegriffen wird. Aber wir haben hier mit einem Notstand zu tun.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Man kann Geld auch zur Verfügung stellen, ohne Abhängigkeiten zu schaffen.

(Engelbert Nelle [CDU/CSU]: Leider denken nicht alle Länder so wie Sie!)

Ob dies nun über ein Sonderprogramm für den Ausbau und den Neubau von Berufsschulen geht oder, was ich persönlich noch viel naheliegender fände, durch eine Neuauflage des kommunalen Investitionsprogramms im Rahmen des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost, ist für mich von sekundärer Bedeutung. Aber wir brauchen dieses Geld dringend. Sonst ist alles Reden von Gleichwertigkeit für die Katz.
Ich danke Ihnen.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der SPD, der FDP und der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205723500
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Maria Eichhorn.

Maria Eichhorn (CSU):
Rede ID: ID1205723600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst eine Vorbemerkung zu Herrn Rixe und meiner Vorrednerin machen. Sie geben sicherlich zu — das haben Sie bereits getan —, daß die Lehrstellenbilanz in den neuen Bundesländern positiv ist. Jetzt haben Sie natürlich nach Punkten gesucht, die zu beklagen sind.

(Günter Rixe [SPD]: Solche Punkte müssen wir nicht suchen, da gibt es zu viele! — Doris Odendahl [SPD]: Also geben Sie das auch zu!)

Diese gibt es sicher, aber Sie werden auch zugestehen, daß man nicht von heute auf morgen alles so verbessern kann, wie man dies gerne möchte und wie wir das auch wünschen.
Unsere Arbeitsgruppe hat bei einem Besuch in Halle,

(Doris Odendahl [SPD]: Sie waren auch in Halle?)

als wir das dortige Berufsbildungszentrum besichtigt haben, gesehen, daß es sehr positive Ansätze gibt. Diese positiven Ansätze lassen uns für die Zukunft sehr zuversichtlich sein. Dies vorweg.
Nun zu meinem eigentlichen Hauptthema. Eine qualifizierte berufliche Ausbildung ist heute für Frauen ebenso selbstverständlich wie für Männer. Heute absolvieren fast zwei Drittel aller jungen Frauen im Alter von 16 bis 19 Jahren eine berufliche Ausbildung. Die Zahl der jungen Frauen in den sogenannten Männerberufen hat sich seit 1977 fast verfünffacht. Die Mehrzahl der Frauen konzentriert sich jedoch immer noch auf wenige Berufe.
Mehr als die Hälfte der weiblichen Auszubildenden beschränkt sich auf zehn Berufe, darunter so typische Frauenberufe wie Friseurin, Arzthelferin oder Verkäuferin. Dieses Berufswahlverhalten führt zur Aufrechterhaltung der geschlechtsspezifischen Aufteilung des Arbeitsmarktes mit den bekannten negativen Folgen für Verdienst und Aufstiegsmöglichkeiten.
Wenn wir das Berufswahlverhalten in den neuen Bundesländern betrachten, stellen wir fest, daß sich die Mädchen, obwohl dort die Ausbildung in technischen Berufen selbstverständlich sein müßte, heute auch von diesen Berufen abwenden. Daher gilt es, sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern die Anstrengungen zu verstärken, um das Berufsspektrum für Frauen und Mädchen zu erweitern. Ich glaube, da sind wir uns doch einig, Frau Odendahl.
Die meisten Ausbildungsberufe wurden in den letzten Jahren neu geordnet. Dabei wurde besonders bei den traditionellen Frauenberufen auf die Vermittlung breiterer Qualifikationen Wert gelegt. Dies ist für die Beschäftigung nach der Ausbildung von großer Bedeutung. Eine Reihe von Programmen für Mädchen und Frauen wurde mit Erfolg durchgeführt. Der Modellversuch „Mädchen in gewerblich-technische Berufe" hat gezeigt, daß junge Frauen auch in Metall- und Elektroberufen erfolgreich sind.

(Engelbert Nelle [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Große Firmen haben mittlerweile Frauenförderpläne erstellt, mit denen nicht nur Mädchen für technische Berufe gewonnen, sondern auch Fortbildungs- und Wiedereinstiegsmöglichkeiten während und nach der Familienphase eröffnet werden.

(Dirk Hansen [FDP]: So ist es!)

Der Abbau von Vorurteilen gegenüber technischen Berufen muß schon frühzeitig beginnen: im Elternhaus und in der Schule. Eine Hinführung auf ein breiteres Berufsspektrum muß bereits ab den 7. Klassen der Real- und Hauptschulen erfolgen. Die Erfahrungen zeigen, daß die Mädchen einfach sehr wenig Informationen über gewerblich-technische Berufe ha-



Maria Eichhorn
ben. Die Schnupperlehre hat sich hier als wirksam erwiesen, um diesem Informationsdefizit entgegenzuwirken.

(Doris Odendahl [SPD]: An was wird denn in den neuen Ländern geschnuppert?)

Die Ergebnisse zeigen, daß sich die Mädchen durch praktische Werkstatterfahrung motivieren lassen, mehr Zutrauen zu ihren eigenen handwerklichen Fähigkeiten bekommen und daß interessierte Mädchen durch die Arbeit im Betrieb ermutigt werden, einen technischen Beruf zu erlernen.
Die bundesweite Informationskampagne zur Erweiterung des Berufsspektrums soll weiter dazu beitragen, gesellschaftliche Vorurteile und Rollenklischees bei jungen Frauen, Eltern, Lehrern, Freunden, Berufsberatern und vor allem auch bei den Betrieben abzubauen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der rasche technische Wandel in unserer Zeit macht Weiterbildung unabdingbar. Auf Grund der verstärkten Erwerbstätigkeit von Frauen und der erhöhten Zahl von Berufsrückkehrerinnen ist Weiterbildung von besonderer Bedeutung.
Zur Unterstützung des beruflichen Wiedereinstiegs ist es wichtig, die beruflichen Kenntnisse zu aktualisieren oder gegebenenfalls eine berufliche Neuorientierung zu ermöglichen. Auch in diesem Rahmen wurde eine Reihe von Modellprojekten mit Erfolg durchgeführt, die uns den richtigen Weg weisen. Alle Angebote müssen jedoch familiengerecht sein, d. h. während der Weiterbildung muß für Kinderbetreuung gesorgt werden. 1990 wurde auch bereits in den neuen Bundesländern mit der Förderung verschiedener Projekte begonnen, die den Frauen dort eine berufliche Neuorientierung und Weiterbildung ermöglichen.
Im Berufsbildungsbericht 1991 sind viele positive Ansätze sichtbar, um jungen Frauen gleiche Berufschancen wie Männern zu eröffnen. Die Bildungspolitik der kommenden Jahre muß weiterhin Anstöße geben, damit wir die berufliche Gleichstellung von Männern und Frauen weiter voranbringen. Dies ist auch Inhalt unserer Beschlußempfehlung, zu der wir Sie um Ihre Zustimmung bitten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205723700
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Odendahl.

Doris Odendahl (SPD):
Rede ID: ID1205723800
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Das von der Regierungskoalition für die heutige Debatte gewählte Verfahren, den Berufsbildungsbericht 1991 in verbundener Debatte mit dem von der SPD-Fraktion eingebrachten ,,Aktionsprogramm zur Sicherung der beruflichen Bildung in den neuen Ländern" zu vermengen, wird beidem nicht gerecht. Auch diese Debatte zeigt es.
Mein Kollege Günter Rixe hat in seiner Rede darauf hingewiesen, daß der Berufsbildungsbericht seine Aufgabe, die Einheit der beruflichen Bildung in der Bundesrepublik darzustellen, nicht erfüllt, sondern
ausdrücklich die Situation in alte und neue Länder aufteilt, ja aufteilen muß.

(Dirk Hansen [FDP]: Ganz richtig!)

Ich möchte mich dennoch für diesen 15. Berufsbildungsbericht bei allen, die an seiner Erstellung beteiligt waren, sehr herzlich bedanken.
Ich werde mich in meiner Rede auf die Situation der beruflichen Bildung in den neuen Ländern konzentrieren.
In der Aktuellen Stunde im Oktober haben Sie mit großer Genugtuung den Ausgleich der Lehrstellenbilanz in den neuen Ländern zu feiern versucht und der SPD gleichzeitig vorgeworfen, sie habe bei der Diskussion um die berufliche Bildung Panikmache betrieben.

(Engelbert Nelle [CDU/CSU]: Das war auch so! — Dirk Hansen [FDP]: Das ist richtig!)

Weit gefehlt, meine Damen und Herren. Aber man kann schon in Panik geraten, wenn man die Untätigkeit der Bundesregierung angesichts der bis heute ungelösten Probleme im Bereich der beruflichen Bildung, insbesondere in den neuen Ländern, feststellen muß.

(Zuruf von der CDU/CSU: Daran glaubt sie immer noch!)

Die Feier Ihrer ausgeglichenen Lehrstellenbilanz ist Ihnen deshalb so gründlich mißlungen, weil Sie bis heute nicht sagen können — das ist Ihnen auch heute nicht gelungen — , wo denn die rund 45 000 Bewerberinnen und Bewerber geblieben sind, die nach der Berufsberatungsstatistik zum 30. September 1991 keinen den Arbeitsämtern in den neuen Ländern mitgeteilten Ausbildungsplatz erhalten haben, und weil Sie in keinem einzigen Punkt heute schon ersichtlich notwendige Schritte vorgetragen haben.
Sie wären wirklich gut beraten gewesen, die Hintergrundzahlen zu Ihrer Lehrstellenbilanz, die erst im Dezember zur Verfügung stehen, abzuwarten. Vielleicht hätten Sie dann die Kraft gefunden, Ihre ordnungspolitischen Scheuklappen abzulegen, um den betroffenen Jugendlichen wirklich das weitere Fahren in der Holzklasse der beruflichen Bildung zu ersparen.

(Beifall bei der SPD — Dirk Hansen [FDP]: Wir haben doch das Gegenteil bewiesen! Sie haben Scheuklappen!)

Wir haben deshalb zur Beschlußempfehlung zum Berufsbildungsbericht im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft einen Änderungsantrag eingebracht, der noch einmal deutlich macht, warum wir der heute vorgelegten Beschlußempfehlung der Regierungskoalition — es tut mir leid, Frau Kollegin — nicht zustimmen können.
Ich gehe darauf kurz ein: Die Bundesregierung schlägt entgegen ihren Ankündigungen im Herbst 1990 insbesondere zur Förderung der betrieblichen Ausbildung und zur Modernisierung der Berufsschulen in den neuen Ländern im Berufsbildungsbericht 1991 keine konkreten Maßnahmen vor. Den Stellungnahmen der Beauftragten der Arbeitnehmer, der Arbeitgeber und der Länder im Hauptausschuß des Bun-



Doris Odendahl
desinstituts für Berufsbildung ist zu entnehmen, daß diese Beteiligten konkrete Maßnahmenvorschläge gemacht haben. Hiermit setzt sich die Bundesregierung im Berufsbildungsbericht 1991 nicht auseinander.

(Zuruf von der SPD: Das ist das Problem!)

Angesichts dieser Untätigkeit hat die SPD-Fraktion im April 1991 ihren Antrag „Aktionsprogramm zur Sicherung der beruflichen Bildung in den neuen Ländern" eingebracht. Zu diesem Aktionsprogramm und zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft bringen wir heute einen Änderungsantrag ein, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, ein mittelfristiges Programm zur Sicherung eines auswahlfähigen Ausbildungsplatzangebots und der Qualität der beruflichen Bildung in den neuen Ländern vorzulegen.

(Zuruf von der CDU/CSU)


(Beifall bei der SPD — Engelbert Nelle [CDU/CSU]: Wenn Sie sprechen, höre ich nur zu!)

am 1. Januar 1992 übersteigen, und zwar während der Gesamtdauer der Ausbildung.
Die im Aufbau begriffene Wirtschaft muß bei Wahrung der grundsätzlichen Verantwortung der Unternehmen für ein qualifiziertes, auswahlfähiges, betriebliches Ausbildungsangebot in der Übergangszeit ganz sicher gefördert werden. Auch über die Übergangszeit sind wir uns einig; nur darf sie nicht zu lang werden.
Dies gilt vor allem für den Handwerksbereich und den kaufmännischen und den Dienstleistungsbereich. Besonders zu fördern ist die Bereitschaft der Betriebe zur Übernahme von Auszubildenden aus außerbetrieblichen Ausbildungsstätten und zur Einstellung von Mädchen und jungen Frauen, denen der Zugang zu Ausbildung und Beruf auch im gewerblich-technischen Bereich sonst zunehmend verwehrt ist. Ich kann mich einfach nicht durch die Ausbildungsangebote, die heute vorliegen, trösten lassen.

(Beifall bei der SPD)

Wenn Sie mir erklären, daß man als Konditorin — und was es da sonst noch an feinen Maßnahmen gibt, die alle als technisch-gewerblich gelten — seine Existenz auf Dauer sichern kann, dann glaube ich Ihnen das schlichtweg nicht.
Die vertraglich noch nicht festgelegten Mittel aus der sogenannten Lehrstellenhilfe im Bundeshaushalt 1991 und 1992 sind nach diesen geänderten Kriterien zu verwenden.
Über die Aufgaben der Treuhandanstalt wurde schon viel gesagt. Sie muß auch 1992 und 1993 so
weitermachen, wie wir sie jetzt endlich — vielleicht — auf Trab gebracht haben.
Die außerbetriebliche Ausbildung ist in den neuen Ländern mittelfristig in größerem Umfang als in den alten Ländern im Rahmen des Benachteiligtenprogramms zu fördern. Der Bundesanstalt für Arbeit sind genügend Mittel zur Verfügung zu stellen, damit alle Jugendlichen, die in den neuen Ländern einen qualifizierten Ausbildungsplatz suchen, unabhängig vom Geschlecht und von der regionalen Herkunft wohnortnah auswahlfähige Angebote in den Ausbildungsberufen vorfinden, die ihren Neigungen und ihren Begabungen entsprechen. Auch darin sind wir uns einig. Aber dazu sage ich noch etwas.
Die Richtlinien für die Förderung außerbetrieblicher Ausbildungsplätze auch in sogenannten Ausbildungsringen sind so zu ändern, daß nur qualifizierte Träger gefördert werden, die Bewilligungen nicht nachrangig nach Beginn des Ausbildungsjahres 1992/93 erteilt werden, der Übergang in betriebliche Ausbildung mit Nachdruck betrieben wird und die von den Trägern vermittelten Qualifikationen in Berufen erfolgen, die auf dem Arbeitsmarkt in den neuen Ländern zukünftig verstärkt benötigt werden. Hierzu sind keine Helferberufe, sondern voll qualifizierende Ausbildungen insbesondere im Baubereich, im kaufmännischen wie gewerblich-technischen Bereich und im Dienstleistungsbereich zu rechnen.

(Beifall bei der SPD)

Der Erhalt und die Modernisierung von Teilzeit- und Vollzeitberufsschulen ist auf der Grundlage eines im Hauptausschuß des Bundesinstituts für Berufsbildung abzustimmenden Entwicklungsplans für Berufsbildungsstätten in den neuen Ländern im Rahmen eines befristeten Bundesprogramms zu fördern. Auf den katastrophalen Zustand der ostdeutschen Berufsschulen hat der Bundesverband der Berufsschullehrer inzwischen nachdrücklich hingewiesen: Die Situation sei katastrophal, die Schulgebäude seien vielfach in desolatem Zustand und vor allem in der technischen Ausstattung den Anforderungen des Berufsbildungsgesetzes nicht gewachsen.
Ich meine, es lassen sich für den Bereich der beruflichen Bildung drei Punkte festhalten, in denen wir uns doch einig sind: Erstens. Wir wollen, daß allen Jugendlichen ein auswahlfähiges Ausbildungsplatzangebot zur Verfügung steht.
Zweitens. Wir wollen, daß die Qualität der Ausbildung in den neuen Ländern so rasch wie möglich den Standards des Berufsbildungsgesetzes, der Handwerksordnung und der Ausbilder-Eignungsverordnung angeglichen wird.
Drittens. Die Attraktivität der beruflichen Bildung im gesamten Bundesgebiet muß gesteigert werden, aber nicht auf dem Wege einer Differenzierung in eine falsch konzipierte Begabtenförderung einerseits und eine Verkürzung der Ausbildung für Lernschwächere andererseits.

(Beifall bei der SPD)

Die SPD-Fraktion ist gerne bereit, Mitverantwortung für die dazu erforderlichen Maßnahmen zu übernehmen. Wir werden uns im Frühjahr dazu erneut zu



Doris Odendahl
Wort melden. Es wäre ein Armutszeugnis, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir nicht gemeinsam in der Lage wären, das Notwendige zu tun.
Stimmen Sie heute unserem Änderungsantrag zu; dann haben Sie schon einen Schritt in die richtige Richtung getan.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205723900
Nun erteile ich der Abgeordneten Frau Michalk das Wort.

Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1205724000
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Berufsbildungsbericht der Bundesregierung, über den wir hier diskutieren, wird eine positive Entwicklung festgestellt, was das quantitative Angebot an Ausbildungsplätzen angeht. Es wird an anderer Stelle von einem tatsächlich vorhandenen Facharbeitermangel gesprochen, aber ebenso von dem Erfordernis, die Qualität der Ausbildung ständig zu verbessern.
Neu gegenüber den vorangegangenen Berichten ist, daß der Bericht erstmals und konkret auf die Ausbildungssituation in den neuen Bundesländern eingeht. Weil der Bericht im April 1991 erstellt wurde, ist es richtig, wenn in ihm auch von einem Mißverhältnis von Angebot und Nachfrage und davon gesprochen wird, daß Hilfsmaßnahmen notwendig sind.
Meinen Kollegen aus der SPD-Fraktion möchte ich sagen: Sie haben das Datum verwechselt, wenn Sie da Maßnahmen einklagen. Der Bericht stammt vom April 1991. Die Maßnahmen haben wir später besprochen und auch durchgeführt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Doris Odendahl [SPD]: Da waren Sie viel zu spät dran! Deshalb haben sie diesmal nicht gegriffen!)

— Nein, ich komme darauf noch zu sprechen.

(Doris Odendahl [SPD]: Sie waren nicht im Ausschuß, Frau Kollegin!)

Wir standen vor der Aufgabe, im Herbst dieses Jahres etwa 140 000 Jugendliche in den neuen Bundesländern mit Ausbildungsplätzen zu versorgen, eine gewaltige Aufgabe, wenn man weiß, daß nach den ordnungspolitischen Grundsätzen beim dualen System der Berufsbildungspolitik in der Sozialen Marktwirtschaft, die wir alle wollen und deshalb auch aufzubauen helfen, die Verantwortung in erster Linie bei der Wirtschaft liegt. Die Wirtschaft aber ist durch die skandalöse Politik des SED-Staates völlig zusammengebrochen.

(Doris Odendahl [SPD]: Das hilft aber jetzt den Jugendlichen gar nicht!)

So wurden permanent Prognosen verbreitet, die den jungen Menschen, ihren Eltern und Lehrern ein düsteres Bild zeichneten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Die Regierungsparteien waren es, die sich an der Schwarzmalerei nicht beteiligten, statt dessen die Ärmel hochkrempelten

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Lachen bei der SPD)

— Moment, jawohl, hören Sie zu — und durch viele Einzelmaßnahmen, in unzähligen Gesprächen und Beratungen mit den verschiedensten Trägern — auch eine ganz neue Erfahrung für uns — und durch beharrliche Zielvorgaben erreicht haben, daß Ende September nur noch 2 400 ohne einen Ausbildungsplatz waren.

(Günter Rixe [SPD]: Lassen Sie doch einmal diese Zahlen; die passen doch vorne und hinten nicht!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205724100
Herr Abgeordneter Rixe, Sie sind auch nicht laufend unterbrochen worden!

Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1205724200
6 600 Stellen sind dagegen noch offen.
Freilich hat nicht jeder seinen Traumberuf ergreifen können; aber das war noch nie der Fall. Auch haben nicht alle einen Vertrag mit einem Betrieb, wie es in den alten Bundesländern die Normalität ist.
Weil viele Ausbildungsbetriebe stillgelegt wurden, war es richtig, die Ausbildungsstätten einschließlich der vorhandenen Ausbildungskräfte mit Hilfe der Arbeitsämter in außerbetriebliche Ausbildungsstellen zu integrieren.

(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)

Allein dort sind 38 000 Jugendliche untergekommen. Was ich besonders hervorheben möchte — auch das hat heute noch niemand gesagt — : Dies ist nicht nur in den Ballungsgebieten, in den Städten, gelungen, sondern auch im ländlichen Bereich.
Die Prophezeiung, ein großer Teil der jungen Menschen werde auf Ausbildungsplatzsuche in die alten Bundesländer gehen, ist ebensowenig eingetroffen. Von meinem Umfeld kann ich sagen, daß nur jeder siebte eine Ausbildung in den alten Bundesländern begonnen hat.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205724300
Frau Abgeordnete Michalk, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Odendahl zu beantworten? — Bitte sehr, Frau Odendahl.

Doris Odendahl (SPD):
Rede ID: ID1205724400
Frau Kollegin, sind Sie in der Lage nachzurechnen, daß zwischen den bei den Arbeitsämtern gemeldeten Ausbildungsplätzen und den zu Beginn des Ausbildungsjahres vorhandenen Bewerbern inzwischen eine Differenz von 45 000 Jugendlichen entstanden ist? Wären Sie bereit zuzugestehen, daß bis heute nicht auszumachen ist, daß diese bereits einen Ausbildungsplatz gefunden haben?

(Dr. Karlheinz Guttmacher [FDP]: Die wollen wir gemeinsam suchen!)


Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1205724500
Auch ich denke, wir werden dieser Frage gemeinsam nachgehen. Ich meine schon, daß angesichts der gewaltigen Aufgabe,



Maria Michalk
die wir in den Verwaltungen, auch in den Arbeitsämtern, zu erfüllen haben, doch sehr wohl auch Rechenfehler vorkommen könnten.

(Zuruf von der SPD: Das hat der Minister ebenfalls gesagt! — Eckart Kuhlwein [SPD]: Ach, die Regierung hat Rechenfehler gemacht!)

Vielleicht sind auch in Schulen wesentlich mehr untergekommen, die sich zunächst einmal bei den Arbeitsämtern als Ausbildungsplatzsuchende gemeldet hatten und als solche in die Statistik eingegangen sind. Aber wir werden der Sache schon noch nachgehen, hoffentlich gemeinsam.

(Zuruf von der SPD: Der Minister hat falsch gerechnet!)

— Nein, er hat nicht falsch gerechnet.

(Zuruf von der SPD: Seit Monaten wird gerechnet, und wir kriegen keine Antwort!)

Umgekehrt wurden in den bereits vorhandenen Niederlassungen und Tochtergesellschaften in den neuen Bundesländern — auch das möchte ich hier einmal sagen — flächendeckend Ausbildungsplätze neu geschaffen, auch mit dem Ziel, die Ausbildungsinhalte schnellstens an die der alten Länder anzugleichen. Als Beispiel möchte ich hier die Strabag Bau-AG Köln — das ist nicht weit von Bonn entfernt — anführen. Sie bildet 520 Lehrlinge aus. Das muß sie nicht tun.

(Günter Rixe [SPD]: Wieso muß sie das nicht? Sicher muß sie das tun!)

Der massive Einsatz z. B. des Kolping-Berufsbildungswerks und anderer freier Träger hat uns in der Gewißheit bestärkt, daß wir die Aufgabe gemeinsam bewältigen werden.
Deshalb möchte ich allen, die dazu beigetragen haben, dieses Ergebnis zu erreichen, danken.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ich danke der Bundesregierung und erinnere beispielsweise an das erste Bildungs- und Technologiezentrum des Handwerks, das als Pilotprojekt für die fünf neuen Bundesländer in Halle am 28. August 1990 eröffnet wurde.
Ich danke auch den Kammern, den Handwerkern, den Arbeitsämtern, den Schulämtern, den Landräten und auch den Ländern. Eine Vertreterin der Länder ist hier anwesend. Im Land Sachsen hat beispielsweise das Wirtschaftsministerium extra ein Sorgentelefon für alle mit Lehrstellen zusammenhängenden Fragen eingerichtet. Das hat geholfen. Ich kann Ihnen nachher erzählen, wie vielen Menschen dort geholfen werden konnte.
Ich behaupte ja nicht, daß die Probleme der Berufsausbildung in den neuen Ländern schon auf Dauer gelöst sind. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Qualifzierung des Ausbildungspersonals und den Innovationstransfer. Aber ich behaupte, daß die zur
Resignation führende Angstmacherei aus den Reihen der Opposition

(Günter Rixe [SPD]: Das hat nichts mit Angstmacherei zu tun!)

zu keinem Zeitpunkt der historischen Chance angemessen ist.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205724600
Nun erteile ich dem Parlamentarischen Staatssekretär Torsten Wolfgramm das Wort.

Torsten Wolfgramm (FDP):
Rede ID: ID1205724700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der erste gesamtdeutsche Berufsbildungsbericht liegt uns vor. Er zeichnet ein unterschiedliches Bild. Es muß ein unterschiedliches Bild sein, Frau Kollegin. Sie haben das kritisiert; aber es geht nicht anders.
Die Situation in den westlichen Ländern ist durch Nachwuchsprobleme gekennzeichnet: 128 000 nicht besetzte Lehrstellen. Sie ist zusätzlich dadurch gekennzeichnet, daß wir zum erstenmal mehr Studenten als Auszubildende in der beruflichen Bildung haben. Das muß uns besonders nachdenklich machen. Wir müssen also versuchen, die berufliche Bildung attraktiver zu machen. Wir müssen versuchen, diejenigen, die lernschwächer sind, in die Position zu bringen, doch einen erfolgreichen Abschluß zu machen.

(Engelbert Nelle [CDU/CSU]: Sehr gut!) Daran arbeiten wir.

Aber wir müssen auch versuchen, die Leistungsstärkeren besonders zu motivieren. Sie, meine Damen und Herren von der SPD, teilen unsere Meinung in dieser Hinsicht zwar nicht ganz, aber wir sind der Auffassung, daß das ein sehr wichtiger Punkt ist, um die berufliche Bildung attraktiv zu machen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Es muß möglich sein, über die berufliche Ausbildung eine gute Karriere zu machen. Da sind auch die Betriebe gefordert. Sie müssen natürlich auch entsprechende Spitzenpositionen anbieten.

(Günter Rixe [SPD]: Ja! — Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Genau!)

Wenn es richtig ist — und ich bin der Meinung, daß es richtig ist — , daß das duale System, das hier im Berufsbildungsbericht ja auch auf dem Prüfstand steht, ein sehr gutes System ist und daß es nicht ohne Grund — auch im Ausland — Befürworter hat, müssen wir natürlich dafür sorgen, daß es auch gut bleiben kann. Da sind alle gefordert. Wir können hier zusätzliche Hilfen geben. Wir können die Pilotprojekte fördern; wir haben ja auch damit begonnen.
Zum erstenmal überhaupt werden nicht nur leistungsstarke und befähigte Studenten, sondern auch leistungsstarke Berufsanfänger, also beruflich Auszubildende, gefördert.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)




Parl. Staatssekretär Torsten Wolfgramm
Selbst wenn wir alle mit Recht der Meinung sind, daß das nur ein erster Schritt ist — —

(Günter Rixe [SPD]: Aber noch ein sehr schwacher, Herr Staatssekretär!)

— Es ist ein erster Schritt, lieber Kollege Rixe,

(Zustimmung bei der FDP und der CDU/ CSU)

aber es ist doch tatsächlich der erste Schritt überhaupt.

(Zuruf von der FDP: Und zwar in die richtige Richtung! Darauf kommt es an! — Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Und kraftvoll!)

Wenn, wie ich bei meinem Besuch dort gehört habe, die Industrie- und Handelskammer Frankfurt ihre Quote voll ausgeschöpft hat und sich besondere Mühe gegeben hat, diese Quote auszuschöpfen, dann zeigt das meiner Meinung, daß es gut ankommt und daß wir auf diesem Wege weitergehen können.
Der zweite Teil des Berufsbildungsberichts
— meine Redezeit ist leider nur kurz bemessen; deswegen kann ich das nur anreißen — beschäftigt sich naturgemäß mit der Situation in den östlichen Ländern. Wenn wir uns die Situation, in der wir über den Bericht in erster Lesung diskutiert haben, einmal vergegenwärtigen, dann hätte der Ausgang, der sich jetzt deutlich zeigt, die Debatte in ganz anderer Weise beeinflußt. Ich finde, Ihre Kritik ist jedenfalls auch nicht im Sinne Ihres neuen Vorsitzenden Hans-Ulrich Klose, meine Damen und Herren von der Opposition, der ja gesagt hat, unter seine Ägide könne die Regierung auch gelobt werden; das sei nicht ausgeschlossen, wenn ein Anlaß dazu bestehe.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Eckart Kuhlwein [SPD]: Aber nur, wenn sie es verdient! — Doris Odendahl [SPD]: Ja, Sie müssen uns einmal die Gelegenheit geben!)

Ich meine schon, das wäre eine denkbare Möglichkeit, denn die Ausgangssituation war außerordentlich schwierig. Ich möchte hier an dieser Stelle die Möglichkeit nutzen, all denen besonders zu danken, die sich dieser Aufgabe mit großem Einsatz unterzogen haben. Das ist die Wirtschaft, die selbst im Aufbau begriffen ist und im Konkurrenzkampf steht, vor allen Dingen auch die kleinen Betriebe. Übrigens, unser Förderprogramm, zu dem wir nicht nur nach wie vor stehen, sondern das auch seine Probe gut bestanden hat, zeigt, daß die jeweils 5 000 DM für die insgesamt geförderten 20 000 Plätze, die bisher abgerufen wurden, auf kleinere Betriebe, d. h. gerade auf Handwerksbetriebe zugeschnitten sind, die wir entwickeln und aufbauen wollen. Damit haben wir bereits begonnen, den Gesamtansatz im Haushalt mit einem beachtlichen Teil von 100 Millionen DM auszuschöpfen.
Bei Ihrer Kritik denke ich an Tucholsky, der in einer seiner Kurzgeschichten einmal einen Journalisten beschrieben hat, der mißmutig in der Suppe gerührt habe, weil er das Haar nicht gefunden habe.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich finde, wir haben vieles vor uns, auch für 1992. Die Situation wird nicht leichter werden. Wir werden weiter große Anstrengungen unternehmen müssen. Aber wir müssen allen Mut machen. Das möchte ich von dieser Stelle aus tun.

(Doris Odendahl [SPD]: Bloß fehlen die 45 000!)

Wir haben die erste Probe im Osten unseres Vaterlandes bestanden. Wir werden all denen, die daran Anteil haben, Mut machen, es weiter zu tun und auch im nächsten Jahr die Ausbildungsprobleme so zu lösen, wie sie diesmal gelöst worden sind.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205724800
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache und kommen zur Abstimmung.
Ich lasse zunächst über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zum Berufsbildungsbericht 1991 abstimmen. Die Drucksachen 12/348 und 12/1562 liegen Ihnen vor. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die der Opposition ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen nunmehr zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu einem Aktionsprogramm zur Sicherung der beruflichen Bildung in den neuen Ländern. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1546 vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag zu der Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Dieser Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt.
Der Ausschuß für Bildung und Wissenschaft empfiehlt auf Drucksache 12/982, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/416 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung des Ausschusses? — Wer stimmt dagegen? — Damit ist die Beschlußempfehlung angenommen und der Antrag abgelehnt worden.
Ich rufe nunmehr Punkt 6 der Tagesordnung und Zusatzpunkt 5 auf:
6. Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes
— Drucksache 12/42 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuß)

— Drucksache 12/1535 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Heinrich Seesing Dr. Eckhart Pick

(Erste Beratung 9. Sitzung)

ZP5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Eckhart Pick, Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Dr. Herta Däubler-Gmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD



Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
Ratifizierung der UNO-Konvention über die Rechte des Kindes
— Drucksache 12/1547 —
Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP vor.
Meine Damen und Herren, ich möchte zunächst die Zustimmung des Hauses einholen, daß wir uns auf eine Debattenzeit von einer Stunde verständigen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das beschlossen.
Herr Abgeordneter Seesing, Sie können die Debatte eröffnen. Sie haben das Wort.

Heinrich Seesing (CDU):
Rede ID: ID1205724900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In irgendeinem schönen Lied wird gewünscht: Ein Kind möcht ich noch sein. — Da wir uns dem Jahresende und dem Weihnachtsfest nähern, sei mir auch noch die Bemerkung gestattet, daß es doch tatsächlich noch einige Wochen im Jahr gibt, in denen man sehr viel an die Kinder denkt.
Viele Menschen gerade in unserem Lande machen sich Gedanken, wie man Kindern Freude bereiten kann. Ich gestehe, daß auch ich das gerne getan habe und noch gerne tue. Dabei muß man sich aber ehrlicherweise die Frage stellen, ob nicht auch ein Großteil Befriedigung eigener Wünsche und ein Großteil eigener Freude dabei im Spiel ist.
Nur, Millionen von Kindern erleben eine andere Welt: Eine Welt von Hunger und Durst, eine Welt von miserablen Wohnungen, eine Welt ohne Möglichkeit der Eltern, sich durch geregelte Arbeit den täglichen Lebensunterhalt zu verdienen, eine Welt von Krieg, in den die Kinder aktiv und passiv einbezogen werden. Deswegen ist es gut, daß sich die internationale Staatengemeinschaft ein Rechtsinstitut gibt, in dem die Rechte des Kindes festgeschrieben werden. Es hat Wünsche gegeben, an dem Text des Übereinkommens einiges zu ändern. Das ist nicht möglich.
Was aber die Aufgabe der Politik ist, das ist wie folgt zusammenzufassen: Aufgabe der Politik, also unsere Aufgabe, ist es, die in diesem Vertragswerk aufgeführten Rechte des Kindes auch in Deutschland durchzusetzen, wenn sie nicht schon im nationalen Recht enthalten sind. Dabei sind nach Art. 1 des Übereinkommens alle Kinder und Jugendlichen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres von den Regelungen betroffen.
Schon Art. 2 stellt uns in diesen Tagen vor besondere Aufgaben. Denn danach gewährleisten die Vertragsparteien jedem ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Kind die im Übereinkommen genannten Rechte unabhängig u. a. von der nationalen, ethnischen oder sozialen Herkunft des Kindes, seiner Eltern oder seines Vormundes. Das liest sich gut. Aber zur selben Zeit, in der ich dieses sage, herrscht in 10 000 oder vielleicht sogar 100 000 Häusern in unserem Land die Angst vor Übergriffen von radikalen Elementen und Rabauken, die Angst vor Ausländerfeindlichkeit und Teilnahmslosigkeit. Vielleicht, meine Damen und Herren, hört ja noch jemand zu, wenn ich nun alle Menschen in Deutschland bitte, sich dieser Ängste unserer Nachbarn anzunehmen; denn wir sind keine Ausländerfeinde. Wir wissen doch, daß wir vielen ausländischen Mitbürgern für ihre Arbeit zum Wohle aller Menschen in Deutschland zu danken haben.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Weil die allermeisten Menschen in Deutschland das auch tun, haben sie das Recht, von der Politik zu fordern, daß mit unserem Asylrecht kein Mißbrauch getrieben werden kann.
Ich frage mich auch in anderen Fällen, wie wir den Worten und der Intention des Übereinkommens zur Verwirklichung verhelfen können. So mache ich mir Gedanken, wie wir den Art. 6 in der Praxis anwenden. Es heißt dort — ich zitiere — :
Die Vertragsstaaten erkennen an, daß jedes Kind ein angeborenes Recht auf Leben hat.
Die Formulierung „angeborenes Recht auf Leben" hätte bei der Übersetzung der englischen Formulierung „the inherent right to life " zum Beispiel auch „ein natürliches ..." oder „ein eigenes Recht auf Leben" lauten können. Wir werden also gut daran tun, diese Aussage zu präzisieren. Mir liegt schon sehr daran, daß wir uns bei der Umsetzung des Übereinkommens deutlicher als bisher für das Lebensrecht aller Kinder, auch für das der ungeborenen, einsetzen. Deswegen paßt auch die derzeit laufende Beratung über eine Gesetzgebung zum Schutz des Lebens vor und nach der Geburt gut zum Thema der heutigen Sitzung.
Im Art. 6 heißt es dann weiter — ich zitiere — :
Die Vertragsstaaten gewährleisten in größtmöglichem Umfang das Überleben und die Entwicklung des Kindes.
Wenn die Erfüllung dieser Forderung uns schon nicht ganz leicht fällt, wie mag das dann erst in den Ländern z. B. Afrikas aussehen? Wir haben erklärt, daß trotz der Kosten der deutschen Einheit, trotz der Kosten für die Erschließung Ost- und Südosteuropas und trotz vieler anderer Verpflichtungen die Hilfe für die Entwicklung der armen Staaten der sogenannten Dritten Welt weitergehen soll. Vielleicht kann sich ein Ziel unserer Entwicklungshilfe in Zukunft noch deutlicher als bisher auf das Überleben und die Entwicklung der Kinder in diesen Ländern beziehen. Aber wir müssen dabei auch lernen, daß sich viele Lebensäußerungen in anderen Ländern von unseren sehr unterscheiden. Nicht nur vom Stand der Wirtschaft und von der politischen Struktur, sondern gerade auch von den kulturellen und religiösen Verhältnissen hängt die Existenz der Kinder ab.
Der Art. 8 hat mich wieder einmal auf die Frage gebracht, ob denn bei uns sichergestellt ist, daß ein Kind seine volle Identität besitzt oder kennt. In früheren Debatten haben wir im Bundestag im Zusammenhang mit der Diskussion über die technischen Möglichkeiten der sogenannten Fortpflanzungsmedizin schon auf die daraus erwachsende Problematik hingewiesen. Ich erwarte, daß die Bundesregierung bei passender Gelegenheit über die Situation und über eventuell notwendige weitere rechtliche Regelungen in diesem Bereich unterrichtet.



Heinrich Seesing
Schon bei der ersten Lesung dieses Gesetzes habe ich auf die Bedeutung der Art. 9 und 18 auch für unsere innerdeutsche Diskussion hingewiesen. Ich habe in meiner Zeit als Leiter einer Grundschule oft, zu oft, ein Kind trösten müssen, weil ihm in den meisten Fällen der Kontakt mit dem Vater, sehr selten mit der Mutter, nicht möglich war. Ich denke mir, daß der Herr Bundesjustizminister dieses Problemfeld noch ansprechen wird. Ich erwarte allerdings, daß wir noch in dieser Wahlperiode eine Neuordnung des Rechts der elterlichen Sorge erreichen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Bemerkenswert ist, daß das Übereinkommen in seinem Art. 17 davon ausgeht, daß der Einfluß der Massenmedien eher positiv ist. Deswegen soll jedes Kind „Zugang ... zu Informationen und Material aus einer Vielfalt nationaler und internationaler Quellen . . . (haben)". Ich weiß nicht, ob das jeder in unserem Land auch so sieht. Aber in der Realität ist das eigentlich der Aufruf zur Verkabelung der Städte und Dörfer oder zur Verbreitung des Satellitenempfangs von Fernsehoder Hörfunkprogrammen.
Was die Massenmedien angeht, ist auf den Geist des Art. 29 des Abkommens hinzuweisen. Dort werden folgende Forderungen erhoben:
Erstens. Die Bildung des Kindes soll darauf gerichtet sein, „die Persönlichkeit, die Begabung und die geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Kindes voll zur Entfaltung zu bringen". Allein diese Forderung bedingt im Grunde die Überprüfung unseres gesamten Bildungswesens. Das wäre eine Aufgabe, der sich die Länder zuwenden könnten.
Zweitens. Dem Kind soll Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten und vor den in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Grundsätzen vermittelt werden.
Drittens. Die Bildung des Kindes muß darauf gerichtet sein, dem Kind Achtung vor seinen Eltern, seiner kulturellen Identität, seiner Sprache und seinen kulturellen Werten, den nationalen Werten des Landes, in dem es lebt, und gegebenenfalls des Landes, aus dem es stammt, sowie Achtung vor anderen Kulturen als der eigenen zu vermitteln.
Viertens. Das Kind soll auf ein verantwortungsbewußtes Leben in einer freien Gesellschaft im Geist der Verständigung, des Friedens, der Toleranz, der Gleichberechtigung der Geschlechter und der Freundschaft zwischen allen Völkern und ethnischen, nationalen und religiösen Gruppen sowie zu Ureinwohnern vorbereitet werden.
Fünftens. Dem Kind ist die Achtung vor der natürlichen Umwelt zu vermitteln.
Da stellt sich die Frage, wie wir all diesen Forderungen gerecht werden wollen. Nehmen wir doch nur die Aussage, daß den Kindern die Achtung vor den Eltern zu vermitteln ist. Das heißt im Grunde, daß alle Institutionen — von der Kirche über den Kindergarten und die Schule bis hin zum Fernsehen — ein positives Elternbild zu vermitteln haben.

(Vorsitz: Vizepräsident Helmuth Becker)

Wir sollten alle, die von uns die schnellere Beratung und die vorbehaltlose Zustimmung zu diesem Abkommen gefordert haben, bitten, sich die völlige Umsetzung der Forderungen zu einer Aufgabe im eigenen Umfeld zu machen.
Der Gesetzgeber will und wird seinen Verpflichtungen aus den Übereinkommen nachkommen.
Rechtliche Regelungen sind wichtig; noch wichtiger ist aber, daß sich das Bewußtsein für die Rechte und die Würde des Kindes stärker als bisher entwikkelt, daß das besondere Schutzbedürfnis der Kinder anerkannt wird und daß wir insgesamt zu einer kinderfreundlichen Gesellschaft werden. Deswegen ist es auch wichtig, daß wir Kinder vor Gewalt, Ausbeutung, Verwahrlosung und sexuellem Mißbrauch schützen.
Ich wünsche mir die Möglichkeit, mit härtesten Bandagen gegen die Kinderpornographie und die Babyhändler vorzugehen.
Auch nach der Ratifizierung des Übereinkommens bleibt uns noch viel Arbeit. Ich meine aber, es lohnt sich, für die Kinder da zu sein. Deswegen bitte ich Sie, dem Gesetz und damit dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes zuzustimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205725000
Ich erteile unserem Kollegen Wilhelm Schmidt (Salzgitter) das Wort.

Wilhelm Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205725100
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Braucht dieses hochentwickelte und zivilisierte Land Bundesrepublik Deutschland eigentlich eine Konvention nach der Art dieser Konvention über die Rechte des Kindes? Das wird sich möglicherweise mancher in diesen Tagen fragen, falls die Debatte an die Öffentlichkeit dringt.
Ich glaube, wer sich mit dieser Frage auseinandersetzt, ist schon einen großen Schritt weiter als viele andere Erwachsene in diesem Land; denn viele befassen sich überhaupt nicht mit den Rechten von Kindern, und manche treten sie geradezu mit Füßen.
Zur Beurteilung dieser Frage fordere ich jeden von uns und draußen im Land auf, sich in seiner eigenen Umgebung umzusehen und zusätzlich für einen Blick in die Welt der Kinder offen zu sein.
Neben vielen schönen Dingen — Herr Seesing hat es soeben erwähnt — , die sich mit der kindlichen Lebenswelt verbinden, nehmen wir — wenn auch meist verschämt — in der Öffenlichkeit zunehmend Kenntnis von schlimmen Zuständen, denen Kinder in unserem Land und weltweit ausgesetzt sind.
Ich nenne beispielhaft nur einige Aspekte; die Liste ließe sich leider beliebig erweitern:
Jährlich werden im vereinigten Deutschland 400 000 Kinder körperlich und sexuell mißhandelt.
Auf dem sogenannten Babystrich sollen allein in Berlin 4 000 Mädchen der Kinderprostitution nachgehen.
Fast explosionsartig nimmt die Zahl von Produkten der Kinderpronographie zu.
Die Kinderkriminalität steigt in erschreckendem Umfang.



Wilhelm Schmidt (Salzgitter)

Jährlich sind rund 150 000 Kinder in Deutschland von der Trennung oder Scheidung ihrer Eltern betroffenen; damit geht eine zunehmende Belastung der Zerstörung familiärer Netzfunktionen einher.
Mehr als 100 000 Kinder befinden sich wegen Problemen im Elternhaus in Pflege- oder Heimerziehung.
1,2 Millionen Familien mit 1,8 Millionen Kindern in Deutschland sind auf Sozialhilfe angewiesen; die meisten wegen der immer noch wachsenden Langzeitarbeitslosigkeit der Eltern.
Rund 3 Millionen Kinder in Deutschland sind allergiekrank und leiden besonders unter belastenden Umwelteinflüssen.
Wir haben einen verfassungswidrigen, familienfeindlichen Familienlastenausgleich, der dazu führt, daß die sicher nicht als sozialdemokratische Vorfeldorganisation einzustufenden Familienverbände von familienbedingter Armut sprechen.
Es gibt eine viel zu schwache Ausstattung mit Kinderbetreuungseinrichtungen in Deutschlands Westen und eine sich leider entwickelnde massive Rückführung solcher Einrichtungen in den neuen Ländern.
Jährlich werden Milliardensummen in Parkhäuser investiert, während wenig Geld für die Entwicklung von Wohn- und Spielraum für Kinder zur Verfügung gestellt wird.
Es gibt enorme Belastungen wegen zu knappen Wohnraums und zu hoher Mieten für Familien mit Kindern.
Die Konkurrenzsituation — insbesondere für Kinder und Frauen — zwischen dem Anspruch des Kindes auf Erziehung und Zuwendung einerseits sowie dem sozialen und beruflichen Zwang andererseits ist in unserem Land oft unerträglich belastend.
Zehntausende von Kindern tragen in unserem Land ziemlich regelmäßig durch Erwerbsarbeit rechtswidrig zum Familieneinkommen bei.
Elektronische Medien üben einen erheblichen Einfluß auf die kindliche Lebenswelt aus, mit der — nur beispielhaft genannten — Folge eines durchschnittlich dreistündigen täglichen Fernsehkonsums von Kindern. Dies steht — man mag es auch heute wieder offen beklagen — in diametralem Gegensatz zum Interesse dieser Medien, über kinderpolitische Themen, z. B. über die heutige Debatte, ausreichend zu informieren.
Bei einem Blick über unsere Grenzen hinaus müssen wir mit tiefer Besorgnis feststellen: Zigtausende von Kindern werden in bewaffneten Konflikten gefährdet oder sogar als „Kindersoldaten" mißbraucht. Der Irak-Konflikt ist dafür in jüngster Zeit ebenso ein Beleg wie der Bürgerkrieg in Jugoslawien.
Täglich sterben weltweit immer noch 40 000 Kinder an Hunger und Elend.
Hunderttausende von Kindern sind allein oder mit ihren Eltern auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung oder Hunger.
Millionen von Kindern werden als billige Arbeitskräfte in den unterentwickelten Ländern ausgebeutet,
zum Teil auch zur Herstellung von Produkten für den deutschen Markt.
Ich denke, wir sollten niemanden davor schützen, mit diesen Fakten und Hinweisen konfrontiert zu werden. Wer dies nicht sehen oder wahrhaben will, handelt nicht nur ignorant, sondern zutiefst menschenverachtend.
Vielleicht wäre dieser Zustand schon ein wenig mehr im Blickpunkt des öffentlichen Interesses, meine Damen und Herren hier im Hause, wenn der seit langem geforderte Kinderbericht der Bundesregierung endlich vorläge. Die Kinderkommission des Bundestages unternimmt gerade in diesen Tagen einen erneuten Anlauf, ihn einzufordern.
Die UNO-Kinderrechts-Konvention ist insofern Mahnung, mehr noch aber Handlungsauftrag an die Politik. Das haben übrigens auch 70 Staatsoberhäupter — unter ihnen Richard von Weizsäcker für die Bundesrepublik Deutschland — anerkannt, die sich am 30. September 1990 in New York zum Weltkindergipfel versammelt hatten. Weder die Konvention noch die Erklärung dieses Weltkindergipfels darf im Appellarischen oder gar im Alibihaften steckenbleiben. Wer dies nicht akzeptieren oder begreifen will, dem kündige ich hiermit die Kinderrechts-Konvention als „Kampfansage" zur Durchsetzung der Interessen von Kindern an.
Der eigentliche Konventionstext mit seiner umfassenden Darstellung von Kinderrechten ist bei uns im Prinzip unumstritten. — Ich bin Herrn Seesing dankbar dafür, daß er schon auf einige Punkte aufmerksam gemacht und sie einer Würdigung unterzogen hat. Ich will mir das an dieser Stelle im wesentlichen schenken, zumal da mein Kollege Pick einiges davon sicher noch aufgreifen wird. — Darum stimmt die SPD-Fraktion dieser Konvention natürlich uneingeschränkt zu.
Es wird aber entscheidend darum gehen, meine Damen und Herren, wie konkret wir in Deutschland für unsere Kinder und die Kinder in der Welt zur Verwirklichung ihrer Rechte zu handeln bereit sind. Es ist eine weitere Menschenrechts-Konvention. Leider erkennt die Bundesregierung — wie schon bei früheren ähnlichen Akten — die direkte materielle Wirkung der Konventions-Vorschriften nicht an, sondern betrachtet das Abkommen als reine Staatenverpflichtung. Dies ist mehr als umstritten, wie zahlreiche hochrangige Völkerrechtler uns mitgeteilt haben. Aber sei's drum. Ich will mich auf diesem Feld heute nicht verlieren.
Wir haben — mehr noch — den fatalen Eindruck, daß sich über die vorgelegte Erklärung, die die Bundesregierung bei der Hinterlegung der Ratifizierungsurkunde abzugeben willens ist, auch ein teilweiser Unwille zur Umsetzung der Konvention in deutsches Recht dokumentiert. Aus diesem Grund hat die SPD dem Haus einen Antrag vorgelegt, der einen Teil des Handlungsbedarfs andeutet, eine Berichtspflicht über die von der Bundesregierung geplanten Rechtsveränderungen enthält und vor allem die geplante Vorbehaltserklärung mißbilligt.
Klar ist schon jetzt: Das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz ist als Basis für die Regelung aller Interes-



Wilhelm Schmidt (Salzgitter)

sen von Kindern in unserem Land völlig unzureichend. Auch die jetzt in Rede stehenden und vorgelegten Entwürfe zur Verschärfung des Strafrechts, beispielsweise zur Bekämpfung der Kinderpornographie, sind ein wichtiger, freilich nicht ausreichender Schritt.
Mit der einschränkenden Erklärung engt die Bundesregierung nicht nur unzulässig den Rahmen für ihr eigenes Handeln ein — dieses Parlament wird sich hoffentlich dadurch nicht beeindrucken lassen —, sondern gibt damit auch ein falsches Signal in kinderpolitischer Hinsicht.
International sind die Partnergremien reichlich bestürzt darüber, daß sich dieser Staat damit an die Seite einer Reihe fundamentalistischer Nationen begibt, die mit anderen Begründungen ähnlich gehandelt haben. Als erster der uns begleitenden Kinderfachverbände hat übrigens der AWO-Bundesverband im März 1991 eindeutig Äußerungen nach außen getragen, daß „diese Erklärung formell unzulässig ist, in der Sache gegen den Geist der Konvention verstößt und kinderpolitisch kontraproduktiv ist".
Inzwischen sind eine ganze Reihe von Fachbeiträgen veröffentlicht worden, die neben der Zustimmung zur Konvention die Kritik an den Absichten der Bundesregierung zum Ausdruck bringen. Ich nenne beispielhaft die Namen Huber, Wolf und Borsche. Aus Zeitgründen kann ich allerdings nicht näher auf die Einzelheiten eingehen. Durchweg stimmen diese Beiträge mit den Auffassungen der SPD überein.
Auch durch diese Initiativen und Aktivitäten ist es in den vergangenen Monaten immerhin gelungen, eine offene Abschwächung der lautstark begrüßten Konvention zu vermeiden; und durch den Einfluß der Bundestags-Kinderkommission und vieler Fachverbände wie der schon genannten Arbeiterwohlfahrt, UNICEF Deutschland, des Deutschen Kinderhilfswerks, terre des hommes, Dialog, Deutscher Bundesjugendring, AGJ, Gewerkschaft GEW und vieler anderer wurde eine Milderung dieses Erklärungstextes erreicht.
Dennoch würde durch die Erklärung eine ohne demokratisches Verfahren und ohne ausreichende Rechtsprüfung zustande gekommene Einschränkung im Bereich der notwendigen Überarbeitung und Neuregelung aller Vorschriften des Sorge- und Umgangsrechts — speziell für Kinder in Fällen der Scheidung oder Trennung der Eltern sowie aus nichtehelichen Familienverhältnissen — und außerdem des sehr restriktiven deutschen Ausländerrechts in die Öffentlichkeit getragen. Dies würde die erhoffte positive Wirkung der Konvention sehr verringern und zu unnötigen Auseinandersetzungen führen, die dann die Bundesregierung zu verantworten hätte. Es würde im übrigen dazu beitragen, daß der inzwischen gebildete UNO-Ausschuß für die Rechte des Kindes geradezu mit der Nase darauf gestoßen würde, wo er in Deutschland die Verstöße gegen diese Konvention zu suchen hätte.
Bitte stimmen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, dem Konventionstext zu! Lassen Sie aber bitte die Regierungserklärung nicht zustande kommen! Darum
wären wir Ihnen für Zustimmung zu unserem Antrag dankbar.
Darüber hinaus — das soll dann mein letzter Satz sein, und der soll über dieses Parlament hinaus wirken — sollten Sie alle sich ganz persönlich vornehmen, mit gutem Beispiel in unserem Land voranzugehen und konkret mehr für die Verwirklichung von Kinderinteressen zu tun, sich Zeit für Kinder zu nehmen und auch mit ihnen selbst zu sprechen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205725200
Ich erteile unserer Kollegin Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger das Wort.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Rede ID: ID1205725300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor knapp neun Monaten, am 21. Februar, haben wir uns in erster Beratung mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zu dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes zu sehr später Abendstunde in sehr kurzer Debattenrunde beschäftigt. Einen kleinen Fortschritt haben wir bei der heutigen abschließenden Beratung und Schlußabstimmung erreicht. Es ist immerhin erst der frühe Abend, und die Redezeit ist immerhin — wenn auch viel zu kurze — 60 Minuten lang. 60 Minuten für ein Übereinkommmen, das zum Schutze der Kinder die wichtigsten Menschenrechte garantieren soll!
Vieles hört sich für uns selbstverständlich und vielleicht sogar überflüssig an, da die Grundrechte unserer Verfassung u. a. Religions-, Glaubens-, Gedankens-, Gewissens- und Meinungsfreiheit gewährleisten sowie die Menschenwürde und die körperliche Unversehrtheit schützen. Doch besonders in Ländern mit nicht so ausgeprägter rechtsstaatlicher Verfassung, in denen vor den Augen der ganzen Welt Menschenrechtsverletzungen begangen werden und Kinder auch unter 15 Jahren zum Kriegseinsatz mit der Waffe herangezogen werden, wird hoffentlich durch die Konvention die Rechtsstellung verbessert werden.
Aber um nicht einen falschen Eindruck aufkommen zu lassen, sage ich: Auch bei uns gibt es nicht die heile Kinderwelt. Allein in diesem ersten knappen Jahr der Wahlperiode haben wir uns mehrere Male mit Gesetzentwürfen und Anträgen beschäftigt, die der Verbesserung des Schutzes der Kinder dienten. Ich erwähne nur die Debatten über die Verlängerung der Frist zur Rückgängigmachung von Zwangsadoptionen in der ehemaligen DDR, über das strafbewehrte Verbot des Besitzes von kinderpornographischen Werken und über eine einheitliche Vorschrift zum Schutz vor sexuellem Mißbrauch bis zum Alter von 16 Jahren. Auch die intensive Beratung eines einheitlichen Rechts in ganz Deutschland zum Schwangerschaftsabbruch — ich denke besonders an die gerade stattfindenden Anhörungen — hat deutlich gemacht, daß für eine kinderfreundliche Gesellschaft in Deutschland noch viel getan werden muß.
Deshalb sind wir uns einig, die Voraussetzungen für die Ratifizierung schnell zu schaffen. Unterschiedli-



Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
che Auffassungen — es wurde soeben schon erwähnt — gibt es hinsichtlich der Interpretationserklärung, die die Bundesregierung auf Grund der einstimmigen Haltung der Bundesländer gemäß dem Liradauer Abkommen abgeben wird.
Die Erklärung in der jetzigen Form ist meines Erachtens nicht diskriminierend und abschwächend, sondern besonders im Hinblick auf die Artikel der Konvention zum Familienrecht von rechtsklarstellendem Charakter.
Die in Deutschland geltenden Regelungen zum Sorgerecht ehelicher und nichtehelicher Kinder stimmen nicht mit der Zielrichtung des Art. 18 der Konvention überein. Aber — um es klarzustellen — die FDP will nicht verhindern, daß unser Sorge-, Umgangs- und Unterhaltsrecht geändert wird, sondern wir verstehen die Änderung als Auftrag und haben uns auch in der Koalitionsvereinbarung dazu verpflichtet.
Das Familienrecht der ehemaligen DDR kannte diese scharfe Trennung zwischen der Rechtsstellung ehelicher und nichtehelicher Kinder nicht. Ich sehe bei den jetzt zügig voranschreitenden Beratungen — in diesem Zusammenhang begrüße ich die Initiative des Bundesjustizministers — die große Chance, uns mit dem Familienrecht der ehemaligen DDR zu beschäftigen und Regelungen, die sich dort bewährt haben, aufzugreifen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205725400
Der nächste Redner ist unser Kollege Konrad Weiß.

Konrad Weiß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1205725500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kinder in Deutschland!

(Otto Schily [SPD]: Die hören nicht zu!)

Heute wollen wir ein Übereinkommen verabschieden, durch das die Rechte der Kinder besonders geschützt werden. Dieses Übereinkommen wurde von den Vereinten Nationen, dem Sprecherrat der Völkerfamilie, beschlossen. Nun wollen wir dafür sorgen, daß es auch für die Kinder in Deutschland gilt.
Ich bin traurig, daß an diesem wichtigen Tag keine Kinder — unsere jungen Bürgerinnen und Bürger — in den Bundestag gekommen sind und daß sich so wenige Abgeordnete Zeit für diese wichtige Arbeit genommen haben.
Warum brauchen wir ein Übereinkommen, in dem für Kinder besondere Rechte festgelegt sind? Über viele Jahrhunderte — in manchen fernen Ländern gilt das bis heute — waren Kinder das Wichtigste für die Erwachsenen; denn Kinder sind die Zukunft. Dann aber wurden Kinder immer mehr an den Rand gedrängt, durften keine eigene Meinung haben, mußten brav sein und wurden geschlagen, wenn sie es nicht waren. Viele Kinder mußten und müssen hart arbeiten, obwohl sie noch jung sind. Andere Kinder werden von Erwachsenen mißbraucht und haben keine Wahl, sich gegen das Böse zu entscheiden. Wieder andere müssen Soldaten sein oder sollen mit Kriegsspielzeug
spielen, damit Erwachsene viel Geld verdienen können. Wenn es Krieg, Katastrophen, Seuchen und Umweltverpestung gibt, sind Kinder immer zuerst davon betroffen. Am schlimmsten aber ist, daß Millionen Kindern auf unserer Erde das wichtigste Recht, das Gott allen Menschen gegeben hat, versagt bleibt: das Recht auf Leben.
In diesen Wochen wird in unserem Land heftig darüber gestritten, ob Kinder, die noch nicht geboren sind, abgetrieben werden dürfen. Viele Frauen und Männer, die sich laut und leidenschaftlich dafür oder dagegen äußern, bleiben stumm, wenn es um die Rechte der geborenen Kinder geht.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der SPD)

Sie sind nicht bereit, ihr Wohlleben mit den Kindern zu teilen, die hungern. Sie sind nicht bereit, mit ihrem Auto langsamer zu fahren, damit kein Kind mehr auf der Straße getötet wird. Sie sind nicht bereit, ihren Lebensstil zu ändern, damit die Umwelt wieder gesund wird und die Kinder gute Luft, gutes Wasser und eine saubere Erde haben.
Weil viele Kinder so ungerecht behandelt werden, haben sich Erwachsene, Frauen und Männer, seit langem dafür eingesetzt, daß es besondere Rechte und einen besonderen Schutz für Kinder gibt.
Einer der ersten war der jüdische Arzt und Erzieher Janusz Korczak, der in Warschau ein Waisenhaus geleitet hat. Er sagte den Kindern: Du hast das Recht, genauso geachtet zu werden wie ein Erwachsener. Du hast das Recht, so zu sein, wie du bist. Du mußt dich nicht verstellen und so sein, wie es die Erwachsenen wollen. Du hast das Recht auf den heutigen Tag; jeder Tag deines Lebens gehört dir, keinem sonst. Du hast sogar das Recht auf deinen eigenen Tod. Wenn Gott dich ruft, müssen deine Eltern sich von dir trennen und dich in Frieden sterben lassen. Und schließlich sagte Korczak: Du, Kind, wirst nicht erst Mensch, du bist Mensch.
Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes hat noch viele Rechte und Bestimmungen hinzugefügt, die wichtig und richtig sind.
Leider ist die Regierung in Deutschland und sind die Parteien CDU/CSU und FDP nicht bereit, alle diese Rechte ohne Vorbehalt auch in Deutschland gelten zu lassen. Sie wollen Einschränkungen machen, weil angeblich alte Gesetze nicht so schnell geändert werden können. Deshalb können in Deutschland Kinder, die keinen Vater haben oder deren Eltern sich getrennt haben, weiterhin benachteiligt werden.
Ich verlange von der Regierung, daß sie ganz schnell alle Gesetze, die Kinder betreffen, überprüft und insbesondere für die völlige Gleichstellung von ehelichen und nichtehelichen Kindern sorgt.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und der SPD)

Auch das Recht der Kinder, deren Väter getrennt von der Mutter leben, mit ihrem Vater zusammen zu sein, muß endlich gewährleistet werden.
Die Bundesregierung und die Parteien CDU/CSU und FDP wollen weiterhin zulassen, daß Kinder, die



Konrad Weiß (Berlin)

nicht in Deutschland geboren sind, schlechter behandelt werden dürfen als einheimische Kinder.
Kindern, die ohne Eltern aus einem Notgebiet geflüchtet sind, soll in Deutschland keine Zuflucht und keine Heimat gegeben werden. Kinder sollen weiterhin zurückgeschickt werden können in einen Krieg, in eine Hungersnot, in ein Seuchengebiet, in Elend und Armut. Das ist nicht nur Unrecht; das ist Sünde.
Ich fordere die Bundesregierung auf, sofort dafür zu sorgen, daß dieses schlimme Unrecht in Deutschland nicht länger getan werden darf.
Ich unterstütze die Bundesregierung in ihrer Erklärung, daß Kinder nicht schon mit 15 Jahren Soldaten werden dürfen. Ich fordere sie auf, in den Vereinten Nationen tätig zu werden, damit das in allen Ländern Geltung erhält.
Ich bedauere sehr, daß es nicht gelungen ist, das Übereinkommen ohne Wenn und Aber in Deutschland in Kraft zu setzen, und daß parteipolitische Querelen auf Kosten der Kinder ausgetragen werden.
Meine Fraktion, die Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN, ist für die uneingeschränkte Übernahme des Übereinkommens und für die umfassende Verwirklichung aller Rechte der Kinder; denn wir wollen, daß Deutschland ein kinderfreundliches Land ist.

(Beifall bei dem Bündnis 90/GRÜNE und der SPD)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205725600
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zwei Bemerkungen machen.
Zum einen ging es bei Frau Kollegin LeutheusserSchnarrenberger um die Redezeit. Die Redezeit wird im Ältestenrat immer einstimmig vereinbart. Wenn Sie also beklagen, daß für dieses wichtige Thema nicht genügend Redezeit zur Verfügung steht, muß ich sagen: Es ist immer Sache der jeweiligen Fraktion, das im Ältestenrat vorzutragen. Dann kommen die Interessen anderer, die gleich wichtige Themen haben. Ich wollte das deswegen nur noch einmal erwähnen.

(Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: Um den Stellenwert geht es!)

Die zweite Bemerkung: Herr Kollege Weiß, es ist natürlich richtig, daß wir hier in einer kleinen Runde zusammen sind. Sie wissen aber wie alle Kollegen, die hier sind: Der Haushaltsausschuß bereitet die Beratungen der übernächsten Woche vor; es ist ansonsten keine Zeit dafür. Wir haben heute nachmittag mindestens 50 verschiedene Besuchergruppen gehabt; in diesen Besuchergruppen stehen die Abgeordneten Rede und Antwort. Die Konzeptkommission, die sich mit dem Umzug nach Berlin beschäftigt, tagt zur Zeit. So haben wir vielfältige Verpflichtungen. Es hat keinen Sinn, daß wir hier gegenseitig beklagen, daß der eine oder andere nicht da ist. Die meisten gehen nicht irgendwelchen persönlichen Verpflichtungen nach, sondern ihren dienstlichen. Das will ich an dieser Stelle doch noch einmal gesagt haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, jetzt hat unsere Kollegin Frau Barbara Höll das Wort.

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1205725700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Gruppe der PDS/ Linke Liste begrüßt nachdrücklich, daß mit der heutigen Verabschiedung des Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes auch die Bundesrepublik Deutschland die Ratifizierung der UNO-Kinderkonvention in die Wege leitet. Dem ging ein langwieriges, mühsames Ringen um Positionen im Parlament und mit der Bundesregierung voraus.
In diesem Prozeß der Positionsfindung wird immer deutlicher, daß es auch in Deutschland notwendig ist, über die Rechte der Kinder, über ihre Stellung im gesellschaftlichen Leben nachzudenken und zu überprüfen, ob und inwieweit die in der Konvention gesetzten Standards hier bereits verwirklicht sind.
Allerdings sehen wir wie die Fraktion der SPD, deren Antrag wir begrüßen und unterstützen, in der geplanten Hinterlegung einer Erklärung einen überflüssigen, ja hinderlichen Akt. Geist und Buchstaben der Kinderkonvention fordern, den Kindern einen weitaus höheren Stellenwert im gesellschaftlichen Leben einzuräumen. Dies schnellstmöglich im Interesse der Kinder zu verwirklichen und dementsprechend innerstaatliches Recht, wenn notwendig, zu verändern, das muß obersten Vorrang haben und darf nicht durch verzögernde Einwände behindert werden.
Das Wohl der Kinder, die Schaffung der Grundlagen ihres zukünftigen Lebens und damit auch des unsrigen in 20, 40 oder 60 Jahren sollten der Maßstab aller politischen Entscheidungen sein. Vom Kind aus ist zu entscheiden, wie Städte gestaltet, wie Wohnungen gebaut, wie Industrie entwickelt werden soll und wie wir unsere politischen Konflikte der Gegenwart so lösen, daß sie nicht in 20 Jahren erneut Gefahren für die künftigen Generationen sind.
Erst wenn wir uns von den Bedürfnissen und Lebensansprüchen der Kinder sowohl in der Politik als auch im täglichen Leben leiten lassen, können wir mit Recht sagen, daß die Bundesrepublik ein kinderfreundliches Land ist. Davon sind wir noch ein weites Stück entfernt. Notwendig wären für mich, um dieses Ziel zu erreichen, erstens die ausdrückliche Verankerung des Kindes in der künftigen Verfassung der Bundesrepublik Deutschland und zweitens die Sicherung der sozialen Existenz von Kindern durch den Staat wahrlich nach dem größtmöglichen Maß der verfügbaren Mittel, um Fürsorge und Wohlergehen für jedes Kind zu gewährleisten.
Kinder sind in ihrer Existenz abhängig von ihrer Familie, ihrem sozialen Umfeld, staatlichen Leistungen. Kinder jedoch nur über diese Abhängigkeiten zu sehen und staatliche Leistungen wie das derzeit wirkende System des dualen Familienlastenausgleichs von Beginn an zu binden an das Elterneinkommen, zementiert vorhandene Ungleichheiten. Jedes Kind hat seine eigene Biographie; aber jedem Kind sollten von seiten des Staates zumindest gleiche Chancen eingeräumt werden. Dies erfordert auch, ihm ein zumindest materielles Existenzminimum, unabhängig von der Einkommenslage der Eltern, zu sichern.
Ein wichtiger Gesichtspunkt für mich sind die Anerkennung des Subjektseins von Kindern und damit die Ausgestaltung der Unantastbarkeit ihrer Menschen-



Dr. Barbara Höll
würde. Nachdrücklich verweise ich auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1968, nach dem Kinder Wesen mit eigener Menschenwürde und dem eigenen Recht auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit im Sinne der Art. 1 und 2 des Grundgesetzes sind.
Ich will damit in keiner Weise Elternpflichten negieren, aber in jedem Fall Kinderrechte einklagen. Bedauerlicherweise ist es in dieser Gesellschaft noch immer so, daß Kinder Eigentum der Eltern, Objekt in der Hand auch anderer Erziehungsträger, Rechtsobjekt, z. B. Jongliermasse der streitenden Parteien im Familienrechtsstreit, sind.
Handlungsbedarf für die Änderung des innerstaatlichen Rechts sehe ich aus der vorbehaltlosen Ratifizierung der Kinderkonvention vor allem hinsichtlich eines notwendigen Verbots von körperlicher und geistiger Gewaltanwendung gegen Kinder und der Abschaffung jeglichen Züchtigungsrechts der Eltern in der Bundesrepublik, der Festschreibung des Rechts von Kindern auf Äußerung ihrer Meinung in bezug auf alle sie selber berührenden Angelegenheiten und der kostenlosen Bestellung eines geeigneten Beistandes bzw. sozialen Anwalts zur Wahrung ihrer Interessen in einem Gerichts- oder Verwaltungsverfahren.
Des weiteren muß festgehalten werden, daß die in der Kinderkonvention verankerten Rechte ausländischer Kinder in der Bundesrepublik z. B. durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz und das Ausländergesetz gröblichst mißachtet werden. Ausländerfeindlichkeit richtet sich in spezifischer Weise gegen ausländische Kinder. Sie werden durch innerstaatliches Recht diskriminiert. So besteht akuter Handlungsbedarf in bezug z. B. auf das Kinder- und Jugendhilfegesetz, das Kinder von illegal im Bundesgebiet lebenden Ausländern von Leistungen des KJHG ausschließt, und auf das Ausländergesetz, das regelmäßige Kontakte von ausländischen Kindern unter 16 Jahren zu ihren hier lebenden Eltern durch Visumspflicht erschwert. Diese Visumspflicht steht auch im Widerspruch zu Art. 22 der Kinderkonvention. Sie macht die Einreise von Flüchtlingskindern in die Bundesrepublik unmöglich und verweigert damit Schutz und Hilfe. Entgegen den Bestimmungen der Kinderkonvention legt das Ausländergesetz auch fest, daß ausländische Minderjährige, die Jugendhilfeleistungen beanspruchen und deren sorgeberechtigten Elternteile sich nicht oder nicht mehr im Bundesgebiet aufhalten, ausgewiesen werden können.
Aus all diesen Gründen ergibt sich für die PDS/ Linke Liste die Forderung nach einer vorbehaltslosen Ratifizierung der Kinderkonvention und nach einer umfassenden Reform mit dem Ziel, die Rechte der Kinder gemäß der Kinderkonvention in der Bundesrepublik zur Geltung zu bringen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205725800
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nunmehr erteile ich das Wort dem Bundesminister der Justiz, Herrn Dr. Klaus Kinkel.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1205725900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Kinder sind kleine Menschen, die große Rechte brauchen." Diesen Satz habe ich an den Schluß meiner ersten Rede zur Kinderkonvention im Deutschen Bundestag gestellt. Diesmal will ich ihn gleich an den Anfang setzen, weil er die Sache auf den Punkt bringt. Kinder sind die Schwächsten unserer Gesellschaft und brauchen deshalb den größten Schutz.
Bereits bei der ersten Lesung waren wir uns einig: Diese Konvention ist ein Meilenstein in der Geschichte der Vereinten Nationen. Endlich nimmt sich auch das Völkerrecht der Kinder an. So wie Kinder jetzt behandelt werden, werden in Zukunft die Nationen und Staaten aussehen. Deshalb müssen wir alles tun, daß unsere Kinder in menschenwürdigen Verhältnissen aufwachsen. Das von der Generalversammlung der Vereinten Nationen 1989 verabschiedete Übereinkommen über die Rechte des Kindes kann und soll die Voraussetzungen dafür schaffen. Erstmals werden hier weltweit verbindliche Maßstäbe für Rechte von Kindern und Jugendlichen geschaffen, und das ist bitter notwendig, denn der Schutz der Kinder ist in vielen Staaten leider immer noch unzureichend.
Kinder werden als billige Arbeitskräfte ausgebeutet, verkauft und oft genug zur Prostitution gezwungen. Dies gilt leider in besonderer Weise für die Staaten der Dritten Welt. Ich weiß sehr wohl: Vielen Eltern fehlt selbst das Nötigste zum Überleben. Das ändert aber nichts daran, daß diesen Kindern ein schreiendes Unrecht angetan wird, und die elementaren Menschenrechte haben für sie leider keine Geltung.
Ich hoffe, daß die Kinderkonvention deutliche Fortschritte bringen wird. Auf Einzelvorschriften will ich hier jetzt nicht eingehen. Vielmehr will ich fragen: Welchen Fortschritt bringt die Kinderkonvention für uns? Die Situation von Kindern in Deutschland ist mit den Lebensumständen von Kindern in der Dritten Welt nicht vergleichbar. Kein Kind wird hier gezwungen, ab dem fünften oder sechsten Lebensjahr zu arbeiten, kein Kind wird hier von den Eltern weggegeben, weil sie es nicht ernähren könnten. Unsere Defizite liegen irgendwo anders. Wir vernachlässigen leider oft unsere Kinder. Wir Erwachsene in unserer Wohlstandsgesellschaft verfolgen zu häufig — ich habe es hier schon einmal gesagt — unsere eigenen Interessen, und wir achten auf die Bedürfnisse der Kinder zu wenig.
Für mich ist der Fortschritt, den die Kinderkonvention konkret für die Bundesrepublik bringt: Wir werden gleichsam wachgerüttelt aus unserer Ignoranz für die Sorgen und Nöte der Kinder. Allein das ist ein großer und wichtiger Erfolg. Lassen Sie es mich so sagen: Die Konvention kann, wird und hat bereits als Katalysator für Reformdiskussionen in der Bundesrepublik gedient, und zwar in gutem Sinn.
Ein Teil der Diskussion um diese Kinderkonvention ist, wie ich meine, ein wenig mißverständlich verlaufen. Es geht um die schon erwähnte völkerrechtliche Erklärung, die die Bundesrepublik bei der Ratifizierung hinterlegen wird. Notwendigkeit und Zweck dieser Erklärung sind mißverstanden oder manchmal vielleicht auch bewußt falsch aufgefaßt worden. Um



Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
es klar zu sagen: Die Bundesregierung will sich mit dieser Erklärung natürlich in keiner Weise von der Kinderkonvention distanzieren. Aber internationale Abkommen sind nun einmal häufig — das ist nicht der erste Fall, wie Sie wissen — in einer Sprache formuliert, die uns als Gesetzgeber Schwierigkeiten bereitet. Um das zu verhindern, sind in der Erklärung klarstellende Bemerkungen enthalten, die in engem Kontakt letztlich mit den Mitgliedern der Kinderkommission entstanden sind. Ebenso haben die Länder, deren Zustimmung nun einmal notwendig ist, der Neufassung zugestimmt. Nochmals: Wir können auf diese Erklärung nicht verzichten, und ich bitte Sie deshalb, dem SPD-Antrag nicht zuzustimmen. Es könnte dadurch der Eindruck entstehen, wir Deutsche zögerten, den Kindern die Rechte einzuräumen, die alle anderen Staaten für nötig und selbstverständlich halten. Ich meine, daß wir mit Nachdruck sagen können: Das Gegenteil ist der Fall.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Widerspruch bei der SPD)

Wir lassen uns und auch ich selber lasse mich nicht so leicht von jemandem übertreffen, wenn es um das Wohl der Kinder geht.

(Beifall bei der FDP — Lachen bei der SPD)

— Ich freue mich über Ihr Amüsement. — Herr Weiß, ich möchte Ihnen auch sagen, daß Sie mich in jedem einzelnen Fall, in dem Kinder hier Zuflucht suchen sollten und abgewiesen werden, an Ihrer Seite haben werden. Das sage ich Ihnen nachdrücklich und ausdrücklich zu.

(Konrad Weiß [Berlin] [Bündnis 90/GRÜNE]: Vielen Dank! — Zuruf von der SPD: Darauf kommen wir zurück!)

— Jawohl, gern, kommen Sie darauf zurück.
Die Arbeiten an einer umfassenden Reform des Kindschaftsrechts haben begonnen. Das Lebensschicksal der Kinder kommt oft unter die Räder, wenn sich Erwachsene streiten und nicht davor zurückschrecken, diesen Streit auf dem Rücken der Kinder auszutragen. Hier muß das Recht die Kinder schützen.
Für nichteheliche Kinder enthält das geschriebene Recht noch eine Vielzahl von Sonderregeln, die teilweise — wie etwa die völlige Verweigerung einer gemeinsamen elterlichen Sorge — verfassungswidrig sind. Das muß geändert werden. Es geht allerdings nicht nur darum, Verfassungswidrigkeiten zu beseitigen und — auch das ist ein wichtiges Ziel im Kindschaftsrecht — die durch den Einigungsvertrag leider noch nicht erreichte Rechtseinheit zu vollenden. Notwendig ist eine umfassende Überprüfung des Nichtehelichenrechts. Als Stichworte nenne ich: Abstammungsrecht einschließlich Ehelichkeitsanfechtung und Anfechtung der Vaterschaftsanerkenntnisse, Sorgerecht einschließlich der gesetzlichen Amtspflegschaft, Umgangsrecht, Unterhaltsrecht, Erbrecht, Verfahrensrecht.
Mein Ziel ist eine möglichst weitgehende Gleichstellung — soweit nur irgend möglich — der nichtehelichen mit den ehelichen Kindern. Wegen des sachlichen Zusammenhangs ist auch das Recht der ehelichen Kinder zu überprüfen. Ausdrückliche Regelungen über die Möglichkeit einer gemeinsamen elterlichen Sorge nach der Scheidung sind notwendig. Freilich, eine umfassende Prüfung des gesamten Kindschaftsrechts läßt sich nicht von heute auf morgen abschließen, und ich habe schon vor dem Familiengerichtstag vor 14 Tagen erklärt: Flickwerk und kurzatmige Lösungen sind in diesem Zusammenhang nicht denkbar.
Um die Arbeiten zu beschleunigen, habe ich eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe einberufen. Ich will, daß diese Arbeitsgruppe ihre Tätigkeit in der laufenden Legislaturperiode abschließt. Mein Ziel ist ein Gesetzentwurf. Ob es zunächst ein Diskussionsentwurf sein wird oder ob wir noch in dieser Legislaturperiode das Stadium parlamentarischer Beratungen erreichen werden, kann ich im Augenblick noch nicht abschließend sagen. Aber ich verspreche, daß ich mich zumindest energisch darum bemühen werde.

(Zuruf von der SPD: Wer sich bemüht — —!)

Ja, wer sich bemüht, den werden wir erlösen; ich hoffe es.

(Zuruf von der SPD: Wer immer strebend sich bemüht — —!)

Etwas macht mich ganz besonders betroffen: der Sex-Tourismus. Touristen aus wohlhabenden Industrienationen reisen in die Dritte Welt und vergehen sich an Kindern. Sechsjährige Mädchen, die zur Prostitution gezwungen werden, sind leider, leider keine Seltenheit. Diese Kinder werden gequält und geschändet. Und das Schlimmste: In vielen Fällen können die Täter in Deutschland — bisher zumindest — nicht bestraft werden.
Wir werden das ändern. Deutsche, die sich an Kindern vergehen, müssen bestraft werden können, gleichgültig, ob sie die Tat hier in der Bundesrepublik oder im Ausland begangen haben.

(Beifall bei der FDP, der SPD und beim Bündnis 90/GRÜNE)

Genauso verabscheuungswürdig — das wurde hier auch schon von anderer Seite zu Recht geäußert — ist die Kinderpornographie. Kinder vor laufender Kamera sexuell zu mißhandeln und zu mißbrauchen bringt den Tätern viel Geld. 400 Millionen DM im Jahr macht die „Branche", so schätzt das Bundeskriminalamt, 1 000 %Profit pro Band. Um hier etwas zu bewegen, müssen die Strafen deutlich verschärft werden.

(Beifall im ganzen Hause)

Ich komme zum Schluß. Ich habe erst gestern den Bericht meiner Beamten gelesen, die ich zum Bundeskriminalamt geschickt habe, um sich dort die beschlagnahmten Videos aus dieser BeschlagnahmeGroßaktion anzusehen. Sie waren, wie Sie wissen, bei einer polizeilichen Aktion Anfang Juni sichergestellt worden. Ich kann Ihnen nur sagen: Schrecklich, schrecklich und zutiefst erschütternd! Ich habe in meinem Leben selten so etwas Bedrückendes gelesen. Das allein wird mich veranlassen, im Kampf gegen Kinderpornographie nicht zu ruhen.
Die besten Gesetze nutzen aber nichts, wenn wir nicht einen Wandel in unserer Einstellung erreichen.



Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Lippenbekenntnisse bringen nichts. Wir müssen uns auch im täglichen Leben und im täglichen Umgang mit Kindern immer wieder daran erinnern, daß Kinder besondere Rücksicht und Fürsorge brauchen.
Auch unsere heutige Debatte sollte wieder Anstoß dafür sein, sich dieser Anforderung bewußt zu werden. Denn ich glaube: Eines der schlimmsten Dinge, die man Kindern antun kann, ist Gleichgültigkeit. Alles, was uns aus Gleichgültigkeit reißt, ist gut und muß gut sein. Ich bitte Sie deshalb, dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zuzustimmen.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205726000
Meine Damen und Herren, der nächste Redner ist unser Kollege Dr. Eckhart Pick.

Prof. Dr. Eckhart Pick (SPD):
Rede ID: ID1205726100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Verabschiedung des Gesetzes zur UNO-Konvention über die Rechte des Kindes müßte eigentlich Anlaß zu Zufriedenheit und Genugtuung sein. Das gilt mit Sicherheit uneingeschränkt für das Abkommen selbst.
Das gilt aber nicht, Herr Bundesminister, für die Art und Weise, wie die Bundesregierung das Verfahren begleitet hat. Ohne Not hat die Bundesregierung von Anfang an die Beratungen dadurch belastet, daß sie eine Erklärung bei der Hinterlegung der Ratifizierungsurkunde vorsah und noch immer vorsieht.

(Zuruf von der SPD: Und warum?)

Die ursprünglich vorgesehene Erklärung enthielt die Aussage, daß das Übereinkommen über die Rechte des Kindes ausschließlich Verpflichtungen der Staaten begründet. Das heißt, daraus sind keine unmittelbaren Ansprüche der Kinder oder der Bürgerinnen und Bürger begründet.
Darüber hinaus war eine ganze Reihe von Vorbehalten formuliert, die zum Ausdruck bringen sollten, daß das geltende deutsche Recht von der Konvention unberührt sei. Dieser Vorbehalt war im Grunde peinlich, weil er in der Sache nichts an der Wirkung der Konvention änderte, zum anderen aber politisch den Eindruck erweckte, als begegne die Bundesregierung der Konvention mit Vorbehalten. Es ist also umgekehrt, Herr Bundesminister: Die Bundesregierung und ihre Haltung haben dazu geführt, daß diese Mißverständnisse in der Öffentlichkeit offensichtlich weniger bei den Politikern, als vielmehr bei den interessierten Verbänden, wie ich betonen möchte, entstanden sind.

(Beifall bei der SPD)

Nun hat sich die Bundesregierung unter dem Eindruck der öffentlichen Debatte — ich glaube auch, unter dem Eindruck der Diskussion im Rechtsausschuß — in der Frage der Erklärung bewegt. Das wird von der SPD-Bundestagsfraktion auch positiv anerkannt. Die revidierte Erklärung enthält keine Vorbehalte mehr zu den Art. 2, 3, 5 und 9. Sie würdigt und begrüßt die Bedeutung der Konvention und stellt durchaus Reformbedarf hinsichtlich der Rechtsstellung des Kindes in unserer Gesellschaft fest.
Auf der anderen Seite glaubt die Bundesregierung, auf das Reklamieren eines Rechtes zur authentischen Interpretation nicht verzichten zu können. So äußert sie z. B. zu Art. 18 Abs. 1 des Abkommens, daß daraus nicht abgeleitet werden könne, daß das elterliche Sorgerecht in Fällen der Nichtheirat oder Scheidung bzw. Trennung automatisch im Einzelfall beiden Eltern zustünde.
Das ist ein Paradebeispiel dafür, wie sich die Bundesregierung verrannt hat. Erstens will niemand undifferenziert einen Rechtsanspruch aus der Konvention für eine solche Regelung herleiten. Zweitens gesteht sie im neuformulierten Eingangsteil der Erklärung ja ausdrücklich zu, daß das Recht der elterlichen Sorge reformbedürftig ist. Sie erklärt sich ja auch begrüßenswerterweise ausdrücklich zu diesem Vorhaben bereit. Die Frage lautet also: Was soll diese Erklärung überhaupt? Ist das ein Vorbehalt im Sinne des Art. 51 Abs. 1 der Konvention? Diese Frage ist nach meinem Eindruck im Ausschuß nicht beantwortet worden. Diese Erklärung stellt sich damit selber in Frage.
Ich habe den Verdacht, daß die Erklärung gar nicht so sehr den Sinn hat, zur Klärung im internationalen Bereich beizutragen. Sie hat vielmehr die Absicht, die Diskussion innerhalb der Bundesrepublik zu beeinflussen. Dafür, so finde ich, ist aber ein internationales Vertragswerk der ungeeignete Platz.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

Es ist kein Zufall, denke ich, daß gerade heute noch einmal die Familienverbände dringend gebeten haben, von einem Vorbehalt abzusehen. Dieses Verfahren hat auch dazu geführt, daß wir nicht gerade an der Spitze der Bewegung sind, an der Spitze derer, die diese Konvention gezeichnet und ratifiziert haben. Bis zum 21. 10. dieses Jahres, meine Damen und Herren, haben 141 Staaten gezeichnet, darunter auch die Bundesrepublik, und 100 haben bereits ratifiziert. Die Bundesrepublik ist also allenfalls der 101 Signatarstaat, und das, meine ich, ist nicht gerade ein Anlaß zum Jubeln, meine Damen und Herren. — „Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt", um auch hier die Literatur zu zitieren.

(Zuruf von der SPD: So sind sie nun mal!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die von uns eingebrachte Entschließung ist die Antwort auf den untauglichen Versuch der Bundesregierung, die Bedeutung dieser Konvention zu relativieren. Der Antrag der Koalitionsfraktionen, der leider nicht so weitgehend ist wie unser Antrag, zeigt ja, finde ich, daß auch die Koalitionsfraktionen nicht gerade glücklich sind — um es einmal vornehm zu formulieren — mit der Haltung der Bundesregierung; sonst bedürfte es ja wohl nicht einer solchen Entschließung des Bundestags.
Ich sage noch einmal ganz deutlich: Wir begrüßen uneingeschränkt die UNO-Konvention. Wir fordern einen Bericht der Bundesregierung zur Überprüfung unserer Rechtsordnung auf der Grundlage der Konvention. Das ist schon ausgeführt worden; ich kann es mir ersparen, die Einzelheiten vorzutragen. — Wir erwarten also eine Anpassung der Normen unserer



Dr. Eckart Pick
Rechtsordnung, wo es notwendig ist. Wir hätten es gern gesehen, daß die Bundesregierung auf eine mißverständliche Erklärung bei der Ratifikation verzichtet hätte.
Wir bitten Sie, meine Damen und Herren, unserem Antrag zuzustimmen, zumal auch deshalb, weil er die Bundesregierung auch noch unter einen gewissen zeitlichen Druck setzt, diese Überprüfung unserer Rechtsordnung vorzunehmen. Wir werden der Konvention zustimmen. — Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205726200
Kollege Herbert Werner, Sie sind der nächste Redner in dieser Runde. Ich erteile Ihnen das Wort.

Herbert Werner (CDU):
Rede ID: ID1205726300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Irgendwie — den Eindruck habe ich — läuft hier etwas quer; denn als ich soeben Sie, Kollege Pick, gehört habe, konnte ich eigentlich kaum glauben, daß Sie als Berichterstatter im Rechtsausschuß an der einstimmigen Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs mitgewirkt haben,

(Dr. Eckhart Pick [SPD]: Dann haben Sie nicht zugehört!)

in Kenntnis der beigefügten Erklärung der Bundesregierung — dies ist die modifizierte Erklärung — , der Sie im zweiten Teil Ihrer Ausführungen im Grunde nichts Wesentliches entgegengestellt haben.
Zum zweiten muß man folgendes anmerken: Wenn Sie monieren, daß seit der Einbringung im November bis jetzt Zeit über die Bühne gegangen ist, dann ist dies auch ein Ergebnis der Tatsache, daß die Parlamentarier, nicht zuletzt die Kinderkommission, aber selbstverständlich auch Sie, die Damen und Herren im Rechtsausschuß, sich gemeinsam mit dem Haus bemüht haben, die ursprüngliche Fassung der Erklärung zu verändern, in einem Sinne, daß deutlich gemacht wird, daß die Bundesregierung die zukunftsweisende Richtung dieser Konvention tatsächlich als solche sieht und sie konkret Schritt für Schritt in nationales Recht umsetzen möchte.
Ich möchte zum dritten folgendes anfügen, Herr Pick: Es waren ja wohl nicht zuletzt auch die SPD-Länder — das möchte ich hier einmal sagen —,

(Wolfgang Mischnick [FDP]: Sehr richtig! — Nobert Eimer [Fürth] [FDP]: Ganz genau! So war es!)

die selbst gegen die ursprüngliche Erklärung nichts einzuwenden hatten, gegen die dann allerdings wir als Parlamentarier unsere Einwände vorgebracht haben.
Ich möchte zum vierten sagen, daß ich in all dem Hin und Her dem Bundesjustizminister für seine kooperative Haltung und auch seinem Haus insgesamt für die enge Zusammenarbeit gerade bei diesem Werk danken möchte. Ich finde es eigentlich schlecht, daß wir eine solche Konvention jetzt zum Anlaß nehmen — auch ich habe sie jetzt leider zum Anlaß nehmen müssen — , uns in parteipolitische Auseinandersetzungen hineinzubegeben.
Es geht bei dieser Erklärung um eine Staatenverpflichtung, die zum Ziel hat, weltweit zunächst einmal ein nach Möglichkeit gleiches Niveau der Rechte der Kinder herbeizuführen, nicht nur Sorge dafür zu tragen, daß die Grundversorgung und die Grundbedürfnisse gedeckt werden, sondern auch dafür, daß ein umfassendes Recht der Kinder in den jeweiligen nationalen, innerstaatlichen Rechtssphären geschaffen wird.
Dieses Recht muß, wenn auch nicht völlig einheitlich, in den Eckpositionen weitgehend vergleichbar sein, in den Eckpositionen der Freiheit, der Entfaltung der Anlagen des Kindes, der besonders herausragenden Verantwortung und Verpflichtung der Eltern für das Kind, der Rechtssicherheit auch des Kindes und in der Eckposition, daß wir weltweit darangehen müssen, den Kindern ein Optimum an Entfaltungs- und Entwicklungschancen auch im kulturell-geistigen Bereich zu verschaffen. Dies ist der erste Ansatzpunkt, meine Damen und Herren.
Der zweite ist, daß wir uns fragen müssen: In welchen Bereichen haben wir daraus die Konsequenz einer Veränderung innerstaatlichen Rechts zu ziehen? Der Bundesjustizminister hat heute hier deutlich gemacht, daß er willens ist, daranzugehen, ausarbeiten zu lassen, welche Gesetze in welcher Hinsicht im innerstaatlichen Recht verändert werden müssen. Ich bin ihm besonders dankbar, daß er hier die klare Aussage gemacht hat, auch das elterliche Sorgerecht und das Kindschaftsrecht als Ganzes einer grundlegenden Novellierung zuzuführen, in deren Mittelpunkt das Kindeswohl und nicht die Interessen irgendeiner gesellschaftlichen Gruppe steht. Das Kindeswohl hat auch Vorrang vor den Interessen des einen oder anderen Elternteiles, denn der Minister hat vorhin mit Recht darauf hingewiesen, daß allzuoft dort, wo nach innerstaatlichem Recht Konflikte ausgetragen werden, diese Konflikte zwischen Elternteilen auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden. Dies wollen wir verändern.
Wir wollen zum dritten den Staat aus seiner besonderen Obhutspflicht und Schutzverpflichtung für die Kinder nicht herausnehmen, sondern diese Verpflichtung verstärken und intensivieren. Deswegen brauche ich hier nur noch stichwortartig anzusprechen: Kampf gegen Kinderhandel, der gerade in den letzten Wochen bekannt wurde, Kampf gegen Kinderpornographie und sexuellen Mißbrauch von Kindern, aber auch Kampf gegen entwürdigende Erziehungsmethoden — da sind wir als Eltern, als Lehrer, als alle jene, die in der Gesellschaft Verantwortung tragen, gefordert — , Kampf gegen entwürdigende Erziehungsmaßnahmen und entwürdigende Strafe, die in unserer Gesellschaft noch allzuoft vorkommt, und auch Kampf gegen die noch immer bestehende Chancenungleichheit bestimmter Gruppen in dieser Gesellschaft und damit auch der Kinder in diesen Gruppen.
Ich möchte nur darauf hinweisen, daß es für uns noch immer der Ausnahmefall ist, daß Gemeinden die kinderfreundliche Stadt planen wollen. Die Regel ist leider noch immer, daß nach Schubladendenken geplant wird und nicht von vornherein z. B. die beson-



Herbert Werner (Ulm)

deren Interessen der Kinder und der Famillien in die Planungen einbezogen werden.

(Zuruf des Abg. Otto Schily [SPD])

Noch ein Letztes, Herr Schily, wenn Sie schon zwischenrufen: Ich glaube, wir alle sind gerufen, Schluß damit zu machen, überall dort wegzusehen, wo Kindern Unrecht angetan wird. Vielmehr sollten wir dort mutig unsere Stimme erheben. Deswegen begrüßen wir die Absicht des Bundesministers der Justiz, dieses Kindschaftsrecht umfassend zu verändern.
Ich möchte zum Schluß nur noch sagen: Es würde mich freuen, meine Damen und Herren von der SPD, wenn Sie doch noch bereit wären, unserem Entschließungsantrag zuzustimmen. Ich fände es schade, wenn auf Grund Ihres Antrages, nachdem Sie eigentlich der Anlage im Rechtsausschuß Ihr positives Votum gegeben haben, hier jetzt ein Zerrbild entstehen würde.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205726400
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Norbert Eimer das Wort.

Norbert Eimer (FDP):
Rede ID: ID1205726500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stehen heute vor der Ratifizierung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes, also dem Grundrechtskatalog für Kinder. Damit wird die Kinderkonvention auch für die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich verbindlich. Von ihr sind vor allem die Länder der Dritten Welt betroffen; diese Länder müssen auch am meisten tun. Für sie kostet es viele Anstrengungen und viel Geld, die Forderungen dieser Konvention zu verwirklichen.
Die Bundesrepublik Deutschland ist nur in sehr wenigen Bereichen betroffen. Viele Forderungen sind bei uns erfüllt. Ein Bereich, in dem auch wir angesprochen werden, nämlich das Sorgerecht — ich muß mich aus Zeitgründen leider auf dieses Thema beschränken — , ist für uns besonders peinlich. Abgesehen davon, daß alle europäischen Nachbarn ein sehr viel moderneres und humaneres Sorgerecht haben, hat uns das Verfassungsgericht in zwei Urteilen verpflichtet, unsere Gesetze zu ändern, weil unser derzeitiges Recht gegen die Verfassung verstößt.
Ausgerechnet da wollen einige Bundesländer eine einschränkende Erklärung erzwingen. Dieser Vorbehalt kam von einigen Bundesländern wegen des sogenannten Lindauer Abkommens, und er konnte von der Bundesregierung verlangt werden. In der ursprünglichen Form war die Erklärung weder für mich noch für die Mitglieder der Kinderkommission akzeptabel. Sie hätte uns auch außenpolitisch blamiert. Diese Erklärung konnte aber Gott sei Dank verändert werden.
Wenn heute die SPD fordert, daß die Bundesregierung überhaupt keine Erklärung abgeben soll und die UNO-Kinderkonvention ohne Einschränkung ratifizieren soll, so ist dies unehrlich. Auch die SPD-regierten Länder haben uns in Schreiben mitgeteilt — ich selber habe sie alle angeschrieben —, daß sie auf einer Erklärung bestehen. Ohne die Zustimmung aller
Bundesländer können wir die Konvention nicht ratifizieren.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das hat doch gar nichts damit zu tun, was wir für eine Auffassung vertreten wollen!)

— Das wissen Sie auch, Herr Schmidt. Sie wissen, daß dies nicht anders möglich ist.
Bestand der ursprüngliche Text nur aus dem Vorbehalt, so steht heute in der Erklärung der Bundesregierung im Vordergrund, daß die Kinderkonvention nicht nur begrüßt wird, sondern daß sie auch schnell in deutsches Recht umgesetzt werden soll. Nach diesem Text wird deutlich, daß der Vorbehalt unter II, auf den die Bundesländer, wie gesagt: auch die SPD-regierten, nicht verzichten wollten, nur für den Übergang gedacht ist, bis der Gesetzgeber, also wir, die notwendigen Gesetze geändert hat.
Besonders dankbar bin ich dem Bundesminister Dr. Kinkel, der durch sein Engagement und seinen Einsatz bewirkt hat, daß eine Änderung zum Positiven erreicht wurde.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Obwohl auch mir es lieber wäre, wenn die Punkte II 1. a, b und c nicht enthalten wären, bin ich der Meinung, wir sollten heute die UNO-Kinderkonvention so ratifizieren; denn wichtiger noch als die Konvention ist die Änderung der Gesetze, vor allem des Sorgerechts.
Wer sich intensiv damit beschäftigt, wird schnell feststellen, welche Berge von Elend es hier gibt. Um so dankbarer bin ich den Familienrichtern und unserem Justizminister; denn ohne diese Unterstützung wäre eine Änderung nicht möglich gewesen.
Meine Damen und Herren, leider blinkt schon das rote Licht; ich muß zum Ende kommen. Ich bin mir bewußt, daß nicht alles in dieser Legislaturperiode rechtzeitig abgeschlossen werden kann. Aber der Kernpunkt, die Frage nach einem gemeinsamen Sorgerecht, muß in dieser Legislaturperiode möglichst schnell verwirklicht werden. Wir können es uns nicht mehr leisten, noch länger das Elend so vieler Kinder hei Scheidungen hinzunehmen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205726600
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir stimmen zunächst über den Antrag der Fraktion der SPD zur Ratifizierung der UNO-Konvention über die Rechte des Kindes auf Drucksache 12/1547 ab. Wer stimmt für diesen Antrag? — Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes auf Drucksache 12/42. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/1535, den Gesetzentwurf in Kenntnis der als Anlage beigefügten Erklärung, die von der Bundesregierung bei der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde abzugeben beabsichtigt ist, unverändert anzunehmen. Ich



Vizepräsident Helmuth Becker
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Die Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Dann ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 12/1579. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Gruppe PDS/Linke Liste und der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE ist dieser Entschließungsantrag angenommen.
Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 7 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Übertragung der Aufgaben der Bahnpolizei und der Luftsicherheit auf den Bundesgrenzschutz
— Drucksache 12/1091 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuß)

— Drucksache 12/1537 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Clemens Günter Graf
Dr. Burkhard Hirsch
b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 12/1538 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Deres
Ina Albowitz
Rudolf Purps

(Erste Beratung 41. Sitzung)

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sollen die Redebeiträge zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll gegeben werden, und zwar völlig unabhängig davon, daß der Berichterstatter um das Wort gebeten hat. Sind Sie mit dieser Abweichung von der Geschäftsordnung einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das beschlossen. *)
Nunmehr hat zunächst unser Kollege Joachim Clemens als Berichterstatter das Wort.

Joachim Clemens (CDU):
Rede ID: ID1205726700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der der Beschlußempfehlung beigefügten Zusammenstellung ist in Art. 2 die Nr. 3 ausgelassen worden. Die einzige Änderung gegenüber dem § 29d des Regierungsentwurfs besteht darin, daß in Abs. 4 nach Satz 2 folgender Satz 3 noch angefügt werden muß: „§ 161 der Strafprozeßordnung bleibt unberührt."
Das ist die Änderung. Ich bitte, dies mit aufzunehmen und dann entsprechend zu beschließen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205726800
Vielen Dank, Kollege Clemens.
*) Anlage 2
Wir kommen damit gleich zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 12/1091 und 12/1537, und zwar mit den jetzt vom Kollegen Clemens vorgetragenen Änderungen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, urn das Handzeichen. — Die Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Dann ist dieser Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen nunmehr zur
dritten Beratung
und zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Bei Stimmenthaltung des Kollegen Ullmann ist dieser Gesetzentwurf angenommen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c sowie die Zusatzpunkte 6 und 7 auf:
8. Beratungen ohne Aussprache
a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zweiten Zusatzprotokoll vom 21. Mai 1991 zum Abkommen vom 16. Juni 1959 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie verschiedener sonstiger Steuern und zur Regelung anderer Fragen auf steuerlichem Gebiete
— Drucksache 12/1241 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des
Finanzausschusses (7. Ausschuß)

— Drucksache 12/1560 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Renate Hellwig
bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 12/1561 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Adolf Roth (Gießen) Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Helmut Wieczorek (Duisburg)

(Erste Beratung 50. Sitzung)

ZP6 Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes über die Errichtung und das Verfahren der Schiedsstellen für Arbeitsrecht und zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes
— Drucksache 12/1483 — Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuß)

— Drucksache 12/1551 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Engelmann

(Erste Beratung 54. Sitzung)




Vizepräsident Helmuth Becker
ZP7 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu der Verordnung der Bundesregierung
Aufhebbare Sechzehnte Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung
— Drucksachen 12/990, 12/1517 — Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Hermann Schwörer
8. b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr (16. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission: Bericht über die Möglichkeit einer Gruppenfreistellung für Konsortialverträge in der Linienschiffahrt
Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates über die Anwendung des Artikels 85 Abs. 3 des Vertrags auf bestimmte Gruppen von Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen zwischen Seeschiffahrtsunternehmen
— Drucksachen 12/210 Nr. 170, 12/1219 — Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Rolf Niese
c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petititonsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 37 zu Petitionen
— Drucksachen 12/1486 —
Wir kommen zunächst zu Tagesordnungspunkt 8 a. Wir stimmen ab über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum Abkommen mit dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf Drucksache 12/1241.
Der Finanzausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/1560, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Dann ist dieser Gesetzentwurf einstimmig angenommen.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über Zusatzpunkt 6 der Tagesordnung, und zwar über den von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes über die Errichtung und das Verfahren der Schiedsstellen für Arbeitsrecht und zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes auf Drucksache 12/1483.
Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 12/1551, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Dann ist dieser Gesetzentwurf bei einer Stimmenthaltung aus der Gruppe PDS/Linke Liste in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. — Die Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei einer Stimmenthaltung aus der Gruppe PDS/Linke Liste ist dieser Gesetzentwurf angenommen.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über Punkt 8 b der Tagesordnung. Wir stimmen ab über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr auf Drucksache 12/1219 zu einem Vorschlag der EG zur Freistellung von Konsortien in der Linienschiffahrt vom Kartellverbot. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Bei zwei Gegenstimmen aus der Gruppe PDS/ Linke Liste ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Wir stimmen jetzt ab über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 12/1517 betreffend die Aufhebbare Sechzehnte Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung. Der Ausschuß empfiehlt, die Aufhebung der Verordnung von der Bundesregierung nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Dann ist das einstimmig so beschlossen.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über Punkt 8 c der Tagesordnung. Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 12/1486 ab. Das betrifft die Sammelübersicht 37 zu Petitionen. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe und Stimmenthaltungen erübrigen sich; die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe nunmehr Punkt 9 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege
— Drucksache 12/1217 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß (federführend)

Innenausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. Erhebt sich Widerspruch? — Ich stelle fest, das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Eckhart Pick das Wort.

Prof. Dr. Eckhart Pick (SPD):
Rede ID: ID1205726900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Aufbau des Rechtsstaates in den neuen Bundesländern stellt eine der wesentlichen Aufgaben dar, die sich der Politik derzeit stellen. Nach fast 60 Jahren Diktatur und Willkür auf dem Gebiet der ehemaligen DDR muß alles daran gesetzt werden, um das Vertrauen der Menschen in rechtsstaatliches Handeln zu stärken. Nicht zuletzt die Sehnsucht nach Schutz vor staatlicher Willkür durch eine unabhängige Justiz und die Forderung nach rechtsstaatlicher Kontrolle staatlicher Macht, und zwar auf allen Ebenen, waren eine wesentliche Triebfeder der friedlichen Revolution durch die Menschen in der ehemaligen DDR. Sie wollten die radikale Abkehr von Dikta-



Dr. Eckhart Pick
tur und Unrecht, und sie wollten die Hinwendung zu Recht und Gerechtigkeit nach unseren Maßstäben.
Was sie aber nicht wollten, ist ein Abbau rechtsstaatlicher Garantien unter dem Vorwand der Entlastung der Justiz. Dafür sind die Menschen nicht auf die Straße gegangen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Deshalb tragen wir eine große Verantwortung dafür, daß sich nicht auch auf diesem Gebiet Enttäuschung breitmacht. Wir können es uns angesichts der Angriffe auf ausländische Mitbürger und der Frage nach der angemessenen Reaktion des Rechtsstaates nicht leisten, meine Damen und Herren, daß an der Wirksamkeit und der Wehrhaftigkeit der rechtsstaatlichen Ordnung Zweifel aufkommen.
Zum Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse gehört neben wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fortschritten unabdingbar die Entwicklung einer wirksamen Infrastruktur im Bereich der Rechtspflege. Hierzu zählt die SPD neben anwaltlicher und notarieller Beratung die Errichtung einer entsprechenden Zahl von Gerichten mit der erforderlichen personellen und sachlichen Ausstattung. An diesen Ansprüchen haben wir auch den Gesetzentwurf des Bundesrates zur Entlastung der Rechtspflege zu messen.
Es ist heute nicht die Stunde, sich mit allen Einzelheiten dieses Vorschlags zu befassen. Das wird der Bundestag, wird der Rechtsausschuß gewiß tun. Es geht heute darum, sich mit den Grundzügen der Initiative zu beschäftigen und eine erste Einschätzung zu formulieren.
Die erste Einschätzung lautet — und die ist ohne eine Wertung hinsichtlich der Geeignetheit der Vorschläge — : Würde der Entwurf, so wie er vorliegt, Wirklichkeit werden, wäre das die einschneidendste Reform der Verfahrensordnungen seit Erlaß der Justizverfahrensgesetze im Jahre 1877. Schon diese Tatsache zeigt, daß die Vorschläge gut überlegt sein wollen.
In seiner Zielsetzung weist der Entwurf auf die „besondere Belastung der Justiz im geeinten Deutschland" hin und stellt fest, daß der „Aufbau einer funktionierenden ... Justiz ... zusätzliche finanzielle und personelle Mittel" erfordere. Das ist eine eher selbstverständliche Feststellung, meine Damen und Herren. Denn alle Aufbauarbeiten in den neuen Bundesländern kosten nun mal Geld. Warum sollte das ausgerechnet bei der Justiz anders sein?
Das eigentliche Problem besteht aber bei der Justiz in den fehlenden personellen Voraussetzungen, den fehlenden Richterinnen und Richtern und dem sonstigen Justizpersonal. Als Problemlösung bietet der Entwurf „zentrale Verfahrensvereinfachungen und -verbesserungen in der Zivil-, Straf-, Sozial-, Verwaltungs-und Finanzgerichtsbarkeit" an, mit dem Ziel, frei gewordene Kapazitäten in die neuen Bundesländer zu verlagern: einerseits Entlastung in den alten Bundesländern, andererseits Personaltransfer in die neuen. Das hört sich zunächst zumindest plausibel an.
In der Begründung wird auf Seite 50 ff deshalb vor allem auf den Mangel an Richtern und Staatsanwälten in den neuen Bundesländern hingewiesen. Wie dieses Defizit in der Aufbau- und Übergangsphase ausgeglichen werden soll, wird allerdings nicht gesagt, weil wohl die durchaus gute — auch in qualitativer Hinsicht — Bewerberlage in Justiz und Verwaltung der neuen Länder nicht mehr zu übersehen ist. Das ist dem Rechtsausschuß aus den neuen Bundesländern überall bestätigt worden.
Man sieht bei den Entwurfsverfassern das Allheilmittel „vor allem in einer Beschränkung des sehr großzügigen Angebots an Rechtsmitteln, in einer Erweiterung der Zuständigkeit des Einzelrichters und in einer Einrichtung der Besetzung der Spruchkörper". Das findet sich auf Seite 53 der Begründung. Das böse Wort vom Rechtsmittelstaat wird zwar nicht ausgesprochen. Aber es muß doch hellhörig machen, wenn von „großzügig" die Rede ist, als sei das eine Gnade des Staates.
Mit diesen Vorschlägen, meine Damen und Herren, wird aber noch keine einzige zusätzliche Richterstelle in die neuen Bundesländer geleitet.

(Detlef Kleinert [Hannover] [FDP]: Sehr richtig!)

Wir wissen, daß dies regelmäßig nur freiwillig möglich ist. Ich verweise auf Art. 97 des Grundgesetzes und auf die engen Voraussetzungen des § 31 des Richtergesetzes. Das kann auch nur mit finanziellen und beförderungsmäßigen Ausgleichen ermöglicht werden.
Dies geschieht allerdings schon jetzt, unabhängig von dieser Initiative, in erfeulichem Umfang.

(Beifall des Abg. Detlef Kleinert [Hannover] [FDP])

Ich sage ganz betont: Die alten Bundesländer — das sei an dieser Stelle besonders dankbar vermerkt — haben trotz eigener personeller Engpässe Hunderte von Richterinnen und Richtern und Staatsanwälten und Staatsanwältinnen ermuntert, sich der Aufgabe des Aufbaus in den neuen Bundesländern zu stellen. Dafür gebührt den Ländern, besonders aber auch diesem Personenkreis Dank und Anerkennung.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Der Entwurf, meine Damen und Herren, verliert kein Wort darüber, daß das eigentliche Problem, übrigens auch in den alten Bundesländern, im Fehlen des personellen und sachlichen Unterbaus besteht. Ich denke daran, daß Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger, Verwaltungspersonal, Räumlichkeiten und Ausstattungen fehlen. Dies wird durch die Vorschläge nicht, auch nicht ansatzweise, einer Lösung zugeführt.
Die Initiative übergeht auch die Tatsache, daß Justiz nicht nur eine Frage der Gerichte ist, sondern unabdingbar auch mit qualifizierter Beratung durch Anwaltschaft und Notariat verbunden sein muß. Ich erlaube mir die Bemerkung, daß in der Sache zuständig für Änderungen des Verfahrens- und Gerichtsverfassungsrechts der Bundesgesetzgeber in Gestalt des Bundestages ist — gemäß Art. 74 Nr. 1 in Verbindung mit Art. 72 des Grundgesetzes. Dem Bundesrat — das



Dr. Eckhart Pick
sei hier betont — steht insoweit nur ein Initiativrecht, aber keine Entscheidung über die Gesetzesmaterie zu.
Um so befremdlicher, meine Damen und Herren, ist der von der Mehrheit des Bundesrates eingeschlagene Verfahrensweg. Es hat weder eine öffentliche Diskussion noch eine qualifizierte interne Anhörung der Betroffenen stattgefunden. Die Klagen der involvierten Verbände klingen uns noch in den Ohren. Dieses von der Öffentlichkeit mit Recht kritisierte Geheimverfahren darf in der Beratung durch den Bundestag keine Fortsetzung erfahren; denn ich finde, da gibt es nichts zu verheimlichen. Die SPD wird eine der Bedeutung des Gesetzesvorhabens angemessene öffentliche Debatte und eine ausführliche Anhörung im Rechtsausschuß des Bundestages beantragen.
Dabei wird die SPD nicht nur ihre Kritik am Entwurf und die Ablehnung der meisten Vorschläge deutlich machen, sondern weiterführende Vorschläge zur Diskussion stellen. Schon von daher hat die Bundesratsinitiative immerhin einen positiven Aspekt.
Wichtig erscheint, die derzeitige Situation der Rechtspflege in den alten und neuen Bundesländern zum Anlaß zu nehmen, über echte Strukturreformen nachzudenken und sie auch durchzusetzen, übrigens auch unter dem Gesichtspunkt des Versuchs, die Qualität der Rechtspflege zu heben. Das, meine ich, ist eine Daueraufgabe, der wir uns zu stellen haben.
Zu unseren Vorschlägen, die wir einbringen und zur Diskussion stellen werden, gehören beispielsweise: der Gesichtspunkt Beförderung der außergerichtlichen Streitbeilegung. Wir denken hier nicht nur an Schiedspersonen, sondern generell an eine qualifizierte Beratung. Wir wissen, daß die Tätigkeit der Anwälte übrigens dazu führt, daß rund 70 % aller Streitigkeiten überhaupt nicht gerichtshängig werden. Diese außergerichtliche Streitbeilegung begrüßen wir.
Wir wollen auch das Ordungswidrigkeitenrecht durchforsten und über eine Straffung der Verfahren nachdenken, auch über eine Verknüpfung von Straf- und Zivilverfahren. Das bisherige Adhäsionsverfahren ist ja alles andere als besonders attraktiv.
Wir wollen ferner, meine Damen und Herren, über die Aktivierung der Binnenreserven in der Justiz diskutieren. Darunter verstehen wir eine verbesserte Anwendung der EDV. Ich habe nachgelesen, daß bereits 1970 der damalige Bundesjustizminister Jahn gefordert hat, daß sich die Rechtspflege, insbesondere die Gerichte der EDV bedienen sollten. Ich habe den Eindruck, daß das noch nicht überall durchgängig praktiziert wird.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: In Bayern haben wir das aber schon, Herr Kollege!)

— Es gibt Ausnahmen, Herr Geis, ich erkenne das an, übrigens auch in Rheinland-Pfalz, worauf ich als Rheinland-Pfälzer einmal hinweisen darf. Ich finde, in diesem Bereich ist der Wettbewerb besonders angebracht; wenn es solche Ergebnisse gibt, begrüßen wir sie alle gemeinsam.
Ich denke, daß auch die Auswertung der Strukturanalyse — die Aufgabe, der sich das Justizministerium
mit dankenswerter Energie stellt — hier einbezogen werden muß, denn ich hielte es für unerklärlich, wenn wir diese Ergebnisse nicht aufbereitet in die Diskussion einbringen könnten. Wir wollen dann auch auf der Grundlage abgesicherter Erkenntnisse handeln. Auch dies ist übrigens ein Manko des Entwurfes, daß er relativ wenig quantifiziert. Ich habe der Stellungnahme der Bundesregierung entnommen, daß sie versucht, in ihrer Stellungnahme zumindest dieses Defizit zum Teil auszugleichen.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Herr Kollege, es ist ein Notgesetz!)

Im übrigen sollten wir die Erfahrungen aus dem Rechtspflegevereinfachungsgesetz vom 17. Dezember des letzten Jahres einbeziehen.
Ich empfinde es zumindest als merkwürdig, wenn wir beispielsweise schon über eine Erhöhung der Streitwertgrenze nachdenken sollen — das Gesetz ist zum Teil erst zum 1. April dieses Jahres in Kraft getreten — , ohne daß wir wissen, wie sich die letzte Erhöhung ausgewirkt hat, und welche Art von Prozessen dadurch betroffen ist. Denn erst dann können wir unsere Schlüsse ziehen. Ich denke, es ist auch eine gewisse Zumutung für den Gesetzgeber, wenn er bereits nach einigen Monaten — ohne daß Erfahrungen vorliegen — über eine Gesetzesänderung nachdenken soll.
Für uns ist auch wichtig, meine Damen und Herren, daß wir die Stellung der Eingangsgerichte durch qualitätssteigernde Maßnahmen verstärken. Die Akzeptanz der erstinstanzlichen Entscheidungen ist wichtig, denn hier könnte natürlich ein Entlastungseffekt eintreten, wenn nicht in jedem Fall zu Rechtsmitteln gegriffen würde.
Wir wollen auch mit den Fachleuten, mit den Verbänden über die Frage diskutieren, ob wir mit einer Dreistufigkeit des Gerichtsaufbaus weiterkommen; ich weiß, daß das keine neue Diskussion ist, sondern daß sie schon vor einigen Jahren stattgefunden hat, aber ich finde, wir wollen dies zumindest bedenken.
Die SPD ist bereit, in einen Dialog mit all denen einzutreten, die an der Fortentwicklung unseres Rechtsstaats ein Interesse haben. Die Entlastung von Unwesentlichem ist dabei eingeschlossen, die Abkehr von rechtsstaatlichen Errungenschaften allerdings nicht.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/ GRÜNE, der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der FDP)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205727000
Ich erteile jetzt dem Kollegen Norbert Geis das Wort.

Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1205727100
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Justizgewähranspruch hat bei uns Verfassungsrang; das ergibt sich aus Art. 19 Abs. 4 GG — Verletzungen durch die öffentliche Gewalt — , das ergibt sich aber auch aus allgemeinen Verfassungsgrundsätzen für den zivilen Bereich.



Norbert Geis
Unser Rechtsstaat wäre aber das Papier nicht wert, auf dem die Gesetze geschrieben sind, wenn es nicht unabhängige Gerichte gäbe, die das Recht für den konkreten Einzelfall feststellen und durchsetzen. Feststellen und Durchsetzen heißt aber nicht, daß nun jeder Rechtsfall vor einem Richterkollegium geführt und von ihm entschieden werden müßte. Festsetzen und Durchführen heißt aber, daß der Rechtsuchende so bald als möglich sein Recht erhält und nicht durch einen langen Zug durch die Instanzen daran gehindert wird, möglichst schnell zu seinem Recht zu gelangen.
Der vom Bundesrat vorgelegte Gesetzentwurf zur Entlastung der Rechtspflege widerspricht diesen verfassungsrechtlichen Grundsätzen nicht. Die Behauptung, durch dieses Gesetz würde der Justizgewähranspruch in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise gefährdet, ist falsch.
Diese Vorverurteilung des Entwurfs durch manche Verbände, aber auch durch manche Rechtsexperten aus diesem Haus — nicht von Ihnen, Herr Pick — wird der Sache nicht gerecht. Äußerungen wie, es drohe eine schwere Verwerfung unseres Rechtssystems, oder, es gehe um qualitative Einschnitte in unsere Rechtspflege, oder gar die Behauptung, mit diesem Entwurf würde die Axt an die Wurzel unseres Rechtsstaats gelegt, sind weit von der Wirklichkeit entfernt. Sie tragen nur zur Verwirrung bei und werden vor allem nicht dem zentralen Anliegen des Entwurfs gerecht, nämlich dem Anliegen, für den Aufbau der Justiz in den neuen Bundesländern einen wirksamen Beitrag zu leisten.
Es kann kein Zweifel bestehen, daß die Justiz in den alten Bundesländern starken Belastungen ausgesetzt ist. Ebenso kann kein Zweifel bestehen, daß sich die Gerichtsbarkeit in den neuen Bundesländern in einem desolaten Zustand befindet.
In den alten Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland wurde und wird — das muß man bedenken — gern prozessiert. So liegt beispielsweise die Zahl der eingelegten Berufungen in der Bundesrepublik viermal so hoch wie die in Belgien und in den Niederlanden. Auch im strafgerichtlichen und verwaltungsgerichtlichen, im arbeits- und sozialgerichtlichen Bereich ist die Belastung der Justiz kontinuierlich gestiegen, und sie steigt weiter. Der auf uns zukommende Binnenmarkt und die offenen Grenzen zu den östlichen Ländern werden diese Belastung noch weiter anwachsen lassen.
Angesichts dieser Belastung sind die Länder und der Bund nicht untätig geblieben. Die Maßnahmen, Herr Pick, reichen von Personalmehrung — zumindest von Bayern weiß ich das — über die Verbesserung der Arbeitsorganisation — das haben wir schon in einem Zuruf erwähnt — bis hin zur Vermeidung von unnötigen Verfahren und zur Vereinfachung des Gerichtsverfahrens.
So erprobt man beispielsweise in Bayern Schlichtungsstellen in Zivilsachen. Auch wenn diese Schlichtungsstellen noch nicht so richtig angenommen werden, so sind sie doch, meine ich, ein Weg, einen Beitrag zur Vereinfachung zu leisten.
Weiter hat man — auch hier im Bundestag — sehr großen Wert auf eine Vereinfachung des Prozeßablaufs gelegt. So hat das Rechtspflegevereinfachungsgesetz, das am 1. April dieses Jahres in Kraft getreten ist, zweifellos zu einer gewissen Entlastung der Zivilgerichtsbarkeit geführt bzw. wird dazu führen. Das gilt auch für die verschiedenen Entlastungsmaßnahmen im strafprozessualen Bereich.
Sicher ist auch die dankenswerterweise vom Justizministerium erstellte Strukturanalyse der Rechtspflege, die von Ihnen erwähnt worden ist, von allergrößter Bedeutung für eine langfristige rechtspolitische Entscheidung zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege in unserem Land.
Diese Entlastungsbemühungen in der letzten und auch in dieser Legislaturperiode hatten samt und sonders einen Abbau der Belastung der Justiz in den alten Bundesländern zum Ziel. Es geht jetzt darum, weitere Entlastungen zu schaffen, um einen größeren Spielraum für den Aufbau der Justiz in den neuen Bundesländern zu gewinnen. Um die Stellen dort besetzen zu können, nützt es wenig, im Westen nach arbeitslosen Juristen zu suchen. Benötigt werden vor allem berufserfahrene Richter und Staatsanwälte aus den alten Bundesländern. Die in den alten Bundesländern arbeitenden Richter sind bereit, in den östlichen Teil unseres Vaterlandes, in die neuen Bundesländer, zu wechseln. Und die Länder sind bereit, sie abzustellen, wenn eine Möglichkeit geschaffen wird, daß die Rechtspflege bei ihnen deswegen nicht allzu sehr beeinträchtigt wird.
Vor diesem Hintergrund ist das vorgelegte Justizentlastungsgesetz zu werten. Es ist ein Notgesetz. Die Not in der Gerichtsbarkeit der neuen Bundesländer soll durch befristete Entlastungsmaßnahmen gelindert werden. Wir können uns dieser Verantwortung, wie ich meine, nicht entziehen. Deshalb sind der Aufschrei mancher Verbände und die Kritik vieler Rechtsexperten nur schwer verständlich.
Wiedervereinigung heißt — wir haben es in diesem Haus schon oft gehört — teilen. Das bezieht sich natürlich auch auf die Justiz und auf die Rechtsgewährung hier im Westen,

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

die ja einigermaßen umfassend ist, gemessen an der Rechtsgewährung im östlichen Teil unseres Vaterlandes.

(Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Es hilft wenig, staatsmännische Reden über die Not der neuen Bundesländer zu führen, dann aber, wenn es darauf ankommt, nach dem Sankt-Florian-Prinzip zu handeln. Deshalb müssen wir uns, meine ich, angesichts der lautstarken Kritik die Frage stellen, ob wir im Westen die Bereitschaft aufbringen, die notwendig ist, um den Aufbau der östlichen Bundesländer zu leisten. Das gilt auch für die Justiz.
Es gibt keine überzeugende Alternative zu dem vorgelegten Gesetz und den darin vorgeschlagenen Maßnahmen. Bei diesen Maßnahmen handelt es sich im wesentlichen um die Beschränkung des Angebots



Norbert Geis
von Rechtsmitteln, um den verstärkten Einsatz des Einzelrichters, die Einschränkung der Besetzung der Spruchkörper und die Erweiterung der amtsgerichtlichen Zuständigkeiten und der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit. Weil es sich um ein Notgesetz handelt, sind die meisten dieser Maßnahmen auf die Dauer von fünf Jahren beschränkt.
Mit diesen Maßnahmen werden in den alten Bundesländern Stellen frei, so daß erfahrene Richter, Staatsanwälte und auch Rechtspfleger in die neuen Bundesländer gehen können. Zugleich entlasten diese Maßnahmen die Gerichtsbarkeit in den neuen Bundesländern, so daß dort nicht so viele Stellen notwendig sind, wie sie nötig wären, wenn wir die jetzigen gesetzlichen Regelungen voll beibehalten würden.
Eine Gesamtprognose, wie viele Stellen freiwerden können, ist freilich nicht möglich. Aber, wenn man einmal bedenkt, daß von den gut 300 000 Ersteingängen bei den Landgerichten derzeit 25 % nur zu dem Einzelrichter und 75 % zum Kollegium, zu den drei Richtern, kommen, und wenn man bedenkt, daß durch diese gesetzlichen Regelungen dieses Verhältnis umgekehrt werden wird, und wenn man andere Maßnahmen mit einschließt, dann kann man davon ausgehen, daß schon gehörige Kapazitäten frei werden.
Ich möchte Ihnen, Frau Ministerin Dr. BerghoferWeichner, herzlich danken für ihren persönlichen Einsatz beim Zustandekommen dieses Entwurfes. Wir haben großes Verständnis und größten Respekt für Ihre Sorge um die Funktionsfähigkeit unserer Justiz sowohl in den alten Bundesländern wie aber gerade auch in den neuen Bundesländern.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

Wir werden uns diese Sorge zu eigen machen und werden diesen vorgelegten Entwurf mit großer Sorgfalt beraten. Wir werden bei unseren Bemühungen nicht außer Acht lassen, welches Ziel dieser Entwurf hat: Es geht um den Aufbau der Justiz in den neuen Bundesländern. Dieser Aufgabe müssen wir uns alle annehmen.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205727200
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Dr. Wolfgang Ullmann.

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1205727300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um eine generelle Verfahrensreform, um nichts Geringeres handelt es sich bei dem vorliegenden Gesetzentwurf. Zivilprozeßordnung, Strafprozeßordnung, Sozialgerichtsgesetz, Verwaltungsgerichtsordnung, Asylverfahren, Finanzgerichtsordnung, all das soll mit Wirkungen in zahlreichen Folgeregelungen geändert, gestrafft, vereinfacht werden. Das wirft freilich sofort die Frage auf — die Frage, Herr Präsident — , ob eine 100-Minuten-Debatte im Deutschen Bundestag der Öffentlichkeit einen angemessenen Eindruck von der Bedeutung dieser Verfahrensreformen vermitteln kann. Das muß um so mehr betont werden, als es
gerade im jetzigen Umbruchszeitraum unserer gemeinsamen deutschen Geschichte erforderlich wäre, die Stellung der richterlichen Gewalt ins hellste Licht des gesellschaftlichen Bewußtseins zu heben. Insofern verdienen Bundesrat und Länderjustizminister Dank für die ergriffene Initiative.
Aber: Kann der vorliegende Entwurf das hochgesteckte Ziel erreichen? Ich bin hier anderer Meinung als der Kollege Geis. Zumindest gegenüber der vorliegenden Fassung des Gesetzentwurfs muß das verneint werden. Man hat ein Paket geschnürt, das schlecht zusammenhält, weil die Heterogenität der Zwecksetzungen sich überall bemerkbar macht. Personalnotstände und Organisationsdefizite der Justiz in den östlichen Bundesländern sollen mit einem Konzept beantwortet werden, daß ungefähr ein Jahrzehnt alt ist, einen Beschluß der Justizministerkonferenz vom 1. März 1982 aus der Schublade holt und ihn wörtlich abschreibt, also einen Entwurf, der die Strafjustiz in den westlichen Ländern reformieren sollte und darum mit den Problemen der Justizerneuerung in den östlichen Bundesländern gar nichts zu tun haben kann.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Besonders befremdlich ist es, daß schon dieser Entwurf von 1982 einer Tradition folgt, die so kompromittiert ist, daß sie für immer als unakzeptabel gelten muß. Die drastischen Einschränkungen des Beweisantrags und anderer Rechtsbehelfsrechte haben ihr Vorbild in der deutschen Rechtsgeschichte allein in zwei Gesetzen der Hitler-Zeit: vom 1. September 1939 und vom 21. März 1942.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Herr Ullmann, meinen Sie nicht, daß das deplaziert ist?)

Um so wichtiger ist es, daß der Bundesjustizminister im Gutachten der Regierung gerade diesen Passagen des Entwurfs seine Zustimmung versagt hat. Bei dieser Ablehnung muß es bleiben.

(Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Aber aus anderen Gründen!)

Diese Art der Gesetzgebung muß eine unwiderrufliche Absage erteilt bekommen.
Was aber ist zu tun? Da bin ich mit Ihnen einer Meinung;

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Mit Hitler-Gesetzen hat das nichts zu tun!)

die Länderjustizminister haben recht: Die Probleme drängen. Um so nötiger ist es, die Kritik der Anwalts- und Richterverbände ernst zu nehmen und aufzugreifen, die sich in zahlreichen Gutachten zu diesem Entwurf überwiegend ablehnend geäußert haben. Wer diese Kritik als bloßen Lobbyismus abtut, betreibt diesen selbst. Denn die Interessen, die hier von Strafverteidigern und Richtern vertreten werden, sind durchaus legitime: es sind die der vom Verfahren betroffenen Bürgerinnen und Bürger.
Ein Aspekt ist in diesem Reformpaket völlig unberücksichtigt geblieben: die Tatsache, daß die Jusitzmisere in der früheren DDR auch eine Folge der Finanzmisere der Länder ist und nur mit dieser gemeinsam behoben werden kann. Darum ist den Strafvertei-



Dr. Wolfgang Ullmann
digervereinigungen recht zu geben, die Investitionen für die Reorganisation der Justiz in den Ostländern fordern, personelle und finanzielle. Darüber hinaus richtet sich die Forderung an die Bundesregierung,

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Aber es fehlt doch an Richtern, Herr Ullmann!)

endlich etwas zu tun, um ihre Rechtspolitik zu koordinieren, damit klare Ziele erkennbar werden und ein zweckvolles und effektives Handeln an die Stelle der derzeitigen Chaotik tritt.
Weiß das Bundesministerium des Innern eigentlich, was im Bundesministerium der Justiz geplant und angestrebt wird?

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Beide Minister haben ein gutes Verhältnis zueinander!)

Es kann auf die Dauer nicht zu brauchbaren Ergebnissen führen, wenn der Bundesminister des Innern öffentlich über Änderungen des Art. 16 GG philosophiert, im Beschleunigungsgesetz aber neue Verfahrensregeln für das Asylrecht formuliert, ein Entwurf zur Änderung der Finanzgerichtsordnung neben dem hier behandelten Entlastungsgesetz diskutiert wird, die Verfassungsfrage aber, Basis und organisierende Mitte aller Rechtsreform, durch wahltaktische und protokollarische Präliminarien unverantwortlich in den Hintergrund gedrängt wird.
Demgegenüber liegen die Prioritäten klar vor uns: die Frage des Gerichtsaufbaus etwa — dies wurde erwähnt — , die konsequente Einführung der Dreistufigkeit, die Frage nach dem Verhältnis von Einzelrichter und Kollegialgericht. Alle diese Probleme müssen gelöst werden. Wie die Diskussion um die §§ 218 und 175 StGB und die Fragen des Sorgerechtes, von denen wir heute gesprochen haben, zeigen, muß auch das materielle Recht von obsolet gewordenen Bestandteilen befreit und der gesellschaftlichen Situation angepaßt werden.
Die Aufgaben sind so, daß Bund und Länder und ihre Parlamente nur gemeinsam mit den Verbänden dieser Herausforderung gewachsen sein können. Aber sie müssen sich ihr stellen. Denn wieviel, meine Damen und Herren, wird davon abhängen, daß die Gesellschaft den Staat nicht länger als den einer bürokratisch administrierten Justiz, sondern als den eines demokratisch gesprochenen Rechtes erfährt?
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205727400
Ich erteile jetzt dem Herrn Kollegen Dr. Wolfgang Götzer das Wort.

Dr. Wolfgang Götzer (CSU):
Rede ID: ID1205727500
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Außergewöhnliche Herausforderungen verlangen angemessene Lösungen, und wer wollte bestreiten, daß die deutsche Wiedervereinigung ein außergewöhnliches Ereignis und die Folgenbeseitigung von 40 Jahren kommunistischer Unrechtsherrschaft gerade auch im Bereich der Justiz von herausragender Bedeutung sind?
40 Jahre Kommunismus, 40 Jahre Parteilichkeit des sogenannten Rechts und Willfährigkeit seiner Organe haben die Justiz in der ehemaligen DDR zugrunde
gerichtet. Die meisten alten Richter sind belastet; kaum einem bringt die Bevölkerung Vertrauen entgegen. Vertrauen der Bürger in die Justiz und in die Rechtspflege ist aber eine unverzichtbare Voraussetzung für den erfolgreichen Aufbau des Rechtsstaats im Beitrittsgebiet.
Noch vor wenigen Monaten sah es so aus, als würde in den neuen Ländern das drohen, was die Juristen für unerträglich und in Deutschland eigentlich auch für unvorstellbar hielten, nämlich der Stillstand der Rechtspflege.
Durch die tatkräftige Hilfe aus den alten Ländern — ich möchte hier vor allem Bayern nennen — ist es gelungen, wenigstens ein Mindestmaß an Rechtsgewährleistung in den meisten Regionen des Beitrittsgebietes sicherzustellen. Allein Bayern hat z. B. über 150 Richter, Staatsanwälte oder Rechtspfleger nach Sachsen und Thüringen geschickt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

Nicht alle alten Länder können ähnliches vorweisen.
Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, dies genügt bei weitem noch nicht: Nötig sind etwa 4 000 Richter und 3 000 Rechtspfleger. Diese können nicht von den alten Ländern freigestellt werden. Dieser Bedarf kann auch nicht allein durch junge Juristen, frisch nach dem zweiten Staatsexamen, gedeckt werden; denn in den neuen Ländern sind vor allem berufserfahrene und mit dem Recht der Bundesrepublik Deutschland vertraute Richter und Staatsanwälte nötig — und wir brauchen sie schnell. Deswegen ist die Initiative des Bundesrates zu begrüßen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Soweit besteht, glaube ich, weitgehend Einigkeit über die Parteien und Verbände hinweg.
Die weitere und verstärkte personelle Hilfe für den Aufbau der Rechtspflege in den neuen Ländern ist nur möglich, wenn eine Entlastung der Rechtspflege durch Verfahrensvereinfachung bewirkt wird. Diese Verfahrensvereinfachung freilich muß so ausgestaltet sein, daß der Rechtsstaat durch sie keine Beeinträchtigung erfährt, insbesondere der angemessene Rechtsschutz nicht gefährdet wird.

(Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Der vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates ist also vor allem anderen an zweierlei zu messen: ob er geeignet ist, die notwendige Entlastung herbeizuführen — hier ist meines Erachtens noch eine Menge Darlegungsbedarf —,

(Detlef Kleinert [Hannover] [FDP]: Ja!)

und ob die Verfahrensvereinfachungen vertretbar und zumutbar sind.

(Detlef Kleinert [Hannover] [FDP]: Ja!)

Hier habe ich — das möchte ich nicht verschweigen — beispielsweise bei der Rechtsmittelbeschränkung in der Form der Zulassung große Bedenken.

(Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Zu Recht!)




Dr. Wolfgang Götzer
— Ich bedanke mich für die Unterstützung des Parlamentarischen Staatssekretärs,

(Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Ich bin als Abgeordneter hier!)

der hier als Abgeordneter spricht.
An dieser Stelle möchte ich auch ein Wort zu den Stellungnahmen aus den Reihen der Verbände sagen, soweit sie den zivilprozessualen Teil des Gesetzentwurfs betreffen; denn nur zu diesem spreche ich. Ich kann der teilweise sehr pauschalen und überzogenen Abqualifizierung nicht beipflichten.

(Zustimmung des Abg. Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU])

Allerdings wäre manche Stellungnahme sicherlich fundierter und differenzierter ausgefallen, wenn Zeit dafür gewesen wäre. Ich sage deshalb auch ganz klar: Nur die Dringlichkeit der Situation rechtfertigt die Eile, mit der dieser Entwurf auf den parlamentarischen Weg gebracht wurde.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Dann hätten Sie keine Stellungnahme abgeben dürfen!)

Die Bedenken der Betroffenen und ihrer Verbände müssen deshalb um so eingehender im Rahmen der Beratungen des Rechtsausschusses erörtert werden. Auf eine Anhörung werden wir dabei wohl kaum verzichten können.
Bei all dem haben wir freilich zu berücksichtigen, daß das beste Entlastungsgesetz nichts bringt, wenn es zu spät kommt. Deshalb ist neben der Sorgfalt auch besondere Eile geboten.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der CDU/CSU: Bravo! Eine sehr ausgewogene Rede!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205727600
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist der Kollege Dr. Uwe-Jens Heuer.

Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS):
Rede ID: ID1205727700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dem zugrunde liegenden Beschluß wird der Aufbau einer funktionierenden rechtsstaatlichen Justiz in den neuen Ländern mit Recht als eine zentrale Aufgabe des Einigungsprozesses bezeichnet. Bedauerlicherweise gehen die Vorschläge aber in die falsche Richtung: statt Justizreform nur Reform der Gerichtsverfahren. Das ist in der Situation gerade im Osten, die geprägt ist von großer Rechtsunsicherheit, nach meiner Ansicht die falsche Antwort auf eine richtige Frage.
Zur Begründung dieses Entwurfes erklärten die Einbringer, daß die Justiz in den neuen Ländern bei einer Fülle von Aufgaben dramatischerweise überlastet sei, eine personelle Unterstützung bei den alten Ländern aber auf Grenzen stoße. In dieser Situation müßten alle Möglichkeiten einer Vereinfachung und Straffung der Gerichtsverfahren zum sparsamsten Einsatz des Justizpersonals genutzt werden.
Mit dieser Beschwörung wurde schon vor mehr als 60 Jahren eine Justizreform auf eine Rechtsmittelverkürzung beschränkt und dieser erheblicher Widerstand entgegengesetzt.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Aber wir wollen doch drüben die Demokratie einführen, Herr Heuer! — Zuruf von der CDU/CSU: Aber wir wollen doch da drüben die Demokratrie einführen!)

Der Bericht des Reichtstagsausschusses über den Entwurf des Entlastungsgesetzes vom 23. Februar 1921, vorgetragen vom Abgeordneten Marx, belegt dies und begründet, daß die Beschränkung der Rechtsmittel als rein kapitalistische Maßregel, die die kleinen Leute an der Verfolgung ihrer Rechte hindert, abzulehnen sei.
Auch vor dem Einigungsprozeß gab es in der BRD ähnliche Versuche, Rechtsmittelverkürzungen zu erreichen. Der Entwurf setzt sich weitgehend aus Vorschlägen zusammen — das hat Herr Kollege Ullmann schon gesagt — , die bereits vor dem Einigungsprozeß auf dem Tisch gelegen hatten, so im Jahre 1987, und teilweise sogar in der Begründung abgeschrieben wurden.
Der vorliegende Entwurf vermeint, personelle Ressourcen für den Aufbau der Justiz in den neuen Ländern durch Vereinfachung und Straffung von Gerichtsverfahren gewinnen zu können.

(Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!)

Wesentliches Mittel dazu ist die Beschränkung von Rechtsmitteln. Das ist für mich der falsche Weg.
Ich möchte das vor allem mit folgendem begründen: In der justitiellen Gewaltenteilung zwischen Richtern, Staatsanwälten, Bürgerinnen und Bürgern bzw. deren rechtlichen Vertretern sehe ich ein wesentliches Element der Justizkultur. Eine Einschränkung der Rechtsmittel würde dieses Gefüge der justitiellen Gewaltenteilung zu Lasten der Bürgerinnen und Bürger erheblich beeinträchtigen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Aber das tun wir doch nicht, Herr Heuer!)

Es gibt zum zweiten keinerlei Hinweise auf einen wirksamen Zusammenhang zwischen Personaleinsparung infolge der Beschränkung von Rechtsmitteln und dem Aufbau der Justiz in den neuen Bundesländern.
Gestatten Sie mir noch einige Anmerkungen zu Einzelfragen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Warum soll der Zusammenhang nicht mehr gegeben werden?)

Die weitreichenden Änderungen, die sich über das gesamte Prozeßrecht erstrecken, sind in ihrer Mehrheit ein erheblicher Eingriff. Ein Entlastungseffekt, wie vorgegeben, wird dabei wohl nicht erreicht.

(Zuruf von der CDU/CSU)

Wie uns Kollegen aus den Anwaltskammern bestätigen, wird es erfahrungsgemäß nach Einführung einer Zulassungsberufung ebenso viele Nichtzulassungsbeschwerden geben wie bisher Berufungen. Gegen mein Rechtsverständnis verstößt auch die aufgenommene Regelung, im Ergebnis die Zulassung ei-



Dr. Uwe-Jens Heuer
ner Berufung gegen Einzelrichterentscheidungen nahezu abzulehnen und damit Kollegialentscheidungen in diesen Fällen auszuschließen.

(Zuruf von der CDU/CSU)

Auch die Einbeziehung des Bundesgerichtshofes in den vorliegenden Entwurf entbehrt jeder Logik. Für eine Sofortmaßnahme besteht nach meiner Ansicht kein Handlungsbedarf. Der Bundesgerichtshof wurde durch die Erweiterung der Bundesrepublik Deutschland um fünf neue Länder nicht mehr als bisher belastet.
Noch einschneidendere Maßnahmen sieht der Entwurf mit den Änderungen im Strafprozeßrecht vor. Nach dem vorliegenden Entwurf soll es möglich sein, im schriftlichen Verfahren, dem Strafbefehlsverfahren, nunmehr auch Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr auf Bewährung zu verhängen.
Was wäre aber nach unserer Ansicht zu tun? Wir meinen — und das ist ja heute auch von der Sozialdemokratischen Partei hier gesagt worden —, daß wir den Mut haben sollten, uns der Frage der Dreistufigkeit des Gerichtsverfahrens zuzuwenden. Dabei weiß ich, daß manche Anwälte befürchten, daß mit dem Entfallen des Anwaltszwanges in der ersten Instanz eine große Anzahl von Kunden entfällt. Das muß natürlich mit in Betracht gezogen werden. Dennoch sollte man nicht die Chance vergeben, diese Frage prinzipiell aufzuwerfen.
Der zweite Komplex betrifft die Änderung des materiellen Rechts. Eine wesentliche Möglichkeit — das ist noch nicht zur Sprache gekommen — zur Vermeidung von Rechtskonflikten liegt in der Gestaltung des materiellen Rechts. Es erschüttert mich, mit welcher Leichtfertigkeit oft ausgesprochen wird, daß eine bestimmte Regelung natürlich zu Hunderttausenden von Rechtsstreitigkeiten führen wird. Ich meine, daß ein klares und übersichtliches Recht eine ganz wichtige Voraussetzung für den Zugang zum Recht und auch zur Vermeidung von Rechtsstreitigkeiten ist.

(Zuruf von der CDU/CSU: In der DDR war immer nur klares Unrecht!)

Aber es wird der entgegengesetzte Weg gegangen. Der zweite Staatsvertrag ist mit vielen seiner Bestimmungen gerade ein schlagender Beweis für die Richtigkeit dieser Feststellungen.
Ich darf noch auf das Gesetz über offene Vermögensfragen hinweisen sowie auf die Rentenregelung. Die Bürger der DDR werden mit einem Recht konfrontiert,

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie meinen Bürger der ehemaligen DDR, Sie müssen sich umstellen!)

das unabhängig vom Inhalt der rechtlichen Regelung ihnen fremd ist und zugleich in einer völlig undurchschaubaren Form ihnen dargeboten wird. In der DDR war hier manches tatsächlich vorbildlich.

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh! — Davon kann ich ein Lied singen!)

Man kann feststellen, daß die einfachere, verständlichere Sprache des DDR-Zivilgesetzbuches den Vorzug verdient gegenüber der in bundesdeutschen Gesetzbüchern gepflegten oder vielmehr gerade leider nicht gepflegten Sprache.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wehe dem, der sich darauf berufen hat!)

— Wissen Sie, das war Horst Sendler, Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, nach der Zeitschrift „Die Berliner Wirtschaft" vom 1. Januar 1991; beschweren Sie sich bei ihm!

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie dürfen das nicht sagen!)

— Ich darf ihn nicht zitieren, daß mag sein.
Personelle Ressourcen für den Aufbau der Justiz gehen nach meiner Ansicht — Sie werden wieder anderer Auffassung sein — auch durch den Hinauswurf vieler qualifzierter Richter und Staatsanwälte der DDR verloren, über den unumgänglichen Ausschluß hinaus durch den Ausschluß von Richtern, die nicht etwa wegen Rechtsbeugung, sondern eindeutig wegen ihrer heutigen Gesinnung als Mitglieder oder Sympathisanten der PDS Berufsverbot erhalten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Quatsch!)

— Ich werde es Ihnen gleich beweisen.
In Berlin herrscht hier ein besonders rigides Regime. Während in der ehemaligen DDR in den übrigen Teilen im Durchschnitt 50 % der Richter bleiben, so sollen es in Berlin nicht einmal 10 % sein. Man kann sich der Vermutung nicht erwehren, daß hierfür der leichtere Zugang von West-Richtern ursächlich ist. Die Wege sind nicht so lang. Die Liste der mit größter Sorgfalt ausgesiebten Richter wurde vom Senat nicht bestätigt, weil sich unter ihnen ein PDS-Mitglied befindet, dessen DDR-Vergangenheit nicht zu beanstanden war.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Ein alter Stasi vielleicht?)

Jetzt wurde von seiten der CDU die Mitgliedschaft in der angeblich verfassungsfeindlichen PDS herangezogen, laut „Tagesspiegel" vom 5. November 1991.

(Zuruf von der CDU/CSU: Die Zeitungen dürfen ja schreiben, was sie wollen!)

Zwei Senatoren suchen jetzt wieder in der Vergangenheit, um doch noch etwas zu finden.
Meine Damen und Herren, eine spätere Geschichtsschreibung wird unsere heutige Debatte, wenn wir nach der weiteren Diskussion zur Annahme des vorliegenden Gesetzentwurfs kommen, unter der Rubrik „Verpaßte Gelegenheiten nach Herstellung der Einheit Deutschlands" abhaken. Verspielt wird infolge eines Handlungsdefizits der Bundesregierung die Chance einer gesamtdeutschen Justizreform, die meines Ermessens zugleich der Weg gewesen wäre, um die Zuverlässigkeit des gesamten Wirkens der Justizorgane zu sichern. Lebens- und bürgernahe Regelungen des materiellen wie auch des Verfahrensrechts der DDR hätte man nicht so arrogant beiseite schieben dürfen.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Warum sind dann die Leute da drüben davongelaufen?)




Dr. Uwe-Jens Heuer
In der Dekriminalisierung von Bagatelldelikten, dem Aufbau bürgerschaftlicher Gremien zur Regelung von Rechtsstreitigkeiten, der Beseitigung anachronistischer Straftatbestände, überhaupt der Vereinfachung des Rechts sehen wir den einzig gangbaren Weg, Rechtsstaatlichkeit und Effizienz in der Rechtspflege miteinander zu verbinden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Was wissen Sie von Rechtsstaatlichkeit?)

Einsparungen in der Justiz müssen mit Bedacht und auf lange Sicht vorgenommen werden. Sie müssen den Rechtsfrieden fördern und dürfen nicht in Gestalt eines massiven Abbaus der Rechtsstaatlichkeit und einer über Jahrzehnte gewachsenen Rechtskultur daherkommen, wie das — —

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Herr Heuer, das dürfen Sie nicht sagen!)

— Das war die Meinung der Rechtsanwaltskammer Berlin.

(Zuruf von der CDU/CSU: Es spricht der SED-Hofjurist!)

Wie in der Verfassungsdiskussion, wie bei der Rentenregelung wird auch hier der Weg gegangen: Umsturz im Osten, Stagnation, kosmetische Veränderungen im Westen. Im Osten wird die Revolution gepriesen, im Westen die Reform verweigert.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Wir machen doch Reformen!)

Das verstärkt die weitverbreitete Meinung — laut „FAZ" von gestern 47 % der Bevölkerung — , daß die DDR von der BRD wie eine Kolonie geschluckt wurde. Die Chance der Vereinigung wird so verspielt.
Ich danke Ihnen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie sind unverdaulich!)

— Ich hoffe.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205727800
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nächster Redner ist der Bundesminister der Justiz, Herr Dr. Klaus Kinkel.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1205727900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Rechtsstaatliche Verhältnisse, Rechtssicherheit in den neuen Bundesländern erfordern eine unabhängige und rechtsstaatliche Justiz; eine Justiz aber auch, die funktioniert und die das Bedürfnis nach Gerechtigkeit und nach Rechtsfrieden erfüllt. Das erfordert zweierlei: Einmal ging und geht es darum, eine Rechtspflege im Beitrittsgebiet erst aufzubauen, ihren völligen Stillstand zu verhindern, sie in den Stand zu setzen, nicht nur die normalen Aufgaben zu erfüllen, sondern auch die Überwindung des Unrechtssystems mit den Mitteln des Rechtsstaats zu bewältigen. Wie schwierig das ist, erleben wir zur Zeit wahrhaftig. Dazu gehört eine personelle und sachliche Ausstattung und eine innere Haltung der dort tätigen Richter und Staatsanwälte, die diesem Anspruch genügen kann.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Hierfür bedarf es der intensiven Hilfe und Unterstützung vor allem durch die alten Länder. Der Bund hat nun einmal keine Richter, er hat keine Staatsanwälte und leider Gottes auch nur zu wenige Rechtspfleger, um von sich aus helfen zu können.
Es geht aber auch darum, unser rechtsstaatliches Justizsystem ohne substantielle Abstriche in den neuen Bundesländern zu realisieren. Dazu muß so bald wie möglich das Übergangsrecht des Einigungsvertrags in den neuen Ländern überwunden werden. Wir können aber auch insgesamt keine Maßnahmen akzeptieren, die zwar das Funktionieren der Justiz sicherstellen, vor den hohen Wertmaßstäben einer rechtsstaatlichen Justiz aber nicht bestehen können. Damit werden wir der Erwartung der Menschen in den neuen Ländern nicht gerecht. Der Gesetzentwurf des Bundesrates muß sich ganz zweifellos an diesen Ausgangsüberlegungen messen lassen.
Die Länder waren und sind der Auffassung, ihre Hilfe zum Aufbau der Justiz erfordere Entlastungsmaßnahmen im Justizsystem insgesamt. Dafür habe ich Verständnis, sogar großes Verständnis, und das findet meine grundsätzliche Unterstützung, wie ich bei der Justizministerkonferenz, auf der das beschlossen wurde, nachdrücklich erklärt habe.
Ich möchte an dieser Stelle auch, wie es zu Recht schon vorher geschehen ist, den Ländern, den alten Ländern, sehr nachdrücklich und ausdrücklich für die Leistungen danken, die sie bisher erbracht haben und noch weiter erbringen müssen. Diese Leistungen sind durchaus erstaunlich. Nach dem letzten Stand sind es immerhin mehr als 1 500 Justizbedienstete, die auf Grund einer Abordnung in den neuen Ländern tätig sind, darunter nach dem letzten Stand 545 Richter, 170 Staatsanwälte und 575 Rechtspfleger, davon jetzt immerhin 322 in Grundbuchangelegenheiten.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Ich kenne die neuen Zahlen. Es wird sich vor Weihnachten noch einiges tun. Deshalb möchte ich den Ländern gegenüber, die ich ja immer in ganz besonderer Weise gedrängt habe — weil auch ich in besonderer Weise gedrängt wurde — , auch in besonderer Weise Dank aussprechen.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Ich glaube, daß sich das gehört; denn auf diese Maßnahmen, von denen ich sprach und die vorher auch schon gelobt und herausgestrichen worden sind, ist zweifellos auch in erster Linie zurückzuführen, daß die Justiz in den neuen Ländern nicht zusammengebrochen ist, sondern, wenn auch mit mancherlei zwangsläufigen Anfangsschwierigkeiten, einigermaßen funktioniert.
In erheblichem Umfang werden die personellen Ressourcen der Altländer auch durch die Aus- und Fortbildung — das muß man auch einmal sagen — der in den neuen Ländern tätigen Justizbediensteten und Berufsanfänger zusätzlich in Anspruch genommen. Das erfordert ja zusätziche Ressourcen und zusätzliche Kapazitäten, und auch diese Hilfe muß fortgesetzt und ausgebaut werden.



Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Wachsende Kriminalität, Furcht und Sicherheitsbedürfnis der Menschen erfordern eine besser funktionierende Strafrechtspflege. Die große Zahl der Rehabilitierungsverfahren muß zügiger abgewickelt werden, und der öffentlich-rechtliche Rechtsschutz gegen Maßnahmen der staatlichen Gewalt, den Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet, darf nicht faktisch an fehlenden Kapazitäten scheitern.
Die freiwillige Gerichtsbarkeit, vor allem im Grundbuchbereich, muß ihren Beitrag dazu leisten, daß der wirtschaftliche Aufschwung gelingt. Ich habe ja hier im Plenum schon mehrfach speziell zu diesem Themenkreis Stellung genommen und Stellung nehmen müssen.
Nach Abschluß der Überprüfungsverfahren werden — wir können die genauen Zahlen noch nicht sagen — einige hundert Richter aus dem früheren Bestand der DDR übrigbleiben. Der kurzfristige Bedarf — ich sage bewußt: der kurzfristige Bedarf; es ist vorher zu Recht als Richtschnur die nordrhein-westfälische Zahl von 5 000 Richtern angegeben worden — beträgt etwa 2 700 Richter. Bei Staatsanwälten, Rechtspflegern und Gerichtsvollziehern sind die Zahlen ähnlich, wenn nicht sogar noch dramatischer.
Die Neueinstellung von Berufsanfängern löst trotz der günstigen Bewerbungslage das Problem allein nicht. Es geht mit den Neueinstellungen in den neuen Ländern schneller und besser, als ich mir das ursprünglich vorgestellt habe. Ich finde das sehr wichtig; denn wir müssen sehen, daß die neuen Länder möglichst schnell ihre eigenen Richter, ihre eigenen Staatsanwälte und ihre eigenen Rechtspfleger bekommen. Unverzichtbar ist der — mindestens vorübergehende — Einsatz erfahrener und im rechtsstaatlichen Denken geschulter Richter und Staatsanwälte; das ist — wie ich finde, mit Recht — schon hervorgehoben worden.
Wir müssen sehen und erkennen, daß wir in einer Notzeit sind und Notzeiten eben besondere Maßnahmen erfordern, und ich wiederhole, was ich schon einmal gesagt habe: Es kann nicht richtig sein, daß wir auf der einen Seite der Bundesrepublik ein hoch ausgebautes Rechtspflege- und Rechtsmittelsystem haben und auf der anderen Seite eine hoch defizitäre Situation. Es wurde schon gesagt, und ich will es auch noch einmal sagen: Wir müssen teilen, eben auch bei Richtern, Staatsanwälten und Rechtspflegern. Wir haben in der Bundesrepublik mit 17 500 Richtern die höchste Richterdichte der Welt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Und das bei einem so friedlichen Volk!)

Nicht jede Vereinfachungs- und Straffungsmaßnahme muß deshalb schon von vornherein als rechtsstaatswidrig angeprangert werden.
Allerdings verstehe ich die Kritik, die der nun von Ihnen zu beratende Entwurf zum Teil ausgelöst hat, und sie ist für mich auch in nicht unwesentlichen Teilen nachvollziehbar. Ich habe auch — das will ich deutlich sagen — eine gewisse Skepsis gegenüber dem Gesamtpaket der Vorschläge des Entwurfs nie verhehlt,

(Beifall bei der FDP und der SPD)

auch nicht gegenüber meinen Kolleginnen und Kollegen bei der damaligen Justizministerkonferenz, in der die Entscheidungen getroffen worden sind.
Es ist hier nicht möglich, über alle Einzelvorschläge zu sprechen; den Beratungen in den Ausschüssen will ich auch nicht vorgreifen. Die Bundesregierung hat zu dem Entwurf ja ihre Stellungnahme abgegeben. Das ist die Stellungnahme, die ich mittrage und von der ich überzeugt bin, daß sie richtig ist. Ich will aber als eine unverrückbare Grenze festhalten, an der alle Vorschläge zu messen sein werden: Die Rechtsstaatlichkeit der Justiz soll, darf und wird in wesentlichen Punkten nicht beschnitten werden. Diese Rechtsstaatlichkeit der Justiz ist ein knappes und kostbares Gut.

(V o r s i t z: Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg)

Wir dürfen die Sehnsucht der Menschen in den neuen Ländern nach einer rechtsstaatlichen Justiz nicht dergestalt befriedigen, daß wir die Wiedervereinigung insgesamt mit einer Reduktion des Rechtsstaates beginnen.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/ Linke Liste])

Unabhängig von dieser Grenze: Die Vorschläge des Entwurfs müssen von der Zielsetzung her sachgerecht sein. Wir sollten, wie ich meine, alle daran interessiert sein, daß nicht der falsche Eindruck entstehen kann, daß das Motiv, Hilfe für die Neuländer zu ermöglichen, als Vehikel für das Wiederaufgreifen früherer Verstöße verwendet werden könnte.

(Detlef Kleinert [Hannover] [FDP]: Genau so! — Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ CSU und der SPD)

Die Einzelvorschläge müssen geeignet sein, wirklich Ressourcen freizusetzen. Ich meine, daß es notwendig sein wird, sich stärker als bisher auf diejenigen Maßnahmen zu konzentrieren, die eine effektive Ressourcenfreisetzung, vor allem im Personalbereich, wirklich ermöglichen. Auch der Gedanke der zeitlichen Befristung mancher Regelung könnte wohl noch ausgebaut werden.
Meine Damen und Herren, um zum Schluß zu kommen: Ich unterstütze als Bundesjustizminister grundsätzlich und in der Zielrichtung den Entwurf der Länder. Ich bin — das weiß ich sehr wohl — bei den Altländern, um es zum zweiten Mal zu sagen, der große Drängler, Mäkler und Mahner wegen der Hilfe beim Aufbau einer rechtsstaatlichen Justiz im Beitrittsgebiet.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich kann und will deshalb die Länder nicht in dieser schwierigen Frage im Regen stehen lassen und sage deshalb nochmals meine grundsätzliche Unterstützung zu.
Ich muß aber den Ländern von dieser Stelle aus bei aller Anerkennung ihrer Hilfeleistung sagen dürfen: Konzentriert euch bitte auf das wirklich Effektive und das mit einer rechtsstaatlichen Justiz Vereinbare! Ich persönlich bin eigentlich zuversichtlich, daß in den nunmehr beginnenden parlamentarischen Beratun-



Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
gen vernünftige Lösungen gefunden werden. Wir sollten uns gemeinsam bemühen — ich bin auch sicher, daß das so geschehen wird — , die Relationen richtig einzuschätzen und — das möchte ich auch gegenüber der vielfältigen, oft unbegründeten Kritik sagen — das Wohlergehen des Staates und seiner Bürger nicht allein auf der Nadelspitze dieses Entwurfs zu balancieren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Norbert Geis [CDU/CSU]: So ist es!)

Hand aufs Herz: Es ist nicht der Untergang des Rechtsstaates, wenn wesentliche Teile dieses Entwurfs Wirklichkeit werden.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205728000
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Meyer.

Prof. Dr. Jürgen Meyer (SPD):
Rede ID: ID1205728100
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Strafprozeßrecht ist angewandtes Verfassungsrecht.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Auch Zivilprozeßrecht, Herr Kollege!)

Nirgendwo sonst kann der Staat so tief in Bürgerrechte eingreifen wie im Strafprozeß. Deshalb stehen Erfahrungen und auch Reformen im Bereich der Strafjustiz häufig im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses und der öffentlichen Auseinandersetzung. So ist es auch beim Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege.
Deshalb freue ich mich, Herr Justizminister, daß Sie eine gründliche, d. h. nach meinem Verständnis auch kritische Prüfung der Rechtsstaatlichkeit des vorliegenden Entwurfes angekündigt haben. Daran werden wir uns gerne beteiligen.
Unter ernstzunehmenden Rechtspolitikern gibt es nach meinem Verständnis keinen Streit über die Notwendigkeit der Entlastung der Strafjustiz.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Jawohl! Da stimmen wir überein!)

Es ist zwar richtig, daß die größten Engpässe beim Aufbau der Justiz in den neuen Bundesländern in den Bereichen der Arbeitsgerichtsbarkeit und der Rehabilitationsverfahren bestehen, wie Sie, Herr Minister, uns ja im Rechtsausschuß mehrfach berichtet haben. Dazu bringt der Bundesratsentwurf erstaunlicherweise überhaupt nichts.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Wieso? Der entlastet die Justiz im Zivilbereich, Herr Kollege!)

Aber das Beschleunigungsgebot gilt auch und in besonderem Maße im Strafverfahren. Wer die Rechtspflege in West und Ost entlasten und effektiver machen will, kann vor der Strafjustiz nicht halt machen. Über das Ziel besteht also weitgehende Einigkeit, nicht aber über den Weg zur Erreichung dieses Zieles.
WWWir streiten nicht über das Ob, sondern über das Wie der Entlastung der Strafjustiz.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Herr Kollege Meyer, würden Sie denn zustimmen, wenn wir sagten, daß im Zivilbereich Entlastung stattfindet, was dem Strafrechtsbereich zugute käme?)

— Ich konzentriere mich auf den Bereich der Strafjustiz. Aber eine Entlastung im Bereich der Ziviljustiz ist auch ein Thema, mit dem wir uns ernsthaft auseinandersetzen müssen, Herr Kollege Geis.
Der Weg, den der Bundesratsentwurf wählt, läßt sich auf eine kurze Formel bringen: Die gewaltige Masse der Strafprozesse, mit denen die Rechtspflege in West- und zunehmend auch in Ostdeutschland belastet ist, soll künftig mit etwas weniger Rechtsstaatlichkeit und dadurch schneller bewältigt werden.
Wir halten diesen Weg für falsch. Der Rechtsstaat ist zu kostbar, um ihn zum Experimentierfeld für Einsparversuche zu machen, die allesamt noch nicht einmal seriös durchgerechnet sind.

(Beifall des Abg. Dr. Eckhart Pick [SPD] — Norbert Geis [CDU/CSU]: Aber wo sind denn diese Beschränkungen des Rechtsstaats?)

Außerdem sind in Zeiten knapper Kassen in besonderem Maße die Phantasie und die Kreativität des Gesetzgebers gefragt. Der Bundesratsentwurf enthält aber ganz überwiegend in früheren Legislaturperioden immer wieder abgelehnte Ladenhüter, die uns jetzt in der neuen Verpackung eines Multivitaminmittels zum Aufbau der Justiz in Ostdeutschland angeboten werden.
Wir halten einen anderen Weg zur Entlastung der Strafjustiz für richtig. Diese ist nach unserer Überzeugung nur möglich, wenn künftig nicht mehr dieselbe Masse, sondern weniger Strafprozesse, aber unter voller Wahrung rechtsstaatlicher Garantien durchgeführt werden. Dazu bedarf es zukunftsweisender Reformen des materiellen Strafrechts und des Strafprozeßrechts.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Und die Menschen müssen bräver werden!)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich die Kritik am Strafjustizteil des Bundesratsentwurfs und unsere Gegenkonzeption mit einigen Beispielen belegen.
Der Bundesratsentwurf sieht eine Erweiterung der Strafkompetenz des Strafrichters als Einzelrichter auf Freiheitsstrafen bis zu 2 Jahren vor. Man könnte darin ja sogar einen Reformansatz erkennen, wenn dies ein erster Schritt zu einem dreistufigen Gerichtsaufbau mit dem Einzelrichter als Eingangsstufe wäre. Tatsächlich soll aber gleichzeitig die Berufung gegen Verurteilungen zu Geldstrafen bis zu 30 Tagessätzen gestrichen werden und durch eine Zulassungsberufung ersetzt werden.



Dr. Jürgen Meyer (Ulm)

Gegen den weitaus größten Teil der amtsgerichtlichen Strafurteile würde es damit in Zukunft überhaupt kein Rechtsmittel mehr geben.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Die Zulassungsberufung! )

Daß es sich dabei um die sogenannte Kleine-LeuteKriminalität handelt, deutet auf eine gewisse soziale Schieflage des Entwurfs hin, wie sie nach meiner Auffassung auch hinsichtlich der Heraufsetzung der Streitwerte im Zivilprozeß konstatiert werden kann.
Die eigentliche Wirkung des Vorschlags ist aber die massive Einschränkung der Zuständigkeit der Schöffengerichte. Wer wie wir die Beteiligung von Laienrichtern am Strafprozeß als wesentliches Element einer demokratischen und bürgernahen Rechtspflege versteht, kann diesen wenig überzeugenden Sparversuch nur ablehnen.
Das gilt um so mehr, als nach der Entwurfsbegründung die leitende Zielvorstellung einer Einsparung von Richterstellen noch nicht einmal erreicht werden kann. Dazu heißt es auf Seite 46 des Entwurfs — ich zitiere — :
Eine Quantifizierung des Entlastungseffekts ist nicht möglich. Auf keinen Fall kann eine Einsparungswirkung aus der unterschiedlichen Pensenberechnung bei dem Einzelrichter und dem Vorsitzenden des Schöffengerichts hergeleitet werden.
Jeder weitere Kommentar ist hier wohl überflüssig.
Ganz ähnlich verhält es sich bei den Vorschlägen für eine Einschränkung des Beweisantragsrechts. — In der Entwurfsbegründung wird zutreffend hervorgehoben, es könne nur um einen äußerst schmalen Bereich gehen, in dem sich die Beweiserhebungspflicht nicht ohnehin aus dem Grundsatz der Amtsaufklärung ergibt. Die Ablehnung eines Beweisantrags mit der Folge, daß das Gericht eben diesen Beweis anschließend von Amts wegen erheben muß, ist offensichtlich sinnlos. Sie entlastet das Gericht nicht.
Die vor diesem prozeßrechtlichen Hintergrund entwickelten Vorschläge der Bundesratsmehrheit können nicht überzeugen. So ist die Unterscheidung zwischen Inlandszeugen einerseits und Auslandszeugen andererseits, deren Vernehmung leichter abzulehnen sein soll, schon fast provinziell. Soll z. B. das Landgericht Freiburg im Breisgau künftig die Vernehmung eines Zeugen aus dem benachbarten Straßburg ablehnen können, nicht aber die eines Zeugen, der aus Rostock anreisen muß?
Wir sind durchaus offen für vernünftige Vorschläge,

(Detlef Kleinert [Hannover] [FDP]: Das ist schön!)

wie der Prozeßverschleppung durch Beweisanträge ein Riegel vorgeschoben werden könnte.

(Abg. Norbert Geis [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Diesen Satz noch, dann lasse ich die Frage gerne zu. — Insoweit erwarten wir substantiellere Anregungen von der aus unserer Sicht unverzichtbaren Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuß.
Bitte schön, Herr Kollege.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205728200
Herr Geis.

Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1205728300
Stimmen Sie mir zu — das haben Sie jetzt eigentlich gerade getan — , daß durch Beweisanträge ein Strafprozeß doch sehr verschleppt werden kann und daß dies im Blick auf den Aufbau der Justiz in den neuen Bundesländern natürlich eine wesentliche Rolle spielen kann, wenn man bedenkt, daß durch Verschleppungen von Strafprozessen Richter und damit auch Arbeitskraft gebunden wird?

Prof. Dr. Jürgen Meyer (SPD):
Rede ID: ID1205728400
Ich kann nur wiederholen, Herr Kollege, daß wir die Möglichkeit und die Gefahr von Prozeßverschleppungen durchaus sehen, aber die Remedur, die dazu im Bundesratsentwurf vorgesehen ist, nicht überzeugend finden. Insoweit hoffen wir, wie gesagt, auf die Sachverständigenanhörung.
Die Erweiterung des Strafbefehlsverfahrens auf Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr mit Bewährung stößt auf erhebliche rechtsstaatliche Bedenken. Soll der Richter allen Ernstes künftig einen Angeschuldigten zu einer derartig einschneidenden Strafe verurteilen können, ohne ihn je zu Gesicht bekommen zu haben? Die Vermeidung der Prangerwirkung einer öffentlichen Hauptverhandlung kann für manche Beschuldigten gewiß verlockend sein. Aber warum soll dieses Privileg bei schwereren Straftaten eigentlich nur denjenigen zugute kommen, die sich einen Verteidiger leisten können?

(Detlef Kleinert [Hannover] [FDP]: Na, na!)

Eine sinnvolle Erweiterung des Strafbefehlsverfahrens könnte nach unserer Auffassung darin bestehen, die strenge Bindung des Richters an den Antrag des Staatsanwalts zu lockern.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Er braucht es ja nicht zu unterschreiben! — Zuruf von der CDU/CSU: Er kann doch Einspruch einlegen! — Detlef Kleinert [Hannover] [FDP]: Überhaupt, da wird doch ständig verhandelt!)

Noch eine Bemerkung zu der vorgeschlagenen Einschränkung von Rechtsmitteln. Die Bedenken gegen die Zulassungsberufung wiegen im Strafprozeß mit seinen einschneidenden Rechtsfolgen noch viel schwerer als im Zivilprozeß. Wenn man aber die Berufung zur Entlastung der Strafjustiz einschränken will, warum denkt man dann eigentlich nicht an den generellen Ausschluß der Berufung gegen Freisprüche? Das ist, wie wir wissen, ein Stück angelsächsischer Rechtskultur, mit dessen Übernahme wir Sozialdemokraten uns durchaus anfreunden könnten.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das werden wir prüfen, Herr Kollege!)

— Sehr schön, Herr Kollege.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, wie sieht unsere Gegenkonzeption zum Bun-



Dr. Jürgen Meyer (Ulm)

desratsentwurf für eine Entlastung der Strafjustiz aus?

(Detlef Kleinert [Hannover] [FDP]: Gute Frage!)

Wir Sozialdemokraten wollen nicht schnellere Prozesse unter Verzicht auf Rechtsstaatlichkeit,

(Zuruf von der CDU/CSU: Wir auch nicht!)

sondern weniger Strafverfahren als bisher, nämlich solche, in denen es um sozial besonders schädliche Taten geht. Wir wollen eine Entlastung der Strafjustiz durch einen frühzeitigen Täter-Opfer-Ausgleich erreichen, der dem Ziel des Rechtsfriedens dient, — nach unserer Überzeugung das große Reformthema im Bereich der Kriminalpolitik in den nächsten Jahren.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Damit werden Sie aber keine Entlastung bewirken, obwohl das ein wichtiges Thema ist!)

Was die Zurücknahme des Strafrechts, die sogenannte Entkriminalisierung, angeht, ist der Bundesratsentwurf mit der vorgeschlagenen Erweiterung von § 153a der Strafprozeßordnung durchaus auf dem richtigen Weg. Allerdings kann die erweiterte Anwendung des Opportunitätsprinzips auf Fälle, in denen die Schwere der Schuld nicht entgegensteht, rechtsstaatlich nur dann überzeugen, wenn das Ermessen der Staatsanwaltschaft klaren Richtlinien unterworfen wird. Damit haben insbesondere die Niederlande sehr gute Erfahrungen gemacht. Der Rechtsausschuß sollte sich darüber in der bevorstehenden Anhörung informieren.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das tun wir!)

Der Anwendungsbereich des erweiterten § 153a der Strafprozeßordnung sollte im Interesse der Gleichbehandlung der Beschuldigten in Ost und West möglichst präzise in den Richtlinien für das Strafverfahren geregelt werden.
Wichtiger ist uns aber die Entkriminalisierung im materiellen Strafrecht. Die Befreiung unserer Justiz von Strafprozessen etwa wegen sogenannter Schwarzfahrten, also Beförderungserschleichung, wegen kleinerer Verkehrsdelikte und auch wegen Drogenkonsums entspricht nicht nur dem römischrechtlichen Satz „minima non curat praetor", sie hätte auch erhebliche Entlastungswirkung.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Aber dann würde der Drogenverkauf zunehmen, Herr Kollege! — Gegenruf des Abg. Dr. Eckhart Pick [SPD]: „Konsum" hat er gesagt!)

Schließlich könnten die begrenzten Ressourcen der Strafrechtspflege schwerpunktmäßig zur Bekämpfung besonders sozialschädlichen Verhaltens eingesetzt werden.
Das große Reformthema der nächsten Jahre aber ist der Täter-Opfer-Ausgleich, die Wiedergutmachung. Sie kann Rechtsfrieden herstellen, ohne daß es dazu eines durch mehrere Instanzen geführten Strafprozesses bedürfte.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das stimmt; aber das bringt keine Entlastung!)

Wir denken für kleinere Delikte an ein außergerichtliches Verfahren in Anlehnung an § 380 StPO. Für Straftaten mittlerer Schwere stellen wir uns ein gerichtliches Restitutionsverfahren vor, das in gleicher Weise dem Strafanspruch des Staates und dem Wiedergutmachungsinteresse des Opfers dient. Unsere Vorstellungen zu diesem Zukunftsthema, mit dem sich auch der Deutsche Juristentag 1992 befassen wird, werden wir in den nächsten Tagen in einer Großen Anfrage konkretisieren.
Wir Sozialdemokraten wollen die Strafjustiz entlasten; aber die Rechtsstaatlichkeit darf dabei nicht Schaden nehmen. Rechtspolitische Kreativität ist das Gebot der Stunde.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205728500
Das Wort hat der Abgeordnete Eylmann.

Horst Eylmann (CDU):
Rede ID: ID1205728600
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es wäre sicherlich der einfachste Weg, die Justiz, insbesondere die Strafjustiz, zu entlasten, indem man den Bereich des Strafbaren begrenzt.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das wird bei § 218 versucht!)

Die Probleme liegen auf der Hand.
Ebenso liegt aber auf der Hand, daß wir im Strafprozeßrecht mit besonderer Sorgfalt darauf zu achten haben, daß wir bei unserem Bemühen, einen ökonomischeren Einsatz des Justizpersonals zu erreichen, rechtsstaatliche Schutzpositionen nicht beeinträchtigen dürfen. Hier geht es nicht wie im Zivilprozeß in der Regel um Geld, sondern es geht um die Feststellung krimineller Schuld, die in schwereren Fällen den zeitweiligen Verlust der persönlichen Freiheit nach sich ziehen kann.
Nimmt man die Gewährleistung grundlegender prozessualer Garantien für den Angeklagten als Maßstab — das müssen wir ja wohl tun — , so läßt sich feststellen, daß gegen einige Vorschläge des Bundesrates Bedenken bestehen, andere noch einer sorgfältigen Prüfung bedürfen und noch wieder andere durchaus Unterstützung verdienen.
Der Beweisantrag ist die entscheidende, die schärfste Waffe des Strafverteidigers. Diese Waffe steht bei mir im Grundsatz nicht zur Disposition. Diese Waffe durch die Aufklärungsrüge ersetzen zu wollen hieße, das Gefüge unseres Strafgesetzes durcheinanderzubringen, und zwar zu Lasten des Angeklagten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie bei der FDP und der SPD)

Andererseits weiß ich natürlich, daß dieses Mittel mißbraucht werden kann und daß es auch tatsächlich in einigen Fällen in schwer erträglichem Maße zum Zwecke der Prozeßverschleppung mißbraucht wird.
Ob wir das, was an Änderungen des § 244 StPO hier vorgeschlagen wird, akzeptieren können, bedarf einer sorgfältigen Prüfung. Ich will das noch nicht generell ablehnen.



Horst Eylmann
Ich lehne allerdings den Vorschlag ab, eine erleichterte Ablehnung von Beweisanträgen nach Schluß der Beweisaufnahme einzuführen. Hilfsbeweisanträge sind eine durchaus nützliche Sache. Wenn man sie abschafft, bringt das kaum einen Entlastungseffekt; denn dann muß sich der Richter noch vor der Schlußberatung mit diesen Beweisanträgen beschäftigen.

(Beifall des Abgeordneten Detlef Kleinert [Hannover] [FDP])

Vorbehaltlos zustimmen kann man der vorgeschlagenen Ausweitung der Einstellungsmöglichkeiten in den §§ 153 und 153a StPO.
Schwieriger wird es wieder bei der Zulassungsberufung, die man wohl besser eine Annahmeberufung nennen sollte; denn der Berufungsrichter soll ja entscheiden, ob er sich mit der Berufung beschäftigen will oder nicht.
Ich bin seit langem der Auffassung, daß unser Rechtsmittelsystem der Strafprozeßordnung überprüfungsbedürftig ist; es muß durchforstet werden. Die Kritik ist im übrigen alt. Bei Kapitalverbrechen haben wir eine Tatsacheninstanz und eine Revisionsinstanz. Bei den leichteren Delikten haben wir zwei Tatsacheninstanzen und dazu noch eine Revisionsinstanz. Das ist schwer einzusehen.
Man kann deshalb nach meiner Auffassung darüber nachdenken, ob wir dem Berufungsgericht nicht zumindest für einige Jahre die Möglichkeit eröffnen, bei der leichteren Kriminalität offensichtlich aussichtslose Berufungen nicht anzunehmen. Ob die Formulierung, die Berufung sei zuzulassen, wenn gegen das Urteil — ich zitiere — „in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht nicht unerhebliche Bedenken bestehen", glücklich ist, wage ich allerdings zu bezweifeln. Das werden wir noch einmal kritisch überprüfen müssen.
Eines möchte ich dazu noch sagen: Man sollte nicht von einem Verstoß gegen rechtsstaatliche prozessuale Garantien reden, wenn wir uns einmal einschränkend mit den Rechtsmitteln der Strafprozeßordnung bef assen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Für eine Zulassungsrevision besteht kein Bedarf. 90 % aller Revisionen werden im Beschlußwege als offensichtlich unbegründet verworfen. Was soll denn da noch an Entlastung übrigbleiben, die durch die Zulassung bewirkt werden könnte? Außerdem dient die Revision im Strafrecht der Durchsetzung des Rechts im Einzelfall. Sie dient nicht der Fortbildung des Rechts oder der Sicherung einer einheitlichen Rechtssprechung.
Schließlich zur Sprungrevision. Das ist ein alter Streit. Ihre Abschaffung bringt keine nennenswerte Entlastung. Ich werde das Gefühl nicht los, daß ganz andere Erwägungen hinter dem Vorschlag, sie abzuschaffen, stehen, nämlich die Erwägung: mehr Freiheit im Umgang mit der Strafprozeßordnung für den Amtsrichter. Diese Freiheit möchte ich ihm allerdings nicht einräumen.

(Beifall bei der FDP — Norbert Geis [CDU/ CSU]: Seien Sie nicht so pessimistisch!)

Erwarten wir, meine Damen und Herren, — ich komme nicht mehr zu allen Punkten — von diesem
Gesetz keine Wunder! Die Zahl der Richter, die wir freisetzen, wird sich in engen Grenzen halten.
Noch eine persönliche Schlußbemerkung. Ich stelle immer wieder fest: Es gibt Richter, alte und junge, die ihr Dezernat auf dem laufenden haben, weil sie ihre Prozesse zügig erledigen und weil sie auch effektiv arbeiten und ökonomisch mit ihrer Arbeitszeit umgehen, und es gibt andere Richter, junge und alte, die langsam und umständlich arbeiten und mit ihrem Dezernat niemals zu Rande kommen. Vielleicht ist es eine lohnende Aufgabe für die richterliche Fortbildung, ein stärkeres Gewicht auf eine rationelle und effektive Organisation der richterlichen Tätigkeit unter Ausnutzung aller verfahrensrechtlichen Möglichkeiten zu legen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205728700
Das Wort hat der Abgeordnete Detlef Kleinert.

Detlef Kleinert (FDP):
Rede ID: ID1205728800
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Das Glöckchen hat wieder einmal geklingelt — ich habe es nicht genau nachgezählt; aber es hat in den letzten 20 Jahren schon sehr oft geklingelt — , und alle kommen bereitwillig herbeigeströmt und unterhalten sich über die Einzelheiten des soundsovielten Entwurfs zur Entlastung der Rechtspflege.
Das Glöckchen hat diesmal einen besonderen Silberton dadurch verpaßt bekommen, daß die Erfindung getätigt worden ist, es diene dem Wohl der neuen Länder und dem Aufbau der Justiz dort, wenn endlich einmal das passiere, was die Länderjustizminister und zum Teil auch die Bundesjustizminister — der jetzige ist ausdrücklich ausgenommen, der vorige übrigens auch schon —

(Heiterkeit)

immer von uns verlangt haben, nämlich den Gerichten doch die mühsame Arbeit leichter zu machen, auch wenn dabei ein wenig kürzerer Prozeß gemacht wird, Hauptsache, daß man mit den Stellenplänen und demzufolge mit den Finanzministern in den Ländern besser zurechtkommt. Darüber haben wir uns immer wieder unterhalten. Jede Hausfrau weiß: Die Johannisbeeren, besonders wenn sie vorher gezupft worden sind und die Stiele nicht mehr bei sich haben, die man nach dem Kochen in ein Tuch tut und dann preßt und zudreht und ausquetscht, damit Saft herauskommt, geben irgendwann keinen Saft mehr her. Dieser Punkt ist in der Rechtsvereinfachungsdiskussion nicht nur erreicht, sondern überschritten.

(Beifall bei der CDU/CSU — Norbert Geis [CDU/CSU]: Aber jetzt übertreiben Sie!)

Es kommt kein Saft mehr heraus.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie übertreiben jetzt, Herr Kollege!)

Alles, was man dazu jetzt, als wäre es neu, hört, das haben wir hier soundso oft erörtert. Ich staune über Ihre Bereitwilligkeit, wieder genau in diese Details zu gehen. Nicht daß ich es nicht bewundern würde und nicht auch versuche mitzudenken, wie man in diesen



Detlef Kleinert (Hannover)

Details so denkt, aber einige grundsätzliche Fragen sind doch wohl interessanter.
Es dient z. B. dem Verhältnis der Länderjustizminister zu den Rechtspolitikern des Deutschen Bundestages nicht, wenn, wie geschehen, im Herbst 1990 nach zweijährigen Verhandlungen über das Rechtspflegevereinfachungsgesetz — das Ding kriegt übrigens jedesmal einen neuen Namen, es ist aber immer das gleiche — gesagt worden ist: Wir möchten das, worauf wir uns nun verständigen können, doch noch verabschieden, damit das bißchen Entlastung, das damit etwa verbunden sein könnte, auch möglichst rasch in Kraft tritt, und dann haben wir in einem gewissen Gewaltakt im November 1990 das Rechtspflegevereinfachungsgesetz verabschiedet.
Zu dieser Zeit war die deutsche Einigung schon ein Jahr lang auf dem Weg, und wir. standen kurz vor der ersten Bundestagswahl in allen deutschen Ländern, glücklicherweise. Drei Monate später ereilt uns — als wäre vorher nichts gewesen — der jetzt vorliegende Entwurf mit all den ollen Kamellen: mit den Streitwertgrenzen, mit den Präklusionen, mit den Beweisverkürzungen, mit den Antragsverkürzungen. All das steht wieder drin. Aber die deutsche Einheit muß herhalten, um das zu begründen.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Aber jetzt machen Sie es sich ein bißchen zu leicht!)

So kann man nicht miteinander umgehen. Dann kann man zum Schluß nicht einmal über die Einzelheiten vernünftig miteinander reden, und wir reden ja gerne und normalerweise auch gut mit dem Bundesrat über diese Vorschläge. Wir wollen aber auch nicht den Eindruck erwecken, daß wir uns hier ohne weiteres ständig, immer und immer wieder hinter die Fichte führen lassen; und das scheint mir hier hochgradig der Fall zu sein.
Ich höre inzwischen, der Aufbau der Rechtspflege in den neuen Ländern mache hervorragende Fortschritte. Was soll denn bei diesem Gesetz — wenn ja, wann — an freizusetzenden Richtern herauskommen, die übrigens alle nicht versetzbar sind? Vielleicht in fünf Jahren, wenn da alles steht, können die Jungs rübergehen.
Aber noch härter ist die Geschichte, wenn ich lese: Der Bundesgerichtshof wird entlastet. Dort wird in Zukunft nur noch verhandelt, was der Rechtsfortbildung dient. Ja, werden dann die freigewordenen Bundesrichter — natürlich unter Verzicht auf wesentliche Gehaltsbestandteile — in die neuen Länder strömen, um dort die Rechtspflege aufzubauen? Einen Teufel werden die tun!

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/ CSU)

Das Gefährliche an der Sache ist ja nicht, daß das praktisch so nicht stimmt und auch gar nicht gehen kann, sondern das Gefährliche ist: Wir geraten hier in einen Verfassungskonflikt. Ich bin nun wirklich der Überzeugung, daß wir dann, wenn nur noch die Dinge zur Revision zugelassen werden, die der Rechtsfortbildung dienen, und wenn leibhaftige Landesjustizminister das in einen solchen Gesetzentwurf schreiben,
dahin kommen, daß die Gewaltenteilung ad absurdum geführt wird, daß wir in ganz schweres Wasser kommen. Dann müssen wir uns nämlich die Frage stellen: Wer macht hierzulande Recht? Der Präsident des Bundesgerichtshofes ist ein ungewöhnlich angenehmer und urbaner Mensch — es freut mich wirklich jedesmal, wenn ich ihn sehe — , aber seine Äußerungen mißfallen mir.

(Heiterkeit Zuruf von der CDU/CSU: Ist das einseitig?)

Er sagt: Das Wichtigste ist, daß das Gericht der Rechtsfortbildung dient. — Ich sage: Dafür haben wir den Deutschen Bundestag. Das alles ist in der Verfassung geregelt.

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Listel)

Die Richter sollen sich nicht zu schade sein, auch da Einzelfallgerechtigkeit zu üben. Da sie für die andere Aufgabe verfassungsrechtlich gar nicht vorgesehen sind, sind sie, wenn dieser Entwurf Gesetz würde, allesamt überflüssig. Dann haben wir die Zweistufigkeit, um von der lange erstrebten und heute ehrlicherweise wieder erwähnten Dreistufigkeit ganz zu schweigen. Wir wollen weiter bei der hergebrachten Vierstufigkeit — wir haben ja gar keine Vierstufigkeit — mit all ihren Einschränkungen bleiben.
Wir glauben, daß es vielen Richtern sehr guttut, im Kollegium zu arbeiten, und daß sie sich als einzelne etwas schwerer tun würden. Andere können es. Das sollen die unter sich ausmachen. Man kann den Einzelrichter ja alleine werkeln lassen — das geschieht ja auch oft —, aber da, wo er das nicht so gut kann —seine Kollegen beurteilen das am besten — , soll er nicht in die Verlegenheit gebracht werden, daß die Akten zwei bis drei Jahre liegen und man sich anschließend überlegt, wie man die Notwendigkeit der Einleitung eines Dienststrafverfahrens im Interesse des Ansehens der Justiz so lange vertuscht, bis er in Pension geht. Das nützt dem rechtsuchenden Publikum nichts, das die Sache angeschoben hat. Um diese Dinge und einige weitere mehr müssen wir uns mit Nachdruck kümmern.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205728900
Herr Abgeordneter, Sie zwingen mich, wieder einzugreifen. So schwer es mir fällt, ich muß Sie darauf aufmerksam machen: Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Detlef Kleinert (FDP):
Rede ID: ID1205729000
Herr Präsident, ich versuche gewaltsam, zum Schluß zu kommen.

(Heiterkeit)

Eine Anregung hätte ich noch für das Max-PlanckInstitut für Strafrechtsforschung. Hat noch niemals jemand die Idee gehabt, den Haarmann-Prozeß — als Hannoveraner nehme ich dieses Wort ungern in den Mund, aber es muß nun mal sein — darauf zu durchleuchten, wie die Richter und Staatsanwälte damals mit den vielen Ermordeten und den weit verstreuten Leichenteilen in vier Tagen zurecht gekommen sind, während heute die Verschiebung von ein paar Flußschiffen bei der Wirtschaftsstrafkammer ohne weiteres acht Wochen erfordert? Irgend etwas muß sich



Detlef Kleinert (Hannover)

inzwischen geändert haben. Das Recht hat sich nicht so geändert. Das Bewußtsein oder die Arbeitsmethode muß sich geändert haben. Das wäre eine rechtsvergleichende Aufgabe von zukunftweisender Bedeutung.

(Heiterkeit)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205729100
Herr Abgeordneter, was Sie den Gerichten vorwerfen, nämlich die Verlängerung, praktizieren Sie hier in extenso bei Ihrer Rede. Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß jetzt wirklich Schluß sein muß.

Detlef Kleinert (FDP):
Rede ID: ID1205729200
Wenn nicht der Deutsche Richterbund, der Deutsche Anwaltverein, die Bundesrechtsanwaltskammer, die Steuerberaterkammer und alle überhaupt irgendwie relevanten Berufe auf unserer Seite stünden und sich gegen diesen Gesetzesvorschlag wehren würden, könnte man ja sagen: Hier wollen sich die Richter eine Erleichterung verschaffen. Das ist nicht der Fall. Sie wenden sich selbst dagegen. Das ist wohl das Allerwichtigste, was uns bei unseren gründlich — ich betone es mit Genuß: sehr gründlich — zu führenden Beratungen nachdenklich machen muß.

(Beifall im ganzen Hause)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205729300
Das Wort hat der Abgeordnete Franz-Hermann Kappes.

Dr. Franz-Hermann Kappes (CDU):
Rede ID: ID1205729400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde, daß unser Kollege Kleinert nicht nur wegen seiner Fachkompetenz, sondern auch wegen des Unterhaltungswertes seiner Beiträge unser aller Bewunderung verdient. Ich freue mich darüber immer wieder neu.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Wenn es hier darum geht, daß die Justiz im geeinten Deutschland besonderen Belastungen ausgesetzt ist, dann gilt das sicherlich nicht nur für die Zivilgerichtsbarkeit und die Strafgerichtsbarkeit. Zumindest mittelfristig muß man sich dann auch mit einer Entlastung der Verwaltungsgerichtsbarkeit und der Finanzgerichtsbarkeit und, wie ich meine, wegen der besonderen Situation in den fünf neuen Bundesländern vor allem auch mit einer Entlastung der Sozialgerichtsbarkeit befassen.
Soweit es sich allerdings darum handelt, daß durch die vorgeschlagenen Entlastungsregelungen auch in diesen Bereichen der Rechtspflege Personal für den Einsatz in den neuen Bundesländern frei werden soll, scheint mir durchaus einige Skepsis angebracht. Allerdings will ich nicht bestreiten, daß gewisse positive Auswirkungen auf die Personalhaushalte der alten Bundesländer, insbesondere durch möglichen Verzicht auf sonst notwendige Stellenvermehrungen, mittelbar auch zum Nutzen der neuen Länder erzielt werden können.
Im Vordergrund sehe ich freilich die Notwendigkeit einer Entlastung der Sozialgerichte und der Finanzgerichte, aber auch der Verwaltungsgerichte, ganz unabhängig von den Aufgaben, die durch die deutsche Einheit hinzugekommen sind. Die bekanntermaßen
unerträgliche Dauer vieler Verfahren verlangt in jedem Falle, wie ich meine, nach Abhilfe.
Was nun im näher en die im Gesetzentwurf des Bundesrates vorgesehenen Änderungen der Verwaltungsgerichtsordnung angeht, so ist allerdings daran zu erinnern, daß wir erst vor weniger als einem Jahr mit derselben Zielsetzung ein Viertes Gesetz zur Änderung der VwGO beschlossen haben und daß hinreichende Erfahrungen mit den Neuregelungen dieser Novelle noch nicht vorliegen. Dies gilt insbesondere für die Einführung der Annahmeberufung, die wir schon deshalb, von anderen und sehr grundsätzlichen Erwägungen abgesehen, jetzt nicht durch eine Zulassungsberufung ersetzen sollten.
Anders verhält es sich mit dem vorgeschlagenen Einzelrichtereinsatz. Diesen werden wir, wenn auch unter der Bedingung einer zur Erprobung befristeten Regelung, nicht von vornherein grundsätzlich ablehnen.
Daß die besorgniserregende Lage in der Finanzgerichtsbarkeit dringende weitere Änderungen der Finanzgerichtsordnung erfordert, dürfte unstreitig sein. Wie Sie wissen, liegt uns im Rechtsausschuß bereits der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und andere Gesetze — Drucksache 12/1061 — vor. Hier scheint mir freilich ein Gesamtkonzept wirklich überfällig zu sein, denn mit Flickschusterei kommen wir da auf Dauer nicht weiter.
Im näheren zustimmen kann man in diesem Bereich wohl der — wie für die anderen Verfahrensgesetze — vorgeschlagenen Fiktion der Klagerücknahme bei Nichtbetreiben des Verfahrens und auch der Schaffung von Vorschriften, die die Mitwirkungsverpflichtungen des Rechtsschutzsuchenden erweitern.
Bedenken hingegen haben wir gegen den verstärkten Einzelrichtereinsatz bei den Finanzgerichten, jedenfalls ich persönlich bisher, zumindest in der vorgeschlagenen Form, mit Rücksicht auf die bloße Zweistufigkeit der Finanzgerichtsbarkeit und wegen der hier über den Einzelfall oft weit hinausgehenden Bedeutung erstinstanzlicher Urteile. Eventuell könnte man daran denken, die Zuständigkeit des Einzelrichters im Finanzgericht von der Zustimmung der Beteiligten, insbesondere der Finanzverwaltung, abhängig zu machen.
Schließlich noch ein Wort zu den vorgeschlagenen Änderungen des Sozialgerichtsgesetzes: Auch hier werden wir dem Gesetzentwurf wohl in weiten Teilen zustimmen. Erheblichen Beratungsbedarf sehe ich allerdings noch in der Frage der vorgesehenen Zulassungsrevision und auch der Einführung eines Gerichtsbescheides, also der Entscheidung in der Hauptsache ohne mündliche Verhandlung, der meines Erachtens in der Sozialgerichtsbarkeit doch eine besondere Bedeutung zukommt.
Alles in allem, meine Damen und Herren, begrüßen wir die Initiative des Bundesrates zur Entlastung der Rechtspflege auch für die Bereiche der Verwaltungsgerichtsbarkeit, der Finanzgerichtsbarkeit, der Sozialgerichtsbarkeit in ihrer Zielrichtung, selbst wenn die positiven Auswirkungen eines solchen Gesetzes auf die Hilfe für die neuen Bundesländer allenfalls mittelbar eintreten werden. Aber, wie gesagt, auch ohne



Dr. Franz-Hermann Kappes
deutsche Einheit wäre eine Beschleunigung der Gerichtsverfahren in allen Bereichen längst überfällig.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Dr. Eckhart Pick [SPD])


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205729500
Nunmehr erteile ich der Staatsministerin der Justiz des Freistaates Bayern, Frau Berghofer-Weichner, das Wort.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1205729600
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! sie beraten heute erstmals über den Gesetzentwurf des Bundesrates zur Entlastung der Rechtspflege. Wollte man der bisweilen schrill und lautstark geführten öffentlichen Diskussion folgen, so stünde damit gleichzeitig die Aushöhlung des Rechtsstaats auf der Tagesordnung. Wenn auch in jüngster Zeit solche Katastrophenmeldungen spärlicher geworden sind — ein genaueres Studium des Entwurfs mag dazu beigetragen haben — , besteht Anlaß, die Maßstäbe zurechtzurücken.
Die Vorschläge des Entwurfs führen nicht zum Zusammenbruch des Rechtsstaats, sondern sie sind erforderlich zum Aufbau der rechtsstaatlichen Justiz in den neuen Ländern. Dieser Anlaß des Entwurfs spielt in der Kritik eine merkwürdig bescheidene Rolle. Man will nicht mehr sehen, daß 40 Jahre Kommunismus nicht zuletzt eine marode Justiz hinterlassen haben, die bei den Bürgern Schrecken und nicht Vertrauen verbreitet hat.
Bund und Ländern stellt sich mit dem Aufbau einer rechtsstaatlichen Gerichtsbarkeit in den neuen Ländern eine Aufgabe ganz neuer Dimension, die auch bei Einsatz aller vorhandenen Kräfte zunächst über ihre Kraft geht. Ich danke für die von verschiedenen Rednern gezollte Anerkennung für die bisherigen Anstrengungen der Länder. Diese Anstrengungen sollten unsere Forderung nach Entlastung durch dieses Gesetz glaubwürdig machen; denn wir sind an der Grenze dessen, was man im Moment und ohne weitere Entlastung leisten kann.
Unter dem Eindruck der Berichte der neuen, frisch im Amt befindlichen Kollegen bestand bei der Justizministerkonferenz im Dezember vorigen Jahres Einigkeit, daß die erforderliche personelle Hilfe nur geleistet werden kann, wenn die ohnehin am Rande der Belastbarkeit arbeitenden Gerichte der alten Länder schnell und wirksam entlastet werden.
Ich betrachte es übrigens als besondere Verantwortung, daß ich in jenem Jahr der Wiedervereinigung Vorsitzende der Justizministerkonferenz war. Dies ist auch der Grund, warum ich mich ganz besonders für diesen Bereich engagiere.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich freue mich — wenn Sie mir diese Randbemerkung erlauben — , daß mit mir heute wenigstens eine Frau hier im Hause zu diesem wichtigen Thema der Dritten Gewalt das Wort ergreifen kann.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Auch das begrüßen wir!)

Auch der auf Grund dieses Beschlusses erarbeitete Entwurf fand über die Parteigrenzen hinweg die Zustimmung der Justizministerkonferenz. Der Aufschrei der Empörung, vor allem von seiten der Verbände, hat dann allerdings seine Wirkung nicht ganz verfehlt und zu vereinzelten Kehrtwendungen geführt. Dennoch, meine Damen und Herren, wurde der Entwurf schließlich von zehn Ländern, darunter allen fünf neuen Ländern, eingebracht und vom Bundesrat mit gewissen Änderungen, die sich bei den Beratungen im Rechtsausschuß ergaben, beschlossen.
Meine Damen und Herren, die Situation erfordert rasches Handeln. Die neuen Länder stehen vor einer Verfahrensflut, die in den nächsten Monaten anschwellen wird. Rehabilitierungs- und Kassationsverfahren, Aufarbeitung der Regierungskriminalität, Eigentums- und Vermögensstreitigkeiten, Mietprozesse, Arbeitsgerichtsverfahren strömen in großer Zahl auf die Gerichte ein. Marktwirtschaft, meine Damen und Herren, kann ohne funktionierende Zivilgerichtsbarkeit nicht existieren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP — Zuruf von der CDU/ CSU: Die wollen wir ja aufbauen!)

Schnell wachsende Rückstände und unzumutbar lange Verfahrensdauern würden zu einer Resignation der Rechtsuchenden führen und das gerade erst aufzubauende Vertrauen in die Rechtspflege gefährden.
Die im Entwurf vorgeschlagenen Verfahrenserleichterungen sollen hier zweierlei bewirken: zum einen die einfachere und schnellere Verfahrensbewältigung durch die noch im Aufbau befindliche Justiz in den neuen Ländern, zum anderen die Freisetzung von Kapazitäten in den alten Ländern als Voraussetzung für die personelle Hilfe im erforderlichen Ausmaß. Dabei geht es im wesentlichen um Juristen. Für alle anderen Laufbahnen läuft in den neuen Ländern bereits die Ausbildung eigener Kräfte. Sie ist auch zeitlich viel kürzer und kann z. B. für die sogenannten Bereichsrechtspfleger, für eine Übergangszeit wesentlich verkürzt und vereinfacht werden.
Was die als Allheilmittel angesehene EDV betrifft: Ich lade Sie ein, sich bei mir anzusehen, was die EDV leisten kann. Sie werden mit mir übereinstimmen, daß der unabhängige Richter durch EDV zwar unterstützt, in seiner verantwortlichen Entscheidung aber durch noch so perfekte Computer nicht ersetzt werden kann. Die Diskussion um die EDV liegt deshalb neben unserem Problem.
Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang wird immer wieder darauf hingewiesen, daß doch aus dem westdeutschen Arbeitsmarkt für Juristen geschöpft werden könne. Das ist angesichts des Bedarfs auch beim Aufbau der Verwaltungen und sonstigen juristischen Bereichen in den neuen Ländern schon zahlenmäßig nicht möglich. Benötigt werden vor allem aber auch berufserfahrene, mit dem rechtsstaatlichen Justizsystem der Bundesrepublik Deutschland vertraute Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte sowie sonstige Beamte, die auch für Beförderungsämter und für die höheren Instanzen in Frage kommen.



Staatministerin Dr. Mathilde Berghofer-Weichner (Bayern)

Meine Damen und Herren, ich freue mich, daß sich in diesen Tagen die ersten Mitarbeiter aus meinem Land in wesentliche Funktionsstellen in Sachsen versetzen lassen; und es werden weitere folgen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Schon aus Zeitgründen kann ich hier nicht im einzelnen auf den Inhalt des Gesetzentwurfs eingehen.
Eine Bemerkung des Herrn Abgeordneten Kleinert möchte ich aber doch aufgreifen, nämlich die über den Bundesgerichtshof. Der Bundesgerichtshof will im Gegensatz zu anderen obersten Bundesgerichten sein Personal nicht verstärken, obwohl .er einer Bevölkerungszunahme und damit wohl auch einer größeren Anzahl von Prozessen — um 15 bis 25 % — gegenübersteht. Ich meine, das ist sehr anerkennenswert. Aber wenn er nicht nach mehr Personal ruft, dann müssen wir wohl anerkennen, daß die Verfahren vereinfacht werden und daß die Anzahl der Verfahren, die zum Bundesgerichtshof gelangen, reduziert wird; denn sonst ist die Arbeit dort nicht zu bewältigen.

(Detlef Kleinert [Hannover] [FDP]: Aber nicht zum Zwecke der Ersatzgesetzgebung!)

Nach meiner auf Sachkunde — auch als Richterin und Staatsanwältin — beruhenden Überzeugung, die von der großen Mehrheit meiner Kolleginnen und Kollegen unter den Justizministern und -senatoren geteilt wird, ist der Entwurf geeignet, das Entlastungsziel zu erreichen. Er führt zur Straffung der Verfahren und damit gleichzeitig zu schnellerer Rechtsgewährung. Gerade den Menschen in den neuen Ländern — einige Kollegen aus den neuen Ländern haben mich beauftragt, das hier ausdrücklich zu sagen — fehlt es übrigens an Verständnis für unser fast unüberschaubar verästeltes Luxusmodell von Rechtsstaat.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Einfachere Strukturen werden ihnen das Eingewöhnen leichter machen.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Jawohl!)

Der Rechtsstaat ist durch unsere Vorschläge nicht in Gefahr. Er verwirklicht sich nicht im Angebot möglichst vieler Instanzen, sondern in der Garantie unabhängiger, gut qualifizierter Richterinnen und Richter, die verantwortungsbewußt ihre Arbeit leisten. Dieses Verantwortungsbewußtsein macht sie auch bereit, die Last des Aufbaus in den neuen Ländern mit zu übernehmen, unabhängig davon, ob sie versetzbar sind oder nicht. Sie tun es freiwillig; denn sie wissen, daß es eine Notsituation zu bewältigen gibt. Bekanntlich sind wesentliche Maßnahmen des Entwurfs auf die mutmaßliche Dauer dieser Notsituation befristet. Auch das geht in der öffentlichen Diskussion leider oft unter.
Sachliche Kritik und Gegenvorschläge sind vom Bundesrat schon aufgegriffen worden und werden im weiteren Gesetzgebungsverfahren zu prüfen sein.
Jegliches Verständnis aber fehlt mir für diejenigen, die nun in düsteren Farben den Untergang des Rechtsstaats suggerieren und die Justizminister unredlicher Motive bezichtigen. Wahrscheinlich würden diese Kritiker es begrüßen, wenn sich die Justizminister auf den bequemen Ruf nach mehr Stellen beschränkten. Wir brauchen aber Menschen, keine Stellen! Allerdings darf unser Vorschlag nicht zur Beseitigung von Stellen in den alten Ländern mißbraucht werden. Nach Ablauf der fünf Jahre werden sie wieder voll benötigt.
Meine Damen und Herren Abgeordneten, ich appelliere an Sie, sich Ihrer Mitverantwortung für die Funktionsfähigkeit der Gerichtsbarkeit im ganzen Deutschland zu stellen. Deutschland kann nur insgesamt ein Rechtsstaat sein oder überhaupt nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Auch auf diesem Gebiet können wir das Ziel nur durch Teilen erreichen.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: So ist es!)

Die Stellungnahme der Bundesregierung, die den Entwurf im Grundsatz unterstützt, geht davon auch aus.

(Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD]: Tut sie das wirklich? — Norbert Geis [CDU/CSU], zu Abg. Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD] gewandt: Im Grundsatz, Herr Meyer!)

Die Länder sind — das hat unser bisheriger Einsatz gezeigt — zu größter Kraftanstrengung bereit. Wir brauchen aber die Mitwirkung des Bundesgesetzgebers, um zum Erfolg zu kommen. Länderfreundlichkeit ist gefragt. Niemand soll später sagen können, er habe nicht gewußt, was beim Aufbau der Justiz auf dem Spiel steht.
Vielleicht ist es kein Zufall, meine Damen und Herren, daß in unserer Nationalhymne das Recht vor der Freiheit steht. Ohne Recht gibt es keine Freiheit. Seien Sie sich bitte Ihrer Verantwortung für die Funktionsfähigkeit der Dritten Gewalt bewußt!

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205729700
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor, so daß ich die Debatte schließen kann.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/1217 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Andere Vorschläge werden aus dem Hause nicht gemacht. — Dann darf ich das als beschlossen feststellen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Vereinbarte Debatte
zur deutschen und europäischen Weltraumpolitik
Dazu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP sowie der Fraktion der SPD vor.
Der Ältestenrat empfiehlt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde. — Das wird offensichtlich akzeptiert. Es ist so beschlossen.
Ich kann also die Debatte eröffnen. Zunächst erteile ich das Wort dem Abgeordneten Lenzer.

Christian Lenzer (CDU):
Rede ID: ID1205729800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren zu dieser etwas vorgerückten Stunde, am Vorabend großer Er-



Christian Lenzer
eignisse in der europäischen Raumfahrt, über die beiden Entschließungsanträge die der Herr Präsident genannt hat. Um gleich am Anfang etwas zum Prozedere zu sagen: Wir empfehlen — über eine Unterstützung des anderen Antragstellers, nämlich der SPD-Fraktion, würden wir uns freuen — , die beiden Anträge den zuständigen Ausschüssen zu überweisen, damit wir in Ruhe und in aller Sachlichkeit über diese sehr komplexe Materie beraten können.
Am 18. und 19. November, also bereits in der nächsten Woche, finden die Beratungen der ESA-Ministerratskonferenz in München statt. Die Bundesrepublik Deutschland ist also Gastgeber und wird maßgeblich dazu beitragen können, daß hier wichtige Weichenstellungen für Europas Beitrag zur bemannten und unbemannten Raumfahrt stattfinden, aber sie wird auch Aussagen über die Konsequenzen machen müssen, die dies für unsere nationale Forschungs- und Technologiepolitik hat.
Die beiden Anträge, so glaube ich, die natürlich von verschiedenen Positionen ausgehen, dienen der Klarstellung und der Präzisierung der Ziele. Sie bemühen sich auch — z. T. wenigstens —, Tendenzen in bezug auf die Finanzierung aufzuzeigen.
Lassen Sie mich feststellen, daß wir uns im Parlament und in den zuständigen Ausschüssen — z. B. im Ausschuß für Forschung und Technologie —, aber auch in vielen Einzelfragen bei Anhörungen und in Einzelgesprächen mit Interessenvertretern immer wieder mit denselben Fragen konfrontiert sehen. Dies kann nicht anders sein; denn wir befinden uns in einer sehr komplexen Verhandlungslage, wo wir nicht allein auf weiter Flur stehen, sondern wo wir in internationale Verträge und in internationale Partnerschaften eingebunden sind.
Es stellt sich die Frage nach den Inhalten des europäischen Weltraumprogramms, des „ESA Long Term Program", kurz ETP. Des weiteren stellt sich die Frage der Finanzierung, die Frage der internationalen Arbeitsteilung sowie die Frage des Verhältnisses der ESA gegenüber den nationalen Programmen, welches sehr ausgewogen sein soll. Alle diese Fragen haben uns seit geraumer Zeit beschäftigt.
Ich möchte uns an den Ausgangspunkt dieser Überlegungen erinnern. Der Ausgangspunkt war die ESA-Ministerratstagung im Jahre 1987 in Den Haag. Ich glaube, man kann schon heute sagen: Vielleicht hat sich bereits damals abgezeichnet, daß man möglicherweise die Finanzierungsziele nicht werde einhalten können. In der Tat: In den auf diese Konferenz folgenden Jahren ist immer wieder der Zwang der Haushaltslage ursächlich dafür gewesen, daß neue, alternative Szenarien entwickelt werden mußten. Ich möchte mich bei denen bedanken, die daran mitgewirkt haben. Ich weiß: Es ist auf die Dauer sehr frustrierend, wenn man sich immer wieder bemüht, ein schlüssiges, kohärentes Programm auszuarbeiten, und plötzlich wieder von neuen politischen Vorgaben ausgehen muß und alle Zahlen, die man in mühevoller Kleinarbeit erstellt hat, plötzlich nicht mehr stimmen. Das gilt auch für die Mitarbeiter des Bundesministers für Forschung und Technologie, der heute abend durch den Parlamentarischen Staatssekretär Bernd Neumann vertreten ist. Ich möchte — Herr Neumann
wird es vielleicht selber auch tun — ausdrücklich betonen, daß Bundesminister Riesenhuber gern in dieser
Debatte gesprochen hätte, daß er aber heute abend
— dafür bitte ich Sie um Verständnis — nicht hier unter uns sein kann — er steht uns ja immer sehr bereitwillig zur Verfügung — ,weil er an den Tagungen des deutsch-französischen Gipfels teilzunehmen hat.
Die Grundsätze der damaligen Konferenz, der ESA in Den Haag, haben, auch wenn sie die finanziellen Rahmenbedingungen drastisch verändert haben, nach wie vor Gültigkeit. Sie sind mit dem Satz zusammenzufassen, daß die deutsche Beteiligung an bemannter und unbemannter Raumfahrt als einer anspruchsvollen Technik nicht nur für die Erhaltung unserer technisch-wissenschaftlichen Kompetenz wichtig ist, sondern daß sie auch weit darüber hinaus von außenpolitischer Bedeutung ist.

(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Mutige Worte mit leerem Portemonnaie!)

— Na, Herr Catenhusen, so leer ist das Portemonnaie nicht. Ich glaube, da haben Sie mehr Erfahrung; da könnte man den berühmten Vergleich mit dem Känguruh und den großen Sprüngen mit einem leeren Beutel anziehen.
Die gleichberechtigte Partnerschaft setzt eigenständige Kompetenz voraus. Das haben wir immer wieder bei internationalen Kooperationsverträgen gesehen. Man kann sich nicht zurücklehnen und sagen, andere Länder mögen gefälligst die Verantwortung übernehmen, und man selbst beteiligt sich mit einem marginalen Finanzbeitrag, ohne sich wirklich zu engagieren.
Ich weise darauf hin — das muß man ganz deutlich sehen, und ich mache damit den Vorgänger-Regierungen überhaupt keinen Vorwurf — : Wenn Frankreich damals nicht eisern darauf bestanden hätte, daß zu einer vernünftigen Raumfahrtpolitik auch eine Trägerrakete gehört, wäre heute der Erfolg der Ariane, der im internationalen Geschäft nun wirklich offensichtlich ist, nicht so, daß sogar amerikanische, private Investoren ihre Satelliten mit dieser Ariane hochschießen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Nur die Post weiß es noch nicht!)

— Das hat andere Gründe. Da hatten Sie ja gestern Gelegenheit — und die haben Sie auch wahrgenommen — , in einer großen Fragenserie von dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Post und Telekommunikation Antwort zu erhalten. Ich glaube, diese Antwort war sehr erschöpfend.
Nun, dieser Diskussionsprozeß mit den alternativen Szenarien trägt der unterschiedlichen Haushaltslage Rechnung: Leitmodell, aktualisiertes Leitmodell und wie die Termini technici alle heißen, bis wir schließlich bei einer Art Status angelangt sind, dem sogenannten Darmstädter Szenario, so benannt, weil diese Tagung der ESA-Arbeitsgruppe in Darmstadt in der ESOC stattgefunden hat. Ich möchte sagen, die CDU/CSU bekennt sich zu diesem Darmstädter Szenario, welches davon ausgeht, daß die drei großen



Christian Lenzer
Projekte Columbus, Hermes und Ariane-V-Entwicklung weitergeführt werden.

(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Aber bezahlen können Sie das nicht!)

Ob das unter den ursprünglichen Voraussetzungen noch möglich sein wird, steht zur Stunde noch dahin. Hier gibt es Abstimmungsbedarf. Nicht zuletzt dienen die Gespräche auf dem deutsch-französischen Gipfel heute und morgen zwischen dem Herrn Bundeskanzler und dem Präsidenten der Französischen Republik, aber auch zwischen den Fachministern, die gerade zu dieser Stunde stattfinden, der Klärung des Sachverhalts. Ich glaube, Sie werden mir recht geben, daß es ohne die Klärung dieser Fragen zwischen — ich sage das ohne Anmaßung — den vielleicht wichtigsten Partnern der ESA, nämlich Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland, nicht zu einer weiteren Fortschreibung dieser Planungen kommen kann. Deswegen ist es auch durchaus logisch und hat mit etwa unterlassenen Schularbeiten überhaupt nichts zu tun, daß man heute noch nicht von festen Vereinbarungen ausgehen kann. Für die Konferenz in München am Montag und Dienstag kämen sie ohnehin zu spät. Es ist auch durchaus nicht so eilbedürftig, wie es schien.
Ich halte also fest, Columbus, Hermes und Ariane V, das ist das Ergebnis eines iterativen Prozesses mit neuen Prioritäten zu denen, die da hinzugetreten sind, wie etwa die Erdbeobachtung oder aber auch die Umweltforschung.

(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Endlich mal etwas Sinnvolles!)

— Das ist in der Tat so. — Ich stelle wiederum und zusätzlich fest, daß es für uns nach wie vor ein Zwangspunkt ist, daß, wenn sich das Darmstadt-Szenario als nicht finanzierbar erweisen sollte — ganz gleich, aus welchen Gründen —, dann auch über die Inhalte des Programms neue Überlegungen angestellt werden müssen.

(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Na endlich!)

Dazu werden wir in den Ausschußberatungen Zeit genug haben. Ich glaube, das erwarten Sie auch nicht anders.
Ich verweise zum Abschluß meiner Bemerkungen noch einmal auf den gemeinsamen Antrag, zu dem sich sicherlich auch noch der Kollege Dr. Laermann äußern wird. Deswegen kann ich es mir ersparen, diese einzelnen Punkte alle aufzuzählen. Ich möchte nur so viel noch einmal sagen, daß wir verschiedene Forderungen mit diesem Antrag verknüpfen. Wir möchten die Bundesregierung auffordern, noch stärker nutzungsorientiert vorzugehen. Wir möchten sie — vor allen Dingen den zuständigen Forschungsminister — ermuntern, dafür zu sorgen, daß die Ressortkollegen aus den anderen Bereichen — etwa Post und Telekommunikation oder Umwelt — sich als potentielle Nutzer noch stärker an diesen Projekten beteiligen. Ich bin eigentlich sehr zuversichtlich, weil ich auch bei der SPD als Antragstellerin davon ausgehe, daß sie sich, wie mir scheint, trotz unterschiedlicher Auffassungen innerhalb der Fraktion durchaus bereit
finden wird, über die Dinge neu nachzudenken. Ich zweifle nicht daran, daß wir zu einer vernünftigen Beschlußempfehlung in dem dann sicherlich federführenden Bundestagsausschuß für Forschung und Technologie kommen werden, und freue mich schon jetzt auf sehr anregende und manchmal auch sicher mehr oder weniger hitzige Diskussionen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205729900
Jetzt spricht der Abgeordnete Lothar Fischer.

Lothar Fischer (SPD):
Rede ID: ID1205730000
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Zunächst einmal eine süffisante Bemerkung. Auf dem Entschließungsantrag der SPD konnte ich an erster Stelle den Namen des CDU-Kollegen Dirk Fischer (Hamburg) sehen.

(Christian Lenzer [CDU/CSU]: Ein sehr sympathischer Kollege!)

Also, mir ist nicht bekannt, daß der Kollege Dirk Fischer in die SPD konvertiert ist, genausowenig wie ich umgekehrt in die CDU gewechselt bin.
Der Langzeitplan der Europäischen Weltraumagentur, ESA, ist nicht finanzierbar. Die von uns befürchtete Kostenlawine ist eingetreten. Seit langem fordern wir Sozialdemokraten die Bundesregierung zu einem Überdenken ihrer Positionen auf. Viel zu spät und erst auf Initiative der SPD-Fraktion, befaßt sich jetzt der Bundestag mit dem Debakel der europäischen Raumfahrtpolitik.
Wir müssen endlich vom Krisenmanagement wegkommen, wie es derzeit in der Weltraumpolitik der Bundesregierung üblich ist. Es ist doch schon peinlich, wenn der Kollege Riedl — er ist jetzt leider nicht da — vorschlägt, daß man einen Teil der Ausgaben für die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den neuen Ländern zugunsten des Raumfahrtetats umschichten solle; nachzulesen in der „Süddeutschen Zeitung".

(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Das ist ja ein Trauerspiel!)

Die SPD fordert die Bundesregierung auf, die endgültige Entscheidung über den Langzeitplan um 18 Monate zu verschieben. Lassen Sie mich diese Forderung näher erläutern.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205730100
Sie gestatten eine Zwischenfrage? — Bitte.

Christian Lenzer (CDU):
Rede ID: ID1205730200
Herr Präsident, ich bitte um Entschuldigung, daß ich mich sofort zu Wort gemeldet habe.
Ich wollte nur richtigstellen, Herr Kollege Fischer: Der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Riedl nimmt natürlich an eben dieser Zusammenkunft heute abend teil. Er bedauert es außerordentlich — ich bitte Sie, das so zur Kenntnis zu nehmen —, daß er deswegen nicht mit uns diskutieren kann.

Lothar Fischer (SPD):
Rede ID: ID1205730300
Ich habe seine Abwesenheit nicht moniert. Ich habe nur auf die Stel-



Lothar Fischer (Homburg)

lungnahme der „Süddeutschen Zeitung" Bezug genommen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Zeitungen!)

In jüngster Zeit haben sich die zentralen Rahmenbedingungen des ESA-Langzeitplans so verändert, daß sie einen Kurswechsel erfordern.
Erstens. Der Ost-West-Konflikt existiert nicht mehr. Die Systemkonkurrenz ist als Triebfeder für die bemannte Raumfahrt weggefallen. Auch das muß man feststellen.
Zweitens. Der Wandel in der Sowjetunion eröffnet neue Perspektiven in der Zusammenarbeit.

(Jürgen Timm [FDP]: Die wir bezahlen müssen!)

Das faktische Monopol der USA in einzelnen Bereichen ist gebrochen. Denkbare Kooperationsmöglichkeiten sind noch nicht durchgeführt.
Drittens. Maßnahmen, die der Bewahrung unserer Umwelt dienen, haben absolute Priorität. Die Mission zum Planeten Erde, die Beobachtung unserer Umwelt und unseres Klimas, kann hierbei einen wertvollen und wesentlichen Beitrag leisten.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Dietrich Mahlo [CDU/CSU])

Viertens. Die Euphorie über den Nutzen der bemannten Raumfahrt ist einer nüchternen Betrachtungsweise gewichen.

(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Dem Desinteresse gewichen!)

Die Seifenblasen — „schnelle Vermarktung der µG-Forschung" oder aber ,,spin-off-Effekte" — sind zerplatzt. Bemannte Missionen zu anderen Planeten oder aber — wie es schon gefordert worden ist — „Fabriken im Orbit" sind, wenn sie überhaupt sinnvoll sind, Zukunftsmusik und ohnehin nur global zu finanzieren.
Fünftens. Die soziale Einheit in Deutschland und das Zusammenwachsen Europas kosten Geld. Hierunter hat gerade die deutsche Forschungs- und Technologiepolitik dank des mangelnden Durchsetzungsvermögens des Forschungsministers bei seinem Kollegen Finanzminister zu leiden. Demgegenüber verteuert sich der ESA-Langzeitplan von Mal zu Mal.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das widerspricht eins bis vier!)

— Ich bin gespannt, was Herr Riesenhuber von Herrn Waigel bekommt.
Die Umsetzung der gegenwärtigen Pläne wären für die Forschung katastrophal. Die bisher vom Forschungsminister gezeigte Nibelungentreue hat sich bereits für die deutsche Weltraum-Community als Bärendienst erwiesen.
Die Kosten des Langzeitplans nach dem Szenario von Darmstadt lassen sich nicht aufbringen, ohne andere Raumfahrtprojekte zu erdrücken. Das nationale Programm wird immer weiter zurückgefahren. Wir fordern in unserem Antrag, daß das nationale Programm einen Anteil von 40 % des Gesamthaushalts haben muß.
Im übrigen, in der DLR-Studie vom August dieses Jahres sind etwa 50 %, also Gleichgewichtigkeit von nationalen und internationalen Programmen, gefordert.

(Abg. Jürgen Timm [FDP] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Wenn es nicht angerechnet wird.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205730400
Ja. Bitte schön, Herr Abgeordneter Timm.

Jürgen Timm (FDP):
Rede ID: ID1205730500
Lieber Lothar Fischer, wenn ich alles addiere, was Sie aufgezählt haben: Wie soll, wenn das Ihrer Meinung nach alles nicht finanzierbar ist, die Finanzierung z. B. einer Zusammenarbeit mit der Sowjetunion erfolgen? Wie beurteilen Sie dann die Lage einer solchen Zusammenarbeit im Hinblick auf die Nutzung? Doch auch wirtschaftlich oder?

Lothar Fischer (SPD):
Rede ID: ID1205730600
Ja, sicher. Die Nutzung beurteile ich wirtschaftlich; das ist natürlich ganz klar. Ich werde nachher noch darauf zurückkommen.
Wir wollen eine internationale Kooperation zwischen den Europäern, den Amerikanern, den Sowjets und den Japanern. Man kann sich natürlich auch auf die Idee fixieren, daß man das Dreirad mehrmals erfinden muß. Da sagen wir: Vorhandenes Potential sollten wir nutzen, zumindest die Gesprächsbereitschaft zeigen, um mit denen dann auch zu verhandeln. Die Amerikaner haben ja den Shuttle, und die Sowjets haben die Plattform Mir. Da sollten wir in die Gespräche eintreten. Das ist mit Sicherheit billiger.

(Jürgen Timm [FDP]: Sie wollen doch aus allem aussteigen, haben Sie gerade erklärt!)

— Dann haben Sie unseren Antrag nicht gelesen, lieber Jürgen Timm.
Heute klagen Wissenschaftler, daß die Programme zur µG-Forschung gekürzt werden. Die Leidtragenden sind vor allen Dingen Universitäten. Die µG-Forschungsmittel sind in terrestrischen Bereichen be-kürzt bzw. ganz gestrichen worden. Ich erinnere nur an die Fallschacht-Diskussion, wo sich drei Bundesländer beworben haben, einen Fallschacht zu errichten oder bestehende zu nutzen: Saarland, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Dieses Programm ist gekillt worden.
Die Politik, die sich jegliche Gestaltungsspielräume verbaut, ist nicht mehr seriös. Angesichts der veränderten Rahmenbedingungen und der nicht akzeptablen Kosten soll die Verschiebung des Entscheidungstermins als Chance begriffen werden, eine schlüssige und vernünftig finanzierbare deutsche und europäische Weltraumpolitik zu erarbeiten.
Hierbei sollten wir uns von folgendem leiten lassen: Der ESA-Langzeitplan zielte darauf ab, Westeuropa auf dem Gebiet der bemannten Weltraumfahrt zu emanzipieren. Dieses Autonomiestreben ist obsolet geworden und verschlingt Gelder, die anderswo sinnvoller anzulegen sind. Wir fordern deshalb eine Beschränkung des Weltraumanteils am Gesamtforschungshaushalt von 15 %.



Lothar Fischer (Homburg)

Die Gefahr besteht, daß die Großprojekte auf Kosten anderer Forschungsbereiche weiter finanziert werden. Fragen Sie doch beispielsweise bei Großforschungseinrichtungen nach. Da fehlt doch an allen Ecken und Kanten das Geld. 2 000 bis 3 000 Wissenschaftlerstellen müssen in dem Bereich bis 1995 abgebaut werden.
Die Kooperation, wie von uns gefordert, ist nur möglich, wenn alle Partner gleichberechtigt sind; denn es darf natürlich auch nicht passieren, daß Europa nur als Juniorpartner behandelt wird.
Zu den einzelnen Elementen möchte ich etwas sagen. Das Projekt Hermes ist nicht zustimmungsfähig. Obwohl dessen Start in immer weitere Ferne rückt, hat der „Kostengleiter" bereits abgehoben. Seine prognostizierten Kosten erreichen schon jetzt astronomische Höhen. Angesichts der immer noch bestehenden technologischen Schwierigkeiten und seiner derzeitigen Auslegung kann Hermes die sogenannte Kohärenz des ESA-Langzeitprogramms nicht gewährleisten. Es ist meines Erachtens noch nicht absehbar, ob eine Verlängerung der Technologiephase dazu führt, daß die Fliegbarkeit von Hermes verbessert und eine Nutzlasterhöhung erzielt wird.
Deshalb und angesichts der Kosten ist es für uns unumgänglich, daß die ESA und die Bundesregierung in den bevorstehenden 18 Monaten alles unternehmen, um tragfähige Alternativen auszuloten. In Verhandlungen mit den USA, der UdSSR und Japan sind die Möglichkeiten einer gleichberechtigten Kooperation zu prüfen, sei es, um die Mitnutzung eines bereits vorhandenen Raumgleiters zu vereinbaren, oder sei es, um gemeinsam einen modernen Raumgleiter zu konzipieren.
Lassen Sie es mich ganz klar sagen: Für Westeuropa ist ein eigener Raumgleiter nicht nötig. Die Verlängerung der Technologiephase befürworten wir nur, weil wir damit die Chancen für eventuelle Kooperationen nicht verbauen wollen und damit die deutsche Raumfahrtforschung weiteres Know-how in den Bereichen der Wiedereintrittstechnologie gewinnen kann; Know-how, welches z. B. für wiederverwendbare Nutzlastkapseln benötigt wird.
Die Trägerrakete Ariane V ist dagegen voll zu befürworten. Angesichts der Erfolge der Ariane V — sie hat inzwischen einen Weltmarktanteil bei kommerziell genutzten Satellitenstarts von über 50 % — ist es aber für uns unverständlich, daß ARIANESPACE an den Entwicklungskosten der Ariane V nicht entsprechend beteiligt wird. Im übrigen ist das, wenn ich es richtig erinnere, ja immer die Forderung auch von Kollegen der anderen Fraktionen gewesen.
Mit Unverständnis mußten wir die Entscheidung der Telekom in Sachen Kopernikus 3 zur Kenntnis nehmen. Hierzu haben wir bereits gestern eine Serie von Fragen gestellt, die aus unserer Sicht leider nicht beantwortet worden sind. Herr Lenzer, die Antworten bewerten wir also ganz anders als Sie. Wir würden es begrüßen, wenn uns der Staatssekretär weitere Auskünfte geben könnte, insbesondere zur Rolle der DARA und der Tatsache, daß die DARA immer noch von allen Bundesministern mit Ausnahme des BMFT ignoriert wird.
Zu Columbus erspare ich mir eine Stellungnahme; dies wird meine Kollegin Ilse Janz in der gebotenen Ausführlichkeit erledigen.
Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Nicht alles, was technisch möglich ist, ist auch finanzierbar. Deshalb sollten wir alle die derzeitige Finanzkrise im Raumfahrtetat als Chance begreifen, über die Ziele der deutschen und europäischen Raumfahrt zu sprechen. Es ist ein schweres Versäumnis der Bundesregierung, daß sie diese Diskussion trotz Kenntnis der schwierigen Finanzlage und der veränderten Rahmenbedingungen noch nicht initiiert hat. Wir Sozialdemokraten sind hierzu bereit.
Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205730700
Nun erteile ich dem Abgeordneten Hans Laermann das Wort.

Prof. Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann (FDP):
Rede ID: ID1205730800
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann mit einigen Ausführungen des Kollegen Fischer konform gehen, aber ich möchte dann auch, daß dieses Überlegungsgerüst in sich konsistent werden möge. Ich kann nicht auf der einen Seite verlangen, daß wir internationale Kooperation haben, und einen Satz später sagen: Aber wir wollen aus internationaler Kooperation aussteigen. Man muß mir einmal klarmachen, wie man das miteinander verbindet.

(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Wer hat das gesagt?)

Ich habe noch sehr wohl in Erinnerung — das ist gar nicht lange her, nur einige Jahre her; es war am Beginn der Diskussion um das ESA-Langzeitprogramm — : Da waren die verehrten Kollegen von der SPD-Fraktion in Paris. Dann waren sie bei einem Treffen in Aachen. Dann haben sie die Bundesregierung dafür beschimpft, warum sie sich zum Hermes so zurückhaltend äußert; denn er sei doch unbedingt notwendig und wichtig, und im Zuge der europäischen Kooperation müsse sich die Bundesregierung doch nun endlich für Hermes entscheiden. Sie verstünden nicht, warum man so viele Bedenken habe. Da kann man einmal sehen, wie sich das im Laufe der Zeit so wandelt.

(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Manche lernen schneller, Herr Laermann!)

— Es ist nachweisbar, daß Sie das so gefahren haben.
Ich möchte nur noch einmal feststellen: Die Beteiligung Deutschlands an anspruchsvollen Raumfahrtprojekten muß weiterhin sichergestellt werden. Solche Projekte sind eine Herausforderung für Europa und auch für die Völkergemeinschaft. Ich denke, wir sollten hier wirklich an einem Strang ziehen. Denn solche Projekte erschließen in der Tat den Weg in breite Technolgiefelder der Zukunft. Deshalb müssen die aktuellen Weltraumprogramme im Einvernehmen mit den internationalen Partnern — nicht gegen sie — auch stärker nutzungsorientiert konzipiert werden. Da sind wir uns einig. Ich hoffe, wir können das



Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann
dann auch so nach außen darstellen. Sie können wirklich nicht Selbstzweck sein.
Auch sind die politischen Veränderungen in Europa in Anbetracht der Langfristigkeit der ESA-Konzeptionen in den weiteren Entwicklungen zu berücksichtigen. Aber das geht nun einmal nicht von heute auf morgen. Im Zuge der weiteren Entwicklung ist das jedoch zu berücksichtigen.
Ausgehend von den politischen und industriellen Zielsetzungen muß an Hand der staatlichen und privaten Nachfrage neu festgelegt werden, welche Infrastrukturprojekte im Weltraum mit staatlichen Mitteln in welchem Umfang gefördert werden sollen. Die internationalen Verträge und Verpflichtungen sind dabei zu beachten, um — ich formuliere es vorsichtig — außenpolitische Irritationen zu vermeiden. Es dürfte wohl unstrittig sein, daß wir eine immer engere europäische und darüber hinaus internationale Kooperation wollen. Dann müssen wir auch ein verläßlicher Partner sein.

(Edelgard Bulmahn [SPD]: Das ist richtig! — Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Aber alles können Sie ja nicht bezahlen!)

Es hätte verheerende Folgen, wenn gerade wir aus der Bundesrepublik die ersten wären, die internationale Vereinbarungen in Frage stellen wollten. Wir stünden unweigerlich als Technologie- und Industrienation mutterseelenallein in der Welt. Wir hätten überhaupt keine Chance mehr, mit Glaubwürdigkeit in internationale Kooperation, welcher Art auch immer, einzusteigen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205730900
Herr Professor Laermann, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?

Prof. Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann (FDP):
Rede ID: ID1205731000
Wenn es mir nicht angerechnet wird, selbstverständlich.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205731100
Nein, selbstverständlich nicht.

Siegmar Mosdorf (SPD):
Rede ID: ID1205731200
Herr Kollege Laermann, sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß es heute obsolet ist, in Systemkonkurrenzen zu denken, und daß deshalb auch des Streben nach nationaler und auch europäischer Autonomie auf diesem wichtigen Feld der Zukunftsfragen obsolet ist, und sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß man eigentlich so etwas bräuchte wie eine World Space Agency, wo sowohl die Kenntnisse der Amerikaner, der Sowjets wie auch der Europäer zusammenfließen und wir damit Synergieeffekte haben und viel, viel volkswirtschaftliche Ressourcen sparen können?

Prof. Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann (FDP):
Rede ID: ID1205731300
Herr Präsident, meine Antwort wird möglicherweise so lang wie die Frage.
Erstens bin ich nicht mit Ihnen derselben Meinung. Wir sollten auf das Thema zurückkommen: Wir sprechen über internationale Kooperation im europäischen Sinne — das war die erste Stufe —, und wir sollten das sehr würdigen. Wir sind aber mit der europäischen Kooperation in die internationale Kooperation mit Kanada, den USA und Japan eingetreten. Ich
denke, daß wir unter Berücksichtigung der derzeitigen Entwicklung im Laufe der Zeit auch die Sowjetunion in diese weiteren Überlegungen einbeziehen werden. Das heißt, hier ist internationale Kooperation praktiziert und gefragt.
Wenn ich die letzten Aussagen von Herrn Kollegen Catenhusen sehe, dann will er jetzt auch aus den anderen Kooperationen aussteigen. Aus der Fusionsforschung will er ja auch aussteigen.

(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Quatsch!)

Ich sehe nicht, daß wir diese Entwicklung betreiben sollten, Herr Kollege Mosdorf, weil wir das aus strategischen Gründen betrachten. Ich nehme an, daß Sie mehr militärpolitisch-strategische Gründe meinen als wirtschaftspolitische. Dies ist nicht der Punkt. Wir müssen hier vielmehr zukunftsorientiert auf die neuen Technologien setzen. Das ist die Chance Europas, und das ist auch unsere Chance im Zusammenwirken der europäischen und der internationalen Kräfte.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205731400
Die Abgeordnete Frau Bulmahn möchte Sie auch noch befragen, Herr Professor.

Prof. Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann (FDP):
Rede ID: ID1205731500
Es ist mir ein Vergnügen, zu so später Stunde unsere Diskussion im Ausschuß, zu deren Fortsetzung wir dort keine Zeit mehr hatten, hier fortsetzen zu können.

Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1205731600
Herr Laermann, halten Sie es für ein Zeichen politischer Verläßlichkeit, wenn Programmplanung und Finanzplanung derartig auseinanderklaffen, daß für jeden, der Finanzplanung und Programmplanung miteinander vergleicht, ohne weiteres offensichtlich und feststellbar ist, daß es mit der Programmplanung nicht so ganz ernst gemeint sein kann, daß man nicht willens ist, die finanziellen Mittel bereitzustellen? Halten Sie das für ein Zeichen politischer Verläßlichkeit?

Prof. Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann (FDP):
Rede ID: ID1205731700
Dazu muß man zuerst einmal sehen, wer eigentlich für die Programmplanung zuständig ist. Das ist zunächst einmal der ESA-Exekutivrat. Hier beteiligten sich die nationalen Regierungen. Dann ist die zweite Frage zu prüfen, wie man so etwas finanzieren kann. Genau in diesem Prozeß befinden wir uns. Ich weiß gar nicht, was Sie dagegen einzuwenden haben. Ich denke, sie haben auch zur Kenntnis genommen, daß wir zu diesem ganzen Komplex sehr kritische Fragen stellen und auch alternative Vorstellungen eingebracht haben. Das ist doch unsere politische Aufgabe in diesem Geschäft. Nun lassen Sie doch sozusagen die Exekutive erst einmal herankommen, und wir sagen ihnen, was wir davon akzeptieren und was wir davon halten.
Wir bewerten unsere Position politisch. Ich sage Ihnen, daß wir es uns als Bundesrepublik nicht leisten können, in diesem Punkt aus der europäischen Kooperation auszusteigen, ohne daß es schwerwiegende außenpolitische Verwerfungen gibt. Dies möchte ich einmal ausdrücklich feststellen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)




Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann
Das war nur der außenpolitische Aspekt. Der industriepolitische und technologiepolitische Aspekt mag Ihnen sicherlich geläufiger sein.
Gerade auf Ihre Frage hin, Frau Kollegin Bulmahn, möchte ich sagen: Im Hinblick auf die voraussichtliche Kostenentwicklung des Programms und die derzeitigen Finanzengpässe der öffentlichen Haushalte — auch der anderen ESA-Partner; das muß man auch einmal klar sagen — muß nach Wegen gesucht werden, die öffentlichen Kassen zu entlasten. Ich hoffe, daß wir uns in diesem Punkte einig sind: das Ziel nicht aus dem Auge verlieren; aber wir bestimmen den Weg mit.
Das Wünschbare muß mit dem Machbaren auf einen Nenner gebracht werden. Zum einen müssen alternative Raumfahrtkonzepte daraufhin untersucht werden, ob eine Streckung des Finanzbedarfs auf der Zeitachse erreicht werden kann, ohne das europäische Forschungs- und Entwicklungsziel nachteilig zu beeinträchtigen.
Zu den Kosten für die Entwicklung und den Bau der ESA-Langzeitprojekte und der Infrastruktur: wie belastbar auch immer diese Kostenangaben zu diesem Zeitpunkt sein mögen, es sind schließlich auch noch die Betriebs- und Wartungskosten sowie die Kosten für die Wissenschaftsprogramme hinzuzurechnen. Ich sage ausdrücklich: Die Hardware allein nützt nichts; denn wir wollen ja auch etwas damit anstellen. Wir wollen ja die Laborkapazität nutzen. Das heißt, auch für die Wissenschaftsprogramme müssen natürlich die entsprechenden Finanzmittel noch verfügbar sein.

(Edelgard Bulmahn [SPD]: Sehr schön, daß Sie das vertreten! — Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Sie haben völlig recht, Herr Laermann!)

Um es klipp und klar zu sagen: Die Deckungslücke, wie sie sich nach den derzeit vorliegenden Überlegungen darstellt — nach welchem Szenario auch immer — , kann durch Umschichtungen im Haushalt des BMFT nicht gedeckt werden. Sie ist forschungspolitisch nicht zu verantworten.

(Beifall bei der SPD)

Die Finanzdecke ist in Anbetracht des breiten Spektrums der anstehenden Forschungsfelder ohnedies eng genug.

(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: So ist es!)

Angesichts der vielfältigen Belastungen des Bundeshaushaltes kann die Deckungslücke auch nicht über eine Steigerung der Haushaltsansätze von 2,5 % jährlich hinaus aufgefangen werden. Hier müssen wir nach anderen Lösungswegen suchen.

(Edelgard Bulmahn [SPD]: Richtig!)

Wir könnten sie auch finden, indem wir etwa zur Entlastung des Forschungshaushaltes endlich die notwendigen, u. a. auch gesetzgeberischen Schritte, unternehmen, um die Vermarktungsmöglichkeiten deutscher und europäischer Technik der unbemannten Raumfahrt durch Deregulierung und Privatisierung zu verbessern.

(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Acht Jahre ist nichts passiert!)

Was bisher schon mit weitgehend staatlicher Förderung an Raumfahrttechnik erfolgreich entwickelt wurde — Ariane wurde ja schon genannt — , muß doch einer Vermarktung zugänglich gemacht werden. In den Bereichen Telekommunikation, Navigation, Erderkundung, Wetterkunde, Erntevorhersage usw. — ich könnte die Reihe fortsetzen — gibt es erhebliche Marktpotentiale für privatwirtschaftliche Aktivitäten — auch im Angebot von Dienstleistungen — bei der Nutzung solcher neuen Techniken und Technologien.
Auf der staatlichen Nachfrageseite — auch da gibt es einen Bedarf an Informationen und Dienstleistungen aus dem Raumfahrtbereich — müssen sich darüber hinaus die entsprechenden Ressorts an der Finanzierung der Nutzung der Raumfahrttechnik beteiligen.
Unter funktionaler Betrachtung besteht ein enger Zusammenhang zwischen bemannter und unbemannter Raumfahrt. Es besteht allerdings auch ein Begründungszwang für die bemannte Raumfahrt, die stärker und deutlicher als bisher auf Nutzungskonzepte hin zu orientieren ist.
Ich möchte abschließend feststellen: Wir wollen und können nicht aus den europäischen Kooperationen, auch nicht aus den Raumfahrtprojekten, aussteigen. Wir können aber auch nicht jede Kostenentwicklung verkraften. Die Kostenentwicklung muß sich in einem vorgegebenen Finanzrahmen vollziehen und nicht umgekehrt. Hier sind wir dann politisch gefordert. Auch an einem solchen vorgegebenen Finanzrahmen müssen sich nach den Machbarkeitsprinzipien schließlich auch die ESA-Projekte orientieren.
Ich denke, daß dies im Grunde genommen auch im Sinne beider Anträge ist, nämlich desjenigen der Opposition wie desjenigen der Koalitionsfraktionen. Wir werden gemeinsam über diese Anträge beraten. Alle Seiten des Hauses müssen daran interessiert sein, daß wir hier zu einer Lösung im Sinne der europäischen Integration kommen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205731800
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Neumann.

(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Der erzählt uns jetzt, wie er das bezahlen will!)


Bernd Neumann (CDU):
Rede ID: ID1205731900
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Bundesregierung hat sich von Anbeginn zur Weltraumfahrt bekannt. Dieses Bekenntnis gilt für die unbemannte wie für die bemannte Weltraumfahrt. Es gilt auch in Zeiten, in denen wir in schwierigen Verhandlungen international einen gemeinsamen Weg finden müssen.
Wir sind aber auch keineswegs, wie es die Opposition suggeriert, nur aus Prestigegründen und außen-



Parl. Staatssekretär Bernd Neumann
politischer Rücksichtnahme für die bemannte Raumfahrt. Der Grundsatz der deutschen und europäischen Weltraumpolitik lautet: Alles, was im Weltraum ohne den Einsatz von Menschen getan werden kann, soll unbemannt getan werden. Nur für solche Aufgaben, bei denen Menschen unentbehrlich sind, sollen Astronauten eingesetzt werden.
Ich füge hinzu: Es gibt solche Aufgaben. Auch auf der Erde gibt es Bereiche, wo die Arbeit von Menschen nicht durch Maschinen leistbar ist. Die Fähigkeit des Menschen, bei komplexen Fragen auf unerwartete Situationen zu reagieren, wird auch in absehbarer Zeit nicht zu ersetzen sein.
Die bemannte Raumfahrt ist für die Bundesregierung kein eigenständiges Ziel, sondern gehört zu den Potentialen der Raumfahrt, die nutzbar zu machen sind. Die europäischen Staaten und damit auch Deutschland können ihre Rolle in der Welt und ihren Wohlstand nur bewahren, wenn sie bereit sind, sich den technologischen Herausforderungen unserer Zeit zu stellen.
Es ist ein weiteres Kennzeichen der Weltraumforschung, daß sie von Anbeginn in Europa konsequent gemeinsam durchgeführt worden ist. Die Raumfahrt war und ist in Westeuropa — demnächst auch darüber hinaus — stets auch ein Faktor der Integration. Durch die fruchtbare Zusammenarbeit in der Forschung werden dann politisch weiterführende Kooperationen möglich.
Europa ist auch durch die gemeinsame Weltraumfahrt mitgeprägt und vorangebracht worden. Wenn es im Hinblick auf die europäische Integration einen Bereich gibt, wo das Ziel der Integration weit vorangeschritten ist, dann ist das eben der Bereich der ESA und des Weltraums.
Deswegen haben die europäischen Staaten ihre Beschlüsse in Den Haag getroffen. Die Bundesregierung steht grundsätzlich zu den in Den Haag 1987 getroffenen Beschlüssen über ein kohärentes europäisches Weltraumprogramm mit seinen verschiedenen Elementen der bemannten und unbemannten Raumfahrt.
Jetzt geht es darum, noch einmal über das Weltraumprogramm der ESA, insbesondere über Columbus und Hermes, zu verhandeln mit dem Ziel, die Programme zu straffen und zu strecken, nicht aber aufzugeben. Der Grund dafür ist bekannt. Er liegt in den gestiegenen Kosten. Sie sind im Vergleich zu der Situation in Den Haag seinerzeit explosiv gestiegen, vor allem bei Hermes,

(Wolf-Michael ' Catenhusen [SPD]: Das ist wohl wahr!)

und das bei zugleich angespannter Haushaltslage durch den vordringlichen Aufbau in den neuen Bundesländern.
Aber in dieser Situation ist unsere Lösung nicht — oder nur als Ultima ratio —

(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Aha!) der Ausstieg aus einem der Großprojekte.


(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Die Tür wird vorsichtig aufgemacht! Das ist sehr interessant! — Weiterer Zuruf von der SPD: Wie wollen Sie es denn machen?)

— Es ist immer so, Herr Kollege Catenhusen, daß man nie nie sagen darf und vieles den Verhandlungen überlassen sollte, abwarten sollte, was dabei herauskommt. Das unterscheidet uns vielleicht von Ihnen, der Sie ja immer bestimmte Dinge absolut vertreten haben und dann am Ende unglaubwürdig werden.

(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Oder recht behalten!)

Aber was unser Ziel ist — ich schließe überhaupt nichts aus — , habe ich deutlich gesagt.

(Dr. Dietrich Mahlo [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Daß ein einfacher Ausstieg — ich komme auf Ihren Antrag, meine Damen und Herren von der SPD, noch zurück; der ist ja sehr interessant — , möglicherweise aus dem Projekt, das den Deutschen am wenigsten lieb ist, nicht geht, hängt mit der Rücksichtnahme — das muß man sagen — auf die europäischen Partner zusammen, aber auch mit der Kohärenz der Programme. Wenn wir z. B. — Frau Janz, jetzt hören Sie genau zu; ich habe gehört, daß Sie gleich reden werden; damit Sie in Bremen keine Schwierigkeiten kriegen — Hermes aufkündigen — was Sie nach Ihrem Antrag ja wollen — , dann würden andere Mitgliedstaaten — das ist deutlich gemacht worden — ihre Beteiligung an Columbus zurückziehen. Diese fehlenden Anteile wären dann von Deutschland oder Italien zu kompensieren. Und soweit es ums Geld geht, Herr Kollege Catenhusen, könnten wir das ja auch nicht leisten; denn der Finanzaufwuchs, der notwendig wäre, um alle Projekte durchzuführen, wird von Ihnen ja kritisiert.
Wer nein sagt zu Hermes, sagt in der politischen Konsequenz praktisch nein zu Columbus.

(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Aber das Ja können Sie nicht bezahlen!)

Frau Kollegin Janz, das wüßten Sie auch, wenn Sie sich damit näher beschäftigt hätten.

(Zuruf des Abg. Jürgen Timm [FDP])

— Das kann man im übrigen auch fortsetzen. Das gleiche betrifft — vielen Dank, Herr Kollege — DAS. Da haben die Italiener ihren besonderen Schwerpunkt in der Weltraumpolitik, so daß das nicht nur technisch, sondern auch europapolitisch zur Kohärenz der Programme gehört. Man kann nicht in einem Punkt nein sagen, der uns nicht gefällt, und glauben, es ginge alles so weiter, was insbesondere die deutschen Interessen angeht.
Meine Damen und Herren, der Ansatz der Bundesregierung ist daher, über das Weltraumprogramm der ESA zu verhandeln, aber es nicht aufzugeben.

(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Und nicht zu bezahlen!)

Die bisherigen Verhandlungen mit der ESA und vor allem mit Frankreich hierzu haben durchaus vorzeigbare Ergebnisse gebracht. Es ist gelungen, die Planungen der ESA für die kommenden Jahre wesentlich zu reduzieren. Wie Sie wissen, lagen sie Beginn der



Parl. Staatssekretär Bernd Neumann
Verhandlungen für diesen Zeitraum erheblich über den Planungen des Jahres 1987. Heute liegen sie unter 10 % und darunter.
Zur Zeit verhandeln wir mit dem französischen Partner, aber auch mit den anderen Partnern über die Absicht, die Kosten im Hinblick auf die mittelfristige Finanzplanung weiter zu reduzieren, ohne die Ziele von Den Haag und die hervorragende Zusammenarbeit in der ESA zu gefährden.
Lassen Sie mich zum Abschluß, weil das ja auch eine solche Debatte belebt und aktuell ist, einige Bemerkungen zu dem vorliegenden Antrag der SPD-Fraktion machen, der einen Kurswechsel fordert, aber dann Signale in nahezu alle denkbaren Richtungen setzt. Zu Recht schreibt dazu die „Frankfurter Rundschau" heute morgen — ich zitiere — :
Aus dem laschen Kompromißpapier der Fraktion können sich alle nach Gutdünken bedienen. Den einen ist es Signal für den Ausstieg, den anderen Legitimation für die Sicherung von Arbeitsplätzen.
Sie haben Verständnis dafür, wenn ich sage, daß ich die „Frankfurter Rundschau" nicht von vornherein der CDU zuordnen kann.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205732000
Herr Staatssekretär, Sie sind bereit, eine Frage des Abgeordneten Mosdorf zu beantworten?

Bernd Neumann (CDU):
Rede ID: ID1205732100
Aber nur unter der Maßgabe, daß mir das nicht von der Redezeit abgezogen wird.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205732200
Ich garantiere Ihnen das.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter.

Siegmar Mosdorf (SPD):
Rede ID: ID1205732300
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Sorge, daß wir angesichts einer Explosion der Kosten bei der Weltraumfahrt in Richtung 25 Milliarden DM in den 90er Jahren, bei gleichzeitig geringem Einsatz von Mitteln auf dem Sektor der Hochtechnologie unsere Wettbewerbsposition auf diesem Sektor möglicherweise verlieren?

Bernd Neumann (CDU):
Rede ID: ID1205732400
Ich teile Ihre Sorge insofern, als wir alle auf allen Sektoren der Technologiepolitik darauf achten müssen, daß wir die Wettbewerbsfähigkeit nicht verlieren. Aber das geht nicht dadurch, daß wir das eine gegen das andere ausspielen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Sorgen, die Sie haben, meine Damen und Herren, sind die Sorgen aller. Wenn wir keine Sorgen mehr haben, sind wir in der Forschungspolitik falsch. Jederzeit müssen wir uns darüber Gedanken machen, ob wir wettbewerbsfähig sind. Daß es da in bestimmten Technologiebereichen auch kritische Fragestellungen gibt, ist gar nicht zu bestreiten. Deshalb teile ich insofern Ihre Sorge.

Siegmar Mosdorf (SPD):
Rede ID: ID1205732500
Ich habe noch eine Zusatzfrage: Halten Sie die Proportionen von 25 Milliarden DM für Raumfahrt und 10 Milliarden DM für Informationstechnik in den 90er Jahren für eine moderne Volkswirtschaft wie die Bundesrepublik Deutschland für richtig?

Bernd Neumann (CDU):
Rede ID: ID1205732600
Ich halte es für vertretbar, daß sich der Anteil, den wir für Raumfahrt insgesamt — national und international — ausgeben, knapp unter der Grenze von 20 % im Hinblick auf den gesamten Forschungshaushalt bewegt. Ich wäre nicht dafür, das weiter auszudehnen. Ich bin dagegen — ich wollte das an sich gleich sagen — , ihn auf die Marge, die Sie vertreten haben, nämlich 15 %, zu reduzieren, weil das ungeheure Folgen auch für den Wettbewerb im Bereich der Raumfahrt und vieler anderer Technologien hätte.
Meine Damen und Herren, ich bin an sich beim SPD-Antrag und wollte dazu noch ein paar Bemerkungen machen. Es wird z. B. eine Überprüfung der deutschen und europäischen Weltraumpolitik gefordert. Aber das Urteil, meine Damen und Herren von der SPD, steht für Sie schon fest: Auf Hermes soll verzichtet werden, und die derzeit vorgesehene Beteiligung an den Großprojekten der bemannten Raumfahrt ist für Sie eine — ich zitiere — „falsche Prioritätenentscheidung", die wissenschafts-, forschungs- und industriepolitisch angeblich nicht zu rechtfertigen ist. Nun weiß ich nicht, ob das die Position aller Ihrer Kollegen ist, weil Frau Janz in Bremen im Hinblick auf ERNO etwas anderes sagt. Aber Sie können nicht eine generelle Überprüfung fordern, wenn Sie im nächsten Satz die Antwort gleich mitliefern. Das ist nicht ehrlich, sondern doppelstrategisch.
Generell gibt sich Ihr Papier geopolitisch und ist dabei in Wahrheit provinziell. Es wird mit der Forderung zur Schaffung einer — ich zitiere — „weltweiten Weltraumorganisation" , „die eine globale Weltraumpolitik zu ihrer Aufgabe macht" , die Hoffnung auf eine Utopie geweckt. Es wird kein Wort darüber verloren, daß es jetzt erst einmal darum geht, was mit der bewährten und integrativen europäischen Zusammenarbeit werden soll. Auch dazu müssen Sie doch ein Wort sagen. Was soll eigentlich geschehen, bis diese Ihre neuen visionären Megaorganisationen gegründet sind, geschweige denn, bis sie arbeiten?
Ich glaube, der Kollge Fischer hat es gesagt: Es ist zwar richtig, daß es den Systemgegensatz Ost/West so nicht mehr gibt. Aber zu meinen, es gebe keinen Wettbewerb mehr zwischen den einzelnen Industrieregionen, zwischen Europa, welches wir erweitern wollen, und den Amerikanern sowie anderen, ist doch sehr theoretisch und nicht richtig gesehen. Das heißt, auch hier müssen wir wettbewerbsfähig werden und bleiben, selbst wenn sich die Systemgegensätze auflösen.
Ich möchte noch ein Letztes sagen. Man fragt sich, wie die deutschen industriellen Interessen auf der Grundlage des SPD-Antrages gewahrt werden sollen, wenn einerseits Hermes und in der Folge — ich habe das gesagt — Columbus und andere Projekte aufgegeben, andererseits Umfang und Konzept der Raumstation „Freedom" überprüft und schließlich die Fi-



Parl. Staatssekretär Bernd Neumann
nanzaufwendungen für Weltraumforschung auf maximal 15 % des BMFT-Haushaltes begrenzt werden sollen.
Meine Damen und Herren von der SPD, solche Aussagen, die darauf hinauslaufen, daß wir unsere Partnerschaft auf zentralen Feldern in Zweifel ziehen oder aufkündigen, stehen in einem völligen Gegensatz zu den Forderungen der SPD im selben Papier, daß — ich zitiere — „bei der Verschiebung einzelner Programmteile des bisherigen Europäischen Langzeitplans . . . die Interessen der deutschen Raumfahrtindustrie an der Federführung bei Systemen und Subsystemen angemessen zu berücksichtigen" sind.
Das sind reine Alibiformulierungen, das ist Augenwischerei. Der Vollzug Ihres Antrages würde die Interessen der deutschen Raumfahrtindustrie entscheidend beeinträchtigen. Er würde Arbeitsplätze im Norden, Süden und Osten — gerade im Osten — unseres Landes dramatisch gefährden und kann deshalb nicht akzeptiert werden.
Der Antrag der Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP, der heute eingebracht worden ist, stellt aus unserer Sicht auf realistischer Grundlage konkrete Zielsetzungen dar, die wir für richtig halten und um deren Verabschiedung sich die Bundesregierung bemühen wird.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205732700
Das Wort hat die Abgeordnete Janz.

Ilse Janz (SPD):
Rede ID: ID1205732800
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Herr Neumann, den Charme, den Sie versprühen, kenne ich schon seit längerer Zeit. Ich denke, ich kann damit auch ganz sinnvoll umgehen.

(Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [CDU/ CSU]: Mithalten!)

— Ich denke, ich habe Charme genug; ich habe es ihm oft genug bewiesen. Aber ich denke, wir sollten über dieses Thema vernünftiger reden, als hier eine kleine Freimarktrede zu halten. Der Freimarkt in Bremen ist im übrigen vorbei.
Raumfahrt kann, wenn man sie sinnvoll mit überschaubaren Kosten und mit tragbaren Nutzungskonzepten betreibt, einen wichtigen Beitrag zur Lösung der drängenden Menschheitsfragen wie bei der Klima- und Umweltforschung, zum wissenschaftlichtechnischen Erkenntniszuwachs, zur Verbesserung der Lebensbedingungen und zur Stärkung des Innovationspotentials der deutschen Wirtschaft beitragen. Alle raumfahrtbezogenen Aufwendungen sind allerdings nur dann zu rechtfertigen, wenn sie der Befriedigung einer gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Nachfrage dienen und kostengünstiger oder effektiver als terrestrische Lösungen sind.

(Beifall bei der SPD)

Raumfahrt ist kein Selbstzweck. Ihr Nutzen muß jederzeit erkennbar und alle Entscheidungen müssen auf einen breiten Konsens gegründet sein.
Entgegen der Ankündigung der Bundesregierung, eine Weltraumpolitik mit Maß und Vernunft zu betreiben, erleben wir seit mehreren Jahren eine Politik, die weder von Maß noch von Vernunft bestimmt ist.
Wenige Tage vor der entscheidenden ESA-Ministerratstagung in München steht die Bundesregierung ohne eine vernünftige und durchdachte Konzeption da. Niemand weiß im Augenblick, wie es mit der europäischen Weltraumfahrt weitergehen soll.
Dabei gab es schon seit den Beschlüssen auf der ESA-Ministerratskonferenz in Den Haag im Jahre 1987 genügend Warnungen und Kritik von allen Seiten, daß die beabsichtigten Großprojekte, die Trägerrakete Ariane V, der Raumgleiter Hermes und das Columbus-Programm, kaum in der geplanten Form durchzuführen sind. Das haben ja einige meiner Vorredner bereits bemerkt.
Die frühzeitigen Bedenken der SPD und zahlreicher Wissenschaftler stießen allerdings beim Bundesforschungsminister auf taube Ohren.

(Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann [FDP]: Frühzeitig? — Gegenruf von der SPD: So ist das!)

— Frühzeitig! — Es kam zu keinem Umdenken, zu keinem Kurswechsel, obwohl die Weltraumgroßprojekte im Laufe der Jahre immer teurer wurden, der Anteil der Weltraumkosten am Forschungshaushalt Jahr für Jahr stieg und jetzt, wie Herr Neumann eben bestätigt hat, bereits über 18 % erreicht hat.
Zu keinem Zeitpunkt sind die Forderungen, die schon 1987 erhoben wurden, nämlich den Kostenrahmen für das ESA-Langzeitprogramm angesichts finanzieller Engpässe um 15 bis 20 % zu senken, von den Verantwortlichen ernsthaft in Angriff genommen worden. Jetzt zwingen uns nicht zuletzt der rapide Anstieg der Kosten und die mangelnde Konzeption der Bundesregierung — selbst nach dem Darmstädter Modell fehlen uns über eine Milliarde Mark — zu einem drastischen Kurswechsel.
Durch die politischen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa und auf Grund der Kostensteigerungen müssen wir in Zukunft nicht nur auf europäischer Ebene, sondern auch weltweit stärker als bisher zusammenarbeiten. Auch bei den ESA-Partnern wie den Italienern, den Franzosen sowie in den USA und der UdSSR gibt es bei der finanziellen Absicherung der Raumfahrtprojekte erhebliche finanzielle Probleme.
Wir müssen daher jetzt neue internationale Kooperationen eingehen, die allerdings auf fairer Partnerschaft beruhen müssen. Es kann z. B. nicht hingenommen werden, daß die ESA-Mitgliedsstaaten erst durch Pressemeldungen über entscheidende Veränderungen an der amerikanischen Raumstation „Freedom " informiert werden, die auch automatisch Veränderungen am Projekt Columbus nach sich ziehen würden.
Diese gewünschte internationale Zusammenarbeit in der Weltraumfahrt erfordert dringend ein neues Weltraumkonzept der Bundesregierung. Ich halte es im höchsten Maße für unverständlich, Herr Staatssekretär, und auch für unverantwortlich, daß die Bundesregierung seit 1982 nicht in der Lage war, neue, finanziell tragbare Strukturen und Perspektiven aufzuzeigen.

(Beifall bei der SPD)




Ilse Janz
Die Bundesregierung verhält sich mit dieser Politik auch unverantwortlich gegenüber den in diesem Bereich tätigen Menschen, für die im Augenblick keine Zukunftsperspektive erkennbar ist und auf deren Wissen unsere Forschungs- und Wissenschaftsbereiche nicht verzichten können. Wie soll es jetzt eigentlich mit Hermes — hier gibt es immerhin schon Kostensteigerungen von ca. 40 % —, Columbus und Ariane weitergehen? Wir warten da auf Ihre Antworten.
Wir scheinen uns auch in Übereinstimmung mit dem Bundeswirtschaftsminister und dem Bundesfinanzminister zu befinden, die schon signalisiert haben, daß sie aus mehrfachen Gründen nicht mehr bereit sind, weitere Finanzmittel z. B. für Hermes bereitzustellen.

(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Sehr richtig!)

Auch bei der bemannten Raumstation „Freedom" und damit bei Columbus müssen Umfang, Nutzungskonzept, Kosten und Zeitplan überprüft werden. Nach den uns bisher bekannten Informationen soll die zweite Phase von Columbus nunmehr statt 1991 erst 1995 beginnen. Zu den sich daraus ergebenden Problemen bei den Beschäftigten in der Raumfahrtindustrie — Herr Staatssekretär, ich kümmere mich sehr wohl um diese Bereiche und kenne mich da, denke ich, auch relativ gut aus — hat sich aber leider die Bundesregierung bis heute nicht geäußert. Für mich gehört auch das zu den Aufgaben einer Regierung.
Ich will jedoch auch nicht verschweigen, daß es bei uns in der SPD jetzt weniger Bedenken gegen Columbus gibt, da die Amerikaner von einer militärischen Nutzung Abstand genommen haben. Trotzdem ist auch hier die Finanzierung bisher nicht gesichert.
Unbestritten sind bisher die Polare Plattform und das angedockte Labormodul, die zuerst gebaut werden sollen. Hier ist jetzt der Entwicklungsbeginn für 1992 vorgesehen.
Bei beiden Elementen des Columbus-Programms ergibt sich eine Fülle von interessanten Perspektiven, so z. B. auf den Gebieten der Erdbeobachtung, der Meteorologie, der Beobachtung und Kontrolle der Umweltverschmutzung, der Ressourcenforschung, bei der Fischerei und bei der Durchführung materialwissenschaftlicher Experimente.

(Jürgen Timm [FDP]: Was machen Sie denn ohne „Freedom"?)

— Ich sage ja gar nichts gegen „Freedom" ! Sie hören überhaupt nicht richtig zu; Sie müssen einmal zuhören.
Mit dem freifliegenden Labormodul MTFF, das für begrenzte Zeit auch von Astronauten und Astronautinnen besucht werden kann, sollen wissenschaftliche Langzeitexperimente und kommerzielle Anwendungen mit Hilfe von Robotik und Automatik durchgeführt werden. Von der Bundesregierung vermissen wir hier immer noch das Nutzungskonzept.
Das MTFF, an dem die deutsche Industrie dominierend beteiligt ist, soll, wie bereits erwähnt, erst ab 1995 zur Realisierung anstehen. Deutschland, das zur Zeit mit 38 % den finanziellen Hauptanteil am Columbus-Programm trägt und auch die Systemführerschaft hat, muß durch die Bundesregierung auf eine stärkere industrielle Beteiligung der deutschen Industrie an PPF und APM dringen. Wir erwarten daher von der Bundesregierung, daß sie, bevor sie eine endgültige Entscheidung über das Columbus-Programm fällt, die notwendig gewordene neue Arbeitsteilung mit den anderen Partnern vereinbart und sich auf Grund der deutschen Kostenbeiträge bei diesem Programm die Systemführerschaft sichert.

(Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann [FDP]: Also noch mehr bezahlen?)

Einen Beitrag dazu könnte die Bildung von EuroColumbus leisten, bei der Deutschland einen Hauptanteil übernehmen soll. Damit wäre formal die deutsche Führung bei diesem Projekt gegeben.
Es gibt jetzt einige Fortschritte in dieser Angelegenheit. Es ist, wie ich erfahren habe, zu einer weitgehenden Einigung zwischen den Betroffenen gekommen. Danach ist eine Übereinstimmung in bezug auf die Modalitäten, die Arbeitsaufteilung und die jeweiligen Anteile am Columbus-Programm zustande gekommen. Mit Euro-Columbus, bei der ein deutscher Anteil von 51 % gesichert sein soll und die ihren Hauptsitz, Herr Staatssekretär, wie Sie wissen, in Bremen haben wird, sind die deutschen Vorstellungen im wesentlichen erfüllt. Inwieweit aber die derzeitigen Überlegungen und Änderungen umgesetzt werden können, muß abgewartet werden, da alle Entscheidungen miteinander verknüpft sind und die einzelnen ESA-Länder zum Teil unterschiedliche Vorstellungen haben. Hier könnte eventuell die ESA-Ministerratskonferenz weitere Sicherheiten geben. Aber leider gibt es bis heute keine vernünftigen Vorstellungen der jetzigen Bundesregierung.
Die Hektik und Planungsunsicherheit, die die Bundesregierung und speziell das BMFT in den letzten Tagen vor der ESA-Ministerratstagung an den Tag gelegt haben, muß endlich einer nüchternen Analyse und Bestandsaufnahme weichen; denn dafür sind die zu treffenden Entscheidungen zu weitreichend und schlicht zu teuer.
Die SPD fordert daher die Bundesregierung auf, die endgültige Entscheidung über den ESA-Langzeitplan um 18 Monate zu verschieben, um ein der veränderten Lage entsprechendes neues Konzept vorzulegen. Parallel dazu muß das Fünfte Deutsche Weltraumprogramm erarbeitet werden. Die Mitarbeit der Gewerkschaften, der großen deutschen Wissenschaftsorganisationen und der Industrie an der Entwicklung der Weltraumprogramme ist dringend erforderlich.
Auch in den Koalitionsfraktionen wird, wenn ich Presseäußerungen und auch einige Äußerungen hier und heute so werten darf, über eine Umorientierung diskutiert. So gibt es meines Erachtens eine weitgehende Übereinstimmung in der Forderung, daß endlich für die einzelnen Projekte Nutzungskonzepte vorgelegt und die Vermarktungsmöglichkeiten verbessert werden müssen.
Zu Recht wird gefragt, warum alles die staatliche Hand bezahlen soll. Wir fordern daher seit langem, daß sich die Industrie und anderweitige Nutzer vor



Ilse Janz
allem im Bereich der Trägerraketen- und Satellitenentwicklung an den Entwicklungskosten beteiligen.

(Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann [FDP]: Diese Systeme müssen wir dann aber auch nutzen können!)

Es besteht auch weitgehende Übereinstimmung darüber, daß die steigenden Ausgaben für die Großprojekte der Weltraumfahrt andere Forschungsbereiche nicht belasten dürfen. Dazu hat auch mein Kollege Fischer schon etwas gesagt. Wir fordern deshalb, daß die Finanzaufwendungen für die Weltraumforschung künftig nur maximal 15 To des BMFT-Gesamthaushalts betragen dürfen.
Ich hoffe, meine Herren und Damen, daß sich die Bundesrepublik Deutschland auch in Zukunft in einem angemessenen Rahmen an der Raumfahrt beteiligen wird. Der Antrag der SPD weist in diese Richtung.
Danke schön.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205732900
Nun erteile ich dem Abgeordneten Dr. Mayer (Siegertsbrunn) das Wort.

Dr. Martin Mayer (CSU):
Rede ID: ID1205733000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum Abschluß dieser Debatte halte ich es für notwendig, noch einmal auf die Grundsätze und die Ziele der Raumfahrt zurückzukommen. In diesem Haus und auch in Deutschland besteht ja weitgehend Übereinstimmung über die Notwendigkeit und den Nutzen der unbemannten Raumfahrt. Strittig sind die Auffassungen über die bemannte Raumfahrt. Das Hauptargument sind die hohen Kosten und der vergleichsweise geringe augenblickliche Nutzen der bemannten Raumfahrt. Ich will das, was über den unmittelbaren Nutzen, den auch die bemannte Raumfahrt hat, gesagt worden ist, nicht wiederholen — sie hat einen unmittelbaren Nutzen — , aber ich möchte die Frage stellen: Darf man die bemannte Raumfahrt allein am gegenwärtigen, am augenblicklichen Nutzen messen? Dazu möchte ich einige Bemerkungen machen.
Die bemannte Raumfahrt erweitert die Möglichkeiten der Menschen, das All zu erforschen. Sie nutzt die Fähigkeit des Menschen, zu kombinieren, die Fähigkeit des Menschen, zu entdecken, die Fähigkeit des Menschen, auch einmal auf einen Zufall zu stoßen. Sie kommt sozusagen dem Forschungstrieb und der Neugier des Menschen zugute.

(Zuruf von der SPD: Da hätten wir genug auf der Erde zu tun!)

Ich meine, die bemannte Raumfahrt ist deshalb dem Bereich der Grundlagenforschung zuzuordnen, weil sie ein Bereich ist, dessen Nutzen ich noch nicht im einzelnen abschätzen kann, genauso wie ich zu Beginn der Raumfahrt überhaupt auch die Nutzungsmöglichkeiten der unbemannten Raumfahrt nicht im einzelnen abschätzen konnte. Ich meine, die bemannte Raumfahrt ist ein zukunftsorientierter Bereich unserer Forschung.
Die heute eigentlich strittige Frage ist: Soll sich Deutschland an der Entwicklung einer eigenen und unabhängigen bemannten europäischen Raumfahrt, d. h. an Hermes, weiter beteiligen, oder soll die gegenwärtige Finanzknappheit über die Zukunft der bemannten Raumfahrt in Europa entscheiden? Für den deutschen Beitrag zu einer eigenständigen europäischen bemannten Raumfahrt spricht aus meiner Sicht folgendes:
Erstens. Wir wollen bei der bemannten Raumfahrt wie auch bei den Trägerraketen unabhängig werden. Wer abhängig ist, ist im Zweifel auch erpreßbar. Auch die Abhängigkeit von Freunden kann manchmal unangenehm sein.
Ich will hier auch ein paar Sätze zu dem von der SPD immer vorgebrachten Argument sagen, wir sollten das, was wir in der Weltraumtechnik brauchen, einfach bei den Russen kaufen, denn bei ihnen sei es gegenwärtig ja preisgünstig zu haben. Die Russen können nur ganze Systeme einschließlich der Bodeneinrichtungen — also Dienstleistungen — anbieten. Ganz moderne Technik, um neue Raumfahrzeuge zu bauen, können sie nicht anbieten. Sie können also nicht das anbieten, was die Europäer brauchen, um einen eigenständigen Beitrag zur bemannten Raumfahrt leisten zu können.
Ich nenne einen zweiten Grund: Wir wollen auch in der bemannten Raumfahrt als Partner ernstgenommen werden. Als Partner wird nur der ernstgenommen, der letztlich das erforderliche Wissen und Können hat.
Drittens möchte ich anfügen: Die Fähigkeit, Menschen in den Weltraum zu senden und sich im Weltraum zu bewegen, kann im nächsten Jahrhundert als Raumhoheit — ähnlich wie die Lufthoheit jetzt — eine entscheidende Bedeutung für die äußere Sicherheit bekommen.

(Zuruf von der SPD: Hoffentlich wird das kein Tiefflug!)

Viertens meine ich, daß die westeuropäischen Staaten auf dem Sektor der Entdeckung und Forschung eine starke Kraft sind. Sie sollten die bemannnte Raumfahrt als Forschungszweig deshalb nicht auf geben, genausowenig wie sie letztlich darauf verzichten sollten, Beiträge in der Grundlagenforschung auf den Gebieten der Physik, der Chemie, der Biologie, der Gentechnologie und der Kernfusion zu leisten.
Die Fähigkeit Europas, selber Menschen in den Weltraum zu schicken, ist auch eine Frage des europäischen Selbstverständnisses und des europäischen Selbstbewußtseins. Ich bewundere in diesem Zusammenhang die Franzosen, die es verstehen, Begeisterung dafür zu wecken. Ich meine, daran könnten wir uns manchmal ein Beispiel nehmen.
Es gibt für die Beteiligung an der bemannten Raumfahrt ein zweites Argument — es ist heute schon genannt worden — : Deutschland muß ein verläßlicher Partner in Europa bleiben. Für die bemannte Raumfahrt ist die Zusammenarbeit in Europa selbstverständlich notwendig. Sie wird bereits in vielen Teilen praktiziert. Ariane ist zum Symbol der europäischen Zusammenarbeit geworden. Die gemeinsamen Raumfahrtprojekte haben letztlich dazu geführt, daß



Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn)

die Europäer zusammengewachsen sind. Die Raumfahrt ist Schubkraft für die europäische Einigung.
Der deutsche Ausstieg aus Hermes, den Sie fordern, wäre zwar rechtlich zulässig, aber partnerschaftlich enttäuschend. Er würde deshalb die europäische Einigung und insbesondere das deutsch-französische Verhältnis schwer belasten. Es ist unbestreitbar, daß es beim deutschen Beitrag zu Hermes eine Finanzierungslücke gibt. Diese Lücke darf nicht aus dem Forschungshaushalt gedeckt worden. Denn der Forschungshaushalt hat ohnehin schon genug Opfer für den Wiederaufbau in den neuen Bundesländern gebracht. Schon jetzt sind höchste Anspannungen aller Beteiligten notwendig, um Schaden von der Forschung in den alten Bundesländern abzuwenden.
Ich halte das auch deshalb für notwendig, weil eine zusätzliche Konkurrenz zwischen den verschiedenen Forschungsbereichen zu unerträglichen Zuständen und letztlich auch zu Äußerungen wie der der Deutschen Physikalischen Gesellschaft führt, die sich gegen die bemannte Raumfahrt ausgesprochen hat. Allerdings sage ich: Es ist richtig, daß die bemannte Raumfahrt gegenwärtig nicht in diesem Maße für die Nutzung von wissenschaftlichen Experimenten notwendig ist. Aber das gilt für alle Bereiche der Grundlagenforschung.

(Edelgard Bulmahn [SPD]: Das ist doch keine Grundlagenforschung!)

Ich sage diesen Physikern: Wer selbst im Glashaus sitzt, sollte auf andere nicht mit Steinen werfen.
Angesichts der äußersten Anspannung des Bundeshaushalts durch den Wiederaufbau in der ehemaligen DDR erscheint das Problem der Finanzierung des deutschen Anteils an Hermes schier unlösbar. Es muß eine zeitliche Streckung erfolgen. Das Projekt ist jedoch unerläßlich, um den zukünftigen Platz Deutschlands und Europas im Wettbewerb der Industrienationen zu sichern. Ich bin zuversichtlich, daß das gelingen wird. Meine Zuversicht stützt sich auch auf mein Vertrauen in den Kanzler, den Finanzminister und das Verständnis der französischen Freunde. Unser Kanzler ist ein überzeugter Europäer und wird nicht zulassen, daß die deutsch-französische Freundschaft Schaden nimmt,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

insbesondere da er immer Verständnis für Zukunftsfragen gezeigt hat.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Lachen bei der SPD)

Theo Waigel hat sich als würdiger Nachfolger von Franz Josef Strauß sowohl im Parteivorsitz als auch als Finanzminister in dieser schweren Zeit des Wiederaufbaus bewährt. Ich bin überzeugt, daß er bei der Förderung von Zukunftstechnologien, insbesondere in der bemannten Raumfahrt, auch in die Fußstapfen von Franz Josef Strauß tritt.

(Lachen bei der SPD)

Ich äußere hier die Bitte an die SPD, nicht abseits zu stehen und gemeinsam mit uns dafür einzutreten, daß
wir die europäische Raumfahrt als Zukunftsvorsorge gemeinsam weiterbetreiben können.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205733100
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen zu diesem Tagesordnungspunkt liegen mir nicht vor.
Wir kommen zu den Entschließungsanträgen der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP sowie der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 12/1575 und 12/1545. Zunächst soll der Antrag der SPD auf Wunsch des Abgeordneten Lothar Fischer leicht verändert werden, und zwar wie folgt: Der Name „Dirk" wird gestrichen, der Name „Lothar" eingesetzt. In dem Wort „Hamburg " wird der Buchstabe a gestrichen und durch den Buchstaben o ersetzt.

(Heiterkeit)

Nachdem wir diese Änderung vollzogen haben, können wir feststellen, daß diese Anträge zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß, den Ausschuß für Wirtschaft, den EG-Ausschuß und den Haushaltsausschuß überwiesen werden sollen. Ist das Haus damit einverstanden? — Dann haben wir das beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur dauerhaften sozialen Verbesserung der Wohnungssituation im Land Berlin
— Drucksache 12/1459 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (federführend)

Rechtsausschuß
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Achim Großmann, Norbert Formanski, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mietpreisbindung Berlin — Drucksache 12/1276 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (federführend)

Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde vor. — Das Haus ist offensichtlich damit einverstanden.
Dann kann die Debatte eröffnet werden. Ich erteile zunächst dem Abgeordneten Dr. Kansy das Wort.

Dr.-Ing. Dietmar Kansy (CDU):
Rede ID: ID1205733200
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Das Land Berlin hat im Bundesrat einen Gesetzentwurf mit dem Ziel eingebracht, die bis Ende 1991 geltende Kappung der Mietsteigerung im Altbaubestand bei Wiedervermietung — und nur darum geht es heute — auf 10 % um drei Jahre zu verlängern. Es geht nicht um den großen Sozialwohnungsbestand. Es



Dr.-Ing. Dietmar Kansy
geht nicht um den kleineren frei finanzierten Neubaubestand. Es geht nicht um bestehende Mietverhältnisse im Altbaubestand, sondern ausschließlich um diese relativ geringe Zahl von Neuvermietungen im Altbaubestand.

(Zuruf von der SPD: Das ist Augenwischerei!)

Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme dem Anliegen des Berliner Senats nicht entsprochen.

(Siegrun Klemmer [SPD]: Das ist schlimm!)

Meine Damen und Herren, ich nehme es vorweg: Auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird dem Anliegen nicht entsprechen.

(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU] — Zurufe von der SPD)

— Hören Sie erst einmal zu, verehrte Kollegin. Ich glaube, zum Schluß werden auch Sie nicht zustimmen.

(Siegrun Klemmer [SPD]: Das glaube ich nicht!)

Wir sind sicher, dabei im Interesse der Stadt und ihrer Menschen zu entscheiden, was in der aufgeheizten Diskussion in Berlin, wo nicht zuletzt von Ihrer Seite tonnenweise Öl ins Feuer gegossen wird, statt daß aufgeklärt wird, leider nicht genügend zur Kenntnis genommen wird.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Wir wissen hier in Bonn, auch in unserer Fraktion, in der Regierung, um die besondere Situation Berlins, die es jedoch primär nicht zu beklagen, sondern zu verändern gilt.

(Siegrun Klemmer [SPD]: Ja, eben!)

Wir wissen auch um die Situation in anderen Teilen Deutschlands, von Hamburg bis München, von Dresden bis Düsseldorf, wo die Wohnungsprobleme der Menschen nicht wesentlich anders sind als in Berlin.
Der anhaltende Zuzug nach Deutschland und die wohlstandsbedingten Nachfragesteigerungen in Westdeutschland und auch im Westen Berlins sowie das strukturelle Defizit in Ostdeutschland und im Osten Berlins führen derzeit trotz aller Anstrengungen von Bund, Ländern und Gemeinden, trotz der Anstrengungen auch in Berlin zu einer weiteren Zuspitzung des Wohnungsproblems und leider nicht zu einer Entschärfung.

(Siegrun Klemmer [SPD]: Welche Anstrengungen der Bundesregierung in den letzten zehn Jahren hat es denn gegeben?)

— Sehr verehrte Kollegin, ich stehe anschließend bereit, Ihnen ein Privatissimum über Wohnungsbau zu geben.

(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU])

Jetzt hören Sie bitte erst einmal zu: Dennoch gibt es keine allgemeine Wohnungsnot, auch nicht in Berlin. Richtig ist statt dessen — und das ist die politische Herausforderung — , daß bei guter Versorgung, bei
sich oft ausweitender Versorgung der Mehrheit der Bevölkerung der Anteil der Menschen zunimmt, die durch das Raster von Förderungssystemen fallen. Um die Menschen müssen wir uns kümmern! Darum geht es jetzt auch in Berlin.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deswegen sind wir uns auch heute auf jedem Fachkongreß und oft über die Parteigrenzen hinaus — die Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion reden auf diesen Fachkongressen übrigens wesentlich anders, als wenn sie im Deutschen Bundestag vor den Kameras stehen —

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Widerspruch bei der SPD)

einig, daß es an der Zeit ist, das gesamte wohnungspolitische Instrumentarium, vom sozialen Wohnungsbau über Eigentumsförderung, freifinanzierten Wohnungsbau und Wohngeld bis zum Mietrecht usw. auf den Prüfstand zu stellen.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Renate Schmidt)

Meine Damen und Herren, während in Ostdeutschland und auch im Osten Berlins im Geiste des Einigungsvertrages weitere Mietsteigerungen erst nach Verbesserung der Einkommenssituation und Senkung der Betriebskosten möglich sind, muß in Westdeutschland und auch im Westen Berlins auf die Steuerungsfunktion des Mietpreises in größerem Umfang als bisher zurückgegriffen werden, will man nicht die Lenkung des Kapitals — und dessen Fehlen ist unser Problem — in den Wohnungsmarkt in einem Umfang stören, der den Neubau so einschränkt, daß die Mehrheit der gut Wohnenden überdurchschnittlich geschützt wird und die zunehmende Minderheit der dringend eine Wohnung Suchenden benachteiligt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, dies offen und klar anzusprechen, das ist die Aufgabe verantwortlicher Politik, zumal wenn man weiß, daß der Staat auf allen seinen Ebenen angesichts anderer großer nationaler und internationaler Herausforderungen völlig überfordert wäre, das Problem allein zu lösen.
Verantwortliche Politiker wissen natürlich auch, daß man dabei von der Mehrheit, die durch staatliche Eingriffe im verbilligten Bestand wohnen, keinen Beifall bekommen wird, auch nicht in Berlin. Dennoch — ich wiederhole mich — müssen wir uns im Interesse der vor der Tür stehenden Menschen dafür aussprechen, daß die Rentabilität im Neubau und im Bestand soweit gewährleistet ist, daß neu gebauter und vorhandener Wohnraum den Einkommensverhältnissen entsprechend gerechter genutzt wird. Dies gilt auch und besonders für Berlin.
Wie ist nun die Situation in Berlin? Im Ostteil der Stadt — ich will dies hier nicht vertiefen, weil sich die Gesetzesänderung nur auf den Westteil bezieht — wird nicht nur die ganze Misere sozialistischer Wohnungswirtschaft sichtbar, sondern interessanterweise auch deren unsoziale Fehlentwicklung. So stehen im



Dr.-Ing. Dietmar Kansy
Ostteil der Stadt zur Zeit mehr als 20 000 Wohnungen leer,

(Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

insbesondere seit das Übergangsmietrecht in Ost-Berlin am 1. Oktober 1991 in Kraft getreten ist. Sie standen leer, weil sie z. B. für einen Apfel und ein Ei als Zweitwohnung benutzt wurden, weil es übergroße Wohnungen waren, die von einzelnen Personen benutzt wurden.

(Siegfried Scheffler [SPD]: Das stimmt doch gar nicht!)

— Sie können ja dazu gleich Stellung nehmen. Ich gebe Ihnen die Empfehlung, den Bezirksstadtrat vom Prenzlauer Berg bei Ihrem nächsten Berlin-Besuch aufzusuchen. Dort werden Sie diese Zahlen bestätigt finden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dort sind teils dringende Sanierungen nötig; selbstverständlich. Der Senat — ich mache ihm das nicht zum Vorwurf — hat kein Geld bei dem schwierigen Wohnungsproblem in Berlin.
Im Westen Berlins aber — das muß uns hier bedenklicher stimmen, die wir seit vielen Jahren zigmal immer wieder Wünschen nach einem besonderen Mietrecht der Berliner nachgekommen sind — haben wir ebenfalls eine Entwicklung, die von allen anderen westdeutschen Großstädten abweicht und nicht allein aus der besonderen Situation Berlins erklärbar ist.
Im überdurchschnittlich großen Sozialwohnungsbestand, der mehr als ein Drittel aller Wohnungen umfaßt, hat Berlin bei höchsten Erstellungskosten in Deutschland pro Sozialwohnung die niedrigste Bewilligungsmiete: 1990 5,62 DM pro Quadratmeter. Die Volks- und Wohnungsstättenzählung 1987 ergab, daß die durchschnittliche Quadratmetermiete im Altbau 5,78 DM betrug. Heute ist sie natürlich etwas höher. Von allen deutschen Großstädten war sie die niedrigste. Im frei finanzierten Wohnungsbestand dagegen, auf den die jungen Ehepaare die erstmals eine Wohnung suchen angewiesen sind, weil zu wenige Wohnungen gebaut werden, werden bei gutem Wohnwert 4,20 DM pro Quadratmeter genommen. Das ist die Realität in Berlin.

(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: So ist es!)

Bei den Altbauten, über die wir uns jetzt unterhalten — allerdings, ich wiederhole es, jetzt nicht für die breite Masse der Mieter, sondern ausschließlich bei Neuvermietung —, taucht Berlin unter den ersten zehn deutschen Großstädten überhaupt nicht auf. Die Zahlen von 1991 lauten gemäß dem Preisspiegel des Rings Deutscher Makler: München 16,20 DM, Hamburg 12 DM, Düsseldorf 11,50 DM, Frankfurt 11,50 DM, Stuttgart 11 DM, Köln 9,80 DM, Hannover 9,50 DM, Bremen 9 DM, Duisburg 8,80 DM, in Dortmund 8,50 DM — auch dort, meine verehrten Kollegen, leben deutsche Steuerzahler, die aus ihren Steuergeldern mithelfen müssen, Wohnungsprobleme zu lösen —

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und in Berlin 7,40 DM.

Ich behaupte jetzt: Das ist für die Stadt keine soziale Errungenschaft, sondern eine tödliche Gefahr.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Sozialismus! — Achim Großmann [SPD]: Wer regiert denn dort?)

Denn das Wohnungsdefizit ist in Berlin, bezogen auf Deutschland, am größten, der vermutete Zuzug in den nächsten Jahren am stärksten, und die Baupreise, verehrte Kolleginnen und Kollegen, sind am höchsten. Die durchschnittlichen Baukosten liegen in Berlin um rund 40 % höher als im benachbarten Stadtstaat Hamburg; von den Flächenstaaten will ich gar nicht reden. Das — ich will das Thema jetzt nicht vertiefen; vielleicht könnte sich die Berliner Politik damit etwas intensiver auseinandersetzen — liegt nicht nur an der besonderen Situation Berlins, sondern an teilweise kartellartigen Strukturen im Bau- und Baustoffbereich, die es allmählich anzugehen gilt.
Meine Damen und Herren, statt dessen wird nun bei dieser Lage vorgeschlagen, das Wohnungsproblem Berlins für eine Minderheit im sozialen Wohnungsbau mit begrenzten Mitteln mit 300 000 DM und mehr Förderung pro Wohnung im ersten Förderungsweg — ich behaupte: vergeblich; und wir werden das in den nächsten Jahren nachvollziehen können — in den Griff zu bekommen. Das kann, insbesondere vor dem Hintergrund der riesigen Neubauleistungen, die sich die Berliner zu realisieren vornehmen, nicht gelingen. Ich wiederhole: Ohne Verbesserung der Rentabiltität im Berliner Wohnungsbau wird die Berliner Politik es nicht schaffen, das Wohnungsproblem zu lösen.
Herr Senator Nagel, da Sie hier gerade sitzen: Das hat sich übrigens vor der Abstimmung über den Parlaments- und Regierungssitz — ich sage das als jemand, der hier für Berlin gesprochen und dort für Berlin abgestimmt hat — doch ein bißchen anders angehört. Damals haben Sie gesagt, daß das Problem in Berlin nicht größer und nicht anders sei als in anderen Großstädten. Dennoch streben Sie jetzt wieder eine Sonderregelung an, ungeachtet der Tatsache, daß Sie zunächst gesagt haben, Sie wollten eine allgemeine Regelung wenigstens für alle Ballungsräume.
Genau das aber, meine Damen und Herren, werden wir als Regierungskoalition machen.

(Zurufe von der SPD: Wann?)

Wissend um die schwierige Gratwanderung zwischen der Wohnung als Sozialgut und der Wohnung als Investitionsgut, werden wir in Kürze einen Gesetzentwurf vorlegen, mit dem der Schutz vor überhöhten Mieten bei Neuvermietung aus dem Bestand — ich wiederhole zum dritten Mal: Nur über das reden wir jetzt — verstärkt wird.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zu den Details wird einer meiner Kollegen — aus Zeitgründen möchte ich darauf hier nicht eingehen — sogleich vielleicht einiges sagen.
Nein, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, ohne Verbesserung der Rentabilität, ohne ein Stückchen politischen Muts werden die Berliner Politiker es nicht schaffen, das heutige Wohnungsproblem zu lösen. Das Mietrecht schützt eben nicht nur die alte Oma mit geringem Einkommen — die zu



Dr.-Ing. Dietmar Kansy
Recht geschützt wird — , sondern es schützt auch das gut verdienende Yuppie-Ehepaar mit seiner 180 m2 großen Altbauwohnung für 1 000 DM, während ein junges Ehepaar, das gerade auf den Wohnungsmarkt kommt, für seine 40 m2 genau dieselbe Summe, 1 000 DM zu zahlen hat.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Und bei Neuvermietung in Altbauten — das weiß in Berlin jeder — kommen doch nicht immer die wirklich Bedürftigen zum Zuge, sondern gut Verdienende, die unter dem Tisch, also schwarz, die nötige Abstandssumme zahlen, damit sie genau die Wohnung bekommen, die andere brauchen.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205733300
Herr Kollege Kansy, gestatten Sie am Ende Ihrer Redezeit noch eine Zwischenfrage des Kollegen Diederich?

Dr.-Ing. Dietmar Kansy (CDU):
Rede ID: ID1205733400
Ich gestatte sie, Frau Präsidentin.

Dr. Nils Diederich (SPD):
Rede ID: ID1205733500
Verehrter Herr Kollege Kansy, da Sie die Sozialdemokratie angesprochen haben: Es ist Ihnen ja bekannt, daß es sich hier um eine Vorlage des Berliner Senats und des Bundesrates handelt. Es ist Ihnen weiter bekannt, daß Ihre Unionskollegen in Berlin an dieser Initiative beteiligt sind. Hat Ihnen das nicht zu denken gegeben?

Dr.-Ing. Dietmar Kansy (CDU):
Rede ID: ID1205733600
Mir gibt alles zu denken, was aus Berlin kommt.

(Lachen bei der SPD)

Aber, Herr Kollege, ich spreche hier als Mitglied des Deutschen Bundestages, der Verantwortung für die Bundesgesetzgebung hat, zu der SPD-Bundestagsfraktion. Im übrigen ist auch uns bekannt, daß sowohl die SPD als auch die CDU Berlins diesen Antrag gestellt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD — Zuruf von der SPD: Haben Sie etwas gegen Herrn Diepgen?)

— Ich hätte hier nicht für Berlin gesprochen, wenn ich etwas gegen die Berliner hätte.
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen noch eines mit auf den Weg geben: Wer für Berlin wirklich Zukunft und keine die Zukunft verbauenden Scheinlösungen will, darf diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205733700
Nun hat der Kollege Siegfried Scheffler das Wort.

Siegfried Scheffler (SPD):
Rede ID: ID1205733800
Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hält nach Vorschlag der Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau den sozialen Übergang von der Preissicherung für Altbauwohnungen in Berlin auf ein Vergleichsmietensystem für nicht notwendig. Dieser Übergang soll nach dem vom Bundesrat vorgelegten Gesetzentwurf statt zum 31. Dezember 1991 erst zum 31. Dezember 1994 erfolgen.
Die Bundesbauministerin aber sieht hierfür keine Notwendigkeit. Damit hat sie sich an der Spitze der Mietpreistreiber in Berlin gesetzt.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/ Linke Liste] — Widerspruch bei der CDU/ CSU)

Ich frage mich: Kennt die Bundesbauministerin überhaupt den realen Hintergrund, der im Juli 1987 zu einer Gesamtregelung dieser Übergangsbestimmungen führte?
Nach Wilhelm von Humboldt hat keine Zukunft, wer die Geschichte nicht kennt.

(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das ist wahr! — Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Sehr gut ausgedrückt!)

Zumindest in diesem Punkt kennt die Bundesbauministerin — und kennen offensichtlich auch Sie, Herr Kollege Dr. Kansy — nicht die Geschichte. Geschichtsbewußtsein ist gerade jetzt, am Wiederbeginn der gesamtdeutschen Historie, vonnöten.

(Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Sehr richtig!)

In dieser gemeinsamen deutschen Geschichte kann ich die Lage Berlins — bezogen auf unser jetziges Debattenthema, nämlich eine dauerhafte soziale Wohnsituation im Land Berlin — nicht ausklammern.
Meine Debattenbeiträge im April und im Mai 1991, die sich auf die negativen Auswirkungen einer verfehlten Wohnungspolitik für die neuen Bundesländer beschränkten, begannen mit den Worten: „Die Wohnungspolitik ist mit der Vereinigung aktueller denn je." Diese Aktualität hat die Bürgerinnen und Bürger im Westteil unserer Hauptstadt sehr schnell eingeholt.
Aber auch das schon damals gebrauchte Wort „Wohnungsnotstand" ist aktueller denn je. Mehr als jedes andere Ballungszentrum ist Berlin Hauptbe-, aber auch Hauptgetroffener der deutschen Einheit. So unterschiedlich die Ausgangslage auch war — die Deutschen in Ost und West zahlen jetzt mit höheren Mieten einen Preis für die Einheit;

(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Einen zu hohen Preis? Das soll wohl ein Scherz sein!)

einen Preis, der nicht nur für unsere Menschen in den neuen Bundesländern, trotz der Sonderwohngeldregelung,

(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Ist die Freiheit weniger wert als eine erhöhte Miete? Das kann man doch nicht in einem Atemzug bringen!)

Sie wissen ganz genau, daß ich weiß, wovon ich spreche, da ich beteiligt war — , über die gewisse Schmerzgrenze hinausgeht. Nein, meine Damen und Herren, der Preis der Einheit ist insbesondere für die Berlinerinnen und Berliner im Westteil unserer Stadt in vielfacher Hinsicht ungerechtfertigt.

(Unruhe bei der CDU/CSU)




Siegfried Scheffler
Wir stehen heute — ich schlage Ihnen vor, zuzuhören — in der Mieterstadt Berlin vor völlig veränderten und erheblich verschärften Ausgangsbedingungen. Auch Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, haben damals nicht voraussehen können, daß bereits seit 1987 Umsiedler, Aussiedler sowie Zuziehende aus den alten Bundesländern wieder zu einer, freilich positiven, Bevölkerungsentwicklung im Land Berlin mit entsprechender Wohnungsnachfrage geführt haben. Doch mit der Öffnung der Mauer in und um Berlin am 9. November 1989, besonders aber nach der Einigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 erreichten wir — Gott sei Dank — auch im Berliner Ballungsraum die Freizügigkeit der Wohnungs- und Arbeitsplatzwahl.
Dies führte in einem außerordentlich kurzem Zeitraum zu unerwartetem markantem Bevölkerungszuwachs und damit zu einer außerordentlichen Nachfrage nach Wohnraum in Berlin selber wie auch in der umliegenden Region.
Mit einer so raschen Verschärfung der Wohnungsnachfrage in Berlin konnte die Zahl der freiwerdenden und der neugebauten Wohnungen nicht Schritt halten. Die 475 000 Altbauwohnungen im Westteil Berlins müssen daher immer noch die Versorgung breiter Schichten der Bevölkerung mit Wohnraum sicherstellen.

(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Tun sie ja, wenn keiner auszieht!)

Bei den Mietern sind es wieder einmal die Geringverdienenden bzw. diejenigen, deren verfügbares Familieneinkommen eben nicht steigen wird.
Da Wohnraum nicht teilbar ist und es deshalb auch keine Aufteilung der verfügbaren Wohnfläche auf alle Bedürftigen geben wird, ist die von mir erwähnte Bevölkerungsgruppe zunehmend wohnungsgefährdet. Die Gesetze des freien Marktes wirken dahin, daß der Expansionsdrang der Finanzstärkeren zu Lasten der Zahlungsschwächeren geht und dadurch soziale Verwerfungen nach sich zieht. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich betone das an dieser Stelle — Herr Dr. Kansy, Sie haben das ja indirekt bestätigt —, weil diese Entwicklung auch vor den anderen Großstädten und Ballungsgebieten nicht haltmachen wird.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren der Regierungskoalition: Haben sich die von mir genannten Rahmenbedingungen etwa wesentlich verändert? Oder trifft nicht vielmehr nach wie vor zu — ich zitiere aus dem Raumordnungsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 1990 — , daß der große Umbruch in der DDR und Berlin-Ost sich zuerst und am unmittelbarsten auf das Land Berlin-West ausgewirkt hat?

(Zurufe von der SPD: Richtig!)

Trifft es nicht mehr zu, daß sich hier, in Berlin (West), immer noch die Folgen der Teilung und der Konfrontation zweier Blocksysteme besonders verdeutlichen und daß die Entwicklung aus eigener Kraft — ich zitiere immer noch aus dem Raumordnungsbericht — nur mit Augenmaß geschehen kann, wenn eine geordnete Entwicklung Berlins mit seinem Umland erreicht werden soll?
Sie, Herr Staatssekretär Günther, konstatieren doch in Ihrer eigenen Veröffentlichung, daß „die sehr begrenzte Verfügbarkeit von Flächen für den Wohnungsneubau ein besonderer Berliner Standortnachteil" ist.
Kollege Dr. Kansy, Sie machen es sich zu einfach und verfälschen die Problematik, wenn Sie nicht nur heute, sondern etwa auch im „Deutschland-UnionDienst" vom 8. November 1991 das Spiel einer wohnpolitischen Sonderrolle Berlins nachvollziehen. Nicht die wohlstandsbedingte Nachfragesteigerung bzw. die strukturellen Defizite in Ostdeutschland führen zu einer weiteren Zuspitzung;

(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: In Ostdeutschland doch nicht!)

nein, der bis 1989 eingemauerte Westteil Berlins muß gerade jetzt diese strukturellen Defizite ausgleichen.
Diese Defizite können Sie übrigens in dem uns dankenswerterweise zur Verfügung gestellten Raumordnungsbericht vom 30. August 1991 nachlesen. Dem hat Berlin (West) gegenüber allen anderen Bundesländern, ausgenommen Hamburg, die geringste Wohnfläche je Einwohner.

(Achim Großmann [SPD]: Hört! Hört! — Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: 35 Quadratmeter!)

Wenn Sie weiter sagen, daß das heutige Mietrecht nicht nur die arme Witwe schützt, sondern auch das doppelt verdienende Ehepaar ohne Kinder in einer 200-qm-Wohnung für 1 000 DM Miete, so mag das im Einzelfall zutreffen; aber eben nur im Einzelfall. Oder zweifeln Sie die in dem von mir schon erwähnten Raumordnungsbericht genannten Zahlen an, die für West-Berlin für Wohnungen mit vier und mehr Räumen — also die Zahl, die Ihrer Version nahekommt — nur einen Anteil von 17,1 %, für alle anderen Altbundesländer zusammen jedoch im Durchschnitt 51,7 % ausweisen, so daß der Anteil im Durchschnitt aller Altbundesländer 41,8 % ausmacht?

(Achim Großmann [SPD]: Das ist die Realität!)

Das sind die Tatsachen, die der besonderen politischen Situation in Berlin (West) entsprechen.
Darüber klagt Berlin jedoch nicht. Aber deren besondere politische Bewertung fordern wir von der SPD-Opposition hier und heute. Dieser besonderen politischen Lage ist der Bundesrat mit seinem einmütigen Entschluß entgegengekommen.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, wie sehen denn die Berliner Alternativen für eine wesentliche und schnelle — und um Zeit geht es ja gerade — Verbesserung im Wohnungsbau dieser Stadt aus? Ich sprach bereits die nur begrenzt zur Verfügung stehenden Baulandflächen an. Hat es nicht die Bundesregierung zu verantworten, daß der Wohnungsneubau durch Investitionshemmnisse bei der Baulandbereitstellung zusätzlich blockiert wird?

(Zurufe von der SPD: So ist es!)

Das trifft neben Berlin in besonderem Maß für das in unmittelbarer Nachbarschaft liegende Land Branden-



Siegfried Scheffler
burg zu. Es sind doch Ihre Verhinderungsgesetze, die die Menschen ohne Alternative lassen.

(Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Genau!)

Hinzu kommt, daß steigende Boden- und Baupreise die Lage zusätzlich verschärfen. Die hohen Zinsen gefährden ernsthaft die Realisierung des erforderlichen Neubaus.

(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Es geht ja allen so schlecht!)

Ihre Kritik, Herr Dr. Kansy, bezogen auf Berliner Politiker hinsichtlich des Mutes zur politischen Verantwortung, sollten Sie deshalb lieber an die Adresse der Bundesbauministerin richten.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

Was passiert denn seit Monaten im Wohnungsbau oder beim Erwerb von Häusern und Wohnungen? — Ich werde es Ihnen sagen. Es geht in kleinen Schritten immerzu bergab: hier ein paar hilflose Fördermaßnahmen, da ein neues Projekt — und überall steigende Mieten. Dabei werden die größten Schritte den Mietern zugemutet, Schritte — so jetzt in Berlin — , die rigorose Abstriche von den gewohnten Wohnverhältnissen bei sozial verträglichen Mieten erfordern.
Selbst der völlig unzureichende komplizierte Koalitionskompromiß einer Kappung der höchstzulässigen Mieterhöhung auf 20 % für Ballungsgebiete liegt bis heute in der Schreibtischschublade der Regierung. Die CSU hat diese soziale Brisanz erkannt, und Herr Stoiber fordert nach wie vor, die jetzige Kappungsgrenze endlich zu reduzieren. Ich sage Ihnen, die Bundesbauministerin schreitet genau in den Schatten, den ihre Vorgängerin Frau Hasselfeldt mit ihrer katastrophalen Wohnungspolitik hinterlassen hat.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Wenn wir hier noch von einer optimistischen Wohnungsbauministerin sprechen, so müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß die Bundesrepublik im EG-Vergleich bei den Fertigstellungszahlen von Wohngebäuden leider das traurige Schlußlicht bildet.

(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Wir hatten ja auch den höchsten Standard vor fünf Jahren!)

Abstrakte Rechtsbelehrung und Hinweise auf den Mietwucherparagraphen helfen den Menschen nicht. Die Wohnung ist kein beliebig austauschbares Konsumgut, dessen Preis und Verteilung nach dem Prinzip des freien Spiels der Kräfte gestaltet werden darf.

(Dr. Walter Hitschler [FDP]: Wonach denn sonst?)

Die SPD-Bundestagsfraktion fordert deshalb mit ihrem am 9. Oktober 1991 im Bundestag eingebrachten Antrag, daß die Mietpreisbindung für Altbauwohnungen in Berlin verlängert wird.
Herr Dr. Kansy und die Regierungskoalition, nehmen Sie Ihre Aussage vom 29. August 1991 ernst! Noch wichtiger aber: Ziehen Sie die richtigen sozialverträglichen Schlußfolgerungen, wenn Sie bestätigen, daß heute das Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage direkt in partielle Wohnungsnot führt bei zunehmender Obdachlosigkeit und gleichzeitig massiv steigenden Mieten! Springen Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, über Ihren eigenen Schatten! Ihr Schritt in die richtige Richtung ist gefragt.

(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das ist mit Sicherheit nicht Ihr Gesetzentwurf, Herr Kollege!)

Stimmen Sie für Sozialverträglichkeit! Geben Sie unserem Antrag Ihre Zustimmung.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE — Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Um Gottes willen!)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205733900
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Joachim Günther.

(Dr. Walter Hitschler [FDP]: Endlich mal was Gescheites!)


Joachim Günther (FDP):
Rede ID: ID1205734000
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Gesetzes zur dauerhaften sozialen Verbesserung der Wohnsituation im Land Berlin vom 14. Juli 1987 soll die Lage der Berliner Mieter bei angespanntem Wohnungsmarkt verbessert werden. Dem gleichen Ziel soll nach Meinung der Fraktion der SPD ihr Initiativantrag zur Mietpreisbindung in Berlin dienen.
Nach Meinung der Bundesregierung ist die vorgeschlagene Lösung hierfür jedoch nicht geeignet. Das oben genannte Gesetz beendet die seinerzeit nur noch in Berlin geltende Preisbindung für Altbauwohnungen.
Zur Erleichterung des Übergangs von der starren Preisbindung auf das Vegleichsmietensystem nach dem Miethöhegesetz wurden die jährlichen Mieterhöhungen im Altbaubestand bis Ende 1994 auf maximal 5 % begrenzt, um abrupte Mietpreissteigerungen zu vermeiden. Ergänzend enthielt das Gesetz für die Zeit bis 1991 eine Begrenzung der Mieterhöhung bei Wiedervermietung auf 10 %. Nur das Auslaufen dieser Begrenzung der Neuvermietungsmiete steht zur Debatte. Dies ist in der öffentlichen Diskussion nicht immer klar geworden, aber für die wohnungspolitische Beurteilung von entscheidender Bedeutung.
Für die Verlängerung der Mietpreisbegrenzung wird angeführt, der Wegfall der 10 %-Grenze werde einen sozial unverträglichen, sprunghaften Anstieg des Vergleichsmietenniveaus zur Folge haben.
Aus mehreren Gründen trifft diese Argumentation nicht zu. Zum einen betrifft die Verlängerung der Mietpreisbegrenzung nur die Fälle der Neuvermietung von Altbauwohnungen. Die Fluktationsrate bei diesen Wohnungen ist aber, ähnlich wie im Sozialwohnungsbestand, sehr niedrig. Sie dürfte nach unseren Schätzungen unter 5 % liegen.

(Achim Großmann [SPD]: Dann kann es ja bis 1994 so bleiben!)




Parl. Staatssekretär Joachim Günther
Die Vereinbarung von Neuvermietungen im Altbaubestand könnte sich also jährlich bei höchstens 3 des gesamten Wohnungsbestandes bemerkbar machen.
Nach dem Berliner Mietspiegel für Altbauwohnungen liegen die Vergleichsmieten unter Einschluß der „kalten" Betriebskosten in einer Größenordnung von 6 DM bis 8,50 DM pro Quadratmeter Wohnfläche bei durchschnittlicher Ausstattung und in mittlerer Wohnlage. Auch wenn die 10 %-Begrenzung der Neuvermietungsmieten wegfällt, werden nach § 5 des Wirtschaftsstrafgesetzes nur Mietabschlüsse bis 20 % über diesem Mietniveau ermöglicht.
Die Berliner Verwaltung hat es in der Hand, etwaigen Auswüchsen bei der Neuvermietung von Altbauwohnungen mit den Mitteln des Wirtschaftsstrafgesetzes zu begegnen. Bei der geltenden Rechtslage würden sich damit nach dem planmäßigen Auslaufen der 10 %-Grenze Abschlüsse deutlich unter 10 DM pro Quadratmeter Wohnfläche ergeben. Auswirkungen auf die Mietspiegel sind somit begrenzt, so daß soziale Mißstände nicht zu befürchten sind.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Berliner Altbaumieten werden auch künftig weit unter dem Niveau anderer Ballungsräume liegen. In Berlin selbst liegen die Neuvermietungsmieten für nicht preisgebundene Wohnungen der Nachkriegszeit bei 17 DM pro Quadratmeter und mehr. Die Beibehaltung der 10 %-Grenze würde also die Marktspaltung zwischen Alt- und Neubauwohnungen noch vertiefen.
Erst die Mieten bei der Wiedervermietung und später die Mieten in laufenden Verträgen freizugeben ist meiner Meinung nach der sozial bessere Übergang zur Marktmiete. Mit Beibehaltung der künstlichen Begrenzung der Neuvermietungsmiete würde dagegen der Übergang zur Marktmiete erschwert.

(Beifall bei der FDP)

Erscheinungsformen des Grauen Marktes würden sich weiter verstärken. Anstelle höherer Mieten sind heute schon Abstandszahlungen und anderweitige Ausgleichszahlungen weithin üblich.

(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Hört! Hört!)

Diese können besonders von sozial schwächeren Bevölkerungsschichten nur schwer aufgebracht werden. Anders als die Miete sind solche Zusatzzahlungen außerdem nicht wohngeldfähig.
Eine spezielle Begrenzung der Neuvermietungsmieten in Berlin wäre schließlich gegenüber Wohnungsmärkten in anderen Ballungsräumen mit einem weit höheren Altbaumietenniveau nicht zu vertreten.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Eine wirksame Entspannung der zur Zeit angespannten Wohnungsmärkte kann in Berlin wie in anderen Ballungsräumen nur durch eine Erhöhung des Angebots an Wohnungen erreicht werden. Genau dem steht die 10 %-Regelung entgegen. Viele Investoren werden abgehalten, in den Wohnungsbau zu investieren, da sie wegen dieses Eingriffs Vertrauen verlieren und weitere Reglementierungen befürchten. Wenn weniger Neubauwohnungen auf den Wohnungsmarkt kommen, trifft dies am stärksten Wohnungssuchende mit geringem Einkommen.
Die Bundesregierung vermag daher dem Gesetzentwurf des Bundesrates nicht zuzustimmen. Ein Abbau der Engpässe auf dem Wohnungsmarkt ist nur möglich, wenn das Wohnungsangebot entsprechend ausgeweitet wird.
Abschließend — ich möchte das abkürzen; die Zeit läuft weg —

(Achim Großmann [SPD]: Auch die Mieter in Berlin!)

möchte ich, meine Damen und Herren, verdeutlichen, daß die Bundesregierung keineswegs nicht willens ist, über mietenpolitische Maßnahmen im Kontext zur Verbesserung der Wohnungsversorgung der Bevölkerung nachzudenken. Nur halten wir den Weg des Bundesrates für den falschen.
Statt dessen meinen wir, mit folgenden Änderungen sei das Mietrecht zeitgemäß und sozial angepaßter auszugestalten. Dies sind, kurz umrissen: erstens Senkung der Kappungsgrenze im Miethöhegesetz von 30 auf 20 % ab einer bestimmten aboluten Miethöhe, zweitens Verschärfung des § 5 Wirtschaftsstrafgesetz und drittens Einführung vertraglicher Gleitklauseln bei gleichzeitigem zehnjährigem Kündigungsschutz.
Meine Damen und Herren, wohnungspolitisch sind die Weichen gestellt. Über die aufgezeigten Entwicklungen im Mietrecht werden wir im nächsten halben Jahr zu streiten haben. Ich erhoffe mir von Ihnen eine konstruktive Zusammenarbeit.
Danke schön.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205734100
Nun hat nach diesem verdienten Applaus der Kollege Dr. Walter Hitschler das Wort.

(Beifall bei der FDP)


Dr. Walter Hitschler (FDP):
Rede ID: ID1205734200
Frau Präsidentin! Damit habe ich zwar nicht gerechnet; aber immerhin, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur dauerhaften sozialen Verbesserung der Wohnungssituation im Land Berlin hat der Deutsche Bundestag am 14. Juni 1987 eine Übergangsregelung für Berlin geschaffen, nach der die geltenden Mietrechtsonderregelungen in einer vierjährigen Übergangszeit abgebaut werden und das Berliner Mietrecht an das des übrigen Bundesgebiets angeglichen wird.
Am 1. Januar 1992 soll daher auch die Kappungsgrenze von 10 % bei der Neuvermietung von Altbauwohnungen entfallen. Dies ist zu begrüßen, denn wir benötigen in Deutschland ein einheitliches Mietrecht. Würden wir dem Antrag des Bundesrates und der SPD stattgeben, so müßten wir der Lex Berlin alsbald eine



Dr. Walter Hitschler
Lex München, eine Lex Stuttgart oder Hamburg oder Hannover folgen lassen,

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

die mit dem Hinweis auf die gleiche Sondersituation ebenfalls eine Sonderbehandlung einfordern könnten. Es wäre wohl mit einer Verlängerung der Sonderregelung getan, wenn sie denn helfen würde, die Probleme zu lösen. Aber das Instrument ist untauglich, und es hat nun auch lange genug seine Untauglichkeit unter Beweis gestellt. Die prekäre Situation auf dem Berliner Wohnungsmarkt kann nämlich nicht mit Hilfe staatlicher Mietdämpfungsmaßnahmen verbessert werden, weil deren Wirkungen genau das Gegenteil des angestrebten Ziels erreichen würden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Jeder Eingriff in die Bestandsmieten tangiert die Investitionsneigung der Bauwilligen, da jeder Investor mit Beeinträchtigungen seiner auf eine lange Kalkulationsdauer abgestellten Renditeerwartung rechnen muß und durch derartige Interventionen verunsichert wird. Er wird seine Bauabsichten zurückstellen, und damit wird das Wohnungsangebot in Berlin nicht wachsen können.

(Zuruf von der FDP: Sehr richtig!)

In Engpaßsituationen steigen überdies die Instandsetzungskosten in der Regel stärker als die Mieten; das ist auch gegenwärtig so.
Die vorgesehene Regelung würde demnach nicht nur das Angebot an Neubauwohnungen berühren, sondern auch zu verstärkter Vernachlässigung der Instandhaltung und zu einem höheren Druck zur Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen führen und darüber hinaus die bereits bestehenden Verzerrungen im Berliner Mietgefüge zwischen Bestands- und Erstmieten beim Neubau weiter verschärfen.
Das diesen Anträgen zugrunde liegende Begehren würde dazu führen, die Knappheitsrelationen zu verfälschen und die Dringlichkeit des Bedarfs anderer Mieter nicht zum Ausdruck kommen zu lassen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Durch künstlich niedrig gehaltene Mieten wird ein zusätzlicher Nachfrageschub wirksam, der die Knappheitsverhältnisse noch verschärft; der Wettbewerb um die geringere Zahl von Wohnungen wird härter. Die meisten Wohnungen würden im übrigen unter der Hand vergeben, unter Umständen sogar gegen Abschlagszahlungen und mit ähnlichen Praktiken.
Bei begrenzten Wiedervermietungsmieten hat im übrigen der sozial Schwache eben keine höhere Chance, eine Wohnung zu erhalten, weil sich der Vermieter unter der Vielzahl der Bewerber den ihm am geeignetsten erscheinenden aussuchen kann. Das vorgeschlagene Instrument ist untauglich, das opportunistisch vorgegaukelte Ziel zu erreichen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Alle Fachleute, Herr Bausenator, wissen das. Auch die
Berliner Senatsverwaltung weiß es, aber sie will es
nicht zugeben, weil sich dieser Weg in populistischer
Manier besonders gut eignet, die Bürger hinters Licht zu führen und die Schuld an den Mißständen auf den Bund zu schieben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

So läßt sich die eigene Untätigkeit am besten kaschieren.
Die Berliner Bürger aber müssen wissen, daß die schlimme Situation auf dem Berliner Wohnungsmarkt ausschließlich dadurch verbessert werden kann, daß der Senat erheblich mehr Bauland ausweist und die zahlreich vorhandenen bauwilligen Investoren auch tatsächlich bauen läßt. Die Berliner Wohnungsbaupolitik darf nicht länger nur auf den öffentlich geförderten sozialen Wohnungsbau setzen, die Bewilligungsmieten niedrig und das Bauland für den frei finanzierten Wohnungsbau knapphalten. Dann sucht sich anlagewilliges Kapital andere und ertragreichere Anlagemöglichkeiten. Wie will Berlin seine Hauptstadtfunktion wahrnehmen, wenn es nicht fähig und nicht bereit ist, nachdem die bisher fehlende Expansionsmöglichkeit durch die Wiedervereinigung entfallen ist, Wohnfläche in so ausreichendem Maße auszuweisen, daß das Angebot an Bauland die Baulandpreise nicht in astronomische Höhen treibt?

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU )

Platz ist doch nun wirklich genug da. Jetzt muß Berlin mit seinen Planungen auch einmal zu Stuhle kommen. Es ist grotesk, daß ein solcher Antrag gerade aus einer Stadt kommt, welche das vergleichsweise niedrigste Bestandsmietenniveau und den höchsten Bestand an Sozialwohnungen in der Bundesrepublik aufweist, mit Bewilligungsmieten zwischen 4 DM und 5,5 DM pro m2 Wohnfläche. Solch irrationale Haltungen sind nur aus der Anspruchsmentalität einer subventionsverwöhnten Stadt erklärlich.

(Beifall bei der FDP)

Die immer stärker aufklaffende Lücke zwischen echter Kostenmiete von über 30 DM und Sozialmieten von 5,50 DM pro m2 kann nicht länger mit Subventionen von der öffentlichen Hand geschlossen werden. Die Ablehnung der vorliegenden Anträge bedeutet daher einen Schritt hin zur Normalisierung, zur Rechtsangleichung und zur Geltung unserer funktionsfähigen Sozialen Marktwirtschaft.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zurufe von der FDP: Bravo!)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205734300
Nun hat das Wort Herr Kollege Gerd Poppe.

Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1205734400
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Daß die Bundesregierung einen wirtschaftspolitischen Kurs verfolgt, der den Interessen der Menschen mit mittleren und niedrigen Einkommen recht wenig Aufmerksamkeit schenkt, ist für uns nichts Neues. Dieser Politik entspricht es, daß ihr das Wohlwollen der Hausbesitzer von jeher mehr am Herzen liegt als das der Mieter. Die Haltung der Bundesregierung zur Frage der Berliner Mietpreisbindung zeigt einmal mehr, wie wenig ihre Entscheidungen den tatsächlichen Bedürfnissen ent-



Gerd Poppe
sprechen, wie sehr sie im Gegensatz zu den vollmundigen Ankündigungen stehen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Verstehen Sie etwas davon, Herr Kollege? — Null Ahnung!)

Die Aufhebung sozialverträglicher Mietpreisregelungen für Ballungsgebiete — in diesem Fall Berlin, genauer gesagt: den Westteil der Stadt — bedeutet nicht nur Härten für die betroffenen Mieter. Sie bedeutet auch einen Kostenanstieg in Gestalt steigender staatlicher Wohngeldzahlungen. Aber diese reichen nicht aus. Busfahrer, Krankenschwestern und Polizisten können sich die teuren Wohnungen nicht mehr leisten und müssen wegziehen. Deshalb bedeuten Mietpreissteigerungen auch eine Veränderung der Sozialstruktur in den Großstädten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wissen Sie überhaupt, um was es geht?)

— Allerdings; ich wohne dort, ich sehe das täglich und sehe, wie sich die Situation verändert, und zwar zuungunsten der Stadt. Eine Auswirkung dieser Veränderung ist, daß die Infrastruktur in den Zentren leidet.
Wer sich mit dem Thema beschäftigt, weiß, daß die Mieten in Berlin schon seit Aufhebung der Mietpreisbindung 1987 drastisch steigen. Der Fall der Mauer und zuletzt die Entscheidung des Bundestages für Berlin als Regierungssitz haben weitere Mietsteigerungsschübe zur Folge gehabt. Betroffen davon sind gerade die in Berlin noch immer vergleichsweise häufigen Substandardwohnungen. Der Anstieg der Lebenshaltungskosten wird dadurch entscheidend beeinflußt, und zwar schon bei der jetzt gültigen Kappungsgrenze. Deren Aufhebung würde zu weiteren erheblichen Verteuerungen führen. Familien mit mittlerem Einkommen finden schon jetzt kaum noch eine Wohnung. Die Wohnraumbeschaffung für Einkommensschwache und Wohnungslose ist praktisch zusammengebrochen. In Berlin ist die Lage auch deshalb besonders schwierig, weil es dort einen besonders hohen Anteil an Mietwohnungen gibt. Trotzdem gilt dies alles natürlich nicht nur für Berlin, sondern für alle Großstädte und Ballungsgebiete.
Sicher ist es sinnvoll, Regelungen schrittweise abzubauen, die ausschließlich für Berlin bestehen. Aber zweierlei ist dabei zu berücksichtigen. Einmal kann man durchaus geteilter Ansicht über die Richtung dieser Angleichung sein. Nicht zwangsläufig müssen Sozialverträglichkeiten auf dem Wohnungsmarkt abgebaut werden.
Zum anderen aber ist es völlig unrealistisch, anzunehmen, die besondere Lage in Berlin hätte sich mit der Vereinigung Deutschlands erledigt. Sie hat zunächst nur eine andere Erscheinungsform: Der Zuzug nach Berlin und damit die Wohnungsnachfrage dort sind mit der Vereinigung und der Berlin-Entscheidung sprunghaft gestiegen, der Wohnungsbestand aber natürlich nicht. Die Ost-Berliner Mieten sind trotz ihrer enormen Anhebung seit Oktober wesentlich niedriger als die im Westteil der Stadt. Auf Grund der völlig unterschiedlichen Ausgangslage — ich spreche vom desolaten Zustand der Wohnungen und den weitaus niedrigeren Einkommen der Mieter im Osten — wird dies auch über einen längeren Zeitraum
so bleiben. Es gibt also einen Angleichungsbedarf West-Berlins nicht nur an westdeutsche Ballungsräume, sondern mindestens ebenso innerhalb der gleichen Stadt.

(Zuruf der CDU/CSU: Umgekehrt wird ein Stuhl daraus!)

Der Bundesrat hat im Unterschied zur Bundesregierung den Zusammenhang zwischen unbezahlbaren Mieten, vorhandener Wohnungsnot und steigender Obdachlosigkeit erkannt. Eine einseitig an Eigentümerinteressen orientierte Wohnungspolitik, fragwürdig schon für die alte Bundesrepublik, wäre für Gesamtdeutschland mit unabsehbaren sozialen Folgen verbunden. Der Sonderfall Berlin, wo auf engstem Raum die Probleme des Wohnungsmarktes in West- und Ostdeutschland zusammenkommen, ist dabei ein markantes Beispiel. Deshalb möchte ich Sie dringend bitten, den Gesetzentwurf des Bundesrates und den diesbezüglichen Antrag der SPD in den Ausschüssen zu unterstützen.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Niemals!)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205734500
Nun hat der Herr Abgeordnete Dr. Ilja Seifert das Wort.

Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1205734600
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Offensichtlich herrscht in diesem Staate Bundesrepublik Deutschland akuter Wohnungsmangel. Die Mieten in den alten Bundesländern steigen seit Jahren wesentlich schneller als die Einkommen und die anderen Lebenshaltungskosten.

(Dr. Walter Hitschler [FDP]: Schauen Sie mal in die Statistik! Das stimmt nicht!)

— Sie können mir ja das Gegenteil beweisen, wenn Sie das schaffen.
Auf der anderen Seite fehlen in Deutschland 2,5 bis 3 Millionen Wohnungen, davon rund 1 Million in den neuen Bundesländern. Wohnraumnot ist aber meines Erachtens keine bloß statistische Größe, sondern täglich, und zwar hierzulande, praktizierte Verletzung von Menschenrechten.
Die komplizierte Lage auf dem Wohnungsmarkt im Land Berlin hat der Deutsche Bundestag 1987 mit dem Erlaß des Gesetzes zur dauerhaften Verbesserung der Wohnungssituation anerkannt. Vier Jahre danach müssen wir konstatieren, daß sich die Wohnungsmarktlage in Berlin trotz dieses Gesetzes in keiner Weise günstiger gestaltet. Im Gegenteil: Die Lage wird immer dramatischer. 1987 war auch nicht abzusehen, welchen Belastungen Berlin mit dem Prozeß der Einheit und den zunehmend auszufüllenden Hauptstadtfunktionen ausgesetzt sein würde.
Das sind aber nicht die einzigen Ursachen für die Situation. Zentrale Ursache ist die verfehlte Wohnungspolitik von Bundesregierung und Berliner Senat. Obwohl die Wohnungen ist Ost-Berlin um ein Mehrfaches teurer wurden, fehlt es an Geld, um sie zu sanieren und zu modernisieren.
Während der Senat 40 Millionen DM in das politisch motivierte Prestigeobjekt Mainzer Straße steckt und



Dr. Ilja Seifert
Kraft, Kapazität und Steuergelder für das Schleifen von Denkmälern und die Umbenennung von Straßen, Plätzen und Bahnhöfen einsetzt, wächst die Zahl der leerstehenden Wohnungen ständig. Gerade die einkommensschwächsten Bevölkerungsgruppen werden aus ihren Wohnungen aus der Stadt herausgedrängt. Auch Herr Poppe hat soeben darauf hingewiesen; ich möchte ihn in diesem Punkte ausdrücklich unterstützen.
Die Zahl der Obdachlosen nimmt ständig zu, ohne daß der Senat oder die Bezirksämter entsprechend ihrer sozialen Verpflichtung irgend etwas Wirksames dagegen tun können. Die Stadt braucht, um lebensfähig zu bleiben, ausreichend bezahlbare Wohnungen für alle sozialen Gruppen, nicht nur ein paar neue Villen und Dienstwohnungen für Beamte.
Die Abgeordnetengruppe der PDS/Linke Liste unterstützt den Entwurf des Bundesrates und den Antrag der SPD zur Mietpreisbindung in Berlin und erwartet, daß dieser Gesetzentwurf nach Behandlung in den Ausschüssen noch in diesem Jahr im Bundestag angenommen wird. Dabei sind wir uns bewußt, daß diese Maßnahmen zur Verschiebung des Zeitpunkts der Aufhebung von Kappungsgrenzen bei der Neuvermietung von Altbauwohnungen nicht die Lösung des Wohnungsproblems im Lande Berlin darstellen. Es ist lediglich eine kurzzeitige Maßnahme zur weiteren Schadensbegrenzung.

(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Nein, zur Verschärfung der Wohnungsprobleme!)

— Das ist Ihre Sicht, Herr Kansy. Ich trage hier meine vor.
Bundesregierung und Senat stehen in der Pflicht, nun endlich wirksame Konzepte zu einer dauerhaften Entspannung des Wohnungsmarkts auf den Tisch zu legen. Sollen wir 1994 im Bundestag das jetzige Gesetz um weitere Jahre verlängern, weil sich die Lage noch weiter zugespitzt hat? — Das setzt voraus, daß die Menschen in Berlin und anderen Regionen die katastrophale Lage auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt noch längere Zeit friedlich erdulden. Es nützt niemandem, wenn die Bundesregierung den vorgelegten Entwurf für ungeeignet hält und ablehnt, ohne etwas Besseres dagegenzusetzen. Was Sie, Herr Kansy, hier angekündigt haben, stimmt mich jedenfalls bis jetzt nicht optimistisch. Das erst so groß angekündigte und dann von Frau Schwaetzer ziemlich kläglich verkündete wohnungspolitische Konzept der Bundesregierung verdeutlicht den Nachholbedarf sehr drastisch.
Es wird Zeit, daß die in diesem Haus vertretenen Parteien die Meinungen, Gedanken und Vorschläge ihrer eigenen Parteibasis und Wählerschaft berücksichtigen, anstatt sich in einer Weise, wie es auch schon die SED-Politbürokratie praktiziert hat, über deren Auffassungen hinwegzusetzen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Der Vergleich ist aber nicht gut! — Das sind üble Vergleiche!)

— Ich kann mich sehr gut daran erinnern, daß die SED-Politbürokratie nicht darauf hörte, was die Basis sagte. Das ist hier auch der Fall.

(Zuruf von der CDU/CSU: Gucken Sie doch mal in die Bundesrepublik Deutschland! Das ist doch ein ganz schlechter Vergleich! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

— Tun Sie das. Ich kann nur das sagen, was ich erlebe.
Hinter dem hier vorgelegten Gesetzentwurf stehen alle Fraktionen des Berliner Abgeordnetenhauses, der CDU/SPD-Senat und auch der Bundesrat.

(Zuruf von der FDP: Die FDP nicht!)

In einer gemeinsamem Erklärung äußerten alle Fraktionen der Bezirksverordnetenversammlung BerlinHohenschönhausen am 11. September 1991, daß jeder Bürger einen Anspruch auf angemessenen und bezahlbaren Wohnraum hat. Sie unterstützen ausdrücklich den Gesetzentwurf zur Beibehaltung der sogenannten Kappungsgrenzen und erklärten, daß Berlin eine echte Mietpreisbindung und einen verbesserten Kündigungsschutz braucht.
Die Bezirksverordnetenversammlung von BerlinFriedrichshain sprach sich in ihrer Sitzung im September für diese Bundesratsinitiative aus und forderte den Senat auf, sich für einen Mietpreisstopp einzusetzen, bis ein für alle Bürgerinnen und Bürger Berlins sozial verträgliches Mietkonzept vorliegt.
Natürlich ist Berlin keine privilegierte Insel. In diesem Sinne sind Bundestag und Regierung aufgefordert, ein umfassendes Programm des sozialen Wohnungsbaus für die gesamte Bundesrepublik Deutschland zu erarbeiten. Die BRD braucht neben dem Fonds Deutsche Einheit auch einen Fonds für ein Programm des sozialen Wohnungsbaus.

(Zuruf)

— Ja, bloß wirkt es nicht.
Die konkrete Situation verlangt, für die neuen sechs Länder ein maßgeschneidertes Konzept zu entwickeln und umzusetzen, das Fehler aus der BRD-Vergangenheit vermeidet und den speziellen Bedingungen gerecht wird. Mit Unterstützung von Bund und Ländern müssen die Kommunen in die Lage versetzt werden, über eine bedarfsgerechte Anzahl von Sozialwohnungen zu verfügen.
Die PDS/Linke Liste tritt dafür ein, daß das Recht auf Wohnung als grundlegendes Menschenrecht sowohl in die Verfassung des geeinten Deutschlands als auch in die Länderverfassungen als Staatsziel aufgenommen wird. Aus diesem Anspruch leiten wir unsere wohnungspolitischen Standpunkte ab. Wohnungspolitik ist kein marktwirtschaftliches Experimentierfeld, sondern praktiziertes Menschenrecht oder Abwesenheit von Menschenrecht.
In diesem Sinne stimmen wir auch dem vorliegenden Entwurf und dem SPD-Antrag zu.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der SPD)





Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205734700
Nun hat der Senator für Bau- und Wohnungswesen des Landes Berlin, Nagel, das Wort.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1205734800
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Abgeordneter Kansy, es schmerzt ein wenig, wenn jemand, dessen Berlin-Engagement bekannt ist und der sich vor wenigen Monaten leidenschaftlich für Berlin als Parlaments- und Regierungssitz eingesetzt hat — dafür danke ich Ihnen ausdrücklich —,

(Zuruf von der CDU/CSU: Deswegen kann er trotzdem die Wahrheit sagen!)

heute eine Rede hält, die zumindest ein Stückchen die aktuelle Analyse der Situation vermissen läßt.

(Zuruf von der FDP: Das zeigt, wie sehr er verletzt ist!)

Wenn Sie einem Kollegen dieses Hauses ein Privatissimum über wohnungswirtschaftliche Fragen anbieten,

(Achim Großmann [SPD]: Androhen!)

dann erlaube ich mir zumindest heute, Ihnen einen Kurs für Fortgeschrittene zu vermitteln.

(Zuruf von der FDP: Da sind wir aber gespannt!)

Denn — auch dafür danke ich Ihnen — die 470 000 Altbauwohnungen in Berlin (West), von denen Sie reden, sind eben nicht die Wohnraumreserve für die nichtverheirateten Paare, die sich durchaus besser ausgestattete und teurere Wohnungen leisten könnten. Diese 470 000 Altbauwohnungen in Berlin sind vielmehr gerade für die breiten Schichten der Bevölkerung — das können Sie an den Haushalten, die in diesen Wohnungen leben, ablesen — , für Leute mit mittlerem, aber auch niedrigerem Einkommen die Wohnraumreserve.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

Insofern ist eine Mietenpolitik, die darauf hinausläuft, diese preiswerte Wohnraumreserve sukzessive zu beseitigen — das geschieht mit dem Auslaufen dieser Regelungen — , dazu angetan, auch das Angebot für diese Schichten der Bevölkerung zu verringern.
Herr Abgeordneter Kansy, meine Damen und Herren, mir scheint, daß vielleicht doch nicht nur Berliner Gründe Sie oder die Bundesregierung dazu veranlaßt haben, heute hier diese Haltung zu vertreten. Mir scheint vielmehr, daß die Absage an die Berliner Interessen zugleich ein Signal in Richtung all derjenigen ist, die ernsthaft darüber nachdenken — das haben Sie auch für sich zumindest angedeutet — , ob nicht eine ähnlich Situation in allen anderen Ballungsräumen der Bundesrepublik Deutschland auch mietenspezifische Maßnahmen erforderlich macht.

(Beifall bei der SPD — Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Neubau fördern!)

Ich gehe weiter, Herr Abgeordneter Kansy. Es erscheint mir unvernünftig, eine Regelung für einen Ballungsraum abzuschaffen, die — wenn nicht in derselben Form, so doch zumindest in der Tendenz — durchaus ein Modell für zeitlich befristete Schutzbestimmungen für Mieter in anderen Ballungsräumen abgeben könnte.

(Beifall bei der SPD)

Wir schaffen doch nicht etwas ab, was womöglich für andere Ballungsräume zumindest ein politisch positives Signal setzen könnte.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch kein positives Signal!)

Aus diesem Grunde hat der Bundesrat bei einer Enthaltung, nämlich der des Landes Sachsen, diesen Gesetzentwurf einstimmig unterstützt, weil die Probleme in München, in Frankfurt, in Hamburg und in anderen Ballungsräumen durchaus ähnlich sind.
Das Land Berlin hat den vorliegenden Gesetzentwurf deswegen einhellig eingebracht. Zur Ehrenrettung der FDP will ich hier sagen, daß sich die Berliner FDP diesem Antrag natürlich nicht angeschlossen hat. Es gab allerdings — auch das will ich hier erwähnen — eine positive Äußerung gegenüber dem Berliner Senat von seiten des Abgeordneten Lüder, wofür ich Ihnen, Herr Lüder, sehr herzlich danke.

(Beifall bei der SPD — Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das ist seine Spezialität, immer anders als die Partei zu reden!)

— Spezialitäten hin, Spezialitäten her; jedenfalls hat sich, Herr Abgeordneter Kansy, die Entwicklung auf dem Berliner Wohnungsmarkt seit Sommer 1987 keineswegs entspannt.

(Dr. Walter Hitschler [FDP]: Daran sind Sie schuld!)

Im Gegenteil: Die Situation hat sich verschärft.

(Dr. Walter Hitschler [FDP]: Dafür tragen Sie die Verantwortung!)

Wir können heute zwar sagen, daß Berlin, Herr Abgeordneter Hitschler, inzwischen die Hauptstadt des Wohnungsbaus ist. In keiner anderen Stadt der Bundesrepublik Deutschland — alte wie neue Bundesländer — sind derzeit so viele Wohnungen im Bau, nämlich rund 20 000.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehen Sie, das ist doch eine gute Wohnungsbaupolitik!)

In keiner anderen Stadt der Bundesrepublik wird soviel gegen den von der SED übernommenen Leerstand getan. In keiner anderen Stadt werden aus Landesmitteln so viele Mittel aufgewandt, um diesen Leerstand — ausschließlich im Ostteil der Stadt — über Modernisierung und Instandsetzung zu beseitigen.

(Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste])

— Ihre Zwischenrufe finde ich da völlig unangemessen. Wir haben immerhin von Ihren Vorgängern 27 000 leerstehende Wohnungen übernommen. Heute, nach einem Jahr, sind es noch 16 000 leerstehende Wohnungen, von denen sich 9 000 in der Modernisierung befinden. Wir wenden eine Milliarde DM auf, um diesen Leerstand zu beseitigen, um zu modernisieren und instandzusetzen.

(Beifall bei der SPD)




Senator Wolfgang Nagel
Nur, Herr Kollege Hitschler, das ist in Berlin alles keine Frage des Baulandes. Die enormen Wohnungsbauleistungen — übrigens auch an den Baugenehmigungen für Wohnungen ablesbar, die von 5 500 im Jahre 1989 auf jetzt 9 000 gestiegen sind — halten trotz Ausweisung von Bauland mit dem, was sich auf dem Nachfragesektor getan hat, nicht Schritt. 1989/90 war — erinnern Sie sich bitte — noch vor der Wende auf Grund der allgemeinen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland sowie namentlich der steigenden Anzahl von Aus- und Übersiedlern ein erheblicher Zustrom nach Berlin zu registrieren, seither im Zusammenhang mit der Vereinigung Deutschlands und in jüngster Zeit — voraussichtlich langfristig — auch strukturell auf Grund der Situation des wirtschaftlichen Ballungsraumes.
Ja, man kann heute sagen — das wird zu einem strukturellen Problem dieser Hautpstadt und dieses Regierungssitzes werden — : Je prosperierender sich die Wirtschaftsregion Berlin entwickelt, desto größer wird die Nachfrage nach Wohnraum sein. Dieser strukturelle Wohnungsmangel in einem solchen Ballungsraum erfordert unseres Erachtens nicht nur engagierte Maßnahmen zur Erweiterung des Bestandes, sondern auch, weil wir strukturell zumindest einen langfristigen Mangel haben, befristete Maßnahmen im Bereich des Bestandsschutzes.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205734900
Herr Senator, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hitschler?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1205735000
Aber selbstverständlich, bitte sehr.

Dr. Walter Hitschler (FDP):
Rede ID: ID1205735100
Herr Senator Nagel, sind Sie bereit, zumindest zuzugeben und anzuerkennen, daß Sie die Modernisierungsmaßnahmen im Osten auch auf Grund der erheblichen Zuschüsse, die die Bundesregierung für diesen Zweck zur Verfügung gestellt hat, durchführen können?
Wären Sie weiterhin bereit, die Zahl der Neubauten, die Sie genannt haben, nach dem Förderweg aufzuschlüsseln, nach dem sie jetzt finanziert werden, wieviel nach dem ersten und wieviel nach dem dritten Förderweg gefördert werden? Könnten Sie vielleicht auch einmal zugeben, daß die höheren sozialen Bewilligungsmieten im dritten Förderweg gerade im Land Berlin zwischen 9 und 14 DM unter Umständen dazu geführt haben, daß die Neubautätigkeit in diesem Bereich erheblich zugenommen hat?

(Beifall bei der FDP)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1205735200
Herr Abgeordneter Hitschler, ich bin selbstverständlich sehr gern bereit, auf diese Fragen zu antworten. Zunächst einmal muß anerkannt werden, daß die Bundesregierung im Rahmen des Programms Aufschwung Ost Geld zur Verfügung stellt. Ich darf aber im Hinblick auf die Größenordnungen hier einmal daran erinnern, daß für den Bereich Modernisierung und Instandsetzung von Wohngebäuden insbesondere im Ostteil der Stadt rund 300 Millionen DM aus Bundesmitteln kommen, 700 Millionen DM allerdings aus Mitteln des Landes Berlin — eine gewaltige Anstrengung, wie ich meine.
Was die Förderung des Wohnungsbaus und die Bewilligungsmieten betrifft, so darf ich Ihnen sagen, daß wir im Wohnungsbauprogramm 1992 — jetzt vom Senat beschlossen und hoffentlich in Kürze auch vom Abgeordnetenhaus verabschiedet — von den 14 000 Wohnungen, die wir im nächsten Jahr öffentlich fördern wollen, 6 000 Wohnungen im sozialen Mietwohnungsbau, 4 000 Wohnungen über Eigentumsmaßnahmen und weitere 4 000 Wohnungen über den zweiten bzw. zweiten/dritten Förderungsweg fördern.
Nebenbei — das zum Kapitel Wohnungsbaupolitik für Fortgeschrittene, Herr Kollege — eine Bemerkung zu den Zahlen; insofern hilft immer auch ein Blick auch auf die aktuellen Dinge.

(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Wenn Sie noch eine Stunde reden, werden Sie hier promoviert!)

— Wunderbar, Herr Dr. Kansy. — Ich will Ihnen nur sagen, daß man eine solche Debatte in einer so sensiblen Situation der Stadt Berlin nicht auf der Basis der Zahlen von vorgestern bestreiten darf.

(Beifall bei der SPD)

Nicht nur im Interesse der Wahrheitsfindung, sondern auch im Interesse einer korrekten Analyse der gegenwärtigen Situation kommt man dann womöglich, Herr Kollege, zu wirklich anderen Schlußfolgerungen.

(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Nein, kommen wir nicht!)

Es droht eben doch die Gefahr, daß ab 1992 vermietbare Altbauwohnungen nur noch zu Preisen angeboten werden, die im Grenzbereich der Mietpreisüberhöhung gemäß § 5 des Wirtschaftsstrafgesetzes liegen. Eine wesentliche Zahl solcher Mietpreisvereinbarungen steigert dann unmittelbar die Höhe der ortsüblichen Vergleichsmieten, so daß solche Mietpreisvereinbarungen in sozial unvertretbarer Weise kurzfristig zur spürbaren Erhöhung des allgemeinen Mietpreisniveaus führen; denn schon bei der gegenwärtigen Rechtslage liegt die Mietpreisentwicklung in letzter Zeit spürbar über den Steigerungen der allgemeinen Lebenshaltungskosten. Dabei sind die Preissteigerungen bei den Neuvermietungen übrigens trotz der Schutzbestimmungen überproportional hoch.

(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das war schon vor 1987 so!)

— Nein, das sind aktuelle Feststellungen, die ich hier vortrage.

(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Da waren die Steigerungen größer als heute!)

Deshalb ist es zur Sicherung sozial verträglicher Mietpreisbelastungen für alle Bevölkerungsschichten dringend erforderlich, auch über den 31. Dezember 1991 hinaus eine besondere gesetzliche Regelung zur Begrenzung der Miethöhe bei Neuabschluß über ehemals preisgebundene Altbauwohnungen hinaus zu schaffen.
Meine Damen und Herren, die ablehnende Stellungnahme der Bundesregierung verkennt die Dramatik der Situation. Sie ist auch, wie ich schon ausge-



Senator Wolfgang Nagel
führt habe, eine deutliche Absage an alle derzeit laufenden Bemühungen, für die von Wohnungsnot und Mietsteigerungen gebeutelten Großstädte und Ballungsräume sozialverträgliche Mieten zu sichern.
Darüber hinaus geht die Stellungnahme der Bundesregierung auch an der Realität in Berlin vorbei. Ich habe versucht, das eben darzustellen. Denn die zu verlängernde Begrenzungsregelung ist erforderlich, bis bauliche Aktivitäten zu ausreichenden Erweiterungen der verfügbaren Wohnungsmenge und der Wohnungsqualität greifen. Es trift zwar zu, Herr Staatssekretär, daß der Berliner Altbaumietspiegel 1990 mit den vor der Maueröffnung im Mai 1989 erhobenen Daten Mietwerte in einer schwerpunktmäßigen Größenordnung zwischen 6 DM und 8,50 DM pro Quadratmeter ausweist; es zeichnet sich jedoch ab, daß bei den derzeit für den neuen Mietspiegel erhobenen Daten bereits deutlich höhere Werte sichtbar sind. Ohne Rechtsänderung sind künftig insbesondere nach Beendigung länger andauernder Mietverhältnisse mit regelmäßig deutlich unterdurchschnittlichem Mietniveau ganz erheblich höhere Mietpreisvereinbarungen zu erwarten.
Meine Damen und Herren, von einer problematischen Marktspaltung zwischen Alt- und Neubauten kann nicht gesprochen werden. Denn Bruttokaltmieten von durchschnittlich 16 bis 17 DM je Quadratmeter monatlich und mehr sind im wesentlichen übrigens, Herr Abgeordneter Hitschler, nur bei Wohnungen der achtziger Jahre marktgängig.
Ich glaube — damit lassen Sie mich schließen —, daß sich die Haltung der Bundesregierung und von CDU und FDP hier vielleicht auch unter dem Aspekt des Umzugs von Parlament und Regierung nach Berlin nicht unbedingt eine angemessene Reaktion darstellt. Denn in den nächsten Jahren werden ja schließlich Tausende von Bediensteten des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung ihren Wohnsitz in Berlin nehmen und dort eine Wohnung suchen,

(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Die sind schon ganz beglückt!)

die sie zu einem angemessenen Preis mieten wollen. Insofern hält diese Regelung, die wir in Berlin, wenn auch nur vorübergehend, anstreben, das Mietniveau insgesamt in einem erträglichen Rahmen.
Meine Damen und Herren, ich möchte Sie bitten, Ihre Beratungen so rechtzeitig abzuschließen, daß eine Chance besteht, daß das Verlängerungsgesetz ab 1. Januar 1992 wirksam wird. Ich hoffe auf alle diejenigen, die heute dieser Regelung noch skeptisch gegenüberstehen, daß die kommenden Wochen dazu genutzt werden, um vielleicht doch noch in einen Umdenkungsprozeß einzutreten.
Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205735300
Nun hat der Kollege Lüder das Wort zu einer Kurzintervention.

Wolfgang Lüder (FDP):
Rede ID: ID1205735400
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Senator Nagel hat zutreffend darauf hingewiesen, daß ich zu dem
Zeitpunkt — er hat vergessen, den Zeitpunkt zu erwähnen — , als der Senat die Idee zu dieser Gesetzesänderung hatte, Sympathie geäußert und gesagt habe: Wir können gemeinsam darangehen. Ich stehe auch dazu. Nur, da heute der ganze parlamentarische Weg auf die ordinäre Schiene gebracht worden ist, so daß die Fristen, auch wenn wir nur einen Funken von Anhörung machten, abliefen, macht dies für mich keinen Sinn mehr. Nein, ich habe sowohl beim Senat einschließlich des Regierenden Bürgermeisters als auch bei all denen, die diese Forderung unterstützt haben, vermißt, daß eine konstruktive Initiative entfaltet wurde, um zu sehen, wie wir weiterkommen.

(Gerd Wartenberg [Berlin] [SPD]: Das ist doch scheinheilig!)

Wir sollten keinen Schaukampf machen, wie er heute hier stattfindet.
Lassen Sie mich in aller Deutlichkeit eines sagen: Wir hörten als letzte Bemerkung von Senator Nagel eben, daß wir wegen der Übernahme der Bundeshauptstadtfunktion ein Sonderwohn- und Baurecht für Berlin brauchen. Darauf entgegne ich: So haben wir am 20. Juni nicht gewettet. Wir haben akzeptiert, daß Bundesrecht auch in der Bundeshauptstadt gilt. Jetzt bitte keine Problemlösungsversuche durch die Hintertür! Das geht schief.

(Zuruf von der SPD: Umfaller!)

Drittens. Bitte haben Sie Verständnis dafür, wenn ich feststelle, daß sich die Bemerkungen meiner Fraktion in Berlin, daß eine Große Koalition große Worte macht, aber keine großen Leistungen erbringt, bewahrheiten,

(Zuruf von der SPD: Was hat das mit der Mietpreisbindung zu tun?)

da wir hier wieder eine dicke einstündige Debatte geführt haben. Wir machen im nächsten Jahr und in den folgenden Jahren modellhaft so weiter. Alles ist für die Katz, und zwar einfach deswegen, weil die Fristen abgelaufen sind. Das ist für mich mit dem Anspruch an seriöse Politik unvereinbar.

(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Wir werden das Gesetz fristgemäß verabschieden! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Das trifft den Nagel auf den Kopf!)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205735500
Nun hat der Kollege Dr. Wolfgang von Stetten das Wort.

Dr. Freiherr Wolfgang von Stetten (CDU):
Rede ID: ID1205735600
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Wer, wie ich, die Debatte verfolgt hat, der muß feststellen, daß — das klang gerade bei Ihnen, Herr Scheffler, aber auch bei Ihnen, Herr Poppe, an — so getan wird, als ob der Wohnungsmarkt in Berlin mit dem Auslaufen der Befristung zusammenbräche und die Mieten ins Unendliche stiegen. Ich finde es noch bedauerlicher, daß hier fast ein Kampf für oder um oder gegen Berlin geführt wird. Das ist ja Unfug!
Es kann gar nicht oft genug wiederholt werden — weil die Betroffenen sonst falsch informiert werden; ich muß mich wirklich fragen, ob das aus Unkenntnis



Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
oder bewußt geschieht — , daß das Auslaufen der Mietpreisbindung überhaupt keine Mietpreiserhöhungen insgesamt nach sich zieht. Bis Ende 1994 bleibt es dabei, daß die Mieten in einem Zeitraum von drei Jahren nur um 15 % anstelle von 30 % in der alten Bundesrepublik steigen können. Die Mieten konnten bisher nur bei Neuvermietung des Altbestandes, also bei Auszug eines Mieters und Wiedervermietung, um 10 % erhöht werden. In Zukunft wird die Miete der Vergleichsmiete angepaßt. Die Grenze liegt bei 20 %, und das bei einer Vergleichsmiete von 7,40 DM. Das ist sicher sozialverträglich.
Durch das Auslaufen der Sonderregelungen werden — das entnehme ich Statistiken, die aus Berlin kommen — nur 1 oder 2 der Wohnungen aus dem Altbaubestand betroffen. Mehr Leute ziehen eben nicht aus, weil die Miete, die weit unter der Kostenmiete liegt, so günstig ist; die neuen Mieter müßten dann eben mehr bezahlen.
Dies ist übrigens wohnungsbaupolitisch erwünscht, weil nur dadurch die Wohnungen und Häuser erhalten werden können. Es ist auch sozialverträglich, weil es in West-Berlin über 300 000 Sozialwohnungen gibt, deren Mieten durch Zuschüsse ja künstlich niedrig gehalten werden. 100 000 Wohnungen sollen angeblich fehlbelegt sein.

(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: 120 000!) — 120 000.

Die Angleichung der Mieten ist aber auch ein verfassungsrechtliches Gebot gegenüber Eigentümern, damit langsam, aber sicher eine Angleichung der Altbaumieten an die Mieten von Neubauten durchgeführt werden kann. Auch für Mieter ist es auf Dauer verfassungsrechtlich bedenklich, wenn die einen, durch gesetzliche Maßnahmen begünstigt, zum Teil 4 bis 5 DM zahlen, während andere 14 bis 15 DM zahlen müssen.
Ich will noch einmal auf die kleine Dimension der von dem Gesetz betroffenen Wohnungen hinweisen. Bei ca. 1,1 Millionen Wohnungen in Berlin-West werden durch das Auslaufen der Sondergesetze 1 % des gesamten Wohnungsbestandes pro Jahr betroffen, nicht mehr. Hunderttausende, die in Altbauwohnungen leben und nicht ausziehen, werden nicht betroffen. Deren Mieten können nur um 5 % jährlich erhöht werden.
Jeder hier im Hause, der die Folgen der Wohnungsplanwirtschaft im Osten der Stadt und in den Gebieten der ehemaligen DDR mit wachen Augen sieht und gesehen hat und der das Ergebnis einer verfehlten Planwirtschaft sieht, muß vom Grundsatz her die Verlängerung des Eingriffs in die Altbaubestände ablehnen. Wir sehen auch sehr deutlich: Die Altbaubestände in Berlin-West sehen weniger gut und weniger ordentlich aus als die Neubauwohnungen. Ganze Zeilen sind fehlbelegt. Hier sollte man Änderungen vornehmen.
Meine Damen und Herren, ohne Kostenmiete ist auf Dauer keine menschenwürdige Wohnung zu erhalten. Es wird versucht, dies über zunehmendes Wohnungseigentum mit der Möglichkeit der späteren Kündigung auszuschalten.
Es darf auch in Zukunft — das sage ich als überzeugter Berlin-Anhänger — keine Sondergesetze mehr für Berlin geben. Berlin ist keine Insel mehr, Herr Senator Nagel — richten Sie das Herrn Diepgen mit einem schönen Gruß von mir aus — , sondern Berlin ist Hauptstadt des gesamten Deutschland mit all den daraus resultierenden Vorteilen; gegebenenfalls müssen dafür kleine Nachteile in Kauf genommen werden. Keine Boni ohne Mali gilt auch für Berliner, die nicht gerade mit überschäumender Bescheidenheit, Herr Senator, ihre Stadt als den attraktivsten Wohnort Deutschlands anpreisen und damit verständlicherweise auch neue Bewohner anziehen, wodurch die Wohnsituation verschärft wird.
Die Sozialverträglichkeit von steigenden Mieten ist bei uns dank der Sozialen Marktwirtschaft gesichert: durch Sozialwohnungen — sofern nicht durch Besserverdienende fehlbelegt — und durch Verbesserung der Mietbeihilfen. So können im wesentlichen einzelne Härten vermieden werden. Um aber allgemein dem Mietwucher — der sich in vielen großen Städten abspielt, nicht nur Berlin — besser begegnen zu können, haben wir die Absicht, § 5 des Wirtschaftsstrafgesetzes klarer bzw. positiver zu fassen, um diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die wegen der Wohnungsnot unberechtigt Mieten verlangen, die über 20 % über der Vergleichsmiete liegen. Profitieren wird insbesondere Berlin davon, weil hier die Vergleichsmieten bei Altbauten eben sehr niedrig liegen.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205735700
Kollege von Stetten, kurz vor Mitternacht bin ich immer am großzügigsten, aber jetzt nicht mehr sehr lange.

(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Wie meinen Sie das, Frau Präsidentin?)


Dr. Freiherr Wolfgang von Stetten (CDU):
Rede ID: ID1205735800
Ich bin sofort fertig. — Berlin hat eine Durchschnittsmiete von 7,40 DM, München von 16,20 DM pro Quadratmeter.
Um noch einmal festzuhalten: Mit dem Auslaufen der speziellen Regelung wird kein Mieter, der in seiner Wohnung bleibt, schutzlos. Das heißt, es kann ihm deswegen nicht gekündigt werden. Es kann ihm deswegen auch nicht die Miete erhöht werden.
Die Gesetzesvorlage ist daher abzulehnen, damit wir langsam auch in Berlin zur Normalität können.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205735900
Nun gibt es noch eine Kurzintervention des Kollegen Wartenberg von bis zu zwei Minuten.

Gerd Wartenberg (SPD):
Rede ID: ID1205736000
Herr Kollege Lüder, ich schätze Sie sehr. Aber halten Sie es nicht für unehrlich, wenn Sie die Ablehnung der Verlängerung der Sonderregelung für Berlin damit begründen, daß das schon in wenigen Wochen zu geschehen hat? Wenn das Problem so groß ist, muß man sich des Problems annehmen, und zwar gerade unter Zeitdruck. Wenn Sie sagen, daß man mit Ihnen — angeblich —



Gerd Wartenberg (Berlin)

nicht rechtzeitig gesprochen hat — die FDP ist im Abgeordnetenhaus vertreten —, dann hätten die FDP dort oder die Bundestagsfraktion der FDP einen eigenen Vorschlag machen können,

(Beifall bei der SPD)

wie sie sich die Mietenentwicklung Berlins oder in einem Ballungsgebiet vorstellt.
Herr Kollege Lüder, ich bedaure es, daß Sie meinen, sich mit Hinweis auf den Termindruck davon wegdrücken zu können. Seien Sie dann doch bitte so ehrlich wie andere FDP-Kollegen, die sagen: Wenn die Mieten steigen, blüht das Geschäft der FDP-Klientel!

(Beifall bei der SPD)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205736100
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/1459 und 12/1276 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 12/1459 soll zusätzlich zur Mitberatung an den Rechtsausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? —Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun Punkt 12 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/ Linke Liste
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses — Drucksache 12/1397 —
Dazu liegt mir derzeit eine einzige Wortmeldung vor, nämlich die der Kollegin Andrea Lederer. Vorläufig ist vereinbart worden, die übrigen Redebeiträge zu Protokoll zu geben.

(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Vorläufig!)

Wir werden die endgültige Entscheidung nach der Rede der Kollegin Lederer treffen. — Ich bitte darum, die Präsidentin die Geschäfte alleine führen zu lassen.
Die Kollegin Lederer hat jetzt das Wort.

(Beifall bei der FDP — Dr. Peter Struck [SPD]: Es hat ja keiner etwas gesagt! Wir haben überhaupt nichts gemacht, Frau Präsidentin!)

— Was meinten Sie, Herr Kollege Struck?

(Dr. Peter Struck [SPD]: Wir haben überhaupt nichts gemacht, Frau Präsidentin! — Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Wir sitzen ganz still!)


Andrea Lederer (PDS):
Rede ID: ID1205736200
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vorab entschuldige ich mich ausdrücklich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundestagsverwaltung für diese späte Stunde. Aber manchmal gibt es Situationen, in denen man auf bestimmten Prinzipien bestehen muß. Und das ist eine solche.
Die von der Hamburger Wasserschutzpolizei entdeckten Landmaschinen sind nur die Spitze eines Eisberges. Zögerlich, aber unweigerlich muß das auch das Verteidigungsministerium, vor allem Minister Stoltenberg, einräumen. Beim ersten Bericht in der Sondersitzung des Verteidigungsausschusses am 30. Oktober wurde zugegeben, daß ein Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz vorliegt.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Sie waren doch gar nicht da! Woher wissen Sie das denn?)

Schon bei der nächsten Sitzung stellt sich heraus, daß nicht nur dieses Material nach Israel verschachert wurde, sondern schon früher auch Schiff-Schiff-Flugkörper. Mehr noch: Da taucht wie Phönix aus der Asche ein sogenannter Koordinierungsausschuß Wehrmaterial fremder Staaten auf, mit pikanter Besetzung aus Geheimdienstlern und Offizieren der Bundeswehr. Da auch wird eine Rahmenvereinbarung zwischen dem Chef des Bundeskanzleramtes und dem Verteidigungsministerium bekannt. Und von beidem wissen weder die Parlamentarische Kontrollkommission noch der Verteidigungsausschuß.
Mit der Hamburger Aktion entlarvt sich der BND als geheimes Kommandounternehmen. Auch aus der Rahmenvereinbarung läßt sich keinerlei Befugnis zum Waffenhandel herauslesen. Den dankenswerterweise bereits entlarvenden Regierungsäußerungen kurz nach dem Auffliegen des Waffendeals, wonach alles ganz üblich, wenn auch vom Verfahren her ein wenig unglücklich sei, setzen die Beamten des Verteidigungsministeriums im Grunde genommen noch eines drauf, indem sie dankenswerterweise ebenso offen zugeben, wieviel ihnen Beschlüsse etwa des Bundessicherheitsrates wert sind. „Nicht relevant" , so deren saloppe Interpretation. Der nicht minder saloppe Vorwurf der Unprofessionalität an den BND seitens Herrn Rüttgers ist dabei nichts anderes als der kaum verhohlende Appell, künftig dafür Sorge zu tragen, daß nichts mehr auffliegt.
Faktisch haben wir es hier mit einer äußerst gefährlichen Grauzone zwischen Geheimdiensten und Verteidigungsministerium zu tun. So nach und nach erst wird bekannt, was an logistischer Unterstützung für Auslandsoperationen des BND verschoben wurde.
Der Kollege Struck hat hier in der Aktuellen Stunde erklärt — ich zitiere — :

(Zuruf von der FDP: Das hat er nicht verdient!)

Wenn die Zusagen, in vier Wochen einen lückenlosen Bericht vorzulegen, nicht eingehalten werden, dann ist der Ofen aus.
Der Ofen müßte allerdings schon längst aus sein, und den vollmundigen Protesterklärungen müßten ebenso längst Taten gefolgt sein. Herr Struck, glauben Sie eigentlich allen Ernstes, daß wir in vier Wochen einen wirklich lückenlosen Bericht vorliegen haben?

(Dr. Peter Struck [SPD]: Nein, das glaube ich nicht!)

Wetten, daß dann das Gerangel um die Geheimhaltungsbedürftigkeit irgendwelcher Details losgeht, und wetten, daß dann Ihre Erklärung lauten wird, daß dieses oder jenes unbefriedigend beantwortet worden sei?



Andrea Lederer
Mit solchen publikumswirksamen, wenn auch richtigen Forderungen nach Rücktritt oder Ablösung von Herrn Stoltenberg ist in der Sache überhaupt noch nichts erreicht.

(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU] : Weil er nicht zurücktritt!)

Wenn die Empörung über diese Verselbständigung von Geheimdiensten im Zusammenwirken mit dem Verteidigungsministerium ernst gemeint ist, dann muß den Vorgängen auf den Grund gegangen werden, und zwar öffentlich und mit den weitestgehenden parlamentarischen Mitteln, nämlich mit einem Untersuchungsausschuß. Es muß recherchiert werden, was bislang schon an Waffen über die Geheimdienste verschoben wurde, was eigentlich wirklich mit dem NVA-Material passiert ist, in welchen Ländern sich solches Material im Einsatz befindet. Oder wollen Sie vielleicht behaupten, alles exportierte NVA-Material sei Schrott und damit einsatzuntauglich gewesen?
Was steckt hinter Meldungen, wonach die Briten im Irak während des Golf-Krieges Kommandounternehmen mit getarnten Hubschraubern sowjetischer Bauart aus NVA-Beständen geführt haben? Woher wollen Sie wissen, daß nicht NVA-Waffen dank wehrtechnischer Zusammenarbeit derzeit gegen Kurdinnen und Kurden zum Einsatz kommen? Trifft es vielleicht zu, daß Anfang der 80er Jahre der Irak aus seiner Kriegsbeute der Bundeswehr sowjetische Panzer zur Verfügung gestellt hat? Und, vor allem, was haben eigentlich dann im Gegenzug das Bundesverteidigungsministerium und der BND an den Inbegriff des Bösen, an Saddam Hussein, geliefert?
Dieser Bundestag hangelt sich von Waffenskandal zu Geheimdienstskandal und wieder zurück. Daran ändert auch nichts der vorgelegte Entwurf zur Änderung des Gesetzes zur Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit. Das ist ein reiner Beschwichtigungsversuch. Bislang ist nicht ein Skandal von der PKK aufgedeckt worden. Regelmäßig hinkt sie hinterher.
Wenn Ihrer aller Empörung von vor zwei Wochen auch nur im Ansatz ernstgemeint ist, wenn das von allen Fraktionen bekundete Aufklärungsinteresse tatsächlich besteht, dann muß ein Untersuchungsausschuß her.
Noch ein Satz zur Überlegung der SPD, möglicherweise in vier Wochen den Verteidigungsausschuß mit der Untersuchung zu beauftragen: Abgesehen davon,
daß ein Fachausschuß neben der dann auch weiterhin anfallenden Arbeit nicht in der Lage sein dufte, diese Vorgänge, auch die der Vergangenheit, wirklich gründlich zu untersuchen,

(Zuruf von der SPD: Woher wissen Sie das?)

berühren diese Ergebnisse eben nicht nur den Verteidigungsausschuß, sie berühren auch generell das Agieren der Geheimdienste, deren Verselbständigung. Die vor Jahrzehnten geschaffenen Strukturen zwischen Militär und Geheimdienst sind nicht mehr kontrollierbar, ein Staat im Staate.
Infolgedessen müssen in einem Untersuchungsausschuß unbedingt Parlamentarier und Parlamentarierinnen vertreten sein, die Fachkenntnisse im Bereich der Geheimdienste haben und vor allem kritisch an deren Agieren herangehen. Unbestritten berührt dieser Skandal auch die Außenpolitik. Ein Untersuchungsgremium muß also so besetzt sein, daß die Fragen mit den entsprechenden Fachkenntnissen gestellt werden können.
Ich danke.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205736300
Interfraktionell ist vereinbart worden, daß die übrigen Redebeiträge zu Protokoll gegeben werden sollen. Sind Sie mit dieser Abweichung von der Geschäftsordnung einverstanden?

(Zurufe von der FDP)

Darf ich fragen, ob das eine Einverständniserklärung war? — Eine Einverständniserklärung. Dann ist das mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen.
Wir kommen nun zur Abstimmung. Wer stimmt für den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/1397? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist dieser Antrag abgelehnt.
Wir sind damit am Schluß der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 15. November 1991, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist damit geschlossen.