Protokoll:
12050

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 12

  • date_rangeSitzungsnummer: 50

  • date_rangeDatum: 17. Oktober 1991

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 20:47 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 12/50 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 50. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1991 Inhalt: Begrüßung des Präsidenten des Parlaments der Republik Gambia mit einer Delegation 4075 A Erweiterung der Tagesordnung . 4075B, 4168 B Abwicklung der Tagesordnung 4075 C Tagesordnungspunkt 3: a) Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Zweiten Zusatzprotokoll vom 21. Mai 1991 zum Abkommen vom 16. Juni 1959 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie verschiedener sonstiger Steuern und zur Regelung anderer Fragen auf steuerlichem Gebiete (Drucksache 12/1241) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 1992 (ERP-Wirtschaftsplangesetz 1992) (Drucksache 12/1240) c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 28. Januar 1986 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Gabunischen Republik über den Luftverkehr (Drucksache 12/1258) d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Verträgen vom 14. Dezember 1989 des Weltpostvereins (Drucksache 12/1261) e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung eines Bundesgesundheitsamtes (Drucksache 12/1259) f) Beratung der Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof: Bericht des Bundesrechnungshofes gemäß § 99 BHO über Vorsteuererstattungen bei der Gründung von Familienpersonengesellschaften in der Land- und Forstwirtschaft (Drucksache 12/1040) in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 11: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes, des Strafgesetzbuches und anderer Gesetze (Drucksache 12/1202) . . . . 4075 C Tagesordnungspunkt 4: a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 17. Juni 1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit (Drucksachen 12/1103, 12/1131, 12/1283, 12/1307) b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 14. November 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze (Drucksachen 12/1104, 12/1132, 12/1235, 12/1308) II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1991 c) Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Verträge zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze sowie über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP: Verträge zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze sowie über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit zu dem Entschließungsantrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN zur Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung am 6. September 1991 zu den deutschpolnischen Verträgen (Drucksachen 12/1105, 12/1107, 12/1119, 12/1317) Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU . . 4077 A Markus Meckel SPD 4079 B Ulrich Irmer FDP 4082 B Dr. Hans Modrow PDS/Linke Liste . . . 4084 A Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE 4085 C Helmut Schäfer, Staatsminister AA . . . 4087 A Dr. Ottfried Hennig CDU/CSU 4089 D Dr. Christoph Zöpel SPD 4091 C Ortwin Lowack fraktionslos 4094 C Dr. Dorothee Wilms CDU/CSU 4095 D Norbert Gansel SPD 4097 A Dr. Ulrich Briefs PDS/Linke Liste (Erklärung nach § 27 GO) 4097 D Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/CSU (Erklärung nach § 31 GO) 4098 B Tagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes und anderer Vorschriften (Drucksachen 12/1125, 12/1288) Hannelore Rönsch, Bundesministerin BMFuS 4099 B Dr. Ulrich Böhme (Unna) SPD 4101A Norbert Eimer (Fürth) FDP 4102B Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . . 4103B Walter Link (Diepholz) CDU/CSU . . . 4104 C Hildegard Wester SPD 4106D Roswitha Verhülsdonk CDU/CSU . . . 4108 C Tagesordnungspunkt 6: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Abfallgesetzes und des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Drucksache 12/631) Otto Zeitler, Staatssekretär des Freistaates Bayern 4109B Monika Griefahn, Ministerin des Landes Niedersachsen 4111 A Birgit Homburger FDP 4112 D Dr. Klaus-Dieter Feige Bündnis 90/GRÜNE 4115 A Jutta Braband PDS/Linke Liste 4116 C Dr. Paul Laufs CDU/CSU 4117 D Dr. Liesel Hartenstein SPD 4120B Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister BMU . 4122D Dr. Liesel Hartenstein SPD 4124 C Harald B. Schäfer (Offenburg) SPD . . 4126B Tagesordnungspunkt 7: Beratungen ohne Aussprache a) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 05 02 Titel 686 30 — Beitrag an die Vereinten Nationen — (Drucksachen 12/1138, 12/1287) b) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen: Einwilligung in die Veräußerung eines Grundstücks in Berlin gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung (Drucksachen 12/1008, 12/1289) c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 32 zu Petitionen (Drucksache 12/1284) d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 33 zu Petitionen (Drucksache 12/1285) 4127 C Tagesordnungspunkt 2 (Fortsetzung): Fragestunde — Drucksache 12/1301 vom 11. Oktober 1991 — Ausländerfeindliches Verhalten von Bundeswehrsoldaten am 5. Oktober 1991 in Brake MdlAnfr 37 Margitta Terborg SPD Antw PStSekr Willy Wimmer BMVg . . 4128A ZusFr Margitta Terborg SPD 4128B Gründe für den Bau unterirdischer Bunker für Atombomben und Abstandsraketen in den US-Stützpunkten Ramstein, Hahn und Büchel Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1991 III MdlAnfr 38 Hans Wallow SPD Antw PStSekr Willy Wimmer BMVg . . 4128C ZusFr Hans Wallow SPD 4128D Beeinträchtigung des Tourismus im Harz durch Tiefflüge MdlAnfr 39 Dr. Eberhard Brecht SPD Antw PStSekr Willy Wimmer BMVg . . . 4129A ZusFr Dr. Eberhard Brecht SPD 4129 B ZusFr Franz Müntefering SPD 4129 C ZusFr Dr. Peter Eckardt SPD 4129 C ZusFr Dr. Burkhard Hirsch FDP 4129 D Definition der Äußerung von Bundesverteidigungsminister Dr. Stoltenberg über die „Ablösung" des Soltau-Lüneburg-Abkommens MdlAnfr 40 Arne Fuhrmann SPD Antw PStSekr Willy Wimmer BMVg . . 4130A ZusFr Arne Fuhrmann SPD 4130B ZusFr Franz Müntefering SPD 4130 C Erfahrungen mit dem Einsatz medizinischer Großgeräte nach dem SGB V MdlAnfr 41, 42 Klaus Kirschner SPD Antw PStSin Dr. Sabine Bergmann-Pohl BMG 4130D ZusFr Klaus Kirschner SPD 4131 A ZusFr Claus Jäger CDU/CSU 4131D Zahl der Ausbildungsplatzbewerber in den neuen Bundesländern bis zum i. September 1991; Zahl der vermittelten Bewerber MdlAnfr 54, 55 Eckart Kuhlwein SPD Antw PStSekr Dr. Norbert Lammert BMBW 4132A, 4133 B ZusFr Eckart Kuhlwein SPD 4132D Bewilligung von „Lehrstellenhilfen" für Ausbildungsplätze in den neuen Bundesländern; zusätzliche Fördermaßnahmen der neuen Bundesländer MdlAnfr 58, 59 Evelin Fischer (Gräfenhainichen) SPD Antw PStSekr Dr. Norbert Lammert BMBW 4133D, 4135 A ZusFr Evelin Fischer (Gräfenhainichen) SPD 4134A, 4135D ZusFr Eckart Kuhlwein SPD 4134 C Anträge für Ausbildungsstellen gemäß § 40 c AFG bis zum 1. September 1991 in den neuen Bundesländern; Beurteilung der Qualität des Angebots MdlAnfr 60, 61 Günter Rixe SPD Antw PStSekr Dr. Norbert Lammert BMBW 4136B, 4137 A ZusFr Günter Rixe SPD 4136C, 4137B Ausbildungsplätze für Bewerber aus den neuen Bundesländern in den alten Bundesländern bis zum 1. September 1991; Wechsel des Ausbildungsplatzes oder Besuch einer Schule MdlAnfr 62, 63 Dr. Peter Eckardt SPD Antw PStSekr Dr. Norbert Lammert BMBW 4137 C, 4138B ZusFr Dr. Peter Eckardt SPD 4137 D Auswirkung des wirtschaftlichen Erneuerungsprozesses in den neuen Bundesländern 1992 auf die Entwicklung des Ausbildungsplatzangebots; Ausgleich von Angebot und Nachfrage MdlAnfr 66, 67 Stephan Hilsberg SPD Antw PStSekr Dr. Norbert Lammert BMBW 4138C ZusFr Stephan Hilsberg SPD 4138 D Änderung bei der diplomatischen Anerkennung der Republiken Slowenien und Kroatien auf Grund der Erklärung des französischen Außenministers MdlAnfr 68 Claus Jäger CDU/CSU StMin Ursula Seiler-Albring AA 4139 A ZusFr Claus Jäger CDU/CSU 4139A Zahl der auf Einladung der ehemaligen DDR in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Stipendiaten; Höhe der Stipendien MdlAnfr 69, 70 Gernot Erler SPD StMin Ursula Seiler-Albring AA . 4139 C, 4140 A ZusFr Gernot Erler SPD . . . . 4139D, 4140B Zusatztagesordnungspunkt 2: Aktuelle Stunde betr. Verhandlungen der Bundesregierung in den EG-Regierungskonferenzen zur Politischen Union und zur Wirtschafts- und Währungsunion Heidemarie Wieczorek-Zeul SPD . . . 4140C Peter Kittelmann CDU/CSU 4142 A Dr. Helmut Haussmann FDP 4142 D Dr. Hans Modrow PDS/Linke Liste . . . 4143 C Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin AA 4144B Florian Gerster, Staatsminister des Landes Rheinland-Pfalz 4145 C Reinhard Freiherr von Schorlemer CDU/ CSU 4146C IV Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1991 Dr. Norbert Wieczorek SPD 4147 C Dr. Cornelie von Teichman FDP 4149A Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär BMF 4150B Dieter Schloten SPD 4151 A Dr. Hermann Schwörer CDU/CSU . . . 4152A Dr. Erich Riedl, Parl. Staatssekretär BMWi 4152 D Dr. Christoph Zöpel SPD 4153B Wilfried Seibel CDU/CSU 4154 C Michael Stübgen CDU/CSU 4155C Tagesordnungspunkt 8: a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechtes für Mitarbeiter/-innen von Presse und Rundfunk und des entsprechenden Beschlagnahmeverbotes auf selbst erarbeitetes Material (Drucksache 12/499) b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechts für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Presse und Rundfunk sowie des entsprechenden Beschlagnahmeverbots auf selbsterarbeitetes Material (Drucksache 12/1112) Dr. Hans de With SPD 4156D Joachim Hörster CDU/CSU 4158B Dieter Wiefelspütz SPD 4159 B Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste . 4159D Detlef Kleinert (Hannover) FDP 4160 C Konrad Weiß (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 4161 B Rainer Funke, Parl. Staatssekretär BMJ . . 4161 C Zusatztagesordnungspunkt 3: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes sowie Beratung eines Antrages zu den Richtlinien zur Überprüfung auf Tätigkeit oder politische Verantwortung für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit (Drucksache 12/1324) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Erste Beratung des von den Abgeordneten Ingrid Köppe und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und eines Gesetzes zur Änderung des Bundesministergesetzes (Stasi-Überprüfungsgesetz) (Drucksache 12/1325) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/ Linke Liste: Vollständige Überprüfung von Mitgliedern des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung auf mögliche Kontakte zum MfS/AfNS und zum BND, MAD, VS und ausländischen Geheimdiensten (Drucksache 12/1148) Dieter Wiefelspütz SPD 4162D Friedrich Bohl CDU/CSU 4164 A Ulla Jelpke PDS/Linke Liste 4165B Manfred Richter (Bremerhaven) FDP . . 4166A Dr. Wolfgang Ullmann Bündnis 90/GRÜNE 4166D Dieter Wiefelspütz SPD 4167 C Stephan Hilsberg SPD 4167 D Dr. Jürgen Schmieder FDP 4168A Zusatztagesordnungspunkt: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung (Drucksache 12/269 Nr. 2.11) Änderung des Vorschlags für die Richtlinie des Rates zur Anlastung der Wegekosten an schwere Nutzfahrzeuge (Drucksache 12/1268) 4168B Tagesordnungspunkt 9: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Strukturhilfegesetzes und zur Aufstockung des Fonds „Deutsche Einheit" (Drucksache 12/1227) Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär BMF 4168C Hans Georg Wagner SPD 4169 C Arnulf Kriedner CDU/CSU 4170D Dr. Ulrich Briefs PDS/Linke Liste . . . 4172A Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) FDP . . 4172 C Werner Schulz (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 4173 C Klaus-Dieter Kühbacher, Minister des Landes Brandenburg 4174 B Carl-Ludwig Thiele FDP 4175B Tagesordnungspunkt 10: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Zwischenbericht der Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR (Drucksache 12/622) Rolf Schwanitz SPD 4176 A Andrea Lederer PDS/Linke Liste . . . 4177A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1991 V Franz Heinrich Krey CDU/CSU 4177 D Andrea Lederer PDS/Linke Liste 4179B Dr. Wolfgang Ullmann Bündnis 90/GRÜNE 4180B Wolfgang Lüder FDP 4181 A Arne Börnsen (Ritterhude) SPD 4183 A Dr. Hermann Otto Solms FDP 4184 A Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär BMI 4184 D Dr. Hermann Otto Solms FDP 4186B Tagesordnungspunkt 12: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Heuer Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Treuhänderische Verwaltung des volkseigenen Vermögens der Deutschen Demokratischen Republik (Drucksachen 12/593, 12/1207) Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) PDS/ Linke Liste 4186D Dr. Christian Neuling CDU/CSU 4188 C Herbert Meißner SPD 4190D Werner Zywietz FDP 4192 B Werner Schulz (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 4194 A Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) FDP . . 4194 B Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär BMF 4196B Nächste Sitzung 4198 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 4199 * A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Hartmut Koschyk, Frau Erika SteinbachHermann, Erwin Marschewski, Dr. Gerhard Päselt, Georg Janovski, Kurt J. Rossmanith, Frau Susanne Jaffke, Dietrich Austermann, Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese), Michael Stübgen, Horst Gibtner, Dr. Egon Jüttner, Dr. Klaus Rose, Ulrich Adam, Arnulf Kriedner, Dr. Klaus-Dieter Uelhoff, Michael von Schmude, Dieter Pützhofen, Dr. Peter Ramsauer, Benno Zierer, Heinrich Lummer, Heinz Schemken, Josef Hollerith (alle CDU/ CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 17. Juni 1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit und den Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 14. November 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze . . . 4199 * D Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Wilfried Böhm (Melsungen) (CDU/CSU) zur Abstimmung über die Gesetzentwürfe zu den Verträgen mit der Republik Polen . 4200 * D Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Claus Jäger (CDU/CSU) zur Abstimmung über die Gesetzentwürfe zu den Verträgen mit der Republik Polen 4201 * D Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Bernhard Jagoda (CDU/CSU) zur Abstimmung über die Gesetzentwürfe zu den Verträgen mit der Republik Polen 4202 * B Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Dietrich Mahlo (CDU/CSU) zur Abstimmung über die Gesetzentwürfe zu den Verträgen mit der Republik Polen 4203 * C Anlage 7 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Helmut Sauer (Salzgitter) (CDU/CSU) zur Abstimmung über die Gesetzentwürfe zu den Verträgen mit der Republik Polen . . 4204 * B Anlage 8 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Roswitha Wisniewski (CDU/CSU) zur Abstimmung über die Gesetzentwürfe zu den Verträgen mit der Republik Polen . . 4205 * C Anlage 9 Neuregelung der Festbeträge für Arzneimittel gemäß Gesundheits-Reformgesetz MdlAnfr 43 — Drs 12/1301 — Hans-Joachim Fuchtel CDU/CSU SchrAntw PStSin Dr. Sabine Bergmann-Pohl BMG 4205 * D Anlage 10 Verwehrung der Verkehrsrechte für die taiwanesische China Airlines auf deutschen Flughäfen; Freigabe von Einbahnstraßen in Gegenrichtung für Radfahrer MdlAnfr 44, 45 — Drs 12/1301 — Hans-Joachim Otto (Frankfurt) FDP SchrAntw PStSekr Wolfgang Gröbl BMV . 4206 * C VI Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1991 Anlage 11 Einsatz moderner Eisenbahnwagen auf den Interregio-Strecken; Aufwertung der Interregio-Strecke Amsterdam—Berlin zu einer Eurocity-Linie MdlAnfr 46, 47 — Drs 12/1301 — Steffen Kampeter CDU/CSU SchrAntw PStSekr Wolfgang Gröbl BMV . 4207* A Anlage 12 Privatfinanzierung von Autobahnen und Brücken durch die Rhein-Main-Donau AG in den neuen Bundesländern; Ausdehnung der Fernstraßenbaugesellschaft Deutsche Einheit „DEGES" auf das ganze Bundesgebiet MdlAnfr 48, 49 — Drs 12/1301 — Ernst Hinsken CDU/CSU SchrAntw PStSekr Wolfgang Gröbl BMV . 4207* B Anlage 13 Beurteilung des Austauschs von RecyclingPapier gegen chlorfrei gebleichtes Papier durch die TELEKOM unter umweltpolitischen Gesichtspunkten MdlAnfr 50, 51 — Drs 12/1301 — Marion Caspers-Merk SPD SchrAntw PStSekr Wilhelm Rawe BMPT . 4207* C Anlage 14 Verbesserung des Fernsprech-Auskunftsdienstes in den neuen Bundesländern MdlAnfr 52 — Drs 12/1301 — Dr. Eberhard Brecht SPD SchrAntw PStSekr Wilhelm Rawe BMPT . 4208* A Anlage 15 Verbesserung der Sicherheit von Asylbewerbern in Gemeinschaftsunterkünften durch Einrichtung von Rufanlagen zu Polizeidienststellen durch die Bundespost MdlAnfr 53 — Drs 12/1301 — Horst Peter (Kassel) SPD SchrAntw PStSekr Wilhelm Rawe BMPT . 4208* B Anlage 16 Zahl der gemeldeten und der unbesetzten Ausbildungsplätze bis zum 1. September 1991 in den neuen Bundesländern MdlAnfr 56, 57 — Drs 12/1301 — Doris Odendahl SPD SchrAntw PStSekr Dr. Norbert Lammert BMBW 4208* C Anlage 17 Entwicklung von Angebot und Nachfrage hinsichtlich der Ausbildungsplätze in den neuen Bundesländern 1992 MdlAnfr 64, 65 — Drs 12/1301 — Siegfried Vergin SPD SchrAntw PStSekr Dr. Norbert Lammert BMBW 4209* A Anlage 18 Konsequenzen für die geplante Stationierung französischer Kurzstreckenraketen aus dem beabsichtigten Abzug der US-Kurzstreckenraketen MdlAnfr 71 — Drs 12/1301 — Jürgen Augustinowitz CDU/CSU SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA . . . 4209* D Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1991 4075 50. Sitzung Bonn, den 17. Oktober 1991 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bargfrede, Heinz-Günter CDU/CSU 18. 10. 91 Beckmann, Klaus FDP 18. 10. 91 Bierling, Hans-Dirk CDU/CSU 18. 10. 91 ** Brandt, Willy SPD 18. 10. 91 Büttner (Ingolstadt), Hans SPD 18. 10. 91 Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 18. 10. 91 Peter Harry Clemens, Joachim CDU/CSU 18. 10. 91 Ebert, Eike SPD 17. 10. 91 Ehrbar, Udo CDU/CSU 18. 10. 91 Dr. Fischer, Ursula PDS 17. 10. 91 Formanski, Norbert SPD 18. 10. 91 Francke (Hamburg), CDU/CSU 18. 10. 91 ** Klaus Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 17. 10. 91 Genscher, Hans-Dietrich FDP 18. 10. 91 Dr. Glotz, Peter SPD 18. 10. 91 Grochtmann, Elisabeth CDU/CSU 17. 10. 91 Grüner, Martin FDP 17. 10. 91 Dr. Gysi, Gregor PDS 18. 10. 91 Habermann, SPD 17.10.91 Frank-Michael Haschke CDU/CSU 18.10.91 (Großhennersdorf), Gottfried Hauser CDU/CSU 17.10.91 (Rednitzhembach), Hansgeorg Heistermann, Dieter SPD 18. 10. 91 Huonker, Gunter SPD 18. 10. 91 Irmer, Ulrich FDP 18. 10. 91 * Jaunich, Horst SPD 18. 10. 91 Junghanns, Ulrich CDU/CSU 18. 10. 91 Dr. Kappes, CDU/CSU 18. 10. 91 Franz-Hermann Kittelmann, Peter CDU/CSU 18. 10. 91 * Kohn, Roland FDP 18. 10. 91 Kolbe, Manfred CDU/CSU 17. 10. 91 Kolbow, Walter SPD 18. 10. 91 Koltzsch, Rolf SPD 18. 10. 91 Dr. Krause (Börgerende), CDU/CSU 17. 10. 91 Günther Kretkowski, Volkmar SPD 17. 10. 91 Kubicki, Wolfgang FDP 18. 10. 91 Lennartz, Klaus SPD 18. 10. 91 Lenzer, Christian CDU/CSU 18. 10. 91 * Marten, Günter CDU/CSU 18. 10. 91 * Matschie, Christoph SPD 17. 10. 91 Molnar, Thomas CDU/CSU 18. 10. 91 Müller (Düsseldorf), SPD 18. 10. 91 Michael Neumann (Gotha), SPD 18. 10. 91 Gerhard Nolte, Claudia CDU/CSU 18. 10. 91 Dr. Olderog, Rolf CDU/CSU 18. 10. 91 Paterna, Peter SPD 18. 10. 91 Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Pfeiffer, Angelika CDU/CSU 18. 10. 91 Rahardt-Vahldieck, CDU/CSU 17. 10. 91 Susanne Reinhardt, Erika CDU/CSU 17. 10. 91 Rempe, Walter SPD 18. 10. 91 Roth (Gießen), Adolf CDU/CSU 17. 10. 91 Sauer (Stuttgart), Roland CDU/CSU 18. 10. 91 Schaich-Walch, Gudrun SPD 18. 10. 91 Dr. Scheer, Hermann SPD 18. 10. 91 Schily, Otto SPD 18. 10. 91 Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 18. 10. 91 Hans Peter Dr. Schneider CDU/CSU 18. 10. 91 (Nürnberg), Oscar Schuster, Hans Paul FDP 17. 10. 91 Hermann Schwanitz, Rolf SPD 18. 10. 91 Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU 18. 10. 91 Christian Sielaff, Horst SPD 17. 10. 91 Steiner, Heinz-Alfred SPD 18. 10. 91 * Dr. Stoltenberg, Gerhard CDU/CSU 18. 10. 91 Titze, Uta SPD 18. 10. 91 Toetemeyer, SPD 17.10.91 Hans-Günther Uldall, Gunnar CDU/CSU 17. 10. 91 Vergin, Siegfried SPD 18. 10. 91 Dr. Vogel, Hans-Jochen SPD 18. 10. 91 Voigt (Frankfurt), SPD 18. 10. 91 ** Karsten D. Dr. Waffenschmidt, Horst CDU/CSU 18. 10. 91 Dr. Waigel, Theo CDU/CSU 17. 10. 91 Walz, Ingrid FDP 17. 10. 91 Westrich, Lydia SPD 17. 10. 91 Wohlleben, Verena SPD 17. 10. 91 Ingeburg Wolfgramm (Göttingen), FDP 17. 10. 91 Torsten Zurheide, Burkhard FDP 18. 10. 91 * für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union * * für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Hartmut Koschyk, Frau Erika Steinbach-Hermann, Erwin Marschewski, Dr. Gerhard Päselt, Georg Janovski, Kurt J. Rossmanith, Frau Susanne Jaffke, Dietrich Austermann, Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese), Michael Stübgen, Horst Gibtner, Dr. Egon Jüttner, Dr. Klaus Rose, Ulrich Adam, Arnulf Kriedner, Dr. Klaus-Dieter Uelhoff, Michael von Schmude, Dieter Pützhofen, Dr. Peter Ramsauer, Benno Zierer, Heinrich Lummer, Heinz Schemken, Josef Hollerith (alle CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 17. Juni 1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute 4200* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1991 Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit und den Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 14. November 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze Dem Vertrag über die Bestätigung der bestehenden Grenze können wir nicht zustimmen, da wir uns, ausgehend von der Geschichte, der Rechtslage und im Hinblick auf den Grenzen überwindenden europäischen Einigungsprozeß, im Vorfeld des Vertrages gegen eine isolierte deutsch-polnische Grenzregelung gewandt und für eine in die Zukunft gerichtete Lösung aller offenen deutsch-polnischen Fragen eingesetzt haben. Dem Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit stimmen wir in der Hoffnung zu, daß durch ihn eine umfassende Zusammenarbeit und zukunftsgewandte Nachbarschaft beider Länder und Völker in einem zusammenwachsenden Europa eröffnet wird. Wir unterstützen die Politik von Bundeskanzler Helmut Kohl, „in den Gebieten jenseits von Oder und Neiße ein Modell friedlichen Zusammenlebens in Europa zu gestalten", und wollen wie er dort „gemeinsam Zeichen setzen, wie in einem Europa der Vielfalt die verschiedenen Völker und Kulturen einträchtig zusammenleben". Wie der Bundeskanzler „setzen wir auf eine dynamische Vorwärtsbewegung zwischen unseren Völkern", die „vor allem den Menschen in unseren Ländern zugute kommen" soll. Dabei werden wir entschieden darauf hinwirken, in einem Geist der Verständigung, der vertrauensvollen Zusammenarbeit und in zukunftsgewandten Formen berechtigte Anliegen der deutschen Heimatvertriebenen und der jenseits von Oder und Neiße lebenden Deutschen schrittweise zu verwirklichen, für die in dem Vertrag noch keine befriedigenden Lösungen gefunden werden konnten. Dies gilt insbesondere für die Verwirklichung des Rechtes auf die Heimat sowie für eine einvernehmliche und dem ökonomischen und ökologischen Wiederaufbau dienende Regelung der durch den Vertrag offen gebliebenen Eigentums- und Vermögensfragen. Wir bleiben den Idealen der Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom 5. August 1950 verpflichtet: — Schaffung eines geeinten Europas, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können, — Anerkennung und Verwirklichung des Rechtes auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit, — Hand anzulegen ans Werk, damit aus Schuld, Unglück, Leid, Armut und Elend für uns alle der Weg in eine bessere Zukunft gefunden wird. Nein zum Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze: Erika Steinbach-Hermann Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) Erwin Marschewski Dr. Gerhard Päselt Josef Hollerith Georg Janovski Dr. Peter Ramsauer Arnulf Kriedner Kurt. J. Rossmanith Susanne Jaffke Dietrich Austermann Hartmut Koschyk Benno Zierer Enthaltung zum Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze: Michael Stübgen Horst Gibtner Heinz Schemken Heinrich Lummer Dr. Egon Jüttner Dr. Klaus Rose Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Ulrich Adam Michael von Schmude Dieter Pützhofen Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Wilfried Böhm (Melsungen) (CDU/CSU) zur Abstimmung über die Gesetzentwürfe zu den Verträgen mit der Republik Polen (Tagesordnungspunkt 4) Der gemeinsamen Entschließung zur deutsch-polnischen Grenze (Drucksache 11/7465) vom 21. Juni 1990 habe ich mit der Erklärung zugestimmt (Bundestagsprotokoll 11/217 vom 21. Juni 1991, S. 17287), daß erstens in der damaligen Situation die Wiedervereinigung anders nicht zu erreichen sei und zweitens die Deutschen in Polen umfangreiche Volksgruppenrechte im Rahmen des auszuhandelnden Vertragswerkes erhalten sollten. Durch die Feststellung Bundesaußenminister Genschers „Die Bestätigung der bestehenden Grenze ist die freie Entscheidung der Deutschen. Sie ist uns von niemanden aufgezwungen worden" bei der Unterzeichnung des Grenzvertrages in Warschau ist das Junktim nicht mehr zu erkennen, daß mich zu der Zustimmung zur Erklärung am 21. Juni 1990 bewogen hat. In den letzten Monaten hat sich der vollkommene Zusammenbruch des Kommunismus und des sowjetischen Imperiums in einem atemberaubenden Prozeß ständigen Wandels vollzogen. Die Bemühungen unserer östlichen und südöstlichen Nachbarvölker, durch demokratisch legitimierte Regierungen, Grundlagen für die Marktwirtschaft sowie dauerhaf- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1991 4201* tes Miteinander untereinander und mit ihren Nachbarn im Westen zu schaffen, stecken noch in den Anfängen. Die Geschichte lehrt, daß Zeiten eines solchen raschen Wandels ungeeignet für den Abschluß eines auf Dauer angelegten Vertrages sind, in diesem konkreten Fall sowohl im Hinblick auf die 700jährige Geschichte der deutschen Ostgebiete als auch im Hinblick auf die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft in Frieden, Freiheit und Demokratie. Angesichts dieser Entwicklung, für die die Überwindung des Stalin-Hitler-Pakts im Baltikum nur ein Beispiel ist, ergibt sich im Verältnis aller Völker in Europa zueinander die Chance einer auf den Grundsätzen der Atlantik-Charta aus dem Jahr 1941 beruhenden gemeinsamen Zukunft. Erst wenn sich aufgrund demokratischer Entscheidungen frei gewählter Parlamente und in Ausübung des Selbstbestimmungsrechts im ehemals kommunistischen Machtbereich erkennbar stabile politische Strukturen herausgebildet haben werden, wird es möglich sein, die historische Chance des Zusammenwachsens eines demokratischen Europas zu nutzen, zu dem der Europarat, die KSZE und die Europäische Gemeinschaft den Weg weisen. Das gilt insbesondere für das deutsch-polnische Verhältnis, für das ein zur Unzeit ausgehandelter Vertrag ebenso den Keim zu neuer Zwietracht legen kann wie das Beharren im alten Denken und das Festschreiben überholter Positionen. Immer wieder weisen demokratische Politiker in Polen darauf hin, daß die auf auf Verständigung mit Polen angelegte deutsche Politik der vergangenen Jahrzehnte wohl oder übel zugleich der Stabilisierung der kommunistischen Herrschaft gedient habe. Gegenwärtig ergeben sich in Polen durch die Entwicklung der letzten Monate eine Fülle von neuen Erkenntnissen in wirtschaftlicher, menschenrechtlicher und territorialer Hinsicht, insbesondere bei der Einschätzung der Probleme nationaler Minderheiten. So werden für die polnischen Minderheiten in Litauen, Weißrußland und der Ukraine im Blick auf Selbstverwaltung, Amtssprache und Schulwesen Rechte gefordert, die im eigenen Staatsgebiet der deutschen Volksgruppe noch verweigert und auch in dem vorliegenden Vertragswerk nicht gewährt werden. Es ist heute durchaus vorstellbar, daß Polen, nachdem es noch vor wenigen Jahren durch seine kommunistischen Machthaber das Vorhandensein einer deutschen Minderheit östlich von Oder und Neiße energisch bestritten hat, zwar heute das Bestehen einer deutschen Volksgruppe nicht mehr in Abrede stellt, doch schon in kurzer Zeit dieser Minderheit Rechte zu gewähren und zu garantieren bereit sein könnte, wie sie von Polen für polnische Minderheiten in den während der letzten Monate entstandenen Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu Recht beansprucht werden. Hinzu kommt, daß nach dem Zusammenbrechen der totalitären kommunistischen Herrschaft in Polen und in der Zeit, in der das zur Abstimmung stehende Vertragswerk ausgehandelt worden ist, die innenpolitische Situation des Landes nicht nur von einem ungeklärten Verhältnis zu den über vier Jahrzehnten tabuisierten nationalen Minderheiten (nicht nur der deutschen) geprägt ist, sondern auch von einem noch immer starken Einfluß der kommunistischen Nomenklatura. Die Lage in Polen ist überdies nicht nur von gewaltigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten geprägt, sondern auch von ideologischen Hemmnissen und Vorbehalten gegen die marktwirtschaftliche Ordnung, die einer Gesundung der Wirtschaft entgegenstehen, was dazu führt, daß immer wieder demokratische polnische Politiker ihre Sorge über die künftige staatliche Ordnung ihres Landes öffentlich äußern. Der Europarat verweigert Polen noch die Mitgliedschaft, weil es nur über ein teilweise demokratisch legitimiertes Parlament verfügt und erst am 27. Oktober 1991 sein erstes demokratisches Parlament wählen wird. Angesichts der geschilderten neuen Entwicklungen fehlen im vorliegenden Vertragswerk die notwendigen Garantien der Volksgruppenrechte und ihre Umsetzung in die innerstaatliche Gesetzgebung und Verwaltungspraxis Polens sowie unabdingbare bilaterale Schiedsstellen und Schlichtungsverfahren für Streitfälle. Der für die Zukunft der deutschen Volksgruppe wichtigen Gruppe ausgesiedelter und in der Heimat verbliebener junger Menschen werden durch das Vertragswerk in ihrer Heimat keine Perspektiven eröffnet, obwohl gerade sie in bevorzugter Weise die Brückenfunktion zwischen Deutschland und Polen in der Zukunft übernehmen könnte. Im Gegensatz zu Rußland und Litauen läßt Polen noch nicht die Bereitschaft erkennen, die angestammte deutsche Bevölkerung und deutsche Investoren am notwendigen gemeinsamen Aufbau zu beteiligen und im Zusammenhang damit das Recht auf Heimat anzuerkennen. Aus den genannten Gründen kann ich beiden Teilen des Vertragswerkes nicht zustimmen, weil sie nach Auskunft der Bundesregierung in einem unauflösbaren Zusammenhang miteinander stehen. Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Claus Jäger (CDU/CSU) zur Abstimmung über die Gesetzentwürfe zu den Verträgen mit der Republik Polen (Tagesordnungspunkt 4) Dem Grenzvertrag mit Polen vom 14. November 1990 vermag ich meine Zustimmung nicht zu geben. Die Bundesregierung hat nicht in einer für mich überzeugenden Weise dartun können, daß die Abtretung eines nicht unbeträchtlichen Teiles des deutschen Staatsgebietes unabdingbare Voraussetzung der deutschen Einheit gewesen sei. Nur unter dieser Voraussetzung wäre jedoch eine solche Abtretung zu verantworten. Die Aufrichtung neuer Grenzen in Europa in einer Zeit des Strebens nach europäischer Einheit 4202* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1991 ist außerdem ein Ausdruck überholter nationalstaatlicher Politik; es ist kein überzeugender Versuch unternommen worden, für die deutschen Ostgebiete eine europäische Lösung zu finden, die Polen und Deutschen gleichermaßen hätte gerecht werden können. Schließlich war die Bezugnahme auf das Abkommen vom 6. Juli 1950 zur Festlegung der Oder-NeißeGrenze zwischen der DDR und dem damals kommunistisch regierten Polen, das vom Ulbricht-Regime abgeschlossen worden war und das der Deutsche Bundestag mit Ausnahme der damaligen Kommunisten einmütig für null und nichtig erklärt hat, politisch und rechtlich unzulässig. Dem Nachbarschaftsvertrag mit Polen vom 17. Juni 1991 werde ich dagegen trotz erheblicher Bedenken zustimmen. Auch wenn bedeutende Fragen wie die Verwirklichung des Rechts auf Heimat, die Staatsangehörigkeit und die Regelung der bisher offenen Eigentums- oder Vermögensfragen ausgeklammert worden sind, enthält der Vertrag doch die Anerkennung der deutschen Volksgruppe als offizielle Minderheit und die Regelung zahlreicher praktischer Fragen im Zusammenhang mit der Verwirklichung der Menschenrechte und Minderheitenrechte der deutschen Volksgruppe. Er öffnet damit die Tür zu einer positiven Entwicklung des deutsch-polnischen Verhältnisses. Ein Ja zu diesem Vertrag ist somit vertretbar. Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Bernhard Jagoda (CDU/CSU) zur Abstimmung über die Gesetzentwürfe zu den Verträgen mit der Republik Polen (Tagesordnungspunkt 4) Dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze kann ich nicht zustimmen. In Art. 1 des Vertrages vom 14. November 1990 beziehen sich die vertragsschließenden Parteien in bezug auf den Verlauf der Grenze auf das Abkommen vom 6. Juli 1950 zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen und auf den Vertrag vom '7. Dezember 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen. Diese Verträge gehen von einer völlig gegensätzlichen völkerrechtlichen Lage ganz Deutschlands aus. Das Görlitzer Abkommen unterstellt — nach Auffassung der westlichen Siegermächte, des Deutschen Bundestages (Erklärung Löbe) und der Bundesregierung im Jahre 1950 — rechtswidrig den Untergang ganz Deutschlands. Der Warschauer Vertrag jedoch geht als konkretisierter Gewaltverzicht vom Fortbestand Deutschlands in seinen rechtmäßigen Grenzen aus. Im Mai 1972 haben Bundestag und Bundesrat festgestellt, daß bis zu diesem Zeitpunkt keine Rechtsgrundlagen für die „heute bestehenden Grenzen Deutschlands" geschaffen wurden. Das Bundesverfassungsgericht hat zu dem Warschauer Vertrag von 1970 in seinem Beschluß von 1975 ausdrücklich bestätigt, daß Deutschland in den Grenzen von 1937 fortbesteht und durch diesen Vertrag von 1970 keine Anerkennung einer anderen Grenze und des Gebietsübergangs vorgenommen wurde. Jetzt wird in der von einem tiefen Dissens belasteten Kernvorschrift des Art. i „die zwischen ihnen bestehende Grenze " ohne Vereinbarung eines Rechtsgrundes und eines Zeitpunktes des rechtlichen Zustandekommens „bestätigt" . Nach meiner Überzeugung ist es nicht möglich, eine Grenze zu bestätigen, die es bisher rechtlich nicht gab. Wenn schon wegen des deutschen Einigungsprozesses oder wegen politischer Zwänge und internationaler Gegebenheiten Deutschland die Grenzen von 1937 nicht behalten kann und wenn eine Abtretung deutschen Gebietes Grundlage für einen europäischen Einigungsprozeß sein sollte, dann wäre diese Grenze in einem Kompromiß neu auszuhandeln gewesen. Ich habe nicht den Eindruck, daß über die Grenzziehung hinreichend verhandelt wurde, sonst hätte zumindest ernsthaft erörtert werden müssen, ob nicht wenigstens Städte und Gemeinden, die durch diese Linie geteilt sind, wieder zusammengefügt werden können (z. B. Görlitz, Guben, Frankfurt/Oder), oder warum die Oder bis zu ihrer Mündung nicht die Grenze zwischen Deutschland und Polen bildet. Ein weiterer tragfähiger Ausgleich in Gebietsfragen hätte erheblich zu einer dauerhaften Verständigung zwischen Polen und Deutschland beigetragen. So wünschenswert es auch ist, daß die Grenzen in Europa in Zukunft mehr und mehr ihren trennenden Charakter verlieren, so ist doch eine glaubwürdige Regelung der Gebietsfrage für eine zukünftige positive Entwicklung zwischen beiden Völkern in Europa unverzichtbar. Das zwingende Recht der freien Selbstbestimmung — seit fast zwei Jahrzehnten unabdingbar und unverzichtbar — aller Staatsvölker und auch des deutschen Volkes, unter besonderer Achtung der Betroffenen, wird weder beim Vertragsinhalt noch beim Vertragsgesetz beachtet. Auch dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit kann ich nicht zustimmen. Das große Unrecht und Leid, das Polen während der Diktatur Hitlers zugefügt wurde, aber auch das Unrecht der Vertreibung und die dauerhafte Benachteiligung der Deutschen in ihrer Heimat, belasten als schwere Hypothek die notwendige Verständigung, Aussöhnung und enge Zusammenarbeit zwischen Polen und Deutschen. Deshalb ist der Versuch grundsätzlich zu begrüßen, den schwierigen Aussöhnungsprozeß mit einem Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit zu fördern. Ich erkenne an, daß dieser Vertrag auch positive Elemente enthält. Der beiden Völkern bevorstehende Weg zur Verständigung und Zusammenarbeit wird lang und schwer sein, und auch Rückschläge sind nicht auszuschließen. Deshalb hätte ich erwartet, daß dieser Ver- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1991 4203* trag Elemente liefert, die den sehr differenzierten europäischen und internationalen Standard bilateral präzisieren und verbessern. Polen will der EG und dem Europarat beitreten. Dabei wird es notwendig sein, daß Polen der Europäischen Menschenrechtskonvention samt Zusatzprotokoll beitritt und sich der Rechtsprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes unterwirft. Den politischen UN-Menschenrechtspakt hat Polen schon ratifiziert. Diese beiden Verträge schützen wirksamer und wesentlich verbindlicher als der Nachbarschaftsvertrag die Rechte der Deutschen und der deutschen Volksgruppe in ihrer Heimat. Die Europäische Menschenrechtskonvention gewährleistet international die Anwendung der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte für jedermann am jeweiligen Wohnsitz — ungeachtet der Staatsangehörigkeit. Der Nachbarschaftsvertrag gestattet den Angehörigen der deutschen Minderheit jedoch nur, „sich wie jedermann wirksamer Rechtsmittel zur Verwirklichung ihrer Rechte im Einklang mit den nationalen (polnischen) Rechtsvorschriften zu bedienen. " Präzise Rechtsvorschriften für Minderheiten fehlen in Polen jedoch weitgehend. Das Vierte Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention gewährleistet alle Rechte, die man unter dem Begriff des Rechtes auf die Heimat zusammenfaßt, der Nachbarschaftsvertrag schweigt sich über dieses Recht völlig aus. Nach dem Völkerrecht und nach der Haager Landkriegsordnung ist die Konfiskation des Eigentums — auch der deutschen Staatsangehörigen — unzulässig. Der Nachbarschafts- und Freundschaftsvertrag regelt in keiner Weise eine zumutbare Wiedergutmachung für Schäden an Leib und Leben sowie Eigentum. Art. 25, 26 und 27 sowie andere Artikel des politischen UN-Menschenrechtspaktes verbieten die Diskriminierung aus nationalen Gründen beim Zugang zu Ämtern, bei Wahlen, bei der Religionsausübung, bei der Pflege des eigenen kulturellen Lebens und der eigenen Sprache, zusammen mit anderen Angehörigen der eigenen nationalen Gruppe. Das auch von Polen ratifizierte Übereinkommen vom 7. März 1966 gegen die Diskriminierung aus Gründen des Volkstums verpflichtet auch zu „Sondermaßnahmen für den Schutz" nationaler Gruppen, was Polen in der Praxis ablehnt. Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährleistet ferner den Minderheiten das eindeutige Recht auf Zusammenschluß. Dies alles wirkt in der Durchsetzung unabhängig vom „Einklang" mit polnischen nationalen Rechtsvorschriften und geht viel weiter als die Möglichkeiten, die die heute weitgehend noch nicht reformierte kommunistische polnische Verfassung von 1952 eröffnet. Vor allem schützen aber die Europäische Kommission für Menschenrechte und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte durch praktisch erprobte Rechtskontrolle die Menschen- und Gruppenrechte vor Verletzungen und Beseitigung. In vielen Fällen wirkten und wirken Schiedsgericht und Schiedsstellen zwischen Streitenden friedensstiftend. Leider sieht der Nachbarschaftsvertrag diese auch in Minderheitsfragen erprobten Einrichtungen nicht vor. Nach zwei Jahrhunderten schwerer Spannungen zwischen Polen und Deutschen halte ich eine tragfähige und glaubwürdige Verständigung, eine enge Zusammen- und Wiederaufbauarbeit für geschichtlich geboten, ja sogar unabdingbar für unsere künftige Generation. Dies erfordert von beiden Seiten die Kraft, Fehler und Schuld zu bekennen und daraus die Lehre zu ziehen, in ausgewogenem Geben und Nehmen dies ehrlich, überzeugend und umfassend zu gewährleisten. Dazu gehört auch die Garantie für freie Erhaltung und Entfaltung der Eigenart der deutschen Volksgruppe. Der Nachbarschaftsvertrag schafft dies leider nicht. Ich wünsche den Deutschen und Polen in meiner Heimat, daß sie trotz unzureichender Verträge den Neuanfang schaffen, um sich selbst und den kommenden Generationen den Weg zu einem friedlichen und dauerhaften Miteinander zu bahnen. Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Dietrich Mahlo (CDU/CSU) zur Abstimmung über die Gesetzenwürfe zu den Verträgen mit der Republik Polen (Tagesordnungspunkt 4) Ich kann, anders als die große Mehrheit dieses Hauses, bei aller Anspannung von Gewissen und Verstand, die Oder-Neiße-Grenze nicht gutheißen. Ich lehne die willkürliche Verschiebung von Landesgrenzen und die Wegnahme jahrhundertealter Siedlungsgebiete eines Volkes als Mittel der Politik ab, übrigens unabhängig davon, wer Nutznießer und wer Leidtragender solcher Annexionen ist. Die gegenleistungslose Aneigung von einem Viertel des nach Versailles verbliebenen deutschen Staatsgebietes ist nicht angemessen. Die jetzige Grenze ist ahistorisch und völkerrechtswidrig, ihr Geist nicht europäisch, sondern nationalistisch, der Versuch, sie zu rechtfertigen, unwahrhaftig. Plätze wie Breslau, Stettin, Königsberg sind deutsche Städtegründungen aus der Mitte des 13. Jahrhunderts. Ich bedauere, daß das polnische Volk, das seine Geschichte so hochhält, nicht auch die Geschichte eines Nachbarvolkes achten kann. Ich bedaure, daß in einem Augenblick, in dem Europa in letzten Spuren Stalins tilgt, auf der Einhaltung dieser Grenzziehung Stalins unnachgiebig und nicht frei von Hochmut bestanden wird. Ich behaupte, daß andere, uns weniger verletzende Lösungen denkbar sind, und zwar ohne daß eine Vertreibung der jetzt dort Lebenden damit verbunden wäre. Man sagt, die Massenvertreibung der deutschen Zivilbevölkerung sei als gerechte Kriegsfolge zu akzeptieren. Ich bin nicht einer, der von den Verbrechen der Deutschen während des Krieges nicht genug an- 4204* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1991 geekelt wäre. Ich bezweifle nicht, daß ein Volk für seine Untaten haften muß — nicht wegen einer dröhnend zur Schau zu stellenden, angeblichen negativen Einzigartigkeit der Deutschen, sondern schlicht aus Anstand. Allerdings gehören neben Chauvinismus und Schuld der Deutschen, an denen es nichts zu relativieren gibt, auch Chauvinismus und Schuld der Polen auf die Waagschale. Die Prinzipien politischer Moral gelten universell. Es heißt, ohne Zustimmung zur Oder-Neiße-Linie gäbe es keine Wiedervereinigung. Das bedeutet, daß im Falle der Deutschen die Ausübung der Selbstbstimmung völkerrechtswidrig von der Abtretung eines Teils ihres Landes abhängig gemacht wurde. Wer so begründet, begründet schlüssig. Er sagt, Macht geht vor Moral. Aber wen befriedigt das? Und wieviel ist die Willenserklärung eines Erpreßten wert? Ich bin nicht Mitglied einer Vertriebenenorganisation. Ich bin kein Nationalist. Nationalismus ist eher ein Symptom für politische Unreife. Aber ich bin auch keiner, der sein eigenes Volks haßt und fremden Maximalforderungen an uns applaudiert. Gestern wollten wir die halbe Welt unterjochen, heute wollen wir ganze Provinzen abtreten, die jahrhundertelang der Siedlungs- und Kulturraum unserer Vorfahren waren. Vielleicht wäre die Welt uns gegenüber weniger mißtrauisch, wenn wir gestern mehr Maß und heute mehr Festigkeit zeigten. Diejenigen, die augenzwinkernd auf das Aussitzen des Problems durch den Tod der unmittelbar Betroffenen kalkulieren, könnten irren. Die Geschichte zeigt, gerade auch in diesen Tagen: Völker haben ein langes Gedächtnis. Ich bezweifle, daß das Bestehen auf der Abtretung von 25 % unseres Landes wirklich die ideale Voraussetzung für Vertrauen und Freundschaft zwischen Deutschen und Polen sein wird. Wenn wir Aussöhnung wollen, und welcher Einsichtige will sie nicht, wenn ein gemeinsames abendländisches Kulturbewußtsein zwischen Deutschen und Polen entstehen soll, kann dies glaubwürdig nur auf der Grundlage gegenseitigen Nachgebens, nicht einseitiger, sondern beidseitiger Opfer heranwachsen. Geschichte hat viele Optionen, sie braucht sich nicht zu wiederholen. Aber es könnte durchaus sein, daß wir mit dieser geschichtswidrigen Grenze kommenden Generationen ein fatales Erbe hinterlassen haben. Anlage 7 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Helmut Sauer (Salzgitter) (CDU/ CSU) zur Abstimmung über die Gesetzentwürfe zu den Verträgen mit der Republik Polen (Tagesordnungspunkt 4) Im Laufe meiner Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag habe ich seit 1972 vielfach zum deutschpolnischen Verhältnis Stellung bezogen. Immer habe ich mich dabei leiten lassen vom Geist der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen", in der auf Rache und Vergeltung verzichtet, der Weg zu einem geeinten Europa, in dem alle Menschen ohne Furcht und Zwang leben sollen, aufgezeigt und die Verwirklichung des Rechtes auf die Heimat und die Durchsetzung aller Menschenrechte verlangt wird. In diesem Bemühen habe ich immer im Rechtsgehorsam um eine gerechte Lösung für alle beteiligten Volksgruppen gestritten. Ich verweise auf meine zuletzt abgegebene Erklärung zum Einigungsvertrag in der 226. Sitzung des Deutschen Bundestages am 20. September 1990. In dieser Erklärung habe ich dem Einigungsvertrag meine Zustimmung gegeben, „um die Vereinigung der nunmehr beiden freien Teile Deutschlands (West- und Mitteldeutschland) nicht zu behindern" . Dabei habe ich wegen der damit verbundenen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als unserer Ostgrenze der Hoffnung Ausdruck gegeben, „daß im deutsch-polnischen Bereich mit neuen Verantwortlichen in Warschau in europäischer Zielrichtung und auf dem Fundament von Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit für alle beteiligten Volksgruppen Lösungsmöglichkeiten gesucht, erarbeitet und durchgesetzt werden". Zu diesem für mich als Schlesier nicht leichten Schritt beim Einigungsvertrag in bezug auf die Abtretung Ostdeutschlands sah ich mich gezwungen auf Grund der nach den Zwei-plus-Vier-Verträgen entstandenen neuen Rechtslage und der in diesem Zusammenhang vom Bundeskanzler verbindlichen Aussage, daß die Erlangung der Vereinigung nur mit einer Grenzanerkennung der Oder-Neiße-Linie erreichbar sei. Der Bundeskanzler hat in diesem Zusammenhang mehrmals von einer „conditio sine qua non" gesprochen. Dieser Aussage des Bundeskanzlers steht die Interpretation des Bundesaußenministers im Bundesrat und im Auswärtigen Ausschuß entgegen, daß die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Grenze „freiwillig und ohne Druck und Zwang von außen von Regierung und Parlament vorgenommen werde". Diesen Widerspruch hat die Bundesregierung trotz meiner und von anderen Kollegen eingebrachten schriftlichen Parlamentsanfragen nicht aufgeklärt. Die Bundesregierung hat nach Bekanntwerden der beiden Polen-Verträge meine konkreten Parlamentsanfragen z. B. zur Rechtsgrundlage der Oder-NeißeLinie, zum rechtsgestaltenden Akt als Grenze und zum Zeitpunkt des Übergangs der territorialen Souveränität, zur freien Ausübung des Selbstbestimmungsrechts des ganzen Volkes und nicht nur stellvertretend durch die Parlamentarier, zur Frage des Rechts auf die Heimat, zu vermögensrechtlichen Fragen bzw. zum Rückkehrrecht, zur Staatsangehörigkeit und zur rechtlichen Absicherung eines qualifizierten Volksgruppenrechtes der deutschen Minderheit in Polen jeweils mit ausweichenden, unzureichenden und schwammigen Antworten bedacht, die zum Teil für die betroffenen Mitbürgerinnen und Mitbürger, um es gelinde auszudrücken, eine Zumutung gewesen sind. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1991 4205* Auf Grund der parlamentarischen Beratungen und zahlreicher Stellungnahmen aus der Koalition und den Koalitionsfraktionen sehe ich auch unterschiedliche Beweggründe, insbesondere beim Außenminister und bei Teilen der FDP, zum Abschluß beider Verträge. Mit Verbitterung muß ich aus meiner Sicht ferner bekunden, daß die für die Vertragsverhandlungen Verantwortlichen auf den Dialog und die Aussprache mit den betroffenen heimatvertriebenen Deutschen und ihren Organisationen in der Vorbereitung der Verträge wenig Wert gelegt haben. Gradezu unerträglich ist die Tatsache, daß sich die Bundesrepublik Deutschland entgegen dem einmütigen Votum des Deutschen Bundestages vom 13.6. 1951 auf den „Görlitzer (Schand-)Vertrag" beruft. Kann denn Unrecht die Grundlage wahren Friedens werden? Erstens. Auf Grund offensichtlich widersprüchlicher Aussagen, des Bundeskanzlers ( „conditio sine qua non") und des Außenministers (freiwillige und ohne Druck bzw. Zwang Grenzanerkennung) kann ich diesem Grenzvertrag nicht zustimmen, der meiner Ansicht nach nur auf machtpolitischen Druck und wegen mangelhafter Unterstützung unserer Verbündeten und insbesondere unserer europäischen (befreundeten!) Nachbarstaaten abgeschlossen werden muß. Im Nachbarschaftsvertrag werden trotz verschiedener vorhandener Mängel konkrete Vorhaben vereinbart, die ich weitestgehend begrüßen kann und auch in Zukunft unterstützen werde. Für diese, die in den Oder-Neiße-Gebieten verbliebene deutsche Volksgruppe betreffenden Vorhaben, sind jedoch im Grunde genommen lediglich weltweit bereits anerkannte und praktizierte Prinzipien aus internationalen Vereinbarungen zu Menschenrechtsfragen zur Grundlage gemacht worden. Zu ihnen hat sich Polen völlig unabhängig vom deutsch-polnischen Verhältnis bereits international verbindlich verpflichtet. Warum bedurfte es bei dieser Wiederholung von zugesagten internationalen Verpflichtungen der Anerkennung der von Stalin durchgesetzten Unrechtsgrenze an Oder und Görlitzer Neiße? Warum im Hinblick auf die zu erwartenden europäischen Entwicklungen zu einem Europa der Regionen die Anerkennung einer Unrechtsgrenze? Die Republik Polen, deren demokratische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung auch entscheidend von erbetenen deutschen Hilfen abhängig sein wird, hätte auf ihre Maximalforderung der Grenzanerkennung auf Grund des abgeschlossenen Warschauer Vertrages und der KSZE-Vereinbarungen verzichten können. Zweitens. Im sogenannten Nachbarschaftsvertrag wird ebenfalls von der Grenzanerkennung ausgegangen. Daher bedauere ich, auch diesem Vertrag meine Zustimmung verweigern zu müssen. Bei diesem Schritt bestärkt mich auch die umfassende Stellungnahme des Sprechers der Deutschen Freundschaftskreise in Oberschlesien zu den Vertragswerken, die dieser im Namen seiner Landsleute gegenüber dem Bundeskanzler schriftlich abgegeben hat. Hier wird die Praxis im Alltag unserer Landsleute in Oberschlesien geschildert. Da der zustimmende Mehrheitswille des Bundestages zu diesem Vertragswerk bekannt ist, werde ich nach dem Zustandekommen der Verträge diese respektierend, meine Arbeit für eine Verbesserung des deutsch-polnischen Verhältnisses im allgemeinen, für eine bessere Lebensqualität unserer deutschen Landsleute daheim und für die nicht gelösten Anliegen meiner heimatvertriebenen Landsleute fortsetzen. Anlage 8 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Roswitha Wisniewski (CDU/ CSU) zur Abstimmung über die Gesetzentwürfe zu den Verträgen mit der Republik Polen (Tagesordnungspunkt 4) Den Verträgen über die Bestätigung der bestehenden Grenzen und über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit stimme ich trotz erheblicher Bedenken zu, weil ich in diesen Verträgen die Voraussetzung für die Herstellung der deutschen Einheit, die gerade auch im Hinblick auf die Heimatvertriebenen in der ehemaligen DDR notwendig war, und den Beginn deutsch-polnischer Zusammengehörigkeit in europäischem Rahmen sehe. Als Heimatvertriebene aus Pommern habe ich das furchtbare Schicksal vieler Millionen Deutscher aus Pommern, Schlesien, Ost- und Westpreußen vor Augen, das diese durch die Vertreibung aus ihrer Heimat oder durch jahrzehntelanges Leben als deutsche Minderheit erleiden mußten. Darüber zu schweigen stünde ganz im Widerspruch zu den weltweiten Diskussionen über Selbstbestimmung der Völker und Rückgabe besetzter Gebiete. Ich erkläre deshalb ausdrücklich, daß ich durch meine Zustimmung zu den Verträgen nicht das schwere Verbrechen der Vertreibung billige. Vielmehr gehe ich davon aus, daß es dem polnischen Volk ein Bedürfnis sein wird, im Geist der Aussöhnung zur Wiedergutmachung — etwa in dem im Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen angedeuteten Rahmen — bereit zu sein, so wie ich es begrüße, daß das deutsche Volk seine Bereitschaft zur Wiedergutmachung durch die Einrichtung der Stiftung „deutsch-polnische Aussöhnung" erneut unter Beweis stellt. Anlage 9 Antwort der Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl auf die Frage des Abgeordneten Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU) (Drucksache 12/1301 Frage 43): Welche Gründe sind maßgeblich dafür, daß bis Ende 1991 die damaligen Zielvorstellungen bei Schaffung des GesundheitsReformgesetzes, die von einem Festbetragsanteil von ca. 80 % des GKV-Umsatzes ausgegangen sind, nicht erreicht werden, 4206* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1991 und hält die Bundesregierung es für notwendig, die gesetzlichen Anforderungen und das Verfahren für das Zustandekommen von Festbeträgen zu verändern, wenn die Festsetzung vereinfacht und beschleunigt und der Anteil der Festbetrags-Arzneimittel maximal ausgeschöpft werden soll? Für die Bildung von Arzneimittel-Festbeträgen hat der Gesetzgeber ein zweistufiges Verfahren vorgesehen: — Zunächst bestimmt der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Sozialgesetzbuch V die Arzneimittelgruppen, für die Festbeträge festgesetzt werden können. Die dafür notwendigen fachlichen Beratungen werden im Arbeitsausschuß „Arzneimittelrichtlinien'' des Bundesausschusses durchgeführt. Vor der Entscheidung des Bundesausschusses wird Sachverständigen der medizinischen und pharmazeutischen Wissenschaft und Praxis sowie der Arzneimittelhersteller und der Berufsvertretungen der Apotheker Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Diese Stellungnahmen werden mit Unterstützung der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft ausgewertet und begutachtet. — Anschließend setzen die Spitzenverbände der Krankenkassen gemeinsam und einheitlich den jeweiligen Festbetrag für die vom Bundesausschuß beschlossenen Arzneimittelgruppen auf der Grundlage von rechnerischen mittleren Tagesoder Einzeldosen fest. Vor dieser Bestimmung der Höhe der Festbeträge werden wiederum Sachverständigenanhörungen durchgeführt. Durch die bisher festgesetzten Festbeträge wird ein Einsparvolumen von ca. 1 Milliarde DM jährlich realisiert. Bis Ende 1991 werden für ca. ein Drittel der Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung Festbeträge festgesetzt sein. Aufgrund der von der Koalition beschlossenen Verschiebung des Inkrafttretens der prozentualen Zuzahlung auf den 1. Oktober 1992 wird Zeit gewonnen, um für weitere 10 v. H. der Arzneimittelausgaben Festbeträge festzusetzen. Nach dem derzeitigen Erkenntnisstand ist davon auszugehen, daß insgesamt für einen Anteil von 50 bis höchstens 60 v.H. der Arzneimittelausgaben Festbeträge festgesetzt werden können. Die bei der Beratung des Gesundheits-Reformgesetzes vom Bundesarbeitsministerium genannte Schätzung eines Anteils von bis zu 80 v.H. festbetragsfähiger Arzneimittelausgaben basierte auf der im Regierungsentwurf enthaltenen Formulierung der Festbetragsregelung, die im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens allerdings geändert worden ist. Zu der Verzögerung des Umsetzungsprozesses hat eine Reihe von Faktoren beigetragen, u. a. — zeitaufwendige Fachdiskussionen über die pharmakologisch-therapeutischen Fragen der Bildung von Festbetragsgruppen, insbesondere für die Stufen 2 und 3 der Festbeträge (Arzneimittel mit vergleichbaren Wirkstoffen bzw. Wirkungen); — verfahrensbedingte Zeitverluste, insbesondere im Zusammenhang mit der Einholung von Stellungnahmen von Sachverständigen sowohl zur Gruppenbildung als auch zur Höhe der Festbeträge und der Auswertung und Begutachtung dieser Stellungnahmen; — zusätzliche Belastungen der zuständigen Selbstverwaltungsgremien durch Aufgaben im Zusammenhang mit der deutschen Einheit. Anlage 10 Antwort des Parl. Staatssekretärs Wolfgang Gröbl auf die Fragen des Abgeordneten Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) (Drucksache 12/1301 Fragen 44 und 45): Weshalb werden der taiwanesischen China Airlines die Verkehrsrechte auf deutschen Flughäfen verwehrt? Wie beurteilt die Bundesregierung die mancherorts geforderte generelle Freigabe von Einbahnstraßen in Gegenrichtung für Radfahrer unter rechtlichen und Sicherheitsaspekten? Zu Frage 44: Der Einrichtung von Flugverbindungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Taiwan stehen außenpolitische Gesichtspunkte und der Schutz umfangreicher deutscher Verkehrs- und Wirtschaftsinteressen in der Volksrepublik China entgegen. Die Position der Volksrepublik China in der Taiwan-Frage wird von der Bundesregierung im Hinblick auf etwaige Änderungen aufmerksam beobachtet. Zu Frage 45: Die generalle Freigabe von Einbahnstraßen entgegen der allgemeinen Fahrtrichtung für Radfahrer kommt aus Sicherheitsgründen nicht in Betracht. In Einbahnstraßen rechnen Kraftfahrer nicht mit entgegenkommenden Fahrzeugen. Besondere Gefährdungen entstehen durch den Querverkehr an Kreuzungen und Einmündungen. Auch das in Einbahnstraßen zugelassene Parken am linken Fahrbahnrand führt zu Gefährdungen entgegenkommender Fahrradfahrer, da der Fahrweg des Fahrradfahrers gekreuzt werden muß. Den Straßenverkehrsbehörden stehen aber folgende Möglichkeiten offen: — In „unechten Einbahnstraßen" — darunter versteht man eine Straße, in der Allgemeinverkehr in beiden Richtungen zugelassen und eine Seite durch Zeichen 267 (Verbot der Einfahrt) gesperrt ist — kann Radfahrverkehr durch Zusatzschild zugelassen werden. — In „echten" Einbahnstraßen kann gegenläufiger Radverkehr zugelassen werden, wenn ein Sonderweg durch Zeichen 237 Straßenverkehrsordnung (Radfahrer) angeordnet ist und mindestens durch eine Fahrbahnbegrenzung markiert ist. In diesen Fällen muß der Kraftfahrzeugverkehr deutlich darauf hingewiesen werden, daß er mit entgegenkommenden Radfahrern rechnen muß. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1991 4207* Anlage 11 Antwort des Parl. Staatssekretärs Wolfgang Gröbl auf die Fragen des Abgeordneten Steffen Kampeter (CDU/CSU) (Drucksache 12/1301 Fragen 46 und 47): Wann werden auf den InterRegio-Linien der Deutschen Bundesbahn nicht mehr alte D-Zug-Wagen, sondern moderne InterRegio-Wagen verkehren? Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung für die mittel- bzw. langfristige Aufwertung der InterRegio-Linie 16 zu einer EuroCity-Linie Amsterdam/Rotterdam—Berlin? Zu Frage 46: Die Deutsche Bundesbahn ersetzt auf ihren InterRegio-Linien die alten D-Zug-Wagen teils durch umgebaute, von Grund auf modernisierte Fahrzeuge, teils durch Neubauwagen. Die Umstellung erfolgt sukzessive mit Auslieferung der Wagen. Das Umbauprogramm sollte bis 1995, das Neubauprogramm bis 1996 abgeschlossen sein. Die Deutsche Bundesbahn strebt nunmehr jedoch einen Abschluß der Umbauten zu einem früheren Zeitpunkt an und führt derzeit Ausschreibungen zur Erhöhung der Umbaukapazität durch. Zu Frage 47: In der Verbindung Niederlande—Berlin bietet die Deutsche Bundesbahn zwei hochwertige Fernverkehrsrelationen an, einen InterRegio Verkehr über Bad Bentheim, Rheine, Osnabrück, Hannover, Stendal und einen EuroCity-Verkehr über Emmerich, Duisburg, Dortmund, Hannover, Braunschweig, Magdeburg mit Umsteigen in Duisburg an. Die Verbindung über Duisburg weist wegen der höheren Reisegeschwindigkeit kürzere Reisezeiten auf und wurde deshalb für den EC-Verkehr vorgesehen. Eine EuroCity-Verbindung über Osnabrück anstelle der IR-Linie 16 hätte zudem zur Folge, daß Orte mit regelmäßigem IR-Halt aufgrund der höheren Anforderungen an das Aufkommen im EC-Verkehr als Halte nicht mehr berücksichtigt werden könnten. Anlage 12 Antwort des Parl. Staatssekretärs Wolfgang Gröbl auf die Fragen des Abgeordneten Ernst Hinsken (CDU/CSU) (Drucksache 12/1301 Fragen 48 und 49): Treffen Meldungen zu, daß die Rhein-Main-Donau AG 1 700 Autobahnkilometer und 600 Brücken in den neuen Bundesländern privatwirtschaftlich finanzieren wird? Treffen Meldungen zu, daß das Modell der Femstraßenbaugesellschaft Deutsche Einheit „DEGES" auf das ganze Bundesgebiet ausgedehnt werden soll? Zu Frage 48: Die Meldung, daß die Rhein-Main-Donau AG 1 700 km Autobahnen und 600 Brücken in den neuen Bundesländern privatwirtschaftlich finanzieren wird, ist inhaltlich falsch. Die gemeinsam von den fünf neuen Ländern, der Rhein-Main-Donau AG und dem Bund am 7. Oktober 1991 in Berlin gegründete DEGES, Deutsche Einheit Fernstraßenplanungs- und -Baugesellschaft mbH, ist für die schnelle Verwirklichung der Bundesfernstraßenprojekte Deutsche Einheit zuständig. Ihr Sitz ist in Berlin. Der DEGES wurde die Planung, Bauvorbereitung und Bauüberwachung von den fünf neuen Ländern für rund 1 200 km Ausbau- und Neubaustrecken mit voraussichtlichen Kosten von rd. 15 Mrd. DM übertragen. Eine Angabe über die Anzahl der notwendigen Brücken ist noch nicht möglich. Die Frage einer privatwirtschaftlichen Finanzierung steht nicht im Zusammenhang mit der DEGES. Diese Frage wird letztlich vom Deutschen Bundestag entschieden werden. Zu Frage 49: Nein, solche Meldungen treffen nicht zu. Anlage 13 Antwort des Parl. Staatssekretärs Wilhelm Rawe auf die Fragen der Abgeordneten Marion Caspers-Merk (SPD) (Drucksache 12/1301 Fragen 50 und 51): Kann die Bundesregierung bestätigen, daß die Bundespost TELEKOM sich konkret mit der Absicht trägt, schrittweise das bisher benutzte Recyclingpapier für Briefverkehr und Formulare gegen lediglich chlorfrei gebleichtes Papier auszutauschen, und hält die Bundesregierung — auch angesichts angekündigter Verordnungen zur Senkung der Papierabfallquote wie z. B. der Druckerzeugnisseverordnung — die Entscheidung der TELEKOM unter Umweltgesichtspunkten für vertretbar? Sieht die Bundesregierung die Gefahr einer negativen umweltpolitischen Signalwirkung durch die Absicht der TELEKOM, und welche Schritte ist sie bereit zu unternehmen, um die Entscheidung rückgängig zu machen? Zu Frage 50: Die Generaldirektion TELEKOM verwendet nach wie vor Recycling-Papier in beträchtlichem Umfang (80 Prozent). Die unternehmensinterne Korrespondenz erfolgt auf Recycling-Papier. Änderungen sind hier nicht geplant. Lediglich die kundenorientierte Korrespondenz wurde im Rahmen der mit der Postreform für die Deutsche Bundespost TELEKOM eingetretenen Wettbewerbssituation teilweise auf chlorfrei gebleichtes Papier umgestellt. Die Generaldirektion TELEKOM verfolgt aber auch im Kundenbereich nicht das Ziel, Recycling-Papier generell durch chlorfrei gebleichtes Primärpapier zu ersetzen. Zu Frage 51: Die Bundesregierung begrüßt grundsätzlich die Umstellung von chlorgebleichtem Frischfaserpapier auf chlorfrei gebleichtes Frischfaserpapier, sieht aber in der Verwendung von Recycling-Papier gesamtökologisch die umweltverträglichste Lösung. Aus diesem Grund wird sich der Bundesminister für Post und Telekommunikation für den weiteren Einsatz von Recycling-Papier auch im Kundenbereich der Deutschen Bundespost TELEKOM verwenden. 4208* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1991 Anlage 14 Antwort des Parl. Staatssekretärs Wilhelm Rawe auf die Frage des Abgeordneten Dr. Eberhard Brecht (SPD) (Drucksache 12/1301 Frage 52): Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die derzeit miserable Qualität der Telefonauskunft in den neuen Bundesländern eine zusätzliche Erschwernis für Firmenneugründer bzw. Investoren dort darstellt, und welche Maßnahmen gedenkt die Bundesregierung zu unternehmen, um diesem Mißstand so schnell wie möglich abzuhelfen? Die Bundesregierung teilt die Auffassung, daß die derzeitige schlechte Qualität der Telefonauskunft in den neuen Bundesländern eine zusätzliche Erschwernis für Firmenneugründungen bzw. Investoren darstellt. Die Deutsche Bundespost TELEKOM bemüht sich daher um eine rasche Modernisierung des Auskunftssystems der östlichen Telefonauskunftsstellen. Um dieses Ziel zu erreichen, werden die Auskunftsstellen in den neuen Bundesländern mit den gleichen Einrichtungen der Vermittlungs- und der Auskunftstechnik wie die Auskunftsstellen in den alten Bundesländern ausgerüstet. Hierfür müssen jedoch an fast allen Standorten Räume hergerichtet oder neu gebaut werden. Die Auskunftsstellen in Ostberlin und in Suhl sind bereits z. T. umgerüstet worden und in Betrieb. Die Auskunftsstelle Leipzig ist im Bau befindlich. Die Auskunftsstellen in Erfurt, Chemnitz, Potsdam, Magdeburg und Rostock sollen noch in diesem Jahr umgerüstet werden. Die restlichen 8 Auskunftsstellen in Schwerin, Neubrandenburg, Frankfurt/Oder, Cottbus, Halle, Gera, Dresden und Berlin werden im Laufe des Jahres 1992 entsprechend ausgestattet. Die noch nicht erfaßten Datenbestände werden von den Mitarbeitern der Deutschen Bundespost TELEKOM im gegenwärtigen Zeitpunkt erfaßt und in das Auskunftssystem eingegeben. Mit einem Abschluß der Datennacherfassung ist Ende 1991 zu rechnen. Anlage 15 Antwort des Parl. Staatssekretärs Wilhelm Rawe auf die Frage des Abgeordneten Horst Peter (Kassel) (SPD) (Drucksache 12/1301 Frage 53): Ist die Bundesregierung bereit, mit der Einrichtung von Rufanlagen zu Polizeistationen durch die Deutsche Bundespost als technische Hilfe zur Verbesserung der Sicherheitslage in Gemeinschaftsunterkünften beizutragen? Die Bundesregierung ist grundsätzlich bereit, bei der Deutschen Bundespost TELEKOM dafür einzutreten, daß in Auftrag gegebene Einrichtungen von „Rufanlagen zu Polizeistationen" zur Verbesserung der Sicherheitslage in Gemeinschaftsunterkünften vordringlich realisiert werden. Hierzu bedarf es entsprechender Aufträge beim jeweiligen Fernmeldeamt durch die Landesbehörden, in deren Zuständigkeitsbereich sich die Gemeinschaftsunterkünfte befinden. Folgende technische Lösungen sind denkbar: 1. Notrufmelder, bei denen nach Betätigung des „Notrufhebels" eine Fernsprechverbindung zum Notrufträger hergestellt wird. 2. Ein normaler Telefonanschluß, an den ein Telefon mit „Direktruf" angeschlossen wird. Das Telefon muß ein Sperrschloß haben, um anderweitige Telefonate auszuschließen. Im Bedarfsfall wird nach dem Abheben des Telefonhörers eine beliebige Taste gedrückt. Die Verbindung zum Notrufträger, z. B. zur Polizei oder Feuerwehr, wird durch automatische Wahl der fest einprogrammierten Rufnummer hergestellt. In größeren Notunterkünften könnte im Einzelfall geprüft werden, ob die zu wirtschaftlichem Handeln gezwungene Deutsche Bundespost TELEKOM eine öffentliche Telefonstelle einrichten kann. Durch einen Zuschuß des Trägers der Unterkunft kann ebenfalls eine öffentliche Telefonstelle realisiert werden. Anlage 16 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Norbert Lammert auf die Fragen der Abgeordneten Doris Odendahl (SPD) (Drucksache 12/1301 Fragen 56 und 57): Wie viele betriebliche bzw. außerbetriebliche Berufsausbildungsstellen, die den Arbeitsämtern in den neuen Ländern bis zum Beginn des Ausbildungsjahres 1991/92 gemeldet wurden, sind noch nicht besetzt? Wie viele betriebliche Berufsausbildungsstellen und wie viele Plätze in außer- oder überbetrieblichen Einrichtungen sind den Arbeitsämtern in den neuen Ländern bis zum Beginn des neuen Ausbildungsjahres am 1. September 1991 gemeldet worden? Zu Frage 56: Die Bundesanstalt für Arbeit weist in ihrer Berufsberatungsstatistik 6 659 unbesetzte Ausbildungsstellen zum Ende des Vermittlungsjahres aus, darunter 847 offene Stellen in außerbetrieblichen Einrichtungen. Damit steht für jeden noch nicht vermittelten Bewerber grundsätzlich eine Ausbildungsstelle zur Verfügung. Die Berufsberatung wird ihre Anstrengungen fortsetzen, jeden noch nicht vermittelten Bewerber in ein Ausbildungsverhältnis zu vermitteln. Im übrigen war im August für alle noch nicht vermittelten Bewerber und Bewerberinnen (rund 25 000) durch rund 35 000 verfügbare Stellen in außerbetrieblichen Einrichtungen ausreichend Vorsorge getroffen worden, jedem Lehrstellensuchenden zumindest eine außerbetriebliche Ausbildungsalternative anbieten zu können. Zu Frage 57: Die Berufsberatung der Bundesanstalt für Arbeit weist in ihrer Endstatistik für das abgelaufene Vermittlungsjahr 122 681 gemeldete Stellen in den neuen Ländern aus. Hiervon wurden 22 445 Stellen als nicht mehr verfügbar von den Betrieben — meist als Folge von Betriebsstillegungen — zurückgezogen. Insgesamt standen damit Ende September 100 236 gemeldete Berufsausbildungspläzte zur Verfügung, davon Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1991 4209* 62 859 betriebliche und 37 377 außerbetriebliche Plätze. Da nicht alle Ausbildungsstellen der Berufsberatung gemeldet werden, ist die Anzahl der insgesamt verfügbaren Ausbildungsplätze höher. Über ihre genaue Zahl kann erst berichtet werden, wenn die Erhebung der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge, die das Bundesinstitut für Berufsbildung durchführt, Mitte Dezember dieses Jahres abgeschlossen ist. Anlage 17 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Norbert Lammert auf die Fragen des Abgeordneten Siegfried Vergin (SPD) (Drucksache 12/1301 Fragen 64 und 65): Wie beurteilt die Bundesregierung die voraussichtliche Entwicklung der Nachfrage nach einer Berufsausbildung in den neuen Ländern im Jahre 1992, und welchen Einfluß mißt sie dabei Veränderungen der Schulstruktur in den einzelnen neuen Ländern bei? Wie beurteilt die Bundesregierung die voraussichtliche Entwicklung des betrieblichen Angebots an Berufsausbildungsstellen in den neuen Ländern im Jahre 1992, auch hinsichtlich der regionalen Verteilung und der voraussichtlichen Berufsstruktur? Zu Frage 64: Die allgemeine Schulpflicht in den neuen Ländern wird mit Ausnahme von Brandenburg und Berlin/Ost nicht wie bislang mit 10 Jahren, sondern mit 9 Schuljahren enden. Damit ist bereits jetzt abzusehen, daß im nächsten Jahr nicht nur ein, sondern in den meisten neuen Ländern ein zweiter Absolvententeiljahrgang auf den Ausbildungsstellenmarkt drängt, und das zu einer Zeit, in der das Ausbildungswesen sich immer noch in einer sehr schwierigen Umstellungsphase befinden wird. Zu berücksichtigen ist ferner, daß die Jugendlichen, die in einjährigen beruflichen Schulen (Berufsgrundbildungsjahr, Berufsvorbereitungsjahr) versorgt werden, 1992 erneut betriebliche Ausbildungsstellen suchen. Es müssen zudem alle Möglichkeiten genutzt werden, außerbetriebliche Ausbildungsmaßnahmen in betriebliche Ausbildungen zu überführen. Es ist deshalb zu erwarten, daß die Situation auf dem Ausbildungsstellenmarkt in den neuen Ländern auch 1992 erneut hohe Anstrengungen erfordern wird. Wir dürfen deshalb trotz des Erfolges in diesem Jahr mit unseren Bemühungen nicht nachlassen, in den neuen Ländern eine Ausbildungsstruktur zu entwickeln, die es ermöglicht, daß die Verantwortung der Wirtschaft für die Nachwuchsausbildung auch wahrgenommen werden kann. Zu Frage 65: Eine verläßliche Prognose über das betriebliche Angebot an Berufsbildungsstellen in den neuen Ländern für das Jahr 1992 abzugeben, ist zur Zeit nicht möglich. Die Anzeichen für eine wirtschaftliche Gesundung sind allerdings unverkennbar; die Bauindustrie, das Handwerk und der Dienstleistungsbereich expandieren, der Handel stabilisiert sich. Der Industriebereich, früher Hauptanbieter für betriebliche Ausbildungsplätze, steht vor großen ökonomischen Problemen; dies gilt auch für die Landwirtschaft. Aber auch hier gibt es erste Anzeichen der Besserung. Allein das Handwerk hat in diesem Jahr bis zu 50 mehr Ausbildungsstellen zur Verfügung gestellt als noch im letzten Jahr. Insgesamt ist davon auszugehen, daß das betriebliche Angebot durch die wirtschaftlichen Impulse — vor allem im mittelständischen Bereich — weiter ausgebaut werden kann. Ferner wird es, wie in diesem Jahr, auch darum gehen müssen, die Ausbildungskapazitäten in den Treuhandbetrieben so weit als möglich auszuschöpfen. Dennoch wird es auch im nächsten Jahr nicht ohne außerbetriebliche Ausbildungsplatzangebote möglich sein, jedem Jugendlichen ein Ausbildungsplatzangebot zu machen. Dies gilt insbesondere in strukturschwachen Regionen zum Ausgleich regionalspezifischer Versorgungsprobleme. Hierfür sind ausreichende Mittel im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit vorgesehen. Insgesamt muß einer betrieblichen Ausbildung jedoch weiterhin Vorrang vor einer außerbetrieblichen Qualifizierung gegeben werden. Die Entwicklungen im expandierenden Dienstleistungsbereich werden in den neuen Ländern die immer noch stark gewerblich-technisch ausgerichtete Ausbildungsstellenstruktur zu Gunsten von dienstleistungsorientierten Angeboten verändern. Anlage 18 Antwort des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Frage des Abgeordneten Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU) (Drucksache 12/1301 Frage 71): Welche Konsequenzen bezüglich der von Frankreich beabsichtigten Einlagerung der Hades-Kurzstreckenraketen zieht das Auswärtige Amt aus der Ankündigung des amerikanischen Präsidenten, die in Europa stationierten atomaren Kurzstreckenwaffen in den nächsten Jahren abzuziehen? Die Bundesregierung begrüßt den Beschluß der Präsidenten Bush und Gorbatschow, landgestützte nukleare Kurzstreckenwaffen weltweit zu beseitigen. Diese Entscheidung, die ausschließlich amerikanische und sowjetische Nuklearwaffen betrifft, zieht die richtigen Folgerungen aus der grundlegend veränderten politischen und militärischen Lage in Europa. Die Frage, welche Konsequenzen Frankreich aus dieser Entwicklung zu ziehen bereit ist, kann ausschließlich von der französischen Regierung beantwortet werden.
Gesamtes Protokol
Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1205000000
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die 50. Sitzung des 12. Deutschen Bundestages.
Zunächst möchte ich auf der Ehrentribüne S. E., den Präsidenten des Parlaments der Republik Gambia,

(Beifall im ganzen Hause)

Herrn N'Jie, mit einer parlamentarischen Delegation begrüßen. Wir haben gestern über Erfolge und Erfordernisse der Entwicklungshilfe und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Ihrem Land miteinander gesprochen. Ich wünsche Ihnen und uns sehr, daß Ihre Besuche in Bonn, Mainz und München zu der weiteren guten Zusammenarbeit beitragen, die Sie uns gestern noch einmal bestätigt haben. Herzlich Willkommen im Deutschen Bundestag!
Nun noch amtliche Mitteilungen zur Verlesung. Ich teile mit, daß interfraktionell vereinbart worden ist, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde: Pulverfaß Tschernobyl: Sofortige Stillegung aller Gefahren-Reaktoren Osteuropas — Folgerungen für die Energiepolitik in Deutschland (In der 49. Sitzung bereits erledigt.)

2. Aktuelle Stunde: Verhandlungen der Bundesregierung in den EG-Regierungskonferenzen zur Politischen Union und zur Wirtschafts- und Währungsunion
3. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes sowie Beratung eines Antrages zu den Richtlinien zur Überprüfung auf Tätigkeit oder politische Verantwortung für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit — Drucksache 12/1324 —
4. Erste Beratung des von den Abgeordneten Ingrid Köppe und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und eines Gesetzes zur Änderung des Bundesministergesetzes (Stasi-Überprüfungsgesetz) — Drucksache 12/1325 —
5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Vollständige Überprüfung von Mitgliedern des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung auf mögliche Kontakte zum MfS/AfNS und zum BND, MAD, VS und ausländischen Geheimdiensten — Drucksache 12/1148 —
Die Zusatzpunkte 3 bis 5 sollen nach Tagesordnungspunkt 8 mit einer Beratungszeit von 30 Minuten aufgerufen werden.
Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 a bis 3 f sowie den Tagesordnungspunkt 11 auf:
3. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Zweiten Zusatzprotokoll vom 21. Mai 1991 zum Abkommen vom 16. Juni 1959 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie verschiedener sonstiger Steuern und zur Regelung anderer Fragen auf steuerlichem Gebiete
— Drucksache 12/1241 —
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß (federführend)

Auswärtiger Ausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 1992 (ERP-Wirtschaftsplangesetz 1992)

— Drucksache 12/1240 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft (federführend)

Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Fremdenverkehr
Haushaltsausschuß
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 28. Januar 1986 zwischen der Bundesrepublik



Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Deutschland und der Gabunischen Republik über den Luftverkehr
— Drucksache 12/1258 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr (federführend) Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Verträgen vom 14. Dezember 1989 des Weltpostvereins
— Drucksache 12/1261 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Post und Telekommunikation
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung eines Bundesgesundheitsamtes
— Drucksache 12/1259 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit (federführend) Ausschuß für Wirtschaft
f) Beratung der Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof Bericht des Bundesrechnungshofes gemäß § 99 BHO über Vorsteuererstattungen bei der Gründung von Familienpersonengesellschaften in der Land- und Forstwirtschaft
— Drucksache 12/1040 —
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß (federführend)

Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Haushaltsausschuß
11. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes, des Strafgesetzbuches und anderer Gesetze
— Drucksache 12/1202 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Innenausschuß
Rechtsausschuß
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Findet auch das Ihre Zustimmung? — Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 4 a bis c auf :
a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 17. Juni 1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit
— Drucksachen 12/1103, 12/1131, 12/1283 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuß)

— Drucksache 12/1307 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Christian Schmidt (Fürth) Markus Meckel
Ulrich Irmer

(Erste Beratung 39. und 41. Sitzung)

b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 14. November 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenzen
— Drucksachen 12/1104, 12/1132, 12/1235 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuß)

— Drucksache 12/1308 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Christian Schmidt (Fürth) Markus Meckel
Ulrich Irmer

(Erste Beratung 39. und 41. Sitzung)

c) Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuß)

zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Verträge zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze sowie über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit
zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Verträge zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze sowie über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit
zu dem Entschließungsantrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN
zur Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung am 6. September 1991 zu den deutschpolnischen Verträgen
— Drucksachen 12/1105, 12/1107, 12/1119, 12/1317 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Christian Schmidt (Fürth) Markus Meckel
Ulrich Irmer
Zu dieser Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses ist ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP angekündigt.
Zu den Verträgen mit der Republik Polen liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Nach der interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch.
Ich rufe als ersten Redner den Abgeordneten Schmidt (Fürth) auf.




Christian Schmidt (CSU):
Rede ID: ID1205000100
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt dem Deutschen Bundestag, beiden Gesetzentwürfen zuzustimmen. Darüber hinaus empfiehlt er — die entsprechenden Berichte liegen Ihnen vor — , dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zuzustimmen, die Anträge der SPD und der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE abzulehnen.
Der heutige Abschluß der parlamentarischen Beratungen der Gesetze zu dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze und zu dem Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit schließt eine Phase intensiver Verhandlungen in einer Zeit fundamentalen politischen Wandels ab. Es bedarf auch heute der Feststellung, daß die zur Ratifizierung anstehenden Verträge ohne den Zusammenbruch des kommunistisch-stalinistischen Unterdrückungssystems in den Staaten des Ostblocks nicht denkbar gewesen wären. Erst diese Tatsache und das Entstehen frei demokratisch gewählter Regierungen und Volksvertretungen hat uns Deutschen die Möglichkeit gegeben, geschichtliche Hypotheken abzulösen.
Die am schwersten lastende Hypothek war sicher die deutsche Teilung. Es war Verfassungsauftrag deutscher Politik, sich dem Gebot der Wiedervereinigung zu stellen. In den letzten Jahren wurde dieser bindende Verfassungsauftrag von links bedauerlicherweise immer mehr in Frage gestellt.

(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: So ist es! — Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Von Herrn Duve zum Beispiel! — Widerspruch bei der SPD)

— Wenn ich z. B. höre, was Herr Lafontaine mit Herrn Falin besprochen haben soll, dann gibt das zu erheblichem Erstaunen und zu der Frage Anlaß, ob dieses Verfassungsgebot von Herrn Lafontaine wirklich ernst genommen worden ist.

(Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Natürlich nicht! — Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Von dem sicher nicht! — Zurufe von der SPD)

Hiermit hängen die heute zur Abstimmung stehenden Verträge eng zusammen. Es gilt, mit den für die Zukunft des gesamten Europas so wichtigen deutschpolnischen Beziehungen ein Vertragswerk zu ratifizieren, das sowohl von der Vergangenheit als auch von der Zukunft handelt. Wer die Vergangenheit verdrängt, kann die Zukunft nicht gewinnen.
Um so wichtiger ist es, daß beide vertragschließenden Seiten die vorliegenden Verträge, eingedenk der Abschnitte der gewalttätigen Vergangenheit wie auch der Abschnitte positiven friedlichen Zusammenlebens und Zusammenwirkens, geschlossen haben.
Der dunkle Abschnitt europäischer Geschichte, der durch das schwere Leid gekennzeichnet ist, das Krieg und Vertreibung mit sich gebracht haben, führt um so mehr zu einer Verpflichtung beider Seiten, sich in den Dienst des Friedens und der Freiheit zu stellen. Friede und Freiheit ohne Recht gibt es nicht. Deswegen waren und sind beide Seiten verpflichtet, in dem ihnen möglichen Handlungsrahmen dem Recht zur Geltung zu verhelfen. Mit einem kommunistischen totalitären Regime wäre dies nicht möglich gewesen.
Grundlage des friedlichen Zusammenlebens in Europa ist die Unverletzlichkeit der Grenzen. Die Neugestaltung des Verhältnisses unserer Völker in der Mitte Europas geht deshalb von der unumgänglichen, aber für viele Deutsche, insbesondere Heimatvertriebene, schmerzlichen Erkenntnis aus, daß die bestehende deutsch-polnische Grenze endgültig ist.
Dies ist zitiert aus dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP zu den zur Beratung stehenden Verträgen.
Lassen Sie mich bei dieser Frage einen Augenblick verweilen. Freiherr von und zu Guttenberg hat in seiner Rede in diesem Hohen Haus am 27. Mai 1970 gesagt — ich zitiere mit Genehmigung der Präsidentin —:
Wir sollten auch keinen Augenblick vergessen, daß unter dieser Chiffre der Oder-Neiße mehr und anderes verstanden werden muß als eine bloße Grenzfrage, nämlich vor allem verletztes Menschenrecht.
Dieses Empfinden im Jahr 1970 gilt besonders bei den betroffenen Heimatvertriebenen auch heute weiter. Ich verstehe dies so, daß die Gesamtheit der Rechtssituation der Schlesier, Pommern und Ostpreußen, die ihre Heimat verlassen haben, und derer, die in der Heimat bleiben konnten, als Gefüge gesehen werden muß, das nicht auf die bloße Frage des Verlaufs von Grenzen reduziert werden kann.
Es ist deswegen sehr richtig und begrüßenswert, daß der Bundeskanzler die Ratifizierung des Grenzvertrags in den Zusammenhang mit dem Freundschafts- und Nachbarschaftsvertrag gestellt hat. Ihm gebührt hierfür nochmals Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Grenzbestätigung geschieht in Übereinstimmung mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag, der uns Deutschen unsere staatliche Einheit wiedergegeben und uns dabei nicht erspart hat, auch einer endgültigen Bestätigung der deutsch-polnischen Grenze zuzustimmen. Es hat uns auch keiner in dem Ansinnen unterstützt, diese völkerrechtlich offene Frage noch einmal zu verhandeln.
Eine gewisse Erleichterung verschaffen hier der Wunsch und auch der Wille, den trennenden Charakter der Grenzen in Europa verschwinden zu lassen und über sie Brücken der Verständigung, der Partnerschaft, des wirtschaftlichen Austauschs zu schlagen. Mag der Schmerz, die alte Heimat unter kommunistischer Knute gesehen zu haben, besonders schwer gewogen haben, so meine ich doch, daß der Aufbruch in Europa zu neuen demokratischen Ufern der Zusammenarbeit dem Grenzbestätigungsvertrag auch ein Stück der Härte nimmt, die mancher empfinden mag.
Ich habe Verständnis dafür, daß einige Kollegen aus unserer Fraktion aus persönlicher oder familiärer Betroffenheit oder grundsätzlichen Erwägungen den notwendigen Schritt der Zustimmung zu diesem Vertrag nicht mitvollziehen können. Ich darf bei dieser



Christian Schmidt (Fürth)

Gelegenheit festhalten, daß sich alle Kollegen in unserer Fraktion, in der CDU und der CSU, die Entscheidung hierüber sicher nicht leicht gemacht haben.

(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Der Respekt vor der persönlichen Entscheidung eines jeden Kollegen in dieser Frage verbietet es, die Nichtzustimmung zu kritisieren, jedoch weiß ich von den Kollegen, daß diese bereit sind, eine Mehrheitsentscheidung des Bundestags politisch mitzutragen. Erfreulicherweise will ein Großteil dieser Kollegen dem zweiten Teil des Vertragswerks, dem Nachbarschafts- und Freundschaftsvertrag, zustimmen.
Dieser Nachbarschafts- und Freundschaftsvertrag schafft die Basis für eine gute Entwicklung in der Zukunft. An dieser Stelle appelliere ich an alle Bürgerinnen und Bürger in beiden Staaten, sich dem deutsch-polnischen Versöhnungswerk und auch der Stärkung der Beziehungen zwischen den beiden Ländern engagiert zu öffnen. Gerade auf die Heimatvertriebenen und ihre Kenntnis von Kultur und Land und auf die Minderheiten mit ihrer Kenntnis und ihren Erfahrungen des Zusammenlebens verschiedener Nationen kommt es hierbei an.
Das Vertragswerk, der Nachbarschafts- und Freundschaftsvertrag und die begleitenden Briefe sowie die heute zu verabschiedende Erklärung des Deutschen Bundestags, die durch die Notifizierung bei der polnischen Regierung völkerrechtlichen Charakter erhält, enthalten die im heutigen Rahmen möglichen Ansätze für eine positive Zukunftsgestaltung.
Das demokratische und freie Polen will nach Europa. Wir unterstützen diesen Wunsch, weil Polen zu Europa gehört — wie die CSFR, wie Ungarn, aber auch wie Spanien und Frankreich. Wir begleiten Polen gerne auf dem Weg nach Europa. Die im Freundschaftsvertrag vereinbarte Zusammenarbeit gibt aber auch Gelegenheit, darzustellen, daß sich ein europäischer Staat im ausgehenden 20. Jahrhundert nicht wieder auf absolute nationale Politik zurückziehen kann, sondern die wirtschaftliche und politische Zukunft unseres Kontinents im begrenzten Souveränitätsverzicht und in der internationalen Kooperation liegt.
Mit Genugtuung haben wir die Erklärung des polnischen Außenministers Skubiszewski in seiner Rede vor der UN-Generalversammlung gehört, in der er die Überzeugung äußert, daß die ursprünglich gegen Deutschland gerichtete Feindstaatenklausel der UN-Charta aus dieser entfernt und dorthin geschafft werden sollte, wo sie hingehört, d. h. in die Geschichte.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Von der Entwicklung hin zu engeren europäischen Beziehungen erwartet die CDU/CSU auch die Möglichkeit, solche Fragen zu regeln, die in diesem Vertrag noch nicht in ihrer vollen Gesamtheit erfaßt worden sind. Dies betrifft beispielsweise die Möglichkeit deutscher Bürger, sich in Polen niederzulassen, insbesondere einschließlich derer, die ihre Heimat nach Kriegsende verlassen mußten und dorthin zurückkehren wollen. Deutsche, die als Europäer in einem anderen europäischen Land, in Polen, bereit sind, auf diese
Weise zur wirtschaftlichen Entwicklung dieses Landes beizutragen, sollen diese Chance erhalten. — Übrigens sind die Vermögensfragen von diesem Vertragswerk ausgeklammert worden.
Andrzej Wajda, polnischer Filmregisseur, hat dies vor einiger Zeit so formuliert:

(Hans Koschnick [SPD]: Er ist Mitglied des Parlaments, Senator ist er!)

— Das gibt dieser Aussage noch mehr Gewicht.
Ich glaube, ohne Grenzen anzutasten, lassen sich Verhältnisse schaffen, in denen Menschen leben möchten, wo sie möchten. Die Deutschen eröffnen eine Universität in Breslau und die Polen eine in Wilna, warum nicht?
Dies ist die Perspektive der zukünftigen deutsch-polnischen Beziehungen, die nicht auf Ausgrenzung setzt, sondern auf Zusammenarbeit, Integration und Freizügigkeit.
Überhaupt ist der Minderheitenschutz, der in diesem Vertrag völkerrechtlich verankert ist, ein entscheidender Fortschritt nicht nur für die deutsch-polnischen Beziehungen, sondern auch für Gesamteuropa. Der Freundschaftsvertrag wäre in dieser Form vor vier Jahren noch undenkbar gewesen.
Betrachtet man die lange Wegstrecke, die bis zu diesem Vertrag zurückzulegen war, so kann er in seiner Bedeutung erst richtig gewürdigt werden. Nichts ist so gut, daß es nicht noch besser gemacht werden könnte. Ein sich verbessernder und verfestigender Minderheitenschutz auf europäischer Ebene im Rahmen der KSZE und des Europarats muß auch — hoffentlich nicht nur — der deutschen Minderheit in Polen zugute kommen. Dies ist meiner Fraktion ein besonderes Anliegen.
Die im Vertrag vereinbarte Ausweitung und Diversifizierung der wirtschaftlichen Beziehungen wird auch dazu beitragen, daß sich der Ostteil und der Westteil Europas, dessen wirtschaftliche Scheidelinie auch durch die deutsch-polnische Grenze gebildet wird, mehr und mehr zusammenfügen. Dabei dürfen wir insbesondere in Fragen der Errichtung einer Sozialen Marktwirtschaft, einer mittelständischen Unternehmensstruktur und guter Aus- und Weiterbildung von Fach- und Führungskräften unsere Unterstützung in der Tat nicht versagen.
Polen muß und wird mit uns gemeinsam den Weg in die europäische Marktwirtschaft gehen. Die Zusammenarbeit von Regionen in grenznahen Gebieten ist ein Bereich, in dem sich wirtschaftliche Kooperationen am ehesten manifestieren können und in dem sozusagen der Geist des Vertrages zum Greifen nahe ausgefüllt werden kann. Die Sorge um den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen muß in ganz Europa geteilt werden und hat deswegen berechtigterweise in diesem Vertrag auch einen guten Platz. Im übrigen gilt es gerade hier, sozialistische Erblasten abzubauen.
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Die CDU/ CSU-Fraktion begrüßt es deshalb nachhaltig, daß der kulturellen Zusammenarbeit, der Erforschung der gemeinsamen wechselvollen Geschichte — der vorbehaltlosen Erforschung der gemeinsamen Ge-



Christian Schmidt (Fürth)

schichte — , der Denkmalpflege und auch der Gräberpflege breiter Raum gewidmet wird. Wenn damit ein Beitrag geschaffen werden kann, eine Epoche friedlichen Zusammenlebens zu schaffen, dann hat dies bereits einen Wert an sich.
Nicht vergessen werden darf die außerordentlich wichtige Einbeziehung der Jugend in das Vertragswerk über die Errichtung eines deutsch-polnischen Jugendwerks. Ich freue mich darüber besonders, weil mir selbst seit meiner Zeit als Vorsitzender der Jungen Union in Mittelfranken an solch einem deutsch-polnischen Jugendwerk gelegen ist.

(Beifall des Abg. Reinhard Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU])

Die Hilfsaktionen, die wir — wie auch andere damals — im Jahre 1981/82 nach Polen gestartet haben, haben das Verständnis für die Notwendigkeit der Begegnung und Aussöhnung vertieft. Ich habe gerade noch mit dem Vorsitzenden der schlesischen Jugend sprechen können und freue mich, daß die Bereitschaft der Vertriebenenjugend besteht, sich gerade hier einzubringen.
Die gestern beschlossene Errichtung einer Stiftung „Deutsch-polnische Aussöhnung" als abschließende humanitäre Geste setzt in anderer Form ein Zeichen für den christlichen Charakter des Geistes der Beziehungen der Zukunft. Dieser Geist verlangt danach, wenigstens einen kleinen Teil der gegenseitigen Belastungen zu vermindern, von denen viele individuelle Schicksale polnischer und deutscher Menschen gekennzeichnet sind.
Dieser Vertrag erfüllt nicht alle Erwartungen, die in ihn gesetzt worden sind; aber er schafft Hoffnungen, und er schafft Raum für eine historische Verbesserung der Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten. Jean Monnet, der große Europäer, hat einmal in ganz anderem Zusammenhang gesagt: „Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Ich weiß nur, daß es anders werden muß, wenn es besser werden soll."
Ich meine, daß in den letzten beiden Jahren im deutsch-polnischen Verhältnis so vieles anders geworden ist, daß die Hoffnung auf eine bessere Zukunft gerechtfertigt ist.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1205000200
Als nächster spricht der Abgeordnete Markus Meckel.

Markus Meckel (SPD):
Rede ID: ID1205000300
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In wenigen Tagen werden es 20 Jahre, daß Willy Brandt den Friedensnobelpreis auch dafür erhielt, daß er den Versöhnungsprozeß zwischen Deutschland und Polen begonnen hat. Ich möchte ihm, der heute im Krankenhaus liegt, wünschen, daß er bald genesen wird und wieder unter uns ist.

(Beifall im ganzen Hause)

An diesem denkwürdigen Tag danke ich ihm und
allen, die damals daran gearbeitet haben, daß sie trotz
der vielfältigen Widerstände diesen Weg beschritten
haben. Heute sind wir auf diesem Wege an ein wesentliches Ziel gekommen.
Ohne diesen schwierigen Beginn damals wäre das nicht möglich gewesen, was heute von den meisten unter uns als ein großes Ereignis für Polen und Deutschland angesehen wird. Die Schwierigkeit damals lag nicht nur in den großen Widerständen im eigenen Lande, sondern sie war auch darin begründet, daß man damals eben nicht mit einer demokratischen Regierung in Polen verhandeln konnte, sondern mit einer stalinistischen reden mußte.
Es galt damals, den Prozeß der Versöhnung einzuleiten mit einem Volk, dem gegenüber wir Deutsche durch den Überfall auf sein Land und durch eine blindwütige Vernichtungsmaschinerie unsägliche Schuld auf uns geladen haben und das dann unter einem diktatorischen System wieder schwer gelitten hat. Und doch konnte man eben nur mit dieser Regierung verhandeln.
Willy Brandt hat damals mit dem Kniefall in Warschau ganz unmittelbar einen Weg gefunden, nicht nur einer Regierung, sondern dem ganzen polnischen Volk die schuldhafte Vergangenheit des eigenen Volkes so zum Ausdruck zu bringen, daß Versöhnung und Vergebung möglich werden und sich Zukunft neu eröffnet.
Es galt, das Zusammenleben so zu gestalten, daß Gewalt ausgeschlossen und Begegnung möglich wird. Vertreibungen sollte und werde es nicht wieder geben. — Diese Zusage war von zentraler Bedeutung und dringend notwendig. In Oslo hat Willy Brandt damals gesagt: „Da, wo rettende Zusammenarbeit ist, da ist Friede, da stellt auch Vertrauen mit der Zeit sich ein."
Die Möglichkeit zur Zusammenarbeit galt es zu eröffnen, die Möglichkeit der Begegnung der Menschen. Vertrauen ist dann auch wirklich langsam gewachsen.
Der Weg war lang bis heute, und doch hatte er bei allen Belastungen durch eine kleine lernunwillige Minderheit schon vor Jahren zum Ergebnis, daß das Verhältnis Polens zur alten Bundesrepublik besser war als das zur DDR, trotz aller öffentlichen Bekenntnisse. Von Gerd Poppe und mir ist hier ja des öfteren beschrieben worden, wie man in der DDR versucht hat, Kontakte nach Polen zu verhindern, um — wenn man es so formulieren will — den Bazillus der Solidarität möglichst draußen zu halten. Ein Freund von mir, Eckhard Hübener, saß damals ein Jahr dafür im Gefängnis, daß er Material von Solidarnosc in die DDR bringen wollte.
Gewiß, in den Kontakten, die in den Jahren des visafreien Verkehrs zwischen Polen und der DDR und auch später noch entstanden sind, ist vieles zu bewahren und neu zu gestalten. Doch war die Organisation dieser Kontakte schematisch und von Ideologie geprägt, wie fast alles in den beiden Gesellschaften dieser Jahre.
Heute aber begegnen sich an Oder und Neiße, der endgültigen deutsch-polnischen Grenze, zwei demokratische Staaten. Dabei ist beides wichtig: die Sicherheit der Grenze und die Demokratie. Nur wo Grenzen



Markus Meckel
sicher und unbestritten sind, kann sich an ihnen wirkliche Nachbarschaft entwickeln. Nur da, wo sie feststehen, werden sie auch durchlässig. Wir haben das im Grunde schon in den letzten zwei Jahren erlebt. Wieviel konnte sich — nicht nur im Grenzraum — in den letzten eineinhalb Jahren an neuen Beziehungen entwickeln, seit in Polen unumstößlich klar ist, daß das vereinte Deutschland diese Grenze auf Dauer anerkennt!
Das andere ist: Ich glaube, daß wirklich gute Nachbarschaft, die nicht nur eine der Regierungen, sondern eine der Menschen ist, nur zwischen demokratischen Staaten wachsen und gedeihen kann.
Mit den heute zu ratifizierenden Verträgen wird eine lange belastete Geschichte zwischen Deutschland und Polen abgeschlossen. Der polnische Außenminister Skubiszewski hat von einer neuen Epoche gesprochen, die auf der Grundlage dieser Verträge beginnt. Ich bin überzeugt, daß er damit recht hat. Jedenfalls beschreibt er damit die Herausforderung, vor der wir stehen, und die Chance, die wir haben.
Der Weg in die gemeinsame Zukunft in Europa erfordert aber für die notwendige Zusammenarbeit auf allen Ebenen, daß wir uns gegenseitig neu kennenlernen — und in diesem Umgang auch uns selbst. In weiten Teilen der Bevölkerung unserer Länder gibt es noch ein stereotypes Bild vom jeweils anderen, vom Polen bzw. vom Deutschen. Daran werden wir arbeiten müssen — durch vielfältige Begegnungen und durch die gemeinsame Beschäftigung mit unserer Geschichte.
Diese Geschichte hat auch lange gute Zeiten, was oft vergessen wird, so vom 14. bis 18. Jahrhundert. Das ist aber lange her. Die nähere Vergangenheit ist von Schuld geprägt und da immer zuerst von deutscher Schuld, aber eben nicht nur deutscher. Das Unrecht, das von Deutschen ausging, ist zum Teil auf Deutsche zurückgefallen. Wir müssen es lernen, von Schuld zu reden, ohne sie aufrechnen zu wollen, aber Zusammenhänge klar zu benennen.
Wenn sich Deutsche und Polen begegnen, können sie von ihrer Geschichte nicht absehen. Die Belastungen dieser Geschichte werden aber nur dann zur wirklichen Vergangenheit, wenn wir es vermögen sie gemeinsam zum Thema zu machen. Wir stehen damit noch ziemlich am Anfang.
Wer selbst schweres Unrecht erfahren hat, neigt dann oft dazu, das eigene Unrecht zu vergessen oder zu unterschätzen, was anderen angetan wurde. Jan Jozef Lipski, der vor kurzem gestorben ist und der für die Demokratie in Polen gekämpft hat wie für die Versöhnung mit Deutschland, hat vor einem Jahr geschrieben:
Die Opfer werden gleichgültig gegenüber dem Unrecht, das ihren früheren Peinigern widerfährt. Wer größeres Unrecht erlitten hat, der wird unfähig, ein geringeres Unrecht gegenüber den Menschen, die er für die Verursacher des ihm zugefügten Unrechts hält, einzugestehen.
Er sagt dies im Hinblick auf die Vertreibung der Deutschen aus Polen, und er sagt es als Pole. Doch gilt dies grundsätzlicher und beschreibt eine zentrale Aufgabe. Wer nämlich die eigene Schuld nicht verdrängt, sondern ausspricht, löst dem anderen die Zunge, auch von sich zu reden. Hier ist zwischen Deutschen und Polen viel zu tun und ich muß sagen: besonders im Osten Deutschlands.
In der DDR gehörte es zur Ideologie, daß wir Deutschen in der DDR zu den Siegern des Zweiten Weltkriegs gehörten; denn da hatte mit der Sowjetunion der Sozialismus über den Militarismus gebärenden Kapitalismus gesiegt, und wir waren dann eben auf der guten Seite. Da wurde jede Übernahme von Verantwortung aus der Geschichte abgelehnt. So konnten die Deutschen in der DDR nie von ihrer Schuld gegenüber anderen Völkern reden. Sie wurden nie damit konfrontiert, und so ließ sie sich gut verdrängen. Ebensowenig aber konnte von dem Unrecht gesprochen werden, das man selbst zu Kriegsende erfahren hatte: Vergewaltigungen oder die Vertreibung aus der Heimat.
So fehlt uns im Osten das jahrzehntelange Gespräch, das im Westen Deutschlands geführt wurde; natürlich auch dort mit vielen Verdrängungen und dem Versuch des gegenseitigen Zurechnens. Nur die evangelische Kirche und besonders die Aktion Sühnezeichen haben in der DDR versucht, dem entgegenzusteuern, aber natürlich nur wenige Menschen in der Gesellschaft erreicht. Das Fehlen dieses Gesprächs, des Versuchs der Aufarbeitung dieser Geschichte, belastet uns heute sehr. Ich denke, daß manches, das wir zur Zeit bei uns an Intoleranz und an Ausländerfeindlichkeit, ja an Pogromstimmung erleben, zu einem Teil auch damit zu tun hat; doch dazu komme ich noch.
Noch fällt es nicht nur Deutschen, sondern auch Polen schwer, die eigene ganze Geschichte zu sehen und auch anzunehmen. Doch ich bin überzeugt, daß hier gemeinsame Bemühungen weit führen können.
Deshalb bin ich froh, daß es in den letzten Tagen nun endlich so weit gekommen ist, daß die Bundesregierung die lange geforderte Stiftung für die Entschädigungszahlungen an polnische Zwangsarbeiter in Hitlerdeutschland vereinbart hat. Die zugesagte Summe ist nicht gerade hoch und bleibt unter dem, was eigentlich gebraucht würde, um nach so vielen Jahren eine halbwegs angemessene Summe für den einzelnen zu ergeben. Wir möchten die deutschen Firmen, die aus der Zwangsarbeit damals wirtschaftliche Vorteile gezogen haben, aufrufen, sich in angemessener Weise an dieser Stiftung zu beteiligen.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE sowie des Abg. Ulrich Irmer [FDP])

Wir kritisieren, daß die Bundesregierung es unterlassen hat, einem einstimmigen Beschluß dieses Hauses zu folgen und mit den Firmen Gespräche aufzunehmen, um dies zu tun und dies in diese Lösung schon einzubeziehen.
Für Polen ist der Grenzvertrag, den wir heute ratifizieren, eine wichtige Grundlage für die Annahme der eigenen Geschichte. Je klarer von uns anerkannt wird, daß es jenseits von Oder und Neiße heute keine deutschen Länder mehr gibt, daß es eben wirklich Polen ist, um so schneller wird Polen frei werden, auch davon zu reden, daß ein großer Teil des heutigen Po-



Markus Meckel
lens eine lange deutsche Geschichte hat, und diese in eigenen Büchern und Museen anerkennen und darstellen.
Bei meinem letzten Besuch in Stettin überraschte uns der Wojwode Talasiewicz mit einem kleinen Geschenk. Es war ein Heft über die Geschichte Stettins, das auf deutsch und polnisch erschienen ist und das auch die deutsche Geschichte dieser Stadt unverstellt darstellt. Es enthielt ein Verzeichnis aller polnischen Straßennamen und daneben auch die deutschen Straßennamen aus der Zeit vor 1945. Wir sehen, da geschieht schon mehr, als viele wahrnehmen, wofür wir dankbar sein können.
Vielfach ist schon darauf verwiesen worden, daß die im Vertrag für gute Nachbarschaft enthaltenen Regelungen zur deutschen Minderheit von uns mit Freude begrüßt worden sind. Die deutsche Minderheit hat — wie auch die Polen — schwer unter der stalinistischen Diktatur der letzten 45 Jahre gelitten. Ihre Angehörigen hatten aber auch noch das zusätzliche Leid zu tragen, als Deutsche verfemt zu werden und nur unter größten Schwierigkeiten ihre nationale Identität wirklich leben zu können. Seit Polen demokratisch ist, sind sie als Minderheit anerkannt. Die zwei Jahre Demokratie haben ihnen schon sehr viel gebracht.
Mit der völkerrechtlich verbindlichen Fixierung von Minderheitenrechten, wie sie auf der KSZE-Konferenz in Kopenhagen beschrieben worden sind, hat Polen ein Stück europäischer Verantwortung übernommen. Wir alle wissen, wie wichtig es für die künftige Entwicklung Europas ist, daß Minderheitenrechte klar fixiert und anerkannt sind.
Wir deutschen Sozialdemokraten stimmen für die Fixierung möglichst weitgehender Minderheitenrechte durch eine Minderheitencharta des Europarates. Wir treten dafür ein, daß dort auch das Recht auf die öffentliche Nutzung der deutschen bzw. der jeweiligen topographischen Bezeichnungen festgeschrieben wird. Das wird bei allen Minderheiten in Ost- und Westeuropa dazu beitragen, daß sie den Staat, in dem sie leben, als den eigenen anerkennen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Polen ist sich sehr schnell bewußt geworden, daß für die eigene Minderheit in anderen Nachbarländern nur das zu fordern möglich ist, was man auch den Minderheiten im eigenen Land zu gewähren bereit ist. Weil heute vielen Polen ihre Landsleute in Litauen und in der Ukraine stärker ins Blickfeld kommen, lernen sie auch zunehmend, was es heißt, als Minderheit in einem anderen Staat zu leben. Diesen Prozeß des Sich-Einfühlens in die Lebenssituation anderer Menschen sollten wir bei anderen begrüßen und — wo möglich — fördern, aber eben auch für uns selbst anstreben.
Daß wir das in Deutschland nicht weniger nötig haben, zeigen die schrecklichen Pogrome gegen Ausländer in diesen Wochen. In Polen, in der Tschechoslowakei und im übrigen Ausland sieht man sehr genau hin, was bei uns da geschieht. Manche Befürchtungen kommen wieder hoch, die nicht wenige unserer Nachbarn vor der deutschen Vereinigung hatten, die inzwischen aber zurückgegangen waren.
Doch steht hier nicht nur unser Bild im Ausland auf dem Spiel, obwohl das wichtig genug ist. Ich denke aber, daß es neben der bedrängenden Perspektivlosigkeit von Jugendlichen im Osten Deutschlands und unverarbeiteten Vorurteilen aus der Geschichte eine wichtige Rolle spielt, daß wir Deutschen große Schwierigkeiten mit uns selbst haben, eben einfach und selbstverständlich Deutsche zu sein, ohne die belastete Geschichte zu verdrängen. Gerade Jugendliche, die ihre deutsche Identität suchen, versuchen es deshalb auf eine uns erschreckende nationalistische Weise. Deshalb ist beides nötig: sowohl das Gespräch mit diesen Jugendlichen über uns selbst, unsere Geschichte und Verantwortung gegenüber anderen Völkern, als eben auch die starke rechtsstaatliche Hand, die Ausländer in Deutschland schützt, wo nötig, mit dem gleichen Aufwand, wie man z. B. Wackersdorf und die Startbahn West polizeilich geschützt hat.
Genauso wichtig aber ist ein gesellschaftliches Klima, das Ausländer in Würde unter uns leben läßt. Was hier manchmal an Instrumentalisierung für die eigenen politischen Vorstellungen in der Asyldebatte zu hören war, halte ich für äußerst bedenklich.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Besonders erschreckend war in den letzten Wochen, daß ganz normale Menschen den Gewalttaten gegen Ausländer oft nicht nur tatenlos, sondern auch zustimmend zusahen. Das erinnert uns an schlimme deutsche Zeiten. Wir müssen alles dafür tun, gemeinsam und auf allen Ebenen als Demokraten über alle Parteigrenzen hinweg wirklich für Menschenrechte und Menschenwürde aufzustehen, wo Menschen um ihrer Hautfarbe oder Fremdheit willen angegriffen werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der PDS/Linke Liste)

Wir wissen, daß es Ausländerhaß nicht nur in Deutschland gibt; doch wir sind für den in unserem Land verantwortlich. Inzwischen gibt es Skinheads auch in Polen und der Tschechoslowakei. Die Slogans sind, entsprechend verändert, die gleichen. Deshalb brauchen wir auch das gemeinsame Handeln und Eintreten für Recht, Toleranz und Demokratie über Ländergrenzen hinweg. Hier sollten wir nach möglichen Aktionsformen suchen.
Deutsche und Polen tragen mit ihren Nachbarn gemeinsam die Verantwortung für die Entwicklung in Mitteleuropa. Im Guten wie im Bösen werden wir diese Gemeinsamkeit tragen dürfen und müssen, d. h. wir sind aufeinander angewiesen. Das gilt wirtschaftlich für Polens Weg in die Europäische Gemeinschaft; dazu wird Christoph Zöpel nachher einiges sagen. Aber es steht auch in der Verantwortung, die wir für die Demokratie in anderen Ländern tragen.
Unser direkter Nachbar Polen ebenso wie die ferneren Nachbarn warten auf unsere Hilfe beim Aufbau der Demokratie. Wir müssen darauf achten, daß diese Länder einen stabilen Weg der Demokratie gehen können, auch beim Umbau der Wirtschaft, den sie vor sich haben und der nicht leicht ist.
Der Kontakt des Deutschen Bundestages zum neuen Sejm, der in zehn Tagen gewählt wird, sollte



Markus Meckel
sehr eng sein, aber auch derjenige der westeuropäischen Institutionen zum Sejm und zu Polen überhaupt. Wir brauchen das gemeinsame Gespräch mit den osteuropäischen Nachbarn über die Sicherheit in Mitteleuropa. Man sollte nicht glauben, dies in Westeuropa allein tun zu können.
Bei uns und auch in Polen und Ostmitteleuropa ist oft zu hören, daß es gelte, den Weg nach Europa zurückzufinden. Was damit gemeint ist, unterstütze ich vorbehaltlos. Doch sollten wir daran denken, daß Polen Europa ist und nicht erst dorthin zurück muß. Man denke nur daran, daß die erste polnische Verfassung, die jetzt 200 Jahre alt ist, die erste geschriebene Verfassung Europas war, in der für uns konstitutive Bestimmungen wie die Gewaltenteilung das erste Mal festgeschrieben wurden.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns keine Anstrengung scheuen, endlich in den Fragen voranzukommen, die wir gemeinsam im Ausfüllen dieser Verträge beantworten müssen!
Ich möchte zum Schluß mein Bedauern äußern, daß es nicht gelungen ist, zu einem gemeinsamen Entschließungsantrag zu kommen. Wir haben uns redlich darum bemüht. Doch wenn an keiner Stelle eine Bereitschaft da ist, eine Formulierung zu ändern und z. B. auch anzuerkennen, was der Bundeskanzler selber hier schon erklärt hat, nämlich die Kontinuität, in der die Verträge seit der sozialliberalen Ostpolitik stehen, so konnte dieser Versuch nur scheitern. Wir haben unseren Antrag noch einmal überarbeitet. Ich bin sicher, daß Sie ihn mit ehrlichem Herzen eigentlich nicht ablehnen können.
Aber was auch immer in der Abstimmung zu den Verträgen geschieht: Die Verträge selbst werden hier eine große Mehrheit finden. Es liegt in unserer gemeinsamen Verantwortung, sie dann nicht beiseite zu legen, sondern sie mit aller Kraft mit Leben zu füllen, zum Wohle Deutschlands und Polens.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ CSU, der FDP und der PDS/Linke Liste)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1205000400
Das Wort hat der Abgeordnete Ulrich Irmer.

Ulrich Irmer (FDP):
Rede ID: ID1205000500
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Zwischen den beiden Verträgen, die heute bei uns und morgen im polnischen Sejm zur Ratifizierung anstehen, nämlich dem Vertrag über die Bestätigung der zwischen beiden Ländern bestehenden Grenze und dem Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit, besteht ein unlösbarer innerer Zusammenhang: Ohne die Anerkennung der Grenze hätte die Beziehung Deutschlands zu Polen nicht in Ordnung gebracht, nicht auf eine neue Grundlage gestellt werden können. Ohne die Anerkennung der Grenze wäre es auch nicht zur deutschen Einheit gekommen, denn niemand in der weiten Welt, auch nicht unsere westlichen Freunde und Verbündeten, hätte es akzeptiert, daß diese Grenze seitens Deutschlands nach wie vor in Frage gestellt worden wäre.
Ich verkenne nicht, daß die endgültige Anerkennung dieser Grenze insbesondere für diejenigen unserer Landsleute bitter und schmerzlich ist, die durch Vertreibung und Flucht ihre Heimat verloren haben. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal meinen Respekt vor der großen Mehrheit dieser besonders Betroffenen bezeugen, die bereit ist, diesen Weg mitzugehen, sich in das Unvermeidliche zu fügen, ihren Schmerz zu überwinden und damit einen eigenen, sehr wichtigen Beitrag dafür zu leisten, daß das Versöhnungswerk zwischen Deutschland und Polen wirklich gelingen kann.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die Verträge — das ist mit Recht gesagt worden — spiegeln auch die Kontinuität deutscher Politik seit Anfang der 70er Jahre wider. Es ist mit Recht gesagt worden, daß es ohne den Wegfall der sozialistischen Zwangsregime zu der Aussöhnung zwischen beiden Ländern nicht hätte kommen können. Aber dieser Wegfall der sozialistischen Zwangsregime kam ja nicht zufällig, sondern ist wesentlich gefördert worden durch die Politik der deutschen Bundesregierung seit 1969, die sich über die Vertragspolitik gegenüber Polen und der Tschechoslowakei und über den KSZE-Prozeß so nachhaltig dafür eingesetzt hat, daß es zur Aussöhnung und zur Verständigung mit den östlichen Nachbarn kommen konnte. An dieser Stelle gilt mein Dank insbesondere dem Bundesaußenminister, der in vorderster Reihe diese Politik verantwortet hat. Mein Dank gilt aber auch dem Bundeskanzler,

(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Sehr gut!)

der in der Regierung, die er führt, diese Politik übernommen und zu einem erfolgreichen Ende geführt hat.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, durch die Verträge soll zweierlei erreicht werden. Zum einen sollen Polen und Deutsche miteinander ausgesöhnt werden. Sie sollen einander näherkommen. Sie sollen eine gutnachbarschaftliche Kooperation beginnen. Dies ist in allen Bereichen sehr wichtig. Wenn es uns nicht gelingt, Polen bei der Überwindung seiner wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu helfen, dann wird es zu Massenfluchtbewegungen aus wirtschaftlichen Gründen von Osten nach Westen kommen. Dasselbe betrifft natürlich auch die anderen Länder östlich von uns, die schwer zu kämpfen haben, um mit dem unseligen Erbe der sozialistischen Mißwirtschaft fertig zu werden.
Da die Polen und wir Nachbarn sind, sind wir auch eine Schicksalsgemeinschaft, genauso wie Franzosen und Deutsche eine Schicksalsgemeinschaft sind. Das liegt an der Geographie. Es liegt aber auch an den gemeinsamen Problemen, die wir haben. Ich denke nur einmal an die Umweltbelastungen, die gemeinsam bewältigt werden müssen.
Polen und Deutsche sollen gute Nachbarn und gute Partner werden. Hierzu gehört aber ganz wesentlich — das ist der zweite Zweck auch dieser Verträge —, daß Polen an das übrige Europa herangeführt wird, daß ihm die Tür geöffnet wird zu den Institutionen, die wir in Westeuropa über die Jahrzehnte entwickelt



Ulrich Irmer
haben. Es wurde erwähnt, daß demnächst der Sejm neu gewählt wird. Damit ist die letzte Voraussetzung dafür erfüllt, daß Polen Mitglied des Europarates werden kann, wo es bisher nur Gaststatus hat. Wir freuen uns, daß dieser Schritt demnächst vollzogen werden kann.

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir meinen aber, daß es damit allein nicht sein Bewenden haben kann. Es wird ja über Verträge bezüglich der Assoziierung an die EG verhandelt. Das ist gut und richtig. Dort wird auch die Perspektive des späteren vollen Beitritts zur Europäischen Gemeinschaft eröffnet. Auch das ist richtig. Nur sollten wir uns keinen Illusionen hingeben. Dies wird noch etliche Jahre auf sich warten lassen, weil auch die wirtschaftliche Situation in Polen, in Ungarn, in der CSFR und in den anderen Ländern heute noch nicht so ist, daß diese Länder wirtschaftlich die Vollmitgliedschaft verkraften könnten. Man täte ihnen möglicherweise keinen Gefallen damit, wenn man etwas vorziehen würde, ehe die Zeit für eine Vollmitgliedschaft reif ist. Das heißt aber nicht, daß wir sie jetzt auf den SanktNimmerleins-Tag vertrösten dürften. Ganz im Gegenteil: Wir müssen da, wo es möglich ist, schon heute Schritte tun, um sie näher an unsere Institutionen heranzuführen.
Ich habe mit großer Freude zur Kenntnis genommen, daß am 2. Oktober die Außenminister Hans-Dietrich Genscher und James Baker in einer Erklärung zur Perspektive der künftigen NATO-Politik einen Weg gewiesen haben, wie man dies im Bereich der NATO tun kann. In der gemeinsamen Erklärung ist die Rede von einer Formalisierung der Beziehungen zu den Liaisonländern durch regelmäßige Treffen zwischen den 16 Mitgliedern und den Liaisonländern, womit die neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas gemeint sind. Hier ist die Rede davon, daß sie stärker integriert werden sollen. Wir werden in den nächsten Tagen im Rahmen der Nordatlantischen Versammlung Gelegenheit haben, diese Aspekte zu prüfen.
Ich meine aber — ich bitte die Bundesregierung, dies zu berücksichtigen — , daß auch die EG hier dringend gefordert ist und daß auf dem Gipfel in Maastricht darüber gesprochen werden sollte, wie denn die politische Einbindung dieser Länder besser gestaltet werden kann, als es bisher vorgesehen ist.

(Beifall des Abg. Markus Meckel [SPD])

Wir sollten uns nicht davor scheuen, etwa Überlegungen anzustellen, daß man diese Länder in die Europäische Politische Zusammenarbeit vorab mit einbezieht. Warum überlegt man sich nicht, ob nicht Vertreter dieser Länder etwa im Europäischen Parlament einen Gaststatus erhalten könnten? Hier ist unsere Phantasie gefragt; denn wir müssen einem Rechnung tragen: Diese Länder haben ein starkes Sicherheitsbedürfnis, sie haben ein starkes Bedürfnis, sich an uns und unsere Institutionen anzulehnen. Dies ist in der Krakauer Erklärung vom 6. Oktober dieses Jahres noch einmal ganz klar zum Ausdruck gebracht worden, wo die drei führenden Politiker — Ministerpräsident Antall, Präsident Havel und Präsident Walesa — eine gemeinsame Politik formuliert haben, die gar
keinen Zweifel daran zuläßt, daß wir gefordert sind, Verantwortung zu tragen, um dem Sicherheitsbedürfnis dieser Länder zu entsprechen.
Meine lieben Kollegen, im deutsch-polnischen Verhältnis geht es auch darum, Wunden der Vergangenheit zu heilen und Brücken zu schlagen. Ich begrüße deshalb außerordentlich, daß es nun zu der Einrichtung der Stiftung kommt, mit der zwar mehr symbolisch als im Sinne einer echten Wiedergutmachung, die ja gar nicht möglich ist, aber doch etwas getan wird, was dringend erforderlich ist, nämlich eine Geste gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus zu machen.
Ich greife das auf, was der Kollege Meckel gesagt hat. Es ist richtig, daß eine Versöhnung zwischen Völkern nur dann möglich ist, wenn ein Land auch im Inneren bereit ist, Fremden mitmenschlich zu begegnen. Ich glaube, daß wir uns alle bewußt machen müssen, daß die Aussöhnung mit Polen nur wird gelingen können, wenn wir auch im eigenen Lande zu einem ordentlichen Umgang mit unseren ausländischen Mitbürgern kommen.

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Wir selbst, liebe Kollegen, können sehr viel dazu beitragen — wir als Politiker, aber auch die Medien.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang sagen, daß ich es skandalös finde, in welche Untiefen sich unser Sprachgebrauch oft verirrt. Ich halte es für skandalös, daß ständig von Asylanten gesprochen wird. Das ist ein Kampfbegriff und nichts anderes.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir sollten von Asylbewerbern sprechen, von nichts anderem. Wir tragen, wenn wir diesem Sprachgebrauch anheimfallen, selbst dazu bei, daß die Stimmung bei den Rechtsradikalen, bei den Unbelehrbaren, bei den Unbesonnenen aufgeheizt wird. Ich glaube, wir als Politiker haben die große Aufgabe, hier den Versuch zu machen, ein Vorbild zu sein. Wir sollten mit der Sprache umgehen können und uns präzise ausdrücken.
Meine Damen und Herren, Ausländer sind Minderheiten. Ich möchte abschließend noch auf eines hinweisen, was weit über den deutsch-polnischen Vertrag hinausgeht: Wir haben in diesem Vertrag eine sehr gute, eine vorbildhafte Regelung über die Behandlung der Minderheiten im jeweils anderen Land finden können. Wir sollten nicht vergessen, daß die Regelung der Rechte von Minderheiten überall in Europa, vielleicht auf der ganzen Welt, der Schlüssel dazu ist, daß Probleme, wie wir sie jetzt in Jugoslawien haben, nicht auftreten können.
Noch etwas: Wir müssen heute die Grenze zwischen Polen und Deutschland anerkennen, weil Deutschland unter nationalsozialistischer Herrschaft den Versuch gemacht hat, Grenzen gewaltsam zu verschieben. Wir erleben einen derartigen Versuch heute erneut in Jugoslawien. Ich muß ganz klar sagen: Es darf kein Honorar dafür geben, daß der Versuch ge-



Ulrich Irmer
macht wird, Grenzen gewaltsam zu verschieben. Es darf kein Honorar dafür geben, daß der Versuch gemacht wird, Minderheiten gewaltsam zu unterdrükken.
Wenn wir in diesem Geist die Verträge heute ratifizieren, dann machen wir, glaube ich, einen guten Schritt voran und tragen mit dazu bei, daß der europäische Kontinent in Zukunft besser und in Frieden leben kann.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1205000600
Als nächster hat der Abgeordnete Hans Modrow das Wort.

Dr. Hans Modrow (PDS/LL):
Rede ID: ID1205000700
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Normalisierung der deutsch-polnischen Beziehungen und die Aussöhnung zwischen beiden Völkern sind eine wichtige außenpolitische und gesellschaftliche Aufgabe für die noch verbleibenden Jahre im zu Ende gehenden Jahrhundert.
Mit der Spaltung Deutschlands hat sich eine getrennte Nachkriegsgeschichte der beiden deutschen Staaten im Verhältnis zu unseren polnischen Nachbarn entwickelt. Die zur Ratifizierung vorliegenden Verträge schließen diese geschichtliche Etappe ab.
Die Aufgabe der deutsch-polnischen Versöhnung gewinnt damit eine neue historische Dimension. Sie hält auch künftig hohe Anforderungen für alle Beteiligten bereit. Ihnen werden wir gerecht, wenn sowohl die bisherigen Beiträge anerkannt werden als auch auf ihnen aufgebaut wird, auch wenn man sich ihnen kritisch stellen und sich mit ihnen auseinandersetzen muß.
Mit anderen Worten: Es geht nicht an, so zu tun, als würde erst diese Regierung das Werk der Aussöhnung beginnen. Es geht nicht an, wie es aus durchsichtigen politischen Gründen geschieht, andere Beiträge zu verunglimpfen, zumindest aber totzuschweigen. Das gilt für beide deutsche Staaten.
Es ist eine nicht zu leugnende Tatsache, daß die Außenpolitik der DDR einen Beitrag zu den deutschpolnischen Beziehungen geleistet hat, auch wenn er durchaus sehr differenziert zu beurteilen ist.
Es war ein historischer Augenblick, als Willy Brandt vor dem Ghetto-Denkmal in Warschau kniete und sich zu dem Schicksal beider Völker bekannte. Das polnische Volk ist nicht nur Opfer des faschistischen Überfalls. Es hat sich mutig gegen das faschistische Deutschland erhoben und in den Reihen der alliierten Armeen an der Zerschlagung des Hitler-Faschismus aktiv teilgenommen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)

Daß Gräber und Denkmäler für polnische Soldaten im östlichen Teil der Bundesrepublik gepflegt und geachtet werden, findet Achtung und Zustimmung bei unseren polnischen Nachbarn.
Auf der Grundlage der Veränderungen im Herbst 1989 habe ich seinerzeit, unterstützt von Vertretern der Regierung der nationalen Verantwortung der
DDR, gemeinsam mit Ministerpräsident Mazowiecki neue Ansätze für die staatlichen Beziehungen sowie die Zusammenarbeit und die Begegnung der Menschen geschaffen. Damit wurden auch Grundlagen für die Zusammenarbeit der demokratischen Kräfte in beiden Ländern für eine neue Kultur der Begegnung einschließlich der gemeinsamen Aufarbeitung der Geschichte gelegt. Normalität der zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen der DDR und Polen war nach schwierigen Ausgangsbedingungen in 40 Jahren entstanden und wurde von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen. Es wäre kurzsichtig, dies nicht zu beachten und aus der Geschichte streichen zu wollen.
Besondere Bedeutung kommt der Tatsache zu, daß bereits 1950 im Vertrag von Zgorzelec die deutschpolnische Grenze ein für allemal völkerrechtlich anerkannt wurde. Das bedeutete Stabilität und Berechenbarkeit auch in den heißesten Zeiten des Kalten Krieges für Europa. Diese endgültige Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze hatte schon damals mehr als symbolischen Wert. Wen wundert es, daß die Bundesregierung heute gern vergessen machen möchte, daß sie zur politischen Anerkennung der Grenze überhaupt erst bereit war, als dies zu einer außenpolitischen Bedingung für die deutsche Wiedervereinigung erhoben wurde. Bedingt durch den Kalten Krieg und die Verweigerung der Bundesrepublik, die Oder-Neiße-Grenze völkerrechtlich als Westgrenze Polens anzuerkennen, gab es lange Jahre nicht einmal diplomatische Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Polen.
Ich führe dies hier an, weil bis heute zwei Urteile des Bundesverfassungsgerichts gültig sind, die für die Bundesrepublik feststellen, daß mit dem Warschauer Vertrag keine völkerrechtliche Anerkennung der polnischen Westgrenze verbunden sei. Diese Grenzvorbehalte sind, ob wir das wahrhaben wollen oder nicht, friedensstörend und der deutsch-polnischen Aussöhnung abträglich. Sie müssen endgültig der Vergangenheit angehören. Eine Grenze verliert schließlich erst dann ihre trennende Bedeutung, wenn sie von beiden Seiten klar und uneingeschränkt akzeptiert wird.
Zu den bereits genannten Normalitäten zwischen der DDR und Polen gehörte — bei allen Einschränkungen und berechtigter Kritik, die es dabei vor allem für die 80er Jahre anzumerken gibt, wie das auch Herr Meckel unterstrichen hat — dennoch eine Fülle grenzüberschreitender persönlicher Beziehungen und Begegnungen. Sie gewannen mehr und mehr eine von staatlicher Zielstellung unabhängige Eigendynamik. Die Menschen in den deutsch-polnischen Grenzregionen waren und sind sich nicht fremd. Der intensive Austausch und die Zusammenarbeit auf vielen Gebieten des Geisteslebens, der Wissenschaft und der Kultur wurde von konkreten Menschen getragen und mit Leben erfüllt.
In unserem Urteil darüber sollten wir daher Pauschalierungen vermeiden, um neue Schemata, neue Dogmen auszuschließen. Nur so kann in den künftigen Beziehungen zwischen beiden Staaten alles Positive fortgeführt und Negatives verarbeitet bzw. überwunden werden. Versöhnung und Verständigung



Dr. Hans Modrow
müssen von unten wachsen. Es gilt, dabei nicht zu vergessen, wieviel Leid, wieviel Unrecht jeder Seite widerfahren ist. Das anzuerkennen fällt manchen nicht leicht, aber im Interesse der Versöhnung ist dies unumgänglich. Nur so wird altem Leid, altem Unrecht nicht neues hinzugefügt.
Wirkliche Versöhnung findet in den Köpfen statt. Dazu gehört auch, daß sich polnische Bürgerinnen und Bürger bei uns sehr wohlfühlen können. Es ist beschämend für uns, daß dies leider nicht der Fall ist. Politiker wie Massenmedien füllen Tag für Tag die Köpfe der Menschen mit Asylhysterie. Vergessen wir aber nicht: Auch Pogrome entstehen zuerst in den Köpfen der Menschen. Deshalb muß — auch im Interesse deutsch-polnischer Aussöhnung — dieser Erscheinung entschieden entgegengewirkt werden.
Begegnungs- und Freundeskreisen, die sich links und rechts von Oder und Neiße in immer größerer Zahl bilden, kommt große Bedeutung zu. Gerade der visafreie Verkehr zwischen beiden Ländern kann weiterhin vieles dazu beitragen. Dabei sollte aber nicht nur bilateralen Begegnungen das Wort geredet werden, sondern, wie es schon früheren Traditionen entsprach, auch multilateralen Treffen. Gerade hier fehlt es aber sowohl an Förderung als auch an wirkungsvollen Schritten. Der Entschluß der brandenburgischen Landesregierung, die neue Universität in Frankfurt/Oder als neues multikulturelles Zentrum mit Schwerpunkt Osteuropa zu konzipieren, verdient besondere Beachtung.
Meine Damen und Herren, gewiß wird es lange dauern, ehe die vielzitierte Normalität des deutschfranzösischen Verhältnisses auch das deutsch-polnische bestimmen wird. Solche gesellschaftlichen Verhältnisse lassen sich bekanntlich nicht herbeireden, sondern müssen zielstrebig gefördert werden. Die Tiefe der Krise und der Mangel an Zeit gefährden jedoch den Erfolg. Polen braucht dringender denn je unsere wirtschaftliche Unterstützung und Zusammenarbeit, und zwar nicht nur durch langfristige Projekte wie das gewiß bedeutsame deutsch-polnische Jugendwerk, sondern — materiell wie kulturell — sofort und unkompliziert. Das darf sich nicht in Schuldenerlaß und wohldosierten Spenden erschöpfen. Die erforderlichen Mittel sind ohnehin kaum von einem Land alleine aufzubringen. Deshalb gehört zu einer solchen Unterstützung an vorderster Stelle, sich im Rahmen der laufenden Assoziierungsverhandlungen zu einer Öffnung der Märkte für polnische Waren zu entschließen. Regionale Projekte sollten ebenso gefördert werden wie gesamteuropäische Anstrengungen.
Das wäre längerfristig für beide Seiten wirkungsvoller und allemal billiger, als später die Folgen unserer Unterlassungen finanzieren zu müssen. Vor allem aber würde damit das in den deutsch-polnischen Beziehungen Erreichte weit darüber hinausgeführt, und zugleich würden wir der europäischen Dimension dieser Verträge gerecht.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1205000800
Ich erteile jetzt das Wort dem Abgeordneten Gerd Poppe.

Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1205000900
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der heutigen zweiten und dritten Lesung des Grenzvertrages und des Nachbarschaftsvertrages wird ein neues Kapitel der deutsch-polnischen Beziehungen eingeleitet. Die Verträge sind ein guter Ausgangspunkt für das friedliche Zusammenleben von Polen und Deutschen in Europa. Das gilt für die Anerkennung der Grenzen ebenso wie für die erfreulichen Minderheitenregelungen.
Für uns unbefriedigend ist, daß die Entschädigung für die polnischen Zwangsarbeiter bislang ungeregelt blieb und daß auch die gestrige Regierungsvereinbarung hinter unserem diesbezüglichen Antrag zurückbleibt. Wir hoffen, daß die nun zu gründende Stiftung in die Lage versetzt wird, den Naziopfern bzw. deren Angehörigen möglichst weit entgegenzukommen.
Ich will heute aber weniger über die Vergangenheit reden, auch nicht über die zusätzlichen Belastungen die sich aus der teils auf phrasenhafte Freundschaftsbekundungen, teils auf politische Abgrenzung zielenden offiziellen DDR-Politik bis 1989 für das deutschpolnische Verhältnis ergeben haben. Der Kollege Meckel hat dazu schon einiges gesagt. Ich will vor allem davon sprechen, wie das vor uns liegende neue Kapitel der deutsch-polnischen Geschichte gestaltet werden kann.
Polen befindet sich in einer schwierigen Übergangszeit. Viele Polen müssen schmerzhaft erkennen, daß es nicht genügt, die kommunistische Herrschaft loszuwerden, um Demokratie, eine funktionierende Wirtschaft und eine gesunde Umwelt zu erreichen. Die berechtigte Ungeduld vieler Menschen angesichts ihrer schlechten wirtschaftlichen und sozialen Lage führt zu einem großen Mißtrauen gegenüber jeder Politik. Es wird eine lange Zeit dauern, bis demokratische Strukturen entwickelt, und noch länger, bis wirtschaftliche Krisen und soziale Armut überwunden sind.
Die Umbruchphase bedeutet für viele Polen zunächst auch eine Zeit der Verunsicherung und Orientierungslosigkeit. Viele der erst in den 80er Jahren entstandenen und seinerzeit für die Ostmitteleuropäer durchaus bedeutungsvollen Strukturen zerfallen, neue entstehen nur langsam. Ein Milieu deutschpolnischer Begegnungen, das nicht nur auf vorhandene oder neu zu schaffende Institutionen setzt, sondern sich innovativ und kreativ auf die Vielfalt neuer wirtschaftlicher, politischer und kultureller Aktivitäten einläßt, kann zur Erneuerung der polnischen Gesellschaft Wesentliches beitragen.
Die beiden Verträge sind ein gutes Fundament für das Verhältnis Polens zu seinem westlichen Nachbarn. Viel komplizierter wird es für Polen werden, entsprechende Verträge mit seinen sich jetzt neu formierenden östlichen Nachbarn zu schaffen. Wir Deutschen sollten uns jetzt nicht wegen der geregelten deutsch-polnischen Verhältnisse zufrieden zurücklehnen und Polen mit seinen Problemen im sich verändernden Osteuropa alleinlassen.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der SPD — Dr. Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das machen wir doch gar nicht!)




Gerd Poppe
Insbesondere muß die deutsche Außenpolitik der neuen Situation stärker Rechnung tragen. Daß sie sich so lange einseitig auf das Verhältnis zur sowjetischen Zentralmacht bezog, war für Polen, das sich mit seinen realen Nachbarn Litauen, Rußland, Weißrußland und der Ukraine ins Benehmen setzen muß, wenig hilfreich. Während des Moskauer Putsches, der in Polen mit berechtigter Furcht verfolgt wurde, hat das anfängliche Zögern der Bundesregierung viele Irritationen ausgelöst. Polen hat nicht nur unter dem deutschen Nationalsozialismus besonders gelitten, sondern auch unter der unmittelbaren Folge des von diesem ausgelösten Krieges: der europäischen Teilung seit Jalta. Ohne eigene Schuld leidet Polen noch heute daran, während der größere Teil Deutschlands ohne eigenes Verdienst vergleichbaren Belastungen nicht ausgesetzt war. Daher sollte es für uns Deutsche selbstverständlich sein, uns für die Beseitigung dieser Ungerechtigkeit in besonderer Weise einzusetzen.
Wir begrüßen es — wie vor allem auch die Bürgerinnen und Bürger Polens selbst —, daß zwischen unseren beiden Ländern Visafreiheit besteht. Wir wissen, was für eine große Bedeutung es für die Menschen hat, nach Deutschland und in andere EG-Länder reisen zu können, ohne sich auf demütigende Weise in die Schlange vor dem Konsulat einreihen zu müssen.
Andererseits erfüllt uns große Sorge angesichts der Übergriffe auf polnische Reisende, der anhaltenden Welle von Haß und Gewalt gegen Ausländer und der von deutschen Politikern ausgelösten peinlichen Asyldebatte. Diese Entwicklung hat auch in Polen zu großer Beunruhigung geführt. Sie entmutigt auch jene Menschen, die sich um ein gutes Verhältnis Polens zu seinen östlichen Nachbarn bemühen. Wir sehen uns vor die unangenehme Frage gestellt, ob denn die bundesdeutsche Gesellschaft gegenwärtig tatsächlich dazu fähig ist, den Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit mit Leben zu erfüllen.

(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Schaffen wir schon! Keine Sorge!)

Der Westen steht vor der Aufgabe, Polen wie auch den anderen Staaten des ehemals sowjetischen Einflußbereichs den Weg nach Europa zu ebnen. Die Europäische Gemeinschaft und mit ihr nicht zuletzt die Bundesrepublik hat seit den Umwälzungen jenseits des Eisernen Vorhangs Hilfe geleistet und eine Reihe begrüßenswerter Hilfen konzipiert. Ich erwähne nur die mittlerweile vorbereiteten Assoziierungsabkommen für die ostmitteleuropäischen Staaten. Die darin enthaltenen Maßnahmenbündel dienen allerdings nicht nur der Unterstützung der politischen und ökonomischen Reformen in Polen und anderen ehemaligen Ostblockländern, sondern lassen diese auch auf unabsehbare Zeit vor den Türen der EG stehen. Allen schönen Worten zum Trotz gehen die Verhandlungen über die Wirtschafts- und Währungsunion der westeuropäischen Staaten oder sogar nur eines Clubs der Reichen unter ihnen mit unveränderter Ziel- und Terminsetzung weiter wie bisher, als wäre in Europa nichts geschehen. Mir drängt sich der Eindruck auf, daß sich Westeuropa der Tragweite der
Veränderungen in der östlichen Hälfte unseres Kontinents noch immer nicht bewußt ist.
In Polen gibt es keine entwickelte Infrastruktur, keine funktionierenden Verwaltungen, keine ausreichenden Kommunikationsnetze und Bildungsmöglichkeiten, statt dessen ein, an Marktanforderungen gemessen, noch völlig verzerrtes Wirtschaftsgefüge, eine konkurrenzunfähige Schwerindustrie, eine massive Umweltverschmutzung und eine zwar umfangreiche, aber nach westlichen Maßstäben wenig produktive Landwirtschaft. Wenn sich diese Wirtschaft auf dem Weltmarkt behaupten soll, so müssen nicht nur die Altlasten der sozialistischen Wirtschaft beseitigt, sondern eine neue Infrastruktur aufgebaut und enorme Investitionssummen erwirtschaftet werden.
Zu den Altlasten gehört die Staatsverschuldung Polens im westlichen Ausland. Es sind Schulden, die von falschen, auf die Planwirtschaft zurückzuführenden Entscheidungen verursacht worden sind. Mit diesem Erbe wird auch eine demokratisch gewählte Regierung kaum eine Chance haben.
Eine der Grundforderungen muß deshalb eine vollständige Entschuldung sein.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE)

Eine zweite Grundforderung ist die Öffnung des westeuropäischen Marktes für polnische Produkte. Zunächst betrifft dies landwirtschaftliche Produkte. Ich bin mir der Problematik einer solchen Forderung durchaus bewußt. Aber im Laufe einer längerfristigen Entwicklung wird sich die Angebotsstruktur der polnischen Exportwirtschaft verbessern.
Innerhalb des jetzt geplanten Zeitraumes von fünf Jahren für den Abbau westeuropäischer Schutzzölle ist aber eine hoffnungslose Neuverschuldung Polens vorprogrammiert.
Es ist mir nicht möglich, in zehn Minuten all die komplizierten politischen und wirtschaftlichen Probleme, vor denen Polen steht, auch nur aufzuzählen.

(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Verlangt auch keiner!)

Klar ist aber schon jetzt, daß die zukünftigen Aufgaben nicht leichter zu lösen sind als die der Vergangenheitsbewältigung. Dies gilt auch für die gesamte Europäische Gemeinschaft in ihrem Verhältnis zum Osten. Die Erneuerung staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen in Mittel- und Osteuropa muß als eine gesamteuropäische Aufgabe verstanden werden. Die traditionellen Instrumente der westlichen Außen- und Wirtschaftspolitik, die nur kosmetische Korrektur einer Politik, die aus der Zeit vor dem Fall der Mauer stammt, würden den revolutionären Veränderungen in Europa nicht gerecht. Wer nicht bereit ist, jetzt zu teilen, riskiert, daß aus dem Zusammenbruch des alten Systems und dem von ihm verursachten Wohlstandsgefälle unabsehbare soziale und politische Folgen erwachsen, die die Stabilität ganz Europas gefährden können.
Auf lange Sicht lohnt es sich auch jenseits aller moralischen Verpflichtung, den Nachbarn im Osten so ernst zu nehmen wie uns selbst. Der deutsch-polni-



Gerd Poppe
sche Vertrag darf nicht nur zur Bereinigung der Vergangenheit dienen. Er muß vor allem dazu genutzt werden, die gemeinsame Zukunft zu gestalten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1205001000
Als nächster spricht Herr Staatsminister Helmut Schäfer.

Helmut Schäfer (FDP):
Rede ID: ID1205001100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die heute dem Deutschen Bundestag zur Schlußberatung und Abstimmung vorliegenden Verträge — der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze und der Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit — sind die Grundlage einer neuen und zukunftsorientierten Ära im deutsch-polnischen Verhältnis. Sie setzen zugleich einen neuen Rahmen für den umfassenden Ausbau unserer Beziehungen.
Der am 14. November 1990 in Warschau unterzeichnete Grenzvertrag zwischen der Bundesrepublik und der Republik Polen erfüllt die in Art. 1 Abs. 2 des Vertrages vom 12. November 1990 über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland eingegangene Verpflichtung, die lautet:
Das vereinte Deutschland und die Republik Polen bestätigen die zwischen ihnen bestehende Grenze in einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag.
Diese völkerrechtlich verbindliche Bestätigung der deutsch-polnischen Grenze ist ein ganz wesentlicher Beitrag zur Schaffung eines Europas, das seine nationalstaatlichen Grenzen überwindet und sich auf eine stabile Friedensordnung zubewegt, die von gegenseitigem Vertrauen und guter Nachbarschaft geprägt sein wird.
Der Abschluß des Grenzvertrages trägt dazu bei, daß neues Vertrauen nicht nur bei den Regierungen wächst. Es gibt dafür auch in Polen schon erfreuliche Anzeichen. Uns, die wir zum größten Teil in diesem Saal nicht in einem Gebiet geboren wurden, aus dem wir nach dem Kriege vertrieben wurden, sondern die wir das Glück hatten, im Westen dieser Republik geboren zu werden, ist sehr bewußt, daß die Entscheidung, die bestehende Grenze zwischen Deutschland und Polen in einem Vertrag zu bestätigen, von den Mitbürgern, die ihre Heimat östlich von Oder und Neiße verloren haben, sehr schmerzlich empfunden wird. Dennoch gab es aus der Sicht der Bundesregierung keine Alternative zu dem von ihr eingeschlagenen Weg.
Ich darf in diesem Zusammenhang noch einmal ausdrücklich die Friedensleistung würdigen, die in der schon 1950 verabschiedeten Charta der deutschen Heimatvertriebenen zum Ausdruck kam. Auch in Polen beobachten wir ein wachsendes Verständnis für das Unrecht der Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Dieses schlägt sich auch in offiziellen Äußerungen der Repräsentanten der polnischen Regierung und des Parlaments nieder und nicht zuletzt auch in der Präambel des Grenzvertrages.
Schon heute arbeiten viele Mitbürger, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden, am Werk der deutsch-polnischen Versöhnung mit. Sie treffen im Rahmen von Städtepartnerschaften in Polen auf Neubürger in Städten Schlesiens und Pommerns, die ihrerseits aus ihrer angestammten Heimat vertrieben wurden. Es ist der Wunsch der Bundesregierung, daß alle Heimatvertriebenen, die es wünschen, in die deutsch-polnische Zusammenarbeit einbezogen werden.
Meine Damen und Herren, der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17.Juni 1991 ist auf eine breite und intensive Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Polen angelegt. Bereits vor rund einem halben Jahr hat die Bundesregierung die Sichtvermerkspflicht für polnische Besucher bei Reisen bis zu drei Monaten aufgehoben. Trotz der hier erwähnten unerfreulichen Erscheinungen auf deutscher Seite, die den Beginn der Visafreiheit begleitet hatten, können wir heute feststellen, daß sich diese Maßnahme bewährt hat. Unsere polnischen Nachbarn, die die von einer Minderheit geschürten ausländerfeindlichen Ausschreitungen bei uns aufmerksam beobachten, wissen, daß die Bundesregierung und die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung diese beschämenden Aktivitäten scharf verurteilen.
Meine Damen und Herren, die Qualität des neuen Verhältnisses zwischen Deutschland und Polen wird sich vor allem im Grenzbereich erweisen müssen. Derzeit verhandeln wir über eine Verbesserung der Grenzabfertigung, über die Öffnung weiterer Grenzübergänge und über eine Regelung für den kleinen Grenzverkehr. Der Ausbau der Regionalzusammenarbeit besonders im grenznahen Bereich, wie wir ihn mit unseren westlichen Nachbarn kennen, hat von Anfang an zu den wichtigsten Zielen der Bundesregierung bei der Neugestaltung ihres Verhältnisses zu Polen gehört.
Am 28. und 29. Oktober wird die deutsch-polnische Kommission für regionale und grenznahe Zusammenarbeit in der Nähe von Stettin erneut zusammentreten. Die Kommission hat schon jetzt zahlreiche Projekte vor allem im Bereich der Wirtschaftsförderung, der Grenzübergänge und des Denkmalschutzes eingeleitet.
Zu den Zeichen der Normalität im deutsch-polnischen Verhältnis gehören auch die Begegnungen zwischen Soldaten beider Länder. Hierzu zählen vor allem die Ausbildung polnischer Offiziere in Schulen der Bundeswehr und die Teilnahme deutscher Soldaten an einer internationalen Jugendbegegnung in Tschenstochau. Die Einweihung der ersten beiden deutschen Soldatenfriedhöfe in Polen Anfang dieses Monats ist ebenfalls ein Ausdruck der neuen deutschpolnischen Beziehungen.
Am 1. Oktober 1991 ist auch das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen über soziale Sicherheit in Kraft getreten. Es stellt die Angehörigen beider Staaten im Bereich der Sozialver-



Staatsminister Helmut Schäfer
Sicherung grundsätzlich gleich und führt das polnische System der sozialen Sicherheit näher an den EG-Standard heran. Dies ist von großer praktischer Bedeutung, da die polnischen Arbeitnehmer das größte Kontingent der in Deutschland tätigen ausländischen Werkvertragsarbeitnehmer bilden. Gleichzeitig bietet das Abkommen den Deutschen in Polen die notwendige Sicherheit zum Verbleiben in ihrer angestammten Heimat.
Ein erstes Beispiel erfolgreicher Umweltzusammenarbeit zwischen Polen und Deutschland ist die beschlossene Gründung eines grenzübergreifenden Nationalparks „Unteres Odertal" südlich von Stettin.
Die Arbeiten zur Gründung einer Kommission zum Schutz der Oder nach dem Beispiel der Elbe-Schutzkommission sind angelaufen.
Meine Damen und Herren, die Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Polen haben im laufenden Jahr einen erheblichen Aufschwung genommen. Der Umsatzzuwachs belief sich allein für die Monate Januar bis Juli auf 53,3 %. Das Volumen unseres Handelsaustausches mit Polen stieg damit in den ersten sieben Monaten des Jahres auf knapp 8 Milliarden DM.
Das vereinigte Deutschland ist gegenwärtig Polens wichtigster Handelspartner. Polen wiederum liegt im deutschen Außenhandel nach der Sowjetunion mit deutlichem Abstand vor weiteren mittelosteuropäischen Handelspartnern an zweiter Stelle.
Viele deutsche Firmen zeigen Interesse an Investitionen in Polen, ohne daß die Möglichkeiten bereits voll ausgenutzt wären. Deutschland steht, was die Zahl von Firmenbeteiligungen betrifft, an erster Stelle.
Unser Engagement in Polen beläuft sich — auch das ist eine bemerkenswerte Zahl — seit 1989 auf 11,7 Milliarden DM. Damit leistet Deutschland, meine Damen und Herren, auch den größten Beitrag zur Lösung des Problems der polnischen Auslandsverschuldung.
Die Zusammenarbeit im Bereich der Kultur hat sich seit der Vereinigung Deutschlands und der politischen Wende in Polen weiter intensiviert. Dies gilt für den Stipendienbereich, für Förderungsmaßnahmen für die deutsche Sprache und für den Hochschul- und Wissenschaftsbereich, in dem wir der wichtigste Partner Polens sind.
Für die Zukunft wird es darauf ankommen, das hohe Niveau des Austauschs beizubehalten und auszubauen. Besondere Bedeutung kommt dabei der Integration der neuen Länder in die bestehenden Strukturen des wissenschaftlichen Austauschs zu.
Außerdem überlegen wir, in Polen ein deutsch-polnisches historisches Institut zu gründen.

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Mit der Gründung der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit, der sogenannten Jumbo-Stiftung, werden wir im deutsch-polnischen Verhältnis bald über ein Instrument verfügen, aus dem zahlreiche Projekte gefördert werden können, z. B. aus dem kulturellen Bereich, darüber hinaus aber auch beim
Jugendaustausch, bei der Förderung der deutschen Sprache und bei kirchlichen, karitativen und gesellschaftlichen Initiativen sowie im Umweltbereich. Hierfür stehen der Jumbo-Stiftung bis 1999 jährlich zwischen 51 und 62 Millionen DM zur Verfügung.
Meine Damen und Herren, der Nachbarschaftsvertrag bringt den Willen beider Länder zum Ausdruck, die deutsch-polnischen Beziehungen in einem sich vereinenden Europa auszubauen. Ich nenne drei wesentliche Bereiche:
Erstens. Der Vertrag ist darauf ausgerichtet, Polen nach einer Phase der Assoziierung die Perspektive einer Vollmitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft zu eröffnen. Wir haben uns in Brüssel dafür eingesetzt, das Verhandlungsmandat der Europäischen Gemeinschaft für den Assoziierungsvertrag schnell zu verabschieden. Die Assoziierungsverhandlungen mit Polen stehen jetzt in der Schlußphase, und es bestehen gute Aussichten, sie bis zum Jahresende abzuschließen.
Zweitens. Wir müssen kooperative Strukturen der Sicherheit in Europa aufbauen. Deutschland wird in Polen heute nicht mehr als Bedrohung empfunden. Dies schlägt sich auch in der polnischen Debatte über ein neues sicherheitspolitisches Konzept für Polen nieder, das sich für eine Annäherung an bestehende Sicherheitsstrukturen des Westens, allen voran der Atlantischen Allianz, ausspricht. Wir stimmen mit Außenminister Skubiszewski in der Feststellung überein, daß Sicherheit und Stabilität an die Stelle des Gefühls einer Bedrohung treten müssen und daß die Politik der NATO gegenüber Mittel- und Osteuropa dieser Zielsetzung Rechnung trägt. Aus diesem Grund haben wir gemeinsam mit den USA das sogenannte Liaison-Konzept entwickelt, durch das enge Verbindungen zwischen der NATO und Ländern wie Polen geschaffen und ausgebaut werden. Die gemeinsame Erklärung von Bundesaußenminister Genscher und Außenminister Baker ist auf dem Dreiertreffen Polens, der CSFR und Ungarns am 6. Oktober überaus konstruktiv aufgegriffen worden. Die Reaktion dieser drei Partner wird in die Überlegungen über den weiteren Ausbau dieses Konzeptes auf dem NATO-Gipfel im November einfließen.
Auf Initiative des Bundesaußenministers haben sich in Weimar am 29. August dieses Jahres die Außenminister Frankreichs, Polens und Deutschlands getroffen und vereinbart, auch künftig jährlich einmal zusammenzutreffen. Die Tatsache, daß wir Polen in diese deutsch-französische Verantwortung für europäische Entwicklung einbezogen haben, unterstreicht die Bedeutung, die wir unseren Beziehungen zu Polen beimessen.
Drittens. Die ausführlichen Vertragsregelungen zu Minderheitenfragen können exemplarische Bedeutung für andere europäische Regionen haben; darauf hat Herr Irmer schon hingewiesen. Der Vertrag erkennt die deutsche Minderheit in Polen nicht nur erstmalig in ihrer Existenz an, sondern hat eine rechtlich gesicherte Grundlage für ihre Entfaltung in der angestammten Heimat geschaffen. Wir sollten nicht vergessen, daß dies das zentrale Anliegen der deutschen Minderheit war. Zudem wurde vertraglich sichergestellt, daß das jeweilige Staatsangehörigkeitsrecht un-



Staatsminister Helmut Schäfer
berührt bleibt. Die Organisationen der deutschen Minderheit in Polen treten mit 53 Kandidaten für die Wahlen zum polnischen Sejm und mit einem Kandidaten für die Senatswahlen an, die beide am 27. Oktober stattfinden.
Wir sehen Fortschritte im Zusammenleben zwischen der deutschen Minderheit und ihren polnischen Mitbürgern. Dies bestätigen auch Äußerungen aus der Leitung der deutschen Freundschaftskreise. Erst vor wenigen Tagen hat sich der stellvertretende Vorsitzende des Zentralrates der deutschen Freundschaftsgesellschaften in einem Rundfunkinterview ausdrücklich zu einer Brückenfunktion der deutschen Minderheit zwischen unseren beiden Ländern bekannt.
Ich möchte im Hinblick auf die diesem Haus vorliegenden Entschließungsentwürfe auf den im Zusammenhang mit dem Nachbarschaftsvertrag vollzogenen Briefwechsel hinweisen. Darin erklärt die polnische Regierung, daß die Perspektive eines Beitritts Polens zur Europäischen Gemeinschaft zunehmend Möglichkeiten schaffen wird, auch deutschen Bürgern eine Niederlassung in Polen zu erleichtern. Ferner erklärt die polnische Regierung ihre Bereitschaft, die Zulassung offizieller topographischer Bezeichnungen in deutscher Sprache in den traditionellen Siedlungsgebieten der deutschen Minderheit zu gegebener Zeit zu prüfen.
Der Bundesregierung ist bewußt, daß in dem Vertrag nicht alle Erwartungen der in Polen lebenden Deutschen erfüllt werden konnten. Es konnte aber nicht im Interesse der Deutschen in Polen sein, auf Maximalforderungen zu bestehen, die dann auf unüberwindbare Widerstände in Parlament und Öffentlichkeit Polens gestoßen wären. Gemeinsames Ziel war es vielmehr, im Geist der Versöhnung und der Verständigung das bestmögliche Ergebnis anzustreben, mit dem beide Seiten leben können, und damit einen neuen Rahmen für eine Entwicklung der deutschen Minderheit in Polen und ihrer Rechte zu schaffen.
Die Frage der Gewährung von Minderheitenrechten wird zu einer Kernfrage des friedvollen Zusammenlebens der Völker in Europa. Wir haben dafür in diesem Vertrag ein gutes Beispiel, ein Modell geschaffen.
In diesem Haus ist die Frage der Hilfe für Opfer nationalsozialistischer Verfolgung in Polen immer wieder diskutiert worden. Die Bundesregierung und die polnische Regierung sind, wie Sie wissen, übereingekommen, einen Beitrag der Bundesregierung zu einer in Polen zu gründenden „Stiftung deutsch-polnische Versöhnung" in Form eines Notenwechsels zu regeln, der gestern vom Kabinett gebilligt und inzwischen vollzogen worden ist. Die Bundesregierung wird auf der Grundlage humanitärer Überlegungen einen einmaligen Beitrag in Höhe von 500 Millionen DM an diese Stiftung leisten, die Polen noch in diesem Jahr gründen wird und deren Zweck darin besteht, den Opfern nationalsozialistischer Verfolgung in Polen Hilfe zu leisten.
Ich glaube, es ist ganz klar, daß dieses Haus erwartet, daß nicht nur der Staat hier bereit ist, Mittel zu geben,

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE)

sondern auch die Firmen, die eigentlich Veranlassung sehen sollten, etwas dazu zu tun, daß diese Summe höher wird. Ich meine, so manches, was an Werbeetats in großen deutschen Firmen für bedeutende Tennisstars und andere verbraten wird — ich darf mir einmal erlauben, das zu sagen —, wäre hier sinnvoller angelegt.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Damit ist eine humanitäre Lösung im Geist der Versöhnung mit Polen gefunden worden, die auch den Forderungen entspricht, die aus der Mitte des Deutschen Bundestags erhoben worden sind.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1205001200
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Briefs?

Helmut Schäfer (FDP):
Rede ID: ID1205001300
Ich will nur noch wenige Sätze sagen. Danach wollte ich eigentlich abschließen.

(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Sehr vernünftig!)

Die Entwicklung des deutsch-französischen Verhältnisses in den letzten 30 Jahren dient uns als Leitbild für die künftige Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen. Zwischen der ehemaligen DDR und Polen, Herr Modrow, gab es einmal eine staatlich verordnete Freundschaft, die ihre Wirkung weitgehend verfehlte.

(Zurufe von der SPD: Sehr wahr!)

Die heute von uns zu ratifizierenden Verträge bilden eine völlig andere Grundlage für die Entwicklung echter Partnerschaft und, wie wir hoffen, auch Freundschaft zwischen unseren Völkern in einem gemeinsamen Europa.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE — Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: 500 Millionen, das ist billig!)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1205001400
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ottfried Hennig.

Dr. Ottfried Hennig (CDU):
Rede ID: ID1205001500
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Für mich und, ich glaube, für uns alle, ist dies ein Tag von besonderer Tragweite und großer Bedeutung. Seit Konrad Adenauers erster Regierungserklärung wissen wir, wie fundamental das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen nicht nur für diese beiden Völker, sondern für ganz Europa ist. So wie einerseits die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich von herausragender Bedeutung für Europa sind, so sind es andererseits auch die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, Brücken zu bauen, Brücken aus einer teil-



Dr. Ottfried Hennig
weise schrecklichen Vergangenheit in eine gute Zukunft, Brücken nach Europa. Und diese Brücken führen das polnische Volk zurück nach Europa, von dem es durch eine totalitäre Ideologie so lange ferngehalten worden ist.

(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Für mich und viele andere ist dies auch ein schwerer Tag. Elf Jahre lang, von 1979 bis 1990, bin ich Sprecher der Landsmannschaft Ostpreußen gewesen, und ich füge gleich hinzu: Ich war es gerne, und ich war es aus voller Überzeugung. Ich sage gleich vorweg: Für mich wird bei aller Liebe zu Schleswig-Holstein, die in 40 Jahren gewachsen ist, Ostpreußen immer Heimat bleiben.

(Norbert Gansel [SPD]: Gütersloh!)

— Herr Gansel, der Zwischenruf war nicht auf dem Niveau, das wir sonst untereinander einhalten. Vielleicht denken Sie noch einmal darüber nach.

(Norbert Gansel [SPD]: „40 Jahre" war auch übertrieben!)

Das Recht auf die Heimat — wenn wir uns darauf verständigen könnten, würde das weiterhelfen —, nicht auf irgendeine, sondern auf die Heimat, ist ein Menschenrecht. Man kann aus ihr vertrieben werden. Sie kann völkerrechtlich von Deutschland abgetrennt werden. Aber man kann seine eigene Heimat nicht verlieren. Sie bleibt die Heimat. Und heute ist sie eben die gemeinsame Heimat von Polen und Deutschen oder, im nördlichen Ostpreußen, von Russen und Deutschen. Früher hat uns dies getrennt. Heute, nachdem der territoriale Streit entschieden ist, muß es uns miteinander verbinden.

(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Fast jede Polin und jeder Pole ist national gesonnen. Und aufrichtige nationale Gefühle sind etwas Positives, denn sie erheben die eigene Nation nicht über andere Nationen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Daher werden gerade unsere polnischen Nachbarn gut verstehen, welche Gefühle uns heute auch bewegen. Eigentlich sind dies ja nicht nur Gefühle von Heimatvertriebenen, es sollten vielmehr Gefühle aller Deutschen sein, die doch etwas verlieren, aber in der abzuwägenden Bilanz auch etwas gewonnen haben, nämlich etwas, was in eine bessere Zukunft führt.
Wer aber die Bedeutung dieser Entscheidung insbesondere für Menschen, die dort ihre Heimat haben, nicht erkennt, der ist ein merkwürdiger Zeitgenosse.
Ich sage freimütig, daß mir diese Entscheidung sehr schwer gefallen ist. In den 15 Jahren, die ich dem Deutschen Bundestag angehöre, hat es für mich keinen schwierigeren Tag gegeben als den 21. Juni 1990.

(Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: So ist es!)

Das war der Tag, an dem der Bundestag und die
damals schon frei gewählte Volkskammer nicht nur
über einen Staatsvertrag abgestimmt haben, der für
die Wiedervereinigung Deutschlands entscheidend war. Beide Parlamente haben auch über eine Entschließung zur Oder-Neiße-Linie abgestimmt.
Ich habe mich in dieser Situation entschieden. Nach meiner festen Überzeugung muß ein Abgeordneter in einer Frage von nationaler Bedeutung so abstimmen, als wenn auf seine ganz persönliche Stimmabgabe alles ankommen würde. Deswegen darf man sich in Kernfragen der Politik eigentlich nicht enthalten, sondern man muß Flagge zeigen. Man darf sich nicht drücken, man muß sich bekennen, man muß ja oder nein sagen. Etwas anderes kommt für mich nicht in Frage.
Ich habe damals ja gesagt auch zu der erwähnten Entschließung, weil ich sicher bin, wir hätten andernfalls unsere geschichtliche Chance zur deutschen Einheit wirklich verspielt. Mit einer offenen Grenzfrage im Osten wäre niemand mit uns den Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands gegangen. Es liegt in der Konsequenz dieser damaligen schwierigen Entscheidung, auch heute ja zu sagen.
Das Gebot unserer Zeit allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nicht die Zementierung von Grenzen, sondern die Errichtung einer Ordnung, die Grenzen überwindet, einer Ordnung, in der die Völker und Volksgruppen ihre Eigenart dort bewahren und dort leben können, wo ihre Heimat ist,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Zustimmung des Abg. Ulrich Irmer [FDP])

und zwar ganz unabhängig vom Verlauf staatlicher Grenzen.
Ich hoffe und wünsche, daß wir mit dem heutigen Tag zu einer Gesamtentscheidung kommen, die die Zustimmung der betroffenen Völker findet. Dabei geht es um die Rechte der Menschen und Völker. Es geht um Geschichte, es geht um Gegenwart und um Zukunft.
Dabei braucht uns niemand zu belehren, daß man das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen kann. Das wäre ein ebenso untauglicher Versuch wie der, es an einem bestimmten Stichtag anhalten zu wollen. Das Rad der Geschichte dreht sich unaufhaltsam weiter. Wann hätten wir das besser erkennen können als gerade in diesen Monaten?
Meine Hoffnung ist: Es dreht sich in Richtung auf ein vereintes Europa, in dem Grenzen eben nicht mehr trennen, in dem niemand mehr aus seiner Heimat flüchten muß und jeder, ganz unabhängig von Verwaltungsgrenzen, seine nationale Identität bewahren kann.
Wir sehen, daß an der europäischen Einheit kein Weg vorbeiführt, denn das Trümmerfeld, das der Totalitarismus, und zwar der Nationalsozialismus wie der Kommunismus, hinterlassen hat, ist nur in einer gemeinsamen europäischen Kraftanstrengung zu beseitigen. Zu diesem Trümmerfeld gehören auch die unsichtbaren Gebirge aus Leid und Schuld, die zwischen Deutschen und Polen stehen und die von beiden Seiten aufgetürmt worden sind. Wir können und sollten sie nicht vergessen und nicht verschweigen. Wir können sie auch nicht abtragen oder ungeschehen machen. Wir können ihnen aber den trennenden



Dr. Ottfried Hennig
Charakter nehmen, indem wir den Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt durchbrechen und beherzigen, was Vaclav Havel in einer Rede von historischer Bedeutung gesagt hat:
Die Zeit ist reif, uns endlich mit freundschaftlichem Lächeln und der Gewißheit die Hand zu reichen, daß wir einander nicht mehr fürchten müssen, weil uns die gemeinsame und teuer bezahlte Achtung vor dem Menschenleben, den Menschenrechten, den Bürgerfreiheiten und dem allgemeinen Frieden verbinden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!)

Dieser gemeinsame Ausgangspunkt eröffnet große Horizonte möglicher Zusammenarbeit. Wir können uns gemeinsam bemühen um ein demokratisches Europa, um ein Europa als Einheit in der Vielfalt, um ein Europa, das der Welt nicht Krieg gibt, sondern Toleranz ausstrahlt, um ein Europa, das an seine besten kulturellen Traditionen anknüpft. Wir sind uns darin einig, daß die Grundvoraussetzung für eine wirkliche Freundschaft unserer Völker die Wahrheit ist. Wie hart auch immer, soll sie doch gesagt werden.
Und Havel hat diese Wahrheit in der gleichen Rede auch beim Namen genannt, indem er sagte, daß Vertreibung keine Strafe war, sondern Rache.
Dies sind Sätze von so allgemeiner sittlicher Bedeutung, daß ich sie auch auf das deutsch-polnische Verhältnis beziehen möchte. Die Wunden, die sich beide Völker im Laufe einer blutigen Geschichte geschlagen haben, können nur heilen, wenn keine Seite die Wahrheit bestreitet. Meine Damen und Herren, nichts ist miteinander zu vergleichen oder gar gegeneinander aufzurechnen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Aber wenn wir in diesem Geiste aufeinander zugehen, und zwar von beiden Seiten, dann sind wir auf dem richtigen Weg.
Meine Damen und Herren, wir sollten auch deutlich machen, daß ein Sich-Abfinden mit Grenzen nun wiederum nichts zu tun hat mit einer Tatsache, die ich mir nicht zu eigen machen könnte, nämlich daß dadurch Vertreibung rückwirkend sanktioniert würde. Auch dies ist nicht der Fall.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, in dem historischen Augenblick, in dem es im vergangenen Jahr wirklich die Chance zur Einheit gab, da haben wir nicht einfach Glück gehabt, sondern wir haben das Richtige getan. Wir hatten den richtigen Kompaß, und die Kompaßnadel zeigte eben gleichzeitig auf Deutschland und auf Europa.
Die beiden Dokumente, die dies in einer wirklich optimalen Form zum Ausdruck bringen, sind heute bereits erwähnt worden. Das ist zum einen unsere Verfassung — das ist insbesondere die Präambel des Grundgesetzes — , und das ist zum anderen die Charta der Heimatvertriebenen. Ich bin Herrn Staatsminister Schäfer außerordentlich dankbar, daß er diese Dokumente heute auch hier erwähnt hat. Daß dieses Dokument im Jahre 1950, fünf Jahre nach der totalen Niederlage, von gewählten Vertretern der
Vertriebenen in dieser Weise als Dokument der Versöhnung vorgelegt worden ist,

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

das bis heute gültig ist, ist eine große geschichtliche Leistung.
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zum Abschluß noch einmal betonen, daß auch diese Charta der Heimatvertriebenen uns sagt, daß wir das Recht auf die Heimat als ein Menschenrecht auch mit dem heutigen Tag nicht verlieren. Es steht jedem Menschen zu, ganz unabhängig von Grenzen. Wir anerkennen, auch die Vertriebenen anerkennen, daß dies seit 1945 auch die Heimat von Millionen von Polen und von Russen ist und bleiben soll. Dies bedeutet nicht mehr oder weniger, als daß wir bereit sind, unsere Heimat mit Polen zu teilen. So, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, kann Europa werden, und über diese Brücke wollen wir gemeinsam in eine bessere Zukunft gehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1205001600
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Christoph Zöpel.

Dr. Christoph Zöpel (SPD):
Rede ID: ID1205001700
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Diese Ratifizierungsdebatte möchte ich nutzen, um die europäische Dimension — oder besser: die europäische Zukunftsperspektive — dieser Verträge in das Blickfeld zu rükken. Wenn man sich unter dieser Perspektive „Zukunft" die Verträge ansieht, so kann man zu der Frage kommen, ob sie nicht in sehr unterschiedliche historische Zusammenhänge gehören. Man kann fragen, ob der Grenzvertrag zwischen Polen und Deutschland nicht ein Vertrag aus dem Denken des 19. Jahrhunderts ist, als es um die Abgrenzung von Territorialstaaten und Nationalstaaten ging, und man kann fragen und hoffen, ob bzw. daß der Nachbarschaftsvertrag ein Vertrag aus dem 21. Jahrhundert ist, der diese Nationalstaaten aufheben will in einer großen europäischen Union oder, wie es Sozialdemokraten seit ihrem Heidelberger Parteitag 1925 möchten, in den Vereinigten Staaten von Europa.
Wenn man sich für die Zukunftsperspektive entscheidet, kann man eine Hoffnung artikulieren: daß vielleicht schon bald dieser Grenzvertrag so etwas wie ein historischer Anachronismus ist, weil überflüssig.
Wem das zuviel Zukunft ist, den bitte ich, diese Sache geschichtlich anzugehen, allerdings Geschichte nicht so zu verkürzen, wie wir das in vielen historischen Debatten der letzten Monate erlebt haben, sondern in der Geschichte so weit zurückzugehen, daß wir auch die Epochen in den Blick nehmen, die es gab, bevor es Nationalstaaten gab. In dieser Perspektive ist nämlich das, was über das 21. Jahrhundert gesagt wird, nichts Neues, sondern es schließt an Älteres an, als es die Nationalstaaten sind.
Ich habe diese historischen Debatten der letzten Monate erlebt, auch in diesem Hause — ich meine damit auch die Debatte um die Hauptstadt —, und sie haben mich teilweise geschmerzt, weil sie, wo nur der Nationalstaat betont wird, den Menschen in Europa



Dr. Christoph Zöpel
einen Teil ihrer Identität nehmen, nämlich ihre europäische Identität, die es auch gibt. Dabei müßte diese eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Man erlebt sie in der bebauten Umwelt täglich. Alle Baustile, die wir bewundern, sind europäisch: die Romanik, die Gotik, die Renaissance, der Barock.
Da ich die Selbstverständlichkeit der bebauten Umwelt, die wir bewundern, erwähne, fällt mir natürlich ein, was wir in diesen Tagen erleben: daß eine Stadt großer europäischer Kultur, Dubrovnik, um vorgeblicher nationaler Ziele willen beschossen und vielleicht zerstört wird.

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Wahnsinn!)

Neben aller anderen Barbarei, die damit verbunden ist, ist dies auch eine Barbarei gegen europäische Identität.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Von Dubrovnik, die Hoffnung äußernd, daß es aufhört und daß das, was dort steht, stehenbleibt, darf ich assoziativ auch sagen: Warschau und — wiewohl man nichts völlig vergleichen kann und es Unterschiede gibt — Dresden. Vielleicht mag es nun wieder ein europäischer Trost sein, daß die Erinnerung an das Originale der baukulturellen Leistung in Warschau und Dresden von dem gleichen italienischen Maler festgehalten wurde, von Canaletto.
Europäische Identität in der bebauten Umwelt — wir erleben sie täglich, vielleicht so selbstverständlich, daß wir es nicht mehr wahrhaben wollen — , spiegelt sich aber natürlich auch in Biographien wider. Es ist für das deutsch-französische oder das englischdeutsche Verhältnis selbstverständlicher, es wird im deutsch-polnischen Verhältnis seltener diskutiert. Aber ist es nicht schön, wenn sich Polen und Deutsche darüber streiten, zu welchem Volk Nikolai Koppernigk gehörte? Und ist es nicht vielleicht eine Lösung, wenn auch nicht für alle topographischen Bezeichnungen, daß als ein Ausweg aus diesem Streit ein lateinischer Name gewählt wurde, nämlich Nicolaus Copernicus? Ist nicht das vielleicht richtungweisend, statt sich zuviel über den Gebrauch von Sprachen, der einen oder der anderen, zu streiten?
Da ich bei biographischen Fragen, bei biographischen Beispielen bin, will ich noch einen Namen nennen: Daniel Chodowiecki, ein bedeutender Zeichner und Kupferstecher, der Vater polnisch-katholischer Herkunft, die Mutter schweizerisch-calvinistischer, geboren in Danzig oder Gdansk, und später — das ist mir hier wichtig — Präsident der Königlich Preußischen Akademie der Künste.
Dabei fallen mir Preußen und unsere Geschichtsdebatten ein. Ich finde ja, man kann die preußischen Könige für alles mögliche verantwortlich machen und auch als Zeugen für alles mögliche heranziehen, nur nicht für den deutschen Nationalstaat.
Es ist eine europäische Dimension der deutschen Geschichte, daß sich die Kurfürsten von Brandenburg in einer Region Europas, die nicht zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gehörte, die Königskrone aufsetzten. Auch daran gilt es zu erinnern.
Aber zurück zu Chodowiecki und dazu, warum ich ihn genannt habe. — Er ist einer der Menschen, der bekannteren Menschen polnischen Namens und polnischer Herkunft, die über Jahrzehnte und Jahrhunderte Deutschland mitgestaltet haben. Darüber ist in diesen Debatten aus meiner Sicht zuwenig gesprochen worden.
Als ein deutscher Staatsangehöriger, der sich europäisch fühlt und der jetzt sagt, daß er in Gleiwitz oder in Gliwice geboren wurde, erwähne ich, daß ich über 25 Jahre erfahren und erleben und jetzt dankbar würdigen darf, daß ich in das Ruhrgebiet integriert wurde. Ich halte die Integrationsleistung im Ruhrgebiet, aber auch in anderen Teilen Deutschlands — ich will das jetzt nicht unterschiedlich bewerten, man erlebt es nur in einem Teil selber — für

(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: So ist es, und dann sind da die besten Fußballer!)

— dazu komme ich gleich noch, Herr Kollege — undenkbar ohne das Mitwirken von Menschen mit polnischen Namen oder aus Polen.

(Beifall bei der SPD)

In der unpathetischen Weise, wie die Menschen im Ruhrgebiet es darstellen würden, nenne ich Szepan und Kuzorra und Libuda, den Flankengott,

(Zurufe von der CDU/CSU)

und Tilkowski und Kwiatkowski. Man könnte nun weitergehen. Ich habe fünf ausgesucht.

(Zuruf von der CDU/CSU)

— Der hatte so seine Schwierigkeit mit den Grundrechenarten.

(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Der hat ein Fünftel und ein Zehntel verwechselt!)

Das war das Problem. — So hätten es die Ruhrgebietsmenschen angegangen, und da zeigt es sich, wie gut man sich über die Farbklanggrenzen hier in Deutschland verstehen kann, Herr Kollege.
Wir können weitergehen in die Kommunalpolitik. Ich will hier nur einen nennen, den Oberbürgermeister, der dies im Ruhrgebiet am längsten war, Ernst Wilczok in Bottrop. Ich erwähnte diesen, weil er mir immer wieder gesagt hat: „In Bottrop, bei uns, da kann man die Heilige Messe noch in polnischer Sprache feiern." Alles dies ist deutsche Wirklichkeit, an die man sich erinnern muß.
Ich sage dies, weil ich möchte, daß das so weitergeht, daß sich Polen in Deutschland und Deutsche in Polen niederlassen können.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

In unserem Entschließungsantrag steht dies auch ausdrücklich drin. Natürlich gab es Debatten: Paßt es in die derzeitige politische Situation, wo man mit der Frage der Ausländer und Asylbewerber nicht fertig werden kann, auch noch zu fordern, Regelungen zu finden, daß sich Deutsche in Polen und Polen in Deutschland — hier gab es ja die Bedenken — niederlassen können, und zwar bereits auf Grund von Regelungen, die den entsprechenden späteren Vereinbarungen, Assoziierungsabkommen und Beitrittsabkommen zur EG vorgeschaltet werden könnten? Ich



Dr. Christoph Zöpel
möchte deutlich sagen: Ja, es ist nötig, denn Deutsche — darum ist es in den Debatten hauptsächlich gegangen — werden in Polen nur friedlich leben können, wenn Ausländer in Deutschland friedlich leben können.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der PDS/ Linke Liste, dem Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der FDP)

Alles, was Diplomatie ausgehandelt hat — und ich glaube, die Leistungen der deutschen Diplomatie und des Außenministeriums und auch des Ministers sind anzuerkennen — nützt nichts, wenn Ausländer in Deutschland nicht friedlich leben können.
Das Ganze geht weiter in der Frage: Wie werden wir mit der Völkerwanderung in unserem Kontinent fertig? Wir werden mit ihr nur fertigwerden, wenn Ausländer in Deutschland friedlich leben können, wenn deshalb Deutsche in Polen friedlich leben können, wenn dann in der Folge mehr und mehr Menschen zu der Entscheidung kommen, sie brauchen gar nicht nach Deutschland zu kommen. Denn eigentlich wollen sie es ja gar nicht; sie würden gerne in Polen oder Rußland bleiben. Das ist die dritte Stufe einer solchen Politik, die wir in diesem Zusammenhang sehen müssen.

(Beifall bei der SPD)

Eine Politik, bei der in der Folge des friedlichen Lebens von Ausländern in Deutschland Deutschstämmige im Ausland bleiben, ist wichtiger als alles, was wir über den Art. 146 diskutieren.
Ich wiederhole: Der Erfolg der diplomatischen Verhandlungen hinsichtlich der Verbesserung des Status der Minderheiten wird davon abhängen, wie deutsche Ausländerpolitik und auch wie eine humane deutsche Asylpolitik aussehen. Er hängt noch von einigen anderen Dingen ab, die ich erwähnen will. Den Anlaß dazu gibt unter anderem die Ergänzung des CDU-Antrags. Die Sprache der Diplomatie besticht dadurch, daß sie, um Menschen und Beteiligte nicht zu verletzen, manches verschleiert. Dies ist nicht immer so, sie kann auch die Wahrheit ausdrücken. Aber, meine Damen und Herren Kollegen von der CDU/CSU und der FDP, lassen Sie sich bitte auf der Zunge zergehen: Was ist eine „abschließende Geste"? Ich kann mir abschließende Gesten nicht vorstellen. Gesten sind ein Zeichen, wenn man noch nicht weiß, wie man endgültig handeln will.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn man ein Problem nicht gelöst hat, dann macht man eine Geste, um darüber hinwegzukommen. Der Sprachgebrauch „abschließende humanitäre Geste", der verräterrisch ist, macht vieles zunichte, was erfolgreiche Diplomatie geleistet hat. Denken Sie bitte noch einmal darüber nach!

(Beifall bei der SPD)

Ich möchte jetzt kurz diejenigen ansprechen, die für die Menschen sprechen, die vertrieben wurden, die deren Rechte artikulieren und Forderungen für sie stellen. Das ist legitim. Ich möchte Sie mit zwei Bitten ansprechen:
Die erste nimmt auf das Bezug, was ich schon erwähnt habe. Wer könnte bei uns in Deutschland am deutlichsten sagen, welchen Schaden die Verfolgung und die Diskriminierung von Ausländern anrichtet? Vielleicht könnten das am besten — das ist meine Bitte an die Vertriebenen-Verbände — diejenigen tun, die für die Rechte von Deutschen im Ausland streiten. Vielleicht wären die Vertriebenen-Verbände die berufensten, die heute laut ihre Stimme erheben sollten, um zu sagen, welche Wirkungen das hat, was wir in deutschen Städten derzeit erleben.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

Das zweite, was ich anführen möchte, ist eine Antwort. Wir Abgeordneten, die in Schlesien oder in Pommern oder in anderen Gebieten, die früher zu Deutschland gehörten und jetzt zu Polen gehören, geboren sind, bekommen ja Briefe, mit denen wir aufgefordert werden, eine andere Haltung zu den Verträgen einzunehmen, als die Mehrheit hier. Ich habe mich in den 45 Jahren, in denen ich dieses Schicksal bewußt erlebe, in Gleiwitz geboren und in NordrheinWestfalen aufgewachsen zu sein, damit beschäftigt: Meine Antwort ist: Die entscheidende Ursache dieser Vertreibung — neben anderen — ist, daß Nationalismus in totalitären verbrecherischen Rassismus umgeschlagen ist und daß auf dem Wege des Festhaltens an der Dominanz nationaler Kategorien das Problem des Zusammenlebens von Deutschen und Polen, wo immer sie wollen, nicht zu lösen ist und daß dies nur in einer versöhnenden europäischen Lösung aufgehoben werden kann. Dazu muß hier der Beitrag geleistet werden. Ich sage es ganz persönlich.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Meine Folgerung, auch aus dem Überdenken meiner Biographie, ist: Das Bereinigen der Vergangenheit und das Suchen nach einer das Nationale überwindenden europäischen Lösung halte ich für die Verpflichtung eines Menschen, der in Gleiwitz geboren ist.

(Beifall bei der SPD)

Die Heimat bleibt einem, sie nimmt ja keiner weg, solange wir keine Atombomben einsetzen. Wir können sie sehen und besuchen, das wollen wir auch wieder. Aber es nützt nichts, Heimat mit nationalen Grenzziehungen in eine Verbindung zu bringen, die uns nicht weiterhelfen kann.
Damit bin ich bei Europa, das wir schnell schaffen müssen, damit auch Polen Mitglied einer europäischen Union werden kann. Zu diesem Denken über ein neues Europa will ich eine prinzipielle Bemerkung machen, die uns klar sein muß und die manche, die professionell über Europa diskutieren, so glaube ich, noch nicht so klar sehen.
Wir haben uns bei dem Prozeß des Werdens der Europäischen Gemeinschaft daran gewöhnt, daß der schrittweise wirtschaftliche Angleichungsprozeß im Augenblick bis zum Binnenmarkt fortgeschritten ist und wir nun nach diesem erfolgreichen wirtschaftlichen Angleichungsprozeß zu mehr und mehr europäi-



Dr. Christoph Zöpel
scher Zusammenarbeit kommen können — bis hin zur politischen Union.
Dieses Denkmodell eignet sich nicht zur Hinführung Polens, der CSFR und Ungarns — um nur diese drei zu nennen — zu Europa. Wir müssen umdenken. Zuerst ist es nötig bereit zu sein, mehr an politischer Zusammenarbeit zwischen der EG und den neuen Staaten auf den Weg zu bringen. Die Assoziierungsabkommen können nur eine Begleitung sein, weil es natürlich wirtschaftliche Unterschiede gibt. Aber zu warten, bis über Assoziierungsabkommen die wirtschaftliche Angleichung so weit ist, daß dann die politische Zusammenarbeit folgen könnte, dies schiebt die politische Integration mit Polen, der CSFR und Ungarn — ich will nicht sagen — auf den SanktNimmerleins-Tag, aber weit ins nächste Jahrtausend.

(Hans Koschnick [SPD]: Sehr wahr! — Zustimmung des Abg. Dr. Hermann Otto Sohns [FDP])

— Ich freue mich. Es geht hier nicht um Details, es geht um das Bewußtsein europäischen Denkens. Nicht die Politik folgt der Wirtschaft, sondern hier kann die Wirtschaft es nur begleitend erreichen, daß die Priorität der politischen Integration gelingt.
Wenn wir über die wirtschaftliche Integration sprechen, will ich auf einen Punkt kommen, der einen schon besorgt macht, wenn er in Deutschland so laut artikuliert wird. Wir alle wissen, daß die westlichen Industriestaaten, vor allem wenn sie kleiner sind, aber selbst wenn sie so groß sind wie Deutschland, davon leben, daß sie exportieren können. „Der Exportweltmeister" — jetzt habe ich einmal ironisch eine nationale Kategorie angesprochen — , der wir sind, müßte doch als erstes darauf Wert legen, daß Polen in die Lage versetzt wird, mehr zu exportieren — der einzige Weg, diese Länder dauerhaft unabhängig von Zahlungen zu machen. Daß die Assoziierungsabkommen in dieser Frage lange gestockt haben, ist von daher fast schon tragisch. Wir müssen das lauter und deutlicher sagen, bevor wir uns in Details verlieren; dafür appelliere ich, auch wenn das hier Schmerzen bereitet.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE und der FDP)

Das ist ja auch die Frage im Zusammenhang mit den Unabhängigkeitsbestrebungen aller neuen Staaten in Osteuropa: Nur wenn sie exportfähig sind, können sie soviel importieren, um das westliche Wohlstandsniveau zu erreichen. Das ist einfache ökonomische Logik. Auf diesen Punkt möchte ich die Bemerkungen zur wirtschaftlichen Integration beschränken.
Ich möchte mit einer Hoffnung abschließen, die ich so formulieren will: Ich glaube, diese Verträge werden nur in einem Geist umgesetzt werden können, in dem sich Polen und Deutsche als multikulturelle Europäer fühlen. Wenn sie sich so fühlen, werden sie sich entscheiden können, wo sie — Deutsche und Polen — leben wollen: in Paris, Wien, Wilnius, Warschau, Berlin, Bonn oder Krakau.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der FDP und der PDS/Linke Liste)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1205001800
Als nächster spricht der Abgeordnete Ortwin Lowack.

Ortwin Lowack (CSU):
Rede ID: ID1205001900
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Da wir schon bei Gleiwitz, in dem auch ich geboren bin, und bei Europa sind: Selten wurden in der modernen europäischen Geschichte in Verträge so viele Hoffnungen, Illusionen und Suggestionen hineingepackt, deren Fehlschlagen eigentlich klar vorhersehbar ist, wie in die beiden Verträge, die wir heute ratifizieren sollen.
Verträge sind gut, wenn sie auf der Gerechtigkeit und der Ehrlichkeit aufbauen; danke für den Hinweis, Kollege Hennig. Aber sie sind schlecht, wenn sie auf dem Augenzwinkern zwischen Spitzenpolitikern, auf der Ungerechtigkeit, auf der Unwahrhaftigkeit, wenn sie auf Zynismus gegenüber den unmittelbar Betroffenen aufbauen, die man nicht gehört hat.
Herr Bundeskanzler — er war vorhin jedenfalls da — : Es kann doch nicht wahr sein, daß sich die unmittelbar Betroffenen in Tausenden von Briefen an das Kanzleramt wenden und von dort die Nachricht bekommen, daß sie sich keine Sorgen zu machen brauchten — ihr Eigentum werde nämlich von der Bundesregierung anerkannt —, danach weiter fragen, an den Finanzminister verwiesen werden und von dort die Antwort bekommen, man wisse von nichts, es gebe das Lastenausgleichsgesetz, in dem aber steht, daß diese Frage nicht geregelt ist. Das ist Zynismus; das ist das Ausschließen; das ist das Nichtberücksichtigen der Betroffenen.
Es ist ein Skandal, daß nicht nur die Millionen Menschen, die hier, in der heutigen Bundesrepublik Deutschland, leben, bei diesen Entscheidungsprozessen nicht beigezogen wurden, sondern auch die Deutschen nicht, die unter unglaublichen Bedingungen in ihrer alten Heimat blieben, weil sie dort zum Großteil gebraucht wurden, da niemand außer ihnen die Bergwerke bedienen wollte.
Ich möchte deswegen aus der Rechtsverwahrung meiner Landsmannschaft, der schlesischen Landsmannschaft, ein paar Sätze zitieren dürfen. Es heißt:
Die Vertreibung der Deutschen aus ihrer angestammten Heimat und die Enteignung der deutschen Bevölkerung verstoßen gegen die allgemein anerkannten Grundsätze des Völkerrechts. Die Schlesier protestieren gegen den Rechtsakt der Bestätigung der bestehenden Grenze. Der Vertrag ist ohne ihre Mitwirkung und Zustimmung abgeschlossen worden und widerspricht dem Selbstbestimmungsrecht der Völker.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es ist ja teilweise eine gespenstische Argumentation:

(Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Was Sie machen!)

Die Bundesregierung hat beim Bundesverfassungsgericht — auch verschiedentlich in der Diskussion —



Ortwin Lowack
vortragen lassen, es hätte die deutsche Einheit in der Form, in der sie im letzten Jahr vollzogen wurde, nicht ohne eine gleichzeitige polnische Regelung gegeben.

(Vorsitz : Vizepräsident Helmuth Becker)

Nachdem das aber nach dem Völkerrecht tatsächlich so nicht zulässig gewesen wäre, weil die deutsche Einheit ein Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts der Deutschen war, hat der Bundesaußenminister ganz schnell die Kurve bekommen und im Gegensatz zu Ihnen, lieber Herr Schäfer, ausdrücklich gesagt, es sei eine freie Entscheidung gewesen und habe im Prinzip mit der deutschen Einheit nichts zu tun. Hier warten wir noch auf eine Antwort.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, diese Verträge weisen nicht in die Zukunft. Sie bedeuten keine Regionalisierung der Entscheidungsprozesse in Polen, die Voraussetzung dafür sind, daß sich dieses Land überhaupt entwickeln kann. Wir können doch finanziell hineinstecken, was wir wollen, die Polen schaffen es nicht, überhaupt erst eine wirtschaftliche Entwicklung in Gang zu setzen, die tatsächlich nach Europa führt, wenn sie nicht zu einer anderen Struktur bereit sind.
Es kann doch nicht wahr sein, daß wir mit öffentlichen Mitteln, mit Steuermitteln das ersetzen wollen, was mit privaten Mitteln geleistet werden könnte. Wenn auch nur 20 % der Vertriebenen investieren wollten, wenn sie bereit wären, dort in ihr Eigentum zu investieren, wo es nicht von Polen besetzt ist, bei dem die Häuser verfallen und die Grundstücke verkommen, dann sind das schon Beträge in einer Größenordnung von 80 bis 100 Milliarden DM. Das können wir doch niemals durch ein öffentliches Engagement ersetzen wollen. Hier wird der falsche Weg gegangen.
Man kann auch nicht Versöhnung predigen und fordern, wenn diese Versöhnung auf der Verhöhnung der Opfer aufbaut. Wir fördern ja geradezu — um in die Geschichte hineinzugehen — einen Nationalismus und Chauvinismus, der für Europa gerade nicht die Zukunft bedeuten kann.
Warum wurden die millionenfachen Kontakte nicht genutzt? Warum hat man den hervorragenden Brief eines Georg Brylka, der immerhin der Sprecher für 300 000 Deutsche ist, nicht genutzt? Die Präsidentin hat dankenswerterweise diesen Brief dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses zugeleitet. Warum ist dieser hervorragende Brief der Betroffenen, der kompetent ist, der sachlich ist, der engagiert ist, nicht ein einziges Mal zum Gegenstand einer Beratung in einem der Ausschüsse oder im Parlament geworden?
Es kann doch nicht wahr sein, daß zum Maßstab der deutschen Politik der polnische Außenminister wird. Es ist der Mann, der behauptet hat, die Deutschen hätten mehr oder weniger freiwillig das Land verlassen; deswegen habe man es großzügigerweise von polnischer Seite besiedeln müssen. So etwas ist ein Schlag in das Gesicht der Betroffenen und kann nicht akzeptiert sein.
Warum hat dieser Bundestag nicht abgewartet, bis der erste demokratisch gewählte Sejm zustande gekommen ist? Warum müssen wir jetzt das Ratifizierungsverfahren durchziehen? Warum hat der Bundestag nicht die gestern erneut erhobene Forderung von über 500 Milliarden DM abgelehnt und zurückgewiesen, die erhoben wird, einfach weil man den Eindruck hat, daß man mit den Deutschen umgehen kann, wie man will?
Weiter: Warum zahlen wir Rente für Polen, die in Deutschland leben, für ihre Zeit in der Roten Armee, während den Deutschen, die in der Wehrmacht gedient haben, für die gleiche Zeit nicht auch Rente gezahlt wird, wenn sie in ihrer alten Heimat geblieben sind?
Es gibt also eine Reihe von Problemen, die ausgespart werden, die nicht erörtert werden. Diese Verträge sparen die eigentlichen Probleme aus. Sie befassen sich nur verbal mit einer Entwicklung in Europa, aber nicht in der Substanz.
Das gilt leider auch für die Erklärungen, die vorliegen und die für mich so etwas wie eine Alibifunktion dafür haben, daß diese Verträge schlecht sind.
Wolfgang Bötsch, ich habe ausdrücklich begrüßt, daß man den Außenminister rechtzeitig im Januar gefragt hat: Was steht in den Verträgen drin? Aber wie war denn die Behandlung des Parlaments? Nichts ist an Information übergekommen. Erst als alles gelaufen war, durfte man — hinterher — zur Kenntnis nehmen, was vereinbart werden sollte.

(Helmut Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, unser Volk, zu dem ich stehe und für das ich mich in dieser Position verantwortlich fühle, hat unter schwierigsten Bedingungen, mit härtester Arbeit nicht nur den Aufbau des eigenen Landes vollzogen, sondern auch so unendlich viel an Wiedergutmachung geleistet, wie es einmalig in der Geschichte der Menschheit ist. Es hat diese Behandlung und diese Verträge nicht verdient.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205002000
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort der Frau Abgeordneten Dr. Dorothee Wilms.

Dr. Dorothee Wilms (CDU):
Rede ID: ID1205002100
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es wird uns jetzt, bei dieser Debatte zur letzten Beratung der beiden Polen-Verträge, noch einmal bewußt, daß diese Verträge das Ende einer historischen Epoche und gleichzeitig den Beginn einer neuen markieren.
Die Ratifizierung des Grenzvertrags mit Polen ist der letzte völkerrechtlich verbindliche Akt, der in einer unauflösbaren Verbindung zur Vereinigung Deutschlands steht. Die Anerkennung der Grenze zu Polen war politische Voraussetzung dafür, daß wir Deutsche unsere so lange erhoffte staatliche Einheit im Einvernehmen mit allen Partnern und europäischen Nachbarn vollenden konnten.



Dr. Dorothee Wilms
Wer mit großer Nüchternheit die politische Situation und Konstellation unserer Zeit analysiert, weiß, daß es einen anderen Weg zu diesem Ziel nicht gab. Dieser Weg ist für viele von uns schwer. Ich weiß, daß auch viele in Westdeutschland Geborene so denken. Aber er ist besonders schwer für diejenigen, die mit diesem Vertrag auch völkerrechtlich-formal den endgültigen Verlust ihres alten Heimatgebietes vollzogen sehen. Niemand sollte sich über den Schmerz der Betroffenen, gerade auch älterer Mitbürger, hinwegsetzen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden und große ideelle und materielle Verluste hinnehmen mußten. Heimat läßt sich eben nicht einfach wegstreichen.
Aber ich sage es noch einmal: Einen anderen Weg zur Einigung Deutschlands als den beschrittenen Weg hat uns die Geschichte nicht angeboten. Die Menschen in der ehemaligen DDR — ich sage dies ganz bewußt als letzte Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen — hätten es nie verstanden und es uns auch nie verziehen, wenn wir dieses einmalige Angebot der Geschichte ausgeschlagen hätten. Im übrigen hätten wir auch niemandem damit genutzt.
Wir wissen heute noch besser als im vorigen Jahr, wie kurz die politisch-geschichtliche Chance war, die sich uns bot, und daß sie verstrichen wäre, wenn wir sie nicht sofort genutzt hätten. Die Bundesregierung hat in der gegebenen historischen Situation schnell und zukunftsgerichtet gehandelt.
Aber, meine Damen und Herren, wir stehen jetzt auch am Anfang einer neuen historischen Phase, die bereits in der Außenpolitik von Konrad Adenauer prinzipiell angelegt war. Übergeordnete Ziele und Leitvorstellungen waren und sind die Aussöhnung mit Frankreich und mit Polen und die Verständigung mit Israel und den Juden in aller Welt. Wir kommen diesen Zielen durch den heute zu verabschiedenden Nachbarschaftsvertrag und den Grenzvertrag mit Polen ein großes Stück näher.
Es geht um die Versöhnung zwischen Deutschen und Polen, was die Anerkennung von Schuld auf beiden Seiten einschließt. In diesem Sinne begrüße ich es, daß gestern das Bundeskabinett die Stiftung „Deutsch-Polnische Aussöhnung" beschlossen hat. Es geht darum, sich zusammenzufinden, als Völker und als Menschen freundschaftlich zusammenzuleben, Grenzen als Brücken und nicht als trennende Mauern zu sehen.
Der deutsch-polnische Vertrag ist aber auch ein weiterer Schritt nach Europa. Er dient einer friedvollen Ordnung in einem größeren Europa. Er wird — davon bin ich überzeugt — nach Sinn und Inhalt nur gelingen und Erfolg bringen, wenn er in europäischem Geist erfüllt wird. Polen will nach Europa und an seine alte europäische Tradition anknüpfen. Deutschland, seit Jahrzehnten in die europäische Ordnung fest eingebunden, wird ein vertrauensvoller und hilfreicher Nachbar sein. Nur in diesem gemeinsamen europäischen Geist können die Ziele dieses Vertrages zu einer guten Nachbarschaft auf wirtschaftlichem, auf kulturellem, auf sozialem Gebiet und auf allen anderen Gebieten erreicht werden.
Meine Damen und Herren, gerade der Zusammenarbeit auf dem weiten Feld von Bildung und Wissenschaft, von Kultur und von Kulturaustausch messe ich eine besonders hohe Bedeutung bei. Kultur verbindet oft mehr, als wir im hektischen Tagesgeschäft wahrnehmen. Die regionale, grenzüberschreitende Kooperation wird auf allen Gebieten ganz besonders fruchtbar und nützlich sein können.
Ich denke, daß die Ausfüllung und Auslegung des Vertrages in einem europäischen Geist von besonderer Bedeutung auch dort ist, wo es um die Wahrung der Rechte der jeweiligen Minderheiten in Polen und in Deutschland geht, und zwar im Sinne der Menschenrechte und nicht nur formal und den Buchstaben nach. Diese entsprechenden Artikel des Vertrages müssen mit kraftvollem Leben erfüllt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der Vertrag setzt hier nur einen Mindeststandard, so wie er im Kopenhagener Dokument der KSZE und in den Empfehlungen des Europarates vereinbart ist. Wir hoffen hier für die Zukunft auf eine weitere Entwicklung.
Auch deshalb hat die Koalition den Entschließungsantrag eingebracht und begrüßt ganz besonders die beigefügten Briefe der beiden Außenminister zum Vertrag. Ein solcher Prozeß würde auch der Erweiterung der für Europa insgesamt so wichtigen Minderheitenrechte dienen und eine weitere Entfaltung der Menschenrechte in ganz Europa bedeuten.
Wir unterstützen aus vollem Herzen die geplante Mitgliedschaft Polens im Europarat ebenso wie die Assoziierung und spätere Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Gemeinschaft.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Dies ist für Polen gut, aber dies ist auch für Europa gut; denn Europa endet nicht an Oder und Neiße, wie es uns die kommunistischen Regime lange Zeit glauben lassen wollten.
Europäisches Denken und Fühlen ist von größter Bedeutung für die Überwindung und die Abwehr eines hier und dort leider wieder aufflammenden Nationalismus und einer Fremdenfeindlichkeit. Nationalismus läßt sich meines Erachtens nur durch die Idee eines gemeinsamen Europa überwinden, auf der Basis von Menschenwürde und Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlichem Wohlstand.
Nach der Beseitigung des Eisernen Vorhangs in Deutschland und in Europa stehen wir alle, gerade wir Deutschen, aber auch die Völker und Menschen der mittelost- und osteuropäischen Staaten, vor so vielen neuen ungelösten, mit riesigen finanziellen Lasten verbundenen Problemen, daß sie nicht im Alleingang oder gar im Gegeneinander, sondern nur in einem vertrauensvollen Miteinander gelöst werden können.
Ich hoffe sehr, daß dieser Vertrag zur guten Nachbarschaft mit dazu beiträgt, daß das Vertrauen zueinander in unseren Völkern und bei den Menschen wächst; denn ohne Vertrauen bleibt jeder Vertrag Makulatur.



Dr. Dorothee Wilms
Ich setze für die Zukunft vor allem auf die jüngere Generation. Deshalb kommt in meinen Augen dem Deutsch-Polnischen Jugendwerk eine nicht zu überschätzende Bedeutung zu. Was uns Älteren vielleicht Schwierigkeiten bereitet oder was wir nur aus rationalen Überlegungen tun können, gelingt der Jugend besser, nämlich offen und ohne Vorbehalte auf einander zuzugehen und gemeinsam die Zukunft zu gestalten. Die Welt von morgen ist ihre Welt. In ihrer Hand liegt es, wie sehr Frieden und Freiheit, Gerechtigkeit und Freundschaft künftig wirken werden.
Ich habe die Hoffnung, daß sich die deutsch-polnischen Beziehungen zwischen den Staaten, aber auch zwischen den Menschen so gut entwickeln, daß ihre Qualität eines Tages weit über die Ausfüllung des Nachbarschafts- und Freundschaftsvertrages hinausreicht.
Deshalb bitte ich alle Kollegen um Zustimmung zu den beiden Verträgen und zum Entschließungsantrag der CDU/CSU und der FDP.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205002200
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nunmehr hat der Abgeordnete Norbert Gansel das Wort.

Norbert Gansel (SPD):
Rede ID: ID1205002300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die deutsche Minderheit hat in Polen in den vergangenen Jahrzehnten Schweres, sehr Schweres erlitten. Sie ist auf polnischer Seite oft als eine Belastung empfunden worden. Jetzt besteht die historische Chance, daß die deutsche Minderheit auf dem Weg Polens in die Europäische Gemeinschaft eine Brückenfunktion übernehmen kann.
Eine loyale, respektierte und selbstbewußte deutsche Minderheit könnte nach allem Leid in der Vergangenheit zum Glücksfall in den deutsch-polnischen Beziehungen werden. Eine deutsche Minderheit, die sich illoyal zum polnischen Staat verhielte, wäre ein Unglück für Europa.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Konrad Weiß [Berlin] [Bündnis 90/GRÜNE])

Daran, meine Damen und Herren, knüpfe ich zwei Forderungen und Bitten:
Erstens. Viel wird in Zukunft von der Einstellung und von der Arbeit der deutschen Vertriebenenverbände in bezug auf die deutsche Minderheit in Polen abhängen. Vor mir liegt eine Erklärung des Bundes der Vertriebenen vom 16. Oktober 1991 zur zweiten Beratung der Verträge im Bundestag; Herr Dr. Czaja hat sie abgegeben. Kritik an Verträgen ist in einer Demokratie legitim, aber in dieser ganzen langen kritischen Erklärung zu den Verträgen fehlt ein Satz, und diesen Satz fordern wir ein. Er muß lauten: Auch die Vertriebenenverbände respektieren den Grenzvertrag mit Polen.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der FDP)

Zweitens. Viel wird auch davon abhängen, ob dieser Deutsche Bundestag die Kraft hat, nicht nur den Nachbarschaftsvertrag, sondern auch den Grenzvertrag mit Polen einmütig zu verabschieden. Die SPD ist seit vielen Jahren im Interesse des inneren und des äußeren Friedens für die Anerkennung der polnischen Westgrenze eingetreten. Der Bundeskanzler hat im vergangenen Jahr immer wieder darauf hingewiesen, daß die Anerkennung der polnischen Westgrenze eine unerläßliche Voraussetzung für die deutsche Einigung ist. Auch das war richtig. Das ist im Zwei-plus-Vier-Vertrag zu einer völkerrechtlichen Verpflichtung der Bundesrepublik geworden.
Deshalb sage ich im Hinblick auf diejenigen, die — ausschließlich aus den Reihen der CDU/CSU — in ihrer eigenen Logik gegen den Grenzvertrag stimmen wollen: Stimmen gegen den Grenzvertrag mit Polen sind nachträgliche Stimmen gegen die deutsche Einheit.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Konrad Weiß [Berlin] [Bündnis 90/GRÜNE] — Zurufe von der CDU/CSU: Quatsch!)

Deshalb appelliere ich an Sie: Stimmen Sie dem Grenzvertrag einmütig zu!
Schließlich: Wir hätten gern für eine gemeinsame Entschließung auch gern zugestimmt; das wäre für das deutsch-polnische Verhältnis gut gewesen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Stimmen Sie doch unserem Antrag zu!)

Das wird schließlich und endlich auch daran scheitern, daß wir es nicht akzeptieren können, daß unsere Verpflichtung, Hilfe zu leisten — Entschädigung kann man wohl nicht sagen — für die polnischen Zwangsarbeiter, die während des Zweiten Weltkriegs von deutschen Unternehmen geschunden und ausgebeutet worden sind, im Antrag der Regierungsfraktionen als eine „abschließende humanitäre Geste" bezeichnet wird. Damit werden mehr Wunden wieder aufgerissen, als Wiedergutmachung geleistet wird.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

Nein, es gibt keinen Abschluß in der deutschen Geschichte. Auch dieses Kapitel bleibt für uns offen. Aber offen sind auch neue, glücklichere Kapitel im deutsch-polnischen Verhältnis. Deshalb bitte ich Sie im Namen der SPD-Fraktion um einmütige Zustimmung zu beiden Verträgen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste und des Abg. Konrad Weiß [Berlin] [Bündnis 90/GRÜNE])


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205002400
Zu einer Zwischenbemerkung gemäß § 27 der Geschäftsordnung erteile ich dem Abgeordneten Dr. Ulrich Briefs das Wort.

Dr. Ulrich Briefs (PDS/LL):
Rede ID: ID1205002500
Wir haben im drittletzten Beitrag, denke ich, eine Stimme der Ewiggestrigen gehört. Ich will aber nicht näher darauf eingehen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Hand aus der Tasche!)

Ich bin tief betroffen über die jetzt zur Abstimmung stehende Entschädigungsregelung für polnische NS-Opfer. Sie ist nach meiner Auffassung billig; sie ist



Dr. Ulrich Briefs
schäbig, um es klar zu sagen. Ich schäme mich als
Abgeordneter dieses Parlaments für diese Regelung.

(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Wir schämen uns für Sie! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

500 Millionen DM für über eine Million Betroffene! Das heißt: Im Durchschnitt erhält jeder Betroffene etwa 500 DM. Zurückgerechnet auf das Jahr 1950 wären das etwa 50 DM. Überlegen Sie sich einmal, was das heißt: 500 DM für jahrelange Schinderei, 500 DM für unmenschliche KZ-Haft, 500 DM für brutale, maßlose Ausbeutung in deutschen Rüstungsbetrieben.
Ich kann nur noch einmal sagen: Diese Regelung ist dieses reichen Landes einfach unwürdig. Sie ist auch dieses Parlaments unwürdig. Es ist auch unwürdig, an den Schluß einfach nur einen Appell an die deutschen Firmen zu richten, die einen Teil ihres Reichtums der Ausbeutung von Millionen polnischer Arbeiterinnen und Arbeiter in diesen Jahren verdanken.

(Helmut Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Zahlen Sie eigentlich Steuern?)

Das ist zuwenig.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205002600
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Zu einer persönlichen Erklärung hat Herr Professor Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten jetzt das Wort. Es liegen mir außerdem eine ganze Reihe weiterer Erklärungen gemäß § 31 der Geschäftsordnung schriftlich vor *).
Bitte sehr, Herr von Stetten.

Dr. Freiherr Wolfgang von Stetten (CDU):
Rede ID: ID1205002700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es fällt mir als frei gewähltem Abgeordneten des Deutschen Parlaments schwer, völkerrechtliches Unrecht zu bestätigen. Die willkürliche Abtrennung nahezu eines Viertels des Deutschen Reiches und die Vertreibung von Millionen von Deutschen 1945 waren und bleiben völkerrechtswidrig. Das gilt es festzuhalten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir verzichten heute auch nicht auf diese Gebiete; das ist durch Fakten und andere Verträge schon geschehen.

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist ungeheuerlich!)

Aber wir bestätigen diese Grenze.
Die Zustimmung wäre mir leichter gefallen, wenn auch von polnischer Seite, und zwar von staatlicher und auch kirchlicher Seite — das betone ich ausdrücklich —, eine deutliche Geste mit dem Bekenntnis zum Unrecht der Vertreibung und der Unmenschlichkeiten auch auf polnischer Seite erfolgt wäre.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Solche Bekenntnisse, meine Damen und Herren, dürfen keine Einbahnstraße sein. Ich fordere sie vom
Staatspräsidenten Walesa und von Kardinal Glemp
*) Anlagen 2 bis 8
an, nachdem wir heute erneut vorleisten, auf Kosten der Vertriebenen.
Nur weil ich beide Verträge als Einheit sehe, die die Vergangenheit bewältigen sollen und die Zukunft sichern werden, kann ich heute zustimmen. Ich erwarte aber Schritt für Schritt die Verbesserung der zugesagten Minderheitsrechte und die Anerkennung deutscher Traditionen, Doppelbenennungen von Gemeinden und Straßen sowie Kaufmöglichkeiten für rückkehrwillige Vertriebene.

(Zuruf des Abg. Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste])

— Sie können mich dabei nicht stören.
Nur in dem festen Glauben an ein zukünftiges Europa mit Polen gehe ich davon aus, daß die OderNeiße-Linie, die zur Oder-Neiße-Grenze wurde, wieder eine Oder-Neiße-Linie als Provinzgrenze zwischen Deutschland und Polen wird, wie schon heute, spätestens aber 1993 die Grenzen zwischen Deutschland und Frankreich und zwischen Deutschland und Holland. Dazu bedarf es auf beiden Seiten guten Willens und Kraft. Wir bringen beides schon heute auf.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205002800
Meine Damen und Herren, wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Entwurf eines Gesetzes zum Vertrag mit der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit auf den Drucksachen 12/1103 und 12/1131. Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/1307, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich rufe den Gesetzentwurf mit seinen Art. 1 und 2, Einleitung und Überschrift auf. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünschen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Gesetzentwurf ist bei einigen Gegenstimmen aus der Fraktion der CDU/CSU und zwei Enthaltungen aus dieser Fraktion angenommen.
Wir stimmen jetzt über den Entwurf eines Gesetzes zum Vertrag mit der Republik Polen über die Bestätigung der bestehenden Grenzen auf den Drucksachen 12/1104 und 12/1132 ab. Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/1308, auch diesen Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich rufe den Gesetzentwurf mit seinen Art. 1 und 2, Einleitung und Überschrift auf und bitte wiederum diejenigen, sich zu erheben, die diesem Gesetzentwurf zuzustimmen wünschen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Gesetzentwurf ist bei einer größeren Anzahl von Gegenstimmen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/ 1319. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Entschließungsantrag der SPD ist gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP abgelehnt.

(Norbert Gansel [SPD]: Einige Enthaltungen bei der FDP!)




Vizepräsident Helmuth Becker
— Bei einigen Enthaltungen in der FDP-Fraktion.
Wir stimmen jetzt noch über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 12/1317 ab. Sie betrifft die unter Tagesordnungspunkt 4 c aufgeführten Anträge.
Zu Buchstabe a der Beschlußempfehlung liegt der angekündigte Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 12/1333 vor. Wir stimmen zunächst über diesen Änderungsantrag ab. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Antrag ist gegen die Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/GRÜNE und der PDS/ Linke Liste bei vier Stimmenthaltungen aus der CDU/ CSU-Fraktion angenommen.
Wir stimmen nun noch über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses mit der soeben beschlossenen Änderung ab. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Diesmal ist die Beschlußempfehlung gegen die Stimmen der SPD, der PDS/Linke Liste und des Bündnisses 90/GRÜNE sowie bei sechs Stimmenthaltungen aus der Fraktion der CDU/CSU angenommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit ist dieser Tagesordnungspunkt abgeschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes und anderer Vorschriften
— Drucksachen 12/1125, 12/1288 —
Überweisungsvorschlag :
Ausschuß für Familie und Senioren (federführend) Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Frauen und Jugend
Haushaltsausschuß mitberatend
und gemäß § 96 GO
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Ich höre und sehe keinen Widerspruch. — Dann ist das so beschlossen. —

(Unruhe)

Meine Damen und Herren, ich eröffne nun die Aussprache. Das Wort hat Frau Bundesminister Hannelore Rönsch.

Hannelore Rönsch (CDU):
Rede ID: ID1205002900
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub haben die Lebenssituation gerade junger Familien in den letzten Jahren ganz entscheidend verbessert. Anfang 1986 galten bis zum zehnten Lebensmonat eines Kindes Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub. In der Zwischenzeit konnten wir dies zweimal verlängern, zuletzt bis zum 18. Lebensmonat. Jetzt wollen wir diese Leistungen für meist junge Familien auch weiter ausbauen. Dazu hat die Bundesregierung einen Gesetzentwurf beschlossen, mit dem das Bundeserziehungsgeldgesetz und sieben weitere Gesetze geändert werden müssen.
Wir verfolgen damit zwei Zielsetzungen. Zum einen soll die mit der Koalitionsvereinbarung verabredete Verlängerung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub verwirklicht werden, und zum anderen wollen wir die Inanspruchnahme von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub weiter ausbauen. Der Erziehungsurlaub soll bis zum Ende des dritten Lebensjahres gewährt werden, und zwar für Kinder, die ab Anfang 1992 geboren werden. In dieser Zeit bleibt die soziale Sicherung voll erhalten: Kündigungsschutz, Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung und auch Schutz durch die Arbeitslosenversicherung.
Im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung soll es darüber hinaus eine weitere Verbesserung geben. Künftig sind auch diejenigen Eltern in die Weiterversicherung einbezogen, die während des Erziehungsurlaubs kein Erziehungsgeld erhalten, weil das Einkommen des Ehepartners über der Einkommensgrenze liegt.
Erziehungsurlaub wird also künftig solange möglich, bis ein Kind im Kindergartenalter ist, bis es in den Kindergarten gehen kann. Damit verwirklichen wir unser Ziel, das Heiner Geißler schon seinerzeit, 1986, im Auge hatte.
Das Erziehungsgeld wird ebenfalls verlängert.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Bevor er in Ungnade fiel!)

— Ich habe das leider nicht verstanden.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Bevor er in Ungnade fiel!)

— Er ist nicht in Ungnade gefallen. Wir können uns immer wieder auf die sozialen Leistungen von Heiner Geißler beziehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich muß sagen, ich bin ausgesprochen stolz darauf und verstehe natürlich ein bißchen Ihre Wehmut an der Stelle, denn einen solchen Vordenker gerade im sozialen Bereich haben Sie sich ja immer gewünscht. Viele Gesetzesinitiativen, die wir jetzt ausbauen und erweitern, haben ihren Ursprung bei Heiner Geißler gehabt. Darauf sind wir stolz.

(Zuruf von der SPD: Er hat sie uns geklaut!)

Wir wollen aber auch das Erziehungsgeld, das er seinerzeit eingeführt hat, weiter verlängern. Für die Anfang 1993 geborenen Kinder soll es bis zum Ende des zweiten Lebensjahres gezahlt werden. Diese Verlängerung um weitere sechs Monate erfordert für 1994 zusätzliche Ausgaben in Höhe von 800 Millionen DM und ab 1995 in Höhe von 2,7 Milliarden DM.
Ich meine, das ist eine ganz gewaltige Leistungsverbesserung der Bundesregierung gerade für die Familien mit Kindern.
Unser Ziel haben wir dann damit insoweit erreicht, wenn wir in allen Bundesländern — ich habe das hier wiederholt gesagt; hier Herr Kollege, wäre ich ausgesprochen dankbar, wenn Sie zuhören würden — auch für das dritte Jahr ein Landeserziehungsgeld hätten.

(Beifall bei der CDU/CSU)




Bundesministerin Hannelore Rönsch
Momentan ist es ja so, daß nur Baden-Württemberg für ein Jahr, Bayern und Berlin je für ein halbes Jahr und Rheinland-Pfalz ab dem dritten Kind das Erziehungsgeld zahlen. Wenn Sie einmal überlegen, wann Rheinland-Pfalz dieses Erziehungsgeld eingeführt hat, dann werden Sie sehen, daß es vor der letzten Wahl war, so daß es dann immer christdemokratische Regierungen waren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich kann hier nur an Sie appellieren, daß Sie den sozialdemokratisch regierten Bundesländern doch auch einmal deutlich machen, daß sie jetzt die rechtliche Voraussetzung haben und auch Landeserziehungsgeld einführen können. Wenn dann immer gesagt wird, dafür sei kein Geld vorhanden, dann sollten sie sich an den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt einmal ein Beispiel nehmen; denn diese beiden Bundesländer von den fünf neuen Bundesländern sind jetzt in der Überlegung, ein Landeserziehungsgeld zu zahlen. Wenn man etwas für Familien tun will, wenn man gerade etwas für junge Familien tun will, sollte für die sozialdemokratisch geführten alten Bundesländer Geld eigentlich nicht mehr unbedingt eine Ausrede sein dürfen.
Die übrigen Länder sollten sich jetzt gerade hieran ein Beispiel nehmen und das Landeserziehungsgeld einführen.
Über die Verlängerung hinaus ist es mein ganz besonderes Anliegen, die Bedingungen für die Inanspruchnahme von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub zu verbessern, weil wir ganz besonders für die Väter einen Anreiz schaffen wollen, sich an der Erziehung ihrer Kinder zu beteiligen. Momentan sind es nur 1,4 % der Väter, die Erziehungsgeld in Anspruch nehmen. Beim Erziehungsurlaub beträgt der Anteil 0,4 %. Das sind Zahlen, die man eigentlich gar nicht laut nach draußen sagen dürfte.

(Zuruf von der SPD: Ganz laut!) — Oder ganz laut.

Wir müssen hier auch in der Öffentlichkeit ein anderes Bewußtsein schaffen, so daß es die Männer nicht als eine Diskriminierung empfinden, wenn sie zu Hause sind und sich durchaus an der Freude beim Kindererziehen beteiligen.
Wenn Sie sich Statistiken darüber ansehen, wer Erziehungsgeld in Anspruch nimmt, dann stellen Sie fest, daß es vorwiegend Väter mit freien Berufen sind. Da, meine ich, müssen wir gesellschaftspolitisch alle zusammenwirken: die Arbeitgeber, aber auch die Gewerkschaften, die Kirchen und alle anderen gesellschaftspolitischen Kreise, damit der Erziehungsurlaub eine größere Akzeptanz auch bei den Männern findet.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

— Es könnten ruhig ein paar Männer mehr klatschen,

(Beifall bei der CDU/CSU)

weil ich auch von den Männern erwarte, daß sie sich
in ihrem Bekannten- und Freundeskreis dafür einsetzen, daß die Männer den Erziehungsurlaub in Anspruch nehmen.
Damit sich zumindest zukünftig mehr Väter an der Erziehung beteiligen, wollen wir die abwechselnde Nutzung der Leistung zwischen Vater und Mutter erleichtern. Bisher war beim Erziehungsurlaub der berufliche Wechsel zwischen Vater und Mutter nur einmal möglich. Nach der neuen Regelung des Gesetzes wird dann der Wechsel dreimal möglich sein, so daß auch die Väter die Chance haben, sich, wenn auch nur für eine kürzere Zeit, einmal der Freude der Kindererziehung zu widmen.
Auch für die Väter der nichtehelichen Kinder wird sich die Situation ändern. Bisher konnten sie weder Erziehungsgeld erhalten noch Erziehungsurlaub in Anspruch nehmen, weil der Anspruch darauf an das Sorgerecht geknüpft war. Künftig erhalten sie einen Anspruch, wenn sie mit dem Kind zusammenleben und wenn die Mutter ihre Zustimmung gibt. Ich meine, das ist eine sehr gute Regelung.
Ganz besonders in den fünf neuen Bundesländern wird diese Regelung auch quantitativ Bedeutung erhalten, weil sich der Anteil der nichtehelich geborenen Kinder momentan auf 40 % erhöht hat.
Die Verlängerung des Erziehungsurlaubs bringt natürlich für die Betriebe eine veränderte Aufgabenstellung in der Personalplanung mit sich. Insbesondere müssen sie für eine wesentlich längere Zeit als bisher Ersatzkräfte einstellen. Da wir diese veränderte Aufgabenstellung gesehen haben, soll der Abschluß befristeter Arbeitsverträge auch weiterhin erleichtert werden, um den Betrieben bei der Personalplanung eine gewisse Erleichterung zu verschaffen.
In diesem Zusammenhang erinnere ich auch an die Möglichkeit, daß während des Bezugs von Erziehungsgeld in der Woche 19 Stunden gearbeitet werden kann. Ich meine, daß das ausgesprochen gut ist, weil man als Frau unmittelbar in seinem Beruf bleiben kann und nicht dann, wenn man nach dem Erziehungsurlaub zurückkommt, ein zu großes Wissensdefizit oder eine zu große Lücke hat.
Damit die Eltern ab Anfang des nächsten Jahres den längeren Erziehungsurlaub auch in Anspruch nehmen können, muß das Gesetz am 1. Januar 1992 in Kraft treten können. Denn wer Erziehungsurlaub nehmen will, muß spätestens vier Wochen vorher seinem Arbeitgeber hinsichtlich der Länge des Erziehungsurlaubs Mitteilung machen. Mir ist unter diesem Aspekt überhaupt nicht verständlich, daß im Bundesrat offensichtlich beschlossen worden ist, daß wir dieses Gesetz hinausschieben sollen und daß überprüft werden soll, ob wir im Rahmen der Beratungen mit dem Artikelgesetz, also mit dem Hilfegesetz zum § 218, über Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub gemeinsam beraten sollten. Auch ich sehe da zweifellos einen Zusammenhang; aber die Zurückstellung würde bedeuten, daß für die Eltern, deren Kinder ab dem 1. Januar 1992 geboren werden, dann der verlängerte Erziehungsurlaub nicht in Kraft treten kann. Ich meine, das können wir uns nicht erlauben. Ich glaube, auch der Bundesrat kann sich diese Bürde nicht aufladen; denn es wäre zum Nachteil der Eltern bzw. zum Nachteil der Kinder. Deshalb bitte ich alle diejenigen,



Bundesministerin Hannelore Rönsch
die auf die Mehrheit im Bundesrat Einfluß haben, doch mit darauf hinzuwirken, daß diese Überprüfung zurückgenommen wird.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich danke Ihnen und will mich gleich dafür entschuldigen, daß ich um 11.45 Uhr diesen Raum verlasse. Das ist nicht Ausdruck der Mißachtung eines Gesetzentwurfes, der von meinem Hause eingebracht worden ist, sondern liegt daran, daß sich der Beginn der Debatte heute verschoben hat und daß ich um 12.00 Uhr ein Gespräch mit der Gattin des Präsidenten von Ägypten, also mit Frau Mubarak, habe. Ich bitte Sie ganz einfach um Verständnis dafür und bitte darum, daß nachher nicht nachgefragt wird.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205003000
Meine Damen und Herren, das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Herr Dr. Ulrich Böhme.

Dr. Ulrich Böhme (SPD):
Rede ID: ID1205003100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Von Jean-Jacques Rousseau stammt der Satz: Kindererziehung ist ein Beruf, bei dem man Zeit zu verlieren verstehen muß, um Zeit zu gewinnen.
Jean-Jacques Rousseau hat recht: Kindererziehung braucht viel Zeit. Wie wichtig, ja lebenswichtig es ist, damit die Kinder lebenstüchtig werden, sich seinen Kindern insbesondere in den ersten Lebensjahren intensiv zu widmen, wird von Psychologen, Erziehern und Kinderärzten immer wieder deutlich gemacht. Zeit für ein Kind zu haben, ohne um Beruf und Unterhalt bangen zu müssen, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine gute oder sogar glückliche Eltern-Kind-Beziehung. Wir begrüßen deshalb den vorliegenden Gesetzentwurf in seiner Intention, und wir hoffen auch, daß möglichst viele Eltern dieses Angebot annehmen, um Zeit für ihr Kind zu haben.
Meine Damen und Herren, Rousseau hat in jenem Satz geschlechtsneutral von Kindererziehung als Beruf gesprochen. Er wollte damit die Kindererziehung nicht allein den Müttern überlassen; die Väter sollen sich an der Erziehung gleichermaßen beteiligen. Daß nun auch nichteheliche Väter Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld haben können, begrüßen wir außerordentlich, aber — die Frau Ministerin hat selbst darauf hingewiesen, und das ist ein Strukturmangel des alten Gesetzes und auch des neuen Vorschlages — , es nehmen noch immer viel zu wenige Väter den Erziehungsurlaub in Anspruch.
Wenn wir aber über dieses Gesetz hinausblicken, was die Frau Ministerin nicht getan hat —, so muß ich leider befürchten, daß die Erhöhung dieser Familienausgaben an anderer Stelle wieder hereingeholt werden soll. Sollte beispielsweise das BAföG, wie geplant, tatsächlich gekürzt werden, steht der Vorteil, den dieses Gesetz für die Familien bringt à la longue wieder in Frage, nur eben an anderer Stelle; von sozial ungerechtem Familienlastenausgleich, also vom Kindergeld besonders, von Steuererhöhungen und Abgabenerhöhungen will ich hier einmal ganz schweigen. Diese Einschätzung teile ich übrigens mit einer Reihe von ganz unverdächtigen Organisationen. Ihnen allen liegt z. B. das Papier der Evangelischen Aktionsgemeinschaft für Familienfragen und anderer Familienverbände auf dem Tisch. Dort wird sehr heftig Kritik an der Familienpolitik dieser Regierung geübt.

(Walter Link [Diepholz] [CDU/CSU]: Sie fordern noch mehr!)

Kindererziehung ist als Beruf bezeichnet, um zu verdeutlichen, welche Verantwortung auf den Eltern ruht. Kindererziehung kann jedoch nicht in allen Fällen die Selbstverwirklichung der Väter und Mütter in einem Beruf ersetzen. Im Gegenteil, wie bereits gesagt, verlieren beide in dieser Zeit ganz bewußt. Sie verlieren auch gern, aber das bleibt aus beruflicher und finanzieller Hinsicht eben ein Verlust. In der Zwischenzeit droht auch Kompetenzverlust. Weiterbildungsangeboten und Wiedereinarbeitungshilfen wird noch viel zu geringe Beachtung geschenkt; das fehlt in Ihrem Konzept, Frau Ministerin.
Daß ein hoher Prozentsatz, ein sehr hoher, ein viel zu hoher Prozentsatz der Frauen nicht in den Beruf zurückkehrt, liegt auch daran, daß es viel zu wenige sozialrechtlich abgesicherte und arbeitsrechtlich geschützte Teilzeitarbeitsplätze gibt. Das fehlt auch in Ihrem Konzept. Ein Großteil der Frauen kann aber auch deshalb nicht in ihren Beruf zurückkehren, weil für ihr Kind kein Platz im Kindergarten oder im Kinderhort zur Verfügung steht. Den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz haben wir schon vor Jahren gefordert.
Nun kommen sie mir bitte nicht wieder mit dem Argument, dies sei Ländersache; Sie haben das eben schon wieder angefangen.

(Walter Link [Diepholz] [CDU/CSU] sowie weitere Zurufe von der CDU/CSU: Natürlich ist es das!)

Ich will den Ländern die Zuständigkeit in dieser Angelegenheit gar nicht streitig machen, aber die Länder und Kommunen haben doch schlichtweg kein Geld mehr, und das liegt doch an der Finanzpolitik dieser Bundesregierung.

(Beifall bei der SPD — Walter Link [Diepholz] [CDU/CSU]: Ich erinnere an 1982! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Wir haben deshalb in einem Entschließungsantrag gefordert, den Mangel an Kindergärten, Horten und Einrichtungen für Kinder unter 3 Jahren in den alten Bundesländern durch eine entsprechende Änderung des Bund-Länder-Finanzausgleichs zu beheben. Was die Kindertagesstätten in den neuen Bundesländern angeht, hatten wir Sie aufgefordert, über den 30. Juni 1991 hinaus die Kosten dafür mitzutragen.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Sie haben diese Anträge abgelehnt. Sie haben damit vielen Frauen die Möglichkeit verbaut, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren. Wir bedauern dies außerordentlich.

(Walter Link [Diepholz] [CDU/CSU]: Was machen Sie in den Ländern?)




Dr. Ulrich Böhme (Unna)

— Ich unterstelle Ihnen nicht, Herr Link, daß Sie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bewußt untergraben wollen.

(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Sie untergraben die Familie!)

Aber ich warne Sie davor, Frau Ministerin, die Verbesserungen in diesem Gesetzentwurf zum Anlaß zu nehmen, bei den Kindertagesstätten und Kinderhorten zu sparen und damit die jungen Eltern im Regen stehenzulassen. Ich warne Sie auch davor, die Verbesserungen in diesem Gesetz als Alibi für die Verschärfung des j 218 zu benutzen und den Frauen in Not mit Strafe zu drohen.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Zurufe von der CDU/CSU: Das ist doch für die Kinder! Kinder sind doch keine Strafe!)

Ich betone: Dieses Gesetz muß eine Hilfe sein für Frauen, für Familien, für die Kinder, nicht ein Alibi für eine Verschärfung des Abtreibungsparagraphen oder für die Schließung von Kindertagesstätten.

(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Ei, ei, ei!)

Deshalb werden wir — ich denke: wir alle — bei den Ausschußberatungen sorgsam mit diesem Gesetzentwurf umgehen. Dies wird dennoch nicht verhindern, daß vor allem für viele Frauen die Zeit der Kindererziehung immer noch in einer Sackgasse endet. Wir halten deshalb den Ausbau von Kindertagesstätten und Ganztagsschulen und den Rechtsanspruch auf einen Kindergarten- und Kinderhortplatz für notwendig. Gleichzeitig ist eine sozial gerechtere Gestaltung des Kindergeldes notwendig. Schließlich ist es notwendig, daß wir in unserer Gesellschaft alle gemeinsam dafür sorgen, daß wir neue Strukturen im Arbeitsleben von Eltern erreichen, für ihre Kinder und für die Eltern selbst, in humaner und partnerschaftlicher Art und Weise.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205003200
Ich erteile unserem Kollegen Norbert Eimer das Wort.

Norbert Eimer (FDP):
Rede ID: ID1205003300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein gutes Gesetz bedarf weniger Worte. Dies ist ein gutes Gesetz.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Es dürfte eigentlich hier für ein parteipolitisches Hickhack keinen Raum geben.

(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Ich wundere mich, daß man jetzt versucht, ausgerechnet bei diesem Gesetz noch Punkte heranzuziehen, bei denen man Gegensätze aufzeigen zu können glaubt.

(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll verwirklicht werden, was auch die FDP in ihrer Programmatik seit langem fordert, nämlich drei Jahre Erziehungsurlaub und die Ausweitung des Erziehungsgeldes. Dieses Gesetzes soll zum einen eine bessere Möglichkeit für Mütter und Väter, vor allem für alleinerziehende, geben, ihre Kinder zu erziehen, und zum anderen bessere Chancen für das Kind im späteren Leben geben.
Wir gehen hier bewußt einen anderen Weg als den, den die alte DDR mit dem Ausbau der Krippen gegangen ist.

(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)

Damit das nicht falsch verstanden wird, sage ich: Natürlich brauchen wir mehr Kinderkrippen. Aber Frauen und Männer sollen die Freiheit der Wahl haben, ob sie in Arbeit gehen oder sich der Erziehung ihres Kindes widmen. Wir schreiben dabei keine Lebensform vor, weder die der Erwerbstätigkeit der Frau als Regelfall noch die der Erziehungsleistung zu Hause. Das ist einzig und allein die Entscheidung der Eltern.
Ich mache aber überhaupt keinen Hehl daraus, daß ich die Krippenerziehung nicht für optimal halte. Ich sehe hier die alte DDR nicht als Vorbild.
Der Bericht der Bundesregierung über die Erfahrungen mit der Gewährung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub zeigt, daß diese Maßnahme angenommen wurde. Ich hoffe, daß weiterhin reger Gebrauch davon gemacht wird.
Wenn jetzt endlich verwirklicht wird, was schon lang gefordert wurde, obwohl wir heute leere Kassen haben, so liegt es an der vor uns stehenden Reform des § 218, der wegen der Wiedervereinigung geändert werden muß. Wir müssen zwei unterschiedliche gesetzliche Regelungen in den beiden Teilen Deutschlands zusammenführen. Die Verlängerung des Erziehungsgelds ist eine der flankierenden Maßnahmen zum Schutz des ungeborenen Lebens. Wir wollen das geborene junge Leben besser behandeln und auch die Mütter besserstellen. Wir glauben, daß dies das Leben besser schützt als das Strafrecht.
Abgesehen von der Verlängerung des Erziehungsgelds und des Erziehungsurlaubs sind weitere Verbesserungen vorgeschlagen, z. B. ein leichterer Wechsel im Bezug von Erziehungsgeld zwischen Mann und Frau und eine Einbeziehung der nichtehelichen Väter. Auch in einigen anderen Bereichen sind Änderungen vorgesehen, z. B. bei den Adoptiveltern, der Teilzeitbeschäftigung und in anderen Bereichen. Wir werden diese Details im Ausschuß sehr sorgfältig beraten.
Dieses Gesetz ist notwendig. Das Gesetz ist gut, und wir wollen es schnell verabschieden. Aber, meine Damen und Herren, das alte Erziehungsgeldgesetz hat auch Fehler; dieses will ich hier nicht verschweigen. Das neue Gesetz macht zwar keine neuen Fehler, aber die alten werden weitergeschleppt. Wir werden sie diesmal wohl nicht ändern können. Ich will sie hier nur als Merkposten aufführen.
Da ist erstens die Garantie des Arbeitsplatzes. Sie ist gut für diejenigen, die ein Arbeitsverhältnis haben, aber benachteiligt vor allem junge Frauen am Arbeitsmarkt, wenn sie einen Arbeitsplatz suchen. Der Bericht der Bundesregierung über die Erfahrungen des Erziehungsgeldgesetzes macht dazu leider keine Aussagen. Ich glaube, wir müssen uns Gedanken ma-



Norbert Eimer (Fürth)

chen, wie wir die Frauen hier besser schützen können, damit sie dieser Nachteil nicht zu hart trifft.
Zum zweiten führen die Einkommensgrenzen zu einer Brutto-Netto-Umkehrung wie bei allen Transferleistungen mit Einkommensgrenzen. Das heißt: Wer mehr verdient, hat mitunter netto weniger. Das führt sehr oft zu großen sozialen Ungerechtigkeiten, worauf von vielen Stellen immer wieder hingewiesen wird, so z. B. vom IFO-Institut, ja sogar von einer Transferkommission, die der Bundestag vor mehreren Jahren eingesetzt hatte.
Wir sollten es eigentlich alle wissen: Aus Populismus — damit will ich Selbstkritik üben — wird dieser Fehler oft wiederholt. Er wirkt sich immer schwerwiegender aus.
Der dritte Fehler, den ich hier ansprechen möchte, ist die Anrechnung des Erziehungsgeldes auf die Sozialhilfe. Auch das ist gut gemeint, aber „gut gemeint" ist sehr oft das Gegenteil von gut. Diese Regelung kann dazu führen, daß jemand, der Sozialhilfe bezieht, höhere Nettoeinnahmen hat als jemand, der Arbeitslosenhilfe bezieht. Nachdem nun aber das Erziehungsgeld ebenfalls auf die Arbeitslosenhilfe nicht angerechnet wird, verlagert sich der Fehler: Jemand, der Arbeitslosenhilfe bekommt, kann mehr Nettoeinkommen haben als jener, der Arbeitslosengeld bezieht. Wenn wir, wie schon einmal gefordert wurde, das Erziehungsgeld auch der Arbeitslosen geben würden, hätten in den meisten Fällen die Arbeitslosen ein höheres Nettoeinkommen als jene, die arbeiten.
Ich kann nur von Glück sprechen, meine Kollegen, daß diese Fehler vielen in der Bevölkerung nicht bekannt sind. Man wollte damals die Fehler des Sozialhilfegesetzes mit dem Erziehungsgeldgesetz teilweise ausgleichen. Das Ergebnis aber ist, daß wir nicht einen Fehler weniger, sondern einen Fehler mehr haben.
Dennoch sage ich: Diese Fehler wollte ich nur als Merkposten aufführen. Wir werden sie bei diesem Gesetz wohl nicht ändern können. Dieses neue Gesetz aber — darum geht es — enthält keine neuen Fehler. Deswegen wollen wir dieses Gesetz schnell und zügig beraten und verabschieden. Wir empfinden dieses Gesetz als eine ganz große Verbesserung für die Familien, die Kinder und für unsere Gesellschaft.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205003400
Meine Damen und Herren, nächste Rednerin ist Frau Dr. Barbara Höll.

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1205003500
Verehrter Herr Präsident! Verehrte Abgeordnete! Angestrebtes Ziel dieses Gesetzentwurfes ist es, mit Hilfe der Zahlung von Erziehungsgeld und der Gewährung von Erziehungsurlaub wichtige Rahmenbedingungen für Eltern zu verbessern, ihnen das Leben mit Kindern in dieser Gesellschaft zu ermöglichen.
Daß es in den Rahmenbedingungen für ein Leben mit Kindern in der Bundesrepublik tatsächlich reale Defizite gibt, drückt sich u. a. in einer sehr geringen Geburtenrate aus, wovon momentan insbesondere die neuen Bundesländer betroffen sind, in denen die Geburtenrate in diesem Jahr bis zum Jahresende wahrscheinlich um 50 % gegenüber dem Vorjahr sinken wird.
Dieser Gesetzentwurf stellt für mich ein deutliches Abweichen von den Koalitionsvereinbarungen dar. Während in ihnen noch von einem Komplex sozialpolitischer Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Mittel im Schwangerschaftskonflikt und zur Förderung einer kinderfreundlichen Umwelt ausgegangen wird, ist dieser Gesetzentwurf eine Herauslösung einzelner sozialpolitischer Maßnahmen aus diesem Komplex.
Das ist insofern sehr bedenklich, da zwar eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für die häusliche Betreuung der Kinder angestrebt wird, aber gleichzeitig die Fragen der trotz allem anstehenden Belastungen für Eltern mit Kindern nicht gestellt sind. Der Mangel an Kinderbetreuungsplätzen, die noch nicht vollzogene Erhöhung von Pflegezeiten für kranke Kinder, die nichtexistenzsichernde Höhe des Erziehungsgeldes werden im Entwurf nicht berücksichtigt.
Mit verlängertem Erziehungsurlaub und längerer Erziehungsgeldzahlung wird nicht der Mangel an Kinderbetreuungsmöglichkeiten schon vor dem dritten Lebensjahr behoben und wird auch nicht der Rechtsanspruch jedes Kindes auf einen Betreuungsplatz erfüllt. Die Verwirklichung dieses Rechtsanspruchs, der laut Koalitionsvereinbarung sowohl ein bedarfsgerechtes Angebot von Kindertagesstätten als auch eine bedarfsorientierte Betreuung von Kindern unter drei Jahren einschließt, erfordert im wesentlichen eine Bundesfinanzierung. Das schaffen die Länder nicht.
Die Wirkung der Verlängerung des Erziehungsurlaubs wird erst Mitte 1993 real wirksam. Die Verlängerung der Erziehungsgeldzahlung durch den Bund wird sich erst Mitte 1994 realisieren, wobei es sich allerdings nur um eine Verlängerung von sechs Monaten handelt. So bleibt zwischen dem Ende der Erziehungsgeldzahlung und dem Ende des Erziehungsurlaubs für ab 1992 geborene Kinder eine Finanzierungslücke von 18 Monaten und für 1993 geborene Kinder eine von zwölf Monaten.
Das heißt, erziehende Frauen und Männer werden gezwungen, ihre Kinder bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres häuslich zu betreuen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Gezwungen?)

Dies wird von der Gesellschaft als Erziehungsarbeit jedoch nur für einen Zeitraum von maximal zwei Jahren, also unzureichend, anerkannt. Eltern werden damit real vor die Alternative gestellt, entweder den angebotenen Erziehungsurlaub für 18 Monate bzw. für zwölf Monate selbst zu finanzieren oder ihn abzubrechen, was andererseits wegen Mangels an Betreuungsplätzen häufig nicht möglich ist.
Sehr zu denken gibt die Lage der Anspruchsberechtigung von ausländischen Menschen mit Kindern. Bislang sind ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger anspruchsberechtigt, wenn sie sich auf der Grundlage einer Aufenthaltserlaubnis, einer Aufent-



Dr. Barbara Höll
haltsberechtigung oder einer Aufenthaltsbefugnis in der Bundesrepublik aufhalten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Was denn sonst!)

Diejenigen Mitbürger, deren Hiersein jedoch auf auslandsrechtlicher Duldung beruht, haben bislang keinen Anspruch auf Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub.
Der Vorschlag der Bundesregierung, über Bundesmittel Erziehungsgeld maximal zwei Jahre, bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres, zu zahlen, verbunden mit der regierungsamtlichen Aufforderung an die Länder, über Landeserziehungsgeld die bestehenden Lücken bei der finanziellen Absicherung des Erziehungsurlaubs zu schließen, entbehrt jeglicher realen Grundlage. Angesichts der Finanzlage der Länder, insbesondere der neuen Bundesländer, ist diese Forderung völlig unrealistisch. Selbst in den finanziell wesentlich besser gestellten alten Bundesländern erfolgt die Zahlung von Landeserziehungs- und Familiengeld bislang nur und im übrigen sehr unterschiedlich in drei Ländern und in Berlin.
Diese doch sehr komplizierte Lage gestattet eigentlich nur die Aufforderung an Männer und Frauen, sich sehr gründlich zu überlegen, wann sie ihren Kinderwunsch realisieren wollen und können. Dies trifft insbesondere niedrigverdienende Familien bzw. Lebensgemeinschaften, deren Existenz sich auf zwei Einkommen gründet, und Alleinerziehende ; denn selbst bei uneingeschränktem Anspruch auf 600 DM Erziehungsgeld ist damit die Existenz des oder der Anspruchsberechtigten nicht zu sichern, sondern selbst damit werden viele an den Rand des Existenzminimums gedrängt.
Niedrigverdienende Ehepaare und Alleinerziehende werden angesichts der einzukalkulierenden Finanzierungslücken und der unzureichenden Höhe des Erziehungsgeldes den Erziehungsurlaub, wie er vom Staat angeboten werden soll, nicht ausschöpfen können, weil ihnen dafür schlicht und einfach die Existenzmittel fehlen.

(Walter Link [Diepholz] [CDU/CSU]: Die Zahlen sprechen doch eine andere Sprache!)

Den Erziehungsurlaub abzubrechen und ihre Erwerbstätigkeit aufzunehmen bzw. während des Erziehungsurlaubs Teilzeitarbeit zu leisten, bringt sie wegen der fehlenden Betreuungsplätze erneut in eine Konfliktlage; denn nicht in jedem Fall können sich Elternpaare die Betreuungspflichten teilen oder können Alleinerziehende Verwandte für die Übernahme von Betreuungspflichten gewinnen.
Aus den dargelegten Zusammenhängen und realen Defiziten des vorliegenden Gesetzentwurfs ergeben sich für mich folgende Forderungen: Erstens. Es ist notwendig eine komplexe Entscheidung hinsichtlich der sozialpolitischen Maßnahmen zur Unterstützung erwachsener Menschen und Kinder, zweitens die Zahlung des Erziehungsgeldes für die gesamte Dauer des Erziehungsurlaubs und in existenzsichernder Höhe für jede Anspruchsberechtigte bzw. für jeden Anspruchsberechtigten, drittens den Anspruch auf
Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub für alle in der Bundesrepublik lebenden Menschen zu realisieren und viertens den Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungsplatz schon vor dem dritten Lebensjahr tatsächlich festzuschreiben.
Ich danke.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205003600
Ich erteile nunmehr das Wort unserem Kollegen Walter Link.

Walter Link (CDU):
Rede ID: ID1205003700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Heute wird über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes und anderer Vorschriften beraten.
1986 bis 1991 — das sind fünf Jahre Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub in der Bundesrepublik Deutschland. In diesen fünf Jahren hat sich gezeigt, daß das von der Bundesregierung 1986 beschlossene und bis heute fortgeschriebene Gesetz, getragen von der Koalition aus CDU/CSU und FDP, das Herzstück der Familienpolitik in Deutschland geworden ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Norbert Eimer [Fürth] [FDP])

In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, daß sich die Opposition 1986 nicht imstande sah, diesem heute allgemein anerkannten Gesetz zuzustimmen, sondern sich damals der Stimme enthielt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

Wir, die CDU/CSU, stellen heute fest: Mit diesem Gesetz ist der familienpolitische Durchbruch erzielt worden.

(Norbert Eimer [Fürth] [FDP]: Das ist richtig!)

Die Lebensbedingungen unserer Familien mit Kindern sind durch die finanziellen Leistungen und durch den Erziehungsurlaub sowie die gleichzeitige Sicherung des Arbeitsplatzes erheblich verbessert worden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)

Alle Pädagogen und Psychologen sind sich darin einig, daß in den ersten drei Lebensjahren eines Kindes der Grundstock für das ganze Leben gelegt wird. Darum war es von Anfang an unser Ziel, Erziehungsgeld und -urlaub auf drei Jahre auszudehnen. Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld machen es heute möglich, daß die Mutter oder der Vater das neugeborene Kind in den ersten Lebensjahren intensiv erziehen und betreuen kann. Entscheidend ist, daß nach dem Erziehungsurlaub der Arbeitsplatz gesetzlich gesichert ist, so daß es danach keine wirtschaftliche Not gibt.
Der Geburtenanstieg und die hohe Akzeptanz und Inanspruchnahme des Erziehungsurlaubs und des Erziehungsgeldes zeigen, daß es sich bei dem weiteren Ausbau dieser Maßnahmen — 1988 von zunächst zehn auf zwölf, 1989 von zwölf auf 15 und 1990 von 15 auf 18 Monate — um eine wichtige und notwendige familienpolitische Maßnahme handelte. Seit dem In-



Walter Link (Diepholz)

krafttreten 1986 haben rund 97 % aller Eltern — 97 %! — Erziehungsgeld beantragt. Bis heute sind es rund drei Millionen. Auch diese Zahlen sprechen für die richtige Entscheidung der CDU/CSU-FDP-Koalition im Jahre 1986.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Fraktion, die CDU/CSU, hat sich von Anfang an zum Ziel gesetzt, diese Maßnahmen fortzuschreiben. Unser Ziel ist es, für alle Eltern von Neugeborenen drei Jahre Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld zu gewährleisten.

(Norbert Eimer [Fürth] [FDP]: Das schaffen wir auch noch! — Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)

— Richtig, Kollege Eimer, das schaffen wir. — Mit dem heute von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes soll dieser Schritt weiter vollzogen werden. Eine Erweiterung des Anspruchs auf drei Jahre, wie es der Gesetzentwurf vorsieht, zum 1. Januar 1992 ermöglicht es den Eltern, ihr Kind bis zum Eintritt in den Kindergarten selbst zu betreuen und danach ihre Arbeitsstelle wieder anzutreten.

(Zuruf von der SPD: Wenn es denn einen Kindergartenplatz gibt!)

Von besonderer Bedeutung ist, daß diese Erziehungsleistung im Rentenrecht anerkannt wird

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

und daß ab 1993 zwei Jahre Erziehungsgeld aus der Bundeskasse gezahlt wird. Meine Fraktion hat von Anfang an diese Zielvorstellung gehabt, daß das Geld zwei Jahre aus der Bundeskasse gezahlt wird.
Da in unserem föderalistischen System der Bundesrepublik Deutschland die Kultushoheit bei den Ländern liegt und damit die Zuständigkeit für die Erziehung und einen großen Teil der Bildung dort angesiedelt ist, können wir als Bund von den Ländern erwarten, daß sie das dritte Jahr des Erziehungsgeldes zahlen. Aus diesem Grunde appelliere ich an die SPD-regierten Bundesländer, sich der Einführung eines einjährigen zusätzlichen Erziehungsgeldes, nämlich für das dritte Jahr, nicht mehr zu entziehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir werden diese Forderung immer wieder stellen, und wir werden Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, fragen, ob Sie in Ihren Ländern, in den alten oder in den neuen, bereit und in der Lage sind, Ihre eigene Partei

(Dr. Ulrich Böhme [Unna] [SPD]: Dann muß der Bund die Länder auch vernünftig finanzieren!)

dorthin zu bekommen, Herr Dr. Böhme.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Bis jetzt haben vier Bundesländer ein Landeserziehungsgeld eingeführt: Rheinland-Pfalz noch unter CDU-Regierung,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Berlin unter CDU-Regierung, Bayern, CSU, und Baden-Württemberg, CDU. Die Bundesministerin hat
vorhin schon darauf hingewiesen, daß es besonders erfreulich ist, daß auch bereits zwei neue Bundesländer, Mecklenburg-Vorpommern, CDU, und SachsenAnhalt, CDU/FDP-Koalition, in Überlegungen darüber eingetreten sind.
Unserer Forderung, daß die Länder dieses dritte Jahr übernehmen sollen, wurde in früheren Jahren von der SPD entgegengehalten, daß die flankierenden Maßnahmen fehlen würden. Das ist nach der Verabschiedung dieses Gesetzes nicht mehr richtig; denn der dreijährige Erziehungsurlaub gewährt den Kündigungsschutz. Ebenso werden die gesetzliche Kranken- und die Arbeitslosenversicherung aufrechterhalten. Dazu hätten Sie sich heute morgen einmal äußern sollen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Fortbildung! Weiterbildung!)

Also, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Opposition, wenn Sie es ernst meinen mit dem Eintreten für eine verbesserte Familienpolitik in Deutschland, sorgen Sie dafür, daß die SPD-regierten Bundesländer ein Landeserziehungsgeld beschließen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch auf den familienfördernden Aspekt des Erziehungsurlaubes muß hingewiesen werden. Der Urlaub kann in der Zukunft in mehreren Abschnitten genommen werden. Väter und Mütter können einen dreimaligen Wechsel vornehmen. Bis jetzt nahm überwiegend die Frau den Erziehungsurlaub in Anspruch, weil für den Mann es immer besonders schwierig war, dem Arbeitsprozeß über eine längere Zeit fernzubleiben. Jetzt ist ein dreimaliger Wechsel möglich.
Ich appelliere insbesondere an die Väter, dieses Gesetz, wenn wir es denn verabschiedet haben, auch in Anspruch zu nehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Bisher hat sich fast ausschließlich die Frau für den Urlaub entschlossen; jetzt kann es der Mann wenigstens für einige Monate tun. Allerdings bedarf es hier noch eines verstärkten veränderten Bewußtseins in der Öffentlichkeit. Es muß deutlicher herausgestellt werden, wie wichtig die Teilnahme der Väter an der Erziehung für das Kind und die Familie ist.
Die evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen schreibt in einer Stellungnahme wörtlich dazu — ich kann mich dem nur anschließen — :
Eine positive Bewertung der Erziehungsarbeit insgesamt, die Darstellung und das Aufzeigen von Leitbildern, ein Entgegenwirken von Vorurteilen und Festschreibungen bei der Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen ist in breitem Umfang erforderlich, um eine Umsetzung der Vorschrift zu bewirken und insgesamt die Inanspruchnahme von Erziehungsurlaub durch die Väter zu fördern.
Die Möglichkeit des Wechsels läßt eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu. Dies ist nach unserer Auffassung ein bedeutender Schritt, um das überholte Rollenverständnis von Mann und Frau auszugleichen. Es ist zumindest ein kleiner Schritt zur Gleichstellung von Frau und Mann in Beruf und Gesellschaft.



Walter Link (Diepholz)

Ich habe schon festgestellt, daß bis zu 97 To der Mütter oder Väter Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub wahrnehmen. Der vorliegende Gesetzentwurf verbessert auch die Situation der Väter nichtehelicher Kinder. Es war bisher nicht möglich, daß jene Väter dies in Anspruch nahmen, weil der Anspruch an das Sorgerecht für das Kind geknüpft war. In Zukunft wird es so sein, daß, wenn der Vater mit der Familie zusammenlebt, er Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub in Anspruch nehmen kann, wenn die Mutter dem zustimmt.
Diese neue, sinnvolle Regelung eröffnet nichtehelichen Lebensgemeinschaften die gleichen Möglichkeiten wie Ehepaaren. Knapp 40 To der Kinder in den neuen Bundesländern werden nichtehelich geboren. Von daher ist diese Regelung insbesondere dort sinnvoll und realitätsbezogen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)

Bei Adoptivkindern wird es in Zukunft so sein, daß Erziehungsgeld gezahlt wird, auch wenn das Kind nicht sofort nach der Geburt adoptiert wird. Hier wird in dem neuen Gesetzentwurf eine Frist bis zum 7. Lebensjahr eingeräumt.
Meine Fraktion, die CDU/CSU, hat von Anfang an Wert darauf gelegt, daß das Erziehungsgeld erwerbsunabhängig gezahlt wird.

(Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!)

Frauen und Männer erhalten auch dann Erziehungsgeld, wenn sie sich ausschließlich für die Erziehung ihrer Kinder entscheiden. Eine solche Entscheidung muß genauso positiv bewertet werden wie die Entscheidung für Kinder, Familie und Beruf.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Erziehungsgeld ist nach Ansicht meiner Fraktion Anerkennung der Erziehungsleistung von Vätern und Müttern, egal ob sie als Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer, Hausfrauen oder Hausmänner, als Selbständige oder mithelfende Familienangehörige tätig sind.
Obwohl eine Erziehungsleistung nicht mit finanziellen Mitteln aufzuwiegen ist, leistet das Erziehungsgeld einen entscheidenden Beitrag zur Verbesserung der Lebensverhältnisse der Familien. Väter und Mütter können auf der Grundlage des Erziehungsgeldes und des Erziehungsurlaubes zusammen mit dem Kindergeld, den Kinderfreibeträgen, dem Familiengeld, das in Zukunft gezahlt wird, sowie dem Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ab dem dritten Lebensjahr und anderen sozial flankierenden Maßnahmen ein entscheidendes Ja zum Leben sagen.
Die für 1992 und 1993 verbesserten Maßnahmen des Erziehungsurlaubes und Erziehungsgeldes müssen auch im Zusammenhang mit der zur Stunde beginnenden Parlamentsdiskussion über den § 218 gesehen werden. Da die Diskussionen über den § 218 voraussichtlich in diesem Jahr nicht abgeschlossen werden, wir das Gesetz aber bereits im nächsten Jahr verbessern wollen, ist meine Fraktion und ist die Koalition der Auffassung, daß es jetzt diskutiert und bald verabschiedet werden muß.
Im Zusammenhang mit dem § 218 ist zu sagen, daß es insbesondere für alleinstehende Frauen, die ein
Kind erwarten, besonders wichtig ist. Die Frau, die ein Kind erwartet, hat dann eine Perspektive. Sie kann in den ersten drei Lebensjahren das Kind selbst erziehen und zu Hause bleiben.
Darum ist es so besonders wichtig, daß die Bundesländer, die noch kein Landeserziehungsgeld eingeführt haben, dies jetzt verwirklichen. Man kann es nur immer wieder aufführen.
Wenn der Gesetzgeber dann den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz durchsetzt, können die Väter und Mütter, insbesondere die Alleinerziehenden, zumindestens halbtags, wenn sie wollen, ihren Beruf wieder aufnehmen.
Einige Länder in der Bundesrepublik Deutschland führen bereits Modellversuche für eine volle Halbtagsschule und eine Ganztagsschule durch. Dies muß flächendeckend auf freiwilliger Basis in ganz Deutschland eingeführt werden. Darum ist die Perspektive für alle Väter und Mütter, die es wünschen, Ja zum Leben zu sagen, besonders günstig, denn ihr Kind ist versorgt.
Das war die Sicht der CDU/CSU und der FDP 1986. Durch den Familienminister Dr. Heiner Geißler, die Familienministerinnen Rita Süssmuth und Ursula Lehr ist dieses Schritt für Schritt fortgeschrieben worden. Jetzt hat die amtierende Familienministerin Hannelore Rönsch mit dem eingebrachten Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes und anderer Vorschriften fast die Vollendung der gesamten Maßnahmen geschaffen. Die CDU/CSU-Fraktion sagt der Bundesministerin dafür herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

An dieser Stelle möchte ich, Kolleginnen und Kollegen der Opposition, ihre ehemalige Sprecherin, heutige Kultusministerin in Rheinland-Pfalz, Frau Dr. Rose Götte, zitieren, die am 22. März 1991 von dieser Stelle aus als Abgeordnete sagte, daß wir von der CDU/CSU stolz sein könnten, dies alles durchgesetzt zu haben — nachzulesen im Protokoll.

(Zuruf von der SPD: Das hat niemand bestritten!)

Ich fordere die SPD auf, mit uns, der Regierungskoalition, gemeinsam an der Vollendung dieses Gesetzes mitzuarbeiten und dem Gesetzentwurf nach der Beratung im Ausschuß zum Wohl der Familien in Deutschland zuzustimmen. Denn nach wie vor ist für uns die Familie die Keimzelle unseres Staates und darum besonders förderungswürdig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205003800
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt der Kollegin Hildegard Wester das Wort.

Hildegard Wester (SPD):
Rede ID: ID1205003900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte am Anfang den Kollegen Link daran erinnern, daß seinerzeit, als das Gesetz, über dessen Abänderung wir heute diskutieren, zur Abstimmung stand, von uns ein eigener Gesetzentwurf vorlag und wir uns deswegen enthalten haben.



Hildegard Wester
Ich nehme an, Sie haben unserem Gesetzentwurf ebenfalls nicht zugestimmt.

(Zuruf von der SPD: Sehr richtig!)

Der vorliegende Gesetzentwurf erhebt den Anspruch, die Absicherung der Eltern — und das heißt ja wohl: der Mütter und der Väter — in der ersten Lebensphase ihrer Kinder weiter auszubauen. Daß dies bitter nötig ist, haben wir der Unterrichtung der Bundesregierung über die Erfahrungen mit diesem Gesetz entnehmen müssen, wurde uns doch berichtet, daß nur ein verschwindend geringer Anteil der Väter sowohl den Erziehungsurlaub als auch das Erziehungsgeld in Anspruch nehmen. In Zahlen: Der Anteil der Männer an den Erziehungsgeldbeziehern ist mit 1,4 % ausgesprochen gering. Beim Erziehungsurlaub sieht es noch trauriger aus. Dort haben sich nur 0,6 der Männer entschlossen, für ihre Kinder zu Hause zu bleiben.

(Zuruf von der SPD: Das hat ja wohl Gründe!)

Fazit: Erziehungsarbeit wird auch heute noch in der überwiegenden Anzahl der Fälle von den Frauen geleistet.
Nun sollte die Gesetzesänderung ja hier reagieren, auch um dieses Defizit zu korrigieren. Doch was bietet der Gesetzentwurf, um Männern das Zuhausebleiben bei ihren Kindern attraktiver zu machen? — Abgesehen von der Tatsache, daß Übernahme von Verantwortung für Kinder in den alltäglichen Lebensfragen eine wesentliche Bereicherung auch für einen Mann darstellen kann, muß man wohl mehr als vorgesehen verändern, um Männer zu diesem Schritt zu bewegen.
Da wäre zum einen die Frage des Einkommens: Solange das Erziehungsgeld keinen angemessenen Ersatz für den ausgefallenen Lohn darstellt, sondern eine Sozialleistung ist, werden wir wohl lange vergeblich darauf warten, daß Männer freiwillig eine Unterbrechung ihrer Berufstätigkeit in Kauf nehmen.

(Beifall bei der SPD)

Ihr gesellschaftlicher Status richtet sich in besonders hohem Maße nach ihrem Einkommen.
Ein weiteres Hindernis für Männer: Auch in den heutigen Familien ist der Mann in der Regel der Besserverdienende. Bliebe er zu Hause, würde das Familieneinkommen erheblich eingeschränkt.
Ein zusätzlicher Knackpunkt ist die Abhängigkeit des Erziehungsgeldes vom Familieneinkommen nach dem Verlauf der ersten sechs Monate. Hier wandelt sich der Charakter der Zahlung von Sozialleistungen zu einer besseren Sozialhilfeleistung, die sich weder am Lohn des Erziehenden noch am Wert der Erziehungsarbeit orientiert. So kann es nämlich passieren, daß ein zuvor berufstätiges Elternteil finanziell völlig unselbständig wird, nämlich dann, wenn nach den sechs Monaten kein Geld mehr gezahlt wird, weil derjenige zuviel verdient hat. Will man also wirklich beiden Eltern eine reelle Chance der freien Wahl geben, die Erziehungsarbeit zu übernehmen, so müßte nicht nur die Laufzeit verlängert, sondern die Systematik der Leistung verändert werden.
Erfreulich ist hingegen, daß in der vorgesehenen Gesetzesänderung eine Regelung für die Väter von nichtehelichen Kindern Eingang gefunden hat. Ich stelle fest: Hiermit tut die Bundesregierung einen Schritt in Richtung Anerkennung von nichtehelichen Lebensgemeinschaften.

(Zuruf von der SPD: Das wurde auch Zeit!)

Beim Erziehungsurlaub sieht die Antwort auf die Frage, warum so wenige Männer diesen in Anspruch nehmen, ähnlich aus wie bei der Inanspruchnahme des Erziehungsgeldes. Auch heute noch scheint es einem Mann weniger zumutbar zu sein, einen Karriereknick hinzunehmen, als es einer Frau allgemein zugemutet wird. Denn eineinhalb Jahre aus dem Beruf zu sein — in Zukunft wären drei Jahre möglich — bedeutet in den allermeisten Fällen zumindest einen Stillstand in der beruflichen Entwicklung. Da sich das in den höherqualifizierten Berufen noch stärker auswirkt als in minderqualifizierten, sind Männer auch hierdurch noch weniger motivierbar, sich an der Erziehungsarbeit zu beteiligen. Frauen wird das eher zugemutet, weil ihre Tätigkeiten trotz besserer Schulabschlüsse in der Regel weniger qualifiziert und schlechter bezahlt sind. Erst wenn das Ziel einer völligen beruflichen Gleichstellung erreicht ist, können wir von einer echten Wahlfreiheit für beide Geschlechter reden.

(Beifall bei der SPD)

Dann erst kann die geplante Änderung, die einen dreimaligen Wechsel ermöglicht, greifen.
Frauen haben zunehmend den Wunsch, Erziehung und Beruf miteinander zu verbinden und beides mit dem Partner zu teilen. Sie wollen sich nicht nach einem Phasenmodell ihr Leben in Portionen einteilen lassen. Denn so soll es in der Regel aussehen: Auf Kindheit und Jugend mit der Berufsausbildung folgt die Familienphase, und damit die Entscheidung für die Familie ein bißchen leichter fällt, gibt es die Leistung des Bundeserziehungsgeldgesetzes und die Illusion des Urlaubs. Denn Urlaub besagt nur eine Pause, eine kurze Unterbrechung einer laufenden Tätigkeit. Aber nur 47 % der Frauen nehmen nach Ablauf des Erziehungsurlaubs ihre Tätigkeit wieder auf. Die übrigen verzichten nicht nur, weil sie sich in den ersten Lebensjahren intensiv um die Betreuung ihrer Kinder kümmern wollen.

(Eva-Maria Kors [CDU/CSU]: Das ist doch positiv!)

Fehlende Kinderbetreuungsmöglichkeiten und Teilzeitarbeitsplätze sind häufige Ursachen.

(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Das hat sich gewaltig gebessert!)

Dabei wären viele Familien auf das Einkommen der Frau dringend angewiesen. — Da könnten Sie auch zuhören. Wir reden jetzt von den Frauen, die arbeiten müssen und nicht wollen oder vielleicht beides. — Von dem allergrößten Teil der Frauen unserer Gesellschaft, nämlich von denjenigen, die zum Familienunterhalt beitragen müssen, und von den Alleinerziehenden soll jetzt hier auch einmal die Rede sein. Diese Frauen können es sich nicht leisten, nach dem Aus-



Hildegard Wester
bleiben des Erziehungsgeldes das dritte Jahr Erziehungsurlaub zu nehmen.

(Zuruf von der SPD: Das ist wohl wahr!)

Diese Regelung ist nur eine Möglichkeit für gut verdienende Familien, genau wie auch das Zuhausebleiben nach dem gesamten Erziehungsurlaub eine Möglichkeit ist, die sich Besserverdienenden eher bietet als Schlechterverdienenden.

(Beifall bei der SPD)

Vier Fünftel der Empfänger des Erziehungsgeldes erhielten volle 18 Monate den Höchstbetrag von 600 DM. Dies bedeutet, sie verfügen monatlich über nicht mehr als 2 450 DM netto. Viele verfügen über deutlich weniger. So kann man sich sehr leicht vorstellen, daß nach dem Ablauf der Bezugszeit für das Erziehungsgeld viele Frauen gezwungen sind, Geld zu verdienen. Oder können Sie, meine Damen und Herren, sich vorstellen, mit solch einem Einkommen noch auszukommen,

(Zuruf von der CDU/CSU: Ja!)

mit einer dreiköpfigen Familie bei den heutigen Mietpreisen und bei den Steuererhöhungen der letzten Monate?

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Walter Link [Diepholz] [CDU/CSU]: Jetzt geht die Neidhammelei wieder los!)

Es gab genügend andere Erhöhungen, die sich im Portemonnaie kleiner Familien sofort niederschlagen. Viele Frauen werden so in ungeschützte Arbeitsverhältnisse gedrängt und erscheinen nicht mehr in der Statistik derjenigen, die in den Beruf zurückgekehrt sind. Aber arbeiten tun sie allemal. Diesen Frauen müßten dringend während ihres Erziehungsurlaubs Wiedereingliederungsmaßnahmen angeboten werden, damit sie die Chance haben, in einem abgesicherten Arbeitsverhältnis zum Lebensunterhalt ihrer Familie beizutragen.
Unsere Sorge um die Familie darf nicht da aufhören, wo der Entschluß, ein Kind zu bekommen und zu erziehen, gefaßt worden ist. Denn ein Kind lebt länger in der Familie als drei Jahre.

(Zuruf von der CDU/CSU: Es darf aber auch nicht von materiellen Dingen abhängen! — Gegenruf des Abg. Dr. Ulrich Böhme [Unna] [SPD]: Scheinheilig!)

— Die Selbständigkeit der Frau ist nicht nur eine materielle Sache, sondern auch eine psychische und psychologische Sache, die sich sehr wohl im Verhältnis zu Familie und Kind niederschlägt.
Meine Damen und Herren, aus meinen Ausführungen leite ich folgende Forderungen ab:
Erstens. Anspruch auf Splitting von Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld, um während des Erziehungsurlaubs einer versicherungspflichtigen Arbeit nachgehen zu können.
Zweitens. Angebot von Wiedereingliederungsmaßnahmen während des Erziehungsurlaubs.
Drittens. Langfristige Umstrukturierung des Erziehungsgeldes in Richtung einer Gehaltsersatzleistung.
Darüber hinaus machen die bisherigen Erfahrungen eines deutlich: eine Änderung des Erziehungsgeldgesetzes alleine kann dem angestrebten Ziel einer besseren Absicherung beider Elternteile und damit einer echten Wahlfreiheit für Mütter und Väter nicht gerecht werden. Dringend erforderlich sind der Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten und eine Korrektur des Familienlastenausgleichs.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205004000
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nunmehr erteile ich das Wort der Frau Abgeordneten Roswitha Verhülsdonk.

Roswitha Verhülsdonk (CDU):
Rede ID: ID1205004100
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als letzter Redner in dieser Runde habe ich die Chance, auf ein paar Punkte einzugehen, die in dieser Debatte hochgekommen sind. Zunächst freue ich mich aber, als CDU-Abgeordnete hier feststellen zu können, daß eine sehr große, grundsätzliche Zustimmung aus allen Reihen hier erfolgt ist und daß es an dem vorgelegten Gesetzentwurf keine inhaltliche Kritik gegeben hat. Sehr wohl sind aber Punkte angesprochen worden, die zum Umfeld des Themas Vereinbarkeit von Familie und Beruf gehören. Da möchte ich an die Frau Kollegin Höll, die noch hier ist, das Wort richten.
Liebe Frau Kollegin, Sie haben im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf Forderungen gestellt, die natürlich in anderen Gesetzentwürfen erfüllt werden müssen und auch werden. Zum Beispiel wissen Sie ganz genau, daß die Verlängerung der Zeiten der Freistellung für die Pflege kranker Kinder bereits im Parlament eingebracht ist und das Gesetz beraten wird. Also kann man nicht monieren, das sei in diesem Gesetzentwurf nicht berücksichtigt. Es ist bereits in der Bearbeitung.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ebenso wissen Sie, daß eine ganze Menge der Forderungen, die Sie gestellt haben, im Hilfepaket der Unionsfraktion zur Neuregelung des Lebensschutzes ungeborener Kinder enthalten sind. Es ist also nicht sehr fair, sich hier hinzustellen und zu sagen, das sei nicht in diesem Gesetz gemacht. Jede Sache gehört an ihren Platz. Aber Sie sind ja noch relativ neu hier, und deswegen wollte ich Ihnen das sagen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie ist vielleicht neu, aber dennoch nicht lernfähig!)

Es ist hier von einigen Rednern darauf abgehoben worden, daß zu einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf natürlich auch Maßnahmen der Wiedereingliederung gehören. Auch dazu möchte ich darauf hinweisen, daß das Hilfepaket entsprechende Maßnahmen beinhaltet, z. B. daß wir die Verdoppelung des Betrages zur Kinderbetreuung, wenn Frauen in Wiedereingliederungsmaßnahmen gehen, vorsehen.
Zum Thema Teilzeit wurde mit Recht moniert, daß sie bisher für Frauen oder für erziehende Eltern zuwenig angeboten wird. Hier ist bekanntgeworden, daß auch dazu ein Gesetzentwurf der Frau Kollegin Mer-



Roswitha Verhülsdonk
kel kommt, der allerdings den öffentlichen Dienst betrifft. Auf das, was die Wirtschaft tut, können wir alle miteinander nur mit Appellen Einfluß nehmen.
Ich möchte noch auf einige Punkte der Ausführungen der Kollegin Wester eingehen. Sie hat hier moniert, daß die Koalition den Entwurf der SPD damals abgelehnt hat. Sie hat ihn genau aus dem Grunde abgelehnt, den die Kollegin Wester hier als letzte Forderung gestellt hat, daß nämlich die Leistung, die der Staat für Kindererziehung gibt, an das letzte Einkommen, das die Frau erzielt hat, gebunden sein sollte. Es kann aber doch wohl nicht wahr sein, daß der Staat Erziehungsleistungen danach bemißt, wieviel man vorher verdient hat. Ich denke, Erziehungsleistungen müssen vom Staat gleich gewertet werden. Deshalb wird dies von uns sicherlich nicht eingeführt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der allerletzte Punkt, den ich noch ansprechen möchte: Es wurde moniert, daß die Alleinerziehenden nicht hinreichend berücksichtigt sind. Ich denke, gerade dadurch, daß eine Nichtanrechnung des Erziehungsgeldes auf die Sozialhilfe erfolgt, ist vielen Frauen geholfen. Anderen ist dadurch geholfen, daß es möglich ist, während des Erziehungsurlaubs Teilzeitarbeit bis zu 19 Wochenstunden zu leisten. Also, Frau Kollegin Wester, ganz so, wie Sie es dargestellt haben, scheint es mir nicht zu sein. Sie sollten sich mit dem Thema vielleicht noch einmal im Ausschuß genauer beschäftigen; da haben wir ja Gelegenheit dazu.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205004200
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 12/1125 und 12/1288 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Nunmehr rufe ich den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Abfallgesetzes und des Bundes-Immissionsschutzgesetzes
— Drucksache 12/631 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (federführend)

Ausschuß für Wirtschaft
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner Herrn Staatssekretär Otto Zeitler das Wort.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1205004300
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dem Bundestag liegt heute der Gesetzentwurf des Bundesrates für ein Gesetz zur Änderung des Abfallgesetzes und des Bundes-Immissionsschutzgesetzes in der ersten Lesung vor.

(Harald B. Schäfer [Offenburg] Warum kommt denn Herr Gauweiler nicht?)

— Ich bedanke mich für Ihr Interesse. — Dieser Gesetzentwurf ist auf bayerische Initiative im Bundesrat zurückzuführen. Ich freue mich, daß der Bundestag bereit ist, diesen Gesetzentwurf zügig zu beraten. Gerade deshalb ist es mir ein Nobile Officium, das Grundanliegen des Gesetzentwurfes vorzutragen.
Der Gesetzentwurf ist vor dem Hintergrund der besorgniserregenden Entwicklungen im Bereich der Abfallentsorgung in den alten und den neuen Ländern entstanden. Auch in Bayern ist die Situation trotz aller Anstrengungen nicht zufriedenstellend. So verfügen z. B. im Deponiebereich ein Viertel der entsorgungspflichtigen Körperschaften über keine eigene Deponie, ein weiteres Viertel hat nur noch eine Kapazität von zwei Jahren, ein Viertel hat eine Kapazität von zwei bis sechs Jahren, und nur das letzte Viertel hat eine Kapazität von mehr als sechs Jahren, die als ausreichende Vorsorge angesehen werden kann.
Die Entwicklung macht es erforderlich, alle Anstrengungen zur Vermeidung und zur Rückführung von Abfällen in den Stoffkreislauf zu unternehmen. Bund und Länder stehen hier gemeinsam in der Verantwortung. Die Länder sind sich bewußt, daß sie ihren Anteil bei der Bewältigung der Probleme zu leisten haben. Tatsache ist aber auch, daß Regelungen zur Vermeidung von Abfällen im wesentlichen dem Bund vorbehalten sind.
Ein wichtiger Punkt der Novelle ist deshalb auch die wesentliche Verbesserung der Möglichkeiten, Regelungen zur Vermeidung von Abfällen zu treffen. Der erste Versuch einer solchen Regelung, die Verpakkungsverordnung, hat leider nicht den gewünschten Erfolg gebracht.

(Dr. Liesel Hartenstein [SPD]: Das stimmt!)

— Es stimmt alles, was ich Ihnen sage. — Die Länder haben nicht das Instrument erhalten, das für eine wirksame Verminderung der anfallenden Abfallmengen aus Verpackungen erforderlich ist.
Inzwischen müssen wir feststellen, daß unsere damaligen Bedenken durch die Entwicklung sogar noch übertroffen werden. Dies gilt vor allem für die Einrichtung des privaten Entsorgungssystems, mit dem der Einzelhandel von den Rücknahme- und Pfandpflichten der Verordnung befreit werden soll.
Wir hatten seinerzeit gefordert, daß von einem solchen System nur Verpackungen erfaßt werden dürfen, die das Ziel einer weitestgehenden Abfallvermeidung und -verwertung nicht gefährden. Damit sollte erreicht werden, daß der Grüne Punkt nicht einfach gekauft werden kann,

(Zustimmung bei der SPD)

sondern nach umweltpolitischen Kriterien vergeben werden muß.
Die Wirklichkeit ist anders: Der Grüne Punkt, mit dem die vom Dualen System zu erfassenden Verpak-



Staatssekretär Otto Zeitler (Bayern)

kungen gekennzeichnet werden, wird unverhohlen als eine Art Ökosiegel präsentiert. Ich verweise bei dieser Gelegenheit auf einschlägige Werbung. Der Grüne Punkt soll damit beim Kunden den Eindruck erwecken, er, der Kunde, handele ökologisch besonders verantwortungsvoll wenn er so gekennzeichnete Ware kauft. Damit erhalten aber unnötige, folglich vermeidbare Verpackungen eine verbesserte Marktchance, ob es sich um übertriebene Umverpackungen, abzulehnende Wegwerfgetränkedosen oder um Plastikeinwegflaschen handelt. Die Folgen zeigen sich bereits jetzt z. B. bei der Getränkeverpackung. Deswegen ist Eile geboten.
Nach der amtlichen Statistik, die Ihnen allen sicher zugänglich ist

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Sie sollten zu der anderen Seite des Hauses reden; wir sind in dieser Frage mit Ihnen gleichauf!)

— ich bin überzeugt, daß wir alle der gleichen Auffassung sind, daß Abfall vermieden werden muß —

(Dr. Liesel Hartenstein [SPD]: Das wollten wir hören, was Sie gerade sagen wollten!)

— ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie die Aufmerksamkeit wieder zurückführen —, haben in den letzten Monaten die Einwegverpackungen bei Bier bundesweit — das gibt es nicht nur in Bayern — um bis zu 100 % gegenüber dem Vorjahr zugenommen. Diese Entwicklung zeigt auch, daß die Regelungen zur Erhaltung des Mehrweganteils bei Getränkeverpackungen in der Verpackungsverordnung ihr Ziel nicht erreichen. Die Möglichkeit, das Absinken hoher Mehrweganteile in einem Getränkebereich durch einen entsprechenden Anstieg bei anderen Getränken zu kompensieren, bewirkt, daß sich die einzelnen Getränkehersteller ihrer Verantwortung offensichtlich nicht bewußt werden. Ich begrüße daher, daß von Bundesminister Professor Dr. Töpfer bei der Verabschiedung der Verpackungsverordnung für Dezember dieses Jahres eine Ergänzung zugesagt worden ist, um wenigstens eine Stabilisierung und Erhöhung der Mehrweganteile bei Getränken zu erreichen.
Sorgen bereitet uns auch der mehr als schleppende Aufbau der Entsorgungsfirma Duales System Deutschland. Die derzeitige Entwicklung läßt es aus bayerischer Sicht fraglich erscheinen, ob es gelingt, rechtzeitig bis zum 1. Januar 1993 ein funktionsfähiges System in allen Landkreisen und kreisfreien Städten der Bundesrepublik zu errichten und damit die Freistellung des Einzelhandels von Rücknahme- und Pfandpflichten zu bewirken. Besonders bedenklich stimmt uns, daß der von der Wirtschaft vorgesehene Träger dieses dualen Systems bisher nur mit ganz wenigen Landkreisen und Zweckverbänden in Bayern erste Kontakte zur Abstimmung für die Einrichtung des dualen Systems aufgenommen hat.
Damit gewinnt aber unsere Forderung im Bundesrat nach konkreten Unterbindungsmaßnahmen gegen die Verpackungsflut an der Quelle zusätzliche Bedeutung, weil nur so eine echte Reduzierung der Abfallmengen erreicht werden kann. Wichtig sind solche Unterbindungsmaßnahmen in einer Reihe von Bereichen. Als Beispiel nenne ich die unübersehbare
Menge unnötig großer Umverpackungen, umformstabiler Erstverpackungen und der nicht abbaubaren Fast-Food-Verpackungen. Wichtig ist auch, daß ein Katalog unangemessener und ökologisch bedenklicher Verpackungen aufgestellt wird, die untersagt werden müssen. Wir erwarten, daß dieser Katalog raschestmöglich vorgelegt und in entsprechende Regelungen umgesetzt wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe die Probleme im Zusammenhang mit Vermeidung und Verwertung am Beispiel der Verpackungsverordnung deshalb so deutlich dargestellt, weil sich hier eindrucksvoll zeigt, welche Bedeutung einer klaren normativen Festlegung des Vorrangs der Vermeidung von Abfällen vor der stofflichen Verwertung und der sonstigen Entsorgung im Abfallgesetz zukommt,

(Zustimmung bei der SPD)

wie sie die vorliegende Novelle vorsieht. Bayern hat mit seinem neuen, durch Volksentscheid beschlossenen Abfallwirtschaftsgesetz den derzeitigen Regelungsspielraum bis an die Grenze des Vertretbaren ausgeschöpft. Wir brauchen eindeutige Festlegungen, auch auf Bundesebene.
Ein weiterer Schwerpunkt der Novelle ist die Verbesserung der Möglichkeiten, gemäß § 14 Abfallgesetz Regelungen zur Vermeidung von Abfällen zu treffen. Hier weise ich vor allem auf die vorgesehene Ermächtigung hin, durch Verordnung einen angemessenen Anteil an Mehrwegverpackungen in Einzelhandelsgeschäften vorzuschreiben. Mit einer solchen Bestimmung könnte ein wirksames Stützungsinstrument für die derzeit deutlich zurückgehenden Mehrwegverpackungen vor allem im Getränkebereich geschaffen werden.
Als weitere wichtige Bestimmung der Novelle nenne ich zum einen die Vorbildpflicht der öffentlichen Hand im Hinblick auf ihr abfallwirtschaftliches Verhalten. Die Erfahrungen haben gezeigt, daß bloße Appelle im Sinne einer Selbstverpflichtung der öffentlichen Hand nicht ausreichen.

(Dr. Liesel Hartenstein [SPD]: Das ist wahr!)

Wir erkennen an, daß die Mitarbeiter in den Dienststellen der öffentlichen Hand bemüht sind, sich entsprechend den Zielen der Abfallwirtschaft zu verhalten. Es gibt aber Bereiche, in denen sich die Mitarbeiter auf Grund anderer gesetzlicher Vorgaben gehindert sehen, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Die Erfahrungen in Bayern, wo eine solche Regelung seit dem 1. Juli 1990 gilt, bestätigen das Erfordernis einer klaren gesetzlichen Regelung.
Ich nenne zum anderen die Ausweitung des Vermeidungsgebots auf Betreiber nicht genehmigungsbedürftiger Anlagen nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz.
Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten, wir sind uns einig, daß weitere Schritte, vor allem in Richtung auf eine Neuordnung des Abfallbegriffs im Hinblick auf EG-rechtliche Entwicklungen folgen müssen. Gleichwohl besteht erheblicher



Staatssekretär Otto Zeitler (Bayern)

Zeitdruck. Diese als richtig und wichtig erkannten Neuregelungen sollten zügig beraten werden.

(Zuruf von der SPD)

— Ich wende mich besonders an Ihre Adresse.

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Wir helfen Ihnen in der Frage!)

— Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar.

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Drüben der Friedrich aus Nürnberg!)

— Ich werde auf Sie zukommen. — Diese Neuregelungen sollten zügig beraten und nicht auf eine Gesamtnovelle des Abfallgesetzes verschoben werden, deren Schicksal in zeitlicher wie in inhaltlicher Hinsicht nicht absehbar ist.
Der bayerischen Initiative im Bundesrat geht es darum, der Abfallflut Einhalt zu gebieten. Ich bitte Sie herzlich um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205004400
Meine Damen und Herren, es handelt sich, wie wir soeben gehört haben, um eine Initiative des Bundesrates. Ich erteile deshalb der Frau Minister Monika Griefahn das Wort.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1205004500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich und bedanke mich ganz herzlich, daß ich die Gelegenheit habe, Ihnen die Auffassung des Bundesrates darzulegen. Wir haben am 1. März dieses Jahres mit parteiübergreifender — das finde ich sehr wichtig — und überwältigender Mehrheit beschlossen, den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Abfallgesetzes und des Bundes-Immissionsschutzgesetzes bei Ihnen im Deutschen Bundestag einzubringen.
Der Bundesrat stellt fest, daß das derzeit geltende Abfallgesetz unzureichend ist. Dem stimmt im Grundsatz auch die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zur Initiative des Bundesrates zu. Ebenso weist der Rat der Sachverständigen für Umweltfragen in seinem Sondergutachten zur Abfallwirtschaft aus dem Jahre 1990 auf schwere Mängel der jetzigen Regelungen hin. Der Bundesrat erwartet folgende wesentliche Verbesserungen, und zwar schnell.
Erstens. Die abgestufte Rangigkeit von Abfallvermeidung, Abfallverwertung und Abfallentsorgung wird deutlich festgestellt.

(Beifall bei der SPD)

Das Gebot zur Abfallvermeidung und Abfallverwertung soll absolut gelten und nicht, wie es derzeit ist, erst dann wirksam werden, wenn Rechtsverordnungen nach § 14 erlassen sind. Das heißt, es soll einen Pflichtcharakter bekommen.
Zweitens. Die Verbrennung von Abfällen und die Nutzung des Brennwertes stellt keine Abfallverwertung mehr dar, sondern lediglich eine thermische Behandlung, die als letzter Schritt nach anderen Schritten erfolgen soll.

(Beifall bei der SPD)

Drittens. Die öffentliche Hand wird verpflichtet, vorbildhaft über das Beschaffungs- und Auftragswesen zur Vermeidung und Verwertung von Abfällen beizutragen. Das ist ein riesiger Posten, der die Nachfrage und damit auch das Angebot bei den Firmen enorm verändern kann.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE — Bundesminister Dr. Klaus Töpfer: Macht es doch!)

Viertens. Die bisherige Planung des Umgangs mit Abfällen wird auf die Bereiche Abfallvermeidung und Abfallverwertung ausgedehnt. — Das können wir nicht alleine machen, Herr Töpfer, weil wir den Firmen nicht genaue Vorschriften machen können.

(Bundesminister Dr. Klaus Töpfer: Das andere aber schon! — Dr. Gerhard Friedrich [CDU/CSU]: Die Bayern machen es komischerweise!)

Das muß durch Bundesgesetz geregelt werden. — Wir machen das, soweit wir können. Das reizen wir aus, genau wie die Bayern.
Fünftens. Die Länder der Dritten Welt werden vor dem Abfalltourismus gesetzlich geschützt. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Ich glaube, auch damit muß sich dieses Hohe Haus beschäftigen. Die Ratizifierung des Baseler Abkommens ist immer noch nicht erfolgt. Hier müssen wir sicherlich noch einige Ergänzungen bezüglich der östlichen Staaten anbringen. Wir haben zur Zeit einen starken Abfalltourismus nach Polen.
Sechstens. Die Rechtsverordnungen nach § 14 erhalten mehr Durchsetzungsmöglichkeiten, zum einen, weil sich die Fristen für das Wirksamwerden verkürzen — denn auf die Festlegung von Zielen kann verzichtet werden — , zum anderen auch inhaltlich, weil die Art und Weise, wie Abfall vermieden und verringert werden soll, direkter vorgeschrieben werden kann. Das betrifft die Frage, daß die Pflicht zur Rücknahme gleichrangig mit dem Prinzip der Verwertung ausgestaltet werden kann, was wir heute noch nicht schaffen.
Siebtens. Das Vermeidungsgebot wird auf nicht genehmigungsbedürftige Anlagen nach dem BundesImmissionsschutzgesetz ausgedehnt. Auch das geht nach dem jetzigen Gesetz nicht.
Die Vorschläge des Bundesrates entsprechen den Empfehlungen des Sachverständigengutachtens. Sie sind zum großen Teil sogar wörtlich übernommen. Die Länder sind schließlich für den Vollzug des Abfallgesetzes zuständig. Wir stehen in der Verantwortung vor unseren Städten, Gemeinden, Landkreisen, der ansässigen Wirtschaft und betroffenen Bürgern und Bürgerinnen. In dieser Funktion sage ich Ihnen mit allem Nachdruck: Wir Länder brauchen diese Novelle des Abfallgesetzes. Sie als Abgeordnete werden das vor Ort in Ihrem Wahlkreis sicher auch ständig erleben.
Das Problem — Bayern hat es schon dargestellt —: Wir müssen mit dem Müll umgehen. Die Verpakkungsverordnung und das duale System lösen das Problem zur Zeit überhaupt nicht. Wir brauchen Randbedingungen, die erst durch ein neues Abfallgesetz geschaffen werden können. Stoffverbote wie z. B. das Verbot von PVC für Verpackungen, die



Ministerin Monika Griefahn (Niedersachsen)

Pflicht zu Kunststoffdeklarierungen, Zwänge zu Mehrwegsystemen — z. B. hätte die Unterstützung des SERO-Systems sehr viel intensiver erfolgen müssen — können durch die Novellierung besser realisiert werden. Das sind die Dinge, die wir jetzt brauchen, und nicht eine Steigerung des Gebrauchs von Einwegverpackungen, wie sie Herr Zeitler schon aufgeführt hat. Es ist eine Freude für die Verpackungsindustrie, daß sie einen neuen Durchlaufposten hat, die Verpackung zwar noch einmal verwerten muß, die Reste aber doch wieder den Kommunen zur Verfügung stellen kann. Das ist keine abgestimmte Umweltpolitik im Sinne der Vermeidung.

(Beifall bei der SPD)

Insofern habe ich kein Verständnis für die Auffassung der Bundesregierung, die empfiehlt, von dieser Novelle abzusehen, und ankündigt,

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Ankündigt!)

erst im Jahre 1992 einen Entwurf vorzulegen, wobei wir wissen, daß wir, wenn es 1992 einen Entwurf gibt, frühestens 1994 ein Gesetz haben werden, mit dem wir als Länder arbeiten können.
Die drängenden Fragen der Abfallwirtschaft lassen sich eben nicht durch einen Verschiebebahnhof lösen, sondern müssen jetzt angepackt werden. Deshalb hat auch Niedersachsen im Moment auf viele Vorschläge verzichtet, die meiner Ansicht nach sehr sinnvoll wären, weiterhin die Vermeidung von Müll voranzubringen, z. B. zur Frage der Eigentumshaftung, d. h. dem Verbleib eines Produktes beim Hersteller, der Rücknahmepflicht mit gleichzeitigem Zwang, dann in gleicher Weise zu recyclen, das bedeutet, keine Kaskadenlösungen zu produzieren, Produktlinienanalysen zu machen und und und. Diese Dinge haben wir alle im Moment ausgespart, damit wir schnell zu einem Ergebnis, zu einer gemeinsamen übergreifenden Lösung kommen. Ich hoffe, daß Sie da alle mitziehen.
Wenn die Bundesregierung weitere Anregungen und Lösungsvorschläge hat — ich bin auch ganz dankbar, daß Herr Töpfer viele von meinen Vorschlägen, z. B. Rücknahmepflichten, schon übernommen hat —,

(Lachen bei der CDU/CSU)

dann sollten sie in diese Ausschußberatungen über die Fraktionen auch eingebracht werden. Jeder gute Vorschlag, damit wir es handhaben können, ist uns doch willkommen. Wir sollten nur keine Zeit verlieren.
Ich hoffe, daß Sie mit diesem pragmatischen Verfahrensvorschlag weiterarbeiten und auch sehen, daß jede Institution im Gesetzgebungsverfahren ihren Sachverstand noch einbringen kann. Wir wollen doch die Lösung der Sache.
Ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten:
Die Abfallproblematik wird sich in den kommenden Jahren noch verschärfen. Das gilt auch dann, wenn der Abfallstrom nicht weiter zunimmt, wenn Vermeidungs- und Verwertungsanstrengungen zu greifen beginnen, wenn der Konsum
kurzlebiger Güter abnimmt und wenn mehr Verzicht oder Substitution erfolgt als bisher.
Diese dramatische Einschätzung stammt aus dem Sondergutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen zur Abfallwirtschaft von 1990.
Wir, die Länder, können nicht auf angekündigte Gesetzesnovellen warten, wenn Konkretes und vor allen Dingen Dringliches bereits jetzt zur Entscheidung ansteht. Wir haben ja ein fertiges konkretes Konzept.
Wir haben niemanden — um ein Motto des Bundes für Umwelt und Naturschutz aufzugreifen —, der uns den Müll von der Erde herunterträgt. Und wir haben auch nicht die Ressourcen — ich möchte noch einmal daran erinnern, daß wir in den westlichen Ländern mit 20 % der Menschen auf dieser Erde 80 % der Energie und Ressourcen verbrauchen — , um diese Verschwendung weiter zu betreiben.
Ich bitte Sie, auf der Grundlage des Bundesratsbeschlusses zügig zu einer Verabschiedung zu kommen, weil wir glauben, daß auch dieses Gesetz schnell handhabbar ist.
Vielen Dank.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205004600
Meine Damen und Herren, ich erteile nun Frau Birgit Homburger das Wort.

Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1205004700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben hier immer wieder diskutiert: Die Müllberge wachsen, der Deponieraum wird knapp, höchste Zeit also für einschneidende Eingriffe in die bestehende abfallrechtliche Situation des Bundes und der Länder. Die abfallwirtschaftliche Gesetzgebung muß den gegebenen Verhältnissen angepaßt werden.
Mit dem Entwurf des Bundesrates für ein Gesetz zur Änderung des Abfallgesetzes und des Bundes-Immissionsschutzgesetzes stimmt die FDP in einem wesentlichen Punkt überein, nämlich der Festlegung der Rangfolge, die der Bundesratsentwurf in § 1 a vorsieht. Die FDP fordert seit langem, daß Abfallvermeidung Vorrang haben muß vor der Abfallverwertung und die Abfallverwertung Vorrang vor der sonstigen Abfallentsorgung.

(Dr. Liesel Hartenstein [SPD]: Dann hättet ihr uns zustimmen können!)

Höchste Priorität hat also die konsequente Vermeidung von Abfall bis zu einem Mindestmaß, das nicht mehr vermeidbar ist. Der dann noch anfallende Abfall ist stofflich zu verwerten, da die stoffliche Verwertung erhebliche Umweltvorteile wie eben Rohstoff- und Energieeinsparung oder aber geringere Emissionen gegenüber der thermischen Behandlung hat.
Einigkeit besteht auch darin, daß nicht vermeidbarer Abfall stofflich wiederverwertet werden soll, daß also die stoffliche Verwertung Vorrang vor der thermischen Verwertung und der Deponierung haben muß.



Birgit Homburger
Trotz Vermeidung und Verwertung wird es aber nach wie vor ein Restmüllaufkommen geben, das entsorgt werden muß. Ziel ist es, diese Entsorgung so vorzunehmen, daß es für die Umwelt auf Dauer kein Problem darstellt. Soweit wie irgend möglich sollen nur Stoffe, die weder in den Stoffkreislauf zurückgeführt werden können noch kompostierbar sind, soweit dies hinsichtlich der Auswirkungen auf die Umwelt vertretbar ist, thermisch behandelt werden.
Darüber hinaus hat der Entwurf des Bundesrats weitere unterstützenswerte Ansätze. So ist auch die FDP der Meinung, daß die öffentliche Hand im Bereich von Vermeidung und Verwertung von Abfällen noch stärker, viel stärker als bisher eine Vorreiterrolle einnehmen muß.

(Zuruf von der SPD)

Insofern ist die entsprechende Passage des Gesetzentwurfs des Bundesrats unterstützenswürdig. Wir können meines Erachtens — hier hat die Kollegin mit ihrem Zwischenruf völlig recht — im Bundestag und seiner Verwaltung anfangen, weil selbst in unserem Haus noch viele Ansätze für Abfallvermeidung nicht genutzt werden.
Auch die vorgeschlagene Änderung des BundesImmissionschutzgesetzes hält die FDP zumindest für bedenkenswert. Allerdings — das muß man auch sagen — bleibt der Entwurf nach unserer Auffassung eine Zusammenstellung weniger Einzelpunkte, die eben nicht ausreichend ist.

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das kann man aber schnell machen!)

Wir haben deshalb gemeinsam mit der CDU/CSU bereits in der Koalitionsvereinbarung Eckpunkte festgelegt,

(Lachen bei der SPD)

die bei einer Novellierung des Abfallgesetzes Berücksichtigung finden müssen.
Meine Damen und Herren Kollegen von der SPD, auch wenn es Ihnen nicht gefällt, müssen Sie das schlicht und ergreifend zur Kenntnis nehmen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Zu diesen Eckpunkten, die wir festgelegt haben, gehört, daß im Hinblick auf die Verwertung und Entsorgung die Verantwortung von Produzenten und Konsumenten stärker in den Vordergrund gestellt wird. Bei der Entwicklung und Herstellung eines Produktes muß die Vermeidung von Abfällen von vornherein mehr berücksichtigt werden. Deshalb muß untersucht werden, welche Stoffe verwendbar sind und wie sie im Materialkreislauf weiterbehandelt werden können.
Die Wirtschaft muß künftig eine Verantwortung für den gesamten Lebenszyklus von Produkten tragen — von der Entwicklung über die Produktion bis zur Entsorgung.

(Zuruf von der SPD: Von der Wiege bis zur Bahre!)

Zur Unterstützung der Entsorgung sind aus unserer
Sicht private Wirtschaftsunternehmen in kommunale
Abfallwirtschaftskonzepte einzubinden. Weiterhin
müssen Möglichkeiten der stofflichen Verwertung ausgeweitet werden. Es muß hier viel mehr auf der Recyclingebene gehandelt werden. Dazu gehört eben nicht nur, Sammelsysteme im Bereich von Glas, Papier, Kunststoff oder Aluminium zu schaffen oder zu erweitern, sondern hier sind auch gezielt Einsatzbereiche für wiederverwertbare Stoffe zu finden. Hierzu gehört auch der Einsatz von Recyclingprodukten im öffentlichen Bereich.
Umweltgefährdende Produkte, die sich nicht umweltfreundlich verwerten und entsorgen lassen, müssen schrittweise aus dem Verkehr gezogen werden. Bei Planung, Entwicklung und Herstellung von Produkten ist darauf zu achten, daß diese möglichst aus gleichen Stoffen bestehen, daß sich Teile aus unterschiedlichen Stoffen leicht trennen lassen und daß sie sich leicht und schadlos wiederverwerten oder gegebenenfalls beseitigen lassen.
Notwendig scheinen allerdings auch einzelne Stoffverbote zu sein — das erkennen wir ja an —, und zwar für solche Stoffe, die so schädlich sind, daß eine weitere Verwendung nicht verantwortbar ist.
Darüber hinaus muß nach Ansicht der FDP im Abfallgesetz auch die Aufstellung von Ökobilanzen für die Bewertung von Produkten und Stoffen geregelt werden. Weiterhin sind die sogenannten „Reststoffströme" zu überwachen. Der Grundsatz muß sein, daß Massenabfälle wie Haus- und Gewerbemüll in den Entstehungsregionen wieder entsorgt werden. Dies ist nach unserer Auffassung der beste Anreiz dafür, daß der, der entsorgen muß, auch dafür sorgt, daß möglichst wenig an Abfällen anfällt.
Problemabfälle müssen im überregionalen Entsorgungsverbund entsorgt werden, weil eben nicht für jede Art von Problemabfällen an jedem Ort eine umweltfreundliche Entsorgungsmöglichkeit zur Verfügung stehen kann.
Müllexporte ins Ausland lehnt die FDP grundsätzlich ab. Wir sind der Meinung, daß eine Industrienation, die derart hervorragende und weltweit wegen ihrer Qualität anerkannte Produkte herstellt, auch in der Lage sein muß, mit Abfällen, die trotz aller Vermeidungs- und Verwertungsanstrengungen noch entstehen, selbst fertig zu werden.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Deshalb muß nach Auffassung der FDP darüber nachgedacht werden, ob unter Umständen im § 13 des Abfallgesetzes nicht das Primat der Inlandsentsorgung oder der Entsorgungsautarkie noch stärker hervorgehoben wird als bisher.
Ich begrüße die Initiative des Bundesrates, die Verbringung von Abfällen aus dem Geltungsbereich des Gesetzes auf das Gebiet der Europäischen Gemeinschaft zu beschränken, wenn sie denn überhaupt zugelassen werden soll. Ich vermisse allerdings, daß man das auch an Kriterien bindet. Hier bin ich der Meinung, daß man deutlich machen muß, daß Abfälle nur dann über die Landesgrenzen gebracht werden dürfen, wenn der Empfänger hinsichtlich der Lagerung, Behandlung und Verwertung den gleichen Standard gewährleistet wie wir und die ökologischen Belastungen bei ihm nicht größer sind als beim Ver-



Birgit Homburger
sender. Hier bleibt der Entwurf des Bundesrates weit hinter unseren Vorstellungen zurück.
Weiterhin fordern wir, daß alle Produkte hinsichtlich ihrer umweltrelevanten Eigenschaften und der Wiederverwertbarkeit, insbesondere aber der Schadstoffhaltigkeit, zu kennzeichnen sind. Es müssen auch Hinweise zur umweltfreundlichen Behandlung und Beseitigung auf den Produkten vermerkt werden, um den ökologisch unbedenklicheren Produkten einen Marktvorteil zu ermöglichen. Ferner sollen künftig alle Einweg- und Mehrwegverpackungen je nach Wiederverwertungsstufe deutlich markiert sein. Diese Positionen müssen unserer Meinung nach im Abfallgesetz verankert werden.
Darüber hinaus soll im Abfallgesetz generell festgelegt werden, daß Produkte, auch schadstoffhaltige, einer Rücknahmepflicht unterliegen und daß Rückgabe- bzw. Pfandpflichten eingeführt werden müssen, um so Mehrwegverpackungen gegenüber Einwegverpackungen zu bevorteilen.
Hier, Herr Staatssekretär Zeitler, sind wir unterschiedlicher Auffassung. Ich bin nicht der Meinung, und die FDP ist nicht der Meinung, daß man z. B. Getränkedosen grundsätzlich verbieten muß. Wir müssen die Einwegverpackungen dermaßen verteuern, daß Mehrwegverpackungen Vorteile haben. Wir sind für marktwirtschaftliche Anreize und nicht dafür, das alles im Ordnungsrecht zu regeln.

(Beifall bei der CDU/CSU — Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Jetzt haben Sie eben aus unserem Regierungsprogramm zitiert! — Zuruf von der SPD: Das ist doch keine Müllvermeidung! )

— Ich habe nicht aus dem Regierungsprogramm zitiert.

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Aus unserem Regierungsprogramm!)

— Ach, Sie haben ein Regierungsprogramm? Das wußte ich gar nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Frau Kollegin, nicht ganz so überheblich! Das zeigt nur, daß Sie nicht informiert sind!)

Ziel ist es schlicht und ergreifend, die bestehenden Mehrwegsysteme zu stabilisieren und auszubauen. Hier gibt es durch die Verpackungsverordnung, auch wenn man es nicht wahrhaben will, erste positive Ansätze, um die Regelungskompetenz, die gegeben ist, zu nutzen. Allerdings — das gestehen wir ein — reicht das bei weitem nicht aus.
Schließlich ist die FDP der Ansicht, daß zwei grundlegende Dinge von besonderer Bedeutung bei der Novellierung des Abfallgesetzes sind. Es sind dies erstens die Definition des Abfallbegriffs und zweitens die Festlegung größerer Kompetenzen für die parlamentarische Mitwirkung. Der Abfallbegriff entscheidet darüber, in welchem Umfang Stoffströme dem Abfallgesetz unterliegen. Das Sondergutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen zur Abfallwirtschaft führt dazu aus — ich zitiere — :
Die Reichweite des Abfallgesetzes ist allerdings erheblich durch das Bundes-Immissionsschutzgesetz beschränkt, da es alle Reststoffe aus genehmigungsbedürftigen Anlagen erfaßt. Während der subjektive Abfallbegriff vergleichsweise unproblematisch ist, wirft der objektive Abfallbegriff schwierige Abgrenzungsfragen auf. Insbesondere besteht ein Konflikt zwischen angestrebter privater Verwertung und der Notwendigkeit, hoheitlich auf eine Sache zum Zweck ihrer Beseitigung in einer zugelassenen Anlage zuzugreifen.
Diese Stellungnahme, meine Damen und Herren, unterstreicht meines Erachtens eindrücklich die Notwendigkeit, eine Abgrenzung zwischen den Begriffen Reststoff, Abfall und Wirtschaftsgut vorzunehmen und damit auch eine Harmonisierung von Abfall-, Immissionsschutz- und Wasserrecht. Der so festzulegende Abfallbegriff ist auch mit der vorgesehenen EG-Richtlinie zu harmonisieren, so wie generell erkennbare Grundsätze eines künftigen EG-Abfallrechts Eingang in die Novellierung des deutschen Abfallgesetzes finden müssen.
Weiterhin ist es für die FDP unverzichtbar, daß der Bundestag ein größeres Mitspracherecht bei der zukünftigen Gestaltung im Bereich der Abfallwirtschaft erhält. Es geht einfach nicht an, daß alle Maßnahmen nur noch per Verordnung des zuständigen Ministeriums und unter Zustimmung des Bundesrates erfolgen. Hier ist für die FDP eine Regelung ähnlich § 3 Abs. 1 des UVP-Gesetzes denkbar, so daß Rechtsverordnungen auf der Grundlage des § 14 des Abfallgesetzes zukünftig der Zustimmung des Bundestages bedürfen. Die FDP drängt darauf, daß die so vorgetragene umfassende Novellierung des Abfallgesetzes schnell geschieht. Wir sind jedenfalls nicht bereit, weiterhin hinzunehmen, daß der Umweltminister die notwendigen Maßnahmen alle per Verordnung trifft und dadurch der Kontrolle des Parlaments entzieht. Es sind ja eine Reihe weiterer Verordnungen geplant. Ich denke nur an die Druckerzeugnisverordnung, an die Verordnung zur Vermeidung von Abfällen aus der Kraftfahrzeugentsorgung, die Elektronikschrottverordnung, Entsorgung von Bauabfällen usw. Wir wollen, daß das Abfallgesetz schnell novelliert wird und die Abgeordneten auf all diese geplanten Verordnungen dadurch mehr Einfluß erhalten.
Seit 1986 wurde eine Reihe von Landesgesetzen novelliert und zu modernen Abfallgesetzen weiterentwickelt. All diese Anregungen müssen auch Eingang finden in die Novelle des Abfallgesetzes. Die FDP fordert eine umfassende Novellierung, die Schaffung eines modernen Abfallgesetzes, das den veränderten Bedingungen Rechnung trägt. Im Gegensatz zu Staatssekretär Zeitler finden wir es nicht sinnvoll, jetzt einige wenige Punkte vorwegzunehmen. Wir befürchten nämlich, daß dann wesentliche Elemente verlorengehen, weil dann unter Umständen eine weitere Novellierung des Abfallgesetzes verzögert werden würde. Daher plädieren wir dafür, den Gesetzentwurf des Bundesrates als Anregung mit aufzunehmen, und fordern den Bundesminister für Umwelt auf, schnellstmöglich einen Entwurf zur umfassenden Novellierung des Abfallgesetzes vorzulegen.



Birgit Homburger
Danke.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205004800
Nunmehr erteile ich das Wort unserem Kollegen Dr. Klaus-Dieter Feige.

Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1205004900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der beste Abfall ist der, der gar nicht erst entsteht. Diese Äußerung des ehemaligen Bundesinnenministers Zimmermann ist mittlerweile auch im Kollegenkreis des Bundestages interfraktionelles Gemeingut geworden, auch wenn ich gestern in der Aktuellen Stunde den Eindruck hatte, daß es gerade in Sachen Atommüll vielleicht doch um eine Maximierung des Müllberges gehen soll. Wie dem auch sei, der Zimmermann-Satz aus dem Jahre 1983 ist gerade wegen der Untätigkeit der Regierung in dieser Sache aktueller denn je. Frau Homburger, Ihre Koalition besteht ja nicht erst seit Anfang des Jahres; da hätte schon eine ganze Menge passieren können.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Anträge und Gesetzentwürfe der GRÜNEN aber, die der Abfallvermeidung Priorität einräumen wollten, wurden dagegen gnadenlos abgebügelt, von der 10. Wahlperiode bis heute. Es sei auch an das unschöne Schauspiel aus dem Jahre 1986 erinnert, als die Neufassung des hessischen Abfallgesetzes der damals ersten rot-grünen Koalition als „Teufelswerk" diffamiert wurde; heute liegt wieder so ein Teufelswerk da. Dabei wurde in diesem Gesetz erstmals in der Bundesrepublik der Vorrang der Abfallvermeidung als Zielvorgabe festgeschrieben.
Der vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Abfallgesetzes und des Bundes-Immissionsschutzgesetzes scheint über weite Strecken vom damaligen hessischen Gesetz abgeschrieben zu sein. Das ist mir, wie man in Mecklenburg sagt, „schietegal" . Ich will hier keine parteipolitischen Fronten auftun, wo sie gar nicht hingehören. Meiner Meinung nach ist der von der bayerischen CSU-Regierung über den Bundesrat eingebrachte Gesetzentwurf gut und entspricht unseren Zielvorstellungen.
Ich denke, daß zu diesem Lernprozeß auch die demokratische Auseinandersetzung um das Volksbegehren, das bessere Müllkonzept in Bayern beigetragen hat.

(Susanne Kastner [SPD]: Genau, das ist richtig!)

Das ist eine interessante Sache, so etwas mal als Volksbegehren insgesamt einzubringen.

(Dr. Gerhard Friedrich [CDU/CSU]: Sie haben das Volksbegehren abgelehnt!)

— Ich selbst konnte da nicht abstimmen; ich habe das also selbst nicht abgelehnt.

(Beifall bei der SPD)

Aber ich finde es gut, daß es dort zu einem Volksbegehren in dieser Sache gekommen ist. Ich glaube, in der Hinsicht sind wir auf dem richtigen Weg.

(Dr. Gerhard Friedrich [CDU/CSU]: Aber Ihre Freunde haben abgelehnt!)

Die hatten ein noch besseres Konzept, aber der Weg ist doch der richtige.
Ganz entschieden mangelnde Lernfähigkeit müssen allerdings meiner Meinung nach der Bundesregierung und dem Bundesumweltminister unterstellt werden. Nicht daß aus diesem Haus nichts zu hören wäre, ganz im Gegenteil. Aber es kann nicht oft genug wiederholt werden: Die Diskrepanz zwischen Ankündigung und den Taten ist unübersehbar. An den bisher letzten Flop mit der sogenannten Zeitungsverordnung, die meines Wissens im Kabinett unter dem Faustschlag des Kanzlers bereits in der ersten Runde k. o. gegangen ist, möchte ich nur erinnern. Ich denke, der nächste Flop ist bereits vorprogrammiert. Stichworte wie Verpackungsverordnung, Grüner Punkt, duales System oder Gelbe Tonne: alles Nebelwerferei mit schönen Begriffen, nicht ein Kilogramm weniger Abfall, Beschönigung der öffentlichen Statistik statt konsequenter Abfallvermeidung.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Mit einem Riesenaufwand werden neue Gelbe Mülltonnen produziert und aufgestellt, Fahrzeuge beschafft und ein neues Sammelsystem eingerichtet.
Ausgerechnet die heißspornigsten Verfechter der freiesten Marktwirtschaft führen ein System ein, mit dem gemischte Abfälle erfaßt werden, die dann zu sogenannten Wertstoffen deklariert werden, aber auf dem Markt überhaupt nicht absetzbar sind.
Wo also werden diese Stoffe schließlich landen? Wie gehabt: in der Müllverbrennung. Diese Gelbe Tonne ist eine Subvention für Behälterhersteller, für private Abfuhrunternehmer und für die Hersteller von sogenannten Sortieranlagen.
Ich sage Ihnen voraus: In spätestens zwei Jahren wird dieses System zusammenbrechen; die Kommunen werden dann gezwungen sein, die Kosten zu übernehmen, die die Privatwirtschaft nicht mehr tragen will.
Es wird sich zeigen, daß die Regierung in ihrer ganzen Blindheit nichts anderes geschafft hat als die Installierung einer „parallelen Müllabfuhr" — zu Lasten der Bürger, die diesen Unfug dann teuer bezahlen müssen.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Susanne Kastner [SPD]: Zu Lasten der Kommunen!)

Aus dem Umweltministerium hätte ich wahrlich bessere Konzepte für Müllvermeidung oder Müllverwertung erwartet, aber keine Umschichtung und Hin-
und-her-Transporte. Dafür sorgt ja wohl schon der Bundesverkehrsminister hinreichend.
Aber zurück zum Gesetzentwurf.
Nach dem Votum der Bundesregierung sollen wir noch mindestens ein Jahr auf einen umfassenderen Gesetzentwurf der Bundesregierung warten. Ange-



Dr. Klaus-Dieter Feige
sichts des Müllnotstandes in den alten, aber besonders in den neuen Ländern ist größte Dringlichkeit geboten. Insbesondere die neuen Bundesländer sind nach Beginn der Währungsunion keineswegs auf die Verpackungsmüllflut vorbereitet gewesen.
Statt nun aber riesige Geldmengen allein in den Wiederaufbau eines Müllerfassungssystems zu stecken, sollten im Osten unserer Republik die Prinzipien der Müllvermeidung mit dem gebotenen Ernst in das landespolitische Umweltschutzmanagement einbezogen werden.
So ist es für mich und, ich glaube, auch für viele ehemalige DDR-Bürger immer noch nicht verständlich, warum z. B. das SERO-System der ehemaligen DDR so sang- und klanglos zerschlagen wurde. Auch das ist eine Torheit, die die Bürger dieses Landes noch teuer bezahlen werden.
Damit will ich nicht sagen, daß das SERO-System ohne Fehl und Tadel gewesen ist. Unter marktwirtschaftlichen Bedingungen hätte es keinen Bestand gehabt. Aber es wäre darauf angekommen, sorgfältig zu prüfen, was davon überlebenswert und auch für die alten Länder bewahrenswert ist. Aber wieder einmal ist eingeebnet worden und schaffen die Treuhand und damit letzten Endes die Bundesregierung irreversible Tatsachen.
Diese Differenz zwischen Beteuerungen und praktizierter Politik erscheint im letzten unbegreiflich und bürdet schon jetzt der nächsten Bundesregierung — wir haben auch ein Regierungprogramm — eine nicht unbeträchtliche neue Altlast auf.
Besonders in einem Punkt geht der Gesetzentwurf den Abgeordneten des Bündnisses 90/DIE GRÜNEN noch nicht weit genug. Wir meinen, es reicht nicht aus, die Verbringung von Abfällen aus der Bundesrepublik nur „vorrangig" auf das Gebiet der Europäischen Gemeinschaft zu beschränken.
Was Müllexport bedeutet, habe ich an verschiedenen Deponien im Osten — ich wohne ja in der Nähe von Schönberg — schon zu DDR-Zeiten kennengelernt. Und ich kann mir die Bemerkung nicht verkneifen, daß heute noch aus drei bayerischen Landkreisen Müll nach Schönberg verbracht wird.

(Susanne Kastner [SPD], zur Bundesratsbank gewandt: Hören Sie das?)

Wir sollten uns von dem Grundsatz leiten lassen, daß der unvermeidbare Restmüll möglichst an seinem Anfallort verbleiben und dort verwertet werden soll — wohlgemerkt: verwertet und nicht verbrannt; da stimmen wir völlig überein.
Müll darf den EG-Bereich jedenfalls nicht verlassen. Wir werden hierzu möglicherweise einen Änderungsantrag einbringen, der den Müllexport noch deutlicher ausschließt, als es im vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehen ist.
Insgesamt aber möchte ich als Nicht-Bayer zum Gesetzentwurf des Bundesrats sagen: In Bayern wird offenbar nicht nur Bier getrunken, sondern man kümmert sich auch um die umweltunfreundlichen Flaschen. Wenn die bayerische Staatsregierung im Bundesrat so weitermacht, wird die CSU möglicherweise eines Tages aus der Koalition fliegen.
Schönen Dank.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Zuruf von der SPD: „Weiter so! ")

— Die machen ja nicht so weiter, meine Damen und Herren; die machen ja nicht so weiter!

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der PDS/Linke Liste — Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Herr Feige, wo bleibt denn der Beifall Ihrer Gruppe?)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205005000
Ich erteilt der Frau Kollegin Jutta Braband das Wort.

Jutta Braband (PDS/LL):
Rede ID: ID1205005100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist wohl unbestritten, daß die Abfallpolitik eines der zentralen Felder der Auseinandersetzung in der ökologischen und zunehmend auch in der wirtschaftspolitischen Diskussion ist, und zwar bis in die Kreise und Kommunen hinein. Vordergründig scheint ein Konsens über die Ziele der Abfallpolitik sehr schnell möglich zu sein; allerdings, denke ich, nur vordergründig. Da ergeht man sich in großartigen Ankündigungen über Vermeidung und Verwertung, und diese Absichtserklärungen werden als politische Erfolge verkauft. Teilweise ist der vorliegende Gesetzentwurf ein gutes Beispiel dafür.
Bevor ich dies nun illustriere, möchte ich jedoch einige Anmerkungen grundsätzlicher Art machen.
Erstens. Was wir hier vornehm als Abfall bezeichnen, hieß bis vor kurzem schlicht „Müll" bzw. „Schrott" , war also Dreck. Man war weit entfernt, damit anders umzugehen, als alles in die eine Tonne zu stecken. Es galt: Aus den Augen aus dem Sinn! Der Begriff der Wegwerfgesellschaft illustriert diese Mentalität. Ich fürchte, daß sich daran noch nicht allzuviel geändert hat.
Der Begriff Abfall — das ist der zweite Punkt — gibt vorerst nur die Herkunft und Entstehung dessen, mit dem wir es zu tun haben, wieder. Es ist das, was bei der Herstellung, der Lagerung und beim Konsum von Gütern übrigbleibt bzw. als nicht unmittelbar verwertbarer Rest abfällt.
Damit sind wir beim Kern der Auseinandersetzung: Das Was und Wie der Produktion und Konsumtion muß zum Thema werden, wenn das einzig mögliche Ziel, nämlich die Müllvermeidung, wirklich ernstgemeint ist.
Drittens. Abfall ist ein Sammelbegriff und umfaßt alles, vom Bauschutt über den sogenannten Hausmüll bis zum Filterstaub und Klärschlamm. Im Grunde genommen ist Abfallpolitik auch Chemiepolitik. Die Liste der involvierten Stoffe und Stoffgruppen ist so umfangreich, daß der Versuch der Aufzählung einfach scheitern muß.
Hier ist es doch wohl notwendig — ich verweise auf meine zweite Bemerkung — , darüber nachzudenken, daß bestimmte „Güter" schlichtweg giftig sind und bestimmte Produktionsabläufe und Produktlinien derartige gesundheitliche Risiken beinhalten, daß von einem Nutzen nicht mehr gesprochen werden kann.



Jutta Braband
Ich behaupte: Hier muß doch das Ziel die Entgiftung der Produktion und ihrer Produkte sein. Doch davon handelt weder das geltende Abfallrecht noch die vorliegende Initiative, auf die ich jetzt zurückkommen will.
Ich habe von dem vordergründigen Konsens in der Mülldebatte gesprochen. Vernünftigerweise hat natürlich niemand etwas gegen Abfallvermeidung und Abfallverwertung. Doch beim näheren Hinsehen ist festzustellen, daß dies nur so lange gilt, bis die Interessen der Industrie tangiert werden.
So fällt auch die Absichtserklärung der Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf aus. Ich zitiere:
Der Entwurf zielt darauf ab, die Anstrengungen zur Vermeidung und Rückführung von Abfällen in den Stoffkreislauf zu verstärken, um so das Problem des Mengenanfalls von Abfällen auf Dauer zu lösen und hierdurch die erforderliche Akzeptanz für die notwendigen Abfallentsorgungsanlagen herzustellen.
Der Entwurf ist nach unserer Ansicht jedoch nicht geeignet, die zitierten Anstrengungen zur Rückführung von Abfällen zu verstärken. So bleibt die Aussage: Der Entwurf zielt darauf ab, die erforderliche Akzeptanz für die notwendigen Abfallentsorgungsanlagen zu schaffen. — Das ist den Autoren des Bundesratsentwurfes offensichtlich auch gelungen und wird nun von der Bundesregierung wohlwollend honoriert.
In einer der Entschließungen fordert der Bundesrat die Bundesregierung auf, bei der Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf die Definition des Abfallbegriffs aufzugreifen. Es ist interessant, was dabei herauskommt. Sinnigerweise stellt die Bundesregierung dabei fest: „Die Grenze zwischen Reststoff und Wirtschaftsgut ist fließend." Ich bestätige das: sehr fließend.
Da werden zu deponierende Reststoffe aus Müllverbrennungsanlagen zum Wirtschaftsgut erklärt, und schon kommen die vom Abfallgesetz wie im Bundesratsentwurf unterstellten Volumenreduzierungen durch Müllverbrennung — pardon, das heißt ja jetzt: thermische Verwertung — zustande.
Die Realität sieht ganz anders aus: Weil nicht absetzbar, landet das Wirtschaftsgut auf der Deponie. Echte Volumenreduzierung dagegen ist nur durch konsequentes Vermeiden und Verwerten von Abfällen zu erreichen, wie es hier immerzu betont wird. Ich füge hinzu: Es ist eine Reduzierung bis zu 80 % möglich, wie die bayerischen Bürgerinitiativen „Das bessere Müllkonzept" es bereits nachgewiesen haben.
Es gibt ein weiteres Problem. Dabei handelt es sich um die im Entwurf vorgeschlagene Pflicht zu Andienung an eine Entsorgungsanlage. Es ist doch bekannt, daß nur im Falle einer großen Zahl von Verbrennungsanlagen und bei einem möglichst hohen Mülldurchsatz für Anlagenhersteller und -betreiber das Müllgeschäft lukrativ ist, wobei über die Tatsache, daß niemand sagen kann, welche Stoffe beim Verbrennungsvorgang entstehen und welche giftigen Eigenschaften diese Stoffe haben, gar nicht gesprochen wird. Wenn die Kommunen gezwungen sind, ihren
Müll zu einer ganz bestimmten Anlage zu schaffen, und einfach nicht das Recht haben, den Müll bei jemandem in der näheren Umgebung abzuliefern, der ihn auf ganz andere Weise verwertet, als ihn zu verbrennen, dann halte ich das für eine ganz entscheidende Einschränkung kommunaler Rechte wie auch der Möglichkeiten, Abfall umweltgerecht zu verwerten.
Wir fordern darum ein Konzept, das den Ausstieg aus der Müllverbrennung regelt. Dieses Konzept ist in Zusammenarbeit mit den Bürgerinitiativen und den Umweltschutzverbänden zu erstellen. Ich denke, daß der gemeinsame Nenner für eine ökologische Abfallpolitik heißt: Müll vermeiden und verwerten, statt vergraben und verbrennen.
Unsere Forderungen, die bereits vom Bundesverband „Das bessere Müllkonzept" und auch hier in diesem Hause mehrfach aufgestellt worden sind, zielen auf die Festlegung von Mehrwegquoten, auf das Verbot gefährlicher Verpackungen wie PVC und auf die Einführung einer Verpackungsabgabe, die sich auf die Produktion, Produktionsverfahren und Produktionsabfälle bezieht.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste und beim Bündnis 90/GRÜNE)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1205005200
Nunmehr erteile ich das Wort unserem Kollegen Dr. Paul Laufs.

Prof. Dr. Paul Laufs (CDU):
Rede ID: ID1205005300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben nun fünf Jahre Erfahrung mit dem neuen Abfallgesetz, mit seinen Stärken und seinen Schwächen. Die Anregungen des Bundesrats zur Änderung dieses Gesetzes und des Bundes-Immissionsschutzgesetzes sind zu begrüßen. Sie sind hilfreich, können aber eine umfassende Novellierung, die für 1992 geplant ist, nicht ersetzen.

(Beifall der Abg. Birgit Homburger [FDP] — Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Was niemand behauptet!)

Eine vorgeschaltete Teilnovellierung erscheint nicht sinnvoll.

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Warum?)

Auch angesichts drängender Probleme im Bereich der Abfallwirtschaft sollte die Novelle nicht übers Knie gebrochen werden.

(Zurufe von der SPD: Oh!)

Wir können und müssen uns die Zeit nehmen, die Novellierung gründlich vorzubereiten, das Abfallgesetz auch in rechtlicher Hinsicht nachhaltig zu verbessern.
Wenn von Länderseite die Dauer dieses Gesetzgebungsvorhabens als völlig ungewiß bezeichnet wird, so trifft dies nicht zu. Die Koalition hat sich vereinbart und in die Pflicht genommen, das Vorhaben zügig voranzubringen.

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das kennen wir!)




Dr. Paul Laufs
Wir erwarten, daß im Laufe des nächsten Jahres ein Gesetzentwurf vorgelegt wird und die parlamentarischen Beratungen beginnen können.
Meine Damen und Herren, es ist in der Tat völlig unbefriedigend, daß Länder und Kommunen einzelne Regelungen erlassen haben, die nicht mit dem Bundesabfallrecht übereinstimmen. So gibt es beispielsweise kommunale Satzungen, die Bestimmungen über den Gebrauch von Einwegverpackungen vorsehen und nunmehr Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzung geworden sind.
Die Rechtsfrage, ob und inwieweit der Bund insbesondere durch § 14 Abfallgesetz eine abschließende Regelung treffen wollte und getroffen hat, macht Unschärfen unseres Abfallrechts deutlich. Hinzu tritt die europäische Entwicklung. Unser Abfallbegriff, der sehr stark auf voluntaristischen Elementen aufbaut, ist nur schwer mit europäischen Ordnungsvorstellungen vereinbar.
Jedenfalls scheint es unabdingbar zu sein, daß die Überarbeitung des Abfallrechts umfassend angelegt wird. Punktuelle Verbesserungen helfen nicht wirklich weiter. Wir sollten unverzüglich und in überschaubarer Frist den gesamten vorhandenen Sachverstand mobilisieren und für die Vorbereitung der Novelle des Abfallgesetzes einspannen, wie es im Atomrecht vorbildlich geschehen ist.
Der Bundesrat sieht eine Schwäche des geltenden Rechts darin, daß der Vorrang der Vermeidung nicht schärfer gefaßt ist. Er schlägt ein programmatisches Abfallvermeidungsgebot vor. Vermeidung soll generell Vorrang haben, solange die ökologischen Nachteile nicht die Vorteile nachweislich überwiegen.
Programmsätze haben ihre Schwächen im Vollzug. So erscheint die vorgeschlagene ökologische Nachweispflicht nicht praktikabel. Massiv eingreifende Beschränkungen für die Herstellung und das Inverkehrbringen von Produkten sowie ein rechtlich verordneter Konsumverzicht würden überdies schnell an verfassungsrechtliche Grenzen stoßen.

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Eine lieblos vorgetragene, abwieglerische, antiökologische Rede!)

Ich sehe hier aber auch ein politisches SchwarzerPeter-Spiel, das für die weitere abfallpolitische Debatte in unserem föderativ verfaßten Staatswesen nicht ungefährlich ist. Die Verantwortung wird dem Bund mit dem Argument zugeschoben, er müsse durch Bundesgesetz nur durchgreifend für die Abfallvermeidung sorgen, dann bliebe für die entsorgungspflichtigen Körperschaften auf der kommunalen Ebene auch nicht mehr viel zu beseitigen übrig — ein weitverbreitetes Wunschdenken! Ich warne vor solchen Illusionen.
Alle vorliegenden Zahlen belegen, daß wir durch verstärkte Anstrengungen noch beträchtliche Abfallmengen vermeiden und verwerten, aber dadurch der Beseitigungsproblematik nicht entgehen können. Länder, Kreise und Gemeinden müssen ihren Pflichten nachkommen, etwa bei der Aufstellung von Entsorgungsplänen oder der Ausweisung von Standorten für Abfallverbrennungsanlagen, Kompostwerke und Deponien. Es ist doch keine brauchbare
Politik, diese Anlagen vor Ort abzulehnen, die öffentliche Stimmung aufzuheizen, Protestdemonstrationen anzuführen,

(Zurufe von der SPD)

wie das der umweltpolitische Sprecher der SPD, der Kollege Schäfer, in der Ortenau getan hat, und dann den Bund für die Abfallvermeidung verantwortlich zu machen. So geht es wirklich nicht!

(Beifall bef der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Ich bin für einen Volksentscheid!)

Bloße Programmsätze helfen hier nicht weiter, auch dann nicht, wenn sie in rechtlichem Gewand daherkommen. Im übrigen sind die Länder nicht gehindert, schon jetzt Vermeidungsstrategien zu entwickeln und sie in ihre Entsorgungspläne einzupassen.
Was ist Abfallvermeidung? Ist Kompostieren von Küchenabfällen im Garten Abfallvermeidung, weil die pflanzlichen Reststoffe nicht zur Müllabfuhr gehen? — Als einen Erfolg im Sinne der Abfallvermeidung wird man schon gelten lassen müssen, wenn es uns gelingt, Reste und verbrauchte Produkte wieder in den Wirtschaftskreislauf zurückzuführen.

(Zuruf von der SPD: Das ist doch keine Vermeidung!)

Jedenfalls für die entsorgungspflichtige Körperschaft werden damit Abfälle vermieden. Daneben bewirken Verwertungspflichten, aber auch echte Abfallreduzierung, weil wegen der Kosten ein Interesse daran besteht, die im Kreislauf geführten Mengen möglichst gering zu halten.
Vermeidung und Verwertung gehen fließend ineinander über. Wir sollten die Novellierung nutzen, um in begrifflicher und systematischer Hinsicht solche und andere Unschärfen zu klären.
Entsprechendes gilt für die unbefriedigende Abgrenzung zwischen Produktabfällen, die dem Regime des Abfallgesetzes unterfallen, und den Produktionsabfällen, die dem Bundes-Immissionsschutzgesetz nur im Bereich der genehmigungsbedürftigen Anlagen zugeordnet werden. Darauf hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen eingehend hingewiesen. Der Bundesrat greift dies auf.
Wir dürfen allerdings die Betreiber der nicht genehmigungsbedürftigen Anlagen, deren geringeres Gefährdungspotential keine vollständige Gleichstellung mit den genehmigungsbedürftigen Anlagen rechtfertigt, auch nicht überfordern. Das gebietet schon der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Mit dem Abfallgesetz von 1986 haben wir das Ordnungsrecht der Abfallbeseitigung zum Abfallwirtschaftsrecht weiterentwickelt. Das hervorragendste Beispiel unserer neuen Abfallwirtschaftspolitik ist die Verpackungsverordnung,

(Lachen bei der SPD)

zu der wir seitens der Opposition einiges an Kritik gehört haben.

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Ja!)




Dr. Paul Laufs
Kartellrechtliche Bedenken wurden thematisiert, z. B. von Ihnen, Herr Kollege Schäfer, die dann vom Bundeskartellamt nicht geteilt wurden.

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das ist gar nicht zutreffend! Lesen Sie einmal das Schreiben nach, mein Lieber!)

Entscheidend aber ist, daß die Länder die Verpakkungsverordnung und das Duale System offenbar anders beurteilen als Oppositionspolitiker hier im Bundestag. „Noch in diesem Jahr beginnt das Saarland mit der modellhaften Erprobung des Dualen Systems, das vernünftig und überschaubar in das dortige Verwertungssystem integriert werden soll" , so der saarländische Umweltminister Jo Leinen.

(Zuruf von der SPD: Was soll er denn sonst machen?)

„Grundlegende Veränderungen werden vermutlich auch durch die neue Verpackungsverordnung und das von Industrie und Handel geplante Duale System bewirkt werden" , so die rheinland-pfälzische Umweltministerin Klaudia Martini.
Die Zitate belegen: So falsch kann unser Weg nicht sein. Es ist allerdings nicht förderlich, wenn gerade der bayerische Umweltminister nur Probleme sieht,

(Dr. Liesel Hartenstein [SPD]: Der weiß, warum!)

kaum daß die neue Regelung verabschiedet ist. Wir sind der Auffassung, daß das Ordnungsrecht dringlich um marktwirtschaftliche Elemente ergänzt werden muß.
Die abfallpolitischen Auswirkungen der Verpakkungsverordnung reichen meines Erachtens weit über ihren eigentlichen Anwendungsbereich hinaus. Die Wirtschaft hat in vielen Bereichen erkannt, daß wir es mit der Abfallwirtschaftspolitik ernst meinen. So gehen z. B. Computer- und Automobilindustrie neue Wege bei der Planung der späteren Entsorgung der von ihnen hergestellten Produkte. Diese Entwicklung, die wir in Gang gesetzt haben, werden wir weiterhin nachdrücklich bestärken und entsprechende Rechtsverordnungen auf den Weg bringen.
Bei der umfassenden Novellierung des Abfallgesetzes werden wir über das geltende Abfallwirtschaftsrecht hinaus deutlich machen, welche öffentlichrechtlichen Pflichten Produzenten, Handel und Konsumenten künftig treffen. Wir sehen die Notwendigkeit, die Verantwortung des Produzenten für den gesamten Lebenszyklus von Produkten erheblich stärker herauszustellen. Dies umschließt sowohl Vorschriften für die generelle Festlegung von Rücknahmepflichten, von Rückgabe- und Pfandpflichten sowie die unmittelbare Möglichkeit der Rechtsverordnung nach § 14 für Massenabfälle auch ohne vorherige Zielvorgaben.
Auch der Konsument, dessen Verpflichtung bisher damit endet, daß er seinen Müll zur Abholung auf die Straße stellt, muß künftig stärker in die Pflicht genommen werden können. Soweit sich ein Haushalt selbst versorgt, wird ihm auch die Mitwirkung an der Entsorgung etwa dergestalt zuzumuten sein, daß er Abfälle getrennt sammelt und notfalls auch zur nächsten Ecke zu dort aufgestellten Containern bringt.

(Vorsitz : Vizepräsident Hans Klein)

Neben die Abholpflicht der öffentlichen Körperschaften müssen Bringpflichten des Bürgers treten. Darauf müssen unsere Bürger vorbereitet werden, wenn eine entsprechende künftige Regelung Erfolg haben soll.
Meine Damen und Herren, ich sehe die Notwendigkeit, uns bei der Vorbereitung dieses Rechtsetzungsvorhabens, das uns in das nächste Jahrtausend begleiten soll, der umfassenden Hilfe der zuständigen Dienststellen in Bund und Ländern zu versichern, aber auch den in der Wissenschaft vorhandenen Sachverstand zu nutzen.
Ich könnte mir vorstellen, daß rechtlich besonders knifflige Fragen — wie etwa die Zuordnung der Vermeidung zur Verwertung oder die Frage des Reststoffbegriffs — eingehend untersucht werden, damit der Boden für das Novellierungsvorhaben bereitet wird.

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das ist auch richtig!)

Für wünschenswert hielte ich ferner die baldige Durchführung eines Abfallrechtssymposiums, mit dessen Hilfe ausgelotet werden sollte, wie unsere abfallwirtschaftspolitischen Forderungen in ein neues, rechtssystematisch überzeugendes und für Bund und Länder klares Abfallwirtschaftsrecht gegossen werden können.
Dies gilt auch für die folgende Problematik, die ich Ihnen abschließend vortragen möchte. Eine ganz vordringliche, unsere nationalen Zielsetzungen überlagernde Fragestellung tut sich bei der Harmonisierung des Rechts in einem geeinten Europa auf. Der deutsche Grundsatz „Einmal Abfall ist nicht immer Abfall! " kann dazu führen, daß Abfall zunächst als Wirtschaftsgut über die Grenze geschoben und schließlich in einem „Billigland" auf einfache Weise deponiert wird. Diese Form von Umweltdumping ist weder in unserem noch im europäischen Interesse.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die europäische Entwicklung wird deshalb auch zu der Frage führen, ob und inwieweit wir an unseren abfallbegrifflichen Vorstellungen festhalten können.
Wir müssen uns dabei grundsätzlich klarmachen, daß man den Handel mit Waren und Dienstleistungen bei national unterschiedlichen Entsorgungsbedingungen nicht einfach europaweit liberalisieren kann. Die Abfallmärkte freizugeben würde zwangsläufig zu einer Störung der Kreisläufe führen. Unser Ziel ist es daher, die europäischen Bedingungen der Abfallentsorgung zu harmonisieren. Wir fordern nachdrücklich die Einführung europaeinheitlicher Standards durch eine europäische TA Abfall.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Dies ist auch deshalb dringend geboten, weil wir im Inland die Anforderungen an den Stand der Technik in den letzten Monaten erheblich verschärft haben. Ein weiterer Anstieg der Entsorgungskosten wird einen weiteren Exportdruck mit sich bringen. Zugleich wird die Versuchung wachsen, Abfälle illegal im Aus-



Dr. Paul Laufs
land, besonders in Drittländern, zu entsorgen. Die Jahresumsätze des Mülltourismus, also der Müllexporte in EG-Staaten, nach Mittel- und Osteuropa sowie in Staaten der Dritten Welt, werden auf dreistellige Milliardenbeträge geschätzt. — Ich bewundere, liebe Frau Kollegin Homburger, Ihren Mut, ein striktes Verbot des Müllexports zu fordern. Soviel ich weiß, schafft Ihre Heimatstadt Ulm den ganzen Müll ins französische Lothringen.

(Birgit Homburger [FDP]: Schlimm genug, aber bei einem CDU-Bürgermeister!)

Die Techniken der Abfallvermeidung, -verwertung und -entsorgung sind schon heute ein wesentlicher Bestandteil des internationalen Technologiewettbewerbs. Dieser Wettbewerb muß künftig innerhalb gleicher europäischer Rahmenbedingungen stattfinden. Auch diese Problematik sollten wir mit wissenschaftlicher Hilfe durchleuchten, damit wir uns nicht eines Tages hilflos einer EG-weiten chaotischen Abfallwirtschaft gegenüber sehen.
Wir werden zur ökologischen Orientierung unserer Industriegesellschaft einen abfallwirtschaftlichen Rahmen vorgeben, der neue Bewertungen mit sich bringen und unsere Konsumgewohnheiten verändern wird. Was noch nutzbar ist, darf nicht zu Abfall werden. Die abfallwirtschaftliche Kostenlawine, die auch auf unsere Bürger zukommen wird, wird uns ohnehin dazu zwingen, Vermeidungs- und Verwertungspotentiale so weit wie möglich auszuschöpfen.
Das Abfallrecht soll diese Entwicklung nachhaltig fördern, aber auch alle Beteiligten vor unzumutbaren Belastungen bewahren. Einem Streit mit den Ländern und mit der Opposition, auf welchen Wegen wir dieses Ziel realisieren können, sehen wir gelassen und aufgeschlossen zugleich entgegen.

(Dr. Klaus-Dieter Feige [Bündnis 90/ GRÜNE]: Mit der CSU-Opposition! — Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Weiß das auch der Staatssekretär?)

Der Bundesumweltminister wird uns

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Den Weg weisen!)

das Programm umreißen, das uns für die nächsten Jahre ins Haus steht. Er hat dabei unsere volle Unterstützung.

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Egal, was er vorschlägt!)

— Wir kennen das.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205005400
Ich erteile der Abgeordneten Dr. Liesel Hartenstein das Wort.

Dr. Liesel Hartenstein (SPD):
Rede ID: ID1205005500
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auch wortreiche Umschreibungen, Herr Kollege Laufs, können nicht darüber hinwegtäuschen, daß Sie sich zumindest von seiten der Bundestagsmehrheit gewaltig in der Defensive befinden. Gibt es Ihnen denn nicht zu denken, daß viele Gemeinden in ihrer Notlage tatsächlich
Maßnahmen ergriffen haben, die über die geltende Gesetzeslage hinausgehen? Nach meiner Auffassung gibt es keinen deutlicheren Beweis für die eklatanten Schwächen des geltenden Gesetzes. Das müßten Sie eigentlich zugeben können.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

Ich stelle fest: Dem Gesetzentwurf des Bundesrates für eine Änderung des Abfall- und des Bundes-Immissionsschutzgesetzes ist nicht nur in der Tendenz, Herr Laufs, sondern auch dem Inhalt nach voll zuzustimmen.

(Zustimmung des Abg. Dr. Klaus-Dieter Feige [Bündnis 90/GRÜNE])

Ich hoffe, Herr Staatssekretär, Sie haben das gehört.

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Und sind nicht erschrocken darüber!)

Dieser Gesetzentwurf bündelt wesentliche Forderungen, die endlich verwirklicht werden müssen, wenn wir aus der abfallpolitischen Sackgasse, in der wir uns befinden, endlich herauskommen wollen. Ein Zeichen dafür, wie brisant die Lage ist und wie sehr sie nach Problemlösungen schreit, ist eben die Tatsache, daß hier eine nicht nur länderübergreifende, sondern sogar parteienübergreifende Initiative vorliegt. Das ist ausdrücklich zu begrüßen.
Vor einem Jahr, im September 1990, hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen in seinem Sondergutachten zur Abfallwirtschaft erklärt, das Abfallproblem sei zu einem Umweltproblem ersten Ranges geworden. Er bescheinigt gleichzeitig der Bundesregierung, daß sie dieses Umweltproblem ersten Ranges nicht gemeistert habe. Das trifft leider zu.
Der vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates spricht von einer „besorgniserregenden Situation der Abfallentsorgung in der Bundesrepublik". Das ist, denke ich, eine vorsichtig-kühle Untertreibung im Amtsdeutsch, denn in Wirklichkeit ist die Situation höchst dramatisch. Mehr als die Hälfte der Gemeinden steht vor überfüllten Deponien. Die Akzeptanz für den Bau neuer Entsorgungsanlagen in der Bevölkerung schwindet rapide, aber, Herr Kollege Laufs,

(Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Und Sie sind daran beteiligt!)

nicht deswegen, weil sich Bürgerinitiativen mit guten Gründen z. B. gegen den Bau von Müllverbrennungsanlagen wehren, sondern weil nichts, aber auch gar nichts in Sachen Abfallvermeidung geschehen ist und weil die Bürger diese Untätigkeit nicht mehr tolerieren. Das ist die Wahrheit!

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Wir haben kein konsequentes System der Abfallvermeidung; wir haben kein flächendeckendes Recycling, keine funktionierende Infrastruktur für die Sondermüllentsorgung, dafür aber leider immer noch blühenden Abfalltourismus nach Frankreich, Belgien, Polen oder gar — unter Ausnutzung der Devisenknappheit der ärmeren Länder — in die dritte Welt. Das ist doch wahrlich kein Ruhmesblatt für eine Wohlstandsgesellschaft.



Dr. Liesel Hartenstein
Die SPD-Fraktion hat 1986 bei der Verabschiedung des Abfallgesetzes einen Entschließungsantrag und 14 Änderungsanträge vorgelegt. Wir haben erklärt, daß zur Einsparung von Ressourcen und Energie und angesichts der Tatsache, daß in den nächsten Jahren mit einer Überlastung der öffentlichen Deponien zu rechnen sei, künftig die Abfallvermeidung und die Reduzierung des Abfallaufkommens oberstes Ziel sein müsse und daß der Bundesgesetzgeber dafür jetzt die Instrumente zur Verfügung stellen müsse — 1986!

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Das war leider in den Wind gesprochen, Herr Kollege Laufs, und daran waren Sie beteiligt; denn die Koalitionsmehrheit hat unseren Entschließungsantrag mitsamt den 14 Änderungsanträgen in Bausch und Bogen abgelehnt.
Ich stelle fest: Das heutige Müllchaos ist nicht zuletzt ein Resultat der Uneinsichtigkeit. Es ist ein Resultat mangelnden Weitblicks und fehlender Durchsetzungskraft gegenüber mächtigen Lobbygruppen.
Sie fordern immer, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, den Konsens in wichtigen Fragen, etwa in der Energie- und in der Verkehrspolitik. Ich sage Ihnen: In der Abfallpolitik hätten Sie ihn schon längst haben können, wenn Sie vernünftige Vorschläge auch nur in Ansätzen aufgegriffen hätten.
Dafür ein paar konkrete Belege: Erstens. Wir haben bereits 1986 vorgeschlagen, eine klare Rangfolge der Ziele in das Gesetz hineinzuschreiben, bei der die Abfallvermeidung oberste Priorität haben muß. Zur Information, Frau Kollegin Homburger, biete ich Ihnen gerne an, die entsprechenden Anträge der SPD nachzureichen. Sie haben das damals abgeschmettert. Der Gesetzentwurf des Bundesrates greift dieses Petitum erfreulicherweise wieder auf. Wir unterstützen dies ohne jede Einschränkung.
Zweitens. Wir haben ferner beantragt, daß die stoffliche Verwertung von Abfällen grundsätzlich Vorrang vor der sogenannten thermischen Verwertung haben müsse. Wörtlich heißt es in unserem Antrag, die „Verbrennung von Abfällen ist Teil der Abfallbeseitigung" und eben nicht der Verwertung. Sie haben auch das abgelehnt. Es ist zu begrüßen, daß der Bundesrat hier eine sachgerechte Korrektur schafft. Das ist ein großer Fortschritt.
Drittens. Auch in Sachen Recycling sind wir bereits 1986 von dem Prinzip ausgegangen, daß die Phase des „Vergrabens und Vergessens " endgültig abgeschlossen sein müsse und daß wir den Schritt zu einer echten Recycling-Wirtschaft, also zur Rückführung der Altstoffe in den Wirtschaftskreislauf, tun müßten. Deshalb haben wir in einem Antrag gefordert, die Länder sollten in § 6 verpflichtet werden, in Zusammenarbeit mit den Kommunen Abfallwirtschaftspläne zu erstellen, mit denen regionenübergreifende Regelungen für Abfallverwertung und -entsorgung getroffen werden könnten.
Auch diese Forderung ist auf taube Ohren gestoßen. Es blieb alles beim alten, nur mit dem Unterschied, daß die früheren Abfallbeseitigungspläne in Abfallentsorgungspläne umgetauft worden sind. Das war,
gelinde gesagt, Etikettenschwindel. Erfreulich ist es, daß die Länderkammer jetzt mit ihrem Entwurf den notwendigen Schritt zu einer echten Abfallwirtschaft tut. Dies findet unsere Zustimmung.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

Viertes und letztes Beispiel. Es tobte ein heftiger Kampf um die sogenannte Lex Aldi, eine Bestimmung, mit der der Lebensmitteleinzelhandel und der Getränkehandel verpflichtet werden sollten, Bier und Erfrischungsgetränke nicht nur in Einwegbehältnissen, sondern gleichzeitig auch in Mehrwegflaschen anzubieten. Sie haben diese Bestimmung gestrichen. Das war ein verhängnisvoller Fehler. Der Gesetzentwurf des Bundesrates repariert diesen Fehler. — Zustimmung! Wer dem Mehrwegsystem nämlich wirklich nützen und es ausbauen will, darf der Einwegdose nicht die Vorfahrt geben!
Zusammen mit der Erfindung der schwammigen Zielfestlegungen in § 14 Abs. 2 sind wir in eine Situation hineingeschlittert, in der die Milliardenexplosion der Einwegverpackungen nicht mehr eingefangen werden konnte, und das hat dazu geführt, daß wir heute sage und schreibe allein im Getränkebereich über 9 Milliarden Einwegbehälter auf dem Markt haben. Das ist im Grunde ein Skandal.
Nein, das Abfallgesetz der Bundesregierung ist wahrlich kein Meisterstück, sondern ein ziemlich löcheriges Flickwerk. Nun werden Sie mir sagen — Frau Homburger hat das schon angedeutet — : Was Sie fordern, liebe Frau Hartenstein, steht doch alles in den Koalitionsvereinbarungen vom Februar 1991. Gewiß, fast alles steht da drin. Nur müssen Sie sich den Vorwurf gefallen lassen, daß Ihre Lernprozesse etwas sehr lange dauern und daß sie nicht nur zu Lasten der Umwelt, sondern auch zu Lasten der Kommunen gehen; denn die fühlen sich im Stich gelassen, die stehen bis zum Hals im Müll.
Wir haben es schon angesprochen: Gerade in ihrer Not haben sich viele Gemeinden eine Menge einfallen lassen. Ich möchte das positiv bewerten. Sie haben funktionierende Sammelsysteme eingerichtet und Recyclinghöfe gebaut. Sie haben die Kompostierung gefördert. Sie haben ein mengenabhängiges Gebührensystem eingeführt. Das alles verdient wirklich unseren Respekt. Das sind echte Fortschritte. Aber an die Wurzel des Übels kommen sie nicht heran. Sie können sich nicht gegen das Überborden des Verpackungsluxus wehren. Verpackungen machen heute über 50 % des Hausmülls aus. Sie können selbst keine Verbote für Einweggeschirr und Wegwerfprodukte aussprechen, es sei denn im öffentlichen Bereich. Die Jahresmenge an Verpackungen in der Bundesrepublik — und zwar bezogen auf die alten Länder — würde einen Güterzug füllen, der über 2 000 km lang wäre. Das Beispiel stammt von Herrn Umweltminister Dr. Vetter aus Baden-Württemberg. Er hat es sicher richtig ausrechnen lassen. Hier ist wirklich der Bundesgesetzgeber gefordert.

(Zuruf von der SPD: Er ist überfordert!) Er hat sich aber auf weite Strecken verweigert.




Dr. Liesel Hartenstein
In der Gegenäußerung zum Gesetzentwurf des Bundesrates listet die Bundesregierung auf, welche abfallrechtlichen Maßnahmen sie inzwischen ergriffen hat. Die Bilanz ist mager. Herr Minister Töpfer, ich muß das sagen. Außer der Pet-Flaschenverordnung — okay — , der Altölverordnung — okay — und der Lösemittelverordnung

(Zuruf von der CDU/CSU: Okay!)

werden lediglich zwei Zielfestlegungen mit der Wirtschaft vereinbart. Hinzu kommt noch die TA-Sonderabfall und neuerdings auch die Verpackungsverordnung. Aber alles andere — Herr Minister, es sind insgesamt elf Positionen — erscheint unter der Rubrik „in Vorbereitung". Das ist schlicht zuwenig für einen Zeitraum von fünf Jahren.
Diese Bilanz steht auch in sehr scharfem Gegensatz zu den vielversprechenden Ankündigungen Ihres Hauses. Wo bleibt die Verordnung über Vermeidung und Verwertung von Abfällen aus Druckerzeugnissen, von Elektronikabfällen, von Bauschutt und Schrottautos? Sie werden uns hoffentlich die Antwort geben können.
Meine Damen und Herren, es ist höchste Zeit, daß das untaugliche Instrument der Zielfestlegungen mit dem Gesetzentwurf des Bundesrates wieder abgeschafft wird. Dann hindert Sie nichts mehr daran, Nägel mit Köpfen zu machen. Ich hoffe, Sie tun das auch.
Daß übrigens das hochgelobte duale System eine höchst fragwürdige Sache ist, erweist sich auf Schritt und Tritt. Es täuscht den Verbraucher, und es nützt der Verpackungsindustrie. „Wir produzieren mehr bei reduziertem Materialverbrauch" erklärt ein namhafter Verpackungshersteller wörtlich, der zugleich stolz auf zweistellige Zuwachsraten verweist.

(Zuruf von der SPD: So ist das!)

So ist nämlich die Lage. Die Befürchtung ist leider nicht unbegründet, daß das duale System keine einzige überflüssige Verpackung einsparen wird.
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf greift dankenswerterweise einen weiteren Vorschlag auf, von dem noch nicht die Rede war, nämlich die Erhebung einer Sonderabgabe auf Getränkeeinwegverpackungen. Sie soll bewirken, daß dieselbe Menge Bier in der Einwegdose teurer wird als in der Mehrwegflasche mit Pfand. Das wäre sinnvoll. Die Bundesregierung sträubt sich in ihrer Gegenäußerung erneut gegen diesen Vorschlag. Warum eigentlich? Was soll man davon denken, wenn Sie ständig Ihre Bekenntnisse zu marktwirtschaftlichen Instrumenten im Umweltschutz wiederholen und im gleichem Atemzug alle entsprechenden Vorschläge ablehnen? Ich warte auf den Zeitpunkt, wo die ökonomische und zugleich ökologische Vernunft bei Ihnen endlich eine echte Chance bekommt.

(Dr. Klaus-Dieter Feige [Bündnis 90/ GRÜNE]: So lange können Sie gar nicht warten!)

Wir begrüßen es, daß der Gedanke der Abgabenlösung — wenngleich nicht im Gesetzentwurf selbst, sondern in der Entschließung des Bundesrates — hier aufgenommen ist.
Vorbehaltlos zuzustimmen ist auch dem Art. 2 des Gesetzentwurfes, der durch eine scheinbar geringfügige, in Wirklichkeit aber enorm bedeutungsvolle Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes erreichen will, daß das Gebot, Reststoffe zu vermeiden, auch auf nicht genehmigungsbedürftige Anlagen ausgedehnt wird. Diese Erweiterung ist um so gewichtiger, als eine sehr große Zahl nicht genehmigungsbedürftiger Anlagen Sonderabfälle produziert. Gerade hier haben wir die großen Zuwachsraten.
Meine Damen und Herren, über die Dringlichkeit der Novellierung des Abfallgesetzes dürfte in diesem Hause Übereinstimmung bestehen; denn der Müllnotstand ist bereits eingetreten. Deshalb haben die Länder — auch in der Verantwortung für ihre Kommunen — recht, wenn sie auf einer zügigen Behandlung des Gesetzentwurfes bestehen. Wir sind dazu bereit.
Wenn die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung sagt, sie werde 1992 einen Entwurf vorlegen und wolle eine Novellierung „aus einem Guß", so kann ich nur sagen: Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Im übrigen bestätigt alle Erfahrung, daß ein Gesetzentwurf dieser Größenordnung zwei Jahre braucht, bis er alle Hürden genommen hat. Damit hätten wir 1994. So lange können die Kommunen nicht warten. Über 60 % aller vorhandenen Deponieflächen werden Mitte der 90er Jahre erschöpft sein.
Dennoch bleibt die Forderung nach einer grundlegenden Neubestimmung der Abfallpolitik richtig. Es muß der Schritt von der Abfallentsorgung zur Produktverantwortung vollzogen werden. Das bedeutet, daß schon bei der Entscheidung über die Produktgestaltung und bei der Entscheidung der Konsumenten für oder gegen ein Produkt die Entsorgungsgesichtspunkte berücksichtigt werden müssen. Nur dann kann der fatale Teufelskreis vom Rohstoffverbrauch über das Produkt zur Abfallhalde endlich durchbrochen werden.
Eine so definierte Abfallwirtschaft würde völlig neue Signale setzen. Sie könnte der Testfall für die ökologische Erneuerung der Volkswirtschaft sein. Das ist unsere Konzeption. Erst wenn die Unschädlichkeit und die Verwertung potentieller Abfälle auch ökonomisch interessante Größen werden, kommen wir dem Ziel einer ökologiegerechten Kreislaufwirtschaft näher. Darüber sollte eingehend diskutiert werden. Aber wir sollten nicht nur diskutieren, sondern dann auch konsequent handeln. Wir sind bereit dazu.
Danke schön.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205005600
Ich erteile dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, dem Kollegen Dr. Klaus Töpfer, das Wort.

Prof. Dr. Klaus Töpfer (CDU):
Rede ID: ID1205005700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich sehr, daß wir Gelegenheit haben, anläßlich der Debatte über den Gesetzentwurf des Bundesrates zur



Bundesminister Dr. Klaus Töpfer
Novellierung des Abfallgesetzes die Grundfragen der Abfallwirtschaftspolitik zu erörtern. Ich freue mich deswegen darüber, weil sich die Bundesregierung gerade auf diesem Gebiet nicht mit noch so wünschbaren Randveränderungen begnügt, sondern hier eine grundsätzliche Neuorientierung nicht nur angekündigt, sondern bereits beschlossen hat.
Im Mittelpunkt dieser grundsätzlichen Änderung steht das, was wir die neue Produktverantwortung nennen. Wir wollen, um es konkret zu sagen, endlich dazu kommen, daß unsere Kommunen, daß die öffentliche Hand nicht zum Ausfallbürgen der Wirtschaft werden, wenn es um die Abfallbeseitigung geht. Wir wollen eine Reprivatisierung der Abfallbeseitigung. Das ist das Ziel.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Darin fühle ich mich mit vielen einig, die mir jetzt immer sagen, es seien ihre Ideen gewesen, und die uns dann Gesetzentwürfe vorlegen, in denen sich diese Ideen nicht wiederfinden.
Reprivatisierung heißt: Wir müssen dazu kommen, daß jeder, der ein Produkt erzeugt oder Verpackung verursacht, weiß: Dieses Produkt und diese Verpakkung landen wieder bei ihm, wenn sie Abfall werden. Denn dann erreichen wir, daß er vom Abfall her denkt, daß er entsorgungsfreundliche und demontagefähige Produkte herstellt, damit wir die Kreisläufe schließen können. Das ist der Punkt, und den haben wir nicht nur angekündigt; wir haben auch entschieden und haben die Verordnung über die Vermeidung von Verpackungsabfällen verabschiedet.
Meine Damen und Herren von der SPD, diese Verordnung gäbe es nicht, wenn ich nicht auf die gute Unterstützung sozialdemokratisch regierter Länder hätte zurückgreifen können. Ich freue mich sehr darüber, daß diese Verordnung verabschiedet worden ist mit der Unterstützung von Nordrhein-Westfalen, dem Kollegen Matthiesen,

(Susanne Kastner [SPD]: Er hat nachbessern lassen!)

mit Unterstützung von Brandenburg, dem Kollegen Platzeck, mit Unterstützung des Saarlandes, des Kollegen Leinen, und der Unterstützung von Bremen, der Kollegin Lemke-Schulte. Alle diese haben das möglich gemacht, was Sie gerade als etwas, so möchte ich fast sagen, von einem wirren Hirn Erfundenes dargestellt haben. So kann es ja wohl nicht sein.

(Widerspruch der Abg. Dr. Liesel Hartenstein [SPD] — Zuruf von der SPD: Das haben Sie jetzt gesagt!)

Da die Neigung abnimmt, Verordnungen auch zu lesen, will ich zumindest einmal sagen, was in der Verordnung steht.

(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)

Es steht darin zum einen, daß ab 1. Dezember diesen Jahres, in weniger als zwei Monaten, eine Rücknahmeverpflichtung für Transportverpackungen Wirklichkeit wird. Das hat mit dem Grünen Punkt und dem dualen System nichts zu tun. Ich hätte mich gefreut, meine Damen und Herren Kollegen von der Bundesratsbank, wenn Sie an dieser Stelle unsere Bürger gebeten hätten: Macht das auch!
Wenn die Frau Kollegin Griefahn und auch der Herr Kollege Feige dem Sero-System solche großen Tränen nachweinen, dann muß ich dazu sagen: Das SeroSystem ist doch nichts anderes als ein Rücknahmesystem.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Können Sie mir bitte einmal sagen, welche Vermeidungswirkung das Sero-System hatte? Überhaupt keine! Das Sero-System ist ein Rücknahmesystem gewesen. Der Herr Kollege Feige sagte, wir sollten daraus lernen. Nun haben wir gelernt und machen eine Rücknahmeverpflichtung; und dann ist es wieder nicht richtig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es ist doch eine Rücknahmeverpflichtung: Jedes Geschäft, das Transportverpackungen mit abgibt, wird zu einem Sero-Geschäft. Sie können es zurückbringen!
In dieser Verordnung steht weiterhin, daß ab dem 1. April 1992 — das ist nach meiner Rechnung in gerade einem halben Jahr — die von dem bayerischen Kollegen hier so hart kritisierte Umverpackung — völlig unabhängig vom dualen System, Herr Kollege — nach dem Bezahlen an der Kasse im Geschäft zurückgelassen werden kann. Ich hätte mich ebenfalls gefreut, wenn die Kollegen, die hier gesprochen haben, den Appell an alle unsere Bürger gerichtet hätten: Entpackt ab 1. April!
Warum machen wir das denn? Das geschieht doch nicht deswegen, weil wir, wie der eine oder andere sagt, das außerhalb der kommunalen Entsorgung regeln wollten. Vielmehr wollen wir es doch gerade deswegen machen, damit wir den Handel endlich an unsere Seite bringen. Nennen Sie mir bitte einmal einen Einkäufer eines großen Handelshauses, der nicht auf diese wichtige Anforderung hinweisen wollte und sagte: Beachtet die Verpackung; denn es wird ent-packt, die Verpackung liegt demnächst bei uns, laßt also den Quatsch mit der Umverpackung!
Das, Herr Kollege, ist das kleine marktwirtschaftliche Element, das darin steckt. Es soll auf einmal ein Eigeninteresse geben, nicht mehr so viel Umverpakkungen durchzuführen, damit wir nicht mehr mit irgendwelchen Messungen oder sonstigen Vorgaben kommen und fragen müssen, ob die Umverpackung weniger als 50 % der umverpackten Ware beträgt, damit es noch umverpackt werden darf. Ich will das Eigeninteresse dort hineinbringen. Ich sage noch einmal: Das hat mit dem dualen System nichts zu tun.

(Dr. Liesel Hartenstein [SPD]: Ja, Gott sei Dank!)

— Ja, die Verpackungsverordnung gilt, und dies ist dann wiederum ein Sero-System, hochverehrte Frau Abgeordnete Hartenstein.

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Hochverehrte?)

— Ja, selbstverständlich; ich verehre sie wirklich, weil
sie an vielen Stellen lange Zeit überzeugende Um-



Bundesminister Dr. Klaus Töpfer
weltpolitik mit betrieben hat. Ich habe überhaupt keine Probleme damit.

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das war ein Pluspunkt!)

Frau Kollegin Griefahn, damit wird jedes Geschäft Sero-Geschäft.

(Ministerin Monika Griefahn [Niedersachsen]: Das stimmt doch nicht!)

— Sie hatten doch gerade danach gerufen, wir sollten das Sero-System behalten. Wir haben es doch auf die Bundesrepublik Deutschland insgesamt übertragen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich sage noch einmal: Das Sero-System hat nie etwas mit Vermeidung, sondern immer etwas mit der Verwaltung einer Mangelwirtschaft zu tun gehabt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Was wollten Sie eigentlich in der ehemaligen DDR vermeiden? Die waren dort doch froh, wenn sie irgend etwas hatten, das sie verpacken konnten. Was wollten Sie denn vermeiden?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Widerspruch bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Das ist die Situation.

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Ein kleiner Hauch Polemik ist zulässig!)

— Ja, sicher; es wäre auch schade, wenn das nicht erlaubt wäre. Was wären wir denn im Bundestag, wenn wir das nicht dürften?
Kommen wir nun zum 1. Januar 1993. Dazu muß ich doch eines sagen: Wenn hier kritische und besorgte Stimmen hinsichtlich des dualen Systems zu hören sind, dann frage ich: Herr Kollege Zeitler, was kann Ihnen eigentlich Besseres widerfahren, als daß das duale System nicht funktioniert?

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Jetzt zerbricht er sich Ihren Kopf! Merken Sie das?)

Sie haben doch — auch im Bundesrat — von vornherein gesagt: Laßt doch das duale System heraus; dann machen wir bei der Verordnung mit. — Wenn das duale System nicht funktioniert, gilt ab 1. Januar 1993 Pfand- und Rücknahmepflicht. Das ist nichts anderes als das Sero-System, meine Damen und Herren.

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das Sie eben madig gemacht haben!)

Was wollen Sie denn noch? Die Verordnung wirkt. Sie hat Vermeidungswirkung in hohem Maße. Sie führt dazu, daß die Abfälle, die nicht vermieden werden, wiederverwertet — nicht verbrannt — werden! Das steht in § 2 dieser Verordnung, Herr Kollege Feige. Falls Sie sie nicht gelesen haben, will ich es Ihnen nur sagen. Die Abfälle können nicht verbrannt werden, sondern müssen stofflich verwertet werden. Wenn das nicht erreicht wird, werden die Kollegen in den Bundesländern, die das nämlich genehmigen
müssen, schlicht und einfach ihre Genehmigung versagen.

(Dr. Klaus-Dieter Feige [Bündnis 90/ GRÜNE]: Hoffentlich!)

Wenn der Mehrweganteil sinkt, werden sie schlicht und einfach die Genehmigung versagen. Was also haben Sie an dieser Verordnung auszusetzen?
Ich sage das nicht, um mich selbst zu loben, sondern nur, um die Situation zu kennzeichnen: Es gibt niemanden auf der ganzen Welt, der uns nicht sagt: Daß ihr diese Verpackungsverordnung so durchgesetzt habt, hätten wir nie für möglich gehalten. Das ist eine Revolution im Gesamtgefüge der Sozialen Marktwirtschaft, um das konkret so zu sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Hier spricht der Revolutionär Töpfer!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205005800
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hartenstein?

Prof. Dr. Klaus Töpfer (CDU):
Rede ID: ID1205005900
Nun habe ich mich gerade so positiv geäußert; wie könnte ich das ablehnen?

Dr. Liesel Hartenstein (SPD):
Rede ID: ID1205006000
Das war freundlich von Ihnen, Herr Minister. Deshalb will ich auch sehr bescheiden und moderat fragen: Ist es nicht ein bißchen voreilig, sich in der Illusion zu wiegen, man könne einer Wirtschaft, die mit einem Milliardenaufwand unter Beteiligung von 500 Firmen ein duales System aufgebaut hat, nach zwei Jahren stringent nachweisen, daß dieses System nicht funktioniert — mit der Folge, daß dann Ihre Verpackungsverordnung, die in der Theorie so schön klingt, tatsächlich greift?

Prof. Dr. Klaus Töpfer (CDU):
Rede ID: ID1205006100
Noch einmal, Frau Kollegin Hartenstein: Es ist keine Theorie, sondern geltendes Recht. Wenn Sie daran zweifeln, daß geltendes Recht vollzogen wird, dann muß ich allerdings sagen: Das ist nicht meine Position. Ich gehe davon aus, daß geltendes Recht — die Verpackungsverordnung — vollzogen wird. Seien sie unbesorgt: Ich habe das dann gar nicht zu entscheiden. Dort sitzen die Kollegen aus den Ländern, die es zu entscheiden haben.

(Zustimmung bei der CDU/CSU — Lachen bei der SPD)

— Dort sitzen sie! Sie kritisieren doch das duale System. Sie werden doch die allerersten sein, die sagen: Die schaffen das nicht, also genehmigen wir es nicht. Ich habe eine so unglaublich große Hochachtung vor den Kollegen in den Bundesländern — nicht zuletzt deswegen, weil ich selbst einmal einer von ihnen gewesen bin —,

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Die unfreiwilligen humorvollen Einlagen sind die schönsten!)




Bundesminister Dr. Klaus Töpfer
daß ich natürlich davon ausgehe, daß sie geltendes Recht vollziehen werden. Wie könnte ich das bezweifeln?
Meine Damen und Herren, jetzt kommen wir zu dem Gesetzentwurf. Lassen Sie mich noch einmal deutlich festhalten, was die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme gemacht hat. Niemand von uns hat gesagt, daß das, was in diesem Gesetzentwurf steht, unsinnig sei oder von uns nicht mitgetragen werde. Ganz im Gegenteil, wir haben gesagt: Das ist auch richtig. Wer kann etwas dagegen haben, daß wir eine Bestimmung der Rangfolge von Abfallvermeidung, Abfallverwertung und Abfallentsorgung vornehmen und daß gleichzeitig die Gewinnung von Energie aus Abfällen nicht mehr als Verwertung eingeordnet wird? Das können Sie in der Verpackungsverordnung — das ist geltendes Recht — schon nachlesen. Wer hat etwas gegen die Festlegung von Pflichten der öffentlichen Hand für das Beschaffungswesen oder gegen eine Ausweitung der abfallwirtschaftlichen Planungsinstrumente über die bisherige Entsorgungsplanung auf die Bereiche Abfallvermeidung und Abfallverwertung? Wer hat gar etwas gegen den Schutz der Länder der Dritten Welt vor Abfallexporten? Es ist eine in ganz besonderer Weise niederträchtige und abzulehnende Entwicklung, daß die Industrieländer die negativen Risiken ihres Wohlstands auf andere abwälzen. Das ist Neokolonialismus in schlimmster Form.

(Zuruf von der SPD: Sehr wahr!)

Wer kann etwas gegen eine Ausweitung des Vermeidungs- und Verwertungsgebotes auf Betreiber nicht genehmigungsbedürftiger Anlagen haben? All dies entspricht auch unserer Meinung.
Nur, wir sagen dazu — das mag ja dem einen oder anderen in den Bundesländern nicht geschmeckt haben; das kann ich ja verstehen — : Wenn wir den vorhandenen Bestand an Gesetzen auch wirklich ausfüllen würden, könnten wir massiv etwas tun. Warum, meine Damen und Herren aus den Bundesländern, nutzen Sie z. B. nicht die Möglichkeiten des § 13 des geltenden Gesetzes, um Abfallexporte überhaupt nicht zuzulassen? Wer heute Abfälle ins Ausland exportiert, ob nach Europa oder in die Dritte Welt, handelt entweder gegen das Gesetz oder mit der Genehmigung einer Landesregierung. Ich brauche also kein neues Gesetz, meine Damen und Herren. Daß jemand gegen ein Gesetz verstößt, kann ich verstehen. Dann müssen wir uns über Kontrollmöglichkeiten unterhalten. Aber handeln wir doch: Genehmigen wir nicht. Wir haben bereits heute in § 6 des Gesetzes als integrierten Bestandteil die Entsorgungsplanung. Machen Sie eine Entsorgungsplanung. So können Sie die Verwertung durchsetzen.
Ich lese aber heute in einer Presseerklärung aus Niedersachsen: Die CDU-Landtagsfraktion hat die Landesregierung aufgefordert, unverzüglich ein landesweites Abfallwirtschaftsprogramm zu erstellen. Bei dem jetzt im Niedersächsischen Landtag diskutierten Landesabfallgesetz wird bemängelt, daß die Landesregierung dieser Verpflichtung nicht nachgekommen sei, obwohl der Landtag bereits im April die Vorlage eines Abfallkonzeptes einstimmig angemahnt hat. Machen Sie doch ein Abfallwirtschaftskonzept, Frau Kollegin. Sie haben die rechtliche Basis seit langem. Der Landtag bei Ihnen fordert es Ihnen seit April ab. Kommen sie nicht her und sagen, wir müßten erst das Gesetz ändern, damit Sie Ihre Hausaufgaben machen könnten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Marion Caspers-Merk [SPD]: Das ist aber sehr einfach!)

Vielleicht liegt es daran, daß man dann auch Standorte festlegen müßte. Das tut weh. Das ist wahr. Das kann ich nur bestätigen.
Deswegen wollen wir mehr als das, was Sie hier vorgetragen haben. Wir wollen das tun, was uns der Sachverständigenrat vorgeschlagen hat: Stoffbilanzen erstellen. Hier, meine Damen und Herren, gehen wir einen wesentlichen Schritt weiter. Sie haben die, die wir gemacht haben, angesprochen. Es ist in der Tat nicht ganz einfach, das alles umzusetzen. Die Verpackungsverordnung haben wir umgesetzt. Ich sage noch einmal: Das war ein gewaltiger Kraftakt.
Wir sind dabei, die Elektronikschrottverordnung zu machen. Wir haben die Anhörverfahren hinter uns. Wir haben freundliche und gute ergänzende Hinweise vom Kollegen Gauweiler bekommen, was ich sehr begrüße.
Wir sind dabei, dasselbe für die Autos zu machen. Bereits die Diskussion darüber hat dazu geführt, daß unsere Automobilproduzenten gesagt haben: Wir nehmen eure Autos zurück. — Das ist doch eine prima Sache.
Wir haben uns auch die Frage der Druckerzeugnisse vorgenommen, Frau Kollegin Hartenstein. Wir haben vom bayerischen Umweltminister, den Sie heute zu Recht in besonderer Weise gelobt haben, gesagt bekommen: Die Pflicht zur Rücknahme von Druckerzeugnissen durch eine Verordnung sei nicht der richtige Weg, obwohl die Bayerische Staatsregierung das im Bundesrat mit eingebracht hatte. Aber dann hat sich die Meinung geändert. Nun müssen wir mit den Kollegen reden, ob die Vorgehensweise, die sie vorgeschlagen haben, nämlich Recyclingquoten für das Druckpapier festzuschreiben — das ist die Meinung Bayerns — , eher zum Ziel führt als unser Vorgehen. Was ist daran eigentlich so schlimm? Sie erwarten doch von uns, daß wir die Initiativen des Bundesrates ernst nehmen. Nun kriege ich eine solche aus Bayern. Dann gucke ich mir das bitte auch an.
Deswegen beschreiten wir diesen Weg weiter: im Zusammenhang mit Bauabfällen, in der Verordnung zur Sicherung und zum Ausbau des Mehrwegsystems bei Getränkeverpackungen. Das ist ein ganz schwieriger Punkt, weil allein die Bestimmung des Begriffs Mehrwegverpackung nicht ganz einfach ist. Wir kennen das Problem der sogenannten Pseudo-Mehrwegverpackungen.
Wir wollen weitergehen und mit Stoffbilanzen vorankommen. Ich sage Ihnen, was in dem Gesetz, das wir machen und Ihnen 1992 vorlegen, alles steht: Verantwortung des Produzenten und Konsumenten im Hinblick auf Verwertung und Entsorgung, durch Gesetze bestimmtes vorrangiges Vermeidungsgebot, u. a. Rückführung von Verpackungen, gesetzliches



Bundesminister Dr. Klaus Töpfer
Gebot zur stofflichen Verwertung und Vorrang der stofflichen Verwertung vor thermischer Behandlung, Aufstellung von Ökobilanzen, generelle Festlegung von Pflichten zur Rücknahme auch schadstoffhaltiger Produkte, Rückgabe- bzw. Pfandpflichten, Stabilisierung und Entwicklung von Mehrwegsystemen, unmittelbare Möglichkeit für Rechtsverordnungen nach § 14, Pflicht zur Kennzeichnung von Produkten, insbesondere für schadstoffhaltige Produkte, hinsichtlich ihrer umweltrelevanten Eigenschaften, Verbot von Stoffen und Produkten, deren Entsorgung auf Grund ihrer Schädlichkeit nicht sichergestellt werden kann, Präferenz des Einsatzes von Recyclingprodukten bei der öffentlichen Hand, bei Reststoffen: Abgrenzung der Begriffe Abfall und Wirtschaftsgut, Neuordnung der Überwachung von Reststoffen. Das alles wird in diesem Gesetz stehen. Ich glaube ganz sicher, daß mich gerade der bayerische Umweltminister darin in großem Maße unterstützen wird. Denn das, was ich soeben als Inhalt des Gesetzes vorgetragen habe, ist wörtlich das, was wir gemeinsam mit dem Kollegen Gauweiler in die Koalitionsvereinbarung hineingeschrieben haben.
Ich danke Ihnen sehr herzlich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Abg. Dr. Klaus-Dieter Feige [Bündnis 90/ GRÜNE] meldet sich zu Wort)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205006200
Herr Kollege, ich bitte um Verständnis. Wir sind jetzt schon etwas über die Zeit.
Jetzt erhält der Kollege Harald Schäfer das Wort, weil die SPD noch ein bißchen Restzeit hat. Wenn wir es aber noch weiter ausdehnen, sind alle die Kolleginnen und Kollegen, die der Fragestunde wegen um 14 Uhr hier waren, die Leidtragenden. Ich bitte also nochmals um Verständnis.
Herr Kollege Schäfer, Sie haben das Wort.

Harald B. Schäfer (SPD):
Rede ID: ID1205006300
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist fast Praxis des Herrn Umweltministers, daß er es in Parlamentsdebatten darauf anlegt, als letzter Redner das Wort zu erhalten, um dann die Erwiderung von seiten des Parlaments nicht eben zu erleichtern. Wir haben uns deswegen heute die Zeit so eingeteilt, daß ich noch kurz auf das eingehen kann — in Stichworten, versteht sich, nicht umfassend — , was Sie eben ausgeführt haben.
Ich muß sagen, Herr Töpfer — das soll keine Replik auf Ihre Antwort auf meinen gestrigen Beitrag sein — : Ihr Beitrag eben hat mich sehr enttäuscht, aus drei Gründen: zum einen, weil Sie eine Art Verantwortungsverschiebebahnhof praktiziert haben. Sie haben hier mit erhobenem Zeigefinger die Länder aufgefordert, sie sollten ihre Hausarbeiten machen, ohne deutlich zu machen, was der Bund seit spätestens 1986 Ländern und Kommunen an notwendigen abfallpolitischen, abfallrechtlichen Rahmenbedingungen verweigert.
Ich hätte es sehr begrüßt, wenn Sie gesagt hätten — auch ein Minister kann einmal selbstkritisch sein — : Es war ein Fehler, daß die CDU/CSU-FDPKoalition — die CSU war dabei, Herr Staatssekretär aus Bayern — 1986 die Anträge der Opposition zum Abfallbeseitigungsgesetz in diesem Hause abgelehnt hat, die zum Inhalt hatten, den Vorrang der Abfallvermeidung vor Wiederverwendung und vor Wiederverwertung festzuschreiben. Wir hatten Ihnen damals prophezeit, das Instrument der Zielfestlegungen werde abfallpolitisch, was den Abfallvermeidungsdruck angeht, scheitern. Sie hätten sagen können — weil Sie gehört haben, wie ich es hier betont habe — : Wir haben uns geirrt; es wäre für die Umwelt-, es wäre für die Abfallpolitik besser gewesen, damals den Empfehlungen der Opposition zu folgen und die Anträge nicht nur deswegen abzulehnen, weil sie von der Opposition gekommen sind.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Ich will ein Zweites zu dem sagen, was mich heute in Ihrer Rede enttäuscht hat: Ich verstehe ja, daß Sie die Verpackungsverordnung loben. Da haben Sie Kronzeugen genannt: Nordrhein-Westfalen — die haben in der Tat einen guten Umweltminister, zur Nachahmung empfohlen — , Saarland.

(Zuruf von der CDU/CSU: Nein, danke!)

Sie haben darauf hingewiesen, daß Bremen das unterstützt hat. Sie hätten sagen können: Ich will mich hier beim Bundesrat bedanken, daß er es geschafft hat, die Verpackungsverordnung durch Ergänzungs- und Änderungsvorschläge besser zu machen. Sie wissen, daß das objektiv so ist. Sie wissen, daß die Verpakkungsverordnung besser geworden ist und daß die Resolution des Bundesrates, die beispielsweise die Kennzeichnungspflicht verlangt — zwischen der Zustimmung dazu und der Zustimmung zur Verpakkungsverordnung gab es ein Link — , Ihnen in Ihrer abfallpolitischen Zielsetzung geholfen hat. Diesen Dank im Sinne eines kooperativen Föderalismus hatte ich eigentlich erwartet.
Drittens. Jetzt ist die Verpackungsverordnung, zu der ich noch etwas sage, geltendes Recht. Daß dann Länder wie das Saarland darangehen, geltendes Recht umzusetzen und optimal zu nutzen, ist auch etwas, was im Sinne eines kooperativen Föderalismus lobend erwähnt werden muß.
Ich will — ich habe noch zwei Minuten — noch etwas zur Verpackungsverordnung sagen: Wir, die sozialdemokratische Bundestagsfraktion, halten — in der Sozialdemokratie gibt es keine Gleichschaltung im Denken zwischen Bund, Ländern und Kommunen — den Weg der Verpackungsverordnung und der sich daraus ergebenden Einrichtungen des dualen Systems nach wie vor für falsch.

(Beifall bei der SPD)

Ich will drei oder vier Punkte nennen:
Was macht es denn für einen ökologischen Sinn, verehrter Herr Bundesumweltminister, daß die Einwegflasche einen Grünen Punkt bekommt, der, durch große Anzeigen unterstützt, den Menschen Umweltfreundlichkeit vorgaukelt, und die erwiesenermaßen umweltfreundliche Mehrwegflasche keinen Grünen



Harald B. Schäfer (Offenburg)

Punkt erhält? Können Sie mir die ökologische Ratio dieses Systems „Grüner Punkt" erklären?

(Dr. Gerhard Friedrich [CDU/CSU]: Das steht nicht in der Verordnung!)

— Das genau, verehrter Herr Friedrich, ergibt sich auf der Grundlage der Verordnung aus dem dualen System.

(Dr. Gerhard Friedrich [CDU/CSU]: Sie könnten auch ein gelbes Dreieck nehmen!)

Ich will einen zweiten Punkt nennen. Das duale System ergibt sich aus der Verpackungsverordnung, ist eine Folge aus der Verpackungsverordnung. Deswegen muß der, der das duale System kritisiert, immer wissen, daß es auf die Verpackungsverordnung zurückgeht und damit die Zuständigkeit des Umweltministers gegeben ist.
Es gibt bei der Festsetzung der Preise für die Verpackungsprodukte, die den Grünen Punkt bekommen — das ist volumenabhängig und geht von einem Pfennig bis zwanzig Pfennig — , überhaupt kein ökologisches Kriterium. Hier ist ausdrücklich und ausschließlich das Volumen entscheidend.
Was wir eigentlich brauchen, nämlich auch Verpakkungen nach ökologischen Kriterien und ökologischen Maßstäben zu bewerten, unterbleibt durch das duale System, wie es gegenwärtig gehandhabt wird.
Aus Zeitgründen muß ich weitere Schwachpunkte weglassen. Aber ich bin sicher, wir werden darüber noch einmal intensiv beraten.
Ich will ein Drittes sagen — hier stimmen wir in der Zielsetzung überein, Herr Töpfer; das leistet die Verpackungsverordnung nicht — : Was wir brauchen — wir haben an anderer Stelle darüber debattiert; wir werden dazu in der nächsten Sitzungswoche eine Enquete-Kommission auf unseren Antrag hin hier im Deutschen Bundestag beschließen —, ist in der Tat eine ökologische Orientierung, eine ökologische Bewertung von Produkten und Produktionsverfahren „von der Wiege bis zur Bahre" — von der Rohstoffgewinnung, von der Rohstoffverwertung, von der Produktion von Zwischenprodukten bis hin zur Entsorgung. Das ist die eigentliche Aufgabe, der wir uns stellen müssen. Hier hat der abfallpolitische Bereich eine Schlüsselfunktion. Meine Damen und Herren, ich wollte dies in aller Sachlichkeit und Ruhe gesagt haben. Sie wissen, daß wir auch bereit sind, Gemeinsamkeit zu praktizieren, wenn es der ökologischen Weiterentwicklung dient. Aber ein Stück Selbstkritik und ein Stück Ehrlichkeit im Umgang mit den anderen sind dafür Voraussetzungen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/ GRÜNE und der PDS/Linke Liste)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205006400
Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/631 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Diese sehe ich nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich rufe jetzt noch ganz rasch den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratungen ohne Aussprache
a) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 0502 Titel 686 30
Beitrag an die Vereinten Nationen —— Drucksachen 12/1138, 12/1287 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Klaus Rose Dr. Sigrid Hoth
Ernst Waltemathe
b) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen
Einwilligung in die Veräußerung eines Grundstücks in Berlin gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung
— Drucksachen 12/1008, 12/1289 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Niels Diederich (Berlin) Hans-Werner Müller (Wadern)
Werner Zywietz
c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 32 zu Petitionen
— Drucksache 12/1284 —
d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 33 zu Petitionen
— Drucksache 12/1285 —
Wir stimmen zunächst über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksache 12/1287 ab. Der Ausschuß empfiehlt, von der überplanmäßigen Ausgabe betreffend Beitrag an die Vereinten Nationen Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Wir stimmen über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksache 12/1289 ab. Der Ausschuß empfiehlt, der Veräußerung eines Grundstücks in Berlin-Charlottenburg zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Angenommen!
Jetzt kommen noch die Abstimmungen über die Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 12/1284 und 12/1285; es geht um die Sammelübersichten 32 und 33. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Wer ist dagegen? — Wer enthält sich? — Angenommen!



Vizepräsident Hans Klein
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksache 12/1301 —
Wir fahren in der Fragestunde mit der Frage 37 der Kollegin Margitta Terborg fort:
Haben ähnliche Übergriffe an anderen Standorten stattgefunden, und was unternimmt das Bundesministerium der Verteidigung, um ausländerfeindlichen Tendenzen in der Truppe entgegenzuwirken?
Zur Beantwortung ist der Parlamentarische Staatssekretär Willy Wimmer erschienen. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Willy Wimmer (CDU):
Rede ID: ID1205006500
Frau Kollegin, außer dem Vorfall in Brake ist es nach den vorliegenden Meldungen zu einzelnen radikalen Äußerungen durch junge, meist angetrunkene Soldaten außer Dienst und somit außerhalb der unmittelbaren Einwirkungsmöglichkeiten der Vorgesetzten gekommen.
In einem weiteren Fall war ein Soldat möglicherweise Mittäter bei einem Brandanschlag auf ein Asylantenheim in Mannheim.
In allen Fällen sind die disziplinare Würdigung und bei Vorliegen strafbarer Handlungen die Abgabe an die Staatsanwaltschaft eingeleitet bzw. schon abgeschlossen. Der angeblich am Brandanschlag beteiligte Soldat wurde in Haft genommen.
Der Generalinspekteur hat nach Vorgabe durch die Leitung des Bundesministeriums der Verteidigung mit Datum vom 14. Oktober 1991 alle Kommandeure und Einheitsführer aufgefordert, die Soldaten über die Frage des Asylrechts und über die Bedeutung der Toleranz gegenüber Ausländern zu unterrichten und sie in diesem Zusammenhang nochmals eingehend über ihre Dienstpflichten einschließlich des Verhaltens außer Dienst zu belehren.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205006600
Eine Zusatzfrage.

Margitta Terborg (SPD):
Rede ID: ID1205006700
Herr Staatssekretär, was halten Sie von der Idee, im Rahmen dieser politischen Aufklärung auch Abgeordnete zu Wort kommen zu lassen, damit der Truppe ganz deutlich wird, daß im entschiedenen Widerstand gegen Ausländerfeindlichkeit kein Dissens zwischen den tragenden politischen Kräften in diesem Lande besteht?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Verehrte Frau Kollegin, wir begrüßen es in jedem Fall, wenn sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages und auch die Abgeordneten der Landtage und sonstiger, auch kommunaler, Gebietskörperschaften in den Einheiten der Bundeswehr aufhalten, mit den Soldaten diskutieren und deutlich machen, wie der politische Willensbildungsprozeß dieses Landes ist. Aber dazu zählt natürlich auch, daß man dann insoweit auch das Meinungsbild aus der Truppe, also das der Soldaten selber, wirken lassen sollte. Ohne Dialog geht es in diesem Lande nicht.
Ihre Anregung fällt bei uns insoweit auf ebenso fruchtbaren wie dankbaren Boden.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205006800
Die zweite Zusatzfrage, Frau Kollegin.

Margitta Terborg (SPD):
Rede ID: ID1205006900
Halten Sie es für vorstellbar, Herr Staatssekretär, daß man im Rahmen dieser politischen Aufklärung auch Sprecher von betroffenen Ausländergruppen zur Diskussion bittet? Wie wirken Sie außer den disziplinarischen Mitteln auf die Soldaten ein, die bei ausländerfeindlichen Vorfällen als Wort- oder Rädelsführer erkannt werden?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Wir würdigen alle Vorkommnisse auf diesem Feld nach den disziplinaren Möglichkeiten, die wir haben, und nach der Gesetzgebung dieses Landes. Das heißt, wir lassen die Gesetze so wirken, wie es die Gesetze für jeden verlangen. Ich glaube, daß das gute und auch zwangsläufige Möglichkeiten für alle diejenigen sind, die sich in einer Weise äußern oder auch persönlich verhalten, die nicht mit dem Bild in Übereinstimmung steht, das sich die Bürger von den Soldaten in Uniform und außerhalb des Dienstes machen können.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205007000
Gibt es zur Frage 37 eine weitere Zusatzfrage aus dem Kreis der Kollegen? — Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 38 des Abgeordneten Wallow auf:
Auf Grund welcher Bedrohungsanalyse werden nach Beschluß der NATO in den rheinland-pfälzischen Basen Ramstein, Hahn und Büchel spezialgehärtete unterirdische Bunkerkammern für neue atomare Fallbomben und flugzeuggestützte Abstandsraketen gebaut?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär zur Beantwortung.
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die NATO ist ständig bestrebt, Schutzmaßnahmen für ihre Nuklearwaffen zu optimieren. Zu diesem Zwecke, nicht jedoch auf Grund einer äußeren Bedrohungsanalyse läuft seit längerem ein Programm zum Bau unterirdischer Behälter in allen NATO-Staaten, auf deren Territorium nukleare Flugzeugwaffen gelagert sind. Die Baumaßnahmen dienen der Gewährleistung des technisch möglichen Höchstmaßes an Schutz und Sicherheit.
Im übrigen weise ich darauf hin, daß die Entscheidung des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika vom 27. September 1991 die amerikanische Entwicklung desjenigen Systems beendet, das Grundlage einer luftgestützten Abstandswaffe hätte werden können.
Das zu den Mutmaßungen hinsichtlich einer angeblich anstehenden Stationierung von Abstandswaffen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205007100
Herr Kollege Wallow, eine Zusatzfrage.

Hans Wallow (SPD):
Rede ID: ID1205007200
Herr Staatssekretär, treffen die Erklärungen der NATO zu, daß die neuen Bunker selbstverständlich zur Lagerung und zur Sicherung des neuen amerikanischen luftgestützten Systems dienen?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe Ihnen eben die Erklärung des amerikanischen Präsidenten in diesem Zusammenhang noch einmal zur Kenntnis gegeben. Das ist die Maßgabe, nach der wir verfahren.




Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205007300
Die zweite Zusatzfrage.

Hans Wallow (SPD):
Rede ID: ID1205007400
Mit anderen Worten: Die bis 1998 geplante Einführung dieses neuen Systems wird angesichts der neuen europäischen Friedensordnung hinfällig, oder habe ich Sie falsch verstanden?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wenn der amerikanische Präsident erklärt, daß die Vereinigten Staaten kein System auf diesem Feld entwickeln, dann kann es auch nicht stationiert werden, und zwar unbeschadet der Tatsache, daß über derartige Dinge im Bereich der NATO hätte gesprochen werden müssen. Aber wenn die Ursache, nämlich die Entwicklung eines solches Systems, nicht mehr in die weiteren Überlegungen einbezogen werden kann, erübrigen sich alle Folgefragen auf diesem Feld.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205007500
Gibt es dazu weitere Zusatzfragen? — Nein.
Dann rufe ich die Frage 39 des Abgeordneten Dr. Eberhard Brecht auf:
Teilt die Bundesregierung meine Sorge, daß mit den seit kürzerer Zeit durchgeführten Tiefflügen in den Touristenzentren des Ostharzes — speziell im Bodetal — der sich gerade wieder zaghaft entwickelnde Fremdenverkehr in dieser Region nachhaltig beeinträchtigt werden könnte?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, der mit Wirkung vom 1. September 1991 in den neuen Bundesländern aufgenommene Übungsflugbetrieb der Bundeswehr im Tiefflugbereich — das bedeutet in einem Höhenband zwischen 300 und 450 Metern — hat einen äußerst geringen Umfang. Es verteilen sich maximal zehn Flüge pro Tag auf das gesamte Gebiet der neuen Bundesländer. Daß dadurch die Region des Ostharzes nachhaltig beeinträchtigt werden könnte, vermag ich schon aus rein statistischen Gründen nicht nachzuvollziehen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205007600
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Brecht.

Dr. Eberhard Brecht (SPD):
Rede ID: ID1205007700
Herr Staatssekretär, sind Ihnen aus den Tiefflugerfahrungen der Altbundesländer Angaben darüber bekannt, ob Tiefflüge in Naturschutzgebieten nachhaltigen Einfluß auf die dort lebende Fauna haben?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wir haben im Zusammenhang mit der gesamten Diskussion auf diesem Problemfeld alle Aspekte des Lebens in der alten Bundesrepublik bedacht, und wir sind auch zu Konsequenzen gekommen. Deswegen haben wir auch vor einiger Zeit die entsprechende Mindesthöhe auf 300 Meter angehoben. Wir wissen genau Bescheid, wie die Grundsituation auf diesem Feld in den fünf neuen Bundesländern ist.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205007800
Eine zweite Zusatzfrage.

Dr. Eberhard Brecht (SPD):
Rede ID: ID1205007900
In welcher Form hat denn die Bundesregierung die Bevölkerung, die Kommunen und die Landkreise über die Aufnahme der Tiefflüge informiert?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Der Bundesminister der Verteidigung hat vor der Sommerpause öffentlich darauf aufmerksam gemacht, daß wir beabsichtigen, in den fünf neuen Bundesländern insgesamt zehn Flüge pro Tag im niederen Höhenband durchzuführen. Soweit mir das bekannt ist, ist darüber auch in der Presse sehr breit berichtet worden, und zwar Wochen, bevor wir die Flüge tatsächlich aufgenommen haben.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205008000
Eine Zusatzfrage des Kollegen Müntefering.

Franz Müntefering (SPD):
Rede ID: ID1205008100
Herr Staatssekretär, wovon gehen Sie aus, bei wie vielen Flügen pro Tag findet eine Beeinträchtigung statt?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich glaube, daß wir vor diesem Hintergrund — zehn Flüge für das Gesamtgebiet der neuen Bundesländer pro Tag — überhaupt nicht von einer Beeinträchtigung ausgehen können.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205008200
Eine weitere Zusatzfrage zu diesem Komplex, Herr Dr. Eckardt.

Dr. Peter Eckardt (SPD):
Rede ID: ID1205008300
Herr Staatssekretär, können Sie diese euphemistischen Aussagen, die Sie über den Ostharz getroffen haben, auch auf den Westharz beziehen, der vormals in dieser air identification zone gelegen hat?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wir können davon ausgehen, daß wir für die Aufgabenstellung unserer Bundesluftwaffe den gesamten zur Verfügung stehenden Luftraum dieses Landes nutzen, weil die Luftwaffe im Dienste unseres Landes tätig ist.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205008400
Herr Abgeordneter Dr. Burkhard Hirsch, eine Zusatzfrage.

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1205008500
Herr Staatssekretär, können Sie sich eine politische Situation vorstellen, in der Tiefflüge überhaupt nicht mehr notwendig sind, oder hält das Militär diese Flüge für eine schicksalhafte Fügung unserer modernen Zeit?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Hirsch, ich kann mir eine solche Situation sehr wohl vorstellen, und wir planen auch die Umstellung unseres gesamten Ausbildungsverfahrens in Zusammenhang mit der Aufgabenstellung der Bundesluftwaffe. Wir werden Ende des Jahres ein neues Ausbildungskonzept auf diesem Feld auch Ihnen präsentieren können.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205008600
Gibt es dazu weitere Zusatzfragen? — Nein.
Dann rufe ich die Frage 40 des Abgeordneten Arne Fuhrmann auf:
Wie wird von der Bundesregierung der vom Bundesminister der Verteidigung, Dr. Gerhard Stoltenberg, während einer CDU-Wahlkampfveranstaltung am 20. September 1991 in Scheeßel (Landkreis Rotenburg/Wümme) geprägte Begriff der „Ablösung" des Soltau-Lüneburg-Abkommens definiert, nachdem noch Anfang September aus dem Ministerium verlautete, Mindestziel sei lediglich, Erleichterungen für Menschen und Umwelt zwischen Soltau und Lüneburg sowie mehr Mitspracherechte beim Soltau-Lüneburg-Abkommen festzuschreiben?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.



Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, anläßlich der deutsch-britischen Konsultationen am 11. März 1991 haben der deutsche und der britische Verteidigungsminister vereinbart, zur Problematik Soltau- Lüneburg eine gemeinsame Arbeitsgruppe militärischer Fachleute einzusetzen.
Diese Arbeitsgruppe hat den Auftrag, zu prüfen, ob den britischen und kanadischen Streitkräften Übungsmöglichkeiten auf vorhandenen Truppenübungsplätzen angeboten werden können, die es den britischen und kanadischen Streitkräften ermöglichen, ihre Übungstätigkeit im Raum Soltau-Lüneburg einzustellen. Vor diesem Hintergrund ist die Aussage von Bundesminister Dr. Stoltenberg zu verstehen.
Der deutsche und der britische Verteidigungsminister haben heute eine Regelung vereinbart, die der britischen Armee schrittweise einen vollständigen Verzicht auf Übungen im Gebiet Soltau-Lüneburg erlaubt. Der britische Verteidigungsminister Tom King hat ein Angebot von Bundesminister Dr. Stoltenberg soeben akzeptiert, das der britischen Armee alternative Übungsmöglichkeiten auf bestehenden Truppenübungsplätzen der Bundeswehr einräumt. Damit ist schon 1992 eine erhebliche Entlastung für den Raum Soltau-Lüneburg zu erwarten. Die vollständige Einstellung des militärischen Übungsbetriebes ist für Mitte 1994 vereinbart.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205008700
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege.

Arne Fuhrmann (SPD):
Rede ID: ID1205008800
Herr Staatssekretär, ist es möglich, daß die Beantwortung meiner Frage, die in der heutigen Fragestunde zu erfolgen hat und ordnungsgemäß durch Sie erfolgt ist, bereits im Vorfeld einem Mitglied der Regierungskoalition dergestalt übermittelt worden ist, daß ich bereits in der heutigen Landeszeitung der Lüneburger Heide Ihre Antwort beinahe im Wortlaut lese,

(Eckart Kuhlwein [SPD]: Hört! Hört!)

wiedergegeben nicht durch mich, sondern durch einen Abgeordneten, der diese Frage nicht gestellt hat; und wenn es so ist, gehen Sie mit mir in eine Richtung, wenn ich sage, dann würden wir die Fragestunde ad absurdum führen?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, für Äußerungen von Mitgliedern des Deutschen Bundestages trägt die Bundesregierung keine Verantwortung.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205008900
Ihre zweite Zusatzfrage.

Arne Fuhrmann (SPD):
Rede ID: ID1205009000
Ich muß, bevor ich die zweite Zusatzfrage stelle, dazu sagen: Sie haben meine Frage nicht beantwortet.
Jetzt kommt meine zweite Frage: Wann, bitte, ist nun tatsächlich damit zu rechnen, daß das SLA aufgehoben wird? Nachdem ich bereits in der Zeitung ein genaues Datum gelesen habe, würde ich es gern von Ihnen hören.
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Ich habe Ihnen das soeben vorgetragen, Herr Kollege. Ich habe gesagt, daß für Mitte 1994 endgültig davon ausgegangen werden kann, daß Soltau-Lüneburg de facto nicht mehr genutzt wird und damit das Abkommen insoweit Mitte 1994 ausgelaufen ist.

(Eckart Kuhlwein [SPD]: Das war aber sehr verklausuliert! Eure Rede sei ja, ja oder nein, nein!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205009100
Herr Müntefering, wollen Sie eine Zusatzfrage stellen?

Franz Müntefering (SPD):
Rede ID: ID1205009200
Ja. — Herr Staatssekretär, schließen Sie definitiv das aus, wonach Herr Fuhrmann gefragt hat, nämlich daß ein anderer Kollege Ihre Antwort vorher zur Kenntnis bekommen hat?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Ich kann für meinen Teil sagen, daß ich diese Antwort in der Verantwortung unseres Hauses Ihnen hier vorgetragen habe, wie sie gegeben worden ist, und daß vorher diese Information von mir nicht an Dritte weitergegeben worden ist, weil das auch mit dem Charakter einer Fragestunde unvereinbar wäre.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205009300
Gibt es dazu weitere Zusatzfragen? — Nein.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich danke für die Beantwortung.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Gesundheit auf. Zur Beantwortung steht Frau Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Sabine BergmannPohl zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 41 des Abgeordneten Klaus Kirschner auf:
Welche Erfahrungen liegen der Bundesregierung über den
Einsatz medizinischer Großgeräte nach dem SGB V vor?
Frau Parlamentarische Staatssekretärin, Sie haben das Wort.

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (CDU):
Rede ID: ID1205009400
Danke, Herr Präsident. — Herr Kollege Kirschner, wenn Sie gestatten, würde ich beide Fragen gern im Zusammenhang beantworten.

(Klaus Kirschner [SPD]: Bitte!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205009500
Ich rufe dann auch die Frage 42 des Abgeordneten Klaus Kirschner auf:
Sieht die Bundesregierung Regelungsbedarf für diesen Bereich, und wenn ja, welchen?

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (CDU):
Rede ID: ID1205009600
Nach § 122 SGB V GRG sollen unter Beteiligung von Krankenhäusern, Kassenärzten und Krankenkassen im Zusammenwirken mit den zuständigen Landesbehörden in allen Bundesländern Großgeräteausschüsse gebildet werden, die über Abgrenzung, Bedarf und Standorte von medizinisch-technischen Großgeräten Abstimmungen herbeiführen sollen. Inzwischen sind in allen Bundesländern Großgeräteausschüsse eingerichtet worden.



Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Bei der Durchführung hat es Auslegungsprobleme zu einzelnen Fragen gegeben. Insbesondere gibt es Probleme wegen der Regelung des Vergütungsausschlusses für Leistungen, die mit nicht in die Standortplanung einbezogenen Geräten erbracht werden. Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil vom 1. Oktober 1990 verfassungsrechtliche Bedenken gegen einen Vergütungsausschluß erhoben, der wie bisher durch Richtlinien der Selbstverwaltung geregelt ist.
Die Bundesregierung prüft deshalb, ob eine gesetzliche Regelung für diesen Tatbestand vorgeschlagen werden soll.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205009700
Zusatzfrage, Herr Kollege Kirschner.

Klaus Kirschner (SPD):
Rede ID: ID1205009800
Frau Staatssekretärin, kann ich davon ausgehen, daß es nach dem, was Sie sagten, und nach dem von Ihnen zitierten Urteil des Bundessozialgerichts konkrete Überlegungen gibt, im SGB V Änderungen vorzunehmen, und können Sie sagen, wie diese aussehen?

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (CDU):
Rede ID: ID1205009900
Es gibt Überlegungen, ob man diese Regelung ändert. Zum einen geht es um den § 122. Hierzu wird überprüft, ob man die Aufgaben bzw. Kompetenzen des Großgeräteausschusses klarer definiert und ob die Umsetzung, die ja jetzt bei einer nicht einheitlichen Entscheidung des Großgeräteausschusses die Länder treffen sollen, nicht anders geregelt werden kann. In diesem Zusammenhang soll auch der § 92 SGB V über den Vergütungsausschluß novelliert werden.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205010000
Die zweite Zusatzfrage.

Klaus Kirschner (SPD):
Rede ID: ID1205010100
Frau Staatssekretärin, wie hat sich denn seit dem Inkrafttreten des SGB V die Zahl der Großgeräte entwickelt, vor allem dort, wo der Bundesausschuß andere Regelungen empfohlen bzw. eine Zulassung versagt hat?

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (CDU):
Rede ID: ID1205010200
Können Sie das bitte einmal klarer definieren?

Klaus Kirschner (SPD):
Rede ID: ID1205010300
Ich wollte wissen: Wo sind außerhalb der Zulassungsempfehlungen des gemeinsamen Bundesausschusses Großgeräte von Ärzten aufgestellt worden? Wie hat sich dies entwickelt?

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (CDU):
Rede ID: ID1205010400
Dazu kann ich Ihnen keine genauen Zahlen geben. Diese müßte ich in den Ländern abfragen.
Ich kann Ihnen aber sagen, daß der Bundesausschuß ebenso Regelungsbedarf gesehen hat. Der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen hat am 3. September 1991 eine Erklärung herausgegeben und dort festgestellt, — ich darf dies kurz verlesen — daß er zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinen ausreichenden Anlaß für eine Aufhebung oder Aussetzung der Richtlinien hinsichtlich des Vergütungsausschusses sieht. Es sind daher grundsätzlich nur die mit genehmigten Großgeräten erbrachten Leistungen vergütungsfähig. Leistungen, die mit nicht genehmigten Großgeräten erbracht werden, können nur unter dem Vorbehalt der abschließenden Klärung der Rechtslage vergütet werden.
Das heißt: Es muß solche Geräte geben. Ich kann Ihnen aber die genaue Anzahl nicht sagen, würde diese aber, wenn Sie es wünschen, schriftlich nachreichen.

(Abg. Klaus Kirschner [SPD] meldet sich zu einer weiteren Zusatzfrage)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205010500
Sie haben nur zwei Zusatzfragen.

(Claus Jäger [CDU/CSU]: Das waren zwei Fragen!)

— Daß Ihre beiden Fragen zusammen beantwortet wurden, ist mir entgangen. Bitte stellen Sie Ihre dritte und, wenn Sie es wünschen, auch Ihre vierte Zusatzfrage.

Klaus Kirschner (SPD):
Rede ID: ID1205010600
Frau Staatssekretärin, Sie haben gerade auf die ungeklärte Rechtslage hingewiesen, was auch der Bundesausschuß bestätigt. Auf der anderen Seite gibt es das Urteil des Bundessozialgerichts. Sie sagen, daß auch bei Ihnen im Ministerium Überlegungen angestellt werden. Bis wann, denken Sie, sind diese Überlegungen abgeschlossen, damit sich eventuell der Bundestag mit einer Änderung beschäftigen kann?

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (CDU):
Rede ID: ID1205010700
Herr Kollege Kirschner, die Bundesregierung prüft zur Zeit, ob im laufenden Gesetzgebungsverfahren im Rahmen der SGB-V-Novelle noch eine Änderung durchgeführt werden kann. Ansonsten erfolgt dies in weiteren vorgesehenen Gesetzgebungsverfahren, z. B. in der Krankenhausreform.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205010800
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Claus Jäger.

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID1205010900
Frau Staatssekretärin, teilen Sie meine Auffassung, daß auf jeden Fall die Auseinandersetzung um die Zulassung von Großgeräten nicht auf dem Rücken des Kassenpatienten ausgetragen werden kann, der darauf gar keinen Einfluß hat, sondern daß dies eine Aufgabe von Staat und Kommunen ist?

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (CDU):
Rede ID: ID1205011000
Herr Kollege, ich teile Ihre Auffassung voll, zumal zur Zeit in § 122 Abs. 1 steht, daß diese Großgeräteausschüsse zur bedarfsgerechten Versorgung mit wirtschaftlich genutzten medizinisch-technischen Großgeräten beitragen sollen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205011100
Keine weiteren Zusatzfragen?
— Dann, Frau Parlamentarische Staatssekretärin bedanke ich mich für Ihre Beantwortung.
Bei den Fragen 44 und 45 des Abgeordneten HansJoachim Otto (Frankfurt) (FDP), den Fragen 46 und 47 des Abgeordneten Steffen Kampeter (CDU/CSU) sowie den Fragen 48 und 49 des Abgeordneten Ernst Hinsken (CDU/CSU) zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr wird um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.



Vizepräsident Hans Klein
Ebenso wird bei den Fragen 50 und 51 der Abgeordneten Marion Caspers-Merk (SPD) und der Frage 53 des Abgeordneten Horst Peter (Kassel) (SPD) zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Post und Telekommunikation um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft auf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Norbert Lammert zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 54 des Abgeordneten Eckart Kuhlwein auf:
Wie hoch war die Zahl der weiblichen und der männlichen Ratsuchenden und der Bewerberinnen und Bewerber um einen Ausbildungsplatz in den neuen Ländern bis zum Beginn des neuen Ausbildungsjahres am 1. September 1991, und wie viele Bewerberinnen und Bewerber sind noch nicht vermittelt?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1205011200
Herr Präsident, lieber Herr Kollege Kuhlwein, ich darf vielleicht eine Vorbemerkung machen, die sich auf den Gesamtkomplex der Fragen bezieht, die heute zum Bereich des Berufsbildungsberichtes bzw. der Ausbildungsplatzsituation zu beantworten sind: Die Bundesregierung hat im Frühjahr dieses Jahres mit dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost und dem in diesem Programm ausdrücklich vorgesehenen Ausbildungsplatzförderungsprogramm Ost die Voraussetzung für eine möglichst rasche Angleichung der Lebensbedingungen in Deutschland geschaffen. Dabei war im Kabinettsbeschluß von vornherein die Sicherung der beruflichen Ausbildung für die junge Generation in den neuen Bundesländern ein ausdrücklicher Schwerpunkt der Maßnahmen in diesem Haushaltsjahr.
In den neuen Ländern sollte nach erklärter Priorität aller Beteiligten und Betroffenen für alle Schulentlassenen, die dies wünschen, im Jahre 1991 ein Ausbildungsplatz angeboten werden können und für jeden verlorengehenden Ausbildungsplatz Ersatz geschaffen werden. Dieses Ziel ist nach allen vorliegenden Informationen in vollem Umfang erreicht worden. Insofern bestätigen sich gerade in diesen Tagen eindrucksvoll nicht nur die Annahmen der Bundesregierung, sondern auch die Maßnahmen, die die Bundesregierung zur Sicherung dieses Ziels ergriffen hat.
Damit komme ich zu der konkreten Frage, Herr Kollege Kuhlwein. Sie wissen, daß die von Ihnen nachgefragten Zahlen kontinuierlich in den Monatsberichten der Berufsberatung von der Bundesanstalt für Arbeit erfaßt und veröffentlicht werden. Seit einigen Tagen liegen auch die Zahlen zum Ende des Vermittlungsjahres 1990/91 vor.
Danach haben sich vom 1. Oktober 1990 bis zum 31. September 1991 — —

(Eckart Kuhlwein [SPD]: 31. September gibt es nicht!)

— Ich nehme diese freundliche Anmerkung gern auf und werde das in den entsprechenden Protokollen korrigieren.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205011300
Herr Kollege, hier trifft das Wort von der Tatsachenfeststellung wirklich zu.
Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: Ja, das ist wahr, Herr Präsident. Sie werden verstehen, daß die Bundesregierung mit großer Erleichterung zur Kenntnis nimmt, daß allein diese Zahl einer Korrektur bedarf, während sich in den übrigen Zahlen, die heute nachmittag Gegenstand der Fragestunde sind, die Annahmen der Bundesregierung eindrucksvoll bestätigen.

(Heiterkeit)

In diesem gerade vom Kollegen Kuhlwein freundlicherweise präzisierten Zeitraum vom 1. Oktober 1990 bis zum 30. September 1991 haben sich 282 738 Personen, davon 138 429 Männer und 144 309 Frauen ratsuchend an die Berufsberatung der Arbeitsämter in den neuen Ländern gewandt. Unter ihnen haben sich 145 693 um einen Ausbildungsplatz beworben, davon wiederum 71 805 Männer und 73 888 Frauen. Noch nicht vermittelt waren zum Ende des Vermittlungsjahres 2 421 Bewerber, davon 1 062 Männer und 1 359 Frauen.
Dies ist ein beeindruckendes Ergebnis, das viele nicht für möglich, manche sogar ausdrücklich für ausgeschlossen gehalten haben. In den neuen Ländern gibt es für jeden Ausbildungsplatzsuchenden mindestens eine Ausbildungsmöglichkeit, wenn auch nicht immer in dem von ihm gewünschten Ausbildungsberuf. Die vielfach prophezeite Ausbildungskatastrophe ist nicht eingetreten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205011400
Herr Kollege Kuhlwein, eine Zusatzfrage.

Eckart Kuhlwein (SPD):
Rede ID: ID1205011500
Herr Staatssekretär, auch wenn Ihre einleitenden Bemerkungen eher einer Regierungserklärung glichen — aber ich weiß ja, daß die Bundesregierung das Recht hat, zu einem Thema, das auf der Tagesordnung steht, jederzeit eine Erklärung abzugeben —, freue ich mich dennoch, daß Sie versucht haben, meine erste Frage zu beantworten.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205011600
Jetzt sind Sie aber quitt, Herr Kuhlwein!

(Heiterkeit)


Eckart Kuhlwein (SPD):
Rede ID: ID1205011700
Zusatzfrage: Ist es richtig, Herr Staatssekretär, daß es sich bei den von Ihnen vorgetragenen Zahlen nur um die bei den Arbeitsämtern aufgetretenen Bewerberinnen und Bewerber und auch nur um die Vermittlungen handelt, die den Arbeitsämtern bekanntgeworden sind, und wie groß ist denn nach Einschätzung der Bundesregierung die Zahl derjenigen Jugendlichen, die des Beginns einer Berufsausbildung in diesem Jahr bedürften, sich aber beim Arbeitsamt nicht gemeldet haben, also die Dunkelziffer?
Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: Es ist völlig richtig, daß in diesen gerade genannten Zahlen nur diejenigen Fälle erfaßt werden können, die über die Arbeitsämter erfaßt sind. Es entspricht unserer Erfahrung aus vielen Jahren, daß nur ein Teil — wenn auch ein großer Teil — aller Ausbildungsplatzbewer-



Parl. Staatssekretär Dr. Norbert Lammert
ber — übrigens aber auch nur ein Teil aller ausbildungsbereiten Betriebe — sich tatsächlich bei der Arbeitsverwaltung meldet, so daß eine solche Verlaufsstatistik keinen vollständigen und abschließenden Überblick über die Bewerber bzw. die Versorgungslage bietet. Auf genau diesen Umstand, Herr Kollege, hat die Bundesregierung auch immer ihre Zuversicht gegründet, daß wir unbeschadet weniger freundlicher statistischer Relationen Anfang dieses Jahres im Herbst dieses Jahres das gesetzte Ziel würden erreichen können, weil die Zahl der am Ende durch die Betriebe tatsächlich zur Verfügung gestellten Ausbildungsstellen dann erfahrungsgemäß deutlich höher ist als die Zahl der Ausbildungsstellen, die der Arbeitsverwaltung zu einem frühen Zeitpunkt angegeben werden.
In einem gewissen, aber geringeren Umfang trifft dies auch für Bewerber zu, von denen sich der allergrößte Teil — erst recht auf dem Hintergrund der Umbruchsituation in den neuen Bundesländern — bei den Arbeitsämtern um eine Ausbildungsstelle beworben hat.
Die präzise Zahl über die tatsächlich zustandegekommenden Ausbildungsverhältnisse und die tatsächliche Zahl — soweit diese überhaupt erfaßbar ist — der Anläufe zum Zustandekommen eines Ausbildungsverhältnisses lassen sich erst am Jahresende nach Auswertung der gemeldeten Ausbildungsstellen ermitteln und darstellen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205011800
Zweite Zusatzfrage!

Eckart Kuhlwein (SPD):
Rede ID: ID1205011900
Herr Staatssekretär, teilen Sie die Einschätzung, daß es erst durch Bemühungen der Opposition möglich geworden ist, zu erreichen, daß die Treuhand bereit war, sich bei den dort verwalteten Unternehmen für den Erhalt von Ausbildungsplätzen stark zu machen, und daß dies erheblich dazu beigetragen hat, daß die Bilanz jetzt besser ausfällt, als wir gemeinsam ursprünglich befürchtet haben?
Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich teile diese Einschätzung nicht, wenngleich ich mich bei der Opposition ausdrücklich dafür bedanke, daß sie die ohnehin sehr früh eingeleiteten Bemühungen der Bundesregierung um entsprechende Maßnahmen der Treuhand nachdrücklich unterstützt hat.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205012000
Ich rufe die Frage 55 des Abgeordneten Eckart Kuhlwein auf:
Wie viele Bewerberinnen und wie viele Bewerber wurden bis zum 1. September 1991 in den fünf neuen Ländern und in den neuen Ländern insgesamt in eine betriebliche bzw. außerbetriebliche Ausbildung vermittelt, und wie viele sind noch unversorgt?
Herr Staatssekretär, bitte!
Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kuhlwein, die Berufsberatung der Arbeitsämter in den neuen Ländern hat bis Ende September 1991 für rund 38 000 Bewerber, für jeweils rund 19 000 männliche und weibliche Bewerber, eine Berufsausbildung in außerbetrieblichen Einrichtungen initiiert. Dieses Angebot war insbesondere für
Bewerber vorgesehen, deren Ausbildungsvertrag vorzeitig gelöst wurde.
Über die Anzahl der Bewerber, die in betriebliche Ausbildungsplätze eingemündet sind, kann abschließend erst auf der Grundlage der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge berichtet werden, die das Bundesinstitut für Berufsbildung Mitte Dezember vorlegen wird; darauf habe ich vorhin in der Beantwortung Ihrer Zusatzfrage Bezug genommen.
Bis zum 30. September sind bei den Arbeitsämtern rund 63 000 betriebliche Ausbildungsplätze angeboten worden, die überwiegend auch besetzt wurden. Nach allen Erfahrungen wird die Anzahl der betrieblichen Ausbildungsverhältnisse in der endgültigen Statistik die Zahl der gemeldeten betrieblichen Ausbildungsstellen bei der Arbeitsverwaltung übersteigen.
Ein weiterer Teil der Bewerber ist in berufsvorbereitende Maßnahmen, in weiterführende Schulen oder in eine Arbeitsstelle eingemündet. 2 421 Bewerber sind, wie bekannt, trotz eines Vermittlungsvorschlags der Berufsberatung bislang noch nicht vermittelt.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205012100
Herr Abgeordneter Kuhlwein, keine weitere Zusatzfrage.
Möchten andere Kollegen zu diesem Fragenkomplex eine Zusatzfrage stellen? — Das ist nicht der Fall.
Die Fragen 56 und 57 sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 58 der Abgeordneten Evelin Fischer auf:
Für wie viele betriebliche Berufsausbildungsstellen in den neuen Ländern wurde bisher eine „Lehrstellenhilfe" beantragt bzw. bewilligt, und hat die Bundesregierung geprüft, wie viele Plätze ohne diese Hilfe nicht angeboten worden wären?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Fischer, das Sonderprogramm des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft zur Förderung der Berufsausbildung in Kleinunternehmen mit bis zu 20 Beschäftigten ist, wie Sie wissen, Mitte Juni in Kraft gesetzt worden. Es zielt auf eine Stärkung der in der DDR vernachlässigten mittelständischen Ausbildungsstruktur. Mit der Förderung sollen Kleinunternehmen in der schwierigen Übergangsphase unterstützt werden, den für den wirtschaftlichen Neuaufbau benötigten Fachkräftenachwuchs selbst auszubilden.
Die Förderung nach diesem Programm wird bis in das nächste Jahr wirken, da die Anträge bis zum 31. Januar 1992 bei den Arbeitsämtern gestellt werden können.
Bis zum 28. August, also innerhalb der ersten beiden Monate seit Inkrafttreten des Programms, waren 725 Anträge für damals 1 060 Ausbildungsplätze bewilligt. Zur gleichen Zeit lagen aber insgesamt schon 8 250 Förderungsanträge für insgesamt rund 12 000 Ausbildungsplätze vor. Mit dieser zuletzt genannten Zahl ist bereits ein Fördervolumen von rund 60 Millionen DM belegt, so daß die für 1991 im Bundeshaushalt



Parl. Staatssekretär Dr. Norbert Lammert
vorgesehenen Haushaltsmittel von 75 Millionen DM schon nach diesem Anmeldestand so gut wie ausgeschöpft sind. Dies zeigt, daß das Programm auf das erwartete Interesse gestoßen ist. Die Zahl der geförderten Ausbildungsplätze wird nach Einschätzung der Bundesregierung bis Ende des Jahres weiter zunehmen.
Informationen über die Anzahl von geförderten Plätzen, die ohne eine solche Hilfe gar nicht angeboten worden wären, liegen naturgemäß nicht vor. Darüber sind, wie Sie sich denken können, ja auch nur Spekulationen möglich. Wenn ich Bezug nehmen darf auf die Auskünfte der Wirtschaft selbst, insbesondere auf den Zentralverband des Deutschen Handwerks, dann hat das Programm ganz wesentlich zur Ausweitung der betrieblichen Ausbildungsplatzangebote beigetragen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205012200
Frau Kollegin Fischer, Zusatzfrage.

Evelin Fischer (SPD):
Rede ID: ID1205012300
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie können also noch nicht einmal schätzungsweise die Zahl der betrieblichen Ausbildungsstellen nennen, für die der sogenannte Mitnahmeeffekt gilt, die also auch ohne das Programm angeboten worden wären?
Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: Nein, Frau Kollegin Fischer, das ist seriös nicht möglich. Ich vermute wie Sie, daß es sicher solche Fälle gegeben hat. Aber ich unterstelle einfach auch auf Grund noch sehr viel weiterreichender Anträge, die die Opposition zum gleichen Thema vor der Sommerpause gestellt hat, daß sie wie die Bundesregierung davon überzeugt ist, daß es in der besonderen Situation der Umstellung auf ein neues Ausbildungssystem in diesem Jahr einer solchen finanziellen Hilfestellung für diese Art von Betrieben dringend bedurfte.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205012400
Weitere Zusatzfrage.

Evelin Fischer (SPD):
Rede ID: ID1205012500
Bei uns in den neuen Ländern hat die IHK die sogenannten Ausbildungsringe ins Leben gerufen. Wie schätzt die Bundesregierung die Qualität dieser außerbetrieblichen Ausbildungsplätze ein, und was gedenkt sie zu tun, um die Qualität in diesen sogenannten Ausbildungsringen eventuell zu verbessern?
Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hat immer, im übrigen in Übereinstimmung mit den Sozialpartnern, in unserem System der dualen Berufsausbildung den Vorrang der betrieblichen Ausbildung aus guten Gründen vertreten. Wir haben uns zugleich immer darum bemüht, daß da, wo es zu betrieblichen Ausbildungsplätzen nicht oder nicht in dem nötigen Umfang gekommen ist, dann jedenfalls außerbetriebliche Ausbildungsmöglichkeiten angeboten werden. Wir haben durch eine ganze Reihe von Maßnahmen dann dafür Sorge getragen, daß die Qualität dieser außerbetrieblichen Ausbildungsmöglichkeiten und Maßnahmen möglichst nah an den Standard herankommt, den wir von betrieblichen Ausbildungsplätzen grundsätzlich erwarten.
Ich muß aber eine ergänzende Bemerkung machen. Wir reden über Hunderttausende von Plätzen. Wenn wir uns da nichts vormachen — und das sollten wir ja eher vermeiden — , dann müssen wir natürlich wissen, daß es sowohl im betrieblichen wie im außerbetrieblichen Bereich eine gewisse Streuung in der Qualität von Ausbildungsverhältnissen geben wird; d. h. wir werden bei genauerem Hinsehen — um auf Ihre Ausgangsfrage zurückzukommen — sicher außerbetriebliche Ausbildungsverhältnisse antreffen, die besser sind als manches betriebliche Ausbildungsverhältnis, während wir im Regelfall aus guten Gründen vom Vorrang der betrieblichen Ausbildung ausgehen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205012600
Eine Zusatzfrage des Kollegen Kuhlwein.

Eckart Kuhlwein (SPD):
Rede ID: ID1205012700
Herr Staatssekretär, da es jetzt zuletzt um die Frage der Ausbildungsringe ging, deren Standort — außerbetrieblich, überbetrieblich und betrieblich — nicht so eindeutig zu definieren ist, ist meine Frage, ob nicht die Verlagerung von betrieblichen Ausbildungen in Ausbildungsringe, die überbetrieblich organisiert werden, die Gefahr bedeutet, daß sich Unternehmen in den neuen Ländern daran gewöhnen, daß man mit Hilfe der Bundesanstalt für Arbeit Kosten für Ausbildung sparen kann, indem man sich zusammenschließt und Nürnberg, d. h. am Ende den Bund, bezahlen läßt und daß dies nachhaltig zu einem Verhalten im Bereich der Ausbildung führen würde, das nicht mit den Grundsätzen des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes vom 10. Dezember 1980, das wir beide ja kennen, übereinstimmt?
Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kuhlwein, Sie wissen, daß die Bundesregierung die Gefahr, die Sie gerade geschildert haben, immer gesehen und auch sehr ernstgenommen hat. Wir haben ja bei früheren Gelegenheiten, nicht zuletzt auch in den Ausschußberatungen, mehrfach über dieses Risiko gesprochen, waren aber gemeinsam der Überzeugung, daß erstens etwas geschehen muß zur Sicherung des von uns allen gemeinsam für vorrangig erklärten Ziels, daß nämlich alle jungen Leute, die aus den Schulen kommen und einen Ausbildungsplatz suchen, auch einen Ausbildungsplatz bekommen sollen und wir da, wo die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze nicht ausreicht, auch außerbetriebliche Angebote bzw. improvisierte Lösungen finden müssen, die ihnen die Möglichkeit einer möglichst qualitätsvollen Ausbildung eröffnen, und daß zweitens gleichzeitig sichergestellt werden muß, daß daraus kein dauernder Rechtsanspruch werden kann, um weder auf der rechtlichen Seite noch sozusagen auf der Ebene der Erwartungshaltung oder von Mentalitäten die Verfestigungen zustandekommen zu lassen, die Sie zu Recht als unerwünscht und im übrigen auch als gar nicht zulässig gerade charakterisiert haben.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205012800
Gibt es zur Frage 58 weitere Zusatzfragebegehren? — Dies ist nicht der Fall.
Ich rufe die Frage 59 der Abgeordneten Evelin Fischer auf :
In welchem Umfang haben die neuen Länder selbst zusätzliche Fördermaßnahmen zur Sicherung eines ausreichenden betrieblichen Ausbildungsangebots und schulischer Ausbildungsmöglichkeiten aufgelegt, und wie beurteilt die Bundesregierung



Vizepräsident Hans Klein
ihre eigenen Maßnahmen zur Verbesserung der Ausbilderqualifikation und zur Modernisierung von Ausbildungsstätten im Hinblick auf den Bedarf in den neuen Ländern?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Fischer, da Ihre Frage bei genauerem Hinsehen drei sehr unterschiedliche Einzelaspekte enthält, bitte ich vorab um Nachsicht, wenn sich das nicht ganz so schnell und zügig beantworten läßt, wie das sonst vielleicht möglich gewesen wäre und von Ihnen vielleicht auch erwartet wird.
Zunächst komme ich zu dem Teilaspekt Ihrer Frage, der sich mit den Länder-Programmen beschäftigt. Es haben in der Tat auch die neuen Länder eigene Programme zur Ausbildungsplatzförderung aufgelegt. Diese Programme werden zumeist komplementär zu den Bundesaktivitäten eingesetzt und ergänzen sie unter regionalspezifischen und gruppenbezogenen Gesichtspunkten.
Da die meisten Programme erst seit wenigen Wochen oder Monaten in Kraft sind, läßt sich zu den Auswirkungen der Länderprogramme eine abschließende Stellungnahme naturgemäß noch nicht abgeben. Die Programme der Länder sind sowohl von der Zielrichtung als von ihrer Ausgestaltung her sehr unterschiedlich und besitzen neben der Förderung der Berufsausbildung im engeren Sinne auch Elemente der Weiterbildungsförderung, der Förderung von Ausbildungseinrichtungen und Hilfen zur Qualifizierung und Beschäftigung besonderer Personengruppen.
Das Mittelvolumen der Länderprogramme einschließlich Berlin-Ost, die häufig über mehrere Jahre angelegt sind, erreicht insgesamt fast 240 Millionen DM und ist damit fast so hoch wie das Sonderprogramm der Bundesregierung zur Förderung von Ausbildungsverhältnissen in Kleinunternehmen.
Die Länder haben außerdem zum großen Teil mit Hilfe des Vorsorgeprogramms der Bundesregierung aus dem Vorjahr Kapazitäten für die schulische Berufsvorbereitung und die Berufsgrundbildung von rd. 1 000 Plätzen geschaffen. Auch die Neuorganisation des Fachschulbereichs der ehemaligen DDR hat zu zusätzlichen Angeboten im Bereich der Berufsfachschulen geführt. In welchem Umfang dieses schulische Ausbildungsangebot genutzt wurde, wird gerade in diesem Monat an den Schulen erhoben. Darüber werden wir dann im Rahmen des Berufsbildungsberichtes spätestens gesondert berichten.
Was die Maßnahmen der Bundesregierung angeht, die Sie abgrenzend oder ergänzend zu denen der Länder nachgefragt haben, so ist darauf hinzuweisen, daß das Ausbildungsförderungsprogramm Ost der Bundesregierung neben den quantiativ ausgerichteten Maßnahmeteilen zur Sicherung eines ausreichenden Ausbildungsplatzangebotes auch wichtige qualitative Komponenten enthält: fachliche und pädagogische Zusatzqualifizierung des Personals in der beruflichen Bildung, konzeptionelle Vorbereitung und fachlichinhaltliche Ausgestaltung außerbetrieblicher Ausbildungsmaßnahmen, Innovationstransfer von Erfahrungen, die aus anderen Ländern bereits vorliegen und nun sinngemäß in den neuen Bundesländern angewandt werden können, Aufbau eines pluralen und marktwirtschaftlich orientierten Systems der beruflichen Weiterbildung.
Besonders gut angelaufen ist die Qualifizierung der Ausbilderinnen und Ausbilder in den neuen Ländern. Allein im Jahre 1990 sind rund 5 000 Fachkräfte der beruflichen Bildung mit Hilfe des Bundes qualifiziert worden. Wir setzen das 1991 fort. Für die Qualifizierung in diesem Bereich stehen im Jahre 1991 20 Millionen DM zur Verfügung.
Ich könnte jetzt, wenn Sie es wünschen — aber vielleicht sollten wir das einer möglichen Zusatzfrage überlassen — , die Schwerpunkte dieser Maßnahmen darstellen. Ich will nur eine abschließende Bernerkung zum dritten Teil Ihrer Frage, zu den Ausbildungsstätten machen: Auch für die neuen Bundesländer halten wir an dem vorhin schon einmal angesprochenen Grundsatz fest, daß die Unterhaltung und Modernisierung betrieblicher Ausbildungsstätten Angelegenheit der ausbildenden Betriebe ist. Wir unterstützen aber ausdrücklich diese Zuständigkeit der Betriebe mit flankierenden Maßnahmen. Wir haben uns insbesondere vorgenommen und auch fest zugesagt, die Leistungsfähigkeit der Betriebe durch den Aufbau eines Netzes von überbetrieblichen Berufsbildungsstätten, die insbesondere den Qualifikationsbedarf der kleinen und mittleren Betriebe mit abdecken helfen sollen, zu unterstützen. Dazu liegen auch bereits eine ganze Reihe von Anträgen vor, und es steht ein beachtliches Mittelvolumen im Haushalt zur Erreichung dieses Zieles zur Verfügung.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205012900
Verzeihung, Frau Kollegin. Ich muß eine kleine Bemerkung machen.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, das geht ein bißchen über den Rahmen der Fragestunde hinaus. Der Hinweis von seiten der Opposition, es handele sich um Regierungserklärungen, ist, glaube ich, nicht ganz unfair gewesen.

(Freiherr Reinhard von Schorlemer [CDU/ CSU]: Die Tendenz der Fragen erweckt den Wunsch!)

Wir können der Bundesregierung nicht vorschreiben und wollen es auch nicht, wie sie und was sie antwortet. Nur, ein bißchen kürzer insgesamt ließe sich eine Frage vermutlich schon beantworten.
Ich füge gleichwohl an: Je allgemeiner und umfassender und mehrteiliger die Frage ist, desto länger wird dann auch die Antwort.
Jetzt zur Zusatzfrage, Frau Kollegin!

Evelin Fischer (SPD):
Rede ID: ID1205013000
Wider Erwarten werde ich keine Zusatzfrage zur Beantwortung meiner zweiten Frage stellen. Aber wenn es mir gestattet ist, hätte ich gerne diese mir jetzt noch gestatteten Zusatzfragen in bezug auf meine erste Frage gestellt. Wäre das möglich?

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205013100
Angesichts dieses, wie ich sagen darf, breit angelegten Dialogs zwischen Ih-



Vizepräsident Hans Klein
nen und dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär lasse ich das zu.

(Heiterkeit)


Evelin Fischer (SPD):
Rede ID: ID1205013200
Danke.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie sprachen vorhin im Hinblick auf die Ausbildungsringe und deren Qualität von bestimmten Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung. Ich möchte gerne die konkreten Maßnahmen von Ihnen wissen, nicht nur „bestimmte".
Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, zu den konkreten Maßnahmen gehört, daß ein besonderer Akzent bei den Fördermaßnahmen der Qualifizierung von Multiplikatoren gewidmet wird, um sicherzustellen, daß die Ausbilder, die sich in Betrieben oder auch in außer- oder überbetrieblichen Einrichtungen an dieser Aufgabe beteiligen, selber über die notwendigen, nicht nur fachlichen Erfahrungen, sondern auch methodischen und didaktischen Kompetenzen verfügen.
Deswegen dient gerade mit Blick auf den vergleichsweise großen Anteil nichtbetrieblicher Ausbildung ein beachtlicher einzelner Aspekt der Fördermaßnahmen der Bundesregierung dieser Art von Qualifizierung der Ausbilder und der Multiplikatoren, um die Qualität der Ausbildung auch im außerbetrieblichen Bereich sicherzustellen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205013300
Noch eine Zusatzfrage?

Evelin Fischer (SPD):
Rede ID: ID1205013400
Nein, danke.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205013500
Ich rufe Frage 60 des Kollegen Günter Rixe auf:
Für wie viele Berufsausbildungsstellen in außer- bzw. überbetrieblichen Einrichtungen gemäß I 40c Abs. 2 und 4 AFG sind bei den Arbeitsämtern in den neuen Ländern bis zum 1. September 1991 Anträge gestellt worden?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, ich darf mich vor der Beantwortung dieser Frage für die Großmut und gleichzeitig für den gutgemeinten und auch berechtigten Hinweis auf die Kürze der Antworten bedanken. Ich will nur darauf hinweisen, daß die Länge der Antworten ausschließlich dadurch zu erklären ist, daß sich diese Bundesregierung in dem Bemühen, die Fragen der Kollegen, insbesondere dann, wenn sie von der Opposition gestellt werden, vollständig und präzise zu beantworten, von niemandem übertreffen läßt.

(Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Keine Zweitklassigkeit!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205013600
Das waren schon wieder zwei Minuten.

(Heiterkeit)

Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: So kommen wir mühelos an das Ende der vorgesehenen Zeit.
Herr Präsident! Lieber Kollege Rixe, die Bundesanstalt für Arbeit führt keine eigene Statistik über die Anträge auf Förderung außerbetrieblicher Einrichtungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz. Im Interesse eines bedarfsorientierten Stellenangebotes hat die Bundesanstalt für Arbeit bis Ende September 1991 rund 38 000 außerbetriebliche Ausbildungsplätze in ihr Vermittlungsangebot aufgenommen. Bis Ende September 1991 sind rund 37 000 Bewerber in außerbetriebliche Ausbildungsplätze nach § 40 c Abs. 2 des Arbeitsförderungsgesetzes eingemündet.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205013700
Kollege Rixe, erste Zusatzfrage.

Günter Rixe (SPD):
Rede ID: ID1205013800
Herr Staatssekretär, ist es richtig, daß diese außerbetrieblichen Ausbildungsstätten von den Arbeitsämtern erst sehr, sehr spät die Bewilligungsbescheide bekommen haben, um frühestens am 1. Oktober beginnen zu können?
Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Rixe, Sie wissen ja, daß wegen der ausdrücklich gesetzlich geregelten Nachrangigkeit von außerbetrieblichen Maßnahmen gegenüber betrieblichen mit solchen Maßnahmen überhaupt erst begonnen werden kann, wenn das Ausbildungsjahr beginnt und wenn für eine entsprechende Zahl von Bewerbern betriebliche Ausbildungsstellen nicht nachzuweisen sind. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Ausweisung und das Angebot von außerbetrieblichen Maßnahmen, verglichen mit der Praxis früherer Jahre in den westlichen Bundesländern, eher außergewöhnlich früh als besonders spät erfolgt.

Günter Rixe (SPD):
Rede ID: ID1205013900
Herr Staatssekretär, aber die Ausbildungsringe, die auch Ausbildungsstätten sind, sind vom Arbeitsamt sehr früh behandelt worden, diejenigen der freien Träger aber sehr, sehr spät. Ich kenne einige freie Träger, die nicht in der Lage waren, korrekte Ausbildung am 1. Oktober zu beginnen, weil ihnen das Werkzeug zur Ausbildung fehlte, da die Anträge erst eine Woche bis 14 Tage vor Beginn des 1. Oktobers auf die Schreibtische der Verantwortlichen gekommen sind.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205014000
Herr Kollege Rixe, würden Sie der Mitteilung auch eine Frage anfügen?

Günter Rixe (SPD):
Rede ID: ID1205014100
Der Herr Staatssekretär weiß, was ich gefragt habe. Wie beurteilt das denn der Herr Staatssekretär?
Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Rixe, ich habe geahnt, daß Sie am Ende wissen wollten, wie ich das beurteile. Sie werden ahnen, daß ich Ihr Verständnis dafür erbitte, daß ich Fragen zu Einzelvorgängen, die ich nicht kenne und die Sie gerade auch nicht vorgetragen haben, nicht aus dem Stand und schon gar nicht qualifiziert beantworten kann. Wo immer konkrete Beschwernisse vorliegen, bitte ich, sie uns kenntlich zu machen. Dann wollen wir ihnen gerne nachgehen.
Ich will nur noch einmal darauf aufmerksam machen, daß im Augenblick mehr verfügbare betriebliche Ausbildungsplätze unbesetzt bleiben, als es überhaupt unvermittelte Bewerber gibt. Unter diesem Ge-



Parl. Staatssekretär Dr. Norbert Lammert
sichtspunkt sind wir für jedes außerbetriebliche Ausbildungsverhältnis dankbar, das wir nicht voreilig begründet haben, um den von uns gemeinsam auch in der Praxis reklamierten Vorrang der betrieblichen Ausbildungsstellen realisieren zu können.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205014200
Wenn es keine weiteren Zusatzfragen aus dem Kreis der Kollegen gibt, dann rufe ich Frage 61 auf, wiederum gestellt von dem Abgeordneten Günter Rixe:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Qualität des Angebots in außerbetrieblichen Ausbildungsstellen in den neuen Ländern im Hinblick auf die Versorgung aller Bewerberinnen und Bewerber um eine qualifizierte Ausbildung, im Hinblick auf die grundsätzliche Verantwortung der Wirtschaft für die Sicherung einer qualifizierten Ausbildung und im Hinblick auf die längerfristige Struktur der Ausbildung im „dualen System"?
Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, nach Informationen der Bundesanstalt für Arbeit unterscheiden sich die Angebote in den außerbetrieblichen Einrichtungen notwendigerweise deutlich von der Angebotsstruktur der noch offenen betrieblichen Stellen. Das liegt auch in unserem gemeinsamen Interesse. Während bei den unbesetzten betrieblichen Stellen Berufe in den Bereichen Metall, Textil, Landwirtschaft und Bau dominieren, legten die Dienststellen der Bundesanstalt für Arbeit bei der Schaffung von Ausbildungsmöglichkeiten in außerbetrieblichen Einrichtungen besonderen Wert auf Organisations-, Verwaltungs- und Büroberufe, auf Berufe für Warenkaufleute sowie auf allgemeine Dienstleistungsberufe. Damit konnte die Struktur des Ausbildungsangebots den Wünschen der Jugendlichen und der zukünftigen Berufsstruktur in den neuen Ländern angenähert werden, in denen in den Dienstleistungsbereichen ja eine wachsende Nachfrage erwartet werden kann.
Derzeit liegt der Anteil der außerbetrieblichen Ausbildung an der Gesamtzahl aller Ausbildungsverhältnisse bei bis zu 40 %. Das schwankt in den Regionen. Er liegt zum Teil sogar noch ein wenig höher.
Wir stimmen darin überein, daß sich diese Ausbildungsstruktur nicht verfestigen sollte. Im Interesse des Aufbaus einer mittelständischen Wirtschafts- und Ausbildungsstruktur muß der betrieblichen Berufsausbildung nachdrücklich Priorität eingeräumt werden.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205014300
Erste Zusatzfrage.

Günter Rixe (SPD):
Rede ID: ID1205014400
Sind Sie mit mir denn einig, daß wir langfristig diese außerbetrieblichen Ausbildungszentren für benachteiligte Jugendliche auch in den fünf neuen Ländern aufrechterhalten und ausbauen sollten?
Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: Ich gehe sogar davon aus, daß wir auch ohne Bezugnahme auf eine solche besonders zu berücksichtigende Gruppe für die unmittelbar überschaubare Zukunft auf außerbetriebliche Angebote nicht verzichten können. Für die Gruppe, die Sie angesprochen haben, gilt das ganz besonders.

(Günter Rixe [SPD]: Danke schön!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205014500
Sie machen keinen Gebrauch von der zweiten Zusatzfrage? — Sonst gibt es auch keine Zusatzfragen dazu? —
Dann rufe ich Frage 62 des Abgeordneten Dr. Peter Eckardt auf:
Wie viele Bewerberinnen und Bewerber aus den neuen Ländern erhielten bis zum 1. September 1991 einen Ausbildungsplatz in den alten Ländern?
Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Eckardt, über die Anzahl der Bewerberinnen und Bewerber aus den neuen Ländern, die in den alten Ländern einen Ausbildungsplatz erhalten haben, gibt es derzeit bei den Arbeitsämtern und bei den Kammern keine verläßlichen und präzisen Informationen.
Wir wissen, daß im Mai 1991 etwa 40 % der damals noch nicht vermittelten Bewerber im Rahmen einer Befragung der Bundesanstalt für Arbeit Interesse an einem Ausbildungsplatz auch in den alten Bundesländern gezeigt haben. Nach Einschätzung der Berufsberatung liegt der tatsächliche Anteil deutlich niedriger, voraussichtlich in einer Größenordnung von etwa 10 % der Bewerber. Das ist etwa auch die Zahl, die wir im vergangenen Jahr hatten. Sie ist möglicherweise in diesem Jahr ein wenig höher als im vergangenen Jahr. Grund dafür, daß die Zahl der in den alten Bundesländern untergebrachten Bewerber vergleichsweise sehr viel niedriger bleibt, als zunächst einmal befürchtet wurde, ist sicher auch die in den letzten Monaten engetretene deutliche Verbesserung der Lage auf dem Ausbildungsstellenmarkt in den neuen Ländern.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205014600
Zusatzfrage, Herr Kollege Eckardt.

Dr. Peter Eckardt (SPD):
Rede ID: ID1205014700
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, wie schätzen Sie eigentlich generell die Pendel- oder Umzugsbewegung von Auszubildenden aus den neuen in die alten Bundesländer ein, und zwar unter dem Gesichtspunkt, daß in den neuen Bundesländern jede Form von qualifizierter Ausbildung am Ort notwendig ist?
Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: Wenn Sie generell fragen, muß meine Antwort lauten: Ich schätze das generell positiv ein. Wir haben ganz selbstverständlich unter den alten Ländern ein relativ hohes Maß an Mobilität. Wir wollen dies ausdrücklich und ganz selbstverständlich natürlich auch nicht nur unter den neuen Bundesländern, sondern auch zwischen den neuen und alten Bundesländern erreichen.
Ich vermute, daß Sie mit Ihrer Frage eigentlich doch mehr die augenblickliche Situation und die sich damit verbindenden mittelbaren Wirkungen im Auge haben. Da will ich Ihnen gerne bestätigen, daß die Bundesregierung — wie im übrigen auch die Landesregierungen in den betroffenen Ländern — großen Wert darauf legt, daß ein Ausbildungsplatzbewerber aus den neuen Ländern, wenn eben möglich, auch einen Ausbildungsplatz in den neuen Ländern bekommt, weil das Risiko doch beachtlich ist, daß anschließend in dem Land — und häufig auch in dem Betrieb — ein Arbeitsplatz übernommen wird, in dem die Ausbildung stattgefunden hat. Insofern können wir kein In-



Pari. Staatssekretär Dr. Norbert Lammert
teresse daran haben, daß es nun eine massenhafte Mobilität von den neuen in die alten Länder gibt. Das würde einen entsprechenden Verlust von Qualifikation bedeuten, die für die Erneuerung der Wirtschaft dringend benötigt wird.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205014800
Zweite Zusatzfrage.

Dr. Peter Eckardt (SPD):
Rede ID: ID1205014900
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, wie schätzen Sie die gegenteilige Möglichkeit ein, daß Ausbildungsplatzbewerber aus den alten Bundesländern in den neuen Bundesländern eine Ausbildung aufnehmen — z. B. bei dort neu gegründeten Unternehmen — und sich dort möglicherweise weiter qualifizieren und auch dort seßhaft werden?
Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: Dem steht weder rechtlich noch politisch irgend etwas im Wege. Die Bundesregierung begrüßt jede Initiative in dieser Richtung. Aus den uns bekannten Gründen werden die Fallzahlen für diese Richtung der Mobilität in den nächsten Monaten sicherlich deutlich unter denen bleiben, die wir bereits im Augenblick für die Ost-West-Bewegung beobachten können.
Ich könnte mir im übrigen aber durchaus vorstellen, daß es in vergleichsweise kurzer Zeit bei, wie wir erwarten, überproportional hohen Wachstumsraten der Entwicklung in den neuen Ländern eine umgekehrte Entwicklung in der Mobilitätsrichtung geben könnte.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205015000
Aus dem Kreis der Kollegen gibt es keine Zusatzfrage zu diesem Komplex.
Dann rufe ich die Frage 63, ebenfalls vom Kollegen Dr. Peter Eckardt gestellt, auf:
Wie viele Bewerberinnen und Bewerber sind im Berichtszeitraum 1990/91 bei den Arbeitsämtern in den neuen Ländern gemeldet worden, deren Ausbildungsvertrag gelöst wurde, und wie viele wurden in eine neue betriebliche Berufsausbildungsstätte, in eine überbetriebliche Einrichtung, in berufsvorbereitende Maßnahmen vermittelt, besuchen eine Schule bzw. sind noch nicht vermittelt?
Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: Die Berufsberatungsstatistik weist bis Ende September 1991 28 889 Jugendliche aus, deren Ausbildungsvertrag vorzeitig gelöst wurde. Über ihren Verbleib liegen zur Zeit noch keine Angaben vor. Die Zahl der noch nicht vermittelten Bewerber mit einer vorzeitigen Vertragslösung dürfte bei einer Gesamtzahl der noch nicht vermittelten Bewerber von 2 421 jedoch sehr gering sein. Jedem einzelnen der Betroffenen kann mindestens ein Ausbildungsangebot gemacht werden.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205015100
Keine Zusatzfrage.
Die Fragen 64 und 65 des Abgeordneten Vergin werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 66 des Abgeordneten Stephan Hilsberg auf:
Wie schätzt die Bundesregierung die Aussichten für einen wirtschaftlichen Erneuerungsprozeß im Handwerk, Handel, Gewerbe, Dienstleistungen und Landwirtschaft in den neuen Ländern im Jahre 1992 ein, und welche Auswirkungen wird dies voraussichtlich auf die Entwicklung des betrieblichen Ausbildungsstellenangebots haben?
Sie haben das Wort, Herr Staatssekretär.
Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hilsberg, die Aussichten für die Ausbildungsstellensituation 1992 in den neuen Ländern sind gut, wenngleich der erwartete Anstieg der Ausbildungsstellennachfrage unvermindert hohe Anstrengungen aller Beteiligten erfordern wird. Mit einem gegenüber dem Jahr 1991 steigenden Angebot an Ausbildungsstellen ist zu rechnen. Die wirtschaftlichen Grundlagen für ein vermehrtes Lehrstellenangebot werden sich weiter festigen.
Auch bei vorsichtiger Bewertung der wirtschaftlichen Entwicklung sind nach den Berichten der Wirtschaftsforschungsinstitute und der Bundesbank die positiven Signale einer wirtschaftlichen Erholung in den neuen Ländern nicht zu übersehen. Nicht zuletzt auch auf Grund der erfolgreich verlaufenden Informations- und Motivationskampagnen der Bundesregierung und der Wirtschaft selbst ist die Ausbildungsmotivation der Betriebe deutlich angewachsen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205015200
Keine Zusatzfrage. Keine weiteren Fragewünsche dazu.
Dann rufe ich die Frage 67 des Abgeordneten Hilsberg auf:
Welche Maßnahmen beabsichtigt die Bundesregierung zu ergreifen, um im Jahre 1992 für einen Ausgleich von Angebot und Nachfrage zu sorgen, der einerseits den Berufswünschen der Jugendlichen, andererseits den wirtschaftlichen Erfordernissen in den neuen Ländern gerecht wird?
Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hilsberg, die Maßnahmen der Bundesregierung sind darauf gerichtet, die erkennbar positiven Entwicklungen auf dem Ausbildungsstellenmarkt in den neuen Ländern durch qualitative Maßnahmen, wie z. B. durch den weiteren Aufbau eines flächendeckenden Netzes überbetrieblicher Berufsausbildungsstätten, durch eine weitere Förderung der Ausbilder und Ausbilderinnen, durch Maßnahmen im Rahmen des Innovationstransfers zu festigen und durch Vorsorgemaßnahmen im Rahmen des Arbeitsförderungsgesetzes abzusichern.
Darüber hinaus sind Informationsdefizite der Betriebe abzubauen und die erfolgreichen Motivationskampagnen der Wirtschaft fortzuführen.
Ich möchte im übrigen darauf hinweisen, daß das Bundeskabinett am 28. August den Bundesminister für Bildung und Wissenschaft beauftragt hat, den Ausbildungsstellenmarkt in den neuen Ländern laufend zu beobachten, dem Kabinett über signifikante Veränderungen zu berichten und, falls erforderlich, Maßnahmenvorschläge zu unterbreiten. Angesichts der positiven Entwicklung in den neuen Ländern besteht derzeit kein Anlaß für zusätzliche Fördermaßnahmen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205015300
Herr Kollege Hilsberg, Zusatzfrage.

Stephan Hilsberg (SPD):
Rede ID: ID1205015400
Kann ich davon ausgehen, daß in dieser Beobachtung auch die von uns angeregte Beobachtung der Ausbildungsringe wegen der von Ihnen vorhin ausführlich dargelegten besonderen Struktur inbegriffen ist?



Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: Ja.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205015500
Danke, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, für die sorgfältig vorbereitete und umfassende Beantwortung der Fragen Ihres Geschäftsbereichs.
Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Zur Beantwortung ist Frau Staatsministerin Seiler-Albring erschienen.
Ich rufe die Frage 68 des Abgeordneten Claus Jäger auf:
Ist durch die Erklärung des französischen Außenministers Dumas über die Beendigung der Existenz eines Bundesstaates Jugoslawien nach Auffassung der Bundesregierung eine neue politische Lage in bezug auf die Frage der diplomatischen Anerkennung der Republiken Slowenien und Kroatien entstanden, und zu welchen Schritten sieht sich die Bundesregierung dadurch veranlaßt?
Frau Staatsministerin, Sie haben das Wort.

Ursula Seiler-Albring (FDP):
Rede ID: ID1205015600
Herr Kollege Jäger, die Bundesregierung begrüßt, daß sich die französische Regierung, wie aus der Erklärung von Außenminister Dumas hervorgeht, der Bewertung der Bundesregierung, die ich Ihnen hier schon ein paarmal vortragen durfte, anschließt.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205015700
Zusatzfrage.

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID1205015800
Frau Staatsministerin, darf ich aus dieser Antwort schließen, daß die Bundesregierung genauso wie die französische Regierung den Bundesstaat Jugoslawien de facto als nicht mehr existent ansieht, sondern die eigentliche politische Macht bei den Einzelrepubliken sieht?

Ursula Seiler-Albring (FDP):
Rede ID: ID1205015900
Herr Kollege Jäger, Sie wissen, daß die Haltung der Bundesregierung von Beginn dieses Konflikts an war, daß man den Völkern Jugoslawiens die Bestimmung über ihre eigenen Angelegenheiten überlassen sollte. Sobald diese sich dazu entschieden haben, die Selbstbestimmung und die Unabhängigkeit für sich zu wählen, wird sich auch die Bundesregierung entsprechend ihren Äußerungen am Ende dieses Prozesses einer entsprechenden Haltung nicht verschließen können.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205016000
Zweite Zusatzfrage.

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID1205016100
Frau Staatsministerin, ist die Bundesregierung der Auffassung, daß nach der signifikanten Änderung der Haltung Frankreichs in dieser Frage nunmehr echte Chancen dafür bestehen, daß es in der EG endlich zu einer Entschließung kommt, die den Weg zur völkerrechtlichen Anerkennung derjenigen Republiken öffnet, die sich selber für unabhängig erklärt haben?

Ursula Seiler-Albring (FDP):
Rede ID: ID1205016200
Herr Kollege Jäger, die Bundesregierung steht, wie Sie wissen, seit Beginn dieses Prozesses — das ist auch in den verschiedenen Gesprächen mit den Repräsentanten der Republiken dokumentiert — voll auf der Seite derjenigen, die das Recht der Selbstbestimmung für sich reklamieren.
Sie wissen aber auch — ich denke, das ist eine vernünftige Haltung gewesen — , daß wir diesen Verhandlungsprozeß nicht zu knapp bemessen sollten. Vielmehr sollten wir — entsprechend den Vorschlägen sowohl der Präsidentschaft als auch des Leiters der Friedenskonferenz — abwarten und dann mit einer im Rahmen der EG abgestimmten Haltung vorgehen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205016300
Herr Kollege Erler, Sie stehen jetzt vor der Alternative, eine Zusatzfrage zu stellen oder eine Antwort auf Ihre erste Frage zu bekommen.

Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1205016400
Lieber die erste Frage. Vizepräsident Hans Klein: So ist es.

(Heiterkeit)

Ich rufe die Frage 69 des Abgeordneten Gernot Erler auf:
Wie viele ausländische Stipendiaten, die noch auf Einladung der Deutschen Demokratischen Republik nach Deutschland gekommen sind, gab es am 1. Januar 1990, und wie viele von ihnen halten sich heute noch in der Bundesrepublik Deutschland auf?

Ursula Seiler-Albring (FDP):
Rede ID: ID1205016500
Herr Kollege Erler, am 1. Januar 1990 befanden sich 10 285 ausländische Studierende in der Langzeitförderung an Universitäten, Hochschulen und Fachschulen in der DDR. Am 1. Oktober 1991 gab es noch 4 282 ausländische Studierende in der Betreuung des DAAD an den Universitäten und Hochschulen der neuen Bundesländer.
In dieser Zahl, Herr Kollege Erler, sind keine Studenten und Graduierten berücksichtigt, die vom Solidaritätsdienst International e. V. und von der PDS gefördert werden. Das sind insgesamt 370 Personen.
Weiterhin gab es 1 793 Fachschulstipendiaten, Facharbeiterstipendiaten und medizinisches Personal in der Aus- und Fortbildung, betreut von CDG und DSE an Ausbildungsstätten in den neuen Bundesländern.
Bei dem letztgenannten Personenkreis, Herr Kollege Erler, handelt es sich ausschließlich um Stipendiaten aus Entwicklungsländern.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205016600
Zusatzfrage.

Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1205016700
Frau Staatsministerin, wie erklärt sich die Bundesregierung diesen erheblichen Schwund von ausländischen Studenten in der ehemaligen DDR in einer so kurzen Zeit, und hat es im Zusammenhang mit diesem Schwund Beschwerden der Entsenderländer gegeben?

Ursula Seiler-Albring (FDP):
Rede ID: ID1205016800
Herr Kollege Erler, die Reduzierung dieser Zahlen der geförderten Stipendiaten vom 1. Januar 1990 bis heute erklärt sich durch die Beendigung der Ausbildung und Rückreisen der Stipendiaten aus vielerlei Gründen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205016900
Wir könnten jetzt auch noch die zweite Frage schnell erledigen.

Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1205017000
Habe ich jetzt zu wählen, ob ich meine zweite Frage beantwortet bekomme oder ob



Gernot Erler
ich noch eine Zusatzfrage stelle? — Dann hätte ich gerne die zweite Frage beantwortet.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205017100
Ich glaube, wir schaffen beides.

Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1205017200
Nein, ich verzichte auf meine zweite Zusatzfrage und stelle sie vielleicht nach der Beantwortung meiner zweiten Frage.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205017300
Frau Staatsministerin, dann rufe ich die Frage 70 auf:
In welcher Höhe erhalten diese ausländischen Stipendiaten seit der Vereinigung Stipendien, oder auf welche andere Weise sichern sie ihren Lebensunterhalt?

Ursula Seiler-Albring (FDP):
Rede ID: ID1205017400
Herr Kollege Erler, die ausländischen Stipendiaten sichern ihren Lebensunterhalt durch Stipendien, die aus dem Haushalt des Auswärtigen Amtes für Hochschulstipendiaten und aus dem Haushalt des BMZ für Fachschulstipendiaten etc. finanziert werden.
Die Stipendienraten für Hochschulstipendiaten betragen zur Zeit für Studierende 700 DM monatlich und für Graduierte 900 DM monatlich. Die Stipendienraten für den von der CDG und der DSE betreuten Stipendiatenkreis betragen zur Zeit für Facharbeiter, Fachschüler und medizinisches Personal, das sich in der Ausbildung befindet, 500 DM monatlich, für Ärzte und medizinisches Personal in der Fortbildung 750 DM monatlich. Die Unterkunft wird gestellt.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205017500
Zusatzfrage, Herr Kollege Erler.

Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1205017600
Frau Staatsministerin, können Sie mir sagen, ab wann die Daten gelten, die Sie mir soeben vorgetragen haben, und bis wann die ausländischen Studenten mit einem anderen Stipendiensatz auskommen mußten?

Ursula Seiler-Albring (FDP):
Rede ID: ID1205017700
Herr Kollege Erler, ich kann Ihnen auf Grund der mir vorliegenden Unterlagen sagen, daß die Stipendien 1991 in Anlehnung an den damals geltenden BAföG-Satz (DDR) zuzüglich der auch in den alten Bundesländern zulässigen Zuschläge so festgelegt worden sind. Die zur Zeit gezahlten Raten sind zu gegebener Zeit anzupassen.

Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1205017800
Ich habe eine letzte Zusatzfrage. Frau Staatsministerin, können Sie mir sagen, ob ausländische Stipendiaten ihr Studium mit ausdrücklichem Bezug auf die schwierige wirtschaftliche Situation der ausländischen Stipendiaten abgebrochen haben und, wenn ja, in welchem Umfang dies geschehen ist?

Ursula Seiler-Albring (FDP):
Rede ID: ID1205017900
Herr Kollege Erler, diese Zahlen liegen mir im Moment nicht vor. Ich bin gerne bereit, sie Ihnen schriftlich zu übermitteln.

(Gernot Erler [SPD]: Ich bedanke mich!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205018000
Vielen Dank, Frau Staatsministerin.
Herr Kollege Erler, ich danke Ihnen für den Verzicht auf die Zusatzfragen. Auf diese Weise haben wir es geschafft, unser Fragestundenpensum mit einer Überschreitung von knapp drei Minuten voll zu erledigen.
Die Fragestunde ist beendet.
Ich rufe Zusatzpunkt 2 der Tagesordnung auf: Aktuelle Stunde
Verhandlungen der Bundesregierung in den EG-Regierungskonferenzen zur Politischen Union und zur Wirtschafts- und Währungsunion
Die Fraktion der SPD hat eine Aktuelle Stunde zu dem erwähnten Thema verlangt.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Abgeordneten Heidemarie Wieczorek-Zeul das Wort.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1205018100
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es sind noch gut sieben Wochen bis zum Gipfel in Maastricht. Die Bundesregierung aber behandelt die anstehenden Vertragsänderungen, die immerhin den Rang von neuen Verfassungsbestimmungen haben, im Stile der Geheimdiplomatie Metternichscher Art, allerdings ohne dessen Kunstfertigkeit.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE])

Was hat für die Bundesregierung Priorität bei den EG-Vertragsänderungen? Das kann man nicht aus ihren Deklarationen, sondern nur aus ihrem Handeln ersehen. Das Handeln aber widerspricht den Worten in eklatanter Weise.

(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Ach was! Das ist doch überhaupt nicht wahr!)

Die Bundesregierung sagt: mehr Rechte für das Europäische Parlament, aber sie wischt mit der Mehrzahl der anderen Regierungen den parlamentsfreundlicheren niederländischen Entwurf vom Tisch.

(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Ich habe gedacht, Sie sind Expertin in Sachen Europa, gnädige Frau!)

Statt dessen ergreift sie jetzt die Initiative zu deutschfranzösischer militärischer Integration, als wäre dies die vordringlichste Frage in Europa.
Die Vereinigten Staaten von Europa sollen auch aus der Sicht der SPD zu integrierten Streitkräften, allerdings — sage ich — drastisch reduziert und ohne Atomwaffen, führen. Aber wir warnen vor dem Versuch, den Entwicklungsprozeß zur Europäischen Politischen Union auf den Kopf zu stellen. Wer die Europäische Politische Union will, muß zuallererst das tun, was in einer Demokratie notwendig ist: Er muß nämlich dem Europäischen Parlament die Rechte geben, die in einer modernen Demokratie einer gewählten Volksvertretung zukommen.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE])

Ich bitte Sie: In Osteuropa werden das Militär und die Sicherheitspolitik immer mehr unter parlamentarische Kontrolle gestellt. Nach dem vorliegenden Vor-



Heidemarie Wieczorek-Zeul
schlag Kohl/Mitterrand zu einer EG-Sicherheitspolitik, der gestern bekanntgeworden ist, würde die Sicherheitspolitik dagegen der parlamentarischen Kontrolle entzogen. Aus dem Europäischen Rat würde ein neues Zentralkomitee, dessen Entscheidungen in der Sicherheitspolitik mit der Mehrheit der Regierungen gefällt werden sollen, während — das muß man hören — das Europäische Parlament in diesen Fragen nur konsultiert werden soll. Wir dachten, in Europa seien die ZKs endgültig abgeschafft.

(Beifall bei der SPD)

Dies wäre im übrigen ein Bruch der Verfassung, weil es den Deutschen Bundestag in diesen Fragen entmachten und die deutsche Verfassung aushöhlen würde. Wenn der Ministerrat oder der Europäische Rat mit Mehrheit entscheidet, wie es dieses Wochenende u. a. der deutsche Außenminister mit seinen französischen und spanischen Kollegen für den Bereich der Sicherheitspolitik vorgeschlagen hat, dann hat der Deutsche Bundestag in diesen Fragen nichts mehr zu sagen.

(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Gnädige Frau, solange Sie dabei sind, wird er immer etwas zu sagen haben!)

Wenn der Ministerrat mit Mehrheit über den Einsatz der Bundeswehr entscheiden kann, wird die grundgesetzliche Festlegung, wonach die Bundeswehr nur durch die Entscheidung des Deutschen Bundestages und nur zur Verteidigung eingesetzt werden kann, ausgehöhlt,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Bündnisses 90/GRÜNE)

und es würde der Grundsatz gebrochen, daß alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht.
Wir sind für die Übertragung von sicherheitspolitischen Kompetenzen auch auf die europäische Ebene, aber dann bitte auf ein Parlament, nämlich das Europäische Parlament, und nicht auf die Vertreter von zwölf Regierungen, die gerade in der jugoslawischen Krise ihre versammelte Unfähigkeit unter Beweis gestellt haben.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

Was auch immer in diesem Bereich die Bundesregierung ändern will, sie müßte dazu die Verfassung ändern. Es ist besser, sie sagt vor Maastricht, wo sie die Verfassung ändern will. Dann weiß sie auch vor Maastricht, ob sie dazu die Mehrheit im Deutschen Bundestag hat.
Ein Teil des Vorschlags — wie in ähnlicher Form übrigens auch im Luxemburger Vorschlag einer gemeinsamen Sicherheitspolitik vorgesehen — spricht von Beteiligung an friedenssichernden Maßnahmen insbesondere auch im Rahmen der Vereinten Nationen. Was soll das heißen? Sind das UNO-Blauhelme? Dazu haben wir gesagt, daß wir bereit sind, die Verfassung der Bundesrepublik zu ändern. Sind damit UNO-Kampftruppen gemeint? Dann muß die Bundesregierung ihren Partnern vor Maastricht sagen, daß sie bei ihrer Unterschrift in Maastricht dafür keine Mehrheit im Deutschen Bundestag hat.
Im übrigen ist in diesen Vorschlägen absolut unklar, ob der WEU-Vertrag so verändert werden soll, daß militärische Aktionen „out of area" zulässig sind. Wir sind für eine gemeinsame europäische Sicherheitpolitik. Sie muß aber strikt auf wirkliche Verteidigung ausgerichtet sein und jedes Gedankenspiel mit Eingreifgruppen unterlassen. Eingreifen sollte die neu zu schaffende Europäische Politische Union vielmehr in den Bereichen, wo für ihre eigenen Bürger und Bürgerinnen wirklich der Ernstfall vorliegt: bei der Verwirklichung einer gemeinsamen Sozial- und Umweltbzw. Verbraucherpolitik.
Das Versagen der Europäischen Gemeinschaft in bezug auf Jugoslawien kann nicht durch eine militärische EG-Struktur wettgemacht werden, sondern es muß durch eine neue außenpolitische Kompetenz der Europäischen Gemeinschaft wettgemacht werden. Sie muß die Erweiterung der EG um die mittel- und osteuropäischen Länder zum Mittelpunkt haben. Sie muß die politischen Ursachen anpacken, die den Krieg in Jugoslawien möglich gemacht haben. Das heißt, sie muß der Europäischen Politischen Union Vorschläge machen, wie im Rahmen der KSZE.. .

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205018200
Frau Kollegin, Sie haben Ihre Redezeit sehr weit überschritten.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1205018300
Ich bin gleich fertig. — ... z. B. nationale und Minderheitenkonflikte vor einer kriegerischen Entwicklung politisch entschärft werden können. Unser Appell an die Bundesregierung lautet: Europa braucht mehr denn je die politische Union. Wenn Maastricht ein Erfolg werden soll, ist enge Kooperation mit den EG-Partnern angebracht, .. .

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205018400
Frau Kollegin!

Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1205018500
...aber auch enge Kooperation mit den Parteien des Deutschen Bundestages. Sonst ist der Zeitplan nicht zu halten.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE — Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/ CSU]: Das waren neun Minuten!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205018600
Meine Damen und Herren, so geht es auf gar keinen Fall. In einer Aktuellen Stunde ist eine Redezeit von fünf Minuten vereinbart. Wenn ich nach einer weiteren halben Minute ermahne — —

(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Ich bitte um Nachsicht!)

— Sie haben 61/2 Minuten gesprochen. Wenn das jeder machte, könnten wir das Instrument der Aktuellen Stunde wieder aufgeben.

(Norbert Gansel [SPD]: Die Halbwertszeit einer Atombombe ist 24 000 Jahre, aber hier wird um eine halbe Minute gefeilscht! — Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Der Gansel ist unflätig und unsachlich!)

Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Peter Kittelmann.




Peter Kittelmann (CDU):
Rede ID: ID1205018700
Herr Präsident! Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, wenn Sie sich die Polemik erspart und mehr auf Sachlichkeit gesetzt hätten, wären Sie mit fünf Minuten ausgekommen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Ich bin immer wieder überrascht, wie im Ausschuß bezeugte Harmonie dann im Plenum plötzlich anders aussieht.

(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Ich habe gestern genau das gleiche erzählt!)

Hier kommt plötzlich vieles nicht so sachlich, wie wir das im Ausschuß machen.
Die vor uns stehenden Wochen sind für die Weiterentwicklung in der Europäischen Gemeinschaft von wesentlicher Bedeutung. Zumindest hier sind wir uns einig. Manche von uns schauen mit Sorge auf die Verhandlungen, weil die Zeit überaus knapp wird.
Ich darf für die CDU/CSU hier eindeutig feststellen: Wir unterstützen nachdrücklich die Bemühungen der Bundesregierung, den Gipfel im Dezember erfolgreich abzuschließen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, Maastricht darf nicht scheitern. Dies muß unser aller Ziel sein — ich hoffe, auch Ihr Ziel —, im Interesse eines handlungsfähigen, friedlichen und friedenstiftenden Europa.
Wenn wir mit ganzer Entschlossenheit am Dezember-Termin festhalten, heißt das nicht, daß wir inhaltliche Positionen aufgeben dürfen. Es gibt einen Forderungskatalog, auf dem wir bestehen. Wir appellieren an die Bundesregierung, unvermindert an ihm festzuhalten. Lassen Sie mich diese Punkte kurz umreißen, die nachher von den Kollegen, vor allen Dingen im Bereich Verteidigungspolitik vom Kollegen von Schorlemer, vertieft werden.
Absolutes „Muß " bleibt die parallele Entwicklung von Politischer Union und Wirtschafts- und Währungsunion.

(Karl Lamers [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Für die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion bleibt die Währungsstabilität von herausragender Priorität. In der zweiten Stufe, die denkbar kurz sein muß, dürfen nationale und internationale Kompetenzen nicht vermengt werden. Erst in der dritten Stufe geben wir nationale Zuständigkeiten zugunsten einer wirklich unabhängigen Europäischen Zentralbank auf.
Im Rahmen der Politischen Union muß eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gewährleistet sein. Jugoslawien zeigt — und ich bin in der Problembeschreibung mit Ihnen einig, Frau Wieczorek-Zeul — , daß die EG unverzüglich über ein entsprechendes Instrumentarium verfügen muß, das sie zur Zeit noch nicht hat. Diese strukturellen Voraussetzungen müssen geschaffen werden, um die Glaubwürdigkeit der Gemeinschaft unter Beweis zu stellen.
Und wir brauchen — das ist für die CDU/CSU sehr wesentlich — wirkliche Demokratie in Europa.

(Dr. Lutz G. Stavenhagen [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Diese wirkliche Demokratie bleibt so lange eine Worthülse, bis das Europäische Parlament über eine echte demokratische Struktur verfügt. Wir fordern dringend eine erhebliche Erweiterung der europaparlamentarischen Rechte.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann [Bündnis 90/ GRÜNE])

Europa ist weit größer als die EG. Die notwendige Vertiefung der Gemeinschaft darf uns nicht blind machen für die Probleme anderer europäischer Regierungen und unserer Verantwortung ihnen gegenüber. Das gilt nicht nur für die osteuropäischen Anwärter. Noch vor kurzem hätten wir gejubelt, wenn Österreich und Schweden einen Antrag auf Mitgliedschaft in der EG gestellt hätten. Heute werden die Hürden künstlich angehoben, um den Beitritt zu verzögern.

(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Wir müssen der föderativen Struktur Europas Rechnung tragen. Länder und Regionen müssen sich einbringen können und spezifische Kompetenzbereiche behalten. Das Schlagwort Subsidiarität bedeutet doch vor allem, daß sich der EG-Bürger am Ende in seinem Europa wiederfindet und sich mit ihm identifizieren kann.
Als letztes: Wir unterstützen ausdrücklich die Initiative des Bundeskanzlers, auch eine harmonisierte Innen- und Rechtspolitik anzustreben. Asylmißbrauch, organisierte Kriminalität und Drogenhandel müssen gemeinschaftlich und einheitlich angegangen werden. Nur ein so geschnürtes Paket kann Garant für einen erfolgreichen Gipfel in Maastricht sein. Der Gipfel im Dezember wird die Bewährungsprobe der Gemeinschaft. Unsere gemeinsame Vision eines gemeinsamen Europa darf nicht am Kleinmut der Mächtigen scheitern.
Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205018800
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann.

Prof. Dr. Helmut Haussmann (FDP):
Rede ID: ID1205018900
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Freien Demokraten möchten beides, sie möchten parlamentarischen und demokratischen Fortschritt in Europa. Sie möchten aber auch Fortschritt auf dem Weg zu einer gemeinsamen Außenpolitik. Dazu gehören sicherheitspolitische Elemente. Ich finde es positiv, daß Frankreich und Deutschland einen Anfang machen, offen für alle anderen Staaten. Es ist ein Durchbruch, daß die Briten inzwischen bereit sind, sich daran zu beteiligen. Daran gibt es nichts zu kritisieren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)




Dr. Helmut Haussmann
Meine Kollegin Frau von Teichman wird auf den Bereich Parlament und Politische Union noch stärker eingehen.
Ich meine, daß Europa gefordert ist. Die Welt erwartet einen Fortschritt auf dem Weg zur Vertiefung. Nur die Vertiefung macht uns offen für die Verbreiterung, die wir Liberalen wollen. Wir wissen in dieser historischen Situation, daß die freiheits- und demokratieliebenden Völker in Osteuropa eine europäische Perspektive brauchen. Das ist nur möglich, wenn die Wege zur Vertiefung beschleunigt gegangen werden.
Wir vergessen nicht, wie schnell, wie offen die Bereitschaft der Europäer war, die Menschen aus Ostdeutschland und den neuen Bundesländern in die Europäische Gemeinschaft zu integrieren. Auch dies ist für uns Verpflichtung, in Maastricht dafür zu sorgen, daß es aus deutscher Sicht keine Stolpersteine für die weitere Einigung in Europa gibt. Die atmosphärischen Störungen mit anderen Regierungen und die Rückschläge in Jugoslawien dürfen kein Grund sein, um die Vertiefung in irgendeiner Weise zu behindern.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wichtig bleibt, daß für unsere exportorientierte Wirtschaft, daß vor allem für die neuen Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern der Fahrplan bei der Wirtschafts- und Währungsunion eingehalten wird. Gerade die neuen Bundesländer profitieren von ihrer Einbindung in die Europäische Gemeinschaft, um die sie von allen anderen osteuropäischen Ländern natürlich beneidet werden.
Das bedeutet aber, daß wir aus liberaler Sicht die Wirtschafts- und Währungsunion nur unter vier Voraussetzungen angehen:
Erstens. Die Währungsunion muß sich an der jeweils stabilsten Währung in Europa orientieren; dies ist derzeit leider nicht die D-Mark,

(Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Woran liegt das wohl? An der Regierung!)

aber wir lassen uns auf den fairen Wettbewerb mit Frankreich ein. Wir gönnen in einem anderen Land dem sozialistischen Wirtschaftsminister einen Fortschritt. Wir wissen, daß wir in der Bundesrepublik nach wie vor weit von dieser stabilitätspolitischen Orientierung der Sozialdemokraten entfernt sind.

(Lachen bei der SPD — Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Der Subventionsabbau beträgt gerade 800 Millionen DM!)

Zweitens. Wir können die Regierung in Maastricht nur dann unterstützen, wenn sie alles dazu beiträgt, daß eine wirklich unabhängige europäische Notenbank entsteht. Wir setzen uns für den Standort Frankfurt am Main ein. Wir möchten, daß diese europäische Notenbank vorrangig der Währungsstabilität verpflichtet ist.
Drittens. Wir wollen, daß durch die Notenpresse keine Defizitfinanzierung geschieht.
Viertens. Wir möchten, daß die Konvergenz in der Wirtschaftsunion innerhalb Europas nicht durch riesige neue Steuermittel, sondern durch eigene Anstrengungen der jeweiligen Länder erreicht wird.
Zum Abschluß: Wir wollen, daß dieses friedlich geeinte, wirtschaftlich starke Deutschland in ein großes friedliches Europa integriert wird. Die Freien Demokraten werden die Regierung bei ihren Bemühungen, in Maastricht Europa zu vertiefen, um anschließend Europa zu verbreitern, stark unterstützen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zuruf von der FDP: Exakt in der Zeit!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205019000
Unter der Zeit, Herr Kollege!
Meine Damen und Herren, ich muß eine kurze geschäftsleitende Bemerkung machen. Für diese Aktuelle Stunde liegen vier Wortmeldungen von seiten der Bundesregierung und des Bundesrats vor. Nach unserer Geschäftsordnung verlängert sich die Aussprache in der Aktuellen Stunde um 30 Minuten, wenn diese Wortmeldungen zusammen länger als 30 Minuten sind. Sie haben das Rederecht. Ich weise nur darauf hin, daß es dann zwei Aktuelle Stunden werden. Vielleicht können Sie sich ja untereinander bezüglich der Redezeit ein bißchen einigen.
Als nächster hat der Herr Abgeordnete Modrow das Wort.

Dr. Hans Modrow (PDS/LL):
Rede ID: ID1205019100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine europäische Einigung, die den staatsübergreifenden Herausforderungen im heutigen Europa gerecht werden will, muß nach unserem Verständnis als natürlicher Prozeß des Zusammenwachsens der Völker und gleichberechtigter Zusammenarbeit der Staaten gestaltet werden. Die bisherigen Vorschläge, die auf den beiden Regierungskonferenzen zur Politischen Union und zur Wirtschafts- und Währungsunion verhandelt werden, sind aber eben gerade davon noch weit entfernt. Europäische Einigung muß allen interessierten europäischen Staaten offenstehen und mit einer verpflichtenden gesamteuropäischen Perspektive verbunden sein. Ein Prüfstein dafür ist die Solidarität zwischen West- und Osteuropäern, ohne andere Regionen der Welt zu vernachlässigen. Nicht einmal vom Ansatz her läßt die geplante Politische Union aber erkennen, wie sie mit gesamteuropäischen Strukturen, wie sie mit dem KSZE-Prozeß korrespondieren und diesen voranbringen will.
Die Ausrichtung auf einen neuen ökologisch und sozial verträglichen wirtschaftlichen Wachstumstyp und eine nicht militärische Außen- und Sicherheitspolitik muß die ausschließliche Orientierung auf ökonomische Effektivitätskriterien und die Fixierung auf die Militarisierung der EG ersetzen. Die außen- und sicherheitspolitische Tätigkeit muß auf nichtmilitärische Aufgaben begrenzt bleiben.
Der Ausbau der WEU zu einem militärischen Arm einer politischen Union, für den sich die Bundesregierung so vehement einsetzt, ist der falsche Weg. Deutschland wird von niemandem militärisch bedroht. Weder in Europa noch anderswo können heute und künftig Probleme und Konflikte kriegerisch ge-



Dr. Hans Modrow
löst werden. Die tatsächlichen Risiken und Gefahren, die sich für die EG aus ihrem Umfeld ergeben, sind vor allem im wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Ungleichgewicht begründet.
In unserem Verständnis soll das gemeinsame Europa das Werk vieler sozialer und politischer Kräfte sein, die auf allen Ebenen der Entscheidung entsprechende Rechte der Mitsprache und der Mitgestaltung genießen. Die Menschen haben nicht nur ein Recht darauf, rechtzeitig zu erfahren, welche Schritte in einer bestimmten Etappe angestrebt bzw. gegangen werden sollen, sondern auch darauf, konkreten Einfluß nehmen zu können. Beileibe nicht alles, was heute unter diesem Thema geschieht, ist in ihrem Interesse und im Sinne einer progressiven, demokratischen wie sozial vernünftigen Entwicklung auch erstrebenswert. Das Demokratiedefizit innerhalb der EG ist schon jetzt gravierend. Der Entscheidungsprozeß wird von den Regierungen dominiert. Die Kommissionen entziehen sich weitgehend der parlamentarischen Kontrolle.
Wie zu hören ist, befindet sich das Europäische Parlament in keiner anderen Lage. Wir sind dafür, seine Kompetenzen bei den Kontrollrechten, bei Gesetzesinitiativen und im Gesetzgebungsverfahren auszuweiten. Es sollte bei Grundsatzentscheidungen über die weitere Entwicklung dem Ministerrat gleichgestellt sein. Das Subsidiaritätsprinzip sollte strikt Anwendung finden, um eine Dezentralisierung der politischen und Verwaltungsentscheidungen zu gewährleisten. Offensichtlich wird die EG im Einigungsprozeß Europas nur dann eine konstruktive Rolle spielen können, wenn sie sich selbst und damit ihre Politik grundlegend verändert. Die breite Bevölkerung muß sich mit der Politik zur europäischen Einigung identifizieren können.
Wir fordern deshalb die Regierung auf, die Ergebnisse der Regierungsverhandlungen der breiten Öffentlichkeit zur Prüfung vorzulegen, ehe endgültige Entscheidungen getroffen werden.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205019200
Das Wort hat die Frau Staatsministerin beim Bundesminister des Auswärtigen, unsere Kollegin Seiler-Albring.

Ursula Seiler-Albring (FDP):
Rede ID: ID1205019300
Vielen Dank, Herr Präsident.
Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Die Europäische Gemeinschaft steht heute an einem Wendepunkt. Die Ergebnisse beider Regierungskonferenzen zur politischen Union und zur Wirtschafts- und Währungsunion werden in ganz entscheidender Weise die weitere Ausrichtung des europäischen Einigungsprozesses bestimmen. Es gilt jetzt, mit aller Kraft daran zu arbeiten, daß bis zum Europäischen Rat in Maastricht ein insgesamt gleichgewichtiges Ergebnis erzielt wird, das von der inhaltlichen Substanz her einen qualitativen Schritt, einen qualitativen Sprung, nach vorn schafft. Wir wollen und müssen in Maastricht dem Ziel einer Europäischen Union mit föderaler Ausrichtung näherkommen.
Seit Juni liegt ein konsolidierter und umfassender Entwurf der luxemburgischen Präsidentschaft vor. Er bildet heute die Verhandlungsgrundlage.
Die niederländische Präsidentschaft hat Ende September einen eigenen Entwurf zur Diskussion gestellt. Er beruht vorwiegend auf dem luxemburgischen Entwurf und ist neben diesem Text Referenzmaterie für die Konferenz.
Wir wären an sich auch für den niederländischen Vorschlag offen gewesen, zumal er inhaltlich in einigen Teilen unseren Konferenzzielen näherlag.

(Beifall des Abg. Peter Kittelmann [CDU/ CSU])

Aber acht Wochen vor Maastricht konnten wir uns der Mehrheitsmeinung einschließlich derjenigen von Frankreich und Großbritannien nicht verschließen, daß angesichts des bestehenden Zeitdrucks jetzt nicht ein neues und strittiges Papier die Verhandlungsgrundlage bilden sollte.

(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Da ist ja nicht zu fassen! Das ist ja wirklich peinlich!)

Dies hindert uns nicht daran, unsere eigenen Vorstellungen weiterzuverfolgen und uns dabei selbstverständlich auch auf Elemente der niederländischen Überlegungen zu stützen.
Meine Damen und Herren, Bundeskanzler Kohl und Präsident Mitterrand haben mit ihrem Vorschlag von gestern erneut einen entscheidenden Anstoß gegeben. Der Grundgedanke bleibt konstant: Die politische Union soll in ihrer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik auf längere Sicht auch eine gemeinsame Verteidigung umfassen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die Initiative wird konkreter in der Gestaltung des Verhältnisses zwischen der künftigen Union und der Westeuropäischen Union. Die WEU wird verstanden als ein integraler Teil des Prozesses zur Europäischen Union. Die WEU übernimmt nach politischen Vorgaben der Union die Erarbeitung und Durchführung von Aufgaben der Sicherheit und Verteidigung in ihre Zuständigkeit. Die WEU hat zwischen Union und Allianz die Funktion einer Brücke. Die Allianz — das ist unser fester Wille — wird durch diesen Prozeß gestärkt. Das Ganze setzt eine Entwicklung in Gang, deren Richtung angezeigt wird, deren konkrete Inhalte jetzt aber nicht Gegenstand der Vertragsverhandlungen sind. Sie bedürfen weiterer intensiver Beratungen mit unseren Partnern, und wir bewegen uns insofern völlig auf dem Boden unserer bekannten Positionen.
Ich füge vorsorglich hinzu: Die Rolle des Europäischen Parlaments, für deren Verstärkung sich die deutsche Delegation nachdrücklich einsetzt, erscheint an anderer Stelle des Vertragsentwurfs: Was dort für die gemeinsame Außenpolitik festgelegt werden wird, gilt dann selbstverständlich auch für die Sicherheitspolitik, um die es bei der gestrigen Initiative ging.
Dieser deutsch-französische Vorschlag wird jetzt mit unseren Partnern verhandelt; er ist dem Vorsitzenden des Europäischen Rates übermittelt worden, ein



Staatsministerin Ursula Seiler-Albring
normales Vorgehen, ebenso wie der Abstimmungsprozeß innerhalb der Bundesregierung, der dieser Initiative vorausgegangen ist.
Um Mißverständnissen noch einmal entgegenzutreten: In der Außen- und Sicherheitspolitik werden sich die Entscheidungsverfahren im Rat nur ganz allmählich ändern können. Es bleibt in diesem empfindlichen Bereich grundsätzlich beim Einstimmigkeitsprinzip. Zur Diskussion gestellt worden ist lediglich die Frage, ob über die Modalitäten der Umsetzung einmal gefaßter Grundsatzbeschlüsse der Außen- und Sicherheitspolitik im Verfahren qualifizierter Mehrheiten beschlossen werden kann.
Neben der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik stellt die Bundesregierung folgende Punkte in den Mittelpunkt ihrer Verhandlungsstrategie: Die Wirtschafts- und Währungsunion und die politische Union bilden eine Einheit; wir brauchen einen echten Integrationsfortschritt in beiden Bereichen. Um die Effizienz der Gemeinschaft auch in Zukunft zu gewährleisten, ist eine weitere Ausdehnung des Mehrheitsprinzips erforderlich. Je mehr Mitglieder der Gemeinschaft beitreten, desto wichtiger ist es, daß die Gemeinschaft auch in Entscheidungsmechanismen handlungsfähig bleibt.
Die Stärkung der demokratischen Legitimität in der Gemeinschaft, die Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments bleiben vorrangiges Ziel der deutschen Bundesregierung. Bis zur nächsten Wahl 1994 müssen die Befugnisse des Parlaments, insbesondere in der Rechtssetzung und bei der Einsetzung der Kommission und ihres Präsidenten, wesentlich ausgebaut worden sein.

(Beifall bei der FDP)

Die Europäische Gemeinschaft hat sich immer als eine Gemeinschaft von Demokratien in Europa verstanden; der demokratische Gedanke muß auch innerhalb der Gemeinschaft voll zum Tragen kommen. Die Bundesregierung unterstützt die Forderung des Europäischen Parlaments, im Hinblick auf eine angemessene Repräsentanz der neuen Bundesländer die Zahl der deutschen Mitglieder im Europäischen Parlament zu erhöhen. Ich möchte hier die Gelegenheit nehmen, den Kollegen im Europäischen Parlament für ihr Votum, mit dem sie sich hierfür einsetzen, ganz herzlich bedanken.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Die Bundesregierung ist jedoch ebenso wie das Europäische Parlament der Auffassung, daß weder in den anderen Organen der Europäischen Gemeinschaften noch in sonstigen gemeinschaftlichen Einrichtungen das herrschende Gleichgewicht zwischen den Mitgliedstaaten abgeändert werden sollte.
Wenn die innergemeinschaftlichen Grenzen mit dem großen Binnenmarkt fallen, wird eine gemeinsame Innen- und Justizpolitik zwingend. Dann brauchen wir eine gemeinsame Regelung für das Asyl- und Einwanderungsrecht, wir brauchen, um die organisierte Kriminalität, die Drogenkriminalität bekämpfen zu können, eine europäische Polizeiorganisation.
Meine Damen und Herren, Ziel der europäischen Integration muß eine föderal strukturierte europäische Union bleiben. Die Bundesregierung legt dabei wert auf eine Struktur der Gemeinschaft, die nach dem Subsidiaritätsprinzip von unten nach oben aufbaut. Auch die Länder und Regionen müssen künftig in Brüssel in einem beratenden Ausschuß der Regionen ihren Rat einbringen können.
Die Bundesregierung sieht in den Verhandlungen zu den beiden Regierungskonferenzen eine absolute Priorität. Sie bedarf dabei der Begleitung und Unterstützung des Deutschen Bundestages. Die Bundesregierung begrüßt es daher nachdrücklich, daß der Deutsche Bundestag die Verhandlungen mit Interesse und auch kritisch begleitet.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205019400
Ich erteile dem rheinland-pfälzischen Minister für Bundesangelegenheiten und Europa das Wort.

Florian Gerster (SPD):
Rede ID: ID1205019500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ein Minister eines Landes in einer Aktuellen Stunde des Deutschen Bundestages das Wort ergreift, müssen besondere Länderinteressen oder Landesinteressen auf dem Spiel stehen. Dies ist der Fall.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Manchmal auch Wahlkampf!)

— Zur Zeit nicht. Und der nächste in Rheinland-Pfalz dürfte auch nicht sehr spannend werden.
Bei den laufenden Verhandlungen zur politischen Union geht es um die innere Ordnung der Europäischen Gemeinschaft. Dies wiederum hat tiefe Auswirkungen auf die innere Ordnung Deutschlands.
Um es klar vorab zu sagen: Die Länder in Deutschland bejahen den europäischen Einigungsprozeß, jedoch nicht ohne Wenn und Aber, sondern mit Wenn und Aber. Die zentrale Forderung ist, daß es dann, wenn die nationalen Mitgliedstaaten der EG Souveränitätsrechte abgeben, nicht nur in eine einzige Richtung gehen darf. Es darf nicht selbstverständlich sein, daß die höhere Einheit, in diesem Fall die Europäische Gemeinschaft, zuständig wird, wenn nationale Souveränitätsrechte abgegeben werden.
Genau in diesem Zusammenhang wird es spannend, Frau Ministerin Seiler-Albring, wie wir das Wort Subsidiarität interpretieren und definieren. Wenn wir uns die verschiedenen Dokumente anschauen, auch und gerade auf europäischer Ebene, stellen wir fest, daß die Definition von Subsidiarität oft mit dem ursprünglich ordnungspolitischen Ansatz dieses Wortes wenig gemein hat, das ja aus der katholischen Soziallehre stammt und ganz präzise meint, daß die jeweils kleinstmögliche Einheit für die Regelung eines Sachverhalts gesellschaftlicher oder staatlicher Art zuständig sein soll, bevor eine höhere Einheit oder, im Verhältnis von Staat und Gesellschaft, der Staat tätig wird.
Genau hier sind wir der prinzipiellen Auffassung, daß wir vielleicht sogar auf europäischer Ebene das deutsche Verständnis von Subsidiarität den Nachbar-



Staatsminister Florian Gerster (Rheinland-Pfalz)

Staaten zum Teil nahebringen müssen, weil hier auch nach den Vertragsentwürfen dieser Begriff zum Teil so interpretiert wird, daß die Europäische Gemeinschaft entscheidet, was sie besser tun kann, und nicht, daß die Mitgliedsländer entscheiden, was sie sinnvollerweise abgeben sollten. Es wäre eine Subsidiarität von oben, wenn die EG sagen könnte, wir können etwas ganz Bestimmtes besser regeln, auch wenn sie qua Vertrag dafür nicht originär zuständig ist. Dann könnten sich die autonomen Regionen und erst recht die Länder mit Staatscharakter gegen eine solche Übertragung gar nicht mehr wehren.
Die Länder, die in Deutschland im Unterschied zu fast allen anderen europäischen Mitgliedsstaaten, eine besondere staatsrechtliche Mitverantwortung haben, haben deswegen ein besonderes Interesse daran, daß der europäische Einigungsprozeß diese föderale Ordnung Deutschlands nicht aushebelt.

(Dr. Hermann Schwörer [CDU/CSU]: Nicht überzogen!)

Die Ministerpräsidenten haben deswegen dem Bundeskanzler ihre Vorstellung vorgetragen, und die Europa-Kommission der Länder hat diese Vorstellungen in ganz konkreten Änderungsentwürfen niedergelegt. Es geht zum einen um die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips, darüber hinaus um die Errichtung eines mitwirkungsfähigen Regionalausschusses — also nicht nur Anhörung, sondern auch Mitwirkung — , drittens um die Beteiligung der Länder beim Ministerrat bei eigenen Angelegenheiten, also dort, wo sie betroffen sind, z. B. bei Bildung und Kultur, und viertens um ein eigenes Klagerecht.
In den verschiedenen Vertragsentwürfen und auch in dem jetzt zugrunde gelegten Luxemburger ursprünglichen Vertragsentwurf ist — das habe ich bereits dargelegt — die Definition des Prinzips Subsidiarität noch nicht befriedigend geregelt. Wir hoffen, daß bis zum Maastrichter Gipfel klargelegt werden kann, daß dies nicht seitens der EG interpretiert werden kann, sondern daß sich unsere föderale Ordnung spiegelbildlich auf das Miteinander der Staaten in Europa übertragen läßt.
Dort, wo es um die Mitwirkung der Regionen geht, ist das, was im Augenblick vorgeschlagen ist, nämlich ein beratender Ausschuß aus regionalen und lokalen Gebietskörperschaften beim Wirtschafts- und Sozialausschuß, ebenfalls unbefriedigend. Beim Vertretungsrecht im Ministerratsverfahren kommt der Luxemburger Vorschlag den Länderforderungen entgegen. Ein Klagerecht der Länder — das war der vierte Punkt, der zentrale Forderungspunkt, der Ministerpräsidenten — ist allerdings bisher nicht vorgesehen.
Wir hoffen und die Länder erwarten von der Bundesregierung, daß diese zentralen Forderungen noch verstärkt in den nächsten Wochen auf europäischer Ebene zur Geltung kommen und daß es im Dezember in Maastricht möglich ist, zukunftsweisende Beschlüsse zur künftigen inneren Ordnung in Europa zu fassen, deren tragende Prinzipien die Demokratie, der Föderalismus und die Subsidiarität sein müssen. Die Übertragung weiterer Kompetenzen von Bund und Ländern auf die Gemeinschaft darf nur zum Tragen kommen — und deshalb eine Zustimmung mit Wenn und Aber — , wenn die Bundesstaatlichkeit Deutschlands, die sich bewährt hat und die vielleicht sogar das eigentliche Pfund ist, mit dem wir in der Nachkriegsgeschichte unseres Staates wuchern können, und die Vielfalt, die sie bewirkt, eingebracht werden kann in die politische Union und damit den Bürgerinnen und Bürgern und den Ländern die Zustimmung zu Europa leichtgemacht wird.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205019600
Das Wort hat der Abgeordnete Reinhard Freiherr von Schorlemer.

Freiherr Reinhard von Schorlemer (CDU):
Rede ID: ID1205019700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hoffe, wir sind uns einig, es müssen alle Anstrengungen unternommen werden, damit der Maastrichter EG-Gipfel zu einem Erfolg wird. Das bedeutet, im Bereich der Wirtschafts- und Währungsunion wie auch bei der Politischen Union muß es eine klare Parallelität geben. Das bedeutet aber auch — und hierauf möchte ich mich jetzt konzentrieren —, daß in der zentralen Frage der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik substantielle Fortschritte erzielt werden müssen.
Die Jugoslawien-Krise hat gezeigt, die Europäische Gemeinschaft kann nur dann den großen außenpolitischen Herausforderungen unserer Zeit gerecht werden, wenn sie auch handlungs- und durchsetzungsfähig ist. Nur wenn sie handlungs- und durchsetzungsfähig ist, wird sie von unseren Bürgern auch wirklich akzeptiert werden. Daher begrüßen wir nachdrücklich den von Bundeskanzler Kohl und dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand gestern unterbreiteten Vorschlag für eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Gemeinschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir begrüßen besonders, daß für die Konkretisierung dieser gemeinsamen Politik die operativen Instrumente geschaffen werden sollen.
Verehrte Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, jetzt komme ich zu Ihnen. Sie waren, glaube ich, Anfang der 80er Jahre Mitglied des Europäischen Parlamentes.

(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: So ist es!)

Anfang der 80er Jahre sprach der französische Staatspräsident Mitterrand vor dem Deutschen Bundestag. Er hat damals auch gerade der sozialdemokratischen Fraktion des Bundestages eine Lektion über Sicherheitspolitik erteilt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der CDU/CSU: Das ist wohl wahr!)

Ich empfehle Ihnen, nicht nur mit Mitterrand, sondern auch mit ehemaligen sozialistischen Kollegen im Europäischen Parlament einmal diese Frage zu klären.

(Zuruf von der Abg. Heidemarie WieczorekZeul [SPD])




Reinhard Freiherr von Schorlemer
Ich empfehle Ihnen weiter, verehrte Kollegin, daß Sie einmal in die Charta der Vereinten Nationen schauen, Art. 51 aufblättern und dort eine Definition des Verteidigungsbegriffes lesen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich glaube, bei dieser Frage wird sich die SPD in Kürze selber die Frage stellen müssen, ist sie eigentlich noch europamäßig orientiert oder gibt sie den Bremer Parteitagsbeschlüssen nach, wobei jedermann weiß, daß diese Beschlüsse das Bremer Desaster nicht verhindert haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, für eine handlungs- und durchsetzungsfähige europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik muß von vornherein klar sein, zu welchen außenpolitischen Themen ein gemeinsames europäisches Vorgehen notwendig ist. Noch wichtiger ist es aber auch, daß ein Instrumentarium zur Verfügung steht, um dieses gemeinsame Handeln vorzubereiten und in der Durchführung zu koordinieren. Der bisherige Mißerfolg der EG gegenüber Jugoslawien resultiert nicht zuletzt auch aus diesen strukturellen Mängeln. Deshalb ist es nicht nur gut, daß der deutsch-französische Vorschlag die Themen für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik definiert wie z. B. die Zusammenarbeit mit den Staaten Mittel- und Osteuropas einschließlich der Sowjetunion oder die Stärkung der transatlantischen Zusammenarbeit mit den USA und Kanada oder Fragen der Abrüstung und der so notwendigen Gemeinsamkeit bei der Kontrolle von Rüstungsexporten. Bedeutsamer ist, daß auch mit diesem deutsch-französischen Vorschlag die WEU als das operative Instrumentarium genutzt werden soll, mit dem die Europäer ihrer außen- und sicherheitspolitischen Verantwortung innerhalb und außerhalb Europas endlich auch in der Praxis gerecht werden können.
Wir begrüßen deshalb sehr, daß es zu dieser Frage schon jetzt eine Übereinstimmung mit Italien, Belgien und Spanien gibt. Gerade auch zu dem hier nicht immer richtig eingeschätzten britisch-italienischen Vorschlag für eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik gibt es sowohl hinsichtlich der Ziele als auch hinsichtlich der operativen Ausgestaltung wesentliche grundsätzliche Gemeinsamkeiten. Deshalb bin ich optimistisch, daß beim Maastrichter Gipfel unter maßgeblicher Mitwirkung der niederländischen Präsidentschaft entsprechende Fortschritte erreicht werden.
Mit diesen schon festgestellten wesentlichen Gemeinsamkeiten ist aber auch klar: Die Politische Union wird künftig im Rahmen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik auch mit gemeinsamen Streitkräften eine operative Rolle zur Friedenssicherung wie auch zur Wiederherstellung des Friedens innerhalb und außerhalb Europas wahrnehmen. Daraus ergibt sich auch für uns Deutsche die Notwendigkeit, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, um in dieser Frage gemeinsam mit unseren europäischen Nachbarn handeln zu können und uns nicht abzusondern. Wer das vereinte Europa bauen will,

(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Der darf nicht auf Demokratie verzichten; der muß Demokratie praktizieren!)

der darf nicht auf einer Sonderrolle Deutschlands in dieser wesentlichen Frage von Friedenssicherung und Wiederherstellung des Friedens bestehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der CDU/CSU, an den Präsidenten gewandt: Wieviel war das?)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205019800
Zwei Sekunden unterhalb des Limits.

(Heiterkeit)

Das Wort hat der Kollege Dr. Norbert Wieczorek.

Dr. Norbert Wieczorek (SPD):
Rede ID: ID1205019900
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich möchte mich eigentlich mit dem friedlicheren Thema Währungsunion beschäftigen. Aber Herr von Schorlemer, was Sie hier gemacht haben, fand ich schon einigermaßen schlimm. Sie wissen genau — wenn Sie unsere Beschlüsse gelesen haben, dann wissen Sie das —, daß wir uns für die Verteidigung im europäischen Konzept einsetzen. Wir fordern allerdings, daß dies unter parlamentarischer Kontrolle geschieht. Wenn das nicht mehr in diesem Hause geht, dann eben in Straßburg.

(Beifall bei der SPD)

Wenn Sie dies dahin gehend diffamieren, daß wir gegen eine europäische Verteidigungspolitik seien,

(Karl Lamers [CDU/CSU]: Das stimmt nicht, was Sie sagen!)

dann muß ich sagen, haben Sie ein merkwürdiges Verständnis von parlamentarischer Kontrolle. Das ist der Kern unserer Vorwürfe an die Regierung, daß sie das nicht sichert und in Verteidigungspolitik einsteigt ohne parlamentarische Kontrolle. Das werden wir nicht hinnehmen.

(Beifall bei der SPD — Reinhard Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Sie werden genügend Möglichkeiten haben, das zu diskutieren!)

— Das werden Sie auch haben; denn Sie brauchen ja auch Mehrheiten. Denken Sie daran!
Jetzt komme ich zum Thema Währungsunion, bei dem wir glücklicherweise etwas weiter sind und ein größeres Maß an gemeinsamen Gedanken haben.

(Dr. Helmut Haussmann [FDP]: Hoffentlich!)

— Das ist ja nichts Neues, Herr Kollege Haussmann,
Ich möchte daran erinnern, daß wir unabhängig von den Verhandlungen schon längst in dem Prozeß sind. Wir sind schon in der Stufe 1. Unser gemeinsames Ziel ist zur Stärkung der politischen und wirtschaftlichen Integration eine gemeinsame Währung mit einer gemeinsamen Zentralbank, und zwar unabhängig, verantwortlich für Geld- und Währungspolitik,

(Dr. Helmut Haussmann [FDP]: Frankfurt!)

eigenverantwortlich, und auch durchaus — wie wir das auch von Frankfurt erwarten — in Kenntnis der Wirkungen, die Geld- und Währungspolitik für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung hat. Dies ist eine Forderung, die wohl konkret ist.



Dr. Norbert Wieczorek
Wir stehen jetzt vor der Frage, daß der Vertrag geändert werden muß. Da wir die größte währungspolitische Autorität abgeben, ist es auch richtig, daß wir in diesem Zusammenhang unsere Forderungen stellen. Deswegen möchte ich die Phase 2 gar nicht groß ansprechen. Ich möchte nur ein paar Punkte nennen.
Das ist einmal die klare Definition der Zielgrößen und die klare Definition des Bewertungsprozesses zur Konvergenz, die Schaffung einer Vorbereitungsorganisation mit einem Präsidium. Wie das aussieht, darüber mag man reden. Es ist wichtig, daß zwischen den noch zuständigen nationalen Notenbanken und dem neuen Währungsinstitut keine Grauzonen entstehen. Deswegen braucht das Währungsinstitut auch keine eigenen Währungsfondsmittel und braucht vor allem kein Recht zur Intervention an den Märkten.
Dann geht es noch um die wichtige technische Vorbereitung. Ich sage nur: die Umstellung der Schuldverhältnisse oder die Einführung eines vernünftigen Clearingsystems für den bestehenden Ecu. Das jetzige private System kracht an allen Ecken und Kanten.
Wenn dies so ist, dann gibt es schließlich noch den letzten Punkt — das wäre in dieser Phase 2; da mag es Unterschiede in der zeitlichen Bewertung geben —, daß natürlich die anderen nationalen Notenbanken auch in die Unabhängigkeit geführt werden müssen. Das kann ja nicht nur die deutsche Bundesbank sein.
Ich komme jetzt zu Phase 3. Da fordern wir eine klare Trennung zwischen dem Prozeß der Beurteilung des erreichten Standes der Konvergenz anhand der Konvergenzkriterien und der politischen Bewertung. Alle Mitgliedsländer müssen an diesem Prozeß teilhaben. Kein Mitgliedsland darf in die einheitliche Währung gezwungen, aber auch kein Land darf aus ihr herausgehalten werden, wenn die Kovergenz erreicht ist. Ebenso muß klar sein, daß das Ziel eben diese unabhängige Zentralbank oder das Zentralbanksystem mit dem Primärziel der währungs- und geldpolitischen Stabilität sein muß.
Auch muß sichergestellt werden, daß die Länder, die nicht beitreten können oder wollen, in einem gemeinschaftlichen Verfahren, nicht individuell, sondern in einem gemeinschaftlich verabredeten Verfahren, später dazustoßen können.
Daß die Zuständigkeit des EZBS auf Geld- und Währungspolitik beschränkt bleiben muß, ist klar; sonst kann die Autonomie nicht gerechtfertigt werden. Deswegen muß das also auf Geld- und Währungspolitik eingeschränkt werden.
Natürlich gehört auch dazu, daß Konsultationspflichten entstehen — Konsultation mit dem Rat, mit der Kommission — und vor allem auch Berichtspflichten gegenüber dem Parlament. Das muß mehr sein als ein Bericht im Jahr. Das ist sozusagen das Gegenstück zu der gesetzlichen Autonomie dieser Bank.
Auch muß klar sein, daß das Wechselkursregime Sache der Politik bleibt, genauso klar wie die Interventionen Sache der Bank sein müssen. Aber der Prozeß dazwischen, dieser Louvre-Prozeß, wie wir das nennen, kann nur gemeinschaftlich zwischen der
Bank und den politischen Institutionen gestaltet werden.
Die ständige Konvergenzüberprüfung allerdings ist etwas, worüber wir uns noch ein bißchen unterhalten müssen; denn dies wird ja von politischen Gremien gemacht. Dabei muß grundsätzlich die Haushaltsautonomie der Mitgliedsländer im Rahmen der vereinbarten Konvergenzkriterien erhalten bleiben. Das gilt auch für die inneren Verhältnisse der Bundesrepublik. Es muß noch ein Gespräch mit den Ländern darüber geben, wie man dieses handhaben will; denn schließlich übernimmt die Bundesrepublik Gesamtverantwortung für das gesamtstaatliche Defizit, und bei gemeinschaftsschädlichem Verhalten entstehen ja auch Folgewirkungen, nämlich Strafaktionen. Hierüber muß also noch geredet werden.
Geredet werden muß auch über einen Ausgleichsmechanismus für die Regionen der EG, die noch nicht unser Wohlstandsniveau haben. Hier wird man über das hinaus, was bisher geschehen ist, noch ein bißchen etwas machen müssen.

(Dr. Helmut Haussmann [FDP]: „Ein bißchen" ginge ja noch!)

— Ein bißchen viel unter Umständen, völlig richtig. Deswegen wollen wir ja auch nicht, daß alle gleich mitmachen, Herr Kollege Haussmann.
Lassen Sie mich zum Schluß auf einiges ganz kurz hinweisen. — Auch wenn die Autonomie der nationalen Haushalte gewahrt bleibt — —

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1205020000
Ihre Redezeit ist abgelaufen, Herr Kollege.

(Zurufe)


Dr. Norbert Wieczorek (SPD):
Rede ID: ID1205020100
Darf ich diesen Satz noch zu Ende bringen? — Gerade wenn die Autonomie der nationalen Haushalte gewahrt bleibt, bedeutet die Übertragung der Vereinbarung, Überwachung und Durchsetzung von volkswirtschaftlichen Zielgrößen auf den Ministerrat oder ein anderes Gremium einen tiefen Einschnitt in die wirtschafts-, finanz- und fiskalpolitische Hoheit des Bundestages.

(Vorsitz : Vizepräsidentin Renate Schmidt)

Weil das so ist, stelle ich hier für uns die Forderung auf, daß sich der Bundestag — ich hoffe, Sie machen mit — ein Parlamentsvotum über unseren tatsächlichen Eintritt in die Stufe 3 vorbehält

(Beifall der Abg. Heidemarie WieczorekZeul [SPD])

und dann, wenn es soweit ist, darüber entscheidet. Nicht, daß wir mit der Vertragsänderung das an die Regierung abgeben! Das ist inhaltlich begründet, weil wir unser Haushaltsrecht übertragen. Wenn dann nicht das Europaparlament diese Kritik der Wirtschaftspolitik des Ministerrats machen darf, darauf nicht einwirken kann, macht das niemand mehr. Dies ist aber ein zentrales Stück von Parlamentshoheit.
Deswegen bitte ich Sie, mit uns zu stimmen, wenn wir diesen Antrag auf einen Parlamentsvorbehalt für den Eintritt in die Stufe 3 stellen; denn Europäische



Dr. Norbert Wieczorek
Politische Union und Wirtschaftsunion werden an dieser Stelle untrennbar verbunden sein.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205020200
Als nächstes hat das Wort Frau Kollegin Dr. Cornelie von Teichman.

(Zuruf von der FDP: Auch 7 Minuten?)


Dr. Cornelia Christiane von Teichman (FDP):
Rede ID: ID1205020300
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In diesen Wochen werden die Weichen für die Zukunft Europas gestellt, und wir sind uns alle einig, daß das Ziel eines vereinten Europas nicht allein die Vollendung des Binnenmarktes sein kann. Langfristig wollen wir eine einheitliche Vertragsstruktur, eine Politische Union mit gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik. Wir wollen die Vereinigten Staaten von Europa.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Dabei geht es nicht, meine Damen und Herren, wie manche unserer Nachbarn vielleicht insgeheim befürchten, um deutsches Hegemoniestreben unter europäischer Tarnkappe. Sorge vor Deutschland ist eine Realität, mit der wir leben müssen, und die jüngste Kette ausländerfeindlicher Übergriffe in unserem Land tragen gewiß nicht dazu bei, diese Sorge zu mildern; aber diese Sorge ist gleichwohl unbegründet.
Unsere Verfassung sieht bereits seit mehr als 40 Jahren die Möglichkeit vor, Souveränität auf europäische Institutionen zu übertragen. Diese Institutionen sollen nicht von einem Land dominiert werden, sondern den freien Bürgern eines freien Europas und ihren gewählten Vertretern verantwortlich sein.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD])

Heute hat die EG noch ein Defizit an demokratischer Legitimation.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD])

Der Einfluß der gewählten Europaparlamentarier auf den Integrationsprozeß ist sehr gering, und entsprechend gering, meine Damen und Herren, ist auch die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen.

(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: So ist es!)

Die Gemeinschaft muß ihre Angelegenheiten jetzt so ordnen, daß bei einer Aufgabenerweiterung und neuen Beitritten innergemeinschaftliche Demokratie und Handlungsfähigkeit nicht auf der Strecke bleiben. Von seiten Luxemburgs und der Niederlande hat es begrüßenswerte Vorschläge zum Abbau des Demokratiedefizits sowie zur Förderung der Integration gegeben. Die FDP fordert erweiterte Mitwirkungsmöglichkeiten für das Parlament, d. h. zum Beispiel die gleichen Rechte in der Gesetzgebung für Rat und Parlament. Die Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlamentes auch bei Vertragsveränderungen sind für uns Liberale von großer Bedeutung.
Auch sollten die Europaparlamentarier bei der Wahl der Kommission und ihres Präsidenten voll beteiligt werden. Eine Angleichung der Amtsperiode der Kommission an die Wahlperiode des Europäischen Parlamentes muß damit einhergehen.
Bei der Verwirklichung eines einheitlichen Europas hat das Prinzip der Subsidiarität für uns Priorität. So sehr wir auf die Integration der Gemeinschaft drängen, müssen wir dabei auch den föderativen Charakter der Union erhalten und stärken. Über den Begriff Föderalismus ist es in der EG zu einem völlig überflüssigen Streit gekommen, der auf einem falschen Verständnis dieses Begriffes beruht. Wir meinen damit eine Gemeinschaft der Vielfalt und gerade keinen zentralistischen Einheitsstaat. Die Gemeinschaft wird nur tätig, um die ihr im Rahmen des EG-Vertrages übertragenen Maßnahmen und die darin festgelegten Ziele durchzuführen. So müssen die Entscheidungsprozesse der Union möglichst bürgernah ablaufen, ohne aber dadurch die Kompetenzen des Europäischen Parlamentes zu schwächen.
Zur Verwirklichung der Politischen Union ist ein weiterer Ausbau auf verschiedenen Gebieten nötig. Besonders vordringlich ist dies in der Außen- und Sicherheitspolitik.

(Karl Lamers [CDU/CSU]: So ist es!)

Die Schwierigkeiten der Gemeinschaft während des Golfkrieges und auch im Jugoslawienkonflikt, zu einer einheitlichen Linie zu finden, zeigen deutlich, daß die gegenwärtige Struktur hierbei unzureichend ist.
Die bisherige abgestimmte Politik der Mitgliedstaaten im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit muß weiterentwickelt werden zu einer Außen- und Sicherheitspolitik der Gemeinschaft selbst.

(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Das ist wahr!)

Damit verbunden ist dann auch eine gemeinsame Verteidigungspolitik. Das vereinigte Deutschland soll dabei nicht Hemmschuh, sondern auch Antrieb sein für die militärische Integration Europas. Dies soll nicht außerhalb, sondern innerhalb der NATO geschehen. Wir wollen die WEU ausbauen zu ihrem europäischen Pfeiler und eine Brücke zu unseren Freunden in den USA und in Kanada schlagen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einige Worte zu Osteuropa sagen. Ich hoffe, ich habe genauso viel Möglichkeiten, zu überziehen, wie meine Vorredner hatten.

(Heiterkeit — Beifall des Abg. Günther Friedrich Nolting [FDP])

Wir als Westeuropäer tragen auch die Verantwortung für unsere osteuropäischen Nachbarn. Wir müssen sie möglichst schnell und eng an die EG anbinden und ihnen so eine Perspektive bieten. Der Eiserne Vorhang ist verschrottet worden. Er darf jetzt nicht durch einen Armutsvorhang ersetzt werden.



Dr. Cornelie von Teichman
Zum Glück scheinen die Assoziierungsverhandlungen mit Polen, Ungarn und der CSFR jetzt endlich Fortschritte zu machen. Bisher waren sie wahrhaftig kein Ruhmesblatt für die EG. Aber auch den anderen muß eine Perspektive in der EG eröffnet werden, z. B. den baltischen Staaten. Vertiefung und Erweiterung der Gemeinschaft dürfen kein Gegensatz sein. Die Institutionen, die gerade jetzt in den Konferenzen in Maastricht neu zu schaffen oder zu reformieren sind, müssen von vornherein so angelegt sein, daß sie auch in einer erweiterten Gemeinschaft Bestand haben. Wir können nicht so tun, als wären wir auf die Dauer nur ein Zwölferclub; denn die Gemeinschaft ist längst schon mehr als nur eine westeuroäische Wirtschaftsgemeinschaft. Sie ist eine europäische Wertegemeinschaft.
Diese Gemeinschaft unter demokratischen Prinzipien zu integrieren und gleichzeitig ihre kulturelle Vielfalt zu bewahren ist eine faszinierende Aufgabe. Es ist gleichzeitig eine Chance für uns alle, die wir nutzen sollten, und das rasch.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD])


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205020400
So, jetzt wird niemand mehr überziehen. Sie, Frau Dr. von Teichman, haben jetzt auch ein bißchen überzogen. Der Kollege Wieczorek hat vorhin von dem Wechsel der Präsidenten profitiert. Jetzt ist Schluß mit den Überziehungen. Jetzt wird wieder in Fünf-Minuten-Beiträgen geredet; für die Bundesregierung sieben Minuten.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Finanzministerium Dr. Joachim Grünewald.

Dr. Joachim Grünewald (CDU):
Rede ID: ID1205020500
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Ich will mich ganz auf die Fragen der Währungsunion beschränken. Wie Sie alle wissen, sind die Verhandlungen schon sehr weit fortgeschritten. Die Bundesregierung hatte einen eigenen Entwurf eingebracht. Der jetzt vorliegende Entwurf reflektiert unsere Vorstellungen Gott sei Dank in weiten Bereichen. Oberster Grundsatz für uns ist natürlich eine Währung, die der Stabilität der D-Mark zumindest nahekommt.

(Dr. Helmut Haussmann [FDP]: Der stabilsten!)

Wir akzeptieren mit unseren Nachbarn inzwischen einige Grundvorstellungen. Das ist einmal die wirtschaftliche Konvergenz bei Preisen, Zinsen und insbesondere bei Haushaltsdefiziten auf der Basis einer gleichgerichteten und stabilitätsorientierten Wirtschafts- und Geldpolitik. Alles andere würde ja auch wohl nicht funktionieren können.
Zweitens wird in der Gemeinschaft inzwischen grundsätzlich akzeptiert, daß die zukünftige Europäische Zentralbank unabhängig sein muß, und zwar von politischen Einflüssen sowohl der Gemeinschaft selbst wie auch der einzelnen Mitgliedstaaten. Darüber gibt es im Detail noch Differenzen. Sie muß vorrangig dem Ziel der Preisstabilität verpflichtet sein.
Das bisherige erfreuliche Maß an Übereinstimmung darf uns natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, daß es im Detail noch vieler Grundsatzvereinbarungen bedarf. Herr Kollege Wieczorek hat darauf hingewiesen. Zwar akzeptieren unsere Mitgliedstaaten die Unabhängigkeit der europäischen Zentralbank, aber offenbar versteht man etwas anderes darunter. Ich weise nur darauf hin, daß man immer noch meint, eine eigenständige Wechselkurspolitik, insbesondere gegenüber den Staaten außerhalb der EG, machen zu können. Darauf können wir uns natürlich nicht einlassen.
Alle Mitgliedstaaten erkennen die Bedeutung der Konvergenz an. Jetzt gibt es aber wieder Meinungsverschiedenheiten über den richtigen Weg dahin.
Insbesondere die südlichen Mitgliedstaaten wollen natürlich eine starke Stellung der Gemeinschaftsrolle bei der sogenannten Kohäsion, also dem wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt der Gemeinschaft. Das birgt natürlich Gefahren eines möglichen Finanztransfers in sich, wobei sich aus der Wirtschafts- und Währungsunion, Herr Kollege Haussmann, solche Transfers nicht begründen lassen. Denn die Wirtschafts- und Währungsunion soll ja gerade die Kohäsion fördern, und sie wird die Kohäsion auch fördern.
Was wir zusammen mit Ihnen einfordern, ist ein völlig eigenverantwortliches Verhalten der Länder in Fragen der Währungsstabilität. Deswegen hat auch Finanzminister Waigel inzwischen die Idee von Konvergenzprogrammen eingeführt. Die Mitgliedstaaten sollen Politikdefizite sozusagen schon im Vorfeld beseitigen, als Test für ihre Fähigkeit zur Aufnahme in die Endstufe.

(Dr. Helmut Haussmann [FDP]: Das gilt für uns auch!)

— Das gilt für uns selbstverständlich auch. Minister Waigel hat auch ein eigenes Konvergenzprogramm für unsere ganz besondere Situation in diesem Augenblick angekündigt.
Haushaltsdisziplin ist ein Schlüsselelement unserer Vorstellung und selbstverständlich, Herr Haussmann, das Verbot einer Finanzierung staatlicher Defizite durch die Zentralbanken. Das kann nicht über die Notenpresse gehen. Selbstverständlich muß auch sein, daß jedes Land seine eigenen Schulden selber zu bedienen haben wird.
Nun wird es sehr darauf ankommen, wie wir das nun miteinander vereinbaren, damit wir solche exzessiven Haushaltsdefizite vermeiden können und wie wir vor allen Dingen solche Vereinbarungen auch durchhalten können. Da sind wir bei dem schwierigen Feld der Sanktionen oder möglicher Sanktionen.
Die Zwischenstufe ist deshalb so sehr bedeutsam, weil in ihr ein Europäisches Währungsinstitut gegründet werden soll. Die wichtigste Aufgabe dieses Instituts soll ja nur die Vorbereitung auf die Endstufe sein; wir müssen aber sehr acht geben, daß wir unsere Vereinbarung ob der Aufgaben dieses Institutes in dieser Zwischenphase sehr klar definieren und daß, solange das alles nicht geschehen ist, die eigenständige Währungspolitik zwingend in den einzelnen Mitgliedstaaten verbleibt, damit eben die von Ihnen erwähnten Grauzonen nicht eintreten können.



Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald
Der spätere Beschluß über den Zeitpunkt für den Eintritt in die Endstufe ist natürlich auch eine sehr gewichtige Frage. Wir müssen übereinkommen, wer letztlich die Entscheidung trifft. Aber erst einmal müssen wir uns darauf verständigen, wer eigentlich innerhalb der EG darüber befindet, wann es soweit ist, daß ein Mitgliedstaat in die Endstufe hineinkommen kann. Deshalb sollten konkrete wirtschaftliche Kriterien definiert werden, die ein Land schlicht erfüllen muß — ich betone: erfüllen muß —, damit es überhaupt beitreten kann.
Unser Ziel: unterschriftsreifer Vertrag im Dezember. Dabei wollen wir gar nicht so sehr den starren und ehrgeizigen Zeitplan im Vordergrund sehen, sondern für uns steht die Stabilitätspolitik im Vordergrund, deren Absicherung für die Zukunft auch für den Fall eines sich wandelnden Zeitgeistes, was Fragen der Stabilität ganz generell in Europa anlangt.
Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205020600
Als nächster hat der Kollege Dieter Schloten das Wort.

Dieter Schloten (SPD):
Rede ID: ID1205020700
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Angesichts der traumatischen Erfahrungen mit dem Irak scheint es endlich Konsens in diesem Hohen Hause zu sein, daß eine koordinierte und restriktive Rüstungsexportkontrolle ein essentieller Bestandteil einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EG sein muß.
Dies ist jedoch bedauerlicherweise nicht der Stand der Regierungskonferenzen. Der Luxemburger Entwurf bleibt deutlich hinter der in Rom formulierten Zielsetzung zurück. Dort hatte der Europäische Rat im Dezember 1990 die Einbeziehung des Rüstungssektors gefordert.
Folgerichtig schlug die EG-Kommission die ersatzlose Streichung des Art. 223 des EWG-Vertrages vor, um benannte Bereiche von „wesentlichem gemeinsamen Interesse" wie die Koordinierung der Waffenexportpolitik und die Nichtverbreitung auf europäischer Ebene kontrollieren zu können.
Der Luxemburger Entwurf stuft dagegen die notwendige europaweite Harmonisierung der Rüstungsexportkontrolle auf die Ebene von Absichtserklärungen herunter. Von Absichtserklärungen haben wir jedoch wahrhaftig genug.

(Beifall bei der SPD)

Ein zweiter wesentlicher Kritikpunkt betrifft ein Versäumnis der EG-Kommission selbst. Wir wissen, daß Rüstungsexporte immer mehr die Gestalt ziviler Waren annehmen. Ich meine hier die sogenannte Dual-Use-Problematik. Absolut unverständlich, ja geradezu fahrlässig ist es, wenn die Kommission bis heute keinen Vorschlag für eine europaweite Regelung vorgelegt hat. Die Bundesregierung hat trotz aller Unzulänglichkeiten durch die Reform des AWG und die Länderliste H immerhin einen Ansatz dafür geliefert, wie die Grundlage für eine europäische Lösung aussehen könnte.
Kontrolle erfordert Transparenz. So richtig die Forderung nach einem Waffenexportregister bei EG und UNO ist: Sie wirkt unglaubwürdig, solange damit nicht im eigenen Lande begonnen wird. Wie viele Nebelkerzen sind in diesem Hohen Hause schon abgeschossen worden, wenn es darum ging, die Genehmigungspraxis der Bundesregierung zu kaschieren!

(Norbert Gansel [SPD]: Sehr wahr! — Joachim Hörster [CDU/CSU]: Das war zu Ihrer Regierungszeit so!)

Und warum, meine Damen und Herren, legt die Bundesregierung in ihren Jahresabrüstungsberichten dem Deutschen Bundestag keine Rechenschaft ab über Umfang und Struktur deutscher Rüstungsexporte und ihren Endverbleib, über ihre Anstrengungen zur Reduzierung von Rüstungsexporten und zur Konversion der Überkapazitäten in der Rüstungsindustrie?
Vier Punkte sind jetzt besonders wichtig. Erstens. Die Bundesregierung sollte in Maastricht darauf hinwirken, daß die Kriterien des Europäischen Rates vom 8. Juli 1991 zum Waffenexport präziser und enger gefaßt werden.
Zweitens. Das Problem verlangt nach institutioneller und supranationaler Bewältigung, um nationalstaatliche Egoismen zu überwinden. Eine EG-Rüstungsexportkontrollbehörde kann jedoch nur dann effektiv wirken, wenn sie in eine europäische Abrüstungsagentur eingebettet ist, wie sie das Europäische Parlament kürzlich vorgeschlagen hat. Wir kritisieren scharf, daß Kohl und Mitterrand in ihrer gestrigen Botschaft der Gemeinschaft statt dessen eher eine Rüstungsagentur empfohlen haben.

(Norbert Gansel [SPD]: So ist es! Wortwörtlich im Text! — Widerspruch bei der CDU/ CSU und der FDP — Günther Friedrich Nolting [FDP]: Quatsch! Wer hat das aufgeschrieben?)

Drittens. Die Forderung nach der europaweiten Übernahme deutscher Standards könnte im benachbarten Ausland als deutsche Besserwisserei verstanden werden. Es geht aber um deutsche Erfahrungen. Der verlorene Krieg war die Ursache dafür, daß die Bundesrepublik im internationalen Vergleich einen relativ geringen Rüstungsanteil am Export aufweist. Er ist allerdings immer noch zu hoch. Ein europäischer Konversionsfonds könnte, ähnlich der Logik des Länderfinanzausgleichs, jenen Staaten bei der Umstellung helfen, die zur Zeit einen hohen Rüstungsexportanteil haben.
Viertens. Die Gemeinschaft sollte im Rahmen der geplanten gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik alle Anstrengungen unternehmen, um die hoch gerüsteten Regionen in der Dritten Welt in internationale Abrüstungsabkommen einzubinden.

(Beifall bei der SPD)

Regionale Sicherheitsarrangements können nach dem Vorbild der KSZE gefördert werden, indem beispielsweise die wirtschaftliche Bevorzugung entmilitarisierter Zonen in Aussicht gestellt wird. Die Länder der Dritten Welt werden jedoch in Zukunft nur in dem Maße auf die Anhäufung von Waffen und den Erwerb



Dieter Schloten
militärisch relevanter Technologien verzichten wollen, wie die industrialisierte Welt und die EG als Teil von ihr durch überzeugende Schritte der Abrüstung und der wirtschaftlichen Umverteilung zugunsten der Ärmsten vorangehen. Ein solchermaßen ziviles Europa wäre in der Weltpolitik nicht nur beispielgebend für die gewaltfreie Konfliktverarbeitung in den internationalen Beziehungen, sondern könnte auch durch die Umwidmung von Rüstungsausgaben für zivile Zwecke einen bedeutenden Beitrag für den Schutz der Biosphäre und die Entwicklung der Dritten Welt leisten.

(Beifall bei der SPD)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205020800
Als nächstes hat das Wort der Kollege Dr. Hermann Schwörer.

Dr. Hermann Schwörer (CDU):
Rede ID: ID1205020900
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte zu den Fragen der Wirtschafts- und Währungsunion etwas sagen. Hier hat der Kollege Wieczorek eine Reihe von interessanten Einzelheiten aufgezählt. Aber es ist gar nicht möglich, alle zu beantworten.
Aber eines möchte ich doch sagen. Herr Kollege Wieczorek, ich habe viele Sympathien für den letzten Vorschlag, den Sie gemacht haben, d. h. die demokratische Abstimmung noch vor dem Übergang zur dritten Stufe.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Nach meiner Meinung dürfen wir uns hier nicht unter Zeitdruck setzen lassen. Nicht Schnelligkeit, sondern Qualität und Solidität der gefundenen Lösungen sind hier gefragt.
Das zweite. Der oberste Wert muß die Stabilität des Geldwerts bleiben. Diese kann nicht alleine durch eine EG-Währungsbehörde gesichert werden. Hier muß auch eine nachhaltige Unterstützung durch die Finanz- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten zustande kommen. Besonders eine nationale Haushaltsdisziplin ist hier notwendig, die die Defizite begrenzt. Eine europäische Währung darf es nur geben, wenn sie ebenso stabil ist wie die Deutsche Mark; und eine stabile Währung ist immer noch wichtiger als eine einheitliche Währung.
Drittens. Eine unbedingte Voraussetzung für das Gelingen ist die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank. Das ist eine allgemein anerkannte Tatsache. Es wäre allerdings gut, wenn die Mitgliedstaaten, die heute so eilig auf die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion drängen, zuerst einmal bei sich zu Hause die Unabhängigkeit ihrer Zentralbank statuierten und garantierten.
Viertens. Damit das Zusammenwachsen zur Wirtschafts- und Währungsunion gelingt, muß parallel dazu die Gemeinschaft zur europäischen politischen Union weiterentwickelt werden. Dabei müssen föderale Strukturen und eine wirkliche Subsidiarität die Grundlage sein. Nur das, was unbedingt in Brüssel geregelt werden muß, soll dort beschlossen werden. Für alles andere soll die nationale Zuständigkeit bleiben. Eine bessere Transparenz und bessere demokratische Legitimation der europäischen Institutionen ist
unerläßlich. Das Europäische Parlament muß volle Mitwirkungsrechte bekommen.

(Zuruf von der SPD: Sehr gut!)

Als Wirtschaftspolitiker bin ich für einen wirksamen Wettbewerb in dieser Gemeinschaft, die durch die Wirtschafts- und Währungsunion gekennzeichnet wird. Ich lege hier noch besonderen Wert darauf, daß bei jeder Neuregelung — vor allem im Rahmen des Binnenmarktes — überprüft wird, ob diese Neuregelung den kleinen und mittleren Unternehmen in der Gemeinschaft die gleichen Chancen einräumt wie den Großbetrieben. Wir wollen kein Europa, dessen Wirtschaft von wenigen Konzernen beherrscht wird, sondern ein Europa, das durch eine Vielfalt von allen Formen der Unternehmen — kleine, mittlere und große Unternehmen — die produktiven Kräfte zu Höchstleistungen anspornt.
Nur so kann nach meiner Meinung Europa im Wettbewerb mit Japan und den USA bestehen und seine wichtigsten wirtschaftspolitischen Aufgaben erfüllen, die heißen: sichere Arbeitsplätze, soziale Sicherheit und Wohlstand für alle Europäer. Um dieses Ziel zu erreichen, wünschen wir, daß der Gipfel von Maastricht ein Erfolg wird.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205021000
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Erich Riedl.

Dr. Erich Riedl (CSU):
Rede ID: ID1205021100
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Aus der Sicht des Bundesministers für Wirtschaft erlaube ich mir die besonders wichtigen und unverzichtbaren Elemente einer Wirtschafts- und Währungsunion zu nennen, die in dem neuen EG-Vertrag zu verankern sind.
An erster Stelle steht die Verankerung einer marktwirtschaftlichen Ordnung im neuen EG-Vertrag. Zu den unverzichtbaren marktwirtschaftlichen Prinzipien, die im Vertrag verankert werden müssen, gehören insbesondere nach innen und außen offene Märkte, die Sicherung des Wettbewerbs, freie Preisbildung und eine strikte, transparente Beihilfenkontrolle.
Es versteht sich von selbst, daß die Unabhängigkeit des Zentralbankensystems, eine einheitliche Geldpolitik und eine klare Verpflichtung zur Preisstabilität unabdingbare Voraussetzungen für eine funktionsfähige marktwirtschaftliche Ordnung sind. Jede Art von protektionistischer, interventionistischer oder wettbewerbsverzerrender Politik der Gemeinschaft sollte vermieden werden.
Zweitens. Nach dem gegenwärtigen Stand der Vertragsverhandlungen ist vorgesehen, daß die zweite Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion bereits beginnen soll, auch wenn bis dahin keine genügenden und dauerhaften Fortschritte in der Konvergenz, insbesondere bezüglich der Preisstabilität und der Sanierung der öffentlichen Finanzen, erreicht sind. Um so wichtiger ist, daß diese Konvergenz vor dem Übergang in die dritte Stufe gesichert wird.



Parl. Staatssekretär Dr. Erich Riedl
Die Erfahrungen zeigen, daß hier klare quantitative Kriterien insbesondere für Preise, Leistungsbilanzen, Zinsen oder Haushaltsdefizite einzuführen sind. Das würde auch in der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion das Ziel einer auf Preisstabilität, gesunde öffentliche Finanzen und offene Märkte gerichteten Union ernstlich gefährden und ihre Akzeptanz in der Bevölkerung, zumindestens in den stärker stabilitätsorientierten Ländern, in Frage stellen. Ich kann hier nur unterstreichen, was der Herr Abgeordnete Dr. Schwörer gesagt hat: Dem überwiegenden Teil unserer Bevölkerung geht es in erster Linie um eine stabile Währung und erst in zweiter Linie um eine einheitliche Währung.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Drittens. Bei einer einheitlichen Währung kann die Geldpolitik nur einheitlich von der Europäischen Zentralbank entschieden werden. In der Wirtschaftspolitik sichert hingegen Subsidiarität am besten Effizienz und Rücksichtnahme auf die Befindlichkeiten von Bürgern unserer Regionen. Zugleich bleibt damit der Wettbewerb der Wirtschaftspolitiken zwischen den Mitgliedstaaten möglich, der den Weg zu mehr Effizienz für alle Länder aufzeigen kann. Verbindliche Leitlinien des Europäischen Rates für Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten halten wir aus diesem Grund für kontraproduktiv.
Als Verfechter einer marktwirtschaftlichen Grundordnung hält es die Bundesregierung für besser, den ordnungspolitischen Rahmen im EG-Vertrag zu verankern, die Mitgliedstaaten zu verpflichten, die Ziele ihrer Wirtschaftspolitiken für eine möglichst hohe Konvergenz abzustimmen, ihnen aber die Wahl der Instrumente freizustellen. Dies entspräche dem föderalen Prinzip, das Leitlinie für eine Europäische Union sein sollte und mit dem wir bei uns gute Erfahrungen gemacht haben. Die Gemeinschaftsdisziplin sollte durch eine verstärkte Koordinierung sichergestellt werden sowie durch die vertragliche Vereinbarung, daß weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaft für das wirtschaftliche Fehlverhalten eines anderen Mitgliedstaates haften.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205021200
Das Wort hat der Kollege Dr. Christoph Zöpel.

Dr. Christoph Zöpel (SPD):
Rede ID: ID1205021300
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Diese Aktuelle Stunde hat, glaube ich, die zwei Ebenen, auf denen derzeit die europapolitische Auseinandersetzung hier stattfindet, offengelegt. Es gibt die ruhige Ebene im Ausschuß. Da treffen sich die europafreudigen Experten und sind sich weitgehend einig, daß wir Europa wollen. Wir reden dort über Details. Ich will hinzufügen: Dort bekommen wir auch Auskünfte über die angestrengten, bemühten Verhandlungen der Bundesregierung, die versucht, den Wünschen nachzukommen, die von den Europa-Engagierten formuliert werden.
Aber dann nähert man sich — deshalb war diese Aktuelle Stunde notwendig — einigen Knackpunkten. Da merken wir die Defizite. Ich will die Knackpunkte nennen.
Es stellt sich die Frage: Wie steht Europa zum Prinzip der parlamentarischen Demokratie? Wie ist also die definitive Position dazu? Wenn es Mehrheitsentscheidungen im Rat gibt, gibt es dann die tatsächliche, voll gültige Mitentscheidung des Europäischen Parlaments?

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE])

Wir nähern uns der immer drängenderen Frage, daß es Sicherheitsaktionen der Gemeinschaft geben muß. Völlig ungelöst bleibt die Frage, wer denn darüber entscheidet, wann europäische Soldaten irgendwo etwas tun müssen, unter welchen Umständen auch immer.
Mehr im Inneren liegt ein anderes Defizit. Die Frage, welche Verfassungsänderungen bei welchen Vertragsentwürfen in der Bundesrepublik vorgenommen werden könnten, kann die Bundesregierung bisher in schriftlicher Form nicht beantworten. Wir mußten das im Ausschuß beantragen. Hier liegen die Defizite.
Wenn nun jemand fragt: Woran liegt das?, muß ich antworten: Es liegt an einem. Ich glaube nicht, daß Regierung und Staatssekretäre in Europa Demokratie und Parlamentarismus durchsetzen können.

(Beifall bei der SPD)

Wer selber zwölf Jahre lang erlebt hat, wie Verwaltungen sich verhalten, wird wissen: Das sind alles anständige Menschen; aber die Staatssekretäre und Ministerialbeamten sind nicht dazu geeignet, die Rechte des Parlaments zu verbessern. Das gelingt bei uns nicht, und das gelingt auch europaweit nicht.
Damit wird um so fataler, daß hier im Bundestag über Monate die ernst zu nehmende parlamentarische Begleitung dieses europäischen Prozesses durch die Rangeleien um die Bildung und — jetzt immer noch — um die Kompetenzen des Europa-Ausschusses behindert wurde. Das ist das Dilemma.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der gute Verhandlungswille der Bundesregierung ist vielleicht da. Aber wenn die Bundesregierung tatsächlich die Frage der Stärkung des Parlaments in Europa ernst nimmt, dann braucht sie alle europäischen Parlamente sozusagen als Lobby für diese Position und kann nicht verhindern, daß das eigene Parlament tätig wird.
Wir sind jetzt in einer Lage, wo man fast sagen kann: Es könnten Zielkonflikte zwischen Europa und der Demokratie auftreten. Ich fände das fatal. Deshalb müssen, glaube ich, die nächsten Wochen genutzt werden. Wenn jetzt in absehbarer Zeit Parlamentarier aus den osteuropäischen Ländern in ein europäisches Parlament kommen — wir wollen das ja — , dann muß eins klar sein: Die politische und geistesgeschichtliche Identität des Europas, das wir wollen, bedeutet, daß Europa überhaupt nur demokratisch gedacht werden kann,

(Beifall bei der SPD)




Dr. Christoph Zöpel
daß in diesem Europa, das wir wollen, die Kontrolle des staatlichen Handelns durch ein Parlament möglich ist — vor allem da, wo das staatliche Handeln besonders schicksalsträchtig wird, nämlich bei der Frage, wann Soldaten eingesetzt werden — und daß der öffentliche Dialog im Parlament und außerhalb des Parlaments das politische Ergebnis der Aufklärung ist, die dieses Europa konstituiert hat.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

Deshalb gibt es das Angebot der Sozialdemokraten an die Bundesregierung. Das, was Sie mit Ihren Staatssekretären und Beamten vielleicht nicht ohne Engagement verhandeln, bekommen Sie nur hin, wenn der Dialog mit allen europäischen Parlamenten beginnt.

(Zuruf von der FDP: Mit Frankreich darüber reden! — Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Wir sind hier im Deutschen Bundestag!)

— Herr Kollege, Sie werden doch nicht bestreiten können, daß dieser notwendige Dialog deutscher Parlamentarier mit den französischen auch dadurch behindert wurde, weil die deutschen Parlamentarier für Monate sozusagen aus dem Prozeß herausgenommen wurden.

(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Von wem? — Dr. Karl H. Fell [CDU/CSU]: Herr Zöpel, reden Sie mit Herrn Mitterrand!)

Jetzt drehe ich das um, was Herr Kittelmann eben gesagt hat, nämlich wir seien uns im Ausschuß immer einig und würden hier als Opposition etwas lauter werden. Ich konzediere Ihnen gerne, daß Sie und Ihre Kollegen sich im Ausschuß genauso beklagen wie wir, daß es ein Dreivierteljahr dem deutschen Parlament genommen wurde, sich engagiert in diesen Dialogprozeß einzuschalten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist zwar nicht wahr, aber das klingt gut! — Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Die Vorsitzende des Ausschusses weiß, wovon die Rede ist! — Dr. Karl H. Fell [CDU/CSU]: Die Franzosen haben doch ein ganz anderes Parlamentsverständnis! — Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Aber wir nehmen unseres wahr! Dafür sind wir gewählt!)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205021400
Das Wort hat jetzt überwiegend der Herr Abgeordnete Zöpel.

Dr. Christoph Zöpel (SPD):
Rede ID: ID1205021500
Ich will das, was ich bereits gesagt habe, wiederholen und damit zum Schluß kommen: Nichts ist endgültig verschenkt. Wenn nach dieser Debatte das gemeinsame Bemühen der Bundesregierung und des Parlaments noch intensiviert werden kann und der begonnene öffentliche Dialog — einige Zeitungen berichten jetzt ja etwas ausführlicher — noch deutlicher wird, dann besteht die Chance, daß wir zu Beginn des nächsten Jahres beides erreicht haben: ein demokratisches Europa, das handlungsfähig ist.
Danke schön.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE])


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205021600
Das Wort hat der Kollege Wilfried Seibel.

Wilfried Seibel (CDU):
Rede ID: ID1205021700
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Finanz- und Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik Deutschland hat durch den europäischen Wandel größere Bedeutung erfahren, insbesondere weil ihre Auswirkungen auf unsere Nachbarn in Europa sowie in der gesamten Weltwirtschaft bedeutsamer geworden sind.
Konjunkturelle Schwankungen und Störungen, die in unserem Lande nur marginale Größenordnung haben, wirken sich auf die Wirtschaft eines kleineren und ökonomisch schwächeren Partners in wesentlich größeren Prozentsätzen aus. Ein Drittel unseres Sozialproduktes wird durch die Exporte erzielt. Wir dürfen keine egoistische nationale Wirtschafts- und Finanzpolitik betreiben. Wir müssen uns dieser größeren Verantwortung stellen.
Es macht keinen Sinn, in Sonntagsreden von dem europäischen Einigungswerk zu schwärmen und bei anstehenden Fragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik beinharten nationalen Egoismus zu beweisen. Wir brauchen die europäische Wirtschafts- und Währungsunion bald, weil sie ein geeignetes Instrument zu Koordinierung nationaler Politik sein wird, so unangenehm und schmerzhaft das im Einzelfall auch sein mag.
Erreichen wir dieses Ziel nicht, ist das nicht nur ein Rückschlag für die Gemeinschaft, sondern es werden auch Hoffnungen und Erwartungen der Länder in Mittel- und Osteuropa zerstört.
Wir diskutieren, meine sehr geehrten Damen und Herren, in diesen Wochen über ein Steueränderungsgesetz, das uns in zwei wesentlichen Bereichen auch die Konsequenz europäischen Handelns abverlangt. Die Steuerharmonisierung muß voranschreiten; eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 15 % ist schon deshalb geboten, weil sich die Spanne dieser Steuer in Europa

(Zurufe von der SPD)

— gegen Fakten kann man doch nichts sagen, Herr Dr. Wieczorek — immer noch zwischen 12 % an der unteren Schwelle und 22 % an der oberen Schwelle bewegt.

(Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Deshalb können wir ja bei 14 % bleiben!)

— Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, werden auch hier im Parlament — und nicht nur im Vermittlungsausschuß, Herr Wieczorek — gefordert sein,

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

Ihre bisherige Ablehnung einer Erhöhung dahin gehend zu begründen, wie Sie dies im europäischen Einigungsprozeß rechtfertigen wollen.

(Zurufe von der SPD)

Der zweite Kernbereich des in der Beratung befindlichen Steueränderungsgesetzes ist eine Unterneh-



Wilfried Seibel
mensteuerreform. Die westdeutsche Wirtschaft hat kurzfristige und extreme Aufgabenstellungen, die sich nach dem Fall der Mauer ergeben haben, bravourös gemeistert. Die Beschäftigungslage verbessert sich im Westen, aber sie ist schlecht im Osten unseres Landes.

(Dr. Wolfgang Ullmann [Bündnis 90/ GRÜNE]: Und das nennen Sie „bravourös"?)

Als politisches Ziel streben wir doch wohl alle gemeinsam eine baldmögliche Herstellung von Vollbeschäftigung in allen Teilen unseres Landes an. Allein schon wegen dieser Umstände und um der Beschäftigung willen sollten wir bemüht sein, die Konkurrenzfähigkeit unserer Wirtschaft für den Export in andere Länder, aber auch für den Standort unserer Wirtschaft im Vergleich zu den Nachbarn erhalten.
Die Abschaffung der Substanzsteuern kann man nicht mit einer Neiddiskussion begleiten.

(Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Was hat das mit Europa zu tun? — Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Zur Sache!)

Auch hier werden Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, die sich bis heute dagegen erklärt haben, gefragt werden, wie Sie es mit der Dimension Ihrer Verantwortung für das Zusammenwachsen in Europa und für die Wirtschaft und Beschäftigung im eigenen Lande halten wollen.
Ich komme noch einmal auf unsere größere Verantwortung in Europa zurück. Die Einhaltung der Stabilität der Währung sowie die Unabhängigkeit einer europäischen Notenbank sind die unverzichtbare Hauptforderung für die Vereinbarungen zur Wirtschafts- und Währungsunion. Beides kann keinem anderen Ziel geopfert werden. Die Wirtschafts- und Währungsunion muß in diesem Jahr vereinbart werden, unabhängig davon, wie kompliziert, wie begrenzt oder wie umfassend das Ende der Verhandlungen in Maastricht sein wird. Sie ist unverzichtbar für die große Aufbauleistung in Mittel- und Osteuropa. Nur durch Instrumente der Koordinierung und der Abstimmung kann diese Aufgabe mit erheblichen europäischen Anteilen gelöst werden. Nationale Alleingänge können der Aufgabe nicht gerecht werden. Die Beratungen in Bangkok waren auch ein Beweis dafür.
Das wirtschaftliche Handeln braucht seine Einbindung in eine Politische Union, die bessere Instrumentarien hat, als sie die Europäische Gemeinschaft bisher aufweist. Was belegt dies eindrucksvoller als die Situation in Südeuropa?
Ich möchte an alle Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause appellieren, sich intensiv für die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion und der Politischen Union noch in diesem Jahr einzusetzen, und ich möchte weiterhin dafür plädieren, daß wir alle zusammen die größere Verantwortung unserer Wirtschafts- und Finanzpolitik für ganz Europa in unser politisches Handeln einfließen lassen. Ich erwähnte es: Eine Bewährungsprobe wird schon in aller Kürze hier im Hause anstehen, wenn es darum geht, ob wir bereit sind, unseren finanziellen Beitrag dazu zu leisten. Alle
Fraktionen werden daran gemessen, ob sie diese Verantwortung für Europa übernehmen wollen.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205021800
Nun hat das Wort das Geburtstagskind des heutigen Tages, nämlich der Kollege Michael Stübgen, dem wir natürlich herzlich gratulieren.

(Beifall)


Michael Stübgen (CDU):
Rede ID: ID1205021900
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vielen Dank für die Glückwünsche und den Beifall. Ich will nur kurz sagen: Für mich ist es eine besondere Ehre und eine besondere Freude, daß ich an diesem Tag hier reden kann. Ich hätte an meinem 30. Geburtstag selbst in meinen kühnsten Träumen so etwas nicht für möglich gehalten.

(Zustimmung bei der CDU/CSU und der FDP)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205022000
Zur Aufklärung: Das war vor zwei Jahren.

(Heiterkeit)


Michael Stübgen (CDU):
Rede ID: ID1205022100
Aber Europa ist das Thema, und das hat auch etwas mit Einigung zu tun. Wir stehen in Europa vor einer der größten Herausforderungen dieses Jahrhunderts: der Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion sowie der Schaffung einer Politischen Union in Europa. Besonders die Politische Union ist derzeit ein Ziel, das beharrlich angegangen werden muß. Dabei ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Politik — ich glaube, darin sind wir uns alle einig; es ist heute auch schon sehr oft gesagt worden — , daß die Rechte des Europa-Parlaments erheblich erweitert werden müssen.
Das Europaparlament ist das Forum, welches die Bürger auf europäischer Ebene vertritt. Ohne ausreichende Kompetenzen dieses Parlaments ist für uns die Politische Union und die Wirtschafts- und Währungsunion nicht vorstellbar.

(Beifall der Abg. Heidemarie WieczorekZeul [SPD])

Nur ein gestärktes Europaparlament vermittelt den Bürgern das Vertrauen über einen längeren Zeitraum hinweg, das ein „Europäisches Denken" und damit eine Akzeptanz der europäischen Gremien ermöglicht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Stärkung des Europaparlaments ist zwingend notwendig. Es muß zu einer wirklichen Volksvertretung der europäischen Bürger werden. Das kann es nur, wenn klare Aufgabenstellungen mit entsprechenden Kompetenzen verbunden werden. Ganz wesentlich ist hierbei ein Mitentscheidungs- und Kontrollrecht des EP in der Gesetzgebung, also eine Gleichstellung von Europaparlament und Europarat. Das schließt ein eigenes Klagerecht vor dem Europäischen Gerichtshof ebenso ein wie ein eigenständiges Untersuchungsrecht und ein subsidiäres eigenes Initiativrecht für den Fall, daß die Kommission trotz Aufforderung nicht tätig wird.



Michael Stübgen
Des weiteren halte ich es für wünschenswert, daß für die Zukunft auf die Verabschiedung eines einheitlichen europäischen Wahlgesetzes hingearbeitet wird. Das ist gegenwärtig nicht von essentieller Bedeutung, würde aber mit Sicherheit die Akzeptanz der Europolitiker in der Bevölkerung verbessern.
Von essentieller Bedeutung allerdings ist die Sicherung des Subsidiaritätsprinzips in den Verträgen zur Politischen Union. In diesem Zusammenhang begrüße ich die Verankerung dieses Rechtsgrundsatzes in Art. 3 b des Luxemburger Vertragsentwurfs. Das Subsidiaritätsprinzip, wie es sich nach dem deutschen Rechtsverständnis darstellt, daß nämlich eine größere gesellschaftliche Einheit nur dann zur Erfüllung einer gesellschaftlichen Funktion herangezogen werden soll, wenn diese von einer kleineren Einheit nicht erfüllt werden kann, sollte auf die europäische Ebene übertragen werden. Ich halte es auf lange Sicht nicht für ausreichend, die Aufgaben der Europäischen Gemeinschaft nur in einer Generalklausel zusammenzufassen. Es muß grundsätzlich geklärt werden, welche gesetzgeberischen Aufgaben auf die europäische Ebene zu verlagern sind.
Hier ist die Bundesregierung in ihrem Bemühen zu unterstützen, nur solche Bereiche in die Zuständigkeit der EG zu verlagern, in denen die Mitgliedstaaten die Aufgaben nicht zufriedenstellend wahrnehmen können. Dazu muß zwischen Zuständigkeiten auf EG-Ebene und solchen auf der der Mitgliedstaaten unterschieden werden. Meines Erachtens wäre die Erstellung eines Kataloges, in dem ausschließliche und konkurrierende Zuständigkeiten durch enumerative Aufzählung festgelegt werden, ein sinnvoller Weg. Einem solchen Katalog könnten jederzeit und nach Bedarf neue Aufgabengebiete hinzugefügt werden.
Um Streitigkeiten auf dem Gebiet der konkurrierenden Zuständigkeit zu vermeiden, sollte die EG immer dann zuständig sein, wenn die Mitgliedstaaten die Aufgaben nicht zufriedenstellend wahrnehmen können und die Bedeutung des Sachgebietes grenzübergreifend ist. Diese an Art. 30 ff. des Grundgesetzes angelehnte Lösungsvariante hat sich in der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland bewährt und sollte daher auch in den EG-Verträgen Beachtung finden.
Die hier beschriebene Beschränkung der EG auf bestimmte Aufgabengebiete innerhalb der Gesetzgebung ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Selbstbestimmung der europäischen Völker, die zur Bewältigung der Gesamtaufgabe zwar beschnitten, aber keineswegs aufgelöst werden kann. Auf der anderen Seite ist die Verlagerung von Bundes- bzw. Landeskompetenzen auf die EG auch eine Grundvoraussetzung für die Vertiefung und Erweiterung der Gemeinschaftskompetenzen.
Dringend notwendig ist gerade auch im Blick auf die Schaffung des EG-Binnenmarktes 1993 die Zusammenarbeit in innen- und justizpolitischen Bereichen wie z. B. die Bekämpfung der international organisierten Kriminalität, wo besonders im Bereich der Drogenkriminalität erste Erfolge zu verzeichnen sind.
Darüber hinaus bedarf der zur Zeit am meisten diskutierte Themenkreis, die sogenannte Asylproblematik oder Asylrechtsdiskussion, einer europaweiten Regelung, um einen Mißbrauch dieses Rechts wirkungsvoll zu verhindern.
Auch im Bildungswesen ist eine gesamteuropäische Regelung unumgänglich. Im Hinblick auf die geplante Niederlassungsfreiheit innerhalb der EG wird das besondes deutlich. Sie ist nur praktikabel, wenn die Schul- und Berufsabschlüsse europaweit anerkannt werden.
Meine Damen und Herren, ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205022200
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf:
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechtes für Mitarbeiter/-innen von Presse und Rundfunk und des entsprechenden Beschlagnahmeverbotes auf selbst erarbeitetes Material
— Drucksache 12/499 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß (federführend) Innenausschuß
b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechts für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Presse und Rundfunk sowie des entsprechenden Beschlagnahmeverbots auf selbsterarbeitetes Material
— Drucksache 12/1112 —Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß (federführend) Innenausschuß
Dazu ist im Ältestenrat vereinbart worden, eine halbe Stunde zu debattieren. Gibt es dazu Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster hat der Kollege Hans de With das Wort.

Dr. Hans de With (SPD):
Rede ID: ID1205022300
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir heute in erster Lesung den Entwurf der SPD-Bundestagsfraktion für ein Gesetz zur Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechts für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Presse und Rundfunk und den parallelen Entwurf des Bundesrates hierzu beraten, so ist das — um mit den Filmemachern zu sprechen — eine Reprise, die Wiederaufnahme eines alten Stückes.
Die SPD-Bundestagsfraktion hatte nämlich schon in der letzten Legislaturperiode, vor fast zwei Jahren, genau am 12. Oktober 1989, denselben Entwurf im Deutschen Bundestag eingebracht. Die Länder Hamburg und Berlin hatten entsprechende Entwürfe dem Bundesrat vorgelegt. Die unionsregierten Länder konnten seinerzeit beide Länderinitiativen ebenso verhindern, wie CDU/CSU und FDP am 11. Oktober



Dr. Hans de With
1990, unmittelbar vor Schluß der letzten Legislaturperiode, den SPD-Antrag im Deutschen Bundestag dadurch zu Fall brachten, daß sie ganz einfach einen Vertagungsantrag durchsetzten, der im Grunde die Ablehnung bedeutete. Ich sage hierzu: wahrhaftig kein Ruhmesblatt für die Union und erst recht nicht für die Liberalen.
Wenn wir Sozialdemokraten heute einen neuen Anlauf wagen, dann in der Hoffnung, daß vielleicht die Regierungsparteien und insbesondere die FDP hin und wieder einem Lernprozeß unterliegen.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Sie nicht?)

— Sicher auch, wenn es not tut, und vielleicht manchmal rascher als Sie.
Die Bundesregierung hat allerdings in ihrer Stellungnahme zum Bundesratsentwurf gemeint, daß ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf zweifelhaft sei, des weiteren — das muß ich einfach zitieren — dann doch ausgeführt:
Eine Begrenzung des Aussagezwanges und der Beschlagnahme kann sich auch unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes unmittelbar aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG ergeben, wenn in besonders gelagerten Fällen nach einer Abwägung der widerstreitenden Interessen dem Geheimhaltungsinteresse der Presse gegenüber den Erfordernissen der Strafrechtspflege der Vorrang ... (gegeben wird).
Herr Staatssekretär, das sieht ein bißchen so aus wie ein „Ja, aber, jedoch eigentlich doch nicht". Was wollen Sie damit präzise sagen?
Und das alles auf dem Hintergrund des Anhörungsverfahrens vom 18. Mai 1990, in dem die weit überwiegende Mehrzahl aller Anhörpersonen und Sachverständigen erklärt hatte, daß eigentlich unserem Entwurf entsprochen werden sollte.
Ich glaube, daß es jetzt an der Zeit ist, einen Schritt nach vorn zu wagen, und zitiere noch einmal, was das Verfassungsgericht hierzu am 1. Oktober 1987 zur Beschlagnahme von selbst recherchiertem Filmmaterial des ZDF gesagt hatte. Es hatte ausgeführt, es sei „Raum für eine weitergehende Begrenzung des Aussagezwanges", und es bedürfe „sorgfältiger Abwägung, ob und inwieweit die Erfüllung der publizistischen Aufgaben einen Vorrang der Presse und Rundfunkfreiheit fordert" .
Zugegebenermaßen muß damit verfassungsrechtlich — ich sage: „muß" — eine Ausdehnung dieser Art nicht erfolgen. Aber sie ist durchaus möglich. Wir Sozialdemokraten meinen nun, daß die Rechtswirklichkeit im Rahmen dieses vorgegebenen verfassungsrechtlichen Spielraumes eine solche Erweiterung des journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts und, diesem folgend, auch des Beschlagnahmeverbotes einfach nötig macht.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE])

Was wollen wir? Gegenüber dem geltenden Recht soll es folgende Änderungen geben:
Erstens. Das Zeugnisverweigerungsrecht wird auch auf selbsterarbeitete Unterlagen, soweit es sich um solche für den redaktionellen Teil handelt, erstreckt. Damit wird auch die eigenrecherchierte Filmdokumentation in das Zeugnisverweigerungsrecht eingebunden.
Zweitens. Die bisherige Beschränkung des Zeugnisverweigerungsrechts allein bei der Herstellung von periodischen Druckwerken wird auf alle Arbeiten des Journalisten ausgedehnt. Damit wird die Materialbeschaffung eines Journalisten in Zukunft genauso geschützt wie die Arbeit eines Buchautors.
Drittens. Es bleibt jedoch dabei — das meinen auch wir —, daß der so erweiterte Schutz vor Aussagezwang bzw. Beschlagnahmen nur berufsmäßigen Journalisten zugute kommen soll.
Nun hat das Bundesverfassungsgericht — wie bereits zitiert — vorgegeben, daß die Pressefreiheit ihre Grenzen vor unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung findet. Um dieses Spannungsverhältnis zu lösen, haben wir vorgeschlagen, daß das erwähnte Aussageverweigerungsrecht mit dem Beschlagnahmeverbot dann nicht gelten soll, wenn wegen bestimmter schwerer Kapitalverbrechen ermittelt wird, die in einem Katalog aufgeführt sind. Die Pressefreiheit soll bei diesen Katalogtaten allerdings nur dann zurücktreten, wenn die Inanspruchnahme der Presse- bzw. Rundfunkangehörigen als Zeugen unentbehrlich ist, weil andernfalls die Erfoschung des Sachverhalts und die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Beschuldigten aussichtslos oder wesentlich erschwert sein würden. Wir haben hier also das Subsidiaritätsprinzip eingebaut.
Der Vorschlag des Bundesrates für diesen Katalog weist nun unserem gegenüber eine Erweiterung auf, nach der die Berechtigung zur Zeugnisverweigerung über den Inhalt selbsterarbeiteter Unterlagen dann entfällt, wenn eine Straftat Gegenstand der Untersuchung ist, wegen der eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr zu erwarten ist. Dies stellt im Kern — das verhehle ich nicht — gegenüber unserer Vorlage eine Abschwächung des Zeugnisverweigerungsrechts und damit eine Behinderung der Pressearbeit dar, für die wir wenigstens zur Zeit keine Berechtigung sehen.
Gleichwohl — das sage ich den Damen und Herren der Regierungskoalition — will ich deutlich machen, daß unser Katalog von Straftaten, bei denen das Zeugnisverweigerungsrecht und das Beschlagnahmeverbot zurücktreten müssen, nicht die endgültige Fassung sein muß. Hier lassen wir mit uns reden.
Wir meinen, daß bei der Abwägung zwischen der Freiheit der Berichterstattung und der Pflicht zur Ermittlung von Tatsachen bei Kapitalverbrechen unter Heranziehung aller Beweismöglichkeiten in der Tat sehr sorgfältig verfahren werden muß.
Wir meinen aber auch — das mache ich deutlich —, daß die durch das Grundgesetz gewährleistete Freiheit der Berichterstattung von Presse, Rundfunk und Film und die damit einhergehende Informationsfreiheit für eine freiheitliche demokratische Grundordnung schlechthin konstituierend sind und sich deshalb die Beweismittelheranziehung im Strafverfahren dann eine Beschränkung gefallen lassen muß, wenn



Dr. Hans de With
die dahinter stehenden Straftaten einfach nicht gravierend sind.
Im übrigen ist nicht einzusehen, warum nach bisherigem Recht selbstrecherchiertes Material bei periodischen Druckwerken und Rundfunksendungen dem Zeugnisverweigerungsrecht und dem Beschlagnahmeverbot nicht unterliegen soll, wohingegen die Gewinnung desselben Materials durch einen Dritten entsprechend zu schützen ist. Im übrigen ist die Grenze zwischen der Unterstützung durch Dritte bei der Materialsammlung und dem selbstrecherchierenden Journalisten durchaus fließend und im einzelnen in der Tat nicht genau abzugrenzen. Wieso soll es eigentlich einen Unterschied machen, ob der Journalist selbst gefilmt hat oder ob er sich einen solchen Film von einem vor ihm stehenden Amateurfilmer hat geben lassen?
Die Bundesregierung wird sich fragen müssen, wie sie es vertreten kann, daß nach ihrer Behauptung angeblich — hören Sie zu, Herr Staatssekretär — derzeit in besonderen Fällen nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eine Begrenzung des Aussagezwangs und der Beschlagnahme möglich sein soll, wenn gerade das Verfassungsgericht auf den Gesetzgeber verwiesen hat und diese Situation mangels Rechtsprechung ohne jewede gesetzliche Regelung und damit völlig unklar ist.
CDU/CSU und FDP darf ich deshalb bitten, ihren Standpunkt noch einmal zu überdenken. Auch Sie sollten einsehen, daß der Journalist im Tagesgeschäft Behinderungen dann nicht erfahren sollte, wenn gravierende Straftaten einfach nicht Gegenstand seiner Untersuchungen sind.
Vielleicht hilft es Ihnen — um an meine Eingangsworte anzuknüpfen — , daß es sich bei dieser Veranstaltung hier zwar — wie ich sagte — um eine Reprise, um ein altes Stück handelt, aber wenn ich mir hier die einzelnen Gesichter anschaue, doch nicht genau mit der alten Besetzung.
Vielen herzlichen Dank.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205022400
Das Wort hat der Kollege Joachim Hörster.

Joachim Hörster (CDU):
Rede ID: ID1205022500
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei den beiden vorgelegten Gesetzentwürfen treffen wir inhaltlich alte Bekannte. Wir haben in der letzten Wahlperiode das gleiche Thema an Hand eines Gesetzentwurfes, der GRÜNEN diskutiert. Anlaß dieses Gesetzentwurfes war die Verwertung von bei Demonstrationen gewonnenem Material. Mein Kollege Manfred Langner, der damals dieses Feld hier behandelt hat, hat schon seinerzeit darauf hingewiesen, daß es eigentlich keinen Anlaß gibt, aus dem Grund, das möglicherweise Demonstranten Presseberichterstatter gefährden, weil diese Bildaufzeichnungen machen, nun hier das Zeugnisverweigerungsrecht entsprechend auszudehnen.
Bis heute hat sich der Sachstand in dieser Frage eigentlich nicht geändert. Auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stellt keinen Grund dar, das Zeugnisverweigerungsrecht auszudehnen und die entsprechenden Vorschriften der Strafprozeßordnung zu ändern.
Ich darf aus der Stellungnahme der Bundesregierung zum Gesetzentwurf des Bundesrates und der SPD-Fraktion kurz zitieren:
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluß vom 1. Oktober 1987
— dabei ging es um die Verwertung von so gewonnenem Filmmaterial —
festgestellt, daß die gegenwärtige Gesetzeslage weder verfassungsrechtlich zu beanstanden noch ein verfassungsrechtlicher Grund erkennbar ist, der es gebietet, Journalisten in bezug auf selbst recherchiertes Material ein Zeugnisverweigerungsrecht zu gewähren. Das Bundesverfassungsgericht hat auch keine Bemühungen des Gesetzgebers um differenziertere Regelungen angeregt.
Weiter wird in der Stellungnahme der Bundesregierung ausgeführt, daß es im europäischen Rechtsraum, also im Rechtsraum der demokratischen Staaten, keine vergleichbare Rechtsetzung gibt, wie sie nun von den Sozialdemokraten und vom Bundesrat gewünscht wird.
Die SPD selbst hat denn auch in ihrer Begründung zum eigenen Gesetzentwurf gesagt, daß Zeugnisverweigerungsrecht und Beschlagnahmeverbote Ausnahmen von der Pflicht zur umfassenden Aufklärung der materiellen Wahrheit im Strafverfahren darstellen. Man hat dann einen Katalog eingeführt, aus dem ersichtlich ist, daß es Straftaten gibt, die man nicht umfassend aufzuklären braucht, und solche, die man umfassend aufklären muß. Das ist eine Differenzierung, die ich unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten für ausgesprochen bedenklich halte.
Die Begründung, mit dieser Differenzierung des Katalogs werde das Spannungsverhältnis zwischen einer gesicherten Strafverfolgung und einer Sicherung der Rechtsordnung einerseits und der Meinungsfreiheit nach Art. 5 des Grundgesetzes andererseits gelöst, erscheint mir insgesamt etwas dürftig.
Im Zusammenhang mit dem Gladbecker Geiseldrama sind auch Medien auf Grund dessen, was dort gemacht worden ist, kritisiert worden. Dabei haben wir in extenso die Herstellung von Bild- und Filmmaterial bei einem verbrecherischen Vorgang feststellen können. Damals hat der Chefredakteur der ,,Süddeutschen Zeitung" in einem sehr ausgewogenen Artikel ausgeführt, was nach meinem Dafürhalten von uns hier im Bundestag sehr stark zu bedenken ist:
Schon seit langem erliegen die Medien immer wieder der Versuchung, sich als erste und letzte Instanz aufzuführen und Sonderrechte zu beanspruchen.

(Ingrid Roitzsch [CDU/CSU]: Wie wahr!)

Solche Sonderrechte gibt es jedoch nicht. Das Recht auf Information berechtigt nicht zur Behinderung der Verbrechensbekämpfung.
Wenn man die Dinge in der gegenwärtigen Landschaft betrachtet, dann stellt man fest, daß die Gesetzentwürfe der Sozialdemokraten und des Bundesrates



Joachim Hörster
vom Zeitpunkt her ausgesprochen pikant sind. Ich habe das besondere Vergnügen, Mitglied des Untersuchungsausschusses zu Schalck-Golodkowski zu sein. Dort geht es um die Aufklärung von Tatsachen, die mit dem noch nicht vorhandenen Straftatbestand der Regierungskriminalität beschrieben werden. Es vagabundieren Akten des Stasi, sie werden gekauft, verkauft, verhökert, meistbietend versteigert. Die Gauck-Behörde beansprucht diese Akten nach Recht und Gesetz für sich, bekommt sie aber nicht. Die Medien werden vom Untersuchungsausschuß angeschrieben, man möge bitte die Akten herausrücken, damit sie einer strafrechtlichen und rechtlichen Überprüfung zugeführt werden können. Alles das findet nicht statt. Man läßt es darauf ankommen, bis irgendwann einmal eine Beschlagnahmeverfügung auf einer Grundlage, die vielleicht am ehesten vom Untersuchungsausschuß herbeizuführen sein wird, durchgesetzt werden könnte.
Gerade in dieser Landschaft, wo wir umfassend ermitteln müssen, um das Stasi-System mit all seinen Verstrickungen aufzudecken, wo wir gar nicht wissen, ob alles das, was aufgeklärt wird, nun immer auch gleich einen strafrechtlichen Belang hat, wo viele Dinge aber Aufschluß darüber geben könnten, wo strafrechtliche Ansätze sind, diskutieren wir über ein Zeugnisverweigerungsrecht. Sie müßten mir dann bitte erklären, ob solche Stasi-Akten, die herumvagabundieren und vielleicht für 500 000 DM, vielleicht für 150 000 DM, vielleicht auch für 2 Millionen DM gekauft worden sind, selbst recherchiertes Material sind oder nicht.

(Dr. Hans de With [SPD]: Das hat damit nichts zu tun, ob das selbst recherchiertes Material ist!)

Diese Frage müßten Sie schon beantworten. Auch andere Materialien, die z. B. von der Presse erarbeitet werden, wenn es um Subventionsbetrug oder andere Dinge geht — auch das liest man gelegentlich in der Zeitung — , sind doch wohl selbst recherchiertes Material, einschließlich so mancher Fotokopien, die wir auch aus staatsanwaltschaftlichen Akten vorfinden, manchmal sogar die Anklage, bevor der Angeklagte sie erhalten hat. Wir müssen darüber diskutieren, was selbst recherchiertes Material ist.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205022600
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Joachim Hörster (CDU):
Rede ID: ID1205022700
Aber sehr gern.

Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):
Rede ID: ID1205022800
Herr Kollege Hörster, schönen Dank. — Sind Sie bereit, zu würdigen, anzuerkennen, daß wir das Problem der herumvagabundierenden Akten aus dem Bereich des Ministeriums für Staatssicherheit im Stasi-Unterlagengesetz einvernehmlich, interfraktionell mit dem Ziel regeln wollen, daß dies, soweit es überhaupt praktisch möglich sein wird, unterbunden wird?

(Dr. Hans de With [SPD]: Das ist der nächste Tagesordnungspunkt!)


Joachim Hörster (CDU):
Rede ID: ID1205022900
Das Stasi-Unterlagengesetz befaßt sich natürlich mit den Akten, die die Gauck-Behörde hat. Aber was sagt das Stasi-Unterlagengesetz zu folgendem? Das ist ein Auszug aus der „Quick" : „Die Buchsensation im Herbst 1991: ,Die Schalck-Papiere"' — eine Pflichtlektüre auch für den Bonner KoKo-Untersuchungsausschuß, die Generalbundesanwaltschaft und die ermittelnde Staatsanwaltschaft in Berlin — , „enthalten bisher völlig unbekanntes Beweismaterial gegen Schalck, auf insgesamt 416 Seiten mit ca. 50 Fotos und 50 brisanten Dokumenten ... " Ich will nicht noch verkünden, wo man das kaufen kann.
Das ist doch die Landschaft, in der Sie diese Gesetzesänderung herbeiführen wollen, die mit Sicherheit nicht dazu beiträgt, die Möglichkeiten des Staates zu erhöhen, die Sachverhalte auch die frühere DDR betreffend aufzuklären.
Daher muß ich auch die Sozialdemokraten einmal bitten, zu erklären, warum sie es im gegenwärtigen Zeitpunkt für so dringlich halten, dieses Gesetz einzubringen, obwohl wir viel dringendere Aufgaben vor uns haben und niemand — weder die Gerichte noch das Verfassungsgericht noch die seriöse Presse — darüber klagt, daß die Zeugnisverweigerungsrechte nicht ausreichend seien. Dennoch werden wir natürlich, wie sich das gehört, diese Gesetzentwürfe in den Ausschüssen beraten, aber es wird keine endgültige Fassung geben.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205023000
Das Wort hat Herr Professor Uwe-Jens Heuer.

Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS):
Rede ID: ID1205023100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit den beiden Gesetzentwürfen ist die gewichtige Frage des Verhältnisses von Medienfreiheit — oder besser Kommunikationsfreiheit — und dem Gebot wirksamer Strafverfolgung wieder einmal aufgeworfen. Zwischen Grundrechtsverwirklichung und Staatsinteressen treten auch hier Konflikte auf. Die jeweilige Grenzlinie wird durch Aktionen der Presse, der Exekutive, durch Entscheidungen der Justiz, des Bundesverfassungsgerichts und — wie hier — durch Gesetze immer wieder neu festgelegt.
Die Gesetzentwürfe fordern eine Ausdehnung des Zeugnisverweigerungsrechts der Journalisten in bezug auf das selbst erarbeitete Material über den Schutz des Vertrauensverhältnisses von Medien und Informanten hinaus. Zugleich wird für eine Reihe von Straftatbeständen dieses Zeugnisverweigerungsrecht wieder aufgehoben.
Das Grundanliegen der Entwürfe ist zu begrüßen. Auch nach unserer Auffassung ist hier eine rechtliche Klarstellung geboten. Der staatliche Zugriff auf eigenrecherchiertes Material kann mittelbar zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Erlangung bestimmter Informationen führen. Immer wieder werden beispielsweise Bildfotografen beim Fotografieren von Demonstranten erheblich behindert, weil die fotografierten Personen die spätere Beschlagnahme und anderes fürchten.
Die Bundesregierung wendet sich gegen die Vorschläge u. a. mit der Begründung, daß gerade im Zu-



Dr. Uwe-Jens Heuer
sammenhang mit gewalttätigen Demonstrationen der Zugriff auf umfassendes Erkenntnismaterial erforderlich sei. Der Straftatenkatalog müßte im einzelnen genau diskutiert werden. Wenn die Bundesregierung allerdings die Aufnahme des Landfriedensbruchs und anderer Tatbestände fordert, so wird hier die Absicht deutlich gemacht, die „Geschehensabläufe bei gewalttätigen Demonstrationen" mit Hilfe von Pressematerial, mit Hilfe von Pressefotos objektiv nachvollziehen zu können. Wir sind gegen solche Versuche, Journalisten zu mittelbaren Organen der Strafverfolgung zu machen.
Ich sehe in den Gesetzentwürfen also einen wichtigen Ansatz, um die Kommunikationsfreiheit zu stärken. Allerdings bin ich nicht der Meinung, daß in der heutigen Situation Kommunikationsfreiheit nur durch Zugriffe des Staates auf die Kommunikationsinhalte bedroht ist. Wir brauchen in der Öffentlichkeit wie im Bundestag eine komplexe Diskussion über den Zustand der Kommunikationsfreiheit in diesem Land.

(Lachen des Abg. Detlef Kleinert [Hannover] [FDP])

Es gibt meines Erachtens schwerwiegende Deformationen dieses Grundrechts in der gesellschaftlichen Realität. Kommunikationsfreiheit ist massiv bedroht durch die Macht der großen Medienkonzerne und überhaupt des großen Geldes und durch die Staatsnähe von Hörfunk und Fernsehen.

(Detlef Kleinert [Hannover] [FDP]: Wie ist Ihnen das nur eingefallen!)

Wir sind weit entfernt von einer Gesellschaft, in der die verschiedenen in der Bevölkerung vorhandenen politischen Strömungen und Meinungen in den Medien chancengleich zum Ausdruck kommen. Die letzten freien Presseorgane wie die Zeitung „Wir in Leipzig" unterliegen im Konkurrenzkampf mit den Pressemonopolen.

(Zuruf von der CDU/CSU: „Neues Deutschland" !)

Beim Lesen von Zeitungen und Illustrierten — hierüber ist soeben gesprochen worden — drängt sich die Frage auf, ob es bereits einen Marktpreis für Stasi-Akten gibt.
Ich höre oft, das alles sei der Preis der Freiheit. Nur, es ist so, daß es sich um die Freiheit der einen handelt, den Preis aber andere bezahlen.
Hörfunk und Fernsehen — für eine kurze Zeit frei vom Druck von oben — haben sich neuen Herren in der „Rundfunkkolonie Ost" zu fügen.

(Zuruf von der FDP: Zu welchem Thema reden Sie eigentlich? Um was geht's denn hier?)

Es gibt eine staatliche Mediengleichschaltungspolitik, die mittels eines von Westdeutschland importierten Parteienproporzapparats Machtstrukturen etabliert, die in der Verfassungswirklichkeit wenig Raum für die in Art. 5 des Grundgesetzes verankerte Kommunikationsfreiheit lassen.
Über der Debatte über die vorliegenden Gesetzentwürfe darf man diese verhängnisvollen Tendenzen nicht übersehen.
Danke schön.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zuruf von der FDP: Zu was haben Sie eigentlich gesprochen?)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205023200
Nun hat der Kollege Detlef Kleinert das Wort.

(Zuruf von der FDP: Forsch! Jetzt wird er zurechtgebügelt!)


Detlef Kleinert (FDP):
Rede ID: ID1205023300
Die beispielhafte Darstellung der Tätigkeit der Redaktion des „Neuen Deutschland" durch den Kollegen Heuer hat uns alle zu Tränen gerührt.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich möchte die Sache aber hier nicht vertiefen, weil das ja erkennbar neben dem Thema lag.

(Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Alkohol?)

Die durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes gewährleistete Rundfunkfreiheit hat hohen Rang. Sie ist ebenso wie die Pressefreiheit, die Freiheit der Meinungsäußerung und die Informationsfreiheit schlechthin konstituierend für die freiheitlich-demokratische Grundordnung. —

(Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das hat de With schon gesagt!)

Das ist ein Zitat aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1987, das der SPD-Fraktion Veranlassung gegeben hat, hier erneut einen Entwurf vorzulegen, was die SPD-Fraktion ja durchaus ehrt.
Zu unterschiedlichen Zeiten ist in allen Fraktion des Hauses — davon gehe ich aus — immer wieder versucht worden, den hier bestehenden Gegensatz aufzulösen, nämlich den Gegensatz zwischen den Notwendigkeiten der Strafverfolgung — nicht etwa im Interesse nur einer Verurteilung, sondern genauso im Interesse eines Freispruchs, was ich bei dieser Gelegenheit nicht zu übersehen bitte — und dem Bedürfnis des Journalisten, seine Quellen für die Früchte seiner Arbeit möglichst vertraulich zu erhalten, damit diese Arbeit in der Zukunft nicht Schaden nimmt. Das ist aber wohl eine Aufgabe, bei der man nur Näherungserfolge erzielen kann und bei der man einem wirklich befriedigenden Ergebnis — das liegt in der Natur derartiger Zielkonflikte — , nicht endgültig wird nahekommen können.
Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich im selben Urteil gesagt: Der Gesetzgeber ist weder gehalten — das wäre ja noch nicht so schlimm — , noch steht es ihm frei, der Presse- und Rundfunkfreiheit absoluten Vorrang vor anderen wichtigen Gemeinschaftsgütern einzuräumen. Er hat insbesondere auch den Erf ordernissen einer an rechtsstaatlichen Garantien ausgerichteten Rechtspflege Rechnung zu tragen. — Das ist die andere Seite derselben Medaille.
Deshalb werden wir uns, wie es Herr Kollege Hörster, wenngleich in einer teleologisch etwas bestimmten Form dargestellt hat,

(Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sehr zurückhaltend!)




Detlef Kleinert (Hannover)

der Diskussion des Entwurfs, den die Sozialdemokraten vorgelegt haben, überhaupt nicht verweigern, weil uns kein Versuch zu schwierig ist, hier der Lösung des Problems ein wenig näherzukommen.
Ob der Katalog, der jetzt vorgelegt worden ist, zur säuberlichen Abgrenzung zwischen dem schädlichen und dem unschädlichen Teil des Materials führt, ist von Herrn de With offengelassen worden.

(Dr. Hans de With [SPD]: Na! Also! — Dieter Wiefelspütz [SPD]: Alles schon gesagt!)

Das werden wir miteinander mit aller gebotenen Unbefangenheit zu besprechen haben.
Ich weiß nicht, ob wir angesichts des nun einmal bestehenden Spannungsverhältnisses zu einem einigermaßen befriedigenden Ergebnis kommen können. Daß nicht nur von seiten der Presse, sondern auch von vielen anderen Berufsgruppen in diesem Lande immer wieder der Wunsch nach Geheimhaltung, nach Zeugnisverweigerungsrechten oder anderen Privilegien gegenüber den Erfordernissen einer geordneten Strafverfolgung erhoben wird, macht uns die Sache keineswegs einfacher. Wir werden eine sicherlich — auch beim wiederholten Male — interessante Diskussionen zu führen haben.
Danke schön.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205023400
Das Wort hat der Kollege Konrad Weiß.

Konrad Weiß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1205023500
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Medien sind in unserer Welt die vierte Gewalt. Der zunehmenden Bedeutung und der zunehmenden Macht der Medien müssen wir gerecht werden. In Ausfüllung des Grundgesetzes kommt es darauf an, einen rechtlichen Rahmen zu schaffen, der auf der einen Seite vor Mißbrauch und auf der anderen Seite vor unangemessenen Einschränkungen schützt. Wir haben in der vergangenen Woche über Maßnahmen im Zusammenhang mit der Herstellung von Kinderpornographie debattiert; das ist die eine Seite. Heute debattieren wir über ein Zeugnisverweigerungsrecht für Journalisten; das ist die andere Seite.
Herr Kollege, die Stasi-Akten haben mit diesem Thema überhaupt nichts zu tun. Die Stasi-Akten sind in der Regel — nehme ich jedenfalls an — nicht von Journalisten angefertigt worden, sondern von Mitarbeitern des MfS. Natürlich gibt es da Überschneidungen, aber ich glaube, das kann man im theoretischen Bereich lassen. Die Stasi-Akten sind ja auch ganz eindeutig definiert, und auch das Stasi-Gesetz wird da ganz eindeutige Rechtsgrundlagen schaffen.
Schwierig ist es, dieses Spannungsfeld zwischen der notwendigen Pressefreiheit auf der einen Seite und der ebenso notwendigen Strafrechtspflege auf der anderen Seite so auszufüllen, daß man beidem gerecht wird. Selbstrecherchiertes Material im Gegensatz zu Material, das Medien über Dritte zugeht — und da haben wir die Stasi-Akten —, unterliegt bisher nicht dem Zeugnisverweigerungsrecht.
Der vorliegende Antrag soll hier in drei wesentlichen Punkten Abhilfe schaffen: erstens durch die
Ausweitung des Zeugnisverweigerungsrechtes auf selbst erarbeitete Unterlagen, soweit es sich um redaktionelle Arbeit handelt. Ich bin auch der Meinung, es ist richtig, dieses Privileg nur den berufsmäßigen Journalisten zukommen zu lassen. Ich finde es zweitens richtig, Filmberichterstattung ebenfalls einzubeziehen. Und drittens finde ich es richtig, die entsprechenden Regelungen für periodische Druckwerke auch auf andere Druckwerke auszuweiten, so wie der Entwurf des Bundesrates es vorsieht.
Die Gruppe Bündnis 90/GRÜNE im Deutschen Bundestag wird an beiden Gesetzentwürfen weiterhin mitarbeiten.
Danke.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205023600
Nun hat der Parlamentarische Staatssekretär Rainer Funke das Wort.

Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1205023700
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Dr. de With hat bereits darauf hingewiesen, daß es sich bei diesem Gesetzentwurf um ein altes Vorhaben handelt, dem die Bundesregierung mit Skepsis begegnet. Ich kann dies nur wiederholen.
Ich will darauf hinweisen, daß das Bundesverfassungsgericht in seiner Brockdorf-Entscheidung bestätigt hat, daß es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, daß die Strafverfolgungsbehörden grundsätzlich auf selbst recherchiertes Material von Journalisten zugreifen können. Deshalb wird auch kein Tätigwerden des Gesetzgebers im Sinne differenzierter Regelungen angeregt. Kollege Kleinert hat soeben wortwörtlich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zitiert.
Das geltende Recht gestattet keineswegs die schrankenlose Beschlagnahme selbstrecherchierten Materials. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und die im Einzelfall erforderliche Abwägung gegen die verfassungsrechtlich verankerte Pressefreiheit wirken hier einschränkend. Das haben Sie, Herr Dr. de With, in Ihren Ausführungen bereits selbst eingeräumt. In besonderen Fällen kann sich ein Beschlagnahmeverbot direkt aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes ergeben.
Unter Berücksichtigung des erforderlichen, angemessenen Ausgleichs zwischen Wahrheitsfindung im Strafprozeß — und damit dem Rechtsstaatsprinzip — sowie der Pressefreiheit werfen die hier vorliegenden Entwürfe vielfältige Probleme auf.
Zunächst erscheint es fraglich, ob die Entwürfe die immer wieder behauptete Beeinträchtigung journalistischer Arbeit würden bannen können; denn nach wie vor müssen die von den Recherchen Betroffenen mit für sie nachteiligen Veröffentlichungen sowie mit dem Zugriff der Strafverfolgungsbehörden auf dieses Material rechnen.
Die vorgeschlagenen Straftatenkataloge zur Regelung der Ausnahmen sind im Bereich der Zeugnisverweigerungsrechte systematisch ein Fremdkörper und werfen Probleme der Praktikabilität und Probleme



Parl. Staatssekretär Rainer Funke
hinsichtlich der Übersichtlichkeit auf. Ich glaube, Herr Dr. de With, das sind Bedenken, die im Prinzip auch Sie teilen, und es ist Ihnen sicherlich auch nicht ganz leicht gefallen, auf diesen Katalog zurückzugreifen. Ob in den Katalogen die unter Berücksichtigung der berechtigten Belange der Strafrechtspflege erforderlichen Ausnahmen erfaßt sind — dies gilt insbesondere hinsichtlich des Katalogs in dem SPD-Entwurf — , erscheint demgemäß sehr zweifelhaft.
Wesentlich erscheint mir, daß der Verteidigung — darauf hat ja auch besonders die Bundesrechtsanwaltskammer hingewiesen — wichtiges Erkenntnismaterial entzogen und damit der Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren berührt würde. Auch ein beim Max-Planck-Institut in Freiburg eingeholtes, die USA und den westeuropäischen Rechtskreis einbeziehendes Gutachten ergab keinen Impuls für eine Erweiterung der Beschlagnahmefreiheit.
Insoweit möchte ich auf die Untersuchung zurückgreifen, die, Herr Dr. de With, Ihr Fraktionskollege Professor Jürgen Meyer in einem Gutachten des MaxPlanck-Instituts niedergelegt hat. Er hat darauf hingewiesen, daß es eine vergleichbare Bestimmung in den USA und auch im europäischen Rechtskreis nicht gebe.
Bei Abwägung aller Gesichtspunkte scheinen mir die allen widerstreitenden Interessen angemessenen Lösungsmöglichkeiten auf der Basis des geltenden Rechts durchaus zu bestehen. Es bedarf keines neuen Gesetzes, das von der SPD hier als Entwurf vorgelegt worden ist.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205023800
Damit liegen keine weiteren Wortmeldungen mehr vor. Die Aussprache ist geschlossen.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 12/499 und 12/1112 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 3 bis 5 auf:
ZP3 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes sowie Beratung eines Antrages zu den Richtlinien zur Überprüfung auf Tätigkeit oder politische Verantwortung für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit
— Drucksache 12/1324
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung,
Immunität und Geschäftsordnung
ZP4 Erste Beratung des von der Abgeordneten Ingrid Köppe und der Gruppe Bündnis 90/ GRÜNE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes
und eines Gesetzes zur Änderung des Bundesministergesetzes (Stasi-Überprüfungsgesetz)

— Drucksache 12/1325 —
Überweisungsvorschlag :
Ausschuß für Wahlprüfung,
Immunität und Geschäftsordnung
ZP5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste Vollständige Überprüfung von Mitgliedern des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung auf mögliche Kontakte zum MfS/AfNS und zum BND, MAD, VS und ausländischen Geheimdiensten
— Drucksache 12/1148 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung,
Immunität und Geschäftsordnung (federführend) Innenausschuß
Rechtsausschuß
Die Fraktionen haben mich gebeten, darauf hinzuweisen, daß der Text für die Richtlinien bei dem interfraktionellen Gesetzentwurf auf Drucksache 12 /1324 als Anregung für die Ausschußarbeit aufzufassen, also in den Einzelheiten noch nicht festgelegt ist.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr gut!)

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die beiden Gruppen sollen jeweils fünf Minuten erhalten. Gibt es dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dieter Wiefelspütz.

Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):
Rede ID: ID1205023900
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR war eine Einrichtung der real existierenden Unmenschlichkeit. Es war Schwert und Schild des Unrechts. Es war — könnte man die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar auf diesen Sachverhalt anwenden — eine kriminelle Vereinigung.

(Dr. Hans de With [SPD]: Sehr wahr! — Zustimmung bei der CDU/CSU)

Die Stasi hatte Zehntausende hauptamtlicher und inoffizieller Mitarbeiter, die den Auftrag hatten, das eigene Volk zu bespitzeln und zu unterdrücken. Ich bin der Überzeugung: Mitarbeit für die Stasi oder gar politische Verantwortung für die Stasi läßt sich nicht mit einer Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag vereinbaren.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Ich vermute: Diese Auffassung wird von nahezu allen Mitgliedern des Deutschen Bundestages geteilt, aber möglicherweise nicht von allen, nämlich von denjenigen nicht, die für die Stasi gearbeitet und bislang keine Veranlassung gesehen haben, sich in der Öffentlichkeit zu ihrer Tätigkeit zu bekennen. Keine Probleme mit ihrem Selbstverständnis als Bundestagsabgeordnete haben möglicherweise auch diejeni-



Dieter Wiefelspütz
gen, denen kraft ihrer politischen Stellung in der damaligen DDR in besonderem Maße eine politische Verantwortung für die Stasi zukommt.
Wie wird der Deutsche Bundestag mit dieser Situation fertig? — Ich denke, vor allem mit Offenheit, mit Öffentlichkeit, mit strikter Fairneß und Rechtsstaatlichkeit gegenüber betroffenen Kolleginnen und Kollegen. Allerdings darf die von uns allen gewollte Selbstreinigung des Parlaments nicht in allerbester Absicht zur Falle für das Parlament selber werden. Der Gegner des Guten ist das lediglich Gutgemeinte. Die Vereinigung Deutschlands rechtfertigt keinen Totalverdacht gegenüber dem Bundestag. Eine Zwangsüberprüfung aller Abgeordneten kommt deshalb nicht in Betracht. Sie wäre auch nicht mit dem durch Artikel 38 des Grundgesetzes geschützten freien Mandat eines Bundestagsabgeordneten vereinbar. Wir wollen auch nicht zwei Klassen von Abgeordneten: die Abgeordneten aus dem alten Bundesgebiet und die aus den neuen Bundesländern. Wir sind ein Parlament, und alle Abgeordneten sind gleich.
Der Gesetzentwurf geht deshalb prinzipiell von der Freiwilligkeit der Überprüfung auf eine Tätigkeit oder politische Verantwortung für die Stasi aus. Für das Selbstverständnis eines freigewählten und unabhängigen Abgeordneten ist es von entscheidender Bedeutung, ob er kraft selbst zu verantwortender freier Entscheidung einen Antrag auf Überprüfung stellen kann oder ob ihm diese Entscheidung grundsätzlich entzogen ist.
Aus Gründen der Gleichbehandlung und vor allem aus Gründen der Solidarität mit den ostdeutschen Kolleginnen und Kollegen werden viele westdeutsche Bundestagsabgeordnete den Antrag auf Überprüfung stellen. Allerdings: Nicht alle Kolleginnen und Kollegen werden den Antrag stellen. Es wird nicht ganz wenige Abgeordnete geben, die eine Überprüfung aus grundsätzlichen Erwägungen ablehnen,

(Zuruf von der FDP: Schlimm genug!)

vor allem, weil eine Überprüfung mit der Freiheit und der Unabhängigkeit des Mandats unvereinbar sei. Eine solche Entscheidung, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die Entscheidung eines freigewählten Abgeordneten und deshalb zu respektieren. Sie verdient Achtung, wie jede Entscheidung eines freigewählten Abgeordneten.
Ich denke, wir haben allen Grund, für diesen Antrag auf eine Überprüfung zu werben. Und im Ergebnis wird es so sein, daß auf freiwilliger Basis dies nahezu alle tun werden.

(Zuruf von der FDP: Ich hoffe das!)

Für den Fall, daß die Überprüfung gezwungenermaßen erfolgen soll, weiß ich nicht, ob wir eine Mehrheit für diesen Gesetzentwurf bekommen; ich bitte, das zu bedenken.
Hierbei geht es letztlich nicht nur um die Rechte der Abgeordneten. Noch wichtiger ist mir, daß die Bürgerinnen und Bürger im ureigensten Interesse auf freien und unabhängigen Abgeordneten bestehen müssen. Die Zwangsüberprüfung aller Abgeordneten, wie die Gruppe Bündnis 90/GRÜNE sie vorschlägt, ist deshalb aus guten Gründen, wie ich glaube, nicht mehrheitsfähig.
In den Fällen, in denen konkrete Anhaltspunkte für eine Tätigkeit oder Verantwortung für die Stasi festgestellt werden, kann der Abgeordnete auch ohne seine Zustimmung überprüft werden. Es muß mehr als nur ein Gerücht oder eine bloße Behauptung vorliegen, wenn sich der Bundestag über die fehlende Zustimmung eines Abgeordneten hinwegsetzen will.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Thema Abgeordnetenüberprüfung erschöpft sich nicht mit der Einführung eines § 44b in das Abgeordnetengesetz. Die keineswegs unwichtigen Einzelheiten für das Verfahren zur Feststellung einer Tätigkeit oder Verantwortung für das Ministerium für Staatssicherheit müssen in Richtlinien geregelt werden. Diese Richtlinien werden wir gemeinsam mit der Ergänzung des Abgeordnetengesetzes verabschieden. Über den wesentlichen Inhalt dieser Richtlinien gibt es zwischen den Fraktionen weitgehend Übereinstimmung. In wenigen weiteren Punkten existiert noch Abstimmungs- und Beratungsbedarf.
Wichtig wird vor allem sein, daß sich der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ausschließlich auf die Feststellung von Tatsachen beschränkt. Der Ausschuß darf nach meiner Ansicht keine Werturteile abgeben. Insbesondere darf der Ausschuß nicht die Empfehlung aussprechen, das Bundestagsmandat niederzulegen. In diesem Punkt gibt es hier im Hause unterschiedliche Positionen. Vor allem Abgeordnete aus den neuen Bundesländern wünschen sich für den Ausschuß auch die Möglichkeit, solche Empfehlungen aussprechen zu dürfen. Ich rate davon dringend ab.
Die Selbstreinigung des Parlaments ist das Ziel. Aber die Selbstreinigung der FDP kann nicht von der SPD, die Selbstreinigung der SPD kann nicht von der CDU/CSU vorgenommen werden. Diese Leistungen müssen von den Fraktionen und Gruppen selbst erbracht werden, und zwar unter den Augen der Öffentlichkeit. Deshalb muß grundsätzlich die Regel gelten, daß die Feststellungen des Immunitätsausschusses in einer Bundestagsdrucksache veröffentlicht werden. Hier gibt es zwischen den Fraktionen noch Klärungsbedarf.
Der Fraktionsvorsitzende oder Gruppenvorsitzende muß über das Ergebnis der Feststellungen des Immunitätsausschusses informiert werden. Die Fraktionen oder Gruppen entscheiden alleine darüber, ob einem belasteten Mitglied der Mandatsverzicht nahegelegt werden soll oder nicht. Kommt ein unrettbar belasteter Abgeordneter der Aufforderung, sein Mandat niederzulegen, nicht nach, wird er von seiner Fraktion oder Gruppe ausgeschlossen. Davon ist auszugehen. Der Deutsche Bundestag wird ein solches Mitglied bis zum Ende der Legislaturperiode aushalten müssen, aber, so denke ich, auch aushalten können.
Selbstverständlich ist einem betroffenen Abgeordneten rechtliches Gehör zu gewähren. Er hat das Recht auf Einsicht in die beim Immunitätsausschuß befindlichen Akten. Er hat das Recht, sich eines Rechtsbeistandes zu bedienen und seine Sicht der



Dieter Wiefelspütz
Dinge in der ihn betreffenden Bundestagsdrucksache darzustellen.
Die Überprüfung der Bundestagsabgeordneten auf Stasi-Verstrickungen ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, eine schwierige, aber auch dringend notwendige Arbeit. Wir wollen keinen Schauprozeß. Wir wollen kein Tribunal, sondern einen rechtsstaatlichen, würdigen Beitrag zur demokratischen Kultur im vereinten Deutschland.
Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem Bündnis 90/GRÜNE)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205024000
Und nun hat der Kollege Friedrich Bohl das Wort.

Friedrich Bohl (CDU):
Rede ID: ID1205024100
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich den anderen Fraktionen des Hauses für die konstruktiven und guten Gespräche herzlich danken, die wir in dieser Angelegenheit bisher geführt haben. Ich will mich auch dafür bedanken, daß wir diesen Gesetzentwurf heute hier einbringen können.
Der Dank erstreckt sich auch auf die Ausführungen, die Sie, Herr Kollege Wiefelspütz, soeben gemacht haben und denen wir im großen und ganzen so zustimmen können. Ihre Bemühungen in dieser Angelegenheit verdienen es, lobend und dankbar hervorgehoben zu werden.
Zu der Problematik dieses Themas ist in den letzten Wochen und Monaten sehr viel geschrieben worden. Ich will auch offen bekennen, daß es in meiner Fraktion zu dieser Problematik durchaus unterschiedliche Positionen gab. Die Kollegen aus den sogenannten alten Bundesländern haben uns die Frage gestellt: Warum ist dies eigentlich notwendig? Wir haben ein ganz anderes politisches und gesellschaftliches Umfeld gehabt.

(Zuruf von der FDP: Stasi-Mitarbeit ist doch was!)

— Das ist sicherlich ein zusätzlicher Sonderfall. Aber ich will zu meinen Ausführungen zurückkommen. — Bei uns ist das eigentlich gar nicht notwendig. Wir haben aber hier sicherlich auch einen Lernprozeß auf beiden Seiten hinter uns.
Was im Grunde genommen völlig unstreitig ist, läßt sich jetzt in dem § 44 b Nr. 1 Satz 1 zusammenfassen, daß nämlich die Möglichkeit eröffnet werden soll, daß jeder freiwillig die Überprüfung für sich beantragen kann und daß sie auch durchgeführt wird. Wichtig ist, daß sich die Überprüfung nur auf die Frage „Tätigkeit als inoffizieller Mitarbeiter, ja oder nein?" bezieht, also nicht auf das, was vielleicht sonst aus dem Privatleben in diesen Akten noch gesammelt sein kann, sondern nur auf diese Feststellung. Ich denke, das ist sehr wichtig. Bisher gab es diese Möglichkeit für die Abgeordneten nicht. Wir eröffnen erst durch diese gesetzliche Regelung die Möglichkeit, daß es der Abgeordnete selbst beantragen kann.
Es wird sicherlich auch so sein — davon bin ich fest überzeugt —, daß die Kollegen aus den sogenannten neuen Bundesländern natürlich sehr viel mehr unter Druck ihres Wahlkreises stehen werden, als es vielleicht bei dem einen oder anderen Kollegen aus den sogenannten alten Bundesländern der Fall ist, wo ein solcher Druck eben nicht vorhanden ist. Das muß dann jeder Abgeordnete sicherlich mit sich selbst und vor seinen Wählern ausmachen.
Wichtig ist aber — das sollte man hier nicht unterschlagen und vergessen — : Es geht nicht nur um die inoffizielle Tätigkeit im Staatssicherheitsdienst, sondern auch um die politische Verantwortung. Das halte ich für eine ganz wichtige Feststellung. In diesem Hause sind ja einige deswegen nicht Mitarbeiter der Staatssicherheit gewesen, weil sie deren Kommandeure waren. Es ist eh eine Verengung, daß man sich nur mit den Mitarbeitern der Staatssicherheit befaßt und nicht mit den Kommandeuren. Wenn sie dann noch im Bundestag sitzen, ist es, glaube ich, besonders notwendig, sich mit diesen Kommandeuren der Staatssicherheit zu befassen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Was Satz 2 anbelangt, nach dem das Verfahren vom Ausschuß durchgeführt wird, dem Herr Kollege Wiefelspütz vorsteht, will ich eine kleine Einschränkung machen — darüber muß man sich während der Beratung noch einmal unterhalten — , nämlich die Frage aufwerfen, ob es nicht vielleicht ein kleineres Gremium geben sollte. Darüber wurde bei uns diskutiert. Aber Ausschußberatungen sind ja dazu da, daß man sich dort noch weiter klug macht, um vielleicht zu besseren Ergebnissen zu kommen.
Der dritte Satz war bei uns bis zum Schluß nicht unumstritten. Ich meine die Möglichkeit, eine solche Überprüfung auch gegen den Willen eines Abgeordneten durchführen zu können, wenn konkrete Anhaltspunkte vorliegen. Wir wären sehr froh, wenn in den Ausschußberatungen vielleicht noch etwas deutlicher herausgearbeitet werden könnte, was man darunter versteht. Bei uns wurde nämlich die Frage gestellt: Wie ist das nun, wenn in irgendeiner Zeitung, die vielleicht auch ansonsten nicht unbedingt die größte Glaubwürdigkeit haben mag, irgendeine Behauptung in die Welt gesetzt wird? Sind das schon konkrete Anhaltspunkte oder nicht? Muß dann nicht doch etwas Substantiierteres vorgetragen werden? Wenn ja, in welchem Umfang? Es handelt sich ja nicht um einen rechtlichen Begriff, den wir dort haben. Er muß erst ein wenig ausgefüllt werden. Darüber sollte man in den Ausschußberatungen bitte auch sprechen, damit es schon ein gewisses Gewicht hat, bevor man gegen den Willen des Abgeordneten eine solche Überprüfung durchführt. Aber ich weiß, daß wir uns da einig sind. Dafür solche Fragen zu klären, sind ja — ich wiederhole mich — Ausschußberatungen da.
Wichtig ist für uns auch Nr. 2, nach der wir das Verfahren zur Feststellung einer solchen Tätigkeit in Richtlinien festlegen und bestimmen. Wir haben das ja bei den Verhaltensrichtlinien ganz gut hinbekommen. Dort haben wir eine gesetzliche Ermächtigung, die durch die Richtlinien ausgefüllt wurde. Wir haben auch dort Einigkeit vor Jahr und Tag erzielt. Das hat sich durchaus bewährt. Eine gewisse Flexibilität ist



Friedrich Bohl
gegeben, indem man solche Richtlinien noch verfeinern kann. Es ist also sehr wichtig, daß wir uns über die Richtlinien noch einmal sehr intensiv unterhalten.
Wenn ich das hier so sage, soll das bitte nicht so verstanden werden, als sollte das ein unverbindlicher Entwurf sein, den wir eingebracht haben. Bitte: So nicht! Wir haben ihn vielmehr eingebracht, weil wir ihn für eine wirklich sehr, sehr gute und solide Grundlage halten, das Problem anzugehen. Aber wir wollen uns auch die Freiheit nehmen, daß wir in der einen oder anderen Sache während der Ausschußberatungen vielleicht auch zu einer anderen Lösung kommen.
Ich glaube, daß es gut ist — lassen Sie mich das abschließend sagen — , daß sich die demokratischen Fraktionen dieses Hauses zu diesem Gesetzentwurf zusammengefunden haben. Es war ja nicht ganz sicher, daß das gelingen würde. Es wäre ja auch denkbar gewesen, daß wir unterschiedliche Gesetzentwürfe vorliegen haben. Ich halte es für ein gutes Zeichen, daß in diesem Hause zumindest in solchen Fragen sehr viel Gemeinsamkeit besteht.

(Widerspruch bei der PDS/Linke Liste — Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt haben sie es begriffen!)

Diese Gemeinsamkeit der Demokraten sollten wir uns in diesem sensiblen innerdeutschen Bereich auch in Zukunft bewahren. Ich hoffe, daß auch die Beratungen im Ausschuß von diesem Geist getragen sein werden und daß wir damit auch in der Öffentlichkeit ein gutes Beispiel für dieses gesamtdeutsche Parlament abgeben.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205024200
Nun hat die Kollegin Ulla Jelpke das Wort.

Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1205024300
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Endlich, könnte man sagen: Der Bundestag will sich aufraffen. Endlich soll der Einfluß der Stasi und, so hoffe ich, auch anderer Geheimdienste auf die Politik auch im Bundestag geprüft werden.
Bisher ist immer wieder versucht worden, die PDS/ Linke Liste als die eigentlich Verantwortlichen bei der Verzögerung einer Überprüfung hinzustellen. In den letzten Monaten haben ganz andere Dinge deutlich gezeigt, daß dies nicht der Fall ist. Obwohl in den Parlamenten im Osten die Überprüfungen liefen, obwohl Zigtausende im öffentlichen Dienst überprüft worden sind, viele ihre Berufe nicht mehr ausüben können oder dürfen, war dieses Hohe Haus nicht zu kleinlich, darüber zu diskutieren — ich möchte ergänzen: wie wir gerade eben von Herrn Bohl gehört haben — , ob West-Abgeordnete denn nun auch müßten, ob die Zustimmung der Abgeordneten nun notwendig sei oder nicht, ob denn das alles mit dem Datenschutz und der Verfassung zu vereinbaren sei. Das alles sind Dinge, die großen Teilen der DDR-Bevölkerung — speziell natürlich ehemaligen SED-Mitgliedern —
selbstverständlich zugemutet worden sind und werden.
Einen letzten Höhepunkt in dieser Sache lieferte der Parlamentarische Geschäftsführer der Union, Herr Bohl, als er letzte Woche unseren heutigen Antrag so kommentierte: „Mit der Frage der Überprüfung kann sich der Bundestag doch nicht auf Antrag der PDS-LL befassen".

(Zuruf von der FDP: Da hat er ja auch recht!)

— Das sehe ich nicht so. Denn schließlich müssen Sie sich hier vielleicht einmal rechtfertigen, warum Sie nicht wollen, daß auch West-Abgeordnete überprüft werden.
Alles, was von unserer Seite in Sachen Stasi-Akten, Stasi-Überprüfung und Aufarbeitung der Geschichte vorgebracht wurde, ist exakt so behandelt worden, daß Forderungen nach Differenzierung, um Abrechnung und Rachekampagnen zu verhindern, als Versuche der Vertuschung bezeichnet wurden. Stasi: Das war der Schlüssel und das Zauberwort zur Diskreditierung der gesamten DDR-Geschichte und -Gegenwart.
Die PDS/Linke Liste stand da durchaus nicht allein, auch wenn sie besonders hart behandelt worden ist. Die Methode wurde bis weit in die Reihen der CDU/ CSU angewandt. Die Demontage von de Maizière spricht da durchaus für andere. Auch aus den Reihen der FDP waren Forderungen nach sensibler und differenzierter Betrachtung einer Stasi-Mitarbeit erst gegen Ende des Sommers zu hören.
Das bedeutet allerdings noch längst keine tiefgreifende Besserung. Der Abgeordnete Schmieder, FDP, kommentierte am 19. September 1991 in der Sitzung des Bundestages unsere Forderung nach Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, der das Verschwinden der Stasi-Akten untersuchen sollte, so: „Guck mal, wer da spricht! " — Damit meinte er mich. Für eine differenzierte Betrachtungsweise spricht das nun überhaupt nicht,

(Lachen bei der FDP)

schon gar nicht für ein generell kritisches Verhältnis zu allen Geheimdiensten.
Nebenbei macht dieser Kommentar auch deutlich, was gewissen Leuten an billigen Ausflüchten fehlen wird, wenn die Existenz der DDR noch länger zurückliegt. Ein positiver Effekt könnte sich vielleicht daraus ergeben, daß hierzulande der Fingerzeig auf das angebliche Reich des Bösen nicht mehr ganz so einfach vernünftige Fragen abwürgen kann.
Vernünftig ist es doch, im Zusammenhang mit der Überprüfung der Abgeordneten auf geheimdienstliche Tätigkeit auch tatsächlich jede geheimdienstliche Tätigkeit zu überprüfen. Die Einschränkung auf die Tätigkeit für das MfS ist auch heute noch Teil der einseitigen Abrechnungskampagne mit der DDR. Auch wenn MfS und westliche Dienste nicht generell gleichzusetzen sind, geht es bei der Überprüfung und der möglichen Folge der Empfehlung zur Mandatsniederlegung um Vergleichbares: um die geheime Einflußnahme auf politische Entscheidungen und mögliche Spitzeltätigkeiten für Geheimdienste ge-



Ulla Jelpke
genüber anderen Abgeordneten. Der immer behauptete Reinigungsprozeß ist bei einer Einschränkung auf MfS-Tätigkeit eine Farce. Deshalb stellen wir den Antrag, alle Abgeordneten im Hinblick auf alle Geheimdienste zu überprüfen.
Zum Antrag Bündnis 90/GRÜNE: Es macht meines Erachtens keinen Sinn, im Entwurf zur Änderung des Abgeordnetengesetzes die Überprüfung auf Mf S-Tätigkeit zu verewigen, die aktuell und auch in Zukunft nicht weniger aktiven Geheimdienste aber überhaupt nicht zu berücksichtigen. Wenn schon nach einem Gesetz überprüft werden soll, dann auf Tätigkeit für alle Geheimdienste.
Danke.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205024400
Das Wort hat der Kollege Manfred Richter.

Manfred Richter (FDP):
Rede ID: ID1205024500
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Bundestagsdebatte vom Juni dieses Jahres sind zum Thema StasiÜberprüfung der Abgeordneten des Deutschen Bundestages durch die Sprecher der Fraktionen eine Reihe von Vorgaben gemacht worden. Heute können wir feststellen, daß der vorliegende Gesetzentwurf diesen Vorgaben gerecht wird. Wir haben das Gesetz, so glaube ich, sogar noch etwas präziser gefaßt, als es bei den Anfangsberatungen möglich schien. Das gilt insbesondere für die Überprüfung derjenigen Abgeordneten, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht einer Stasi-Tätigkeit vorliegen, bei denen aber dennoch auch ohne ihr Einverständnis. eine Überprüfung durchgeführt werden kann.
Das gilt aber auch für einen anderen Punkt, nämlich für den, daß wir nicht nur die Tätigkeit — auch die informelle Tätigkeit — , sondern auch die politische Verantwortung für die Machenschaften des Staatssicherheitsdienstes überprüfen werden.
Meine Damen und Herren, das ist einer der wesentlichen Gesichtspunkte der Änderung dieser Gesetzesvorlage, weil wir es uns als Parlamentarier nicht leisten können und auch nicht wollen, in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, als würden die Kleinen politisch zur Verantwortung gezogen und die eigentlich Verantwortlichen blieben ungeschoren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Die Überprüfung der Abgeordneten ersetzt kein strafrechtliches Verfahren. Das ist und muß Angelegenheit der ordentlichen Gerichtsbarkeit sein. Mit der Gesetzesänderung wollen wir einen Beitrag zur politischen Aufarbeitung unserer Geschichte leisten. Wir wollen, daß in einem transparenten, in einem rechtsstaatlichen Verfahren alle Fakten ohne Wertung und ohne Vorverurteilung auf den Tisch gelegt werden. Der betroffene Abgeordnete erhält rechtliches Gehör. Welche Konsequenzen er daraus persönlich zieht, ist für mich in erster Linie eine Frage der politischen Glaubwürdigkeit und auch des menschlichen Anstands. Der Wähler wird dies dann zu werten haben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Die Arbeit der Behörde des Sonderbeauftragten der Bundesregierung, Joachim Gauck, könnte nach dessen Auskunft innerhalb von kürzester Zeit abgeschlossen werden. Für die FDP-Fraktion möchte ich mich für diese Zusage ausdrücklich bedanken. Die Öffentlichkeit hat einen Anspruch nicht nur auf umfassende Information, sondern auch auf eine schnelle Information, weil es bei der Herstellung der notwendigen Klarheit nicht nur um den unmittelbaren persönlichen Bereich des beschuldigten Abgeordneten geht, sondern weil das Parlament in seiner Gesamtheit betroffen ist. Die zügige Erarbeitung dieses Gesetzes zeigt, daß wir als Gesetzgeber bereit sind, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß jeder einzelne Abgeordnete zu seiner politischen Verantwortung steht.
Eine kurze Anmerkung zu der Anregung der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE: Ich möchte Sie fragen, ob Sie vielleicht noch einmal Ihren Vorschlag überdenken könnten, auf die Überprüfung einzelner Abgeordneter zu verzichten, wenn sie aus anderem Anlaß bereits vorher durchgeführt wurde. Ich sehe — das ist eine Anregung; ich will das gar nicht persönlich werten — , daß Sie damit eine Quelle von Mißverständnissen schaffen, und würde deshalb eine solche Regelung persönlich nicht mittragen können.
Von einer ganz anderen Qualität sind allerdings Überlegungen aus der PDS, die Abgeordneten auch auf eine Tätigkeit in bundesdeutschen Geheimdiensten hin zu überprüfen. Meine Damen und Herren, die Gleichsetzung des Stasi-Repressionsapparates mit den Diensten der Bundesrepublik ist so ungeheuerlich und abwegig, daß als Erklärung für diese Forderung nur bleibt, daß hier der Versuch unternommen werden soll, die Machenschaften der Staatssicherheit als Handlanger der SED nachträglich zu legitimieren.

(Widerspruch bei der PDS/Linke Liste) Dazu sind wir auf keinen Fall bereit.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205024600
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Wolfgang Ullmann.

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1205024700
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN hat einen eigenen Gesetzentwurf eingebracht — ich betone das — , nicht um sich aus der Gemeinschaft der Demokraten zu stehlen oder da einen besonderen Platz einzunehmen, sondern auf Grund ganz bestimmter eigener Reflexionen eines uns allen gemeinsamen Problems. Es ehrt dieses Haus, daß dieses gemeinsame Problem erkannt worden ist. Es war aber kein konstruktiver Beitrag zu der Debatte, die wir haben, wenn hier ein Antrag als der der Demokraten von anderen abgegrenzt worden ist.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der SPD und der PDS/Linke Liste)




Dr. Wolfgang Ullmann
Ich hoffe, daß dieser Stil der Debatte nicht wiederholt wird.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das war sachlich begründet!)

Ich will jetzt auf die Verfahrensfragen, wie sie soeben angesprochen worden sind, nicht eingehen, sondern auf das eine wichtige Problem — dessentwegen wir einen eigenen Entwurf vorgelegt haben —, auf das der Kollege von Wiefelspütz eingegangen ist. Es handelt sich um die Sachdifferenz: Mitglieder des Bundestages können beantragen und überprüft werden, oder, wie wir vorschlagen, Mitglieder des Bundestages w e r den überprüft.
Ich weise mit allem Nachdruck den Terminus „Zwangsüberprüfung" zurück, Herr von Wiefelspütz.

(Zuruf von der CDU/CSU: Die ist es aber!)

Das Gesetz, das wir vorschlagen, soll von uns gemeinsam beschlossen werden. Ich denke, es ist besser, wir übernehmen den Sprachgebrauch der wissenschaftlichen Dienste des Bundestages, die von einer generellen Überprüfung sprechen. Ich gehe davon aus, daß keiner in diesem Hause hier eine Zwangsüberprüfung will. Das Gut der Immunität und der Gewissensfreiheit soll von unserem Entwurf doch verteidigt werden!
Man überlege sich, was eintritt, wenn dieses unser gemeinsames Problem der Entscheidung des einzelnen anheimgestellt wird. Diese Entscheidung ist zu respektieren. Ich bin sicherlich der letzte, der sie nicht respektiert. Aber, Herr von Wiefelspütz, wissen Sie denn, ob diese Entscheidung in der Öffentlichkeit respektiert wird? Das haben wir nicht in der Hand. Ich denke durchaus, daß unser Vorschlag — „es wird überprüft" — die Sache auf ein ganz anderes Niveau hebt.
Die Überprüfung vollzieht sich dann vor dem Hintergrund einer gemeinsamen geschichtlichen Herausforderung und nicht auf Grund individueller Verdachtsmomente oder vielleicht auch einer individuellen Besorgnis. Wir gemeinsam haben dann eine Antwort auf die geschichtliche Herausforderung gefunden und stehen nicht unter moralischen Einzelurteilen.
Ich mache nur darauf aufmerksam, wie das Ganze in der Öffentlichkeit zensiert werden wird. Wir haben keine Möglichkeit, das zu verhindern, wenn sich größere Teile bestimmter Fraktionen der Überprüfung zu entziehen versuchen,

(Zuruf von der CDU/CSU: Das wollen Sie doch so!)

auch wenn sie sich dabei tatsächlich auf ihre Rechte als Parlamentarier berufen können.
Ich mache aber darauf aufmerksam, daß die wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages zu dem Ergebnis gekommen sind: Keine der genannten Überprüfungsformen erscheint verfassungsrechtlich unter allen Umständen ausgeschlossen. Das muß ganz deutlich gesagt werden.
Ich schließe — —

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205024800
Kollege Ullmann, würden Sie trotzdem, bevor Sie schließen, noch eine Zwischenfrage des gerade in den Adelsstand erhobenen Kollegen Wiefelspütz erlauben?

(Heiterkeit — Günther Friedrich Nolting [FDP]: Ja, das würde ich machen! So kann man gut die Redezeit verlängern!)


Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1205024900
Schon um mich zu korrigieren, muß ich das erlauben. — Bitte.

Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):
Rede ID: ID1205025000
Herr Kollege Ullmann, Ihnen ist doch nicht entgangen, daß wir nicht selten Entscheidungen treffen, die von anderen nicht akzeptiert werden und für die wir dann in der Öffentlichkeit geradezustehen haben. Meinen Sie nicht, daß es uns zuzumuten ist, gegenüber den Wählerinnen und Wählern eine freie Entscheidung zu vertreten und dafür Rede und Antwort zu stehen, und zwar als Alternative zu einer Entscheidung, die wir nicht treffen können und die uns unter Zwang setzt?

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1205025100
Das ist uns sicher gemeinsam. Aber Ihre Frage räumt die Gefahrenmomente, von denen ich gesprochen habe, keineswegs aus — und so auch nicht meine Besorgnisse.

(Zuruf von der CDU/CSU: Welche Gefahrenmomente?)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205025200
Kollege Ullmann, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Hilsberg?

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1205025300
Ich glaube, das haben eigentlich mehr Sie in der Hand als ich. Ich bin dazu bereit.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205025400
Sie haben noch Zeit zur Verfügung. — Bitte.

Stephan Hilsberg (SPD):
Rede ID: ID1205025500
Herr Ullmann, können Sie bestätigen, daß wir auch in der Volkskammer keine generelle Überprüfung hatten, sondern daß auch dort eine Überprüfung nur auf freiwilliger Grundlage durchführbar war?

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1205025600
Ich gehe davon aus, daß Überprüfungen immer auf freiwilliger Grundlage durchgeführt werden; darum sagen wir ja „werden".

(Zuruf von der CDU/CSU: Freiwilliger Zwang!)

— Damit setze ich mich jetzt nicht mehr auseinander; das sind Wortspiele.
Ich mache, weil von Herrn Hilsberg das Beispiel erwähnt worden ist, nur darauf aufmerksam: Bitte
— damit schließe ich meine Ausführungen — bedenken Sie bei den Ausschußberatungen, was eingetreten wäre, wenn wir in der Volkskammer nach Ihrem Gesetzentwurf vorgegangen wären. Ich glaube, das, was sich dann abgespielt hätte, wäre noch viel schlim-



Dr. Wolfgang Ullmann
mer gewesen als das, was wir dann wirklich erlebt haben.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der SPD)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205025700
Wir sind damit am Ende der Rednerliste. Zu einer Kurzintervention hat noch der Kollege Dr. Jürgen Schmieder das Wort erbeten.

Dr. Jürgen Schmieder (FDP):
Rede ID: ID1205025800
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zu Beginn meiner Kurzintervention eindeutig erklären, daß ich diesen interfraktionellen Antrag vom Anliegen her unterstütze. Aber bei der Verfahrensweise — das gestehe ich — kommen mir gewisse Bedenken, wenn wir uns als Gesetzgeber, als Abgeordnete besserstellen als andere Berufsgruppen im Lande. Beispielsweise werden Richter, Staatsanwälte und andere Beschäftigte im öffentlichen Dienst einer Überprüfung unterzogen. Wir jedoch nehmen uns das Recht, eine Einwilligungserklärung vorauszusetzen. Ich denke, der 1. Ausschuß zieht dann die Wertigkeit des Bundestagsabgeordneten auf den Level eines Kreissynodalen herunter; denn von ihm beispielsweise verlangen wir ebenfalls nur eine Überprüfung auf der Basis einer Bereitschaftserklärung.
Es geht hier aus meiner Sicht eindeutig um die Verhältnismäßigkeit. Ich bitte, das insbesondere bei den Beratungen in den Ausschüssen mit zu berücksichtigen.

(Beifall bei der FDP und dem Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ Linke Liste)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1205025900
Damit ist die Aussprache geschlossen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/1324, 12/1325 und 12/1148 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Bevor wir zu Tagesordnungspunkt 9 kommen, habe ich noch folgendes mitzuteilen: Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung der Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zu der Änderung der EG-Richtlinie zur Anlastung der Wegekosten an schwere Nutzfahrzeuge auf Drucksache 12/1268 zu erweitern. Sind Sie mit dieser Erweiterung der Tagesordnung einverstanden? — Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe somit folgenden Zusatzpunkt auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichtes des Finanzausschusses (7. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
— Drucksache 12/269 Nr. 2.11 —
Änderung des Vorschlags für eine Richtlinie
des Rates zur Anlastung der Wegekosten an
schwere Nutzfahrzeuge [KOM (87) 716 endg.]
— KOM (90) 540 endg. —
»Rats.Dok. Nr. 4714/91«
— Drucksache 12/1268 —
Eine Aussprache dazu ist nicht vorgesehen. Wir können dann sofort über die Beschlußempfehlung abstimmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist damit einstimmig, aber bei sehr vielen Enthaltungen angenommen.
Ich rufe nun Punkt 9 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Strukturhilfegesetzes und zur Aufstockung des Fonds „Deutsche Einheit"
— Drucksache 12/1227 —
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß (federführend) Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Besteht Einverständnis damit? — Dies ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erstes hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald das Wort.

Dr. Joachim Grünewald (CDU):
Rede ID: ID1205026000
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zieht die Bundesregierung notwendige Folgerungen aus der mit der Herstellung der deutschen Einheit veränderten Verfassungsrechtslage zur Strukturhilfe. Angesichts des starken Strukturgefälles zu den neuen Bundesländern stünde eine Weitergewährung der Strukturhilfe in der Größenordnung von jährlich 2,45 Milliarden DM mit dem föderativen Gleichbehandlungsgrundsatz nicht in Einklang. Das braucht man nicht näher zu erläutern, denn das wird schon deutlich, wenn man einen Vergleich zwischen den strukturstärksten und den strukturschwächsten Ländern drüben wie hüben zieht.
Der Gesetzentwurf sieht deshalb die Aufhebung des die alten Bundesländer begünstigenden Strukturhilfegesetzes zum 1. Januar 1992 und die Umlenkung des Gesamtvolumens der Strukturhilfemittel in die neuen Länder in den Jahren 1992 bis 1994 vor. Ab 1995 soll, wie bekannt ist, eine ganz grundlegende Neuordnung der Finanzbeziehungen erfolgen, und zwar sowohl zwischen Bund und Ländern, also vertikal, als auch zwischen den Ländern untereinander, also horizontal.
Zur Milderung der sich aus dem Wegfall der Strukturhilfen für die bisherigen Empfängerländer ergebenden Übergangsprobleme sollen diese Länder im Jahre 1991 eine einmalige pauschale Überbrükkungshilfe von 600 Millionen DM erhalten.
Darüber hinaus ist zur Verbesserung der Finanzausstattung der neuen Länder eine weitere Aufstockung des Fonds „Deutsche Einheit" um zusätzlich 3,45 Milliarden DM jährlich im Gesetzentwurf vorgesehen. Der Gesamtrahmen beträgt also 5,9 Milliarden DM.



Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald
Die weiteren Mittel des Bundes übersteigen damit im Volumen die bisherigen Strukturhilfemittel für die alten Länder.
Im Hinblick auf die besonderen Haushaltsstrukturprobleme der Länder Saarland und Bremen werden im Gesetzentwurf diesen Ländern bei den Bundesergänzungszuweisungen gewährte Sondervorabbeträge für die Jahre 1992 und 1993 weitergewährt und auf jährlich 150 Millionen DM für das Saarland und auf 100 Millionen DM für Bremen verdoppelt. Diese Sonderhilfen sollen aus dem Zuwachs des dynamisierten Gesamtvolumens der Bundesergänzungszuweisungen finanziert werden.
Die im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgeschlagene Aufstockung des Fonds „Deutsche Einheit" um jährlich 5,9 Milliarden DM ist notwendig, um einen weiteren Schritt in Richtung auf eine zukünftig bessere allgemeine Finanzausstattung der neuen Länder, aber auch ihrer Gemeinden, die ja mit 40 am Fonds „Deutsche Einheit" beteiligt sind, zu unternehmen. Zusammen mit den fortwirkenden Festlegungen des Jahres 1991 wird damit nach Auffassung der Bundesregierung für 1992 eine hinreichende Finanzausstattung erreicht.
Dabei ist natürlich davon auszugehen, daß für den Zeitraum ab 1993 weitere Überlegungen erforderlich werden. Dies kann jedoch erst im Jahre 1992 sicher beurteilt werden, und zwar einfach deshalb, weil uns die dazu notwendige gesicherte Datenlage heute fehlt. Der dynamische Umstrukturierungsprozeß in den neuen Ländern läßt derzeit insoweit also nur Entscheidungen, wenn Sie so wollen, „auf Sicht" zu.
Die alten Bundesländer, die im Einigungsvertrag bis Ende 1994 von horizontalen Finanzausgleichsleistungen an die neuen Länder freigestellt worden sind, bleiben aufgerufen, sich ihrer gesamtstaatlichen Mitverantwortung für den Aufbau des Beitrittsgebiets zu stellen und sich auch an künftigen weiteren Aufstokkungen des Fonds „Deutsche Einheit" angemessen zu beteiligen. Dabei kann allerdings nicht mehr an kreditfinanzierte Leistungen des Fonds gedacht werden.
Über die Verfassungsfragen einer Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen zum Zwecke von Haushaltsstützungen hat, wie Sie wissen, erst vor wenigen Tagen eine umfängliche Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe stattgefunden. Ich will es bei dieser Bemerkung bewenden lassen. Aber das Verfassungsgericht hat natürlich auch erkannt und zu erkennen gegeben, daß es sich bei dieser Frage um eine ganz grundsätzliche finanzverfassungsrechtliche Frage handelt. Die gesetzliche Erhöhung des Volumens der Bundesergänzungszuweisungen läuft mit dem Jahr 1993 aus. Schon von daher gibt es Veranlassung zur sorgfältigen Überprüfung möglicher Anschlußregelungen.
Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung des Strukturhilfegesetzes und zur Aufstockung des Fonds „Deutsche Einheit" wird sich morgen der Bundesrat befassen. Nach den schon im Finanzausschuß des Bundesrats gefaßten Beschlüssen ist damit zu rechnen, Herr Kollege Kühbacher, daß die Länder dieses Gesetzgebungsverfahren zum Anlaß nehmen werden, den Bund mit Mehrforderungen zu konfrontieren — Sie haben es eben bestätigt — , die sich für die Jahre 1992 bis 1995 auf zusammen — man höre und staune — 65 Milliarden DM aufaddieren würden.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Da haben die immer keine Probleme!)

Diese Forderungen sind der Sache nach nicht gerechtfertigt und würden den Bund ganz einseitig und unzumutbar in die Pflicht nehmen. Lassen Sie mich schließen: Sie wären bei den finanziellen Herausforderungen, vor denen der Bund steht, schlechterdings auch gar nicht finanzierbar.
Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205026100
Nun erteile ich dem Abgeordneten Wagner das Wort.

Hans Georg Wagner (SPD):
Rede ID: ID1205026200
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die SPD-Fraktion lehnt den vorliegenden Gesetzentwurf ab.
Es ist noch keine drei Jahre her, daß dieses Gesetz hier im Deutschen Bundestag verabschiedet worden ist. Sie entsinnen sich: im Dezember 1988. Es gab die Zielsetzung, dieses Gesetz im Jahre 1992 und noch einmal im Jahre 1995 zu überprüfen. Eine Sache, die vor drei Jahren auf zehn Jahre angelegt und gut war, kann man nicht einfach einkassieren, weil zwischendurch Probleme enstanden sind.
Wir wissen natürlich um die Notwendigkeit der Finanzhilfe für die neuen Bundesländer. Wir verwehren uns einer solchen Finanzierung auch gar nicht. Das haben wir in vielfacher Hinsicht bereits gezeigt. Nur sind wir der Auffassung, daß die westlichen Länder der Bundesrepublik Deutschland, die jetzt davon profitieren, nicht abrupt aus der Finanzierung entlassen werden dürfen. Sie haben genauso wie die neuen Länder einen Anspruch auf Hilfe des Bundes. Sie haben auch ein Anrecht auf Schutz ihres Vertrauens in die Entscheidungen des Bundes.
In der Begründung der Bundesregierung vom 14. Oktober 1988 zu diesem Strukturhilfegesetz steht, daß die Länder und die Gemeinden in den betroffenen Gebieten auf zehn Jahre eine Sicherheit haben sollen, welche Mittel sie bekommen, damit sie ihre Maßnahmen — Investitionen, wirtschaftliche und strukturelle Verbesserungen — daraus finanzieren können. Das ist eine Entscheidung gewesen, die viele Länder und Gemeinden dazu veranlaßt hat, über langfristige Investitionen zu entscheiden. Diese langfristigen Investitionen sind jetzt gefährdet, weil viele westliche Länder und Gemeinden angesichts der Haushaltsnotlagen gar nicht in der Lage sind, die Weiterfinanzierung allein zu tragen.
Die Übergangsfinanzierung von 600 Millionen DM bringt letztlich überhaupt nichts, weil die Anteile der einzelnen Länder so gering sind, daß sich bei der Gesamtinvestition überhaupt nichts ändert.
Außerdem ist es doch so, meine Damen und Herren, daß die A-Länder einen durchaus vernünftigen Vorschlag gemacht haben. Sie haben gesagt: Auch wenn wir betroffen sind, sind wir bereit, in den Jahren 1991,



Hans Georg Wagner
1992, 1993 und 1994 eine Abschmelzung hinzunehmen, bis hin zu 1,55 Milliarden DM im Jahre 1994, und dann aufzuhören. Nach diesem Vorschlag würde beispielsweise Bayern bereits im Jahre 1992 aus der Mitfinanzierung herausfallen.
Nun ist die ganze Sache deshalb makaber, so meine ich, weil der eigentliche Ansatz des Strukturhilfegesetzes ein ganz anderer war. Es war die seinerzeitige Initiative des niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht. Er hat gesagt: Bei den galoppierenden Sozialhilfeaufwendungen der Länder und Gemeinden muß der Bund bei der Mitfinanzierung in die Pflicht genommen werden. Das ist damals in den Kompromißvorschlag umgewandelt worden, der jetzt Strukturhilfegesetz heißt.
Im Vertrauen auf die damalige Entscheidung haben die Länder und die Gemeinden Investitionsmaßnahmen eingeleitet und konnten auf der anderen Seite die Sozialhilfe in erheblichem Umfang weiter zahlen. Die Sozialhilfe ist explodiert. Der Zeitraum von 1979 bis 1989 möge dafür ein Beleg sein. Im Jahre 1979 sind in den westlichen Bundesländern 9,3 Milliarden DM für Sozialhilfe aufgewendet worden. Im Jahre 1989 waren es bereits 22,6 Milliarden DM. Der Bund mußte mitfinanzieren, weil die Länder und Gemeinden nicht die alleinige Verantwortung für die Sozialhilfeaufwendungen haben. Denn zum einen ist Langzeitarbeitslosigkeit nicht Sache der Länder und Gemeinden. Zum großen Teil sind es vielmehr Initiativen und Entscheidungen der Bundesregierung gewesen, die dazu geführt haben. Aufnahme von Aussiedlern, Aufnahme von Asylbewerbern, Hilfe bei Altersarmut — die Diskussion über die Pflegeversicherung ist ganz aktuell — : Das sind alles Dinge, worauf die Länder und Gemeinden nur einen geringen Einfluß haben. Die Länder können zwar über den Bundesrat das eine oder andere bewirken, aber sie dürfen finanziell nicht alleine verantwortlich sein.
Sie wollen nun — Herr Staatssekretär, Sie haben es ja ausgeführt — mit 2,45 Milliarden DM 1992 den Fonds „Deutsche Einheit" aufstocken, dazu noch mit 3,45 Milliarden DM als Sonderaufschüttungen, so daß insgesamt 5,9 Milliarden DM mehr zur Verfügung stehen. Es müßte allerdings — das sage ich noch einmal — für die alten Länder eine Regelung getroffen werden, damit nicht ein abruptes Aufhören der wirtschaftsstrukturellen Entwicklung bei ihnen eintritt.
Ich meine, daß die A-Länder einen Vorschlag gemacht haben, der durchaus die Sympathie der SPD finden kann — er hilft den neuen Ländern letztlich wesentlich mehr als das, was die Bundesregierung vorhat. — , nämlich die Aufstockung des Fonds „Deutsche Einheit" um 7 Milliarden DM im Jahre 1992, um 15 Milliarden DM im Jahre 1993 und um 25 Milliarden DM 1994, dazu die stufenweise Abschmelzung der Strukturhilfe bis 1994 — ich habe eben die Zahlen genannt: 2,45 Milliarden DM in 1992, Rückführung auf 2 Milliarden DM in 1993, dann eine Reduzierung auf 1,55 Milliarden DM in 1994 und die Rückführung auf Null im Jahre 1995. Die schrittweise Beteiligung des Bundes an den Sozialhilfeaufwendungen der Länder und der Gemeinden parallel dazu könnte eine erhebliche Entlastung bedeuten und wird deshalb auch von uns als Vorschlag mitgetragen.
Sie haben die Haushaltsnotlagendotation für das Saarland und für Bremen angesprochen, Herr Staatssekretär. Wenn Sie mitrechneten — und ich bitte Sie darum — , dann haben die Saarländer bisher 112 Millionen DM pro Jahr bekommen — dies war auf zehn Jahre zugesagt — und eine Haushaltsnotlagendotation von 75 Millionen DM pro Jahr. Das waren also 187 Millionen DM pro Jahr, und nach Ihrem Vorschlag sollen es jetzt 150 Millionen DM pro Jahr sein. Wenn ich richtig rechne, sind das 37 Millionen DM weniger als vorher. Wie Sie da die Haushaltsnotlagendotation weiter aufrechterhalten wollen, ist mir zunächst einmal unerklärlich. Ich meine — und das gilt für Bremen in ähnlichem Umfange —, daß man versuchen muß, aus den Vorschlägen, die die A-Länder gemacht haben, die die Sozialdemokraten hier im Parlament mit großer Sympathie verfolgen, die dem Bund ab 1993 Mehreinnahmen bringen werden, dazu zu kommen, mittels der Notlagendotation das Saarland und Bremen bis zur Teilentschuldung zu führen. Auch dieser Vorschlag der A-Länder ist besser als das, was hier vorgelegt worden ist.
Lassen Sie mich einfügen: Es ist natürlich sehr leicht, über anderer Leute Geld zu verfügen. Die Bundesergänzungszuweisungen, Herr Staatssekretär, zahlen die armen Länder. Daraus wird die Haushaltsnotlagendotation entnommen. Das Saarland finanziert seine eigene Haushaltsnotlagendotation durch einen Anteil von 18 Millionen DM pro Jahr über die Bundesergänzungszuweisungen. Also ist das keine echte Hilfe des Bundes, für in Not geratene Bundesländer, sondern hier wird aus der Tasche der armen Länder in die Tasche der noch ärmeren Länder gegeben. Das ist, finde ich, keine gute Lösung. Wir sollten das Strukturhilfegesetz so weiterfahren lassen und die Vorschläge, die die A-Länder gemacht haben, übernehmen. Ich bin absolut sicher, daß wir dann eine vernünftige Regelung finden, die solide ist, die den Ländern mehr hilft, auch den neuen Bundesländern, als das Ihre Vorschläge tun.
Deshalb sagen wir nein zu diesem Gesetz. Wir werden bei der Beratung dieses Gesetzentwurfs unsere Vorschläge natürlich entsprechend einbringen und versuchen, sie durchzusetzen und Sie zu bewegen, die vernünftigen Vorschläge der SPD mit zu tragen.
Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205026300
Nun erteile ich dem Abgeordneten Kriedner das Wort.

Arnulf Kriedner (CDU):
Rede ID: ID1205026400
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe dem Kollegen Wagner aufmerksam bei seinen Ausführungen zugehört. Herr Kollege Wagner, mir ist es lieber, wir in den neuen Bundesländern können auf rechenbare Grundlagen zurückgreifen als auf die von Ihnen genannten Zahlen, die zwar hier dahergesprochen, aber meiner Ansicht nach nicht gerechnet sind.
Für mich schlägt für die Länder im alten Bundesgebiet morgen die Stunde der Wahrheit, wenn es nämlich um den Abbau der Strukturhilfe geht, weil sich die alten Länder an dieser Stelle bekennen müssen. Sie müssen bekennen, wo sie die größere Not sehen,



Arnulf Kriedner
in den in allem strukturell gut ausgestatteteten alten Bundesländern oder in den zur Bundesrepublik Deutschland beigetretenen Ländern, in denen die Struktur nahezu in allen Bereichen durch die vierzigjährige Mißwirtschaft des SED-Regimes am Boden liegt.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Mich interessiert, ehrlich gesagt, auch, wie der hier anwesende Finanzminister des Landes Brandenburg, der früher ja Mitglied des Haushaltsausschusses dieses Bundestages war, diese Fragestellung morgen im Bundesrat behandeln wird.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Vielleicht sagt er heute schon etwas!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205026500
Ich kann das Haus darüber informieren, daß sich der Herr Finanzminister des Landes Brandenburg, der ehemalige Kollege Kühbacher, zu Wort gemeldet hat. Sie werden also schon die Antwort bekommen.

Arnulf Kriedner (CDU):
Rede ID: ID1205026600
Dieses Gesetz will die jährlichen Strukturhilfemittel von 2,45 Milliarden DM an die alten Bundesländer auslaufen lassen. Die Mittel sollen voll zur Aufstockung des Fonds „Deutsche Einheit" dienen. Diese Maßnahme ist — wie wir finden — gerechtfertigt.
Bei Einführung der Strukturhilfe im Jahre 1989 war die deutsche Einheit nicht absehbar, Herr Kollege Wagner. Da hilft auch nicht der Hinweis, die Situation habe sich nicht geändert. Sie hat sich gravierend geändert. Zwischen Ost und West bestehen solche Differenzen, daß sich doch heute das Gefälle nicht mehr wie damals zwischen Schleswig-Holstein und Bayern oder Baden-Württemberg darstellt; dieses Gefälle besteht heute zwischen Schleswig-Holstein und Thüringen. Das ist die Tatsache, vor der wir hier stehen und über die wir hier reden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, die deutsche Einheit ist also Realität geworden. Strukturnotwendigkeiten wie etwa in den damaligen Zonengrenzregionen der alten Bundesrepublik müssen heute neu bedacht werden. Ebenso ist doch ein geflügeltes und von allen gebrauchtes Wort Realität geworden, daß Teilung nur durch Teilen überwunden werden kann. Daran müssen auch die alten Bundesländer ihren Anteil übernehmen.
Mit dem Gesetz zur Aufhebung des Strukturhilfegesetzes und zur Aufstockung des Fonds „Deutsche Einheit" sollen Bund und Länder diesen Satz „Teilung durch Teilen" glaubwürdig machen und ihm gerecht werden. Jedem ist natürlich einsichtig, daß ein abrupter Abbruch der Strukturhilfe für die bisherigen Empfängerländer dort Übergangsprobleme schaffen würde. Deshalb sollen diese Länder ja auch eine einmalige pauschale Überbrückungshilfe in Höhe von 600 Millionen DM erhalten. Darüber hinaus erfahren die durch besondere Haushaltsstrukturprobleme betroffenen Länder Bremen und Saarland eine befristete Verdoppelung der Sondervorabbeträge zur Haushaltsstützung.
Ansonsten spricht die Situation in den neuen Bundesländern für sich. Überall dort, besonders aber in den früheren Grenzregionen längs der ehemaligen innerdeutschen Grenze, bedarf die Grundstruktur dringend des Ausbaus und damit des Einsatzes entsprechender Mittel. Hier wird ein Weg — nicht der ausschließliche — dafür gewiesen. Die Wirtschaft in den neuen Ländern ist in ganz erheblichem Maße von strukturellen Vorgaben abhängig. Dabei geht es eben nicht nur um Bundesstraßen oder um die Bundesautobahnen oder um anderes, was der Bund tut, sondern es geht vor allem um Strukturbedingungen der Gemeinden und der Landkreise.
Das Grundgesetz gebietet den föderativen Gleichbehandlungsgrundsatz. Mit dem schlimmen Erbe der 40jährigen SED-Parteidiktatur muß möglichst schnell aufgeräumt werden. Deshalb ist die Umpolung der Strukturhilfemittel zur Aufstockung des Fonds „Deutsche Einheit" für mich ein Gebot der Stunde.
Besondere Bedeutung gewinnt in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß der Fonds „Deutsche Einheit" für die Jahre 1992 bis 1994 — das ist eben schon einmal ausgeführt worden; man sollte das aber wiederholen — um jährlich 2,45 Milliarden DM aufgestockt wird. Dadurch erhöht sich der Gesamtrahmen für die neuen Länder und ihre Gemeinden über die bisher erbrachten Leistungen hinaus um jährlich 5,9 Milliarden DM. Dies gewährt auch einen Ausgleich dafür, daß die neuen Länder erst ab 1995 voll in den Länderfinanzausgleich einbezogen werden.
Die im Vorfeld der Erörterungen deutlich gewordenen Klagen der alten Bundesländer scheinen mir, Herr Wagner, wenig überzeugend zu sein. Die alten Bundesländer gehören schon bisher zu den ersten, die über erhöhte Umsatzsteuereinnahmen von der deutschen Einheit profitiert haben. Sie müßten sich auch die Frage gefallen lassen — diese Frage wird bei den Beratungen ernsthaft zu stellen sein —, ob die bisher gezahlten Strukturhilfemittel nun wirklich in jedem Fall in geeignete Projekte investiert worden sind. Inzwischen ist es doch eine Tatsache, daß das entscheidende Strukturgefälle in diesem Land zwischen West und Ost und nicht mehr zwischen Nord und Süd besteht.
Wenn sich die alten Bundesländer auf einen Vertrauensschutz berufen — Sie haben eben auch davon gesprochen — , so kann sich dieser nur auf bereits bewilligte Vorgänge beziehen. Seit Mitte dieses Jahres hat das Bundesministerium der Finanzen Neuanträge nicht mehr entgegengenommen. Deshalb ist es auch unverständlich, wenn einzelne Bundesländer — das erleben wir ja in diesen Tagen — ihre Haushaltsentwürfe für 1992 noch unter Einbeziehung der Bundesstrukturhilfemittel eingebracht haben.
Ich möchte zusammenfassen. Von hier aus geht ein Appell an den Bundesrat, sich seiner Verantwortung für alle 16 Bundesländer zu stellen. Die Bundesregierung hat bei Einbringung der Vorlage, über die wir beraten, einen Kompromißweg gewiesen, der für alle Beteiligten akzeptabel sein müßte.
Die Situation in den ostdeutschen Ländern ist nach wie vor prekär. Haushaltsprobleme, besonders auch in den Gemeinden, können nur mit zusätzlicher Hilfe bewältigt werden. Deshalb weist das vorliegende Ge-



Arnulf Kriedner
setz den richtigen Weg. Wir appellieren an alle Beteiligten, sich der Verantwortung zu stellen, die uns die deutsche Vereinigung aufgibt.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205026700
Nun erteile ich dem Abgeordneten Dr. Briefs das Wort.

Dr. Ulrich Briefs (PDS/LL):
Rede ID: ID1205026800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manchmal könnte man meinen, die Bundesregierung und die Koalitionsparteien könnten nicht genug Gelegenheiten finden, um in soziale Fettnäpfchen zu treten. Ein weiteres Beispiel ist der Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung des Strukturhilfegesetzes und zur Aufstockung des Fonds „Deutsche Einheit" . 1988 als Notmaßnahme zur Entlastung der Gemeinden auf Anregung eines CDU-Ministerpräsidenten geschaffen, wollen Sie dieses Strukturhilfegesetz jetzt einfach streichen. Sie lassen damit die Gemeinden mit steigenden Ausgaben insbesondere für die Sozialhilfe, da die Zahl der Sozialhilfeempfänger weiterhin steigt, was nicht zuletzt auf Ihre verfehlte Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik zurückzuführen ist, im Regen stehen. Die Gemeinden werden den zusätzlichen Druck, der durch den Wegfall der Mittel nach dem Strukturhilfegesetz entsteht, auf die Sozialhilfeempfänger abwälzen. Diesen bürden Sie also durch die Anlage Ihres Gesetzesvorhabens erhebliche zusätzliche Kosten für die — in Anführungszeichen — deutsche Einheit auf. Statt in die prallvollen Kassen der Wirtschaft zu greifen, statt z. B. nur einige Krümel der riesigen hin und her vagabundierenden Kapitalien der Wirtschaft in Anspruch zu nehmen, bürden Sie den ganz besonders Bedürftigen in dieser reichen Gesellschaft neue Belastungen auf.
Statt den neuen Ländern zusätzliche Mittel im Rahmen eines umfassenden Länderfinanzierungsausgleichs und über Bundesergänzungszuweisungen zukommen zu lassen — natürlich müßten Sie dann klotzen — , nehmen Sie den bekannterweise finanzpolitisch schlecht ausgestatteten Gemeinden Mittel weg.
Dieses Gesetz ist eine weiteres Beispiel für die sozial völlig falsch angelegte Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Bundesregierung und der sie tragenden Parteien.
Sie lösen nicht einmal die finanzwirtschaftlichen Probleme der neuen Bundesländer. 1991 verfügten die neuen Länder einschließlich der Gemeinden im Osten über 83 v. H. der Einnahmen in den westlichen Bundesländern. Damit die Einnahmen der fünf neuen Länder und die Gemeinden in ihnen nicht noch weiter, also nicht unter vier Fünftel der westlichen Finanzausstattung, absinken, und das angesichts x-mal größerer Probleme, müßten 1992 9,6 Milliarden DM, 1993 17,3 Milliarden DM und 1994 26,2 Milliarden DM, insgesamt also 53,1 Milliarden DM bereitgestellt werden.
Dieses Gesetz stellt Ihnen aber jährlich nur 5,9 Mil-harden DM, insgesamt also nur 17,7 Milliarden DM zur Verfügung. 17,7 Milliarden DM Mittelzuführung angesichts eines insgesamt wohl sogar noch wesentlich zu niedrig angesetzten Bedarfs von 53,1 Milliarden DM — das ist das reale Bild.
Die finanzwirtschaftlichen Probleme der fünf neuen Länder und der ostdeutschen Gemeinden ließen sich allerdings auf einem anderen Wege mit einem Schlag lösen. Streichen Sie einfach den Rüstungsetat. Er allein beträgt im Jahre 1992 über 52 Milliarden DM, und das, obwohl der Feind abhanden gekommen ist.
Wenn Ihnen das zu rasch geht, streichen Sie 1992 10 Milliarde DM — wir sind ja noch in den Haushaltsberatungen —, 1993 20 Milliarden DM und 1994 30 Milliarden DM.

(Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: So einfach ist die Welt, Herr Briefs!)

Dann haben Sie mehr als genug, um den Osten besser als bisher auszustatten.
Wir lehnen daher aus diesen und aus anderen Gründen den vorgelegten Gesetzentwurf entschieden ab.
Danke.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205026900
Nun erteile ich dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Weng das Wort.

Dr. Wolfgang Weng (FDP):
Rede ID: ID1205027000
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es wäre an sich an der Zeit, daß sich alle Beteiligten einmal zusammensetzen würden und im Lichte der öffentlichen Einnahmen und der Aufgaben und Notwendigkeiten eine neue Finanzverteilung kreieren würden. Aber da man weiß, daß das so nicht stattfindet und daß solche Versuche auch in Zukunft wahrscheinlich mit Problemen behaftet sein werden, bleibt es eben dabei, daß in der Verteilung der Mittel im Augenblick der Bund wesentlich schlechter aussieht als die anderen Gebietskörperschaften

(Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

und das deswegen das, was hier von den Oppositionsparteien vorgetragen wird, Partial-, also Teilinteressen, dient und daß das Gesamtinteresse hier von der Mehrheit vertreten werden muß.
Wenn ein Gesetz aufgehoben werden soll, dann ist es natürlich naheliegend, daß man auch einen Rückblick auf die Entstehung tut. Meine persönliche Erinnerung an diese Entstehung bezieht sich nicht nur auf den Entstehungsvorgang als solchen. Mancher wird sich daran erinnern, daß seinerzeit, wie hier auch angedeutet wurde, eine Landesregierung aus dem Kreis derer, mit denen sie sonst zusammen gestimmt hat, ausschied und daß mit der Forderung, der Bund solle die gesamte Sozialhilfe übernehmen, versucht wurde, die große Steuerreform der vergangenen Wahlperiode zu torpedieren. Diese Reform war eine der großen Leistungen der vergangenen Wahlperiode. Die Tatsache, daß dies in Frage gestellt wurde, war sicherlich ein Versuch, hier etwas zu pressen, der nicht begrüßt werden kann.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Mir zeigt sich in der Erinnerung nur, daß Wähler nicht
käuflich sind und daß es sich nicht auszahlt, wenn



Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen)

man eigenen Freunden in den Rücken fällt. Das ist eben nicht honoriert worden. Die Wahl in Niedersachsen ist bedauerlicherweise zu Lasten der Koalition ausgegangen. Wer sich daran erinnert — ich habe das wirklich noch gut vor Augen, in welchem Maße sich damals der Bundesfinanzminister Stoltenberg gewunden hat im Zorn über diese Pression von seiten seines Parteifreundes Albrecht, der immerhin stellvertretender Bundesvorsitzender seiner Partei gewesen ist —, der muß sagen: Es ist nicht gut, wenn wichtige politische Notwendigkeiten — —

(Michael Glos [CDU/CSU]: Herr Kollege Weng, ist das eine historische Stunde?)

— Nein, es sind ja nur Minuten, Herr Kollege Glos.

(Heiterkeit)

Die Anregung ist begründet, sonst ist meine Redezeit ganz weg, und ich habe noch nichts zum Thema gesagt. Aber ich erfrische mich einen Moment und komme dann darauf zurück.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205027100
Eine durchaus beachtliche Erkenntnis, Herr Abgeordneter.

Dr. Wolfgang Weng (FDP):
Rede ID: ID1205027200
Man muß manchmal auch zeigen, daß man nachtragend sein kann, Herr Kollege Glos. Das ist in diesem Haus nicht unbedingt ein Fehler, wenn die Leute wissen, daß man sich manches merkt.
Die Bundesregierung hat jetzt diesen Entwurf zur Abschaffung des Gesetzes vorgelegt, um eine Verbesserung der Finanzierung der neuen Bundesländer zu erreichen. Der Fonds „Deutsche Einheit" soll, er muß aufgestockt werden. Wer sich daran erinnert, daß bei der Verabschiedung des Strukturhilfegesetzes natürlich nicht vorhersehbar war, daß es zur deutschen Einigung innerhalb so kurzer Zeit kommen würde, der muß sagen: Der Gesetzgeber war damals so weise, als ob er es doch vorhergesehen hätte. Er hat eine Revisionsklausel eingebaut, und diese Revisionsklausel ermöglicht es uns jetzt, im Blick auf die gesamtdeutsche Entwicklung zu sagen: Das Voranschreiten des Aufbaus in den neuen Ländern ist im Augenblick das Wichtigere, und wir unterliegen alle, auch die Minderheit hier im Parlament, dem Verfassungsgebot, das uns aufgibt, innerhalb der gesamten Bundesrepublik vergleichbare Lebensverhältnisse zu schaffen.
Das wird sowieso eine Zeit dauern, aber es ist eben ganz klar, wo hier der Schwerpunkt liegen muß. Deswegen ist es begründet, diese Mittel für den Aufbau der neuen Bundesländer zur Verfügung zu stellen.
Das Argument, daß die alten Länder langfristige Pläne hätten, daß hier Vertrauensschutz bestünde, zieht nicht. Das Gesetz war in seiner Abwicklung so angelegt, unabhängig von der genannten Revisionsklausel, daß eigentlich nur von Jahr zu Jahr verfügt werden konnte, selbst wenn im einen oder anderen Fall — mit einem gewissen Augenzwinkern — gesagt wurde: Man wird in der Lage sein, auch über den Zeitraum eines Jahres hinweg zu finanzieren. Dem wird Rechnung getragen. Es sind ja Übergangsklauseln, Übergangsregelungen in dem Gesetz vorgesehen, so daß Härten auf jeden Fall vermieden werden, natürlich nicht — ich sage das klar — die Härte, daß hier den Ländern Geld fehlen wird, über das sie seither verfügt haben. Aber im Rahmen dessen, was an neuen Aufgaben auf uns zukommt, gilt für alle Gebietskörperschaften, daß sie sich sehr einschränken müssen, gilt für alle politisch Handelnden, daß sie viele Wünsche nicht so erfüllen können, wie das in früheren Jahren vielleicht möglich war. Die Priorität ist genannt: Mit positiver Tendenz für die Beratungen in den Ausschüssen — der Haushaltsausschuß soll federführend sein — stimmt meine Fraktion, die FDP-Fraktion, der Überweisung der Vorlage an den federführenden Ausschuß und die mitberatenden Ausschüsse hier zu.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Michael Glos [CDU/CSU]: Eine kluge Entscheidung!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205027300
Es spricht nun der Abgeordnete Werner Schulz.

Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1205027400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die öffentliche Kritik an der Schuldenpolitik der Bundesregierung hat ihre Wirkung nicht ganz verfehlt. Doch die jüngsten Versuche des Finanzministers, die staatlichen Einnahmen zu erhöhen, zeigen allerdings nur wenig Sachverstand. Eigentlich müßte die Kritik der Experten an der geplanten Mehrwertsteuererhöhung Warnung genug sein.
Um so unverständlicher ist es, wenn nun den alten Bundesländern ohne vorherige Absprache die Mittel aus dem Strukturhilfegesetz gestrichen werden sollen. Zweifellos werden noch erhebliche Mittel für den Aufbau der öffentlichen Infrastruktur und sonstige öffentliche Investitionen in den östlichen Bundesländern gebraucht. Ich muß Sie aber, auch wenn es auf die Dauer vielleicht schon weh tut, daran erinnern, daß die Bundesregierung durch ihre Fehleinschätzung und zögerliche Haltung selbst dazu beigetragen hat, daß jetzt in Ostdeutschland so ungünstige Voraussetzungen für den wirtschaftlichen Aufbau — ein Aufschwung ist wahrlich nicht in Sicht — und die nötige Umstrukturierung bestehen.
Mit der Vorstellung, die relativ bescheidenen Mittel des Fonds „Deutsche Einheit" würden für den Umbau in den neuen Bundesländern und den Kommunen ausreichen, hat die Regierung im letzten Jahr den alten Bundesländern die schnelle Zustimmung zum Staatsvertrag abkaufen können. Die Warnungen der Wirtschaftsexperten, vor allem des Sachverständigenrats und der Bundesbank, hat sie in den Wind geschlagen.
Auch in den kommenden Jahren besteht ein erheblicher Finanzbedarf in den neuen Bundesländern. Die Gebietskörperschaften müssen endlich in die Lage versetzt werden, ihre Aufgaben zu erfüllen. Die Finanzausstattung der ostdeutschen Länder und Kommunen ist nach wie vor unzureichend.
Auch die Aufstockung des Fonds „Deutsche Einheit" wird kaum ausreichen, um die strukturellen Probleme der östlichen Bundesländer zu lösen. Die Vorstellung des Finanzministers ist leider zu optimistisch:



Werner Schulz (Berlin)

Schon im kommenden Jahr werden die Leistungen — nach den 35 Milliarden DM im laufenden Jahr — zurückgehen, und im Jahre 1994 — Sie haben die Zahlen ja bereits mehrmals gehört — sollen es nur noch 15,9 Milliarden DM sein.
Das Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung geht davon aus, daß der Aufschwung im Osten erst nach 1945, nein: 1995 in Fahrt kommt. Die Situation ist vergleichbar.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Gott sei Dank nicht ganz!)

Sie verzeihen mir diesen Ausrutscher. Bloß das Instrumentarium, das Sie anwenden, ist an der Stelle etwas stumpf.
Diese Aussage des IAW bedeutet, daß die Einnahmen der Gebietskörperschaften in Ostdeutschland deutlich unter den Erwartungen liegen werden.
Ich möchte auch nicht verschweigen, daß die westlichen Bundesländer nur in geringerem Umfang zur Finanzierung der deutschen Einheit beitragen. Auch der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanzministerium stellte dazu fest, daß sich die alten Bundesländer ihrer Verpflichtungen zu einem beträchtlichen Teil entzogen haben.
Es ist daher fraglich, ob gerade die Umlenkung der Strukturhilfemittel einen geeigneten Ausgleich schafft. Immerhin würden damit gerade den strukturschwachen Ländern neue Problem aufgebürdet.
Die Aufstockung der Ergänzungszuweisungen wird nur eine minimale Hilfe sein. Im übrigen: Der Finanzminister sollte nicht darauf vertrauen, daß er die Bundesländer nach dem Motto „Teilen und herrschen" auf Dauer gegeneinander ausspielen kann.
Was jetzt in Wahrheit ansteht, ist eine im föderalen Sinne wirklich gerechte Lösung des Länderfinanzausgleichs. Die neuen Länder müssen zügig in die Finanzverfassung der Bundesrepublik einbezogen werden. Hier hat die Bundesregierung leider noch keinerlei Vorstellungen entwickelt.
Die anstehende Debatte über eine deutsche Verfassung sollte zur Klärung dieses Problems genutzt werden.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205027500
Zum Schluß der Debatte erteile ich dem Finanzminister des Landes Brandenburg, Kühbacher, das Wort.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1205027600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bitte um Nachsicht, daß ich mich hier in diese Debatte einmische. Ich möchte Ihre abendliche Ruhe hier nicht stören. Aber ich denke, es muß aus Potsdam in Richtung Bonn einiges geradegerückt werden.
Schon die Vorlage eines Gesetzes, das mit einer glatten Wortverdrehung anfängt, muß hier richtiggestellt werden. In diesem Jahr bekommen die neuen Bundesländer aus dem Fonds „Deutsche Einheit" 35 Milliarden DM. Das reicht nicht. Wir müssen trotzdem auf den Kreditmarkt. Nach diesem Gesetz, das
eine Aufstockung verheißt, Herr Kollege Kriedner, sollen wir im nächsten Jahr nur 33,9 Milliarden DM bekommen, also weniger Geld. Wie man das Gesetz mit „Aufstockung" überschreiben kann, das müßten Sie als Abgeordnete eigentlich einmal kritisch hinterfragen.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Haben Sie den ursprünglichen Plan gar nicht gesehen, Herr Kollege?)

— Zu dem ursprünglichen Plan komme ich, Herr Kollege Weng. Es tut nämlich weh. Was Sie sich in der Bundesregierung und in den die Bundesregierung tragenden Parteien vorgestellt haben, war, daß die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern eine solche Rasanz auf der Steuerseite annehmen würde, daß man den neuen Bundesländern im Jahre 1992 7 Milliarden DM weniger geben müßte.
Das Gegenteil ist der Fall. Sie wissen, daß die Steuereinnahmen bei uns zwangsläufig so niedrig ausfallen, weil die Umsätze in den Westländern getätigt werden und die Einkommensteuern, bezogen auf die Lohnsteuer, wegen der ansteigenden Arbeitslosigkeit zurückbleiben. Wir werden im nächsten Jahr erheblich weniger Steuereinnahmen haben als die Personalausgaben, zu denen wir verpflichtet sind.
Meine Damen und Herren, das weiß doch jeder hier im Raum: Wir müssen das Personal anständig bezahlen. Ich bin nach wie vor der Auffassung: Die Polizeibeamten in den neuen Ländern werden unanständig schlecht bezahlt.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

Wir sind nicht in der Lage, sie besser zu bezahlen, weil die Besoldungsgesetze hier in Bonn gemacht werden. Sie werden unanständig schlecht bezahlt, und wir müssen uns nicht wundem, wenn die Abwanderung aus diesem Beruf in den Beruf der Bauarbeiter, z. B. in Berlin, permanent anhält. 4 000 Leute verlassen diesen Beruf, wenn die Einschätzungen richtig sind.
Worum ich Sie hier bitte, ist, auch darüber nachzudenken, daß es zwei Steuerfisken sind, die an den Steuereinnahmen insbesondere partizipieren: Das sind die Länder, aber es ist auch der Bund — an dem Umsatzsteueraufkommen ist der Bund mit 65 Prozent beteiligt. Herr Abgeordneter Kriedner, das haben Sie wohl vergessen.

(Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Er zahlt auch die Hauptlasten, Herr Kühbacher! Das wissen Sie so gut wie ich!)

— Deswegen bin ich der Meinung, er soll, wenn er von der Aufstockung des Fonds Deutsche Einheit redet, die Preislage etwas kleiner wählen. Ich bin schon zufrieden, wenn er den Fonds Deutsche Einheit auf dem Niveau dieses Jahres verstetigt. Das reicht uns schon. Wir sind gar nicht die großen Geldhasardeure.
Wir müssen aber, Herr Abgeordneter Kriedner, aus der Rolle des Bettlers herauskommen. Mit diesem Gesetz bleiben wir in der Rolle des Bettlers. Nach diesem Gesetz, das Sie hier eben als das Nonplusultra beschrieben haben, sollen wir 1993 noch einmal 8 Milliarden DM weniger bekommen.



Minister Klaus-Dieter Kühbacher (Brandenburg)

Sie halten uns in der Rolle des Bettlers, wissen aber ganz genau, daß die Mitarbeiter im öffentlichen Dienst im nächsten Jahr eine Anpassung ihrer Gehälter bekommen sollen, damit auch sie nicht noch abwandern, damit uns nicht noch die Lehrer, die Sozialarbeiter, die Mitarbeiter im Justizvollzugsdienst von der Fahne gehen. Als ob wir die entlassen könnten! Sie wissen, daß das nicht geht. Die Länder tragen die Hauptlast. Also helfen Sie uns bitte, aus der Rolle des Bettlers gegenüber dem Bund und gegenüber den Ländern herauszukommen!
Da hilft es auch nicht, Herr Staatssekretär Grünewald, daß Sie die armen neuen Länder gegen die finanzschwachen alten Länder ausspielen. Es ist nicht fair, wenn Sie mir sagen, ich möge mich doch bei dem hungrigen Nachbarn aus Bremen oder aus dem Saarland oder aus Schleswig-Holstein guthalten. Das ist nicht in Ordnung. Die Finanznot dieser Länder haben Sie in diesem Papier selbst beschrieben. Dennoch sagen Sie, die alten Länder mögen bitte schön den neuen Ländern helfen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205027700
Herr Minister, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Thiele zu beantworten?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1205027800
Ja, selbstverständlich.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205027900
Bitte sehr, Herr Abgeordneter.

Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Rede ID: ID1205028000
Herr Minister, ist es nicht so, daß die finanzielle Situation in den neuen Bundesländern deshalb so eng ist, weil die Finanzverwaltung in den neuen Bundesländern noch nicht so schlagkräftig ist, die entsprechenden Steuereinnahmen, die eigentlich auch in den neuen Bundesländern erfolgen müßten, beizutreiben? Ich möchte diese Frage ausdrücklich nicht als Kritik verstanden wissen; denn die Probleme sehe ich durchaus. Es müßte aber dann doch irgendwann einmal zu einer Steuermehreinnahme in den neuen Bundesländern kommen können, wenn die Finanzverwaltung steht.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1205028100
Herr Abgeordneter, das mag grosso modo richtig sein. Sie haben sich nur an den falschen Adressaten gewandt. Sie wissen vielleicht aus den Ihnen vorliegenden Statistiken, daß das Bundesland, das ich vertrete, und meine Finanzverwaltung so exzellent arbeiten, daß wir das einzige Zahlerland sind. Wir zahlen aus unserer Finanzverwaltung inzwischen an Thüringen und Sachsen-Anhalt im Rahmen des Finanzausgleichs. Fragen Sie bei Gelegenheit einmal die Regierungen, in denen Sie politische Mitverantwortung tragen!

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

Es geht mir hier im Kern doch um eine moralische Frage.
Meine Damen und Herren, wie ich eben sagte, wollen wir in den neuen Ländern aus der Bettlerrolle hinaus. Wir wollen eine Verstetigung unserer Einnahmemöglichkeiten. Über unsere Einnahmemöglichkeiten
wird eben hier im Deutschen Bundestag und nirgendwo anders entschieden. Wir können in den neuen Bundesländern keine eigenen Steuern beschließen. Das Steuerrecht liegt hier beim Bundestag. Sie hätten es also in der Hand.
Wir müssen über den Fonds Deutsche Einheit den Gemeinden einen halbwegs sicheren Weg in die nächsten vier Jahre weisen. Deshalb frage ich jetzt einmal hier in die Runde als Finanzminister, der auch eine private Meinung hat: Warum, bitte schön, bleibt denn die Bundesregierung und bleiben Sie als die die Bundesregierung tragenden Abgeordneten nicht bei Ihrem eingeschlagenen Weg? Sie haben doch den richtigen Weg gefunden. Sie haben den Solidarzuschlag auf die Einkommensteuer, die Körperschaftsteuer und damit natürlich auf die Lohnsteuer eingeführt. Alle Bürger, auch die im Osten, tragen dazu bei, daß Finanzmasse aufkommt. Warum, meinen Sie denn, kann dieser Solidarzuschlag nicht weiter erhoben werden? Damit käme Geld in die öffentliche Kasse, und zwar — ich verrate kein Geheimnis — nur in die Bundeskasse. Der Bundesfinanzminister wäre dann in der Lage, nicht nur den Fonds Deutsche Einheit zu verstetigen, sondern er könnte auch den finanzschwachen Ländern im Westen, die ja auch mehr Steuereinnahmen wünschen, diese auszuzahlen, Herr Staatssekretär Grünewald.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Jetzt komm aber langsam zu Schluß!)

— Ich komme zum Schluß.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205028200
Ja, ich wollte gerade darauf aufmerksam machen.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1205028300
Der Finanzminister wäre damit auch auf dem volkswirtschaftlich richtigen Weg. Denn eines ist doch richtig: Weder der Bund noch die neuen Länder, noch die alten Länder dürfen weiter auf den Kreditmarkt.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205028400
Herr Minister, Sie hatten drei Minuten erbeten. Da ich Sie kenne, habe ich fünf Minuten eingestellt. Jetzt sind wir bei sechs Minuten.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1205028500
Ich bin beim letzten Satz. — Herr Staatssekretär, die Bundesregierung war auf dem richtigen Weg, diese Mehrheit war auf dem richtigen Weg. Nur weil Sie glauben, Sie müßten den Solidarzuschlag gegen die Mehrwertsteuer eintauschen, machen Sie solche gesetzgeberischen Verrenkungen.
Herr Staatssekretär, ich freue mich auf die Diskussion morgen im Bundesrat. Vielleicht kommen wir doch noch in die Situation, daß Sie aus vollen Taschen uns aus der Bettlerrolle befreien.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205028600
Damit sind wir am Ende der Debatte.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/1227 an die der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Ich gehe einmal davon aus, daß das Haus damit einverstanden



Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
ist. — Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zwischenbericht der Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR
— Drucksache 12/622 —
Uns liegt der Vorschlag des Ältestenrats vor, eine Debattenzeit von einer Stunde zu beschließen. — Das Haus ist damit einverstanden. Dann ist dies beschlossen, und ich kann zunächst dem Abgeordneten Schwanitz das Wort erteilen.

Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1205028700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Daß wir heute diesen Zwischenbericht hier besprechen können und der Bericht dieses Haus erreicht, ist sicherlich ein positiver, ein sehr erfreulicher, aber auch — wer den Bericht gelesen hat, wird das wissen — ein notwendiger Umstand. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, als wir im Mai des vergangenen Jahres in der Volkskammer den Beschluß zur Änderung des Parteiengesetzes gefaßt haben und damit das Vermögen der PDS und auch der anderen Parteien und Organisationen unter treuhänderische Verwaltung gestellt haben. Ich weiß, daß es damals in der Volkskammer sehr turbulent zuging: mit Zweidrittelmehrheit auf die Tagesordnung, am selben Tag in den Ausschüssen beraten und dann erneut beschlossen.

(Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS/Linke Liste]: Ein Handstreich!)

— Ja, Herr Dr. Heuer, ein Handstreich. Ich weiß, Ihre Partei war damals sehr in Aufregung. Aber ich glaube, wer den Bericht liest, wird der Überzeugung sein, daß Sie sich heute sehr genüßlich im Sessel zurücklehnen können. Es ist schon erschreckend, daß nach eineinhalb Jahren hier offenbar herzlich wenig passiert ist.

(Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS/Linke Liste]: Dafür können wir aber nichts!)

Es gibt hier eine ganze Reihe von Problemen, auf die ich zumindest andeutungsweise eingehen möchte.
Zunächst fällt bei dem Bericht natürlich das ins Auge, was dessen Hauptgegenstand ist. Entsprechend den damals ausgeteilten Aufgaben sollten die Parteien und Massenorganisationen ihr Vermögen zum Stand 7. Oktober 1989 nachweisen. Wenn man in das Papier schaut, dann stellt man fest, daß es einen solchen Vermögensnachweis in vollständiger Form von keiner Partei und von keiner Massenorganisation gegeben hat. Dabei will ich gar nicht davon reden, wie das mit der Vermögenslage von 1945 an und mit den Entwicklungen bis dahin war. Dort findet sich auch nichts.
Ich muß natürlich anmerken, daß auch hinsichtlich der Aufgabenstellung der Kommission selber, hinsichtlich ihrer Tätigkeit, nur annähernd ein Tätigkeitsnachweis enthalten ist. Die Kommission berichtet in dem Papier selber, daß sie da auf einen künftigen Bericht abstellt. Das ist nach eineinhalb Jahren Tätigkeit wahrlich kein allzu erquickliches Resultat.
Hier taucht einfach auch die Frage auf, ob dieses Instrumentarium, welches hier gewählt worden ist, für diese Aufgabe ausreichend ist. Ich will hier daran erinnern, daß die Sozialdemokraten einen Antrag in diesem Haus einbringen werden, um das Problem der Regierungskriminalität im Zuge des Vereinigungsprozesses einer Lösung zuzuführen. Wir müssen, so glaube ich, diese Instrumentarien hier noch einmal neu durchdenken.
Aber ich will zu dem zurückkommen, was die Kommission berichtet. Die Kommission führt aus, daß sie vor allem zwei Probleme einer Klärung zuführen will. Zum einen schlägt sie sich verständlicherweise damit herum, zu klären, welche Parteien und Institutionen von dieser treuhänderischen Verwaltung überhaupt erfaßt sind. Zum anderen geht es dann natürlich darum, den konkreten Vermögensnachweis zu überprüfen und eine entsprechende Wertung vorzunehmen.
Dem geschulten DDR-Bürger fällt natürlich auf, bereits bei der ersten Aufgabe, daß da eine ganze Reihe von Organisationen und Institutionen fehlt. Ich will hier nur einmal die Urania und die VdgB ansprechen. Beispielsweise ist der Nationalrat der Nationalen Front enthalten. Da klingelt es natürlich sofort, und man fragt: Wo sind die Kreis- und Bezirksausschüsse? — Alles das sind Punkte, über die man sicherlich reden muß. Ich bin froh und dankbar, daß wir hier im Parlament, in den Ausschüssen, die Gelegenheit dazu haben werden.
Ich glaube auch, daß die Frage „Welches Vermögen ist denn nun hier eigentlich berührt?" vor allem in den Ausschüssen natürlich eine Rolle spielen wird. Mein Fraktionskollege Arne Börnsen wird dazu nachher sicherlich einige Ausführungen machen, vor allem zu solchen Erscheinungen, daß Vermögen, das sich ehemals in Rechtsträgerschaft befunden hat, dieser Kommission offensichtlich entzogen worden ist und in den Verfügungsbereich des Bundesfinanzministeriums gelangt ist — etwas, was so natürlich in keiner Art und Weise der Intention aus dem Jahre 1990 entspricht.
Hier taucht noch ein anderes Problem auf: Wer diesen Bericht liest, der kann sich der Frage nicht entziehen, inwieweit diese Treuhandschaft bzw. die Tätigkeit der Kommission eine weitere Bereicherung anhand des fremden Eigentums überhaupt verhindern kann. Wer sich den Bericht anschaut, der liest beispielsweise, daß die PDS bis zum jüngsten Tag 116 Grundstücke in Verpachtung, in Vermietung hat und daraus sicherlich Einnahmen bezieht, die dann mit Sicherheit zur Deckung des laufenden Finanzhaushalts genutzt werden. Mietfreie oder mit günstigen Mieten und Pachten versehene Grundstücke sind weiterhin in Nutzung. Mietfreie Objekte werden genutzt.
Von einer umfangreichen Spendenpraxis ist da zu lesen, beispielsweise von 55 Millionen, die aus dem



Roll Schwanitz
PDS-Vermögen an die Marx-Engels-Gesamtausgaben-Stiftung gegangen sind,

(Zuruf des Abg. Dr. Uwe-Jens Heuer Linke Liste)

oder von 2,6 Millionen an das Komitee der Antifaschisten. Auf Nachfragen der Kommission erfolgte seitens der PDS die Aussage, bei dem Empfänger sei dieses Geld einfach nicht mehr vorhanden gewesen.
Dort tauchen Sozialpläne auf, die in Parteien ablaufen. Man wird hier die Frage stellen müssen: Sind diese Sozialplanleistungen umfangreicher als Sozialplanleistungen, die beispielsweise Arbeitnehmer in treuhänderisch geführten Betrieben empfangen können? — Das alles sind Probleme, denen wir uns hier stellen müssen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205028800
Herr Abgeordneter Schwanitz, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Lederer zu beantworten?

Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1205028900
Bitte schön.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205029000
Bitte schön.

Andrea Lederer (PDS):
Rede ID: ID1205029100
Herr Schwanitz, ist Ihnen bekannt, daß bereits mehrfach klargestellt und auch bestätigt wurde, daß es sich bei dem Betrag an die VVN um eine Rückerstattung für die rechtswidrige Enteignung durch die SED handelt und nicht um eine Spende und daß derzeit dieser Betrag gesperrt wurde, obwohl die politische Aufklärungsarbeit, die diese Organisation leistet, gerade im Moment wohl sehr unterstützenswert wäre?

Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1205029200
Frau Kollegin, wir werden gerade in den Ausschüssen auch die Gelegenheit haben — Sie als Gruppe ja in erster Linie —, dazu noch einmal Aussagen anzufügen. Wir reden hier im Parlament zum ersten Mal über diesen Umstand, und ich glaube, daß wir auf der Grundlage dieses Berichtes — da ist das ein Fragment neben vielen — dazu natürlich noch nachfragen müssen.
Bei den vielen Entnahmen aus dem Vermögen — ich sage: auch Entnahmen nach dem 1. Juni 1990, also nach einem Zeitpunkt, zu dem es bereits um treuhänderisch verwaltetes Vermögen ging — wird auch die Frage zu stellen sein: Wie kann solches abhanden gekommenes Vermögen nachträglich wieder zurückgeholt werden? Ich glaube, wir müssen uns der Frage stellen, wie kann man diese Leute für Vermögenswerte, die hier abhanden gekommen sind, haftbar machen? Wie kann man das sicherstellen? Wie kann man verhindern, daß diese Posten aus der Verbindlichkeitsliste dieser Parteien und Organisationen verschwinden?
Ich möchte noch etwas zu einem letzten Punkt sagen. Es taucht hier — gerade auch aus der Sicht des Jahres 1990 — ein Problem bei der gemeinnützigen Verwendung auf. Die Volkskammer hat damals beschlossen, daß das unrechtmäßige Vermögen insgesamt für gemeinnützige Zwecke zu verwenden sei. Der Einigungsvertrag hat das alles ein wenig anders geregelt. Nach dem Einigungsvertrag ist das unrecht-
mäßige Vermögen an die früheren Berechtigten und an die Rechtsnachfolger rückzuübertragen. Nur der dann übrig bleibende Rest ist für gemeinnützige Zwecke zu verwenden, wobei als Grund für dieses Verfahren speziell der wirtschaftliche Aufschwung ins Feld geführt wurde.
Ich habe mit großem Interesse gelesen, daß sich die Kommission mit der Treuhand darauf geeinigt hat, daß die Treuhand darüber entscheidet, wann ein gemeinnütziger Verwendungszweck vorliegt. Die Treuhand kann offensichtlich nur in Ausnahmefällen davon ausgehen, daß die Kommission ihr Einverständnis verweigert.
Wer kontrolliert eigentlich die gemeinnützige Verwendung dieser Teilbestände? Ich meine, da gibt es viele Probleme. Sicherlich kann ich mir vorstellen, daß Objekte an Kommunen unentgeltlich übertragen werden können und die Gemeinnützigkeit damit erfüllt ist. Aber es entstehen auch Erlöse. Und ich möchte schon wissen, wohin diese Erlöse wandern. Verschwinden die im Finanzhaushalt der Treuhand? Ist damit schon die Gemeinnützigkeit erfüllt, oder werden tatsächlich noch andere Kriterien wirksam?
Das sind alles Fragen, die wir klären müssen — ein Riesenberg an Arbeit. Ich glaube, wir sollten uns darum kümmern.
Danke schön.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205029300
Nun erteile ich das Wort dem Abgeordneten Krey.

Franz Heinrich Krey (CDU):
Rede ID: ID1205029400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist nicht nur am heutigen Tage, sondern ganz allgemein spät geworden — hoffentlich nicht zu spät — , um über dieses wichtige Thema miteinander zu reden und dies vertieft auch in den Ausschüssen zu tun. Ich gestehe ganz freimütig, daß es mir schwerfällt, mit der gleichen Erkenntnis und der gleichen Betroffenheit wie Sie, Herr Kollege Schwanitz, über dieses Thema zu sprechen. Es ist sicher auch viel leichter, aus unserem Blickfeld heraus allgemeine Bemerkungen zu einem solchen Komplex zu machen. Ich jedenfalls werde bei der Durchsicht dieses Zwischenberichtes den Gedanken nicht los: Wie viele Menschen mußten dafür bluten, damit in Parteien und Massenorganisationen solche Vermögenswerte zusammengetragen werden konnten?
Gestatten Sie mir, daß ich das Folgende auch aus meiner Erlebniswelt heraus einmal sage.

(Zuruf des Abg. Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS/ Linke Liste])

— Sie können dazu nachher etwas sagen. — Ich möchte genau mit der Nachdenklichkeit, mit der ich zugehört habe, dazu einladen, daß wir uns alle ganz intensiv um dieses Kapitel deutscher Geschichte kümmern. Ich meine, gegenüber einem Vorgang, bei dem wir — jedenfalls ich — nur ganz bedingt beteiligt waren, soll das ohne Vorurteile geschehen.
Ich habe noch die gellenden Gesänge „Die Partei hat immer recht! " im Ohr. Dies muß doch wie ein Hohn klingen, wenn man die nüchternen und — wie



Franz Heinrich Krey
ich gerade auch erfahren habe — höchst unzureichenden Feststellungen dieses Zwischenberichtes liest. Immerhin hat die Bundesregierung diesen Zwischenbericht dem Bundestag schon im Mai zugeleitet. Warum wir erst heute darüber reden können, weiß ich nicht. Aber ich glaube, auch das ist eine Frage, die geklärt werden muß; denn — das kam mir eben so spontan in den Sinn — in dieser Zeit kann auch schon manche Nebelkerze geworfen worden sein, die die Aufklärung dann möglicherweise nicht gerade erleichtert.
Jeder, der die Vermögenslage der Parteien in demokratischen Ländern studiert hat, hat sich doch verwundert die Augen gerieben, daß die PDS — immerhin nach eigenen Angaben — am 31. Dezember 1989 ein Vermögen von — man höre und staune — mehr als 13 Milliarden Ost-Mark ausgewiesen hat.

(Dr. Dietmar Keller [PDS/Linke Liste]: Da gab es noch gar keine PDS zu dieser Zeit!)

— Die PDS hat dieses Vermögen ausgewiesen.

(Zuruf des Abg. Dr. Dietmar Keller [PDS/ Linke Liste])

Nach dem Zwischenbericht hat die PDS das unter Berufung auf die SED getan. Wenn Sie sich davon distanzieren? Am 30. September 1990 — da können Sie die Mitverantwortung überhaupt nicht leugnen — stehen dann 1,45 Milliarden DM auf dem Konto. Was ansonsten in dem Zwischenbericht zu lesen ist, mag bereits schon heute überholt sein.
Der prinzipielle Unterschied einer Partei in der ehemaligen DDR zu der Parteienlandschaft eines freiheitlich-demokratischen Staates ist doch mehr als bemerkenswert. Diese Unterschiede sprengen nach meinem Gefühl jede Vorstellungskraft. Wenn man die unzähligen Vernichtungen selbständiger Existenzen, privater Vermögen und die Enteignungen, die Zerschlagung einer leistungsfähigen Struktur freier Vereinigungen auf der einen Seite und die Zusammenballung wirtschaftlicher Macht, Geld- und Vermögenswerte auf der anderen Seite in den Händen der SED betrachtet, kann man die Schwere der jetzt zu lösenden Aufgaben nur erahnen.
Die unabhängige Kommission hat diese erste Zusammenfassung ihrer Tätigkeit, Feststellungen und Folgerungen bereits im März abgeschlossen. Inzwischen ist viel Wasser den Rhein heruntergeflossen. Manche Fragen sind auch bereits beantwortet und neue, viele neue sind erst zu stellen.
Die Mitglieder der Kommission und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Sekretariats — bei aller Problematik der Zusammensetzung — haben jedenfalls unseren Dank verdient. Ich will das ganz bewußt am Anfang sagen, denn die Aufgabe, die sie jetzt noch zu erfüllen haben, ist riesengroß und die Materie äußerst schwierig.
So begrüße ich es außerordentlich, daß auch Verträge mit unabhängigen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften abgeschlossen worden sind; ich habe gelesen, daß ein Unternehmen seinen Auftrag noch nicht erfüllt hat. Ich glaube aber, daß wir das mit staatlichen Institutionen überhaupt nicht bewerkstelligen können.
Was SED, Massenorganisationen und zur Dekoration pseudodemokratischer Parteistrukturen, geduldete, ausgehaltene Blockparteien in Liegenschaften, in Betrieben, in Wohnungsbesitz, in Ferienhäusern, in liquiden Mitteln zusammengerafft hatten, als mit der friedlichen Revolution 1989 das Ende des Systems gekommen war, ist absolut unglaublich.
Was sie und der von ihnen beherrschte Staat an Privilegien, an korrumpierbaren Mitteln und Vorteilen für die Nomenklatura herausholten, kann man nur erahnen, wenn man wie ich das Glück hatte, auf dieser Seite von Mauer und Stacheldraht zu leben.
Wie lange es dauern wird, bis die Schäden der in vier Jahrzehnten Entrechtungen, Beherrschungen und Enteignungen entstanden sind, aufgearbeitet werden können, welche Wege wir noch gemeinsam beschreiten müssen, um Licht in das Dunkel ungeklärter Transaktionen zu bringen, wie und auf welche Weise in dieses System einbezogene Mitarbeiter von Unternehmen ihre Lage bewältigt haben werden — wer will dazu heute, an diesem Tage bereits ein abschließendes Urteil abgeben?
Ich glaube, daß die Methodik und die Zielvorstellungen der unabhängigen Kommission noch einmal gründlich erörtert werden müssen. Zusammen mit der Treuhandanstalt müssen die umfangreichen, zeitaufwendigen Ermittlungen fortgesetzt, ja noch intensiviert werden, damit die heute völlig andere Parteienstruktur in den neuen Bundesländern mit allen Konsequenzen, auch für den Wettbewerb der Parteien, in einer freiheitlich-demokratischen Ordnung der gesamten Bundesrepublik, auch in vermögensrechtlicher Hinsicht, den Anforderungen unserer Verfassung, den rechtlichen Grundlagen und hoffentlich auch unserer gemeinsamen Auffassung von der Rolle demokratischer Parteien entspricht.
Schließlich muß alles getan werden, um das gesamte unrechtmäßig erworbene Vermögen zu ermitteln und dem wahren Eigentümer zurückzugeben. Inwieweit dieses Vermögen dann — Sie haben es auch angesprochen — dem Staatshaushalt zufließt oder zweckbestimmten, gemeinnützigen Zwecken zugute kommt, bedarf ebenfalls gründlicher Erörterung.
In vielen Fällen — das zeigt der Bericht deutlich — besteht noch ein gewaltiger Aufklärungsbedarf, dessen Umfang erheblich reduziert würde, wenn nun endlich auch alle relevanten Institutionen dem Beispiel der CDU folgen und sich ihrer Pflicht zur Rechenschaftslegung nicht länger entziehen würden.
Es geht nicht nur um Mark und Pfennig, sondern gerade auch um die staatspolitisch so wichtige Aufgabe der Standortbestimmung der Parteien, Verbände und Gewerkschaften im demokratischen Staat, dem sie zu dienen haben und den sie nicht zu ihrem Büttel machen dürfen, um das Volk zu beherrschen.
Ich will mit Hinweisen an die Parteien in der alten Bundesrepublik nicht zurückhalten. Auch da sind in der Vergangenheit Fehler gemacht worden. Aber was hier an Unvergleichlichkeit eines totalitären Systems festzuhalten ist, muß uns allen Mahnung und Verpflichtung sein, niemals mehr den Rückfall in eine Parteienallmacht zu gestatten. Wir müssen alle bereits kleinen Begehrlichkeiten wehren.



Franz Heinrich Krey
Die Menschen wollen zu Recht, daß auch in diesem Zusammenhang die Vergangenheit bewältigt wird. Alle Parteien müssen wissen, daß es in ihrem Interesse liegt, ihren Beitrag zur restlosen Aufklärung zu liefern.
Immerhin kann heute, nach einem Jahr deutscher Einheit, festgestellt werden, daß die Arbeit der unabhängigen Kommission, die in der ehemaligen DDR nach ihrer Berufung auf Grund des Volkskammerbeschlusses vom 21. Februar 1990 ohne Haushaltsmittel und auch ohne Personal arbeiten mußte, nicht nur, wie es den Bestimmungen des Einigungsvertrages entspricht, personell verstärkt, sondern im übrigen auch mit der notwendigen Ausstattung in die Lage versetzt wurde, nun erste Perspektiven für ein wichtiges Kapitel der Vergangenheitsbewältigung aufzuzeigen.
Was ist zu tun? — Die Arbeit der Kommission verdient unsere ganz Aufmerksamkeit. Sie muß die materiellen Voraussetzungen erhalten, ihre Tätigkeit erfolgreich abzuschließen und sich dann aufzulösen. Sie sollte zum Jahresabschluß 1991 das Parlament und die Öffentlichkeit unterrichten und für den Fall, daß Parteien und Organisationen den gesetzlichen Anforderungen nicht entsprechen, auch die notwendigen Konsequenzen aufzeigen.
Dabei ist es notwendig, daß die unabhängige Kommission mit dieser gewaltigen Aufgabe nicht allein gelassen wird. Daher sollten sich der Innenauschuß und die mitberatenden Ausschüsse nicht nur mit dem Zwischenbericht, sondern mit dem gesamten komplexen Thema gründlich befassen.
Die CDU/CSU-Fraktion stimmt der vorgeschlagenen Überweisung an den Innenausschuß sowie an den Haushalts- und an den Rechtsausschuß als mitberatende Ausschüsse zu.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205029500
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Lederer.

Andrea Lederer (PDS):
Rede ID: ID1205029600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn hier heute über den Bericht der unabhängigen Kommission diskutiert wird, dann wird über ein Dokument diskutiert, das von seinen Autoren selber zum Teil als überholt bezeichnet wurde.
In zahlreichen Punkten entspricht der Bericht hinsichtlich der PDS nicht der Wahrheit. Da steht z. B. zu den Grundstücken: „Lage und Adressen zahlreicher Grundstücke sind unbekannt. " Das ist schlicht gelogen, weil der Kommission wie auch der Treuhand genaue Übersichten über Rechtsform und Lage der Immobilien vorliegen. Anders wäre z. B. auch die inzwischen erfolgte Beschlagnahme durch die Treuhandanstalt wohl kaum möglich gewesen.
Da steht weiter: „Der Kommission fehlten die vollständigen Vermögensberichte zu den Parteibetrieben, insbesondere zu Fundament und Zentrag. Tatsächlich sind alle vorhandenen Bilanzen übergeben. "

(Wolfgang Lüder [FDP]: Seit wann?)

Liquide Mittel: Da wird in dem Bericht wissentlich falsch behauptet: „Es ergab sich ein Fehlbetrag an liquiden Mitteln in Höhe von 396,25 Millionen." Fakt ist, daß längst lückenlos aufgeklärt ist, daß dieser Betrag nicht fehlt.

(Clemens Schwalbe [CDU/CSU]: Wann?)

Es ist vielmehr so, daß die Westbuchhalter — entgegen ihrer arroganten Selbstüberschätzung — in diesem Punkt die Ostbuchhaltung schlicht nicht verstanden haben.

(Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

— Wissen Sie, wer das bestätigt hat? — Herr Kähne von der unabhängigen Kommission im Herbst 1990.

(Gerlinde Hämmerle [SPD]: Richtig schön ist das!)

Wenn die Arbeit der unabhängigen Kommission hier diskutiert wird, muß auch die Politik der Treuhand zum sogenannten Sondervermögen mitdiskutiert werden. Sämtliches Vermögen der PDS — Altvermögen wie auch Neuvermögen — ist eingezogen. Das betrifft sowohl die Mitgliedsbeiträge seit 1989 als auch die Wahlkampfkostenrückerstattung für den Bundestagswahlkampf 1990, die auf einem gesonderten Konto gehalten wurden. Wenn nicht das, was ist eigentlich dann Neuvermögen?
Bei keiner anderen Partei der ehemaligen DDR wurde jemals das Verhältnis von Alt- zu Neuvermögen geprüft.

(Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS/Linke Liste]: Skandal!)

Bei der CDU wird lapidar auf eine Verzichtserklärung Bezug genommen, ohne daß aber erwähnt wird, daß 26 Millionen DM noch vor dem 3. Oktober, aber während der treuhänderischen Verwaltung von Parteivermögen an die West-CDU überwiesen wurden.
Die Knebelung der PDS durch Treuhand und Kommission wird nicht nur an dem skandalösen D-DayPlan deutlich. Die PDS darf z. B. für einen Rechtsstreit gegen die Treuhand die Genehmigung der Anwaltskosten bei derselben genehmigen lassen. Die Treuhand lehnt aber jede Genehmigung von Anwaltskosten ab. Sie empfiehlt vielmehr ihre eigenen Anwälte. Die PDS soll also Prozesse mit den Anwälten der gegnerischen Partei führen. Ich möchte einmal wissen, welche Partei sich hier auf so etwas überhaupt einlassen würde.
Nicht nur die PDS, sondern mit ihr die Gewerkschaften, Teile der Sozialdemokratie, soziale Bewegungen und vor allem Betroffene in den neuen Ländern sehen wohl mehr als genug Anlaß für außerparlamentarische Aktivitäten gegen die Treuhandpolitik. Die PDS soll sich die Begleichung solcher Kosten von der Treuhand, also genau von der in die Kritik geratenen Anstalt, genehmigen lassen.
Aber als geradezu abgefeimtes Spiel ist das Vorgehen hinsichtlich des Sozialplanes für Mitarbeiterinnen



Andrea Lederer
und Mitarbeiter der PDS zu bezeichnen. Während die Sozialpläne anderer Parteien sowohl von der Treuhand als auch von der Parteienkommission genehmigt wurden, ist der zunächst genehmigte Sozialplan von beiden Institutionen für die Mitarbeiterinnen der PDS nunmehr abgeschmettert, nachdem nämlich die Fristen für Kündigungsschutzklagen abgelaufen sind.

(Zuruf von der CDU/CSU: Viele SED-Funktionäre nagen heute am Hungertuch!)

Tatsächlich sind die genehmigten Abfindungszahlungen bei der CDU aber viel höher als die geplanten Abfindungen bei der PDS.
Daß tatsächlich kein Interesse besteht, ehemaliges Parteivermögen den neuen Ländern zugute kommen zu lassen, ist auch daran deutlich geworden, daß die Bundesregierung den Vorschlag der PDS nicht angenommen hat, 80 % des ihr noch verbliebenen Vermögens sofort für gemeinnützige Zwecke freizugeben. Bei aller notwendigen kritischen Auseinandersetzung mit der Verflechtung von Parteien und Staat — und zwar sowohl SED als auch Blockparteien betreffend — , die wir nie in Abrede gestellt haben, hat es die Politik der Bundesregierung mit der seinerzeit festgelegten gemeinnützigen Verwendung eines Teils dieser Mittel überhaupt nie ernst gemeint. Tatsächlich kassieren die Kommissionsmitglieder für ein einmal im Monat stattfindendes Treffen steuerfrei 2 700 DM. Parteienkommission wie auch Treuhand maßen sich im Auftrag der Bundesregierung die Verwaltung und Gängelung einer Oppositionspartei in einer Form an, die unter demokratischen Gesichtspunkten kaum vorstellbar ist. Das ist auch eine Art von Verflechtung von Regierungsparteien und Staat.
Abgesehen davon, daß wir den Gefallen nicht tun werden, der damit bezweckt wird, nämlich uns von der politischen Bühne verschwinden zu lassen, wirft dieses weitere Kapitel des Anschlußprozesses ein bezeichnendes Licht auf den Stand des Demokratieverständnisses in diesem Land.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205029700
Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Ullmann das Wort.

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1205029800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Leider ist es mir nicht möglich, die hier geäußerte Dankbarkeit gegen den vorgelegten Bericht zu teilen. Ich kann nicht sagen, daß das eine Unterrichtung wäre. Ich empfinde die Lektüre eher als eine Zumutung, weil hier nicht unterrichtet, sondern Unterrichtung verweigert wird. Ich werde meine Kritik sogleich begründen.
Die Drucksache ist inhaltlich veraltet. Das ist schon erwähnt worden. Die Regierung hat sie im Mai überwiesen, wenngleich ich hier auch sagen muß: Die Überweisung geschah im Mai 1991 auf Grund eines Bundestagsbeschlusses vom 20. September 1990. Der inhaltliche Stand, der uns vorliegt, ist der vom März 1991. Wenn man sich die Zahlen ansieht — das ist ja bei einigen Vorrednern schon angeklungen — , so stellt man fest, daß es sich de facto um einen Stand von Ende 1990 handelt. Was ist inzwischen zur Aufklärung der Unklarheiten geschehen?
Zweiter Einwand: Die Kommissionsergebnisse sind lückenhaft, unsicher und verhakelt. Das wird im Bericht auch selbst zugegeben. Die wichtigsten Informationen stammen von denen, die geprüft werden sollten. Sie haben gesagt, was sie dazu denken. Das ist dann so ausgefallen, wie es in dem Bericht hier vorliegt. Vollständige Vermögensberichte zum 7. Oktober 1989 liegen noch von keiner Organisation vor. Das bleibt späteren Berichten vorbehalten. Wo sind diese späteren Berichte?
Ich komme zu den einzelnen Parteien. Die Lage bei der SED ist soeben schon einmal angeklungen.
Ich weise noch auf folgende Bemerkungen des Berichts hin:
Die PDS erklärt, daß diese „Differenz an Hand der Bilanz per 31. Dezember 1989 und per 30. Juni 1990 klärbar ist". Diese Bilanzen liegen der unabhängigen Kommission jedoch nicht vor.
— Liegen Sie denn jetzt vor? Das wollen wir doch wissen. —
In diesem Zusammenhang wird die PDS auch die von ihr mit Schreiben vom 15. November 1990 übergebenen Zahlen zum „Geldbestand" zu klären haben. Diese Zahlen widersprechen früheren Angaben; sie sind auch in sich nicht schlüssig.
Wie weit sind wir über diesen Stand hinaus? Zum Auslandsvermögen der PDS lesen wir:
Die PDS gibt an, über kein Auslandsvermögen zu verfügen .. .
Alle Welt diskutiert über diese Auslandsvermögen. Hier steht nur dieser nackte Satz. Das muß doch geklärt werden.
Ich frage zur CDU: In dem Bericht wird von einer Erklärung hinsichtlich eines Verzichts auf ein erhebliches Vermögen gesprochen. Wir wissen aber, daß z. B. die Immobilien, die in diese Verzichtserklärung eingeschlossen sind, weiter genutzt werden. Was also sind die Konsequenzen des Verzichts? Was bedeutet dann die weitergehende Nutzung?
Von der FDP wird gesagt, sie strebe an, das gesamte Vermögen ihrer Rechtsvorgänge LDPD und NDPD mit Einschränkungen auf die Treuhandanstalt zu übertragen. In der Öffentlichkeit wird darüber gesprochen, daß die FDP Grundstücke oder Häuser zu erwerben gedenke. Also was gedenkt die FDP eigentlich zu tun? Das alles wollen wir wissen.
Zusammengefaßt: Der Bericht sagt nichts über Umfang, Rechtmäßigkeit und Verwendungszwecke der Parteivermögen aus.
Dritter Gesichtspunkt. Die Kommission hatte den materiell-rechtsstaatlichen Erwerb des Parteienvermögens zu überprüfen. Was sie an Kriterien anzubieten hat, ist so vage, meine Damen und Herren, daß ich oft nicht weiß, ob ich lachen oder weinen soll.

(Zuruf von der CDU/CSU: Weinen Sie vorsorglich!)

Es wird bestenfalls gesagt, was nicht rechtsstaatlicher Erwerb sein könne. Es wird nichts über die innerministerielle Vereinbarung gesagt, von der schon



Dr. Wolfgang Ullmann
Herr Schwanitz gesprochen hat. Sie hat ganz erhebliche Rechtsfolgen. Darüber wollen wir doch aufgeklärt werden.
Ich komme noch einmal auf das Auslandsvermögen der PDS zu sprechen. Wer hat denn nun darüber zu entscheiden, ob es ein solches gibt? Die vorliegenden Dokumente, der Brief an Herrn Schalck-Golodkowski an Erich Honecker oder die Auskünfte von Frau Liesowski, die nach allem, was wir wissen, dieses Vermögen sicherzustellen hatte? Der erwähnte Bericht einer Prüfungsfirma hat jedenfalls das Ergebnis gehabt, daß solches Auslandsvermögen in hohem Maße besteht.
Ich schließe mit der Feststellung: Dieser Bericht kann so nicht anerkannt werden. Er ist schleunigst und nicht erst zum Ende des Jahres 1991, denke ich, durch einen zu ersetzen, der die hier gestellten Fragen endlich klarstellt und beantwortet.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205029900
Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgang Lüder.

Wolfgang Lüder (FDP):
Rede ID: ID1205030000
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Fast sieben Monate hat es gebraucht, bis der erste Zwischenbericht der Unabhängigen Kommission Parteivermögen uns hier heute Gelegenheit zur Erörterung gibt. Der 18. März ist das Datum, zu dem die Kommission ihn verfaßt hat. Bisher habe ich weder als Mitglied des Deutschen Bundestages noch als Mitglied der Kommission auch nur einen Grund gesehen, wer diese Zeit wozu eigentlich brauchte.
Ich bedaure diese Verzögerung, weil wir damit über einen veralteten Sachstand diskutieren. Ich bedaure sie, weil sie Gelegenheit zu Mißverständnissen gibt, wie sie etwa in der Äußerung des Kollegen Schwanitz zum Ausdruck kamen, daß hier ein Bericht über eine anderthalbjährige Tätigkeit vorliegt. Nein, das war ein gutes halbes Jahr. Inzwischen sind wir viel weiter gekommen. Ich sage nachher noch ein paar kritische Worte zu dem aktuellen Stand. Ich bedaure dies aber auch, weil es, wie Frau Kollegin Lederer hier ausgeführt hat, der PDS/SED Gelegenheit gab, hier wiederum mit Unwahrheiten zu glänzen.
Dieser Bericht ist wahrheitsgemäß. Alle Unterlagen, deren Fehlen hier zum 18. März angemahnt wurde, fehlten zum 18. März. Es kann doch nicht dem Bericht angelastet werden, daß das, was partiell nachgeliefert worden ist, damals noch nicht daringestanden hat.
Im übrigen, wenn wir schon über Unwahrheiten und Wahrheiten sprechen: Wenn hier einer im Haus in Sachen Parteivermögen die Unwahrheit gesagt hat, dann war es im 11. Deutschen Bundestag der Vorsitzende der PDS, Herr Gysi, der erklärte, die Partei habe aus eigenem Vermögen 250 Millionen DM an die Humboldt-Universität gespendet. Er hat hier von dieser Tribüne aus verschwiegen, daß dieses beschlagnahmtes Vermögen war. Wer so etwas gesagt hat, der sollte nicht jemand anderes als Rednerin in die Bütt schicken und der Kommission Unwahrheit vorwerfen.
Meine Damen und Herren, ich bin gerne bereit, mich mit allen ernsthaften Argumenten auseinanderzusetzen, auch mit dem, was Herr Ullmann eben gesagt hat, auch zu meiner Partei. Ich kann den Punkt, den er im Zusammenhang mit meiner Partei angesprochen hat, ganz leicht erklären: Die FDP hatte angeboten, daß die Treuhandanstalt den gesamten Vermögensbereich übernimmt. Sie ist gleichzeitig im Gespräch, das zu erwerben, was sie zur Zeit nutzt oder früher genutzt hat.
Der Streit geht nur darum — mehr will ich hierzu nicht sagen, weil wir sonst in eine Auseinandersetzung gerieten —, ob der Weg, den die FDP zum Erwerb anbietet, systemimmanent richtig ist und ob der Preis vertretbar ist. Der Streit geht darum, ob der von der FDP angebotene Weg, alles erst einmal der Treuhand zur Verwaltung zu geben, richtig war. Das können wir im Innenausschuß gerne im Detail noch vertiefen.
Es geht aber nicht darum, — deshalb erwähne ich das hier — , daß die FDP irgend etwas von dem, was sie an Vermögen übernommen hatte — sei es als Rechtsträger, sei es als Eigentümer — , irgendwo verstecken wollte. Wir haben von Anfang an mit offenen Karten gespielt und werden auch weiterhin mit offenen Karten arbeiten.

(Gerd Wartenberg [Berlin] [SPD]: Na, na!)

— In diesem Punkt, lieber Herr Kollege Wartenberg, trete ich Ihnen ganz aufrecht den Wahrheitsbeweis an.
In diesen Monaten seit dem 18. März ist wertvolle Zeit vertan worden. Die Kommission Parteivermögen war und ist ein Experiment. Sie war ein Experiment der Volkskammer der DDR, um eine materiell gerechte Regelung für Fragen des Vermögenserwerbs und des Vermögensbesitzes der Parteien und Massenorganisationen der damaligen DDR zu finden. Parteien und Massenorganisationen im Unrechtsstaat konnten nicht die Vermutung der Rechtmäßigkeit ihres Handelns, ihrer Einnahmen und ihres Vermögenserwerbs für sich beanspruchen. Das war die Grundlage des Einigungsvertrages.
Das Parteiengesetz der DDR in der Fassung, wie es vom Einigungsvertrag übernommen wurde, hat den Parteien und Organisationen die Beweislast auferlegt, materiell rechtsstaatlichen Erwerb ihres Vermögens nachzuweisen. Das ist richtig, und das war politisch gewollt.
Wäre der Bericht von der Bundesregierung dem Bundestag rechtzeitig zugeleitet worden, hätten wir mit den Beratungen rechtzeitig begonnen. Wir hätten dann frühzeitig darüber diskutieren können, was nach unserer Auffassung als Bundestag materiellrechtsstaatlicher Erwerb ist.
Die Kommission wurde mit dieser Frage allein gelassen. Sie hat ein Gutachten in Auftrag gegeben, das im vergangenen Sommer erschienen ist. Ein weiterer Gutachter fand noch keine Zeit für dieses wichtige Thema. — Darauf werden wir bei anderen Äußerungen dieses Gutachters zurückkommen.
Trotzdem wird die Kommission in ihrer nächsten Sitzung am kommenden Dienstag darüber beraten,



Wolfgang Lüder
welche Kriterien für die vom Parteiengesetz vorgegebene Entscheidungsstruktur zugrunde gelegt werden sollen. Was ist materiell-rechtsstaatlicher Erwerb? Das ist eine der Kernfragen, mit denen wir es hier zu tun haben. Das geht bis zur Frage der Verjährung und betrifft auch anderes, was wir nachweisen müssen.
Meines Erachtens kann materiell-rechtsstaatlicher Erwerb nur heißen, daß im Einzelfall nachgewiesen wird und nachgewiesen werden muß, daß der einzelne Vermögensgegenstand nach den Kriterien rechtmäßig erworben wurde, die unsere bundesrepublikanische Rechtsordnung anerkennt und praktizieren läßt. Alles andere scheidet aus. — Ich will das nicht vertiefen, da dies Aufgabe der Beratung der Kommission sein wird.
Aber ich bedaure, daß wir hier im Bundestag — auch als Hilfestellung für die Kommission — nicht schon früher an Hand eines Berichtes darüber diskutieren konnten.
Ich bedaure ferner, daß die Bundesregierung inzwischen, wie wir auch dem „Spiegel" dieser Woche entnehmen konnten, abweichend von dem heutigen Bericht der Unabhängigen Regierungskommission — insoweit ist er wirklich veraltet — den Einigungsvertrag und die Aufgabe von Treuhand und Kommission zum Nachteil gemeinnütziger Verwendungsmöglichkeiten auslegt, wenn es um Immobilienbesitz der Parteien und Organisationen geht.
Während der uns vorliegende Zwischenbericht noch zutreffend, wie inzwischen auch durch die Mehrheit der Kommission noch einmal ausdrücklich bestätigt, davon ausgeht, daß Immobilienbesitz unter die Bestimmungen des Parteiengesetzes der DDR in der Fassung des Einigungsvertrages fällt, auch wenn es sich um sogenannte Rechtsträgerobjekte handelt, will die Bundesregierung inzwischen alle Liegenschaften, die den Parteien und Organisationen als Rechtsträgerobjekte übertragen wurden — andere haben wir überhaupt nicht gesehen —, aus der Verwertung nach diesen Bestimmungen herausnehmen.
Konkret bedeutet dies nicht nur ein Verwaltungswirrwarr, einen Widerspruch zwischen dem heutigen Handeln der Bundesregierung gegenüber ihrem eigenen früheren Tun, sondern es bedeutet vor allem auch, daß Liegenschaften, deren rechtmäßiger Erwerb durch die Parteien und Organisationen nicht nachgewiesen werden kann, nicht für gemeinnützige Zwecke zur Verfügung gestellt werden können und daß damit der Vermögenswert Rechtsträgerschaft letztlich leerläuft. Dies ist nach meiner Auffassung nicht Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung gewesen.
Diese Liegenschaften sollen nach Regierungsmeinung heute Bundeseigentum sein und damit der Aufbesserung der Staatskasse, aber nicht den gemeinnützigen Zwecken dienen, denen wir eigentlich verpflichtet sein sollten. Diese Frage müssen wir diskutieren, bevor wir darüber beraten, was überhaupt gemeinnützige Zwecke sind; denn in dieser Frage steckt vermögensmäßig Musik.
Meine Damen und Herren, ich werde den Verdacht nicht los, daß schon ein Jahr nach der Vereinigung Deutschlands mancher politische Ansatz vergessen
wird, der uns damals zu solchen Regelungen zusammengeführt hat, wie sie hier dem Parteiengesetz in der Fassung des Einigungsvertrages zugrunde liegen.

(Zuruf von der SPD: Sehr richtig!)

Die Kommission hat noch nicht viele vorzeigbare Ergebnisse erbringen können. Das ist bedauerlich, aber es liegt auch in diesem System und in den geschilderten Schwierigkeiten begründet. Trotzdem hat sie nützliche Klärungsprozesse bewirken und einleiten können.
Lassen Sie mich aber noch zwei kritische Anmerkungen machen.
Der Hinweis auf die Unabhängigkeit vor dem Namen der Kommission ist nach wie vor sehr hochgehängt. In der Kommission arbeiten Mitglieder der früheren DDR-Parteien und Organisationen, z. B. der SED/PDS und der FDJ, aber auch Mitglieder früherer Blockparteien zusammen mit Mitgliedern dieses Hauses und unabhängigen Persönlichkeiten. Das hat für die Debatten innerhalb der Kommission sicherlich seinen Reiz, aber niemand kann doch schließlich verhehlen, wo er herkommt, mag er auch noch so sehr um unabhängiges Handeln bemüht sein.
Die Unabhängigkeit leidet auch darunter — ich will das in aller Offenheit ansprechen — , daß die Bundesregierung die Rechtsaufsicht ausübt und damit wesentliche Fragen der Entscheidungskompetenz der Kommission an sich ziehen kann und an sich zieht, ohne daß wir hier im Bundestag darüber debattieren könnten. Der Konfliktfall über die Rechtsauffassung zwischen Kommission und Bundesregierung steht bei den Entscheidungen zu den Immobilien, von denen ich sprach, bald an.
Wir befassen uns hier an Hand eines alten Berichts, der nur mit Verzögerung an dieses Haus weitergeleitet wurde, mit sehr aktuellen Fragen, die noch lange weiter wirken sollen.
Zur Unabhängigkeit muß aber meines Erachtens auch der Druck kommen, an dem wir hier im Bundestag — insbesondere in den Ausschüssen — mitwirken sollten, daß über die Verwertung und Verwendung der Vermögen und Vermögensgegenstände der Parteien und Organisationen zügig — wenn es sein muß auch Zug für Zug — entschieden werden muß.
Wir müssen auch noch einige Fragen klären, z. B. die Frage, für deren Beantwortung wir auch die Erkenntnisse des Schalck-Untersuchungsausschusses benötigen: Was eigentlich ist Auslandsvermögen der SED/PDS? Wir können es doch nicht einfach so nach Manier alter Art machen und sagen: 80 To verschenken wir einmal, und 20 % wollen wir behalten. So einfach konnten wir hier nicht säbeln. Wir wollen das hier schon genauer klären. Auch 20 % sind bei den Zahlen, die Herr Kollege Krey ja erwähnt hat, ein ganz schöner Batzen, wenn man das einmal mit den reicheren Parteien im Bundestag vergleicht.
Meine Damen und Herren, die Kommission darf aber — auch darüber muß Klarheit bestehen — keine Dauereinrichtung sein. Auch darauf sollte der Bundestag in seinen Beratungen hinwirken. Im Umgang mit den Parteivermögen dürfen wir kein eigenes Un-



Wolfgang Lüder
vermögen zeigen. Das sollte die Richtschnur sein, mit der wir an die Beratungen in den Ausschüssen herangehen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205030100
Nun spricht der Abgeordnete Arne Börnsen.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1205030200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte einleitend, Ihnen Herr Krey, und auch Ihnen, Herr Lüder, für Ihre Beiträge danken. Sie waren von einer bemerkenswerten Objektivität und dem Bemühen gekennzeichnet, der Kommission Unterstützung zu geben. Sie haben das ausdrücklich gesagt.
Ich glaube, die Kommission braucht diese Unterstützung auch, gerade in den Bereichen, die Sie zum Schluß angesprochen haben, Herr Lüder, nämlich in der Frage der Rechtsträgerschaft. Es wird für die Arbeit in der Kommission sehr wichtig sein, ob die Unterstützung spürbar wird, ob bei den Ausschußberatungen, die ebenfalls durchgeführt werden und wo es auch auf Grund der aktuellen Informationen, die zur Verfügung stehen, mehr ins Detail geht, die Zielsetzung, das Vermögen der Parteien und Massenorganisationen dem Gemeinwohl oder der Bundesvermögensverwaltung zuzuführen, wie es im Einigungsvertrag festgelegt ist, verfolgt wird. Ich komme darauf gleich noch zu sprechen. Wir ergänzen uns in diesem Punkt bis auf einige Ausnahmen, Herr Lüder — das ist logisch —, so daß ich auf vieles Bezug nehmen kann, was Sie bereits gesagt haben, und Ihnen an diesem Abend nicht unnnötig Zeit zu rauben brauche.
Sie haben darauf hingewiesen, daß der Bericht inzwischen einige Monate alt ist. Ich glaube, wir können feststellen, daß die Kommission in den vergangenen Monaten ihre Aufgabenstellung zielbewußt weiterentwickelt hat und daß vieles von dem, was im Jahre 1990 an möglicher Verschleierung geschah und was die Kommission damals — sie existierte bereits auf Beschluß der Volkskammer — an Fehlentscheidungen getroffen hat, aufgearbeitet werden konnte und doch noch einer Regelung zugeführt werden kann. Ich denke, daß der sehr breit angelegte Versuch der Verschleierung und der Privatisierung des Vermögens einer stärkeren Kontrolle unterworfen wird. Jetzt kommt es allerdings darauf an, daß das im Einzelfall nachgewiesen wird. Es muß gewährleistet werden, daß verschobenes Vermögen tatsächlich in die Obhut der Treuhand kommt und der Zielsetzung, die Sie auch nannten, zugeführt wird.
Natürlich kann man eine Menge über die Kommission sagen. Ich will das nicht wiederholen. Sie hat zwar die Bezeichnung „unabhängig", aber sie untersteht der Rechtsaufsicht des Innenministeriums. Das ist in unserer Verfassungssituation wohl kaum anders möglich. Das gestehe ich zu. Aber wir müssen sehen — das darf ich als Mitglied dieser Kommission sagen — , daß es nicht dazu kommt, daß wir unterhalb der Ebene des Sekretariats unsere Aufgabe selbst reduzieren. Wir, die Mitglieder der Kommission, haben die Aufgabe, die Zielsetzung und auch die Problematisierung bestimmter Themenbereiche in die Arbeit hineinzutragen und dem Sekretariat vorzugeben. Manchmal hat man den Eindruck, als wäre es umgekehrt. Manchmal hat man den Eindruck, als wäre es für das Sekretariat so, daß wir bei der Arbeit nur störten, durch unnötige Fragen den Betrieb aufhielten und möglicherweise ein bißchen vorschnell Dinge ans Licht brächten, die im Zusammenspiel zwischen dem Sekretariat und der PDS auf dem harmonischen Wege geklärt werden sollten. Hier müssen wir, wie ich meine, die Arbeit der Kommission wirklich stärker präjudizieren und die Arbeitsteilung in der Praxis so umsetzen, wie es der Name sagt. Das Sekretariat bilden die Damen und Herren, die in Berlin in der Mauerstraße arbeiten. Die Kommission sind wir. In der Berichterstattung der Öffentlichkeit scheint das eher umgekehrt zu sein. Aber das liegt dann auch an uns.
Ich möchte einige Takte zu den Parteien und Massenorganisationen sagen, natürlich nur ausschnittsweise.
Ich möchte ausdrücklich anerkennen, daß die CDU bereits frühzeitig und verbindlich einen Verzicht auf ihr Immobilienvermögen getätigt hat. Ich gehe auch davon aus, daß die CDU die noch fehlenden Angaben für den Bilanzstichtag 7. Oktober 1989 nachreichen wird. Ich hoffe, daß wir die entsprechenden Angaben bei der nächsten Kommissionssitzung erhalten. Ich gehe auch davon aus, daß sich die CDU der Tatsache bewußt ist, daß sie Rechtsnachfolger der ehemaligen Blockpartei ist und insofern auch Verantwortung für das hat, was zwischen dem 7. Oktober 1989 und dem 3. Oktober 1990 — da haben Sie sich vereinigt — noch in der Verantwortung der Blockpartei geschah. Aber ich möchte ausdrücklich feststellen, daß dieser Verzicht vorbildlich ist.
Bezüglich der PDS ist bereits einiges gesagt worden. Selbstverständlich, es wird so sein, und es wird notwendigerweise so sein, daß die PDS im Mittelpunkt der kritischen Auseinandersetzung steht. Es ist hier noch einmal zu wiederholen, daß die PDS für den Stichtag 7. Oktober 1989 immer noch keine Bilanz vorgelegt hat. Während wir erfahren, daß dies für die anderen Parteien noch in diesem Jahr möglich sein wird, erfahren wir von der PDS, daß es noch keinen erkennbaren Zeitpunkt gibt, zu dem diese Bilanz vorgelegt werden kann. Wir müssen natürlich sehen, daß, je mehr Zeit zwischen dem 7. Oktober 1989 und dem Zeitpunkt der Vorlage der Bilanz vergeht, der PDS auch mehr Möglichkeiten zur Verfügung stehen, Vermögen auf Abwege zu bringen und der Kontrolle der Kommission und der treuhänderischen Verwaltung zu entziehen. Ich will hier ganz eindeutig feststellen: Die PDS entzieht sich ihrer Offenbarungspflicht, der sie nach den §§ 20a und b des DDR-Parteiengesetzes unterliegt.
Aber ich will mich — ich bitte um Verständnis darum — heute nicht schwerpunktmäßig mit der PDS beschäftigen, auch weil wir davon ausgehen können, daß das im Mittelpunkt der Arbeit des Sekretariats steht: PDS und Massenorganisationen.
Ich erlaube mir, Herr Lüder, auch ein paar zurückhaltende kritische Worte zur FDP zu sagen: Ich habe ausdrücklich anerkannt, daß die CDU rechtzeitig und eindeutig eine Verzichtserklärung abgegeben hat.



Arne Börnsen (Ritterhude)

Meine Damen und Herren, hier darf und muß festgestellt werden, daß die ehemaligen Blockparteien, mit denen Sie sich vereinigt haben, nicht gerade den besten Ruf genießen.

(Gerlinde Hämmerle [SPD]: So ist das!)

Insbesondere die LDPD hat ihre Rolle als Blockpartei in der ehemaligen DDR voll gespielt. Ich meine, daß man, unabhängig von den Details, die Sie genannt haben, Herr Lüder, als würde es so aussehen, daß es nur darum gehe, eine Vereinbarung über den Verkauf zu erzielen, bei dem Umgang mit dem Vermögen der ehemaligen Blockparteien ein bißchen mehr Sensibilität an den Tag legen muß. Das wäre durch eindeutige Erklärungen und durch einen eindeutigen Verzicht ohne Zweifel zu leisten. Eine Partei sollte sich nicht dem Geruch aussetzen, möglicherweise doch etwas, und seien es nur Vorteile, aus den ehemaligen Blockparteien in die Gegenwart hinüberzuretten.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205030300
Ich gehe davon aus, daß Sie bereit sind, eine Frage des Abgeordneten Solms zu beantworten?

Arne Börnsen (SPD):
Rede ID: ID1205030400
Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1205030500
Herr Kollege Börnsen, halten Sie es nicht für richtig, daß eine Partei wie in diesem Fall die FDP den Weg beschreitet, den der Einigungsvertrag und die anderen Gesetze vorschreiben, und sich strikt an diese Gesetze und Vorschriften hält?

Arne Börnsen (SPD):
Rede ID: ID1205030600
Herr Solms, es ist natürlich möglich, sich auf rechtliche Standpunkte zurückzuziehen. Aber ich meine, wir, alle Parteien im demokratischen Spektrum, würden gut daran tun, auch eine eindeutige Distanzierung von der Vergangenheit der Blockparteien vorzunehmen und jeglichen Bezug durch eindeutige Erklärungen unmöglich zu machen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205030700
Eine weitere Frage?

Arne Börnsen (SPD):
Rede ID: ID1205030800
Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1205030900
Herr Kollege Börnsen, würden Sie zugestehen, daß es ungeheuer schwierig und für uns Kollegen aus dem Westen eigentlich gar nicht möglich ist, schon heute, ein abschließendes Urteil über Parteien und deren Verhalten in einem diktatorischen System zu fällen,

(Zuruf von der SPD: Etwas ganz Neues!)

die sich aus rein demokratischen Parteien heraus entwickelt haben, aber die Zeit innerhalb dieses Systems des Sozialismus mit überstanden haben,

(Gerd Wartenberg [Berlin] [SPD]: Widerstandsgruppen?)

in welcher Form auch immer? Also die Frage ist: Können wir uns heute, gerade wir als Westabgeordnete, ein abschließendes Urteil darüber erlauben?

Arne Börnsen (SPD):
Rede ID: ID1205031000
Wir müssen sicherlich vorsichtig sein, gerade als Westabgeordnete, zu glauben, daß wir der Weisheit letzten Schluß gefunden hätten und alles aus unserer Sicht beurteilen könnten. Da gebe ich Ihnen recht. Aber, Herr Dr. Solms, ich fürchte, der demokratisch geprägte Anteil an der Lebenszeit der beiden Blockparteien, die in die FDP übergegangen sind, war extrem gering.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205031100
Sie können in Ihrer Rede fortfahren.

Arne Börnsen (SPD):
Rede ID: ID1205031200
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich habe bewußt den Versuch gemacht, hier den Boden der Gemeinsamkeit nicht zu verlassen. Es wäre ein leichtes, aber es wäre eben bei diesem Thema völlig unangemessen, wenn man jetzt mit Zitaten und Verdächtigungen um sich werfen würde. Darauf will ich bewußt verzichten. Daß es Schwierigkeiten z. B. auch mit den Zeitungsverlagen gibt, bei denen ein Rechtsstreit läuft, ist uns allen bekannt. Um hier keine Schwerpunktverlagerung zu provozieren, soll das aber für heute im Hintergrund stehen.
Ich möchte mich noch einmal auf die Rechtsträgerobjekte beziehen, die Herr Lüder genannt hat. Inhaltlich will ich darauf nicht noch einmal eingehen, aber ich will die Bundesregierung wirklich herzlich bitten, die rechtliche Interpretation die sie zu dem Schluß geführt hat, daß Rechsträgerobjekte dann, wenn kein Eigentümer gefunden wird, in das Vermögen des Bundes übergehen, zu überprüfen. Ich fürchte, daß diese Interpretation zu sehr aus Westsicht vorgenommen worden ist. Die Rechtsträgerobjekte können nicht mit westlichen Rechtsmaßstäben gemessen werden, sondern müssen aus der Sicht der damaligen DDR interpretiert werden. Dies als herzliche Bitte, damit hier nicht der Eindruck entsteht, als würden diese Vermögenswerte der gemeinwohlorientierten Verwendung in den neuen Bundesländern entzogen werden.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich bitte eine letzte Bemerkung machen. Wir haben in den vergangenen Monaten sicherlich in der Kommission eine Menge geschafft. Es wäre dankenswert, wenn das Sekretariat in die Lage versetzt würde, den Bundestag über den neuesten Stand zu informieren. Bei diesem mühsamen Weg, den die Kommission zu beschreiten hat, kommt es darauf an, umfangreiche Schiebereien aufzudecken, Bereicherungen rückgängig zu machen, zusammengeraubtes Vermögen zu benennen, berechtigte Einnahmen zu würdigen und zu saldieren, um das unrechtmäßig erworbene, ja zusammengeraubte Vermögen dem Gemeinwohl zuführen zu können.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205031300
Zum Schluß der Debatte erteile ich dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Lintner das Wort.

Eduard Lintner (CSU):
Rede ID: ID1205031400
Sehr geehrter Herr Präsident!



Parl. Staatssekretär Eduard Lintner
Meine Damen und Herren! Durch die Regelungen im Einigungsvertrag über die Vermögen der Parteien und Massenorganisationen in der DDR ist auf die öffentliche Verwaltung der Bundesrepublik Deutschland zugegebenermaßen eine völlig neuartige Aufgabe zugekommen. Die Aufnahme der §§ 20a und 20b des Parteingesetzes der DDR in den Katalog des fortgeltenden Rechts aus DDR-Zeiten und die staatsvertragliche Vereinbarung der Maßgaben über die endgültige Zuordnung des festzustellenden und zu verwaltenden Vermögens zeigen, daß die vertragschließenden Parteien des Einigungsvertrages und der Gesetzgeber die Fortführung und Vollendung dieser noch von der DDR begonnenen Aufgabe als ein wichtiges verfassungsrechtliches und staatspolitisches Vorhaben angesehen haben.
Die Bundesregierung hat gemäß den Maßgaben des Einigungsvertrages die Zahl der Kommissionsmitglieder durch Berufungen im Einvernehmen mit der Präsidentin des Deutschen Bundestages auf die vorgesehene Zahl von 16 Personen erhöht und dabei als Vorsitzenden den Staatsrechtslehrer Professor Dr. HansJürgen Papier gewinnen können.
Nach den Maßgaben des Einigungsvertrages unterliegt die Unabhängige Kommission keiner Fachaufsicht, sondern nur der Rechtsaufsicht der Bundesregierung, die vom Bundesminister des Innern wahrgenommen wird. Dies bedeutet, daß die Bundesregierung der Unabhängigen Kommission eben keine fachlichen Weisungen geben darf und gibt; im Rahmen der Rechtsaufsicht kann die Bundesregierung somit lediglich dann Einfluß nehmen, wenn die Kommission in ihren Entscheidungen von rechtsfehlerhaften Auffassungen ausgeht.
Die Kenntnisse der Bundesregierung — hier ist ja einiges eingefordert worden — sind deshalb im Detail auch begrenzt. Ich kann Sie nur einladen, viele dieser Fragen, die heute an die Bundesregierung gerichtet worden sind — Herr Schwanitz und Herr Börnsen! —, in den Beratungen an die Mitglieder der Kommission zu richten. Dort — so glaube ich — können Sie am ehesten Auskunft darüber verlangen. Sie können sich sozusagen selbst fragen, Herr Börnsen.
Die PDS-Vermögenssituation — das sei hier noch angemerkt — ist noch nicht zu Ende geprüft worden. Aber das ist weder ein Verschulden der Kommission noch der Bundesregierung.
Die Bundesregierung hat im Herbst des letzten Jahres sehr schnell erkannt, daß eine nebenamtliche Kommission damit überfordert ist, das umfangreiche und vielgestaltige Vermögen zahlreicher Parteien und anderer Institutionen vollständig zu erfassen und im Hinblick auf eine endgültige Zuordnung auch zu bewerten. Daher ist es mit dem Dritten Nachtragshaushalt 1990 ermöglicht worden, das Sekretariat der Unabhängigen Kommission zu errichten, das quasi vor Ort, in Berlin, die fraglichen Vermögenswerte ermittelt und für die Entscheidung der Kommission Vorschläge erarbeitet.
Meine Damen und Herren, bei dieser Gelegenheit vielleicht ein kurzes Wort zu der ja zweimal kritisierten Zuordnung bestimmter Vermögensteile. Gegen die Zuordnung des früheren Reichsvermögens oder
jenes Vermögens, das vom Staat DDR sozusagen rechtmäßig erworben worden ist, zum allgemeinen Finanzvermögen ist rechtlich nichts einzuwenden.
Herr Lüder, ich muß sagen, daß gerade der Bundesjustizminister bei dieser Entscheidung an erster Stelle mit beteiligt war und sie auch mitgetragen hat.

(Wolfgang Lüder [FDP]: Aber auch er kann von der politischen Lehre abweichen!)

— Das mag schon sein. Aber dann tragen Sie es bitte dort aus, wo Sie direkt mit ihm sprechen können.
Meine Damen und Herren, auch die Objekte, die Sie angesprochen haben und bei denen ein Rechtsvorgänger nicht ermittelt werden kann, dürfen ja ausschließlich für Zwecke im Beitrittsgebiet verwendet werden. Insofern kann nicht behauptet werden, daß diese Vermögensteile für das Gemeinwohl in Ostdeutschland verlorengehen.
Der heute hier zu behandelnde Zwischenbericht, meine Damen und Herren, wurde im Frühjahr dieses Jahres abgeschlossen; auch das ist schon angemerkt worden. Er ist dann von der Bundesregierung nach dem Kenntnisstand vom Mai dieses Jahres um eine einleitende Bemerkung ergänzt worden.
Ich darf noch einige Hinweise zum gegenwärtigen Stand der Arbeiten geben. Schwerpunkt der Arbeiten ist nach wie vor die Ermittlung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen. Wie zu erwarten war, ist es nicht einfach so, daß die Parteien und Massenorganisationen ihre Zahlen von sich aus auf den Tisch legen und daß die Kommission deren Richtigkeit und Vollständigkeit dann nur prüft. Das hat schon der Zwischenbericht mit seinem offensichtlich unvollständigen Zahlenwerk ergeben.
Über die Gründe dafür mag man spekulieren. Werden hier Informationen bewußt zurückgehalten? Sind die zur Zeit Verantwortlichen überfordert, weil die Wissensträger in den Führungsetagen und in den Buchhaltungen zum Teil ausgeschieden sind? Oder haben wir es mit den Nachwirkungen eines politischen Systems zu tun, dem Transparenz und öffentliche Kontrolle einfach fremd waren?
Abschließende Berichte der vom Sekretariat der Kommission beauftragten Wirtschaftsprüfer über das Vermögen der PDS sind nicht vor Ende des Jahres zu erwarten. Bei einem Teil der anderen Organisationen ist in Kürze mit Abschlußberichten zu rechnen. Mit ihrer Vorlage ist aber die Ermittlungsaufgabe nicht abgeschlossen. Die Unabhängige Kommission wird die Berichte in eigener Verantwortung prüfen, bewerten und mit den Ergebnissen ihrer eigenen Ermittlungen zusammenführen.
Mit dem bevorstehenden Vorliegen der Vermögensberichte tritt dann die Frage in den Vordergrund, meine Damen und Herren, welche Vermögenswerte den Parteien und Organisationen wieder zur freien Verfügung überlassen werden. Nach dem Einigungsvertrag stehen den betroffenen Institutionen nur solche Vermögensbestandteile zu, die sie nachweislich nach materiell-rechtsstaatlichen Gesichtspunkten im Sinne unseres Grundgesetzes erworben haben.
Die Unabhängige Kommission ist zur Zeit dabei, diese Maßgabe des Einigungsvertrages für die



Parl. Staatssekretär Eduard Lintner
Rechtsanwendung im Einzelfall zu konkretisieren. Die Kommission vertritt den Rechtsstandpunkt, daß eine Freigabe erst in Betracht kommt, wenn die Parteien und Organisationen ihrer Rechenschaftspflicht jeweils vollständig nachgekommen sind. Das steht im Gegensatz zu dem, was beispielsweise die PDS verlangt.
Von Anfang an hat sich die Kommission gemäß ihrem Auftrag um die Ermittlung der früher Berechtigten und deren Rechtsnachfolger bemüht. Dabei stößt sie auf die gleichen Probleme wie die Ämter für offene Vermögensfragen. Der desolate Zustand der Grundbücher und anderer Informationsgrundlagen steht einer schnellen Abwicklung zur Zeit noch im Wege. Es konnten deshalb bisher nur sehr wenige Rückgabeentscheidungen getroffen werden.
Meine Damen und Herren, dieser kurze Überblick über die derzeitigen Arbeitsschwerpunkte der Unabhängigen Kommission zeigt bereits, daß ihre Mitglieder eine Aufgabe übernommen haben, die ein hohes Maß von Verantwortungsbereitschaft und auch Entscheidungsfreudigkeit in einem wirtschaftlich umfangreichen, rechtlich schwierigen und politisch sensiblen Gebiet erfordert.
Gestatten Sie mir daher, daß ich namens der Bundesregierung von dieser Stelle aus den Mitgliedern der Kommission — unter ihnen sind ja vier Kollegen aus dem Bundestag — für ihre verantwortungsvolle Tätigkeit danke. Diese Arbeit stellt einen bedeutenden Beitrag zur Aufarbeitung und zur Überwindung rechtsstaatswidriger Verhältnisse in der ehemaligen DDR dar.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205031500
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Dr. Solms das Wort.

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1205031600
Herr Präsident, ich möchte nur eine Bemerkung im Hinblick darauf machen, daß der Kollege Börnsen behauptet hat, die LDPD wäre eine dem Blockdenken besonders eng verhaftete Partei gewesen.
Ich habe mich in den letzten Wochen und Monaten ein wenig mit der Geschichte der Blockparteien auf der Basis von Originalquellen beschäftigt. Das Ergebnis dieser Beschäftigung, soweit ich darüber heute etwas sagen kann, ist, daß die LDPD in der Anfangszeit in den 40er Jahren eine demokratische Partei war, die in voller Opposition zur damaligen Sozialistischen Einheitspartei gestanden hat, mit der Folge, daß eine große Zahl ihrer Mitglieder inhaftiert, eine ganze Zahl von Mitgliedern hingerichtet worden sind, daß dieser Widerstand aufrechterhalten worden ist, natürlich mit sinkender Tendenz auf Grund der großen Bedrohung, der physischen Bedrohung durch die Einheitspartei und auf Grund dessen, daß viele Mitglieder der liberaldemokratischen Partei in den Westen geflohen sind; aber immerhin mit der Folge, daß bis 1958 die LDPD keinen einzigen Pfennig an staatlicher Unterstützung bekommen hat, daß ihr verschiedene eigene Vermögensgegenstände weggenommen worden sind, und daß eine Großzahl von Mitgliedern, viele, die ich selbst kenne und kennengelernt habe, mit
denen ich gesprochen habe, versucht haben, dieses demokratische Denken in der späteren Zeit zu erhalten und auf örtlicher Basis — natürlich in bestimmten politischen Nischen — zu pflegen, und daß man dieses auch im Verhältnis zu den anderen Blockparteien beurteilen muß.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205031700
Nun sind wir am Ende der Debatte.
Ich darf Ihnen den Vorschlag des Ältestenrates unterbreiten, den Bericht auf Drucksache 12/622 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. — Damit ist das Plenum einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Heuer, Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Treuhänderasche Verwaltung des volkseigenen Vermögens der Deutschen Demokratischen Republik
— Drucksachen 12/593, 12/1207 —
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Zehn-MinutenRunde vor. Ich hoffe, das Haus ist damit einverstanden, so daß wir dann beginnen können.
Zunächst erteile ich dem Abgeordneten Dr. Schumann das Wort.

Dr. Fritz Schumann (PDS/LL):
Rede ID: ID1205031800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich zu Beginn für die Antwort der Bundesregierung auf unsere Anfrage recht herzlich bedanken. Neben sachlicher Faktenaufbereitung auf gestellte Fragen enthält die Antwort der Bundesregierung aber auch eine Reihe von Positionen, zu denen wir natürlich eine andere Auffassung haben. Wie Meinungsäußerungen belegen, befinden wir uns damit in Übereinstimmung mit nicht wenigen Bürgerinnen und Bürgern in den neuen Bundesländern, die von den Vorgaben der Bundesregierung gegenüber der Treuhandanstalt betroffen sind, meist in Form des Verlustes ihres Arbeitsplatzes.
Wir sind insbesondere mit folgenden Thesen nicht einverstanden, die unseres Erachtens den einzelnen Antworten zugrunde liegen:
a) Die überwiegend und in vielen Fällen ausschließlich auf Verkauf gerichtete Tätigkeit der Treuhandanstalt unter Vernachlässigung zwischenzeitlicher Sanierung. Für die Beschäftigten ist es beim Verkauf des Unternehmens durch die Treuhandanstalt für die Sicherheit ihrer Arbeitsplätze mit entscheidend, ob sich im Unternehmen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze befinden oder ob es nur um Grund und Boden und Gebäude, also schlechthin um Immobilien, geht.
b) Weiter können wir mit der Antwort der Bundesregierung nicht einverstanden sein, weil die mangelnde Transparenz und ungenügend ausgestaltete demokratische Kontrolle der Entscheidung der Treuhandanstalt nicht anerkannt und diesbezügliche Fakten seitens der Bundesregierung ignoriert werden.



Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt)

Wozu das führt, kann man in regelmäßigen Abständen den Medien entnehmen. Auch heute stand in der „FAZ" wieder ein Artikel dazu.
c) Das Fehlen der Einbeziehung und der Mitbestimmung der Vertreterorgane der Betroffenen, in erster Linie der Gewerkschaften, in die Entscheidungen der Treuhandanstalt wird von der Bundesregierung nicht kritisch bewertet und soll demzufolge nicht verändert werden.
Nun zu konkreten Fragen.
Erstens. Die äußerste Zurückhaltung der Bundesregierung — vielleicht ist es gewollte Untätigkeit — bei der Möglichkeit, Einfluß auf einen Rahmen für aktive Struktur- und Industriepolitik in den ostdeutschen Regionen zu nehmen, halten wir für schlicht verantwortungslos gegenüber den Bürgern in den neuen Bundesländern. Die Feststellung, daß sich die neue Wirtschaftsstruktur ausschließlich im Wettbewerb herausbilden muß, bedeutet doch von vornherein die Vernichtung von Produktionspotential im Osten, weil für die Betriebe über Nacht keine Voraussetzung entstehen konnte, sich in der Marktwirtschaft zu bewähren, und weil jeder, der die Wirtschaftskraft der alten Bundesrepublik kannte, wußte, daß die Inbesitznahme des Marktes nach der Währungsreform eine Frage von Tagen, manchmal nur von Stunden, war.
Diese Haltung, sich angeblich heraushalten zu müssen, kostet die Betroffenen die Arbeitsplätze. In ganzen Regionen kommen die Räder zum Stillstand. Die Steuergelder müssen für die Kosten der Arbeitslosigkeit eingesetzt werden. Dieses angebliche Sich-nichteinmischen-Können — ich zitiere — beim Übergang in die Marktwirtschaft bringt den potentiellen Käufern, den Unternehmern insbesondere aus den alten Bundesländern, objektiv mit fortschreitender Untätigkeit der Bundesregierung und somit fortschreitendem Verfall der Regionen immer bessere Voraussetzungen, mit billigen Käufen und Übernahmen ihre Kassen zu füllen. Aus einem sozialen Gebilde, dem Unternehmen, bleibt bei den Verkäufen der Treuhandanstalt mit zunehmender Dauer immer öfter wegen der nicht realisierten Orientierung des Gesetzgebers auf die Sanierung der Arbeitsplätze nur die Immobilie. An der Immobilie verdient wiederum eine bestimmte Gruppe, die sich wegen der bei den Bürgern aus den neuen Bundesländern fehlenden Vermögen nur aus Bürgern der alten Bundesländer zusammensetzt.
Das von Monat zu Monat höhere Wachstum in den alten Bundesländern — im zweiten Quartal soll es 4,8 % betragen haben; mehr, als die Bundesregierung erwartet hatte — sollte für die Bundesregierung nicht Anlaß sein, sich stolz an die Brust zu klopfen. Es sollte zu ernsthaften Überlegungen Anlaß geben, ob man für die Arbeitslosen und die von Arbeitslosigkeit Bedrohten in den neuen Bundesländern nicht doch etwas mehr tun kann. Schließlich ist im Gegensatz zu der Entwicklung in den alten Bundesländern dort der tatsächliche Verlauf der Entwicklung in der umgekehrten Richtung von den Erwartungen der Bundesregierung abgewichen. Daß das Wirtschaftsministerium Steigerungen um 1 bis 2 % im Osten feiert, finde ich beim Vergleich mit der tatsächlichen Entwicklung beschämend. Gegenüber dem dritten Quartal 1990 sackte die Produktion in fast allen wichtigen Indu-
striezweigen drastisch ab. Ich nenne nur ein paar: Maschinenbau auf 51 %, Chemie auf 340/0, Elektrotechnik auf 58 %, Feinmechanik und Optik auf 80 %. Was sind angesichts dieser Zahlen Wachstumsraten von 2 oder 3 %?
Wir zweifeln die Feststellung der Bundesregierung in der Antwort auf die Große Anfrage an, daß nicht vorhersehbar ist, wie sich die Struktur der Wirtschaft in den neuen Bundesländern entwickeln wird. Zumindest ist das nicht ausreichend.

(Gerlinde Hämmerle [SPD]: Wer hat denn dieses Land zugrundegerichtet?)

— Dieser Abgang ist in der Zeit entstanden, werte Frau Kollegin, als schon andere die Verantwortung getragen haben.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD — Uwe Lühr [FDP]: Das ist ja unverschämt! — Dr. Christian Neuling [CDU/CSU] : So was ist unverschämt! Wenn man's nicht hören würde, würde man's nicht glauben!)

Zumindest ist es nicht ausreichend, bei dieser Antwort stehenzubleiben. Ohne Maschinenbau, Chemie, Stahlindustrie sowie Textilverarbeitung und Landwirtschaft, also ohne produzierende Branchen, kann es keine wirtschaftlich lebensfähigen neuen Bundesländer geben. Die 370 000 Gewerbeanmeldungen, die vorliegen, stammen zu 50 % von Einzelhändlern und nur zu 10 % aus produzierenden Bereichen. Darüber sollte man nachdenken.
In den neuen Bundesländern müssen Industriestandorte erhalten bleiben. Dazu kann und muß die Bundesregierung nach unserer Auffassung sehr wohl konkrete Vorstellungen entwickeln, und sie muß ohne Verzögerung etwas dafür tun, diese Konzepte zu verwirklichen.
Wir fordern, daß mit den Mitteln der Steuerzahler Arbeit in den neuen Bundesländern finanziert wird, um die Situation der betroffenen Bürger so schnell wie möglich zu verändern und nicht den Aufschwung weiter zu versprechen, der nach den Prognosen der Bundesregierung noch nicht mit sinkender Arbeitslosigkeit einhergehen wird. Und dazu braucht die Bundesregierung ein Konzept.
Ein öffentlich initiiertes Förderprogramm könnte noch vieles von der Infrastruktur in den neuen Bundesländern in Ordnung bringen und die Anreize für die Arbeit schaffenden Investoren erhöhen.
Die Situation in strukturschwachen Regionen verschlechtert sich von Monat zu Monat ohne konkrete Aussicht auf Besserung. Wir fordern die Bundesregierung auf, bereits jetzt Maßnahmen zur Veränderung zu beschließen und nicht abzuwarten, bis die bis jetzt beschlossenen Maßnahmen wirken, die ohne Zweifel in vielen Fällen zur Verbesserung beitragen, in vielen Schwerpunktregionen aber einfach nicht ausreichend sind. Deshalb fordern wir Strukturkonzepte. Wie sonst sollte sich soziale Marktwirtschaft durchsetzen? Doch nicht im Selbstlauf freier Kräfte! Da entsteht Manchester-Kapitalismus, und die ursprüngliche Akkumulation, wie wir sie gegenwärtig erleben, findet statt.



Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt)

Zum zweiten: Wir fordern die Bundesregierung und den Unterausschuß Treuhand auf, in der Einflußnahme und Kontrolle der Treuhandanstalt darauf einzuwirken, daß der gesetzlich festgelegte Auftrag zur aktiven Sanierung der Unternehmen und ihrer Umgestaltung in wettbewerbsfähige Unternehmen in vollem Maße verwirklicht wird. Die Treuhand-Anstalt muß sanierungsfähige Unternehmen dabei begleiten, daß sich diese durch Umstrukturierung modernisieren und mit neuen Produkten und Konzeptionen neue Märkte erschließen.
Diese Sanierung ist nicht von heute auf morgen möglich. Es geht um eine mittelfristige Sanierung über einen überschaubaren Zeitraum, bis diese Unternehmen allein wettbewerbsfähig sind. Oft wird über fehlende Unternehmenskonzepte geklagt. Zur Regel für die Arbeit der Treuhandanstalt sollte es werden, die Betriebsräte und Belegschaften zu Ideen und Konzepten zu befragen. Das dort vorhandene Wissen sollte nicht unterschätzt und außer acht gelassen werden.
Wir sehen es als Pflicht der Treuhandanstalt an — vielleicht könnten auch die Ministerien in Bonn und die Außenstellen in Berlin, ferner nicht nur das Wirtschaftsministerium, sondern auch das Forschungs- oder Umweltministerium einen Beitrag dazu leisten — , die Ausarbeitung von Konzepten allseitig mit bestem Wissen und niedrigen Aufwendungen zu unterstützen. Schließlich müssen die Unternehmen wirksam bei der Realisierung dieser Konzepte mit Management, Rat und Tat unterstützt werden, um insbesondere Arbeitsplätze und Industriestandorte zu erhalten.
Dieser Aufgabe ist die Bundesregierung in der Vergangenheit nicht gerecht geworden; sie wollte ihr, wie ich die Antwort auf unsere Anfrage verstehe, auch nicht gerecht werden. Deshalb fordern wir Veränderungen. Im Wochenbericht 41/91 des DIW vom 10. Oktober sind sehr interessante Ansätze für eine kombinierte, degressive Investitions- und Lohnsubventionierung von Treuhandbetrieben vorgeschlagen worden. Ich weiß nicht, von welchen wissenschaftlichen Instituten sich die Bundesregierung beraten läßt, aber sicher auch von diesem Institut.
Zum dritten: Wir können uns auch nicht damit einverstanden erklären, daß die Bundesregierung in ihrer Antwort die Mitbestimmung für ausreichend geregelt hält, indem sie darauf verweist, daß die Treuhandanstalt eine Anstalt des öffentlichen Rechts ist, und zugleich in der Antwort auf Frage 17 keinen Grund für eine Sonderbehandlung der Treuhandbetriebe gegenüber anderen Betrieben sieht.
Wir halten es nicht für richtig, daß der Fleiß, die Ideen und die Arbeit der Beschäftigten, ohne die es in der Vergangenheit keine funktionierenden Betriebe gegeben hätte — auch von Mitgliedern der Bundesregierung wurde die Bewältigung dieser schwierigen Bedingungen durch die in den Betrieben Tätigen hervorgehoben —, nun einfach ignoriert werden. Diese Beschäftigten haben eben nicht in einem marktwirtschaftlichen Unternehmen mit geregelter Mitbestimmung gearbeitet. Nun kommen ihre ehemaligen Arbeitsplätze unter den Hammer, und diese Menschen verlieren ihre Arbeit. Sie verlieren in vielen Regionen
auch die Aussicht auf eine Beschäftigung. Sie sollen nach Ansicht der Bundesregierung in keiner Weise in entsprechende Bemühungen mit einbezogen werden. Das ist nach unserer Auffassung ganz einfach sozial ungerecht.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, in den entsprechenden Ausschüssen, in denen schon seit Monaten Gesetzentwürfe vom Bündnis 90 und der PDS/Linke Liste und weitere Anträge der SPD zur Arbeit der Treuhandanstalt liegen, diese jetzt endgültig zu beraten und diesem Hause zur Entscheidung vorzulegen.
Danke.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205031900
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Neuling.

Dr. Christian Neuling (CDU):
Rede ID: ID1205032000
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, was man hier eigentlich mehr bewundern soll:

(Werner Zywietz [FDP]: Nichts!)

die Ignoranz des Vertreters der PDS bezüglich wirtschafts-politischer Zusammenhänge — er erwähnte den Manchester-Kapitalismus; er muß irgendwo ein historisches Buch aus dem 18. Jahrhundert gelesen haben —

(Gerlinde Hämmerle [SPD]: Unglaublich!)

oder die Unverschämtheit, hier eine Situation zu schildern, als habe das, was wir gemeinsam zu bewältigen haben, nicht ursächlich und ausschließlich mit der Rechtsnachfolgerin der SED, nämlich der PDS, zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es bringt gar nichts, auf Einzelheiten der Großen Anfrage einzugehen. Das hat die Bundesregierung getan; das wird im Zweifel der Parlamentarische Staatssekretär noch einmal nachvollziehen. Wir sollten eigentlich darüber diskutieren, daß hier im Grunde genommen eine historische Lüge verbreitet werden soll, nämlich: Im Kern war vor Herstellung der Einheit alles in Ordnung, der Zusammenbruch kam dann, als die Wirtschafts- und Währungsunion und die Einheit kamen.

(Dr. Fritz Schumann [Kroppenstedt] [PDS/ Linke Liste]: Das habe ich nicht gesagt!)

— Das ist Ihre Aussage.

(Dr. Fritz Schumann [Kroppenstedt] [PDS/ Linke Liste]: Das habe ich nicht gesagt!)

— Sie hatten zehn Minuten Zeit; hören Sie mal zu!
Ihr Forderung wird schon im ersten Satz der ersten Frage deutlich, der lautet: „Warum teilt die Bundesregierung die Auffassungen vieler Wirtschaftsfachleute" — diese werden natürlich nicht genannt; damit ist offensichtlich auch die Meinung der PDS/SED gemeint — „nicht, die die entscheidende Ursache für den Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft . . . in fehlenden staatlichen Struktur- und Förderprogrammen ... sehen?" Im Prinzip war also alles in Ord-



Dr. Christian Neuling
nung. Die ostdeutsche Wirtschaft ist zusammengebrochen, weil der bundesdeutsche Staat, die Bundesregierung nicht gehandelt hat. — Das steht hier so.

(Dr. Fritz Schumann [Kroppenstedt] [PDS/ Linke Liste]: Lesen Sie denn keine Presse?)

— Ich lese nicht Ihre Presse, sondern ich lese das, was wir jetzt gerade behandeln.
Die entscheidene Ursache für den Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft liegt ausschließlich darin, daß die Folgen -- insoweit präzisiere ich einmal die Aussage der Bundesregierung — einer im Kern menschenverachtenden, die Umwelt zerstörenden und die einfachsten wirtschaftlichen Erkenntnisse negierenden sozialistischen Planwirtschaft in Verantwortung der SED, des SED-Regimes heute offen zutage treten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie als PDS, die sich ja als Rechtsnachfolger der SED bezeichnen — offensichtlich um das Parteivermögen zu kassieren — , stehen dafür in unmittelbarer politischer Verantwortung. Bevor ich überhaupt anfange zu diskutieren, sage ich: Machen Sie einmal eine selbstkritische, offene Bilanz Ihrer eigenen Tätigkeit, bevor Sie hier Forderungen aufstellen, Behauptungen aufstellen, die so überhaupt nicht tragbar sind,

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn ich überlege, welches menschliche Leid da verbreitet worden ist, dann sage ich auch: Bevor wir an eine Verteilung materiell-rechtsstaatlichen Parteivermögens gehen, sollte man erst einmal an die Opfer Ihres Regimes denken.
Ich wünschte mir, daß Sie damit anfingen, die historische Verantwortung, die Sie für die vergangenen 45 Jahre in diesem Teil Deutschlands hatten, offen und ehrlich aufzuarbeiten. Dazu sind Sie offenbar nicht in der Lage.
Nun möchte ich einige Elemente herausarbeiten, die Teil dieser SED/PDS-sozialistischen Planwirtschaft waren.
Da sind einmal die Autarkiebestrebungen, also die Bildung von Mammutkombinaten, die unwirtschaftliche Unternehmenseinheiten darstellen, was dazu führt, daß selbst bei Erhaltung der Industriestandorte ca. 70 % bis 80 % der Arbeitnehmer heute keine Arbeit haben. Das ist die sogenannte verdeckte Arbeitslosigkeit. Im Stahlbereich sind es nur 30 % , im Chemiebereich 20 %, bei der Braunkohle 25 %.
Sie haben also durch eine völlig verfehlte Wirtschaftspolitik Größenordnungen bei den Unternehmen geschaffen, die nicht wettbewerbsfähig waren, wodurch heute die Menschen das Elend der Arbeitslosigkeit erleben müssen. Das ist deshalb so, weil Sie nicht in der Lage waren, eine verantwortungsvolle Politik für diese Menschen zu betreiben. — Ich will das ruhig und sachlich abhandeln.
Der zweite Grund dafür, daß diese ganze Misere da ist, und zwar in einem Ausmaß, wie es jedenfalls für mich unvorstellbar war, ist, daß Sie, die SED/PDS, die Unternehmen in den vergangenen Jahrzehnten systematisch geplündert haben. Stichwort: Betriebliche Altkredite.

(Clemens Schwalbe [CDU/CSU]: So ist es!)

Da Sie unfähig waren, eine eigene Wirtschaftspolitik und Finanzpolitik zu betreiben, haben Sie das, was die Unternehmen, das heißt die Menschen dort in den Betrieben, erarbeitet haben, kühl abgeräumt, um in Wandlitz und in anderen Bereichen gut leben zu können. Sie haben die Unternehmen mit diesen Altkrediten vor unlösbare Probleme gestellt mit dem Ergebnis, daß diese Betriebe heute oftmals nicht überleben können.
Durch Ihr Luxusleben, SED/PDS, haben Sie den Schaden, das heißt, daß die Menschen jetzt arbeitslos sind, im Grunde genommen verursacht. Dazu sollten Sie sich einmal bekennnen, und dazu sollten Sie einmal ein paar Worte verlieren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deswegen ist es auch heute wichtig, daß der Kapitalstock erhöht wird, so daß die Treuhandanstalt sich nicht nur bemüht, Betriebe zu sanieren, sondern auch versucht, wieder Investitionen in diese Betriebe hineinzubekommen. Stichwort: 70 Milliarden DM.

(Abg. Dr. Fritz Schumann [Kroppenstedt] [PDS/Linke Liste] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205032100
Herr Abgeordneter, der Abgeordnete Dr. Schumann — —

Dr. Christian Neuling (CDU):
Rede ID: ID1205032200
Nein. Ich habe mir das angehört. Das hat mir gereicht. Ich möchte jetzt im Zusammenhang vortragen.
Jetzt komme ich zu dem traurigsten Kapitel. Sie haben nicht nur in Kauf genommen, daß diese Menschen im Prinzip keine Zukunft haben, sondern Sie haben auch noch bewußt die Umwelt so zerstört, daß davon noch Generationen belastet sein werden. Ich nenne dazu das Stichwort Wismut/Aue. Auch hier sind nicht nur die menschlichen Schicksale der Leute zu beklagen, die dort arbeiten und leben mußten; 13 Milliarden DM allein werden erforderlich sein, um diesen Sauhaufen an SED/PDS-Hinderlassenschaft in den nächsten zehn Jahren zu sanieren.
Ein weiteres Stichwort: Braunkohle. — Der Unterausschuß wird morgen nach Senftenberg fahren, um sich selbst einmal vor Ort über das Ausmaß der Verwüstung dieser Region einen Überblick zu verschaffen.
Ihre Partei ist der Rechtsnachfolger der SED. Laut Art. 1 der Staatsverfassung der ehemaligen DDR war Staatsgewalt gleich SED-Gewalt, und das ist gleich PDS-Gewalt; denn Sie sind der Rechtsnachfolger. 30 Milliarden DM wird allein die Rekultivierung im Bereich des Braunkohlebergbaus kosten. Etwa 40 Milliarden DM oder 45 Milliarden DM zusammen, sage ich einmal nüchtern, noch einmal zurückkommend auf das vorhergehende Diskussionsthema.
Bevor also überhaupt darüber diskutiert werden kann, ob eine PDS/SED nach rechtsstaatlich-materiellen Gesichtspunkten etwas erworben hat und zurückbekommen kann, fangen wir also erst einmal an —



Dr. Christian Neuling
neben den Opfern, die Ihr System verursacht hat —, die ökologischen Altlasten, die Umweltzerstörung, die Sie, Ihre Regierung ganz bewußt in Kauf genommen hat, zu sanieren. Da bleibt dann vom SED-Vermögen nichts mehr übrig. Das ist die offene, ehrliche Diskussion, zu der Sie sich einmal bekennen mögen. — Na gut, ich hoffe, daß Sie dann irgendwann mal verschwinden, politisch. Das ist das Richtige eigentlich, wenn man überlegt — —

(Zurufe von der PDS/Linke Liste)

— Ja, das ist es auch! Sie hätten möglicherweise eine politische Chance gehabt, wenn Sie den Mut gehabt hätten, zu sagen: Wir fangen als neue linke Partei an.

(Dr. Fritz Schumann [Kroppenstedt] [PDS/ Linke Liste]: Da haben Sie völlig recht!)

Aber nein, der Mammon, mein Bester, der Versuch, aus dem SED-Vermögen, von dem Sie alle wußten, möglichst viel zu retten, hat Sie dazu bewogen, sich nur umzubenennen. Das ist Ihr Problem. Nun zahlen Sie die Zeche, in anderer Form, als Sie es vermutlich noch vor eineinhalb Jahren gedacht haben.
Zu den Konsequenzen für die Menschen. Das sage ich, damit das noch einmal deutlich wird; ich will mich wirklich nur noch einmal mit den zynischen Aussagen auseinandersetzen, die Sie hier getroffen haben.
9,8 Millionen sogenannte statistisch Vollerwerbstätige waren es im Herbst 1989. Jetzt sind es in Ostdeutschland noch 4,8 Millionen sogenannte Vollerwerbstätige. Die Differenz von 5 Millionen — dahinter stehen 5 Millionen Schicksale — teilt sich wie folgt auf — ich beziehe mich da auf die Zahlen der „Wirtschaftswoche" und der Bundesanstalt für Arbeit —: Kurzarbeit: 1,3 Millionen nach beiden Quellen, Arbeitslose: 1 Million, in AB-Maßnahmen, Vorruhestand, Qualifizierung: noch einmal 1,3 Millionen, Pendler: rund 400 000, macht 4 Millionen, und ca. 800 000 Deutsche — sage ich mal — sind in den vergangenen eineinhalb Jahren von Ostdeutschland nach Westdeutschland gewandert.
Das heißt, im Grunde genommen tragen Sie Verantwortung für das Schicksal von knapp 5 Millionen Menschen, die heute keinen Arbeitsplatz haben, so daß jetzt mühsam in einer gemeinsamen gewaltigen Anstrengung versucht werden muß, diesen Menschen wieder eine Perspektive zu geben.
Ich hätte mir gewünscht, daß Sie nicht auf die Bundesregierung oder auf sonstwen gezeigt hätten und über den Manchester-Kapitalismus philosophiert hätten, sondern daß Sie wirklich einmal Ihren Zynismus vergessen und ein Wort zu den 5 Millionen Menschen gesagt hätten, die dank Ihrer Politik in den vergangenen 45 Jahren ohne Perspektive sind, so daß wir uns jetzt gemeinsam bemühen müssen, ihnen möglichst schnell eine neue Perspektive zu geben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es hätte Ihnen gut angestanden, etwas hierüber zu sagen.
Nun ganz kurz — — Habe ich noch eine Minute, oder wie ist das, Herr Präsident?

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205032300
Es ist ungefähr noch eine Minute, die Sie ausnutzen können, Herr Abgeordneter.

Dr. Christian Neuling (CDU):
Rede ID: ID1205032400
Okay, schönen Dank. Ich habe nur gefragt, weil das Licht geleuchtet hat.

(Dr. Fritz Schumann [Kroppenstedt] [PDS/ Linke Liste]: Jetzt kommt das Thema!)

— Das ist das Thema, nur haben Sie es in Ihrem Zynismus, in Ihrer Verbohrtheit und in Ihrer Ignoranz immer noch nicht begriffen! Nehmen Sie das einmal zur Kenntnis! Wenn wir das hier in Ruhe eigentlich und im kleinen Kreis diskutieren, bietet Ihnen das im Grunde genommen die Chance, einmal darüber nachzudenken, statt — entschuldigen Sie, Herr Präsident, aber da geht einem als Berliner das Messer auf — durch dümmliche Zwischenrufe abzulenken; denn nichts anderes tun Sie. Sie lenken von Ihrer Verantwortung ab, anstatt sich der Verantwortung zu stellen, und das ist eine schlimme Sache.
Die Maßnahmen sind in der Antwort der Bundesregierung vielfach genannt worden. Mit Sicherheit wird ein wesentlicher Träger für neue Arbeitsplätze ein neuer Mittelstand sein. Allein Sachsen braucht ca. 45 000 Handwerksbetriebe. Wenn man einmal eine durchschnittliche Beschäftigtenzahl von zehn annimmt, sind das 450 000 neue Arbeitsplätze. Wenn man das auf Ostdeutschland hochrechnet, sind es 1,5 Millionen. MBO-Maßnahmen dienen dazu, wirklich unternehmerische Strukturen im einzelnen auch in Ostdeutschland selber zu bilden.
Einen letzten Punkt nenne ich — das möchte ich auch in Richtung Bundesregierung sagen — : Man wird sehr wohl zumindest auch einmal überlegen müssen, ob nicht sanierungsfähige Unternehmen, also Unternehmen, die eine Chance haben, in den nächsten zwei bis drei Jahren nachhaltig in die schwarzen Zahlen zu kommen, als Bundesunternehmen saniert werden können, um sie dann, wenn sie in der nachhaltigen Ertragsphase sind, auch im Sinne einer breiten Vermögensbildung an die Börse zu bringen, mit Vorzug für die Menschen in Ostdeutschland. Das wäre zumindest einmal eine Idee, von der ich mir wünsche, daß sie nicht so ganz rigoros abgelehnt wird; denn im Kern geht es darum, daß wir Industrieschwerpunkte, auch im Rahmen einer Vermögensbildung, so wie es der Einigungsvertrag eigentlich vorsieht, erhalten.
Ich danke für die Geduld, Herr Präsident. — Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205032500
Nun erteile ich dem Abgeordneten Meißner das Wort.

Herbert Meißner (SPD):
Rede ID: ID1205032600
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben in diesem Hause und an dieser Stelle schon des öfteren zur Treuhand Stellung genommen, und das ist, meine ich, sinnvoll und richtig. — Sehr verehrter Herr Kollege Neuling, ich kann mir einiges ersparen zu sagen, nämlich das, was auch Sie dargelegt haben. Ich möchte einige Dinge ansprechen, von denen wir mei-



Herbert Meißner
nen, daß sie die Treuhand in Zukunft doch mal berücksichtigen sollte.
Ich will natürlich nicht ausführlich auf die Fragen Ihrer Großen Anfrage eingehen, Herr Schumann. Das wäre doch verschwendete Zeit, meine ich.

(Beifall bei der SPD)

Ich greife beispielhaft nur noch einmal die Frage 8 heraus und nenne sie ausdrücklich: „Welche Ursachen hat die nach der Währungsunion gesunkene Produktivität in den ostdeutschen Unternehmen?" Herr Neuling hat dies gerade gesagt! Und so ist es in der Tat.
Zusätzlich zu den von der Bundesregierung gegebenen Antworten will ich hier noch einmal ein paar Dinge nennen. Neben den vielen am Anfang nicht sofort erkennbaren Ursachen wie dem Zusammenbruch des Osthandels, den Dumping-Preisen im Zusammenhang mit dem Währungsgefälle und der ineffektiven Produktionsstruktur der DDR-Wirtschaft — die nicht nur ineffektiv aus technologischer Sicht, sondern vor allem auf Grund der personellen Überbesetzung äußerst unproduktiv war — gibt es eine ganze Menge Probleme, die die Ursache für das hier vorhandene Problem mit der Treuhand darstellen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen der PDS, versuchen Sie doch bitte nicht, den Eindruck zu erwecken, daß eine Beibehaltung der damaligen Verhältnisse Brot und Arbeit für alle bedeutet hätte! Wie die wirtschaftliche Situation wirklich aussah, kann man an den derzeitigen Zerfallserscheinungen in Osteuropa erkennen. Dies ist doch der Ausdruck der wirtschaftlichen Ausweglosigkeit.
Ich möchte an dieser Stelle eine Frage, die im weitesten Sinne mit dem Begriff „Volksaktie" zu tun hat, herausgreifen.
Wir Sozialdemokraten haben schon zur Zeit der Modrow-Regierung gefordert, das seinerzeit vorhandene Volksvermögen für alle nutzbringend einzusetzen. Wir haben gefordert, daß das vorhandene Vermögen der Parteien und gesellschaftlichen Organisationen — gerade in der vorangegangenen Debatte haben wir hierzu einiges gehört — und auch die Immobilien der NVA, der Stasi und der Grenztruppen sowie der anderen Organisationen in den Topf des Volksvermögens mit einzubringen sind. Wir hätten damit eine vernünftige Ausgangsbasis für die Bürgerinnen und Bürger und auch für unsere Partei erreicht. Zu Beginn der de-Maizière-Regierung wäre dafür auch noch Zeit gewesen. Aber Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren der Koalition, und Sie, meine sehr verehrten Kollegen der PDS, haben dazu wenig beigetragen.

(Gerlinde Hämmerle [SPD]: Das ist wahr!)

Während der Lektüre der Antworten der Bundesregierung fiel mir besonders auf, daß die Bundesregierung faktisch die Nachfolge des ehemaligen Eigentums der DDR angetreten hat und damit des Vermögens der volkseigenen Wirtschaft, des MfS, der NVA, der Parteien und Massenorganisationen. Wenn ich als Landrat a. D. aus den neuen Bundesländern behaupte, daß es sehr dubiose Machenschafen waren, wodurch gerade die eben angeführten Einrichtungen
zu ihren Immobilien und somit zu ihrem Vermögen gekommen sind, weiß ich, wovon ich rede. Es gab nicht einmal Enteignungsbeschlüsse, geschweige denn entsprechende Verfahren, als sich die ehemalige Regierung der DDR eine ganze Reihe von Immobilien einfach angeeignet hat. Auf der anderen Seite benötigen die Kommunen jetzt aber dringend einen Teil dieser Immobilien zur Bewältigung ihrer Selbstverwaltungsaufgaben. Als Aufgabe der Treuhand müssen wir hierüber einmal nachdenken.
Ich glaube aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß wir hier zur Frage der Treuhand nicht zum letzten Mal Stellung nehmen müssen. Ich gehe davon aus, daß die bereits privatisierten Betriebe eine der leichtesten Aufgaben der Treuhand waren. Was jetzt noch kommt, ist natürlich viel schwieriger.
Die Treuhandanstalt ist das wichtigste Instrument bei der Umstrukturierung der ostdeutschen Wirtschaft. Nur mit einer effektiven und sachkompetenten Arbeit der Treuhand wird es gelingen, die Voraussetzungen für die Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West schnell zu erreichen. Die Menschen im Land haben hier eine hohe Erwartung — und das mit Recht.
Wenn durch die Arbeit der Treuhand nicht wesentliche Aufgaben erfüllt werden, müssen wir hier einmal nachdenken, wie das zu verändern ist. Nur hier kann das geschehen. Wir müssen darüber nachdenken, was der Gesetzgeber tun kann.
Es gibt genügend Beispiele in der Vergangenheit der Bundesrepublik Deutschland. Wir können uns an Ihren Professor Erhard in den Anfangszeiten der Bundesrepublik erinnern. Was gab es nicht alles für Programme zur Ankurbelung der Wirtschaft! Sie, meine Damen und Herren der Koalition, werden sie sehr gut kennen.
Nun werde ich als Mitglied der stärksten Oppositionspartei in diesem Haus Sie von der Regierungskoalition ständig daran erinnern, daß Sie in der Verantwortung für die beste Lösung für die Aufgabe Treuhand in Zugzwang sind. Das können die Menschen im Land von mir erwarten, und das erwarten die Menschen auch von Ihnen.
Lassen Sie mich ein noch nicht angesprochenes Thema aufgreifen. In einem Interview im „Bayernkurier" hat Frau Breuel ausgesagt: Für die Absicherung von Sozialplänen in den Unternehmungen stehen etwa 6 Milliarden DM im Jahre 1991 zur Verfügung. In einer späteren Passage in diesem Presseorgan wird ausgesagt: „So haben wir uns nach sorgfältiger Überprüfung von etwa 400 Geschäftsführern und Vorständen aufgrund ihrer politischen Vergangenheit getrennt."
Hier fällt mir nun eine typisch ostdeutsche Empfindlichkeit auf. Mir ist bekannt, wie in den ostdeutschen Betrieben um vernünftige Sozialpläne gerungen wird. Wenn ich in den meisten Fällen höre, daß die Mitarbeiter eine soziale Abfindung zwischen 4 000 und 6 000 DM erhalten, dann denke ich, hier stimmt etwas nicht. Vergleiche ich die Sozialpläne aus den alten Bundesländern damit, gibt es wesentliche Unterschiede.



Herbert Meißner
Mir ist aber auch durch inoffizielle Informationen aus dem Wahlkreis bekannt, daß die ausgeschiedenen Geschäftsführer und Vorstände ganz andere Abfindungen erhalten. Wenn diese Informationen stimmen, belaufen sich die Zahlungen von 60 000 bis 180 000 DM. Ich weiß zwar, daß nach westdeutschen Maßstäben derartige Abfindungen als normal angesehen werden. Nach ostdeutscher Empfindlichkeit ist dies jedoch absolut ungerechtfertigt.
Herr Koch, Personalchef der Treuhand, bezifferte die Zahl der zu entfernenden Leiter und Vorstände auf 12 000. Nehmen wir nun die Zahl von 12 000 Personen mit einer Abfindung von im Schnitt 100 000 DM, dann verstärken sich meine Befürchtungen.
Rechnen Sie bitte nach, wie wenig für die bisher Betroffenen über 1 Million Arbeitslose in Ostdeutschland übrig bleibt! Die ehemaligen Leiter ostdeutscher Betriebe waren Nomenklaturkader, also Träger einheitssozialistischer Verantwortung. Sie attestierten ihren Mitarbeitern, ob sie ideologisch reif waren, in den Westen zu fahren oder nicht. Dies ist nur ein Beispiel, wie es aussah.
Angesichts dieser Tatsache fällt auf, daß mit Duldung der Treuhand alte und neue Seilschaften gut bedient werden. Ich fürchte, daß der soziale Friede im Land dauerhaft beschädigt wird, wenn diese Situation nicht verändert wird.
Danke schön.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205032700
Nun spricht der Abgeordnete Werner Zywietz.

Werner Zywietz (FDP):
Rede ID: ID1205032800
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Zwischendurch habe ich zuweilen an den Kreidefelsen von Rügen und an ihrem weiteren Bestand gezweifelt, als ich diese „einfühlsamen" Worte und „sorgenvollen" Fragen hörte, die Sie, die PDS, gestellt haben; das gilt auch für die Art des Vortrages.

(Gerlinde Hämmerle [SPD]: Warum? Meinen Sie, die fressen die Kreidefelsen?)

— Die haben sich stimmlich und inhaltlich so verändert, daß der Volksmund sagt: Da muß man schon viel Kreide schlucken.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Das Rotkäppchen!)

Offensichtlich sind sie dabei. Ich habe angefangen, um die Naturschönheiten des Landes Mecklenburg zu fürchten, als ich das so vernahm. Das sage ich mit einem Stück Bitterkeit, die auch vom Kollegen Christian Neuling schon angesprochen worden ist. Das ist so heuchlerisch, mit Verlaub gesagt.
Auf der anderen Seite tun Sie mir auch ein bißchen leid. Denn diejenigen, die vermutlich die Fragen formuliert haben und die als sozialistische Wirtschaftsprofessoren wohl mehr die Hand gereicht haben, um das zu Papier zu bringen, sind ja nicht da. Sie sind jetzt — ich habe nachgelesen: Sie sind Agrarökonom — wirklich allein gelassen. Aber die Drahtzieher von solchen Anfragen und von solch heuchlerischer Politik
sind weg; die haben sich in die Büsche geschlagen. Sie dürfen das dann ausbaden.

(Dr. Christian Neuling [CDU/CSU]: Die sind in Rügen und fressen Kreide!)

— Vermutlich, weitere.
Es ist ja kein Zufall. Das ist seit geraumer Zeit zu beobachten, und das ist wohl verabredete Strategie, Aber das wird alles nicht helfen. Sie sind durch die Wahlen schon arg dezimiert, und das wird weitergehen. Das hat ja alles keine Substanz.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Aber daß die Nachfolger Biedermann spielen, ist auch nicht legitim!)

Sie haben 40 Fragen gestellt. Offensichtlich waren Sie auch tiefenpsychologisch davon geleitet, weil die Zahl 40 für 40 Jahre Verantwortung steht. Das konnten Sie wohl nicht von sich weisen. Aber wer wie Sie 40 Fragen sozusagen danach ausrichtet, wie das jetzt ökonomisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich nach der deutschen Einheit aussieht, wer fragt: Ist schon alles in Ordnung, wie geht das weiter?, und das mit diesem sorgenvollen Unterton betreibt, kritisiert sich auch vierzigmal. Denn das ist die Erbschaft; das ist ja kein Zustand, der von heute auf morgen entstanden ist, sondern das ist das Ergebnis von 40 Jahren Mißwirtschaft und Bankrotteurverhalten.

(Dr. Christian Neuling [CDU/CSU]: Ausbeutung!)

Sie fragen schon acht Monate danach, ob alles in Ordnung ist, und spielen sich zu dem Beschützer und sorgenvollen Anteilnehmer für die Bevölkerung auf oder versuchen das zumindest — das ist ein untauglicher Versuch — , als würde Ihnen das alles so sehr am Herzen liegen. Das sind Ablenkungsfragen; das löst überhaupt nichts. Das, was Sie dort veranstalten, steht Ihnen wirklich schlecht zu Gesicht.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Sie überschreiben das Ganze, wenn ich noch einmal auf den Originaltext schaue, mit „Treuhänderische Verwaltung" . Als ich das gelesen habe, habe ich gesagt: „Treuhänderisch" wollen Sie uns Ratschläge geben. Aber wie treulos Sie als PDS Vermögen — auch das parteiliche, was wir gerade vor einer Stunde ebenfalls gehört haben — verwaltet haben, spricht doch Bände. Nun kommen die, die wirklich großzügig und treulos mit der Arbeitsleistung, dem Vermögen, dem Eigentum und der Rechtssituation anderer vier Jahrzehnte lang umgegangen sind, und fangen hier in belehrendem und nachfragendem Ton an, darzulegen, welche „Sorgen" Sie quälen. Ich hätte beinahe gesagt: Da geht mir wirklich der Hut hoch.
Wenn Sie das ernst nehmen wollten, hätten Sie Bericht über Ihr treuloses Verhalten als PDS, als SED ein Jahr vor der Einheit geben können. Eine solche Darlegung Ihres Tuns wäre sehr viel sinnvoller gewesen, als sozusagen im Startprozeß der Verbesserung des Aufschwungs diesen Fragenkatalog abzuliefern.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich will auf die Fragen im einzelnen nicht eingehen, obwohl ich mir die Stichworte alle angeschaut habe



Werner Zywietz
und sie durchgegangen bin. Die Regierung hat darauf wunderbar geantwortet. Nach meiner Meinung hätte man bei den Fragen, was die Treuhand anlangt, auch zugeben können, daß das sozusagen kein perfekter Wurf für alle Zeit ist, sondern daß das auch mit etwas wie „learning by doing" zu tun hat. Da würde ich das etwas dynamischer sehen und nicht sagen: Das ist die Organisation, und alles ist paletti,

(Gerlinde Hämmerle [SPD]: Die Amtssprache ist Deutsch!)

sondern die Aufgabe ist so groß und so schwierig, daß man sich immer nur sukzessive, aber mit der richtigen Methode — die ist zweifellos gegeben — an die Lösung der anstehenden Aufgaben heranmachen kann.
Ich habe auch den Verdacht nicht loswerden können, wenn Sie nach Arbeitslosen, nach Kapital und Produktivität fragen, wenn Sie fragen, wie der Sanierungsstand ist und welche Fördermittel wir einsetzen, wie das mit Vermögensanteilen für die geschundene Bevölkerung ist und ob jetzt nicht etwas von der Treuhand verschoben wird — in diesem Bereich haben Sie überhaupt keine Erfahrung, fiel mir spontan ein; mit Seilschaften und Verschieben ist nach Ihrer Meinung alles rechtmäßig und korrekt zugegangen — , daß man sich da wirklich nur — —

(Zuruf von der FDP: Aber das meinst Du nicht ernst! — Weiterer Zuruf von der FDP: Die Ironie kommt im Protokoll so schlecht zur Geltung!)

— Da mache ich jetzt Tüttelchen. Vielleicht ist das auch einmal erlaubt.
Das sind ja die Stichworte, die aufgezählt werden. Wenn man das Ganze Revue passieren läßt, fragt man sich unwillkürlich: Was soll das Ganze eigentlich? Haben Sie schlichtweg erkannt, daß Sie viel verloren haben? Es ist jetzt ein anderer Staat. Ihre Rolle ist weg. Der Wähler hat Sie sehr klein gewählt.

(Gerlinde Hämmerle [SPD]: Gott sei Dank!)

Das wird schätzungsweise noch so weitergehen. Aber wenn Sie von Mitbestimmung reden und meinen, sie müssen mehr eingeführt werden, dann wird man den Verdacht nicht los, daß sie glauben, über das Stichwort Mitbestimmung mit Ihren alten Seilschaften wieder ein Zipfelchen Macht ergreifen zu können.
Sie reden von einer breiteren Eigentumsstreuung. Das ist ein sehr ernstes Stichwort. Auf längere Sicht würde ich mir auch ein Stück mehr wünschen. Aber wenn Sie davon reden, dann wird man den Verdacht nicht los, daß Sie die Fragen mit Hintersinn und mit Absicht gestellt haben und glauben, daß auch über eine breitere Vermögensverteilung wieder ein Stück eines Machtzipfels erreicht werden kann. Durch das Aufspielen als Treuhänder — nicht als Treulose, die Sie in Wahrheit sind — für die Bürger glauben Sie vielleicht auch noch ein bißchen Zustimmung zu erheischen. Das Ganze ist so durchsichtig und so fadenscheinig, daß das nicht aufgehen wird. Solche törichten Wähler habe ich noch nicht erlebt, die solchen Leitsätzen und solchen durchsichtigen Absichten auf den Leim gehen. Es ist auch gut so, daß das nicht aufgeht.
Wenn Sie sich aber bei allem, was noch zu tun ist, dagegenhalten, was geschehen ist, dann sehen Sie, daß das eine Menge ist, was in der Kürze der Zeit geschehen ist. Wir haben im Oktober Jahrestag gehabt. Am 2. Dezember werden wir ein Jahr nach der ersten gesamtdeutschen Wahl haben. Wenn man durch die neuen Bundesländer fährt, liest, hier mit Kollegen spricht und sich selber umschaut, dann gewinnt man ein Bild, das natürlich auch noch eine Menge Probleme hat. Aber dazu kann man nur sagen: 40 Jahre sind nicht in acht Monaten aufgearbeitet.

(Beifall bei der SPD)

Aber es ist eine ganze Menge auf den Weg gebracht. Es ist eine ganze Menge an einen Start gebracht, so daß man die Zeichen sieht, daß es besser wird, daß eine Dynamik entfacht ist. Das gilt in vielfältiger Hinsicht. Wir machen Haushaltsberatung. Alle Haushaltspläne enthalten große Geldsummen für die Infrastrukturverbesserungen insbesondere in den neuen Bundesländern, z. B. für Telekom, Reichsbahn, Straßenbau, Wasserbau, Flughafenverbesserung. Es sind Riesensummen. Es geht um Wirtschaftsförderung, um außerordentliche Hilfsmaßnahmen, es geht um den sozialen Bereich: Rentenanpassung, ABM, Umschulungsmaßnahmen. Das sind alles Unterstützungsmaßnahmen, um zu einer sozial abgefederten, ökologisch orientierten, vernünftigen Marktwirtschaft zu kommen. Es ist noch nicht im Bestzustand. Das gebe ich zu. Aber die Richtung stimmt.
Ich freue mich als Verterter der FDP auch, daß sich jetzt eine Menge mittelständischer Existenzen auftun, daß allüberall Eigeninitiative sichtbar wird. Das sieht man an den Gärten und an den Häusern. Das sind alles die Eigenschaften, die unseren Gesamtstaat und die Wirtschaft nach vorne bringen.
Dann stochern Sie mit Ihren Fragen ein bißchen herum und fragen immer nach Statistiken. Wissen Sie, wie mir als Fast-Hamburger das vorkam? In Hamburg gibt es einen Schnack, man solle nicht so an die Statistik glauben. Das mit der Statistik sei wie mit so einer Leuchte auf der Reeperbahn. Sie diene mehr dem Nothalt als der großen Erleuchtung. So ist das auch mit den Fragen, die Sie immer mit Hinweis auf die Statistik gestellt haben: ob dieses oder jenes schon in sechs oder neun Monaten erreicht worden ist oder bis zu welchem Ausmaß es erreicht worden ist. Das ist es nicht. Aber die Struktur ist gegeben. Der Start ist gemacht. Ich bin sicher, daß wir in kürzerer Zeit, als wir annahmen, die größeren Schwierigkeiten, die wir übernommen haben, ganz gut meistern werden.
Ich als Vertreter der FDP bin felsenfest davon überzeugt, daß das nur gelingen wird, weil es eine gute Portion liberale Grundhaltung gibt. Die ist bei der FDP gebündelt, aber zugegebenermaßen nicht ausschließlich bei der FDP zu Hause.

(Heiterkeit — Dr. Christian Neuling [CDU/ CSU]: Der Zusatz war richtig!)

— Ich habe geahnt, was kommt. — Diese Einstellung wird dazu beitragen, viel Kreativität, viel Schwung freizumachen und viele an die Arbeit und in die Verantwortung zu bringen. Das wird genau der Weg sein, der bei dieser ganzen Aktion zum Erfolg führt und der Fragen, die Sie heute noch — wenn auch verkehrter-



Werner Zywietz
weise — gestellt haben, ohnehin bald Makulatur sein läßt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205032900
Das Wort erteile ich dem Abgeordneten Schulz.

Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1205033000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie haben schon recht, daß die PDS der Sache einen Bärendienst erweist, wenn ausgerechnet sie die Wirtschaftspolitik in Bausch und Bogen kritisiert oder angreift, ohne den Bereich kritisch zu analysieren, den sie selbst verursacht hat.
Aber ich muß Ihnen ehrlich sagen: Ich habe die Diskussion zu einem so brennend heißen Thema, das im Osten so viele Menschen und Schicksale berührt, Lebensperspektiven verengt und die Berufssituation sehr vieler unsicher gestaltet, noch nie auf einem so tiefen Niveau erlebt wie heute. Zuerst erschien mir diese kleine Runde hier wie der saftlose Unterausschuß Treuhand, den wir im Bundestag gebildet haben.

(Dr. Christian Neuling [CDU/CSU]: Vielleicht liegt es an dem saftlosen Mitglied des Bündnisses 90/GRÜNE!)

— Ich sage das im vollen Bewußtsein, Herr Neuling, daß Sie da sitzen. Ich halte an dem „saftlos" auch fest.
Der Haushaltsausschuß, bei dem dieses so wichtige Thema angebunden ist, ein Ausschuß, der dieses Jahr zwei Haushalte zu beraten hatte, also wirklich überstrapaziert ist, ist im Grunde genommen überhaupt nicht in der Lage, die Probleme aufzuarbeiten. Sie werden sich selbst davon überzeugt haben und werden es bestätigen: Sie laufen dort den Problemen und den Skandalen nur hinterher. Ich muß Ihnen ehrlich sagen: Wenn die Besuchertribüne mit ostdeutschen Bürgern gefüllt gewesen wäre,

(Gerlinde Hämmerle [SPD]: Ist sie!)

dann hätten Sie hier ein großes Unmutsbekenntnis erlebt.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205033100
Herr Abgeordneter Schulz, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Weng zuzulassen?

Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1205033200
Ja, gerne.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205033300
Bitte sehr, Herr Weng.

Dr. Wolfgang Weng (FDP):
Rede ID: ID1205033400
Herr Kollege Schulz, rein technisch: Geben Sie mir recht, daß es eigentlich nicht angeht, daß Sie einen Unterausschuß, in dem Kollegen in großer Belastung ihrer Arbeit nachgehen, als saftlos bezeichnen, wenn Sie selbst in dem Ausschuß, dem Sie angehören, überhaupt nicht in Erscheinung treten?

Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1205033500
Ach, Herr Weng, das ist doch immer wieder die gleiche Leier.

(Dr. Christian Neuling [CDU/CSU]: Aber es ist die gleiche Wahrheit! — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Weil es halt stimmt!)

— Jetzt habe ich vielleicht einmal wieder das Wort.
Sie sollten mit diesen Diffamierungen aufhören. Natürlich bin ich dort anwesend und nehme diese Position sehr bewußt wahr. Aber es ist so, daß dort nicht allzuviel passiert.

(Dr. Christian Neuling [CDU/CSU]: Aber im Haushaltsausschuß, Herr Kollege!)

— Ich bin in vielen anderen Ausschüssen, Herr Neuling.

(Dr. Christian Neuling [CDU/CSU]: Aber Sie reden immer vom Haushaltsausschuß!)

— Ach, ich streite mich jetzt nicht darüber. Das ist immer die gleiche Diffamierung.

(Dr. Christian Neuling [CDU/CSU]: Nicht Diffamierung!)

Ich habe den Eindruck, Sie haben alle solche Bonner Rednerschulen besucht, wo man die Schopenhauersche Dialektik der Diskussionskunst lernt, wie man, wenn man keine Inhalte mehr zu bieten hat, den Redner persönlich angreift oder vom Thema ablenkt. Herr Neuling hat das bestens beherrscht. Sie haben im Grunde nicht über Treuhandpolitik gesprochen, sondern darüber, wer für die Misere im Moment verantwortlich ist.

(Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP] steht noch vor dem Saalmikrophon)

— Sie können sich wieder setzen. Ich habe Ihre Frage, glaube ich, beantwortet.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Haben Sie nicht! Aber das ist egal! — Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Laß ihn doch stehen!)

Da haben Sie die stereotype Formel anzubieten, die sozialistische Mißwirtschaft der SED-Herrschaft sei ausschlaggebend gewesen. Ich bin wahrlich kein Freund der SED gewesen. Ich habe unter diesem Regime wirklich gelitten. Ich habe dieses Regime in einer Situation bekämpft, wo sich die Vertreter Ihrer Partei auf der Leipziger Messe noch mit dem Generalsekretär und den Generaldirektoren der volkseigenen Kombinate unterhalten haben. Ich muß Ihnen ehrlich sagen: Sie hätten besser wissen müssen, in welchem Zustand sich diese Wirtschaft befand.

(Beifall des Abg. Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste])

Aber damals haben Sie die Situation in der DDR immer sehr rosig dargestellt. Sie haben gelobt, was das für ein tolles Industrieland ist. Jetzt neigen Sie zum glatten Gegenteil,

(Dr. Christian Neuling [CDU/CSU]: Wer hat denn was dargestellt? Die SED hat doch immer ihr Land dargestellt, nicht wir!)




Werner Schulz (Berlin)

zum Gegenextrem, indem Sie so tun, als sei wirklich alles, was es dort an industriellen Investitionen gegeben hat, marode. Das ist eine völlig undifferenzierte Sicht. Die hilft uns nicht weiter.

(Dr. Christian Neuling [CDU/CSU]: Keiner hat von „alles marode" gesprochen, Herr Schulz! Sie müssen einmal zuhören!)

Es hilft uns auch nicht weiter, wenn Sie dies wiederholen. Die Absicht ist schon klar: Sie versuchen, zu erreichen, daß sich diese Geschichtsklitterung festsetzt.

(Dr. Christian Neuling [CDU/CSU]: Welche Geschichtsklitterung?)

Aber das stimmt so einfach nicht.
Sie lenken im Grunde genommen von der Verantwortung Ihrer Wirtschaftspolitik ab. Das muß ich Ihnen deutlich sagen. Sie haben es nämlich versäumt, im Vorfeld der Wirtschafts- und Währungsunion Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die Wirtschaft im Osten nicht zu Bruch geht. Sie haben dem Schumpeter offenbar mehr geglaubt als Ihrer wirtschaftlichen Vernunft. Sie haben nicht das Notwendige getan. Sie haben eine Wirtschafts- und Währungsunion ausgelöst. Das war ein Schock ohne Therapie. Im Grunde genommen leiden wir genauso daran.

(Dr. Christian Neuling [CDU/CSU]: Also hätten wir das nicht machen sollen?)

— Nein, Herr Neuling. Sie verstehen mich schon wieder falsch.

(Dr. Christian Neuling [CDU/CSU]: Ich frage einfach nur! Wir hätten es also doch machen sollen!)

— Sie hätten das Ganze natürlich machen sollen. Aber Sie hätten wissen sollen, was passiert, wenn Sie für die Überführung der sozialistischen Planwirtschaft in die Marktwirtschaft keine Voraussetzungen schaffen und keine Vorsorge treffen.
Ich muß Ihnen sagen, wir in der Bürgerbewegung haben uns im Winter 1989/90 über die Transformation von Planwirtschaft in Marktwirtschaft mehr Gedanken gemacht als der wirtschaftliche Sachverstand im Hause Haussmann. Mittlerweile läuft der Minister Möllemann dieser Situation hinterher. Ich bin froh, daß wenigstens einer in dieser Regierung läuft — das muß man hier einmal deutlich sagen —; denn die anderen tun nicht allzuviel.
Wenn ich sehe, daß eigentlich Herr Waigel die Verantwortung für die Treuhand trägt, dann muß ich sagen, er kommt seiner Fach- und Rechtsaufsicht in diesem Punkte sehr wenig nach.
Ich will Ihnen folgendes sagen — ich saß damals am Runden Tisch — : Es ist eine Legende, wenn gesagt wird, daß Herr Modrow im Februar, als er nach Bonn kam, 16 Milliarden DM haben wollte, um die Umstrukturierung in die Wege zu leiten. Das war ein Auftrag des Runden Tisches. Der gute Mensch aus Dresden — wie er immer so schön apostrophiert wird — wäre vielleicht nicht einmal auf die Idee gekommen, so etwas zu machen.
Der Runde Tisch war sich darüber im klaren, daß, wenn der Währungsschnitt kommt — es war ja absehbar, daß er kommt; er ist auch richtig gewesen; ich will Ihnen meine Meinung dazu nicht verhehlen — , wir Voraussetzungen, zumindest infrastrukturelle Voraussetzungen schaffen müssen. Das sind ja im Moment die limitierenden Faktoren, warum so viele Investoren ausbleiben, neben den ungeklärten Eigentumsverhältnissen, die es ebenfalls zu kritisieren gilt.
Ich habe manchmal den Eindruck, der Optimismus wächst mit zunehmender örtlicher und sozialer Entfernung von den Betroffenen. Dieser Satz stammt nicht von mir, sondern von dem Kollegen Kolbe aus der CDU. Ich will den Satz hier unterstreichen. Das hat er mit Blick auf die Treuhand und auf die Wirtschaftspolitik gesagt. Das ist sehr richtig.
Wenn ich daran denke, daß die sächsische Landesgruppe der CDU die Novellierung des Treuhandgesetzes fordert, daß der Sanierungsauftrag dem der Privatisierung zumindest gleichgestellt wird, wenn ich sehe, daß die CDU- und die FDP-Fraktion im mecklenburgischen Landtag einen gleichen Antrag gestellt haben, daß ein Kontrollgremium geschaffen wird, ein Bundesratsausschuß, der sich dieser Dinge etwas mehr annimmt, dann muß ich dazu sagen: Sie haben sehr gute Leute; die kommen offenbar nur nicht an das Mikrofon hier, um diese Position zu vertreten. Es ist irgendwo die Tücke von Parteidisziplin, daß sie nicht durchkommen.
Aber insgesamt hat sich in diesem Hause — ich habe diesen Eindruck — schon eine interfraktionelle Meinung gebildet, daß nämlich die Politik der Treuhand, wie sie im Moment läuft, nicht in Ordnung ist. Wir laufen den Schwierigkeiten wirklich hinterher. Ich will die Worte von Deindustrialisierung oder Entindustrialisierung hier nicht so hochschrauben, aber die Gefahr ist enorm groß. Momentan verlieren wir immer noch mehr Arbeitsplätze, als neue geschaffen werden; da können Sie noch so viele Statistiken anbringen. Im Moment ist immer noch die Talfahrt angesagt. — Sie nicken, Herr Staatssekretär. Sie sind wirklich ein guter Fachmann; ich habe das jedenfalls so erlebt. Sie bezeichnen sich selber als alten Fuhrmann — ich bin immer sehr sensibel für diese Sprache, die mir nicht so geläufig ist. Ich verstehe bloß nicht, warum Sie die Zügel so schleifen lassen, warum Sie die Pferde in die Talfahrt laufen lassen, wo man jetzt doch sehen kann, daß am Ende womöglich der ganze Wagen kaputt ist.
Es fallen derart viele Arbeitsplätze weg, es fallen ganze Industriestandorte weg, Arbeitsplätze, die so schnell nicht wieder geschaffen sind und die eine Menge Geld kosten. Wenn ich die Berechnungen von McKinsey zugrunde lege, 200 000 bis 400 000 DM an Investitionen, um in Westdeutschland einen Arbeitsplatz in der Industrie zu schaffen, wenn ich dann im Vergleich dazu sehe, was uns ein Arbeitsloser an Arbeitslosenunterstützung oder die Dauerarbeitslosigkeit kosten bzw. welche Mittel notwendig sind, um in den Regionen wieder etwas Vergleichbares zu schaffen, dann muß ich sagen: Mir fehlt einfach die volkswirtschaftliche Betrachtungsweise bei dem Gesamtproblem. Dann ist diese Treuhand momentan zu sehr auf eine Maklerfirma festgelegt, wo um jeden Preis privatisiert wird, wo im Grunde nicht danach geschaut



Werner Schulz (Berlin)

wird, wie man diese Betriebe wettbewerbsfähig macht oder am Leben erhalten kann, die sich momentan in einem wirklich gefährlichen Schwebezustand befinden.

(Werner Zywietz [FDP]: Die neuen Eigentümer kümmern sich darum!)

— Sie haben ja recht, Herr Zywietz, sofern die neuen Eigentümer kommen. Aber wir haben momentan die Situation, daß etliche Betriebe überleben könnten, es aber im Grunde genommen keine Interessenten gibt. Eigentlich müßte die Treuhand dort eingreifen. Sie müßte Sanierungspolitik machen bzw. Rahmenbedingungen schaffen. — Die Sanierung sollte mehr aus den Betrieben selber heraus kommen; das ist jedenfalls unsere Auffassung. Da helfen papierene Konzepte im Moment relativ wenig. — Aber die Treuhand schafft diese Rahmenbedingungen nicht im erforderlichen Maße.

(Dr. Christian Neuling [CDU/CSU]: Aber sie schafft doch! Sie saniert doch!)

— Es wäre schön, wenn das so wäre.

(Dr. Christian Neuling [CDU/CSU]: Schauen Sie sich doch den Wirtschaftsplan der Treuhand an! Über 40 % der Ausgaben gehen in die Sanierung!)

— Ich kann das in dem Maße nicht sehen. Ich kann im Moment nur sehen, daß dort ganz rigoros und schnell privatisiert wird. Es scheint ja offenbar das hauptsächlichste Erfolgskriterium der Treuhand zu sein, in welchem Umfang privatisiert wird, egal wie viele wettbewerbsfähige Arbeitsplätze am Ende wirklich noch übrig bleiben. Ich meine, die Rechnung, was davon wirklich gehalten werden konnte, wird ja erst in ein, zwei Jahren offenbar werden.
Ich meine, wir sollten mit diesem Thema etwas ernsthafter umgehen. Ich muß Ihnen ehrlich sagen: Ich bin davon betroffen, denn es hängt eine Menge davon ab. Wir sollten nicht so eitel darüber hinweggehen.

(Gerlinde Hämmerle [SPD]: Diese Anfrage ist aber nicht ernsthaft!)

— Gut, ich habe ja eingangs gesagt, daß ich meine, daß das vielleicht nicht gerade der beste Aufhänger ist.

(Zurufe von der CDU/CSU)

— Gut. Aber ich hoffe, das ist noch nicht das letzte Wort und die letzte Runde zur diesem Thema.

(Dr. Christian Neuling [CDU/CSU]: Mit Sicherheit nicht!)

Ich denke, zumindest darin würden Sie mir zustimmen, ja?

(Manfred Richter [Bremerhaven] [FDP]: Da stimmen wir Ihnen zu, Herr Schulz!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205033600
Nun erteile ich als letztem Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Grünewald das Wort.

Dr. Joachim Grünewald (CDU):
Rede ID: ID1205033700
Herr Präsident! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir befassen uns heute einmal mehr mit dem zweifellos ernsten und auch schwierigen Thema der Politik der Treuhand.

(Gerlinde Hämmerle [SPD]: So ist es!)

Herr Kollege Schulz, man kann Themen auch inflationieren und überstrapazieren. Dann führt das leicht zu dem, was Sie kritisieren, nämlich daß man einen Niveauverfall zu beklagen hat, wobei ich ausdrücklich sagen möchte, daß Sie doch wohl nicht behaupten wollen, die von tiefer volkswirtschaftlicher Kenntnis geprägten Diskussionsbeiträge der Kollegen Dr. Neuling und Zywietz wären niveaulos gewesen.
Herr Dr. Schumann, die Bundesregierung hat nicht erwartet, daß wir Sie mit unserer sehr umfänglichen — das wurde ja auch dankbar anerkannt — und auch sehr aussagekräftigen Antwort befriedigen könnten. Das ist auch gar nicht möglich, denn schon aus der Art Ihrer 40 Fragen resultiert doch eines: daß Sie nichts, aber auch gar nichts dazugelernt haben und daß Sie auch gar nichts dazulernen wollen. Wir haben einfach elementar unterschiedliche Auffassungen zu den Problemen. Diese Auffassungen sind unversöhnlich. Daraus erklärt sich auch — Herr Neuling hat das ja zu Recht beklagt — , daß Sie einmal mehr mit keinem Wort auf die eigentlichen Ursachen des ganzen Desasters eingehen; Ursachen, die in dem völligen Versagen Ihres planwirtschaftlichen Systems liegen.
Herr Schumann, es ist doch nicht allein unsere Auffassung, sondern es ist die Auffassung aller maßgeblichen Wirtschaftswissenschaftler bei uns im Lande und weit darüber hinaus: Der unvermeidliche Strukturwandel mit dem Ziel der Schaffung einer wettbewerbsfähigen freiheitlichen Sozialen Marktwirtschaft ist nicht von heute auf morgen zu bewerkstelligen; das ist doch ganz klar. Aber was wollen Sie? Sie wollen doch wieder die alte zentralistische Struktur- und Industriepolitik; Sie wollen sie wiederbeleben. Das ist doch einfach paradox in dieser Situation. Schauen Sie sich doch die Entwicklung an, schauen Sie sich auch die Entwicklung in den anderen osteuropäischen Ländern an. Dann müssen Sie doch einsehen, daß diese alten Instrumente einfach untauglich sind und dringend in die Mottenkiste der Geschichte gehören.

(Beifall des Abg. Dr. Christian Neuling [CDU/CSU])

Die Treuhandanstalt hat nach Art. 25 des Einigungsvertrages eine politische und ökonomische Schlüsselfunktion. Sie müssen sich überlegen: 90 des ganzen wirtschaftlichen Geschehens im Beitrittsgebiet, gemessen an der Einwohnerzahl zweieinhalb mal so groß wie ganz Österreich, lag und liegt bei der Treuhandanstalt. Sie hat eine beispiellose Aufgabe, und sie erfüllt sie: Sie privatisiert schnell, sie saniert sehr entschlossen, ganz anders, als hier ausgesagt wurde,

(Dr. Christian Neuling [CDU/CSU]: Richtig!)

und sie liquidiert außerordentlich behutsam.
Ich glaube, Sie haben soeben den großen Nationalökonomen Schumpeter zitiert. Lassen Sie mich Ihnen sagen: Von Schumpeter stammt das Wort von der schöpferischen Zerstörung. Ich füge hinzu: Wir wer-



Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald
den im Beitrittsgebiet noch viel Altes zerstören müssen, damit Neues wachsen, blühen und gedeihen kann. Das kann man ganz und gar nicht leugnen. Da nehmen wir Schumpeter für uns in Anspruch.
Wir bemühen uns — ich spreche jetzt konkret den Auftrag der Treuhandanstalt an — , rasch zu privatisieren und schnell Wettbewerbsfähigkeit herzustellen. Wir bemühen uns auch, Herr Kollege Meißner, Grund und Boden so schnell wie möglich zu privatisieren. Aber die Probleme liegen viel tiefer, wie Sie wissen. Fast jeder Acker ist mit Restitutionsansprüchen behaftet. Sie sind kurze Zeit im Landratsamt gewesen. Für die Kommunen haben wir doch wirklich alles getan. Wir haben den Begriff des kommunalen Finanzvermögens extensiv ausgelegt. Wir haben das Vermögenszuordnungsgesetz geschaffen und den Kommunen alle Instrumente für ihren Grundstücksbedarf, auch für die notwendige Industrialisierung verfügbar gemacht.
Was mich allmählich ein bißchen zu ärgern beginnt, ist, daß die große Leistung der Treuhandanstalt immer wieder diskreditiert wird — semper aliquid haeret — und daß wir die Mitarbeiter der Treuhandanstalt, die erst seit einem Jahr operativ tätig sind, im Grunde genommen diskriminieren. Ich habe mir in Vorbereitung auf diese Sitzung die neuesten Erfolgszahlen aus Berlin abrufen lassen, die von Ende September. Die Treuhandanstalt hat in gerade einem Jahr 4 000 Unternehmungen privatisiert. Sie hat dabei 14 Milliarden DM an Verkaufserlös erzielt. Sie hat — das ist besonders wichtig — 85 Milliarden DM an Investitionszusagen fest vereinbart, in den Verträgen sogar pönalisiert. Sie hat dadurch — auch das müssen Sie bitte einmal anerkennen — 720 000 Arbeitsplätze in private Arbeitsplätze umgewandelt und damit gerettet. Ich wiederhole: 720 000 Arbeitsplätze.
Die Bundesregierung sieht derzeit keinen Anlaß, ein Verfahren zur Einräumung von verbrieften Anteilsrechten am „volkseigenen Vermögen" einzuleiten. Den Gedanken, Unternehmen zu sanieren, um sie später an der Börse zu handeln, haben wir auch schon aufgegriffen. Nur sind die Unternehmen im Augenblick noch nicht börsenfähig, Herr Kollege Neuling.

(Dr. Christian Neuling [CDU/CSU]: Das war auch nicht gemeint!)

Wenn es uns gelingt, sie dahin zu bringen, werden wir diesen Gedanken weiter veredeln.
Wir haben nicht gewußt, welche Schäden auf uns zukommen. Das sage ich ganz offen. Sie müssen sich überlegen, daß uns die Regierung Modrow noch vor anderthalb Jahren erklärt hat, uns würde ein Vermögen von einer Billion DM zuwachsen. Das wären 1 000 Milliarden DM. Wir wären froh und dankbar — wir als Insider wissen es ja — , wenn das Ergebnis hinterher auf plus minus Null lautete.

(Dr. Christian Neuling [CDU/CSU]: Das wird Ihnen nicht gelingen!)

Das wäre ein schöner Erfolg.
Das Ganze hat die Treuhandanstalt nach nur einjähriger Tätigkeit erreicht. Jeden Tag werden in der Alltagsarbeit der Treuhand neue, schier unlösbare Probleme hochgespült. Mit diesen Problemen muß sie sich auseinandersetzen. Ich kann das nur in Stichworten sagen. Unzureichende Produktivität: Wir gingen bei der Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion — übrigens in Übereinstimmung mit den Sachverständigen — von einer Produktivität von 50 % aus. Wir wissen heute, daß wir keine 30 % Produktivität haben. Da, wo noch ein Stück Produktivität vorhanden war, etwa im Bereich Kohle und Chemie, ist sie nicht nur menschenverachtend, sondern unsere Schöpfung verletzend mit einer unglaublichen Ausbeutung der Natur erwirtschaftet worden. Weitere Stichworte lauten: nicht konkurrenzfähige Produkte, zusammengebrochene Märkte, nicht lebensfähige Unternehmensstrukturen, kein Mittelstand. Der Mittelstand ist in Ihren Vorgängerzeiten systematisch zurückgeführt worden.

(Dr. Christian Neuling [CDU/CSU]: Eliminiert worden!)

— Er ist eliminiert worden.

(Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Alles durch die Ost-CDU! — Lachen bei der CDU/ CSU, der FDP, der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

Er ist mit Steuern bis zu 90 % belegt worden. Das waren konfiskatorische Elemente, um den Mittelstand kaputtzumachen. Was sind wir heute froh, daß es uns in Ansätzen gelungen ist, so viele kleine mittelständische Betriebe zu haben! Die sogenannte kleine Privatisierung mit den rund 17 000 Gaststätten, Hotels usw. ist abgeschlossen. Das betrifft überwiegend Landsleute aus dem Beitrittsgebiet, was ich für besonders erfreulich halte.
Einer der großen Mängel sind die völlig veralteten Produktionsanlagen. Denn das bißchen, was erwirtschaftet worden ist, haben Sie für Wandlitz oder sonst etwas gebraucht. Die Produktionsanlagen sind auf dem Stand von 1945 oder vorher geblieben. Mit denen kann man heute auf den freien Weltmärkten nicht mehr konkurrieren.
Ein weiterer großer Mangel, der immer deutlicher wird, ist die Tatsache, daß das Management nicht marktwirtschaftlich orientiert ist. Lassen Sie sich sagen: Marktwirtschaft, das kann man nicht einfach so verordnen, das kann man nicht von heute auf morgen erreichen. Marktwirtschaft setzt marktwirtschaftlich denkende und marktwirtschaftlich handelnde Menschen voraus. Solange man die nicht hat, bleibt Marktwirtschaft eine Hülse ohne Geist.
Meine Redezeit ist abgelaufen. Lassen Sie mich nur noch eines sagen: Zur Treuhandanstalt — das ist meine tiefste Überzeugung — gibt es keine Alternative. Wenn es die Treuhandanstalt nicht gäbe, müßten wir sie hoch heute abend erdenken und in Operation setzen.

(Werner Schulz [Berlin] [Bündnis 90/ GRÜNE]: Das ist richtig! Wir haben die Treuhandstelle auch erfunden!)

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1205033800
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der De-



Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
batte zu Tagesordnungspunkt 12. Die Behandlung des Tagesordnungspunktes endet nicht mit einer Beschlußfassung.
Aber ich muß noch einen Beschluß des Hauses herbeiführen. Die Fraktionen haben mir mitgeteilt, daß bei Tagesordnungspunkt 10 übersehen worden ist, die Vorlage richtigerweise auch an den Rechtsausschuß zu überweisen. Ich nehme an, daß das Haus damit einverstanden ist? — Das ist der Fall.
Damit sind wir am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 18. Oktober, ein. Die Sitzung, meine Damen und Herren, beginnt — und ich bitte, das den Kolleginnen und Kollegen mitzuteilen — 15 Minuten nach Beendigung der Fraktionssitzung der CDU/CSU. Wir werden Ihnen das freundlicherweise über die Hausrufanlage mitteilen.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Restabend.