Protokoll:
12014

insert_drive_file

Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 12

  • date_rangeSitzungsnummer: 14

  • date_rangeDatum: 13. März 1991

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 20:42 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 12/14 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 14. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 Inhalt: Tagesordnungspunkt 2 (Fortsetzung): a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1991 (Haushaltsgesetz 1991) (Drucksache 12/100) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Der Finanzplan des Bundes 1990 bis 1994 (Drucksache 12/101) Dr. Hans-Jochen Vogel SPD 737 B Dr. Alfred Dregger CDU/CSU 747 D Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste . . . 752A Dr. Otto Graf Lambsdorff FDP 756 C Dr. Klaus-Dieter Feige Bündnis 90/GRÜNE 760D Dr. Günther Krause (Börgerende) CDU/ CSU 764 A Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler 764 D Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD . 777D, 791C Dr. Carl-Ludwig Wagner, Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz 783 A Florian Gerster (Worms) SPD 785 C Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE 787 C Dr. Klaus Rose CDU/CSU 789 B Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister AA 790D, 791D Dr. Ingomar Hauchler SPD 796D Dr. Karl-Heinz Hornhues CDU/CSU . . . 799B Dr. Rose Götte SPD 801B Irmgard Karwatzki CDU/CSU 803 A Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . . 804 D Dr. Sigrid Hoth FDP 806 A Christina Schenk Bündnis 90/GRÜNE 807D, 814 A Norbert Eimer (Fürth) FDP 808 C Norbert Eimer (Fürth) FDP 809 D Hannelore Rönsch, Bundesminister BMFuS 809D, 815 B Dr. Rose Götte SPD 812B Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . 812C Gudrun Weyel SPD 813A Margot von Renesse SPD 814 C Angelika Barbe SPD 815A, 820C Dr. Konstanze Wegner SPD 815C Maria Michalk CDU/CSU 818 A Ingrid Matthäus-Maier SPD 820A Dr. Angela Merkel, Bundesminister BMFJ 820C, 827 B Regina Kolbe SPD 822D Dr. Konrad Elmer SPD 823 A Dr. Edith Niehuis SPD 823 D Dr. Joseph-Theodor Blank CDU/CSU 824 C II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 Ursula Männle CDU/CSU 827 C Doris Odendahl SPD 829A Uta Würfel FDP 829 C Dr. Konrad Elmer SPD 830 B Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMI 830 B Gerd Wartenberg (Berlin) SPD 833 B Dr. Burkhard Hirsch FDP 836 B Johannes Gerster (Mainz) CDU/CSU . . 837D Dr. Burkhard Hirsch FDP 839 B Dr. Gerhard Riege PDS/Linke Liste . . 840B Ingrid Köppe Bündnis 90/GRÜNE . . . 842 C Wilfried Seibel CDU/CSU 843 C Johannes Gerster (Mainz) CDU/CSU . 843 D Doris Odendahl SPD 845 B Dr. Hans de With SPD 847 A Erwin Marschewski CDU/CSU 849 B Dr. Wolfgang Ullmann Bündnis 90/GRÜNE 851A Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister BMJ . 852 C Nächste Sitzung 856 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 857* A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 2 a) Erste Beratung des von der Bundesregierunmg eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1991 (Haushaltsgesetz 1991) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung — Der Finanzplan des Bundes 1990 bis 1994 Michael Glos CDU/CSU 857* C Wolfgang Roth SPD 858* D Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) FDP . . 862* D Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) PDS/ Linke Liste 863* D Werner Schulz (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 864* C Dr. Rudolf Sprung CDU/CSU 866* B Dr. Uwe Jens SPD 868* B Kurt J. Rossmanith CDU/CSU 830*A Jürgen W. Möllemann, Bundesminister BMWi 871*B Bernd Wilz CDU/CSU 873* D Walter Kolbow SPD 875* B Carl-Ludwig Thiele FDP 878* D Andrea Lederer PDS/Linke Liste 880* B Vera Wollenberger Bündnis 90/GRÜNE 881* C Hans-Werner Müller (Wadern) CDU/CSU 883* B Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 737 14. Sitzung Bonn, den 13. März 1991 Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Augustin, Anneliese CDU/CSU 13. 03. 91 Bierling, Hans-Dirk CDU/CSU 13. 03. 91 ** Brandt, Willy SPD 13. 03. 91 Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 13. 03. 91 * Conradi, Peter SPD 13. 03. 91 Dr. Däubler-Gmelin, SPD 13. 03. 91 Herta Dempfwolf, Gertrud CDU/CSU 13. 03. 91 Dr. Fell, Karl H. CDU/CSU 13. 03. 91 Fuchs (Köln), Anke SPD 13. 03. 91 Funke, Rainer FDP 13. 03. 91 Frhr. von Hammerstein, CDU/CSU 13. 03. 91 C.-D. Dr. Hennig, Ottfried CDU/CSU 13. 03. 91 Heyenn, Günther SPD 13. 03. 91 Horn, Erwin SPD 13. 03. 91 ** Ibrügger, Lothar SPD 13. 03. 91 ** Jaunich, Horst SPD 13. 03. 91 Kleinert (Hannover), FDP 13. 03. 91 Detlef Kossendey, Thomas CDU/CSU 13. 03. 91 Krause (Dessau), CDU/CSU 13. 03. 91 Wolfgang Dr. Kübler, Klaus SPD 13. 03. 91 Lenzer, Christian CDU/CSU 13. 03. 91 * Lowack, Ortwin CDU/CSU 13. 03. 91 ** Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 13. 03. 91 Erich Mischnick, Wolfgang FDP 13. 03. 91 Paintner, Johann FDP 13. 03. 91 Dr. Probst, Albert CDU/CSU 13. 03. 91 Rawe, Wilhelm CDU/CSU 13. 03. 91 Dr. Reinartz, Bertold CDU/CSU 13. 03. 91 Schaich-Walch, Gudrun SPD 13. 03. 91 Dr. Scheer, Hermann SPD 13. 03. 91 * Schmidt (Spiesen), Trudi CDU/CSU 13. 03. 91 Dr. Schneider CDU/CSU 13. 03. 91 (Nürnberg), Oscar Schulte (Hameln), SPD 13. 03. 91 ** Brigitte Dr. Sperling, Dietrich SPD 13. 03. 91 Weiß (Berlin), Konrad Bündnis 90/ 13. 03. 91 GRÜNE * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 2 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1991 (Haushaltsgesetz 1991) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung - Der Finanzplan des Bundes 1990 bis 1994 Michael Glos (CDU/CSU): Wenn Karl Marx die ökonomischen und ökologischen Hinterlassenschaften seiner Erben in Osteuropa betrachten könnte, er würde sich noch heute im Grabe herumdrehen. Er könnte nur noch bitten: „Proletarier aller Länder verzeiht mir! " Der Bundesfinanzminister hat gestern im einzelnen jene finanziellen Leistungen erläutert, die der Bund und die westlichen Länder zur ökonomischen, ökologischen und sozialen Sanierung der ehemaligen DDR zur Verfügung stellen. Damit werden die Voraussetzungen zur Finanzierung der Länder- und Kommunalhaushalte, zur notwendigen Anpassung der Infrastruktur an das westliche Niveau und zur Übernahme unseres sozialen Sicherungsnetzes geschaffen. Dies alles ist mit hohen finanziellen Aufwendungen verbunden. Allerdings stehen jetzt genügend Finanzmittel zur Verfügung, so daß der wirtschaftliche Aufschwung am Geld nicht scheitern kann. Die Probleme sind nicht über Nacht entstanden, sie können deshalb auch nicht von einem auf den anderen Tag bewältigt werden. Das Gebot der Stunde lautet deshalb: Solidarität in den alten und Geduld in den neuen Ländern! Auch wenn es ohne Zweifel sowohl Grenzen der Solidarität als auch Grenzen der Geduld gibt, so bin ich doch sicher: Gemeinsam werden wir es schaffen! Der Aufbau der Infrastruktur, die Beseitigung der Altlasten im Umweltbereich, der Aufbau effizienter Verwaltungen und nicht zuletzt die Durchführung von Investitionen zur Schaffung neuer und Sicherung bestehender Arbeitsplätze und damit der schrittweise Abbau der zu Beginn der Währungsunion von den meisten unterschätzten Produktivitätslücke zwischen West und Ost - dies alles erfordert Zeit. Wir müssen deshalb all jene warnen, die glauben die Sanierung der neuen Länder könne sich quasi an einem Terminplan orientieren nach dem Muster: 8. November 1989 Öffnung der Mauer - 1. Juli 1990 Währungsunion, 3. Oktober 1990 Vollendung der Einheit und 1. Dezember 1991 endgültige Beseitigung aller Unterschiede in den Lebensbedingungen. Wir müssen uns vielmehr im klaren sein: Beim sich jetzt vollziehenden Übergang von einer sozialistischen Planwirtschaft in ein marktwirtschaftliches System handelt es sich ja nicht um einen evolutionären Schritt, sondern um einen revolutionären Sprung, für den es in der bisherigen Wirtschaftsgeschichte kein historisches Vorbild und in den Werken der Nationalökonomie keine praktische Handlungsanweisung gibt. Auch aus diesem Grunde empfehle ich dringend, die Erwartungen realistisch zu formulieren und nicht nach wenigen Monaten Marktwirtschaft die sofortige Beseitigung der vor Öffnung der Mauer sicherlich von 858* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn. Mittwoch, den 13. März 1991 vielen erheblich unterschätzten Erblast des Sozialismus zu verlangen. Auch ich habe das Ausmaß der Erblast in den neuen Bundesländern unterschätzt. Ein Großteil der aktuellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten rührt allerdings vom nahezu vollständigen Zusammenbruch des Handels mit den ehemaligen RGW-Staaten. Dort sind die Hinterlassenschaften des real existierenden Sozialismus noch grausamer als in der ehemaligen DDR. Geduld brauchen wir auch für die Einkommensentwicklung. Wer bei Löhnen und Gehältern angesichts der enormen Produktivitätslücke eine sofortige Angleichung der Tarife in Ost und West fordert, der läuft Gefahr, damit einen Beitrag zur Entstehung dauerhafter Massenarbeitslosigkeit zu leisten. Bei der Angleichung der Löhne stehen die Tarifpartner vor einem Dilemma: Eilt die Lohn- der Produktivitätsentwicklung voraus, droht Dauerarbeitslosigkeit. — Verläuft der Anpassungsprozeß zu langsam, drohen die Pendlerbewegungen und die Abwanderung von Fachkräften zu einem Dauerzustand zu werden. Eine passive Sanierung der neuen Länder kann jedoch nicht das Ziel unserer Wirtschaftspolitik sein. Deshalb müssen die Tarifpartner bei dieser Gratwanderung verstärkt zu einer Differenzierung der Lohnstruktur greifen, damit die gut ausgebildeten Fachkräfte im Land bleiben. Zur Solidarität gehört allerdings auch eine maßvolle Lohnpolitik bei uns. Die Warnstreiks der ÖTV sind in dieser Hinsicht leider kein ermutigendes Zeichen. Mit dem Bundeshaushalt 1991 und hier insbesondere mit dem Gemeinschaftswerk für den Aufschwung im Osten schaffen wir die finanziellen Rahmenbedingungen für die Entsorgung der sozialistischen Altlasten. Vorbildliche finanzielle Rahmenbedingungen reichen jedoch zur Sanierung der neuen Länder nicht aus. Wichtiger als Finanzmittel und Investitionspauschalen sind nach meiner Überzeugung grundlegende Änderungen im mentalen Bereich unserer Mitbürger in den neuen Ländern. Ich warne jedoch vor einer Oberlehrerhaltung seitens des Westens. Erforderlich ist Fingerspitzengefühl. Die Menschen drüben brauchen Hilfe und Unterstützung von uns, damit sie das notwendige Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit entwickeln können. Die neuen Mitbürger waren 40 Jahre lang quasi Sozialuntertanen des Zentralkommitees einer Partei. Ihr Denken war ausgerichtet auf die Erfüllung der von oben kommenden Planauflagen. Raum für selbständiges Denken, für Eigenverantwortung, für Eigeninitiative blieb dabei nicht viel. Kurz: Die Menschen müssen erst lernen, in marktwirtschaftlichen Kategorien zu denken. Dies gilt für Betriebsleiter und Arbeitnehmer ebenso wie für selbständige Landwirte, Handwerker und Freiberufler, aber auch für die im Aufbau befindlichen Verwaltungen. Gerade hier müssen verstärkt Initiativen ergriffen werden, um Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, Beamte und Angestellte, zu veranlassen, in die neuen Bundesländer zu gehen. Es muß sich für die Mitarbeiter sowohl der Privatwirtschaft als auch des öffentlichen Dienstes karrierefördernd auswirken, am Wiederaufbau in den neuen Ländern mitzuwirken. Es gehört deshalb auch zum Gemeinschaftswerk, den betroffenen Menschen bei der Übernahme marktwirtschaftlicher Denkkategorien zu helfen. An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich die diesbezüglichen Bemühungen der Unternehmen, der Wirtschaftsverbände, der Handwerks- sowie der Industrie- und Handelskammern hervorheben. Ein dauerhafter Aufbruch im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich wird nur gelingen, wenn es uns gemeinsam gelingt, diese vom doktrinären Menschenbild des Sozialismus herrührenden mentalen Altlasten zu beseitigen. Die jüngsten Zahlen bezüglich der Gewerbeanmeldungen und der Inanspruchnahme der ERP-Programme stimmen zuversichtlich. Auch in den neuen Ländern muß sich der Mittelstand zum Rückgrat der Wirtschaft entwickeln. In der jetzigen Phase erfordert das auch eine gezielte Mittelstandspolitik der neuen Landesregierungen. Ich denke dabei vor allem an eine Bevorzugung der neuen mittelständischen Unternehmen, vor allem der Handwerksbetriebe, bei der Vergabe öffentlicher Aufträge. Eine weitere Starthilfe muß darin bestehen, daß die öffentlichen Auftraggeber dem neuen Mittelstand bei der Bearbeitung von Ausschreibungen behilflich sind; denn es kann niemand von diesen Unternehmen erwarten, sofort und ohne fremde Hilfe mit schwierigen Regelungen wie VOB oder VOL fertig zu werden. Es geht jetzt nicht darum, darüber zu streiten, wer wann welche Kosten richtig oder falsch eingeschätzt hat. Es geht vielmehr darum, mit realistischem Optimismus das große Gemeinschaftswerk zügig umzusetzen, um so dem gemeinsamen Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse ein entscheidendes Stück näher zu kommen. Wolfgang Roth (SPD): Die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung steht im Osten Deutschlands vor dem Abgrund. Illusionen, Fehleinschätzungen, mangelnde Analyse der Wirklichkeit und die eigene Handlungsunfähigkeit haben dazu geführt. Die Bundesregierung hat dies verschuldet, weil sie die Bedeutung der Aufgabe der wirtschaftlichen Vereinigung stets falsch eingeschätzt hat. Sie hat letztes Jahr den Eindruck erweckt, als ob die Marktwirtschaft die Probleme praktisch im Selbstlauf lösen würde. Laßt tausend Mittelstandsblumen blühen; das war die Hoffnung, die bald zur Illusion wurde. Nun zeigt sich: Die wirtschaftliche Situation in den neuen Bundesländern ist dramatisch, es gibt keine Entwarnung. Im Gegenteil: Unsere Befürchtungen wurden leider Wirklichkeit und durch viele Fehler der Bundesregierung noch übertroffen. Wie oft wurde im letzten Jahr der schnelle Erfolg der Marktwirtschaft in der DDR vorhergesagt? Jetzt wird langsam und verschämt eingeräumt, daß alles viel schwieriger wird. Eines kann aber leider nicht durchgehen: Man habe das alles nicht gewußt. Daß Sie es nicht wissen wollten, das ist wahr. Aber hier im Deutschen Bundestag ist die gewaltige Herausforderung oft genug zutreffend beschrieben worden. Sie wollten es nur nicht hören. Ich tue mich übrigens bei der Meinungsbildung schwer, ob der Herr Bundeskanzler gelogen hat oder ob er sich selbst getäuscht Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 859* hat. Seiner Verantwortung gerecht geworden ist er auf keinen Fall. Die Bilanz der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung in den neuen Bundesländern ist eine Bilanz der Versäumnisse und Illusionen. Die Idelogie hat den Blick verstellt. Man wollte den großen staatlichen Handlungsbedarf einfach nicht zur Kenntnis nehmen, den eine funktionstüchtige Marktwirtschaft als Grundlage braucht. Das war nichts anderes als unterlassene Hilfeleistung. Notwendige Maßnahmen wurden gar nicht, zu spät, unzureichend oder konzeptionslos ergriffen. Erst jetzt schimmert manchmal Einsicht durch, die Katastrophe zu benennen und zuzugeben, daß sich die Bundesregierung bei der Einschätzung der Entwicklung in der DDR selbst getäuscht hat. Allerdings hat der Lernprozeß viel zu lange gedauert. Der Zeitverlust bedeutet zum Schaden der Bundesrepublik höhere Kosten im Westen und längere Aufbauzeiten im Osten. Die volkswirtschaftlichen Kosten werden unerträglich nach oben getrieben. Übrigens: Uns wäre es wirklich lieber gewesen, wir hätten uns bei der Prognose geirrt. Leider muß ich sagen, wir haben recht behalten. Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit bewegen sich in Richtung der 3-MillionenGrenze. Die Produktion ist kollabiert. Am Außenhandel mit Osteuropa hing jeder fünfte Arbeitsplatz. In diesem Jahr bleiben trotz der bisherigen Stützungsmaßnahmen davon kaum welche übrig. Die Abwanderung nach Westen geht weiter, Apathie und Resignation breiten sich aus. Die Aggressivität steigt. Dies ist das Ergebnis falscher Versprechungen der Bundesregierung. Marktwirtschaft in der früheren DDR, das wollten die Menschen. Aber sie wollten eine Marktwirtschaft, in der die Rahmenbedingungen stimmen. Sie wollten eine soziale Marktwirtschaft, keine ideologischen Predigten. Was ist das aber für eine Marktwirtschaft, in der unklare Eigentumsverhältnisse keinerlei Investitionssicherheit gewährleisten? Was ist das für eine Marktwirtschaft, in der Länder und Gemeinden in den neuen Ländern nun über Monate so gut wie pleite sind? Was ist das für eine Marktwirtschaft, in der die öffentliche Verwaltung praktisch handlungsunfähig ist, in der Investoren verläßliche Entscheidungen nicht bekommen? Wir haben im letzten Jahr permanent vor der Verharmlosung der Übergangsprobleme gewarnt. Natürlich war die Währungsunion notwendig, aber die schlechte Vorbereitung dieser wichtigsten Aufgabe der deutschen Wirtschaftspolitik seit der Währungsreform 1948 ist von Ihnen verschuldet. Aber es hilft nun nichts. Wir müssen das Ruder herumreißen. Jetzt sind Nachbesserungen notwendig. Daher habe ich die Vorstellungen des neuen Wirtschaftsministers Möllemann für seine wirtschaftspolitische „Strategie Ost" als ersten Schritt in die richtige Richtung begrüßt. Möllemann hat durch seinen Kurswechsel alle Reden von Waigel und Lambsdorff Lügen gestraft. Erstmals hat damit die Bundesregierung öffentlich zugegeben, daß die Opposition die Entwicklung in den neuen Ländern frühzeitig richtig eingeschätzt hat und auch die richtigen Therapievorschläge gemacht hat. Ob dieser Realismus anhält, werden wir genau beobachten. Leider beginnt auch bei Möllemann schon wieder der Selbstbetrug. Während Minister Möllemann bei der Vorstellung seines Papiers vor einem Monat noch von 3 Millionen Arbeitslosen in den fünf neuen Ländern im Jahr 1991 sprach, blieben davon im Jahreswirtschaftsbericht nur noch 1,1 bis 1,4 Millionen übrig. Mit Durchschnittsrechnungen und Tricks, was die Kurzarbeit anbetrifft, hat er nun das Problem erneut verharmlost. Kommt sie wieder, die alte Tendenz zur Verharmlosung und Gesundbeterei, Herr Möllemann? Ich hoffe nicht, daß Ihre wirtschaftspolitischen Vorschläge von Ihrer Partei und Ihrer Koalition wieder auf Stromlinienform gebracht werden. Dann nämlich bestünde die Gefahr, daß Sie ein weiterer in der Reihe der Ankündigungsminister im Kabinett Kohl werden. Übrigens sollten Sie wissen: Wer so viel Wind macht wie Sie, kann nicht auf Milde rechnen, wenn er Ausweichmannöver macht. Die Bundesregierung hat nun ihre Finanzpolitik korrigiert. Abgesehen von den skandalösen sozialen Ungerechtigkeiten dieser Operation ist jetzt Spielraum für die wirtschaftliche Vereinigung entstanden. Aber: Nachdem nun Geld da ist, kommt es um so mehr darauf an, wirtschaftspolitisch sinnvolle Maßnahmen auch tatsächlich zu ergreifen, nicht nur darauf, sie anzukündigen. Die Bundesregierung zaudert immer noch, die grundlegenden Voraussetzungen für Investitionen wirklich herzustellen. Die ungeklärten Eigentumsverhältnisse sind eines der wichtigsten Investitionshemmnisse. Die investionsfeindliche Fehlentscheidung im Einigungsvertrag haben wir Bundeskanzler Kohl und vor allem Graf Lambsdorff zu verdanken. Ohne klare Eigentumsverhältnisse geht nun einmal nichts. Das haben der Ihnen nicht gerade fernstehende Kronberger Kreis und Professor Engels von der „Wirtschaftswoche" im Dezember glasklar festgestellt: Man hat nicht den Eindruck, daß es die Weisheit erfahrener Juristen war, die dem Gesetzgeber die Hand geführt hat, als dieser den Restitutionsanspruch auf Grundvermögen — in Konkurrenz zum Entschädigungsanspruch — ausgestaltete, um den geschädigten Grundeigentümern eine Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die Millionen anderen Geschädigten des Unrechtsstaates vorenthalten bleiben muß, ja, die zur Folge hat, daß diese anderen nun noch länger als eigentlich nötig auf eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen warten müssen. Allmählich hat sich auch bis zur Bundesregierung herumgesprochen, daß Unternehmen nicht auf Grundstücken investieren, deren endgültiger Eigentümer unbekannt ist. Eine eindeutige und unbürokratische Klärung — und nur die beseitigt die ökonomischen Barrieren — liefert aber auch der Gesetzentwurf von Minister Kinkel nicht. Das hat die Anhörung im Rechtsausschuß gezeigt. Jetzt wurde nachgebessert, aber der Grundsatz nicht verändert. 860* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 Wir bleiben dabei: Entschädigung muß vor Rückgabe gehen. Investoren müssen Eigentum an Grund und Boden erwerben können. Alteigentümer müssen angemessen entschädigt werden. Nur dann wird diese fundamentale Investitionssperre entschärft. Das zweite Nadelöhr für Investitionen im Osten Deutschlands sind die öffentlichen Verwaltungen. Hier fehlen grundlegende Kenntnisse des bundesdeutschen Rechts. Gesetze müssen aber angewendet, ihre Anwendung muß ordnungsgemäß überwacht werden. Außerdem fehlen Managementfähigkeiten. Wer soll beispielsweise Grundbücher führen oder kommunale Investitionsvorhaben organisieren? Immer mehr stellt sich heraus, daß die Personalausstattung der öffentlichen Verwaltungen in den neuen Bundesländern nur durch einen massiven Personaltransfer grundlegend verbessert werden kann. Appelle helfen da nicht weiter. Organisieren muß das die Bundesregierung. Voraussetzung ist, daß sie nicht nur Mittel bereitstellt, sondern die vorübergehende Tätigkeit von Beamten und Angestellten in den neuen Bundesländern durchsetzt. Berufsbeamtentum bedeutet Vorteile. Deshalb muß eine Abordnung von qualifizierten Beamten in einer kritischen Phase erforderlichenfalls rechtlich durchgesetzt werden können. Wer Privilegien besitzt, wie Schutz vor Arbeitslosigkeit, muß auch besondere Pflichten übernehmen. Der Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft verlangt vor allem eines: eine schnelle Reaktion, schnelle wirtschaftspolitische Maßnahmen. Auch der breite Ausbau vor allem der wirtschaftsnahen Infrastruktur muß schnell gehen. Ob die ohnehin überforderten Verwaltungen in den neuen Ländern und ihren Kommunen dies ermöglichen, ist mehr als fraglich. Ich stelle auch in Frage, ob wir alle inhaltlichen und verfahrensmäßigen Anforderungen unseres westdeutschen Planungsrechts in den ostdeutschen Bundesländern aufrechterhalten können. Ohne unverzichtbare Rechte der Bürger aufzugeben, sind doch sicher differenzierte Lösungen im Osten möglich. Wo bleibt das angekündigte Maßnahmengesetz? Falls die Bundesregierung diese grundlegenden Investitionshindernisse nicht ganz schnell beseitigt, läuft die ganze Investitionsförderung ins Leere. Es wäre genauso, als ob man bei gezogener Bremse immer mehr Gas geben würde. Obwohl die neuen Vorschläge von Minister Möllemann in die richtige Richtung gehen, reichen sie nicht aus. Vor allem muß endlich die industrielle Basis der neuen Länder gestärkt werden. Die Produktivität, die Wettbewerbsfähigkeit muß steigen. Arbeitsplätze im Osten werden nicht durch konsumtive Ausgaben geschaffen. Nachbessern ist notwendig. Dazu wird es die Unterstützung der SPD geben, wenn die folgenden Vorschläge, die wir bereits im Februar 1990 veröffentlicht haben, jetzt nach mehr als einem Jahr verwirklicht werden: Erstens. Wir fordern eine massive und gezielte Förderung von privaten Investitionen. Statt der unglaublichen Zersplitterung der bisherigen Förderung auf zinsbegünstigte Kredite, Investitionszulagen und Investitionszuschüsse brauchen alle Unternehmen in der bisherigen DDR für einen befristeten Zeitraum drastische Investitionsfördermaßnahmen. Wir schlagen deshalb eine einheitliche Investitionszulage und Sonderabschreibungen vor. Zweitens. Wir haben seit einem Jahr immer vor der Überschuldung der Betriebe in der früheren DDR gewarnt. Für viele Betriebe sind die Altschulden zu einer Überlebensfrage geworden. Um den verschuldungsbedingten Zusammenbruch dieser Betriebe und den Verlust dringend benötigter Arbeitsplätze zu verhindern, hätte endlich eine Lösung geboten werden müssen. Nichts ist geschehen, was der Treuhand die Entscheidung ermöglicht. Drittens. Eine Überlebenschance für die alten DDR-Betriebe hat die Bundesregierung schon leichtfertig verspielt. Die traditionellen Handelsbeziehungen zu Osteuropa sind schon zusammengebrochen oder gerade dabei. Auch hier können Sie nicht sagen, niemand habe dies gewußt. Der im Staatsvertrag und im Einigungsvertrag zugesagte Vertrauensschutz war für Sie wohl nur eine Floskel. Umgesetzt wurde er jedenfalls nicht. Unnötige Arbeitsplatzverluste haben Sie billigend in Kauf genommen. Bei aller Anerkennung der Vereinbarungen mit der Sowjetunion: Ihr eigentlicher Fehler liegt darin, daß sie ein umfassendes Konzept für die Stützung der Handelsbeziehungen mit allen ehemaligen RGW-Ländern bräuchten, dies aber noch nicht erkannt worden ist. Ich schlage folgende Elemente vor: — Die Streichung der Negativsalden der RGW-Partner gegenüber der ehemaligen DDR in Transferrubeln, — eine befristete zinslose Devisenkreditlinie für Käufer von Produkten aus Betrieben der neuen Bundesländer für alle ehemaligen RGW-Länder, — einen Devisenaufbaufonds mit verlorenen Zuschüssen für die osteuropäischen Länder. Das alles ist viel billiger als die Finanzierung des Nichtstuns in den neuen Ländern. Viertens. Was ist Ihr sturkturpolitisches Konzept, um das Hauptproblem des schwierigen Umstrukturierungsprozesses in den neuen Ländern zu bewältigen: die Lücke zwischen dem schnellen Zusammenbruch nicht wettbewerbsfähiger Unternehmen und dem langsamen Aufbau neuer Beschäftigungsmöglichkeiten zu einem viel späteren Zeitpunkt? Aufgabe der Strukturpolitik in dieser Situation ist es, eine tragfähige Grundlage für neue Wirtschaftsstrukturen zu schaffen und die Zeitspanne bis zum Entstehen neuer Arbeitsplätze zu überbrücken. Plattmachen kann keine Lösung für die neuen Länder sein. Neben der Schaffung neuer Arbeitsplätze muß die Strukturpolitik deshalb auch die Sanierung und Umstrukturierung bestehender Betriebe unterstützen. Die Verantwortung für die Sanierung liegt sicher auf Dauer bei den privaten Unternehmen. Aber natürlich müssen wir auch akzeptieren, daß die maroden Unternehmen im Osten Übergangszeiten in öffentlicher Verantwortung brauchen. So war es übrigens in der Vergangenheit bei VW oder Salzgitter, bei VEBA oder der VIAG im Westen. Warum sollte diese öffentliche Verantwortung im Osten nicht wahrgenommen werden? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 861* Warum zahlen Sie Milliarden für den Airbus zum Ausgleich des Wechselkursrisikos? Die ostdeutsche Industrie fliegt auch wegen veränderter Wechselkurse aus dem Markt. Da ist es natürlicher Strukturwandel, während die Risiken bei Daimler-Benz für ein Jahrzehnt subventioniert werden. Herr Möllemann, wie sehen die angeblich neuen Akzente der Treuhandpolitik, wie sieht der neue Sanierungsauftrag der Treuhand praktisch aus? Erhard hat Industriepolitik in weniger kritischen Zeiten betrieben, als sie jetzt die östlichen Länder durchmachen. Ich erinnere nur daran, daß er beispielsweise ein staatliches Investitionshilfegesetz durchsetzte, das eine Sonderabgabe für die Industrie erhob. Das Geld kam zwei nachhinkenden Sektoren zugute. Sie wurden also durch die Lenkung von Investitionsmöglichkeiten auf die Beine gebracht. Natürlich brauchen wir Industriepolitik im neuen gemeinsamen Deutschland. Die Treuhand wäre ein geeignetes Instrument dafür. Auch hier haben Sie viel Zeit verspielt. Warum wurde die Treuhand nicht früher besser ausgestattet? Lange Zeit war die größte Holding der Wirtschaftsgeschichte in einer Verfassung, mit der nicht einmal ein mittleres Unternehmen zu führen wäre. Sie haben meine Unterstützung, wenn Sie die Treuhand industriepolitisch nutzen wollen. Dazu ist sie in der Tat besser beim Wirtschaftsministerium auf gehoben — das füge ich hinzu — dieses Haus nicht mit ideologischen Scheuklappen an diese Aufgabe herangeht. Sanierung und Privatisierung dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Aber: oft wird eine ökonomisch sinnvolle Sanierung erst die Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Zukunft schaffen können. Betriebe, die nach Vorlage der Eröffnungsbilanz und dem Urteil externer Gutachter als sanierungsfähig eingestuft werden, müssen von der Treuhandanstalt privatisiert werden, damit mit ihrer Sanierung zügig begonnen werden kann. Bei sanierungsfähigen Betrieben, für die kein privater Käufer gefunden wird, der das Risiko einer vollständigen Übernahme eingeht, muß sich die Treuhand auch an der Sanierung beteiligen. Natürlich unter Einbeziehung von privatem Kapital und privatem Management. Nach erfolgter Sanierung können diese staatlichen Betriebe dann verkauft werden. So war es in der Vergangenheit im Westen in der Aufbauphase. Warum haben die Menschen in der früheren DDR weniger Industriepolitik verdient? Nicht mehr rentable Unternehmen müssen in Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaften umgewandelt werden. Die Bundesregierung darf nicht länger die Augen davor verschließen, daß übergangsweise viele Beschäftigte ohne Normalarbeitsplatz sein werden. Ihnen müssen wir helfen, ehe sich dieser Zustand verfestigt und viele Menschen in Sozialhilfe und Armut landen. Ich begrüße daher Ihr Vorhaben, nun endlich auch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen innerhalb von Betrieben zu fördern. Setzen Sie es unverzüglich in die Tat um. Unser Beifall kann Ihnen sicher sein, für eine von uns seit einem Jahr geforderte Maßnahme. Die von Arbeitslosigkeit Betroffenen können durch Umschulung, Weiterbildung und Beschäftigung mit sinnvollen Arbeiten im bisherigen Arbeitsumfeld arbeits- und lernfähig bleiben, bis ein neuer Arbeitsplatz zur Verfügung steht. Ihnen müssen zukunftsorientierte Qualifikationen und berufliche Basiskenntnisse für neue Arbeitsplätze vermittelt werden. Sie könnten Aufgaben im öffentlichen Interesse in Wohnumfeld, Umwelt und Infrastruktur erledigen. Aber das geht nur, wenn die Bundesanstalt für Arbeit die Mittel bereitstellt. Es geht auch nur dann, wenn die Bundesregierung endlich einer aktiven Arbeitsmarktpolitik den Vorrang gibt und auch diese Vereinbarung des Einigungsvertrages verwirklicht. Fünftens. Durch die Investitionsförderung kann Produktion nach Ostdeutschland verlagert werden. Aus Patriotismus wird dies jedoch kein Unternehmen tun. Sie werden sich sehr sorgfältig überlegen, ob Geschäfte zumachen sind, d. h. ob die Produktion aus den neuen Betrieben auch absetzbar sein wird. Deshalb muß Nachfrage in die östlichen Bundesländer gelenkt werden. Deshalb muß der Zugang zu öffentlichen Aufträgen für Betriebe aus der ehemaligen DDR erleichtert werden. Bei staatlichen Aufträgen könnte ein bedeutender Teil aus den neuen Ländern bezogen werden müssen. Nur dann wird der Aufbau der neuen Länder auch diesen selbst zugute kommen und Arbeitsplätze dort schaffen. Heilige Kühe darf es hier nicht geben. Die Bundesregierung sollte prüfen, ob nicht die Möglichkeit für die Auftraggeber geschaffen werden kann, daß bis zu zwei Drittel des Auftragsvolumens aus den neuen Ländern geliefert werden muß. Ich sehe sehr wohl die EG-rechtliche Problematik. Aber es müssen sich doch zeitlich befristete Ausnahmeregelungen mit der EG-Kommission vereinbaren lassen. Die Bundesregierung sollte endlich auf dem Verhandlungswege versuchen, die EG zur Genehmigung dieser Ausnahmeinstrumente in einer Ausnahmesituation zu bewegen. Lassen Sie mich noch ein Wort zur heftigen Diskussion über Rüstungsexporte sagen. Auch bei dieser zweiten großen aktuellen Herausforderung der deutschen Wirtschaftspolitik, der Rüstungsexportkontrolle, hat die Bundesregierung versagt. Der legale, genehmigte Export von Rüstungsgütern in Spannungsgebiete geht munter weiter, es gibt inzwischen skandalöse Geschäftsvereinbarungen. Wahr bleibt: Noch im letzten Jahr hat die Koalition aus CDU/CSU und FDP alles unternommen, um die von meiner Fraktion verlangten Verschärfungen der Rüstungsexportgesetze zu unterlaufen. Es ist bekanntlich nur mit Hilfe der Bundesratsmehrheit der A-Länder im September 1990 gelungen, eine Verschärfung der Rüstungsexportkontrollen durchzusetzen, die wir aber bei dieser Gelegenheit schon als nicht ausreichend qualifiziert hatten. Alle unsere weiterreichenden Vorschläge aus den vergangenen Jahren im Anschluß an die Libyen-Giftgasaffäre sind von den Koalitionsparteien verbissen abgelehnt worden. Jetzt liegt das Kind im Brunnen, und jetzt hat es keiner hineinfallen lassen. Aber Herr Möllemann hatte damals fröhlich angefeuert, als das Kind auf den 862* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 Brunnen zulief. Ich erinnere nur an seine Forderung, Leopardpanzer in den Nahen Osten zuliefern: „Leo buchstabiert sich rückwärts als Oel. " Einige von unseren Forderungen aus den Vorjahren sind jetzt aufgegriffen worden, so z. B. die Erhöhung des Strafrahmens und der Wegfall der qualifizierenden Strafbarkeitsvoraussetzungen in § 34 des Außenwirtschaftsgesetzes. Damit ist etwas gewonnen. Dies genügt aber nicht. Wir fordern weiterhin, daß Rüstungsexporte außerhalb des Bündnisses untersagt werden. Wir fordern, daß eine Endverbleibsregelung bei Kooperationsprojekten im Rüstungsbereich wirksam gemacht wird, damit der Endverbleib im Bündnis sichergestellt ist. Die Praxis der Lieferungen von Kooperationspartnern in Spannungsgebiete hat im konventionellen Waffenbereich die Spannungen ebenfalls erheblich gesteigert. Dies darf so nicht weitergehen. Wir haben eigene Vorschläge dazu vorgelegt. Gerade der neue Bundeswirtschaftsminister muß lernen, daß publizistisch der Aktionismus ohne Taten kurze Beine hat und daß es zuallererst auch um eine politische Wendung im Rüstungsexportbereich geht, nämlich darum, das politische Klima des „augenzwinkernden Einverständnisses" und der „stillschweigenden Ermutigung", die unter dieser Bundesregierung eingerissen sind, endlich zu ändern. Ich warne die Koalition davor, das Gesetzgebungsverfahren zu mißbrauchen, um von Fehlern abzulenken. Der von Ihnen auf einmal hochgespielte Zeitdruck soll über Ihre bisherige Untätigkeit hinwegtäuschen. Sie haben nun plötzlich noch nicht einmal mehr Zeit, um die Beratungen in den befaßten Ausschüssen abzuwarten. Die Konzentration auf die innerdeutsche Vereinigung darf nicht zur Vernachlässigung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion führen. Der Binnenmarkt ist noch nicht fertig. Ich sehe die Gefahr, daß wir bei unserer Neigung zur Nabelschau vergessen, wie wichtig die europäische Einbindung für die deutsche Einheit war und auch weiterhin ist. Die Bundesregierung muß endlich auch dafür sorgen, daß die EG mehr ihrer Verantwortung in der Weltwirtschaft gerecht wird. Ein Rückfall in den kleinkarierten Protektionismus der vergangenen Jahrzehnte würde die Weltwirtschaft stark belasten. Daher ist ein Erfolg bei den Verhandlungen über ein neues Zoll- und Handelsabkommen im Rahmen des GATT für die Bundesrepublik lebenswichtig. Die sich abschwächende Weltkonjunktur, aber auch die rezessiven Tendenzen in den wichtigsten Partnerländern machen das nicht leichter. Leider wird Protektionismus gerade jetzt zum Ausschalten lästiger Konkurrenten attraktiv. Die Bundesrepublik würde durch eine solche Entwicklung in eine besonders schwierige Lage geraten. Als einer der größten Exporteure der Welt müssen gerade wir ein Interesse daran haben, daß der Welthandel offenbleibt. Selbst die USA, aber auch andere europäische Länder können sich die Rolle eines Zaungastes eher leisten. Ohnehin ist die Situation für die deutsche Exportwirtschaft nicht leichter geworden. Durch das Zinsgefälle gegenüber ausländischen Geld- und Kapitalmärkten ist der Wert der D-Mark an den Devisenmärkten gestiegen; gegenüber dem Dollar hat der Wert der D-Mark im Jahr 1990 rund 14 % zugenommen. Beides, rezessive Tendenzen in den Partnerländern und die starke D-Mark, werden nicht ohne Bremsspuren in der deutschen Exportwirtschaft bleiben. Der Erfolg der GATT-Verhandlungen setzt einen akzeptablen Kompromiß im Agrar-Streit voraus. Den hat die Bundesrepublik bisher verhindert. Die von ihr aufgebauten illusionären Verhandlungspositionen der EG haben im Dezember die GATT-Verhandlungen mit zum Scheitern gebracht. Die Feigheit der Bundesregierung gegenüber einer völlig undiskutablen europäischen Agrarpolitik ist unerträglich. Das hat den objektiven Interessen der Bundesrepublik geschadet, im übrigen auch den Interessen der Entwicklungsländer und der osteuropäischen Reformländer. Die Bundesregierung hat bis heute kein Konzept in der Agrarfrage vorgelegt, das die berechtigten Interessen der Landwirte wie die wichtigen Exportinteressen der übrigen Wirtschaft gleichermaßen berücksichtigt. Ist es nicht ein Totalversagen der deutschen Handelspolitik, haben viele Industrievertreter kürzlich an den Kanzler geschrieben und beklagt, daß die Interessen der Industrie ignoriert werden? Ich meine, die Bundesregierung muß endlich zur Kenntnis nehmen, daß die Bundesrepublik kein Agrarland ist. Sie muß endlich sehen, daß der Agrarhaushalt langsam zu einem Sprengsatz der Europäischen Gemeinschaft wird. Die Bundesregierung muß sich endlich auf eine wirksame Hilfe für kleine und mittlere Landwirte ohne Preissubventionen entscheiden. Ich halte es für einen Fortschritt, daß die EG-Kommission jetzt eine durchgreifende Reform der Agrarpolitik vorschlägt. Wieder ist es der deutsche Landwirtschaftsminister, der sich querlegt. Wo ist hier ein klares Wort von Möllemann? Jetzt ist Bundeswirtschaftsminister Möllemann gefordert, seinen Ankündigungen Taten folgen zu lassen. Aber: Die Wirtschaftspolitik muß sich die Fähigkeit erhalten, die großen Herausforderungen dieses Jahres zu lösen. Mehr als bisher muß sie über liebgewordene Vorurteile und eingefahrene Bedenken hinwegsehen. Im Interesse der wirtschaftlichen Vereinigung biete ich dazu unsere Unterstützung an. Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Im Bereich des Wirtschaftsministeriums gibt es mit Beginn der neuen Wahlperiode einschneidende Änderungen, die insbesondere die handelnden Personen betreffen. Der neue Bundesminister Jürgen Möllemann wird nach meiner festen Überzeugung wie schon in der vergangenen Wahlperiode im Bildungsministerium den notwendigen neuen Schwung in sein Haus, vor allem aber in die Wirtschaftspolitik bringen. Dies ist um so mehr erforderlich, weil nach der deutschen Vereinigung enorme Aufgaben auf diese Wirtschaftspolitik warten. Drei Aspekten will ich mich in dieser kurzen EtatRede zuwenden: der von Möllemann initiierten Strategie „Aufschwung Ost", den neuen Aufgaben des Wirtschaftsministeriums im Zusammenhang mit dem Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 863* Abzug der sowjetischen Truppen und energiepolitischen Aspekten. Der Schock der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion für die neuen Bundesländer war einschneidender als erwartet: 40 Jahre sozialistischer Mißwirtschaft hatten eine Wirtschaftsstruktur entstehen lassen, die dem freien Spiel der Marktkräfte in nur ganz wenigen Bereichen tatsächlich gewachsen war. Dazu kommt, daß die fehlende Verwaltung, die für westliche Begriffe total marode Infrastruktur, aber auch die Entscheidung mit den Füßen vieler leistungsbereiter Menschen einen Neuaufbau stark verzögern. Die Doppelarbeit „Sanierung bei gleichzeitiger Produktion" sorgt für schwere Einbrüche im Wirtschaftssystem; die dramatische Entwicklung im Bereich der Arbeitsplätze kann nur durch schnelles Handeln abgemildert werden. Dazu kommt der Quasi-Zusammenbruch des gesamten östlichen Wirtschaftssystems, so daß die seitherigen Abnehmer der früheren DDR-Industrieproduktion kaum zahlungsfähig sind. Das Strategiepapier des Wirtschaftsministers von Mitte Februar hat in einem nüchternen Sachstandsbericht die wesentlichen Punkte notwendigen politischen Handelns aufgezeigt. Private Investitionen, vor allem die Schaffung von Arbeitsplätzen, müssen verstärkt gefördert werden, die Privatisierungspolitik zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit bestehender Unternehmen ist fortzusetzen. Unabhängig von den Problemen mit der augenblicklichen Zahlungsfähigkeit der RGW-Staaten darf der Handel mit diesen Ländern nicht abbrechen. Sonderprogramme regionalpolitischer Natur müssen in den Gebieten greifen, in denen mit besonders hohen Arbeitsplatzverlusten zu rechnen ist. Ich will die arbeitsmarktpolitische Flankierung, vor allem die erforderlichen Qualifizierungsmaßnahmen, nicht im einzelnen schildern; auch der Hinweis auf den erforderlichen Ausbau der Verwaltungen und der Infrastruktur ist immer wieder gemacht worden. Sicher ist, daß die Treuhandanstalt eine wichtige Funktion behält, daß es hier aber zu besserer Effektivität der Arbeit kommen muß. Die Frage, bei welchem Ministerium diese Treuhand arbeitet, ist nicht die entscheidende: Sie muß effektiver und vor allem stärker wirtschaftspolitisch orientiert arbeiten. Daß bei ihren Entscheidungen auch die öffentliche Akzeptanz Berücksichtigung finden muß, erwähne ich mit Blick z. B. auf den mir völlig unverständlichen Ablauf bei der DDR-Fluglinie Interflug. Die Ausweitung des Etats des Wirtschaftsministers auf über das Doppelte des früheren Bundesetats hat eine Reihe von Gründen. Wir werden von der Haushaltsseite her die Dinge allerdings sorgfältig und haushälterisch prüfen. Ich sage das mit Blick auf sogenannte Mitnahme-Effekte; das heißt, wo seither zu Recht gespart wurde, darf nicht jetzt nach dem Motto „Darauf kommt es nun auch nicht an" plötzlich der Damm brechen. Eine neue wichtige Aufgabe, die dem Wirtschaftsministerium zugeordnet ist, ist die Flankierung des Abzugs der sowjetischen Truppen. Die Sowjetunion hat einen vertraglichen, aber auch einen moralischen Anspruch darauf, daß ihre zurückkehrenden Soldaten in der Heimat angemessen leben, d. h. wohnen und arbeiten können. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau betreut das Programm, wonach im europäischen Bereich der UdSSR ca. 36 000 Wohnungen gebaut werden sollen, die den Soldaten zur Verfügung stehen werden. Sie kennen die öffentliche Diskussion in der Sowjetunion über die Zeitdauer des geplanten Abzugs. Es gibt zwar keinen Grund, die Vertragstreue der Sowjetunion in Frage zu stellen. Tatsache ist aber, daß es zu technischen Abwicklungsproblemen kommt. Wir gehen trotzdem davon aus — und dies werden wir auch finanziell bestmöglich flankieren —, daß der vereinbarte Abzug bis 1994 abgeschlossen sein wird. Die genannten Kosten sind ja gleichzeitig ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für das Beitrittsgebiet. Ganz wesentlich werden Baufirmen aus den neuen Bundesländern an der Erstellung der Wohnungen mitwirken. Erlauben Sie einen kurzen energiepolitischen Aspekt: Auch in den neuen Bundesländern wird ein vernünftiger Mix der Energieverbrauchsstruktur notwendig sein. Nach heutigen Pressemeldungen hat der Bundeswirtschaftsminister dem Bau zweier Kernkraftwerke an den bisherigen Kernkraftwerksstandorten Greifswald und Stendal zugestimmt. Hiergegen wird man sich bei aller Skepsis zur Kernenergie in Kenntnis der vorhandenen Situation nicht aussprechen können. Mein dringender Appell geht aber an das Wirtschaftsministerium, keine einseitig auf Produktion und massiven Energieverbrauch orientierte Energiekonzeption zuzulassen. Die Veräußerung der Energiewirtschaft an die westlichen Großkonzerne kann hier schon eine gewisse Besorgnis begründen. Die Chance des Aufbaus einer vernünftigeren Energielandschaft, als sie in der alten Bundesrepublik besteht, darf nicht vertan werden: Aufbau energiesparender Strukturen, bessere Nutzung der Energieträger und natürlich auch bestmöglicher Einstieg in die Verwendung alternativer Energien sind politisch wünschenswert und notwendig. Und das Wirtschaftsministerium sollte gerade unter seiner neuen Führung die Chance in den neuen Bundesländern als Ausgangspunkt einer insgesamt zukunftsorientierten Energiepolitik verstehen. In der schwierigen wirtschaftspolitischen Situation in einem Teil unseres Landes ist dem Wirtschaftsministerium zum tätigen Handeln eine glückliche Hand zu wünschen. Haushaltspolitisch wird die FDP-Fraktion alle notwendigen Maßnahmen flankieren und unterstützen. Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) (PDS/Linke Liste): Die Menschen in der ehemaligen DDR haben im vergangenen Jahr in 4 Wahlen ein eindeutiges Votum für das Gesellschaftskonzept der Bundesrepublik abgegeben. Mehr als 80 % verbanden damit die Erwartung nach mehr Recht und Demokratie, und drei Viertel wollten auch eine schnelle Angleichung der Lebensverhältnisse. Zugegeben, als ich zum erstenmal nach der Wende im Herbst 1989 die westdeutsche Konsumgesellschaft und die ihr zugrunde liegende hocheffektive Wirt- 864* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 schaft erleben konnte, war ich genauso fasziniert. Das ganze im Wahlkampf auszunutzen und Versprechungen zu machen, die natürlich die meisten Menschen ansprachen, war nicht schwer. Es erweist sich aber eindeutig als Trugschluß, daß es auf dem Weg dorthin einfach ausreicht, etwas Altes zu beseitigen. Wenn Herr Friedrich Bohl am 1. März 1991 ausführt — ich zitiere wörtlich — : „Die Überwindung des Sozialismus in den neuen Ländern wäre ohne Steuererhöhung möglich gewesen" , nachzulesen in „Stichworte der Woche", dann verbirgt sich hinter dieser Aussage doch ein ganzes Konzept. Nur hätte man es den Wählern auch vorher so deutlich sagen sollen. Denn die Liquidation der DDR als Ganzes und ihrer, wenn auch uneffektiven Wirtschaft, ohne an deren Stelle gezielt und mit staatlicher Hilfe und Unterstützung etwas Neues zu setzen, war nicht der Wunsch der Wähler. Vielmehr verbanden sich alte soziale Vorstellungen, insbesondere von der Sicherheit des Arbeitsplatzes, mit den Wünschen nach Verbesserung des Lebensstandards. Das wiederum ist aber eben nur erreichbar, wenn echte Struktur- und Wirtschaftskonzepte vorgearbeitet, durchdacht und dann gemeinsam auch in die Tat umgesetzt werden. Daß das alles nicht zum „Nulltarif" zu haben ist, war klar, und die Wähler in Ost und West werden es nicht verstehen, warum die Kosten der Einheit, die ja die meisten Wähler auch verstanden und akzeptiert hätten, einerseits verschwiegen und andererseits noch dadurch künstlich erhöht werden, indem man einen konzeptionslosen Crash-Kurs in der Wirtschaft fährt. Wenn von rund 81 Milliarden DM, die aus dem Haushalt den neuen Ländern zur Verfügung stehen, allein ein Drittel für soziale Aufgaben, darunter ein erheblicher Anteil zur Finanzierung von Kurzarbeits- und Arbeitslosengeld sowie Vorruhestandsgeld, zur Verfügung gestellt wird, aber nur knapp 15 % für die Ankurbelung der Wirtschaft auf der Grundlage des Gemeinschaftswerkes „Aufschwung-Ost" , dann ist doch offensichtlich, daß hier mehr repariert und „kalt gelötet" wird als echt „geschmiedet" . Kalte Lötstellen haben die Eigenschaft, meistens nicht leitfähig zu sein. Nun hofft der Herr Bundeswirtschaftsminister Möllemann, daß seine Maßnahmen endlich greifen, und dem Zitat von Karl Schiller „Nun können die Pferde saufen" setzt er vorsichtigerweise hinzu: „Und ich hoffe und erwarte, sie tun es auch." Nur sehr langsam, und für den rasanten Verfall der ostdeutschen Wirtschaft viel zu langsam, kommt die Erkenntnis bei den Politikern der Koalitionsparteien, daß es sich bei der Eingliederung der ehemaligen DDR nicht um die Gründerzeiten nach 1945 handelt. In dieser Zeit gab es überall nichts. Heute aber steht eine hocheffektive, weltmarkterfahrene, reiche und auf Expansion ausgelegte Industrie des Westens einer völlig anders strukturierten und orientierten Wirtschaft des Ostens gegenüber, die auch noch veraltet und zum Teil staatlich verschuldet war. Diese Erkenntnis bedurfte sicher keiner fünfmonatigen Regierungszeit. Man kann sich eben des Eindrucks nicht erwehren, daß das Ganze nicht als Schicksal abläuft, und das wäre schon schlimm genug, sondern sogar gewollt ist. Denn es bedurfte ja keinerlei staatlichen Regelungsbedarfs über Eigentum, über die Bereitstellung von Grundstücken usw., als es darum ging, die ehemalige DDR als Absatzgebiet zu erobern. Jeder, der es wollte, und viele wollten es, errichteten Verkaufseinrichtungen, übernahmen Vertriebsnetze und kauften sich in den Markt ein. Es gab ja auch viel zu verdienen — für die, die das Geschäft machten, und auch für die, die davon die steuerlichen Mehreinnahmen kassierten. Immerhin betrug der Zuwachs am Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen im letzten Jahr 9,7 % und damit mehr als jemals in den Jahren zuvor. Nun müßte man glauben, daß die, die daran verdient haben, nun auch verstärkt zu Kasse gebeten werden, doch weit gefehlt. Es wird daran, wie auch an vielen anderen Beispielen, nur zu deutlich, daß nicht die Bundesregierung regiert, sondern das Kapital seinen eigenen Weg geht. Das trifft auch ganz besonders für die Nahrungs- und Genußmittelindustrie der ehemaligen DDR zu. Es gab Anträge in der frei gewählten Volkskammer, den Weg der staatlichen, wirtschaftlichen und sozialen Einheit mit staatlichen Programmen zu begleiten. Sie wurden voller Hohn verworfen. Heute rächt sich das bitter. Werner Schulz (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Die Menschen in Ostdeutschland gehen wieder auf die Straße. Am vergangenen Montag in Leipzig waren es mehr als 25 000, die sich mit den Füßen gegen die Politik der Treuhandanstalt zur Wehr setzten. Zu Recht fordern sie ein Konzept, das statt Arbeitslosigkeit zu verwalten, Beschäftigung finanziert. Die Stimmung wird zunehmend explosiv. Das kann niemanden wundern, denn entgegen der zugesagten Verbesserung der Lebensverhältnisse verlieren immer mehr Menschen ihren Arbeitsplatz. Ich verzichte darauf, Ihnen die neuesten Arbeitslosenzahlen der Bundesanstalt für Arbeit hier zu referieren, die Ihnen ohnehin bekannt sein dürften. Statt dessen erinnere ich Sie an einen Kommentar, den der Präsident der BfA, Heinrich Franke, zur Erläuterung der Kurzarbeiterzahlen gegeben hat. Diese Entwicklung, so Franke, deute verstärkt darauf hin, daß hinter der Kurzarbeit nicht nur vorübergehender Nachfrageausfall stehe. Dem ist zuzustimmen. Und weil dem so ist, besteht das dringende Gebot, daß die Bundesregierung mit einer umfassenden überzeugenden wirtschaftspolitischen Konzeption die Probleme im Osten tatkräftig angeht. Zwar haben sich 1990 über eine viertel Million Bürger in den neuen Bundesländern selbständig gemacht, doch allein 45 % davon entfallen auf Handel und Gaststätten. 25 % auf das Handwerk. Größere Produktionsbetriebe sind unter den Neugründungen nicht zu finden. Tausende von Imbißbuden, Videotheken, Getränkeshops oder Gebrauchtwagenhändler können aber nicht wettmachen, was jetzt an Arbeitsplätzen allein in der Textilindustrie oder der vom alten SED-Regime gehätschelten Mikroelektronik wegfällt. Die Wirtschaftspolitik für die ostdeutschen Länder steht unter einem sehr kurzfristigen Erfolgsdruck. Mit Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 865* jedem Tag, der verschenkt und vertan wird, resignieren mehr Menschen, verlassen ihre Heimat und suchen im Westen ihr Glück oder doch zumindest einen Arbeitsplatz. Man kann das Ziel der deutschen Wirtschaftspolitik auf eine einfache Formel bringen: Die Abwanderung von Ost nach West so schnell wie möglich stoppen. Es ist kaum nachvollziehbar, daß die Bundesregierung sich dennoch nicht in der Lage sieht, zeitnah und zuverlässige Übersiedlerzahlen zu veröffentlichen. Sind Sie wirklich so schlecht informiert über die Lage in Deutschland? Fragen Sie doch mal bei den Landesregierungen nach! Der sächsische Wirtschaftsminister beziffert allein die Abwanderung aus Sachsen in die westdeutschen Länder auf monatlich 10 000 Menschen. Zur Umstrukturierung der Wirtschaft in den ostdeutschen Ländern reicht es nicht aus, sie nach dem Bilde der westdeutschen Wirtschaft neu zu orientieren. Vor dem Hintergrund der Probleme in Ostdeutschland gerät allzu leicht in Vergessenheit, daß auch der westdeutsche Wirtschaftsboom zu Lasten der Umwelt und zu Lasten eines großen Teils der Bevölkerung geht. Zeitgleich mit dem notwendigen Aufholen ihres Produktivitätsrückstandes muß der ökologische und soziale Umbau der ostdeutschen Wirtschaft in Angriff genommen werden. Erster und wichtigster Punkt für die wirtschaftspolitische Strategie in den ostdeutschen Ländern ist: Die produktive Struktur, das heißt Betriebe und das heißt Arbeitsplätze, muß soweit irgend möglich erhalten bleiben. Mit der Sanierung aller sanierungsfähigen Betriebe, unabhängig davon, ob sie kurzfristig privatisierbar sind oder nicht, muß sofort begonnen werden. Die Politik der Privatisierung um jeden Preis konnte nicht funktionieren, denn die Privatwirtschaft ist keine Heilsarmee, keine Einrichtung zur Sanierung von Staatsbetrieben. Es ist wohl eher die Ausnahme, daß kapitalistische Unternehmen unproduktive Firmen mit eher trüben Umsatzerwartungen in ihre Übernahmeüberlegungen einbeziehen. Die Sanierung der ostdeutschen Industrie, und das ist unsere Überzeugung, wird entweder zu wesentlichen Teilen aus öffentlichen Haushalten bestritten oder sie wird nicht stattfinden. Daß die Treuhand aktive Sanierungspolitik betreiben muß, erkennt erfreulicherweise jetzt auch die Bundesregierung an. Es fragt sich jedoch, ob sie die daraus folgenden Konsequenzen ebenfalls anzuerkennen bereit ist. Damit fällt nämlich auch der Glaube, die Sanierung sei im wesentlichen durch die Privatwirtschaft, durch Privatkapital zu finanzieren. Der zusätzliche Finanzbedarf, der hier auf die öffentlichen Haushalte zukommt, wird sich nur befriedigen lassen, wenn andere öffentliche Ansprüche an den Kapitalmarkt wirksam zurückgedrängt werden. Die Treuhand hat lange den Eindruck vermittelt, sie würde gar keine Politik machen. Natürlich macht sie Politik. Sie macht Strukturanpassungspolitik, sie macht Industriepolitik, aber sie nennt das nicht so. Aber indem sie das leugnet, entzieht sie sich gleichzeitig der Auseinandersetzung über die Art und Weise, wie sie es macht. Wenn die größte Staatsholding der Welt, und das ist die Treuhand, nach rein betriebswirtschaftlichen Erwägungen alle Betriebsteile, die nicht kurzfristig schwarze Zahlen schreiben können, stillegt, dann ist das Politik, und zwar Kahlschlagpolitik. Diese Politik hat sie, offenbar in Übereinstimmung mit dem Bundesfinanzministerium, bis vor einigen Wochen konsequent betrieben. Die Treuhandanstalt muß in ihrer Politik zu einer volkswirtschaftlichen Sichtweise kommen. Sie muß die gesellschaftlichen Kosten ihres Handelns berücksichtigen, auch wenn sie sich nicht im eigenen Etat widerspiegeln. Wir dürfen nicht zulassen, daß die Treuhandanstalt 1 Million einspart, um gleichzeitig bei der Bundesanstalt für Arbeit 5 Millionen DM zusätzliche Ausgaben zu verursachen. Wenn das Problembewußtsein im Bundesfinanzministerium nicht vorhanden ist, dann ist dies ein Grund mehr, die sachlich ohnehin gebotene Zuordnung der Treuhandanstalt zum Bundeswirtschaftsministerium zu befürworten. Ein zweites tragendes Element einer wirtschaftspolitischen Strategie für Ostdeutschland muß die Entfaltung öffentlicher Nachfrage in den ostdeutschen Ländern sein. Mit der Initiierung des Gemeinschaftswerks Aufschwung-Ost, ist ein erster Schritt in diese Richtung getan. Doch bevor ich zum Inhalt komme, eine Bemerkung zum Namen. Hier liegt schon wieder eine bewußte Täuschung vor. Wieso Gemeinschaftswerk? Tatsächlich handelt es sich doch um ein reines Bundesprogramm. Ich suche vergeblich einen großzügigen, selbstlosen Beitrag der deutschen Wirtschaft zu dem sogenannten Gemeinschaftswerk. Auch der zweite Namensbestandteil, „Aufschwung-Ost" ist mehr Propaganda. In Wirklichkeit hat der Bund ein in vieler Hinsicht noch unzureichendes Nachfrage- und Arbeitsbeschaffungsprogramm aufgelegt. Warum versuchen Sie uns einzureden, es sei anders? Ihr Programm ist im Hinblick auf Zukunftsinvestitionen für die Umwelt und die Infrastruktur viel zu zögerlich ausgefallen. Für diesen Bereich sind erheblich mehr Mittel erforderlich. Es ist abzuwarten, wie die einzelnen Bestandteile des Programms angenommen werden. Wo tatsächlich Bedarf besteht, müssen auch kurzfristig weitere Mittel bereitgestellt werden. Die Ausgabenprogramme des sogenannten Gemeinschaftswerks müssen nicht nur den ostdeutschen Ländern und Gemeinden zugute kommen, sondern auch den in Ostdeutschland ansässigen Betrieben. Eine Umsatzsteuerpräferenz für die ostdeutsche Wirtschaft oder für ostdeutsche Waren und eine Bevorzugung ostdeutscher Anbieter bei der Vergabe öffentlicher Aufträge können die Wirkung eines solchen Nachfragepakets spürbar verstärken. Der keineswegs überraschende, aber verheerende Zusammenbruch des Exports in die RGW-Länder hat die ostdeutschen Länder besonders hart getroffen. Viele an sich durchaus leistungsfähige Betriebe, etwa des Maschinenbaus, stehen mangels Anschlußaufträgen vor dem Aus. Es ist daher unbedingt notwendig, den ostdeutschen Export in die osteuropäischen Länder mit öffentlichen Mitteln zu fördern. Eine Abkoppelung von Osteuropa wäre nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen auf Dauer bedrohlich. 866* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 Sie müßte von unseren europäischen Nachbarn politisch als ein Zeichen zunehmender Selbstbezogenheit der Deutschen gewertet werden. Die Subventionierung unrentabler Exporte in die ehemaligen RGW-Länder kann allerdings nur eine Übergangslösung sein. Doch auch das Milliarden-Geschäft, das Wirtschaftsminister Möllemann aus Moskau mitbrachte, ist risikobehaftet und sollte bei aller Freude genauso viel Vorsicht hervorrufen. Wenn nur ein einziger sowjetischer Betrieb seinen Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommt und der deutsche Lieferant die Hermes-Bürgschaft in Anspruch nimmt, darf die Kreditversicherung nach dem sogenannten Länderprinzip kein einziges Geschäft mehr absichern. Neun Milliarden sind dann abzuschreiben und werden sich indirekt belastend auf den Haushalt auswirken. Gleich welche wirtschaftspolitische Strategie die Bundesregierung in den nächsten Monaten verfolgt, die Arbeitslosigkeit wird noch weiter steigen. Damit kommt dem verstärkten Einsatz aller Instrumente der Arbeitsmarktpolitik und einer Politik der sozialen Absicherung eine besondere Bedeutung zu. Ich nenne hier beispielhaft die Einrichtung von Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaften sowie zur Einkommenssicherung für diejenigen, die auf Dauer aus dem Arbeitsprozeß ausscheiden, die Anhebung der Sozialhilfesätze und die Verlängerung und Dynamisierung der Sozialzuschläge. Meine Damen und Herren von der Koalition, das freie Spiel der Kräfte führt die Gesellschaft der ehemaligen DDR in eine Abwärtsspirale. Hier verhalten sich zumeist die Unternehmen rational, die ihre Belegschaften radikal abbauen. Privatinitiative des einzelnen heißt nur zu oft Abwanderung nach Westdeutschland. Die Bundesregierung hat seit dem letzten Sommer auf dieses freie Spiel der Kräfte gesetzt. Die Treuhandanstalt hat mitgespielt. Diese Orientierung war falsch und ist falsch. In der jetzigen Übergangssituation sind die Staatskräfte in weit höherem Maße gefordert, als Sie das wahr haben wollen. Dr. Rudolf Sprung (CDU/CSU): Kein Einzelhaushalt spiegelt, allein schon vom Volumen her, die Deutsche Einheit und die daraus erwachsenen Probleme deutlicher wider als der Haushalt des Bundeswirtschaftsministeriums. Die Zuwachsrate beträgt für den vorliegenden Einzelplan 09 110 %. Rechnet man die Ansätze für das Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost hinzu, so ergibt sich eine Steigerungsrate, die auf 150 % zuläuft. Damit schlägt sich insbesondere im Haushalt des Bundeswirtschaftsministeriums das gewaltigste Investitions- und Infrastrukturprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nieder. Um mit dieser Feststellung von vornherein keine Zweifel aufkommen zu lassen: Dieses Programm und die dafür bereitgestellten zusätzlichen Mittel ebenso wie die sich daraus ergebenden Steigerungsraten und Mehrausgaben in den einzelnen Haushaltspositionen sollten unsere Zustimmung über die gesamte Breite des Hauses hinweg finden. Es handelt sich dabei um die finanz- und ordnungspolitischen „Eckpfeiler" für die Schaffung einheitlicher Lebensverhältnisse in ganz Deutschland. Worauf es jetzt ankommt, ist, daß die zur Verfügung gestellten Mittel abfließen, daß die Programme, daß die Maßnahmen so in Gang kommen, wie dies nötig ist, damit die verfolgten Ziele auch erreicht werden. Die Bereitstellung der Mittel ist eine Sache, ihre Verwendung, ihre tatsächliche Inanspruchnahme eine andere. Was diesen Punkt betrifft, so haben wir bereits einschlägige Erfahrungen, nicht nur aus den Monaten vor dem 3. Oktober letzten Jahres, sondern auch aus der Zeit danach. Lassen Sie mich dazu einige zusätzliche Anmerkungen machen: Erstens. Für einen reibungslosen oder auch nur einigermaßen zügigen Ablauf spielen die Verwaltungen auf allen Ebenen eine ausschlaggebende Rolle. Deshalb wurde es höchste Zeit, daß zu ihrem weiteren Auf- und Ausbau aus den alten Bundesländern nunmehr zusätzliche Hilfe möglich wird. Ohne eine funktionsfähige und funktionierende Verwaltung werden die bereitstehenden Mittel zu einem beträchtlichen Teil hängenbleiben. Wer sich umhört in den Ministerien, in den Landkreis- und Stadtverwaltungen in den neuen Bundesländern, kann davon ein Lied singen. Personalkostenzuschüsse und die Einrichtung von „Personaltauschbörsen" sind daher ein Schritt in die richtige Richtung. Darüber hinaus müssen wir jedoch auch unkonventionelle Wege gehen. Dazu zählen für mich insbesondere die vorübergehende Übernahme bzw. Erledigung von besonders vordringlichen Verwaltungsaufgaben in den neuen Bundesländern durch Kommunen, Städte und Landkreise in der alten Bundesrepublik. Warum soll nicht beispielsweise die Verwaltung der Stadt Köln 5 000 Eigentumsanmeldungen der Stadt Leipzig bearbeiten? Mit etwas Phantasie ließen sich so viele Investitionshemmnisse schnell aus dem Weg räumen. Zweitens. Doch dies ist nur die erste Etappe der Umsetzung. Die nächste sind die Unternehmen. Wie sieht es aus mit den vorhandenen Kapazitäten z. B. im Bausektor? Reichen sie aus? Wir wissen aus unseren eigenen Erfahrungen, wie schnell wir bei früheren Konjunkturprogrammen an Kapazitätsgrenzen stießen und nicht nur einmal erleben mußten, daß zusätzliche Ausgaben nur noch zu zusätzlichen Preissteigerungen führten. Auch hier gibt es daher dringenden Anpassungsbedarf, der nur über die Öffnung der Märkte gedeckt werden kann. Drittens. Ein weiterer Engpaß könnte das Angebot an qualifizierten Mitarbeitern in Unternehmen werden. Die Umstrukturierung der Wirtschaft in den neuen Bundesländern ist ja nicht nur mit tief greif enden Veränderungen der Produktionsstrukturen verbunden, sondern eben auch mit grundlegenden Veränderungen im Management, in der Organisation und im Marketing. Wir wissen, wie spezialisiert diese Tätigkeiten zum Teil in unserer Wirtschaft sind. Markt und Wettbewerb erzwingen diese Spezialisierung. Es ist nur natürlich, wenn auch hier Engpässe auftreten. Deshalb sind Qualifizierung und Weiterbildung von größter Bedeutung. Es ist zu begrüßen, daß jetzt die Anreize für Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 867* die Teilnahme an Qualifizierungs- und Weiterbildungsprogrammen verstärkt werden. Damit soll das bereits Geleistete nicht geringgeschätzt werden. Bis Ende 1990 hat die westdeutsche Wirtschaft bereits über 2 Millionen Beschäftigte auf dem Arbeitsmarkt in den fünf neuen Ländern qualifiziert. Diese Qualifizierungsanstrengungen der westdeutschen Wirtschaft auf dem Arbeitsmarkt der fünf neuen Länder sind nachhaltig zu begrüßen und fortzusetzen. Viertens. Auf ein weiteres Hindernis möchte ich aufmerksam machen: Da öffentliche Mittel eingesetzt werden, sind, soweit damit Sachausgaben verbunden sind, öffentliche Ausschreibungen erforderlich, und zwar vielfach nicht nur bundes-, sondern sogar europaweit. Ich meine, daß europaweite Ausschreibungen zumindest für die nächsten zwei Jahre nicht in die Landschaft passen. Der Bundeswirtschaftsminister wird hoffentlich in Brüssel entsprechend intervenieren. Begründungen für eine solche Aussetzung gibt es wahrlich mehr als genug, wenn — und allerdings auch nur dann — Unternehmen in den fünf neuen Ländern vorhanden und in der Lage sind, sich an solchen Ausschreibungen zu beteiligen. Doch auch die Erarbeitung einer Ausschreibung ist eine hochdiffizile Aufgabe: Der Bundeswirtschaftsminister sollte Überlegungen anstellen, wie hier — zumindest vorübergehend — mit vereinfachten Verfahren abgeholfen werden kann. Daß dabei im Rahmen der öffentlichen Auftragsvergabe den Unternehmen, insbesondere dem Mittelstand, in den neuen Bundesländern eine Vorrangstellung einzuräumen ist, brauche ich wohl nicht besonders zu betonen. Der geplante Wohnungsbau im Zusammenhang mit dem Rückzug der sowjetischen Truppen bietet eine erste gute Gelegenheit, Zeichen zu setzen. Wenn auch die jüngsten Entscheidungen wichtige weitere Verbesserungen der Investitionsbedingungen bringen, bleibt doch unübersehbar, daß sämtliche Maßnahmen und die Beseitigung der genannten möglichen Engpässe Zeit benötigen. Das ist alles nicht in wenigen Wochen zu machen, bei aller Bereitschaft, bei allem Engagement, das zweifellos in den fünf neuen Ländern vorhanden ist. Deshalb sollte niemand erstaunt sein, wenn sich zum Jahresende herausstellt, daß nicht alle bereitgestellten Mittel abgeflossen sind. Und nun einige Sätze zum „westlichen Teil" des Haushaltes des Bundeswirtschaftsministeriums: Schwerpunkte des Einzelplans 09 sind, so wie das bisher auch schon der Fall war, die wirtschaftspolitischen Programme. Rund 94 % des gesamten zur Beratung vorliegenden Einzelplanes entfallen auf sie. Wir haben in der Vergangenheit immer wieder beklagt, daß es sich dabei fast ausschließlich um Subventionen handelt. Das hat zu dem bösartigen Vorwurf geführt, daß der Einzelplan 09 letztlich, von den Verwaltungsausgaben einmal abgesehen, ein einziger großer Subventionshaushalt sei. Für den Haushalt des Wirtschaftsministeriums eines Landes, das sich als Gralshüter einer marktwirtschaftlichen Ordnung empfindet, ein bitterer Vorwurf. Es ist begrüßenswert, wenn der Bundeswirtschaftsminister diese Situation nicht nur beklagt, sondern auch die Absicht hat, mit dem Abbau von Subventionen endlich Ernst zu machen. Es ist aber auch wohl davon auszugehen, daß er dabei nicht in erster Linie an andere Einzelpläne, sondern vor allem an seinen eigenen Haushalt gedacht hat. Mit seiner Forderung nach einem massiven Subventionsabbau — 10 Milliarden DM — trägt er nicht nur Forderungen aus vielen Wirtschaftsbereichen, der EG-Kommission, vom Sachverständigenrat und von seiten der Bundesbank Rechnung. Für einen drastischen Subventionsabbau sprechen nicht nur stabilitäts-, sondern insbesondere auch wirtschaftspolitische Gründe. Wir wollen dem Bundeswirtschaftsminister gern bei seinen Subventionskürzungen folgen. Sieht man sich den Haushalt des BMWi an, so fragt man sich allerdings, wie die Kürzungen bewerkstelligt werden können. Bei der Kohle? Bei der Luftfahrt? Bei der Regionalförderung? Bei der Werftindustrie? Lassen wir einmal die einigungsbedingten Steigerungen in diesen Positionen draußen vor — und sie müssen auch in den nächsten Jahren draußen vor bleiben — , so ergibt sich folgendes. Bereich Kohle: 3,5 Milliarden DM. Der größte Posten ist mit 2,5 Milliarden DM die Kokskohlenbeihilfe. Es ist begrüßenswert, daß eine deutliche Rückführung der Kokskohlenbeihilfe um 1,1 Milliarden DM in den nächsten drei Jahren vorgesehen ist. Allerdings bedarf es auch hier der Umsetzung, d. h. entsprechender Verhandlungen mit dem Kohlebergbau. Dabei muß man wissen: Streichung von Mitteln bedeutet Rückführung von Fördermengen. Wir wünschen Ihnen dabei vollen Erfolg, Herr Minister! Luftfahrtförderung (1,5 Milliarden DM). Die verschiedenen Ansätze, Abwicklung des Airbusprogramms und Entwicklungskostenzuschüsse für neue Flugzeugprojekte resultieren aus bestehenden, zum Teil schon seit vielen Jahren von früheren SPD-Regierungen herkommenden Rechtsverpflichtungen. Auch bei den Subventionen für die Werftindustrie haben wir es mit länger laufenden Rechtsverpflichtungen zu tun. Den einzig schon beschlossenen Subventionsabbau in größerem Umfang gibt es im Bereich der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur " . Hiervon ist insbesondere das ehemalige Zonenrandgebiet betroffen. Ergebnis: Für die wirklich zu Buche schlagenden Subventionszahlungen bestehen Rechtsverpflichtungen mit zum Teil noch erheblicher Laufzeit. Natürlich ist solchen Verpflichtungen zu entsprechen. Wo aber, Herr Minister, wollen Sie dann in Ihrem Haushalt Subventionen kürzen? Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Wenn Subventionskürzungen aus den vorgenannten Gründen für das nächste und auch vielleicht für das übernächste Jahr in größerem Umfang noch nicht möglich sind, lassen Sie uns einen Grundsatzbeschluß fassen: Schon heute kündigen Sie an, daß alle Subventionen für das Gebiet der alten Bundesrepublik bzw. für Unternehmen im alten Bundesgebiet über einen mittelfristigen Zeitraum hinweg abgebaut wer- 868* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 den. Soweit rechtliche Verpflichtungen bestehen bzw. Vertrauensschutzaspekte zu berücksichtigen sind, wird bereits jetzt von Ihnen im Sinne einer mittelfristigen Konsolidierungspolitik angekündigt, daß mit dem Ende der derzeit gültigen rechtlichen Verpflichtungen die Subventionsprogramme nicht verlängert werden. Für den Kohlebereich sollten Sie die Ankündigung mit einem klaren Konzept für die Kohle verbinden, in dem sowohl die Energiepolitik angesprochen als auch deutlich wird, wie sich die künftige deutsche Kohle- und Energiepolitik im europäischen Rahmen darstellt. Ein solches Konzept müssen Sie schon deshalb vorlegen, weil ja auch die Braunkohle in den fünf neuen Ländern künftig in der Energiepolitik ihren Platz finden muß. Die Mikat-Kommission hat bereits entsprechende Konsequenzen gezogen, wenn sie, wie gestern angekündigt, keinen offiziellen Abschlußbericht zur Zukunft der deutschen Steinkohle mehr vorlegen will. Die Situation habe sich inzwischen grundlegend verändert. Subventionen für die Steinkohle seien jetzt schwerer zu rechtfertigen, da genügend Braunkohle ohne staatliche Zuschüsse gefördert werde. Für die Luftfahrtindustrie sollte zugleich deutlich werden, daß Entwicklungskostenzuschüsse für neue Flugprojekte nicht mehr gewährt werden. Sicherlich könnten Sie damit auch den europäisch-amerikanischen Dauerstreit um die deutschen Airbussubventionen wenigstens teilweise entschärfen und den GATT-Verhandlungen neuen Schub geben. Für die Werftindustrie würde damit der Weg fortgesetzt werden, den die EG seit Jahren verfolgt, nämlich die Wettbewerbshilfen endgültig in Fortfall zu bringen. Lassen Sie, Herr Minister, Ihren eigenen Worten jetzt auch im eigenen Haushalt eigene Taten folgen. Dr. Uwe Jens (SPD): Noch nie hat die Opposition so stark die Politik der Bundesregierung bestimmt wie in der vergangenen Zeit. Mit zeitlichen Verzögerungen — aber immerhin — wurde weitgehend das getan, was die Sozialdemokraten vorher lautstark gefordert hatten. Und so muß es ja auch sein: die Opposition muß die Regierung jagen. Ich weiß, daß es sicherlich nicht opportun ist, einmal die Presse zu kritisieren. Ich persönlich habe auch wenig Grund dazu. Nur, Tatsache ist, daß eine bestimmte Presse von den vielen Vorschlägen, die die Sozialdemokraten auf den Tisch gelegt haben, keine oder nur geringe Notiz genommen hat. Dabei läßt sich anhand unserer Vorschläge noch immer leicht feststellen: Was die Bundesregierung jetzt mit ihrem „Gemeinschaftswerk" vorgestellt hat, ist wenig durchdacht und noch immer unzureichend. Mit aller Vorsicht zunächst ein Wort zu den aktuellen Tarifverhandlungen. Ich glaube, die IG Metall hat mit ihrem Tarifabschluß in Mecklenburg-Vorpommern ein positives Zeichen gesetzt. Ich bin davon überzeugt, daß die Löhne in den neuen Bundesländern deutlich stärker steigen müssen als in der alten Bundesrepublik. Mit den Tarifverhandlungen der ÖTV bei uns hatte ich deshalb zunächst meine Schwierigkeiten. Nur: die jetzt von der Bundesregierung beschlossenen ungerechten Steuererhöhungen rechtfertigen die ÖTV-Haltung. Gerade den kleineren Einkommensbeziehern bei Post und Bahn wird im kommenden Jahr durch Steuererhöhungen und Preissteigerungen deutlich mehr als 4,1 % aus der Tasche gezogen. Das ist unakzeptabel, und deshalb ist die Bundesregierung für die jetzigen Streiks hauptverantwortlich. Aber die Bundesregierung erweist sich auch mit ihrem „Gemeinschaftswerk" als sehr flexibel und anpassungsfähig. Ich möchte noch einmal vier geistige Pirouetten in Erinnerung bringen: Erstens: die konservative Regierung hat sich gerne über wirtschaftspolitische Programme lustig gemacht. Was sie jetzt mit ihrem „Gemeinschaftswerk" vorlegt, ist nichts anderes als ein Wirtschaftsprogramm. Leider mangelt es jedoch an einer sauberen Ursachen-Analyse. Die Maßnahmen sind wenig koordiniert, und der Kardinalfehler: es wirkt nur kurzfristig und nicht langfristig! Somit macht die konservative Regierung Fehler, die sie der sozialliberalen Koalition angekreidet hat. Etwas weniger Lärm wäre glaubwürdiger. Zweitens: die Regierung wollte immer die Lohnnebenkosten senken. Doch die 2,5prozentige Beitragserhöhung zur Arbeitslosenversicherung ist nicht nur ungerecht, sie ist vor allem ökonomisch schwachsinnig. Die Bundesregierung steigert damit die Lohnnebenkosten, fördert die Schwarzarbeit, und — was besonders wichtig ist — sie verschlechtert eklatant den Investitionsplatz Bundesrepublik Deutschland. Drittens: Wendehälse gab es nicht nur in der ehemaligen DDR, sie gibt es auch in der jetzigen Bundesregierung. Die Bundesregierung fordert seit langem einen Abbau von Subventionen und wird darin auch von der SPD unterstützt. Bundesfinanzminister Waigel rechnet deshalb auch vor, daß von 1990 bis 1994 40 Milliarden DM an Subventionen gekürzt wurden, wahrscheinlich um Herrn Möllemann zu retten. Gegenrechnen muß man jedoch die Subventionserhöhungen der Regierung. Die neu eingeführten Steuervergünstigungen von 600 DM bzw. 1 200 DM für Verheiratete bei der Lohn- und Einkommensteuer sind ebenfalls Subventionen. Sie kosten jährlich 1 Milliarde DM. Was wir aus unserer Sicht brauchen, ist jedoch keine Förderung des Konsums, sondern eine Förderung der Investitionen. Auch diese Hilfen sind deshalb ökonomisch völlig verfehlt. Viertens: die Bundesregierung wollte nach wiederholten Bekundungen auch die Entbürokratisierung voranbringen. Sie hätte jetzt eine Chance, indem sie zumindest in den neuen Bundesländern das Standesrecht im Handwerksbereich abschwächt. Nach unserer Auffassung sollten dortige Industriemeister recht großzügig als Handwerksmeister anerkannt werden, damit sie den Sprung in die Selbständigkeit leichter schaffen. Leider kommt die Bundesregierung auch hier nicht voran; der Einfluß der Interessenvertreter ist erheblich, der politische Mut des Bundeswirtschaftsministers aber gering. Wer so mit Grundsätzen umgeht wie diese Regierung, darf keine politische Zukunft haben. Ich hatte gesagt: unsere Forderungen zur Wiederbelebung der Wirtschaftstätigkeit greifen weiter. Aus Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 869* der Fülle unserer Vorschläge trage ich noch einmal einige Kernpunkte vor: Die bisherigen Regionalhilfen für die neuen Bundesländer sind unzureichend. Das Gefälle an Investitionshilfen muß viel stärker zugunsten der neuen Bundesländer ausgebaut werden. Im allgemeinen benötigen wir in den neuen Bundesländern mindestens eine Investitionszulage von 25 Prozent und Sonderabschreibungen von 75 Prozent. Diese Hilfen sind auch deshalb notwendig, weil die Bundesregierung den Realzins in schwindelnde Höhen getrieben hat. Bei einer Alternativ-Betrachtung für Investoren — das kann man jetzt schon getrost feststellen — wären die bisherigen Hilfen nicht ausreichend. Wenn wir gerne beklagen, daß privates Investitionskapital nicht in die neuen Bundesländer fließt, so liegt das nicht an den Unternehmen, sondern vor allem an der falschen Weichenstellung durch die Bundesregierung. Wir brauchen — zweitens — eine eindeutige Regelung, die der wirtschaftlichen Nutzung von Grund und Boden und vorhandenen Betrieben eindeutig Vorrang einräumt gegenüber der Rückgabe. Der jetzt gefundene Kompromiß ist unzureichend und bleibt ein Investitionshemmnis. Die Bundesregierung muß die Marktchancen für ostdeutsche Produkte und Anbieter erhöhen. Die Sozialdemokraten haben dazu eine Kleine Anfrage in den Bundestag eingebracht. Was sich im Bereich der Absatzmöglichkeiten für ostdeutsche Produkte abspielt, ist zum Teil emotionaler Unsinn des Verbrauchers, zum Teil mangelt es den ostdeutschen Betrieben an Wettbewerbsfähigkeit und Marketing-Kenntnissen. Hier ist möglicherweise das Kartellamt, aber vor allem die Bundesregierung gefordert. Und eine weitere Forderung zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage in Ostdeutschland: Nach der Vereinigung hätte Gesamtdeutschland die Handelsbrücke zu den neuen Ländern des ehemaligen Ostblocks werden können. Herr Möllemann kam stolz aus Moskau zurück mit angeblich 9 Milliarden an zusätzlichen Aufträgen für Betriebe in Ostdeutschland. Daß es sich hier nur um die Gegenzeichnung der russischen Seite gegenüber vereinbarten Hermes-Verträgen handelte, wurde nicht so ganz klar. Eines sollte jedoch klar sein: wenn wir die Zahlungsfähigkeit der UdSSR und anderer RGW-Staaten nicht verbessern, gehen diese Lieferungen voll zu Lasten des Bundeshaushaltes. Zur Zeit bricht der Osthandel der ehemaligen DDR-Betriebe völlig zusammen; einige Betriebe verlieren 70 bis 80 % ihres Umsatzes in ehemaligen RGW-Staaten. Was wir hier aus sozialdemokratischer Sicht dringend brauchen, sind zinslose Kredite für den Kauf von Produkten in den neuen Bundesländern — ich spreche von begrenzten Devisenkreditlinien. Ferner benötigen wir Zuschüsse der öffentlichen Hand für bestimmte Käufe der ehemaligen RGW-Staaten in Ostdeutschland — ich denke an eine Art „Marshallplan" mit konkreten Hilfen für die Umstrukturierung. Dies wären nutzbringende Investitionen in die Zukunft. Mit unserer Verständigungspolitik haben wir einen entscheidenden Beitrag geleistet, den West-Ost-Konflikt zu überwinden. Mit dem Ausbau des Handels mit den Staaten Osteuropas könnten wir den Frieden auf Dauer sichern. Unser wirtschaftspolitisches Hauptproblem ist für die nächsten Jahre die Wiederbelebung der Wirtschaftstätigkeit in den neuen Bundesländern. Aber trotz der großen Bedeutung dieser Aufgabe dürfen wir die weitergehenden Probleme nicht völlig vergessen. Neben vielen wichtigen Dingen gibt es zwei Hauptaufgaben in der Wirtschaftspolitik: Ich meine die krisensichere Einbettung unserer Wirtschaft in die Weltwirtschaft und die ökologische Erneuerung unserer Volkswirtschaft. Bundesbankpräsident Pöhl hat zweifellos nicht immer recht. Aber wenn er davor warnt, daß die Verschuldung der öffentlichen Hände nicht weiter ansteigen kann, so ist dem voll und ganz zuzustimmen. Binnenwirtschaftlich ist die exorbitante Verschuldung der Bundesregierung und der Länder und damit der überdimensionierte Realzins das ökonomische Problem Nummer Eins. Nicht die Privaten, sondern der Staat ist der Zinstreiber in der Bundesrepublik. Dies kann auf Dauer nicht gutgehen. Die privaten Investitionen werden nicht anspringen, solange der Realzins so hoch bleibt, wie er ist. Die weltwirtschaftlichen Probleme, die sich jetzt deutlich abzeichnen, werden auf die Bundesrepublik Deutschland übergreifen. Die Bundesregierung tut zu wenig, um diesem Problem zu begegnen. Die Weltwirtschaft zeigt trotz des Golfkrieges noch immer krisenhafte Erscheinungen. Die Vereinigten Staaten sollen allerdings bei einer Bilanz zwischen Einnahmen und Ausgaben am Golfkrieg 20 Milliarden Dollar verdient haben. Was im Einflußbereich der Bundesregierung liegt, wird von ihr jedoch nur halbherzig angepackt. Ich meine, daß die Währungsunion in der EG ohne Verzögerungen vorangebracht werden soll. Der Streit mit Frankreich über den Terminplan ist kleinkariert und überflüssig. Beim Abschluß der GATT-Verhandlungen hat die Bundesregierung bisher eine Bremser-Rolle eingenommen. Dies ist ein schwerer Fehler. Denn unter dem Strich profitiert die deutsche Volkswirtschaft von einem erfolgreichen Abschluß der GATT-Verhandlungen. Hier ist auch Bundeskanzler Kohl gefordert, der ja bekanntlich Schaden vom deutschen Volke abwenden soll. Unsere Volkswirtschaft wird erst dann in einem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht sein, wenn die betriebswirtschaftlichen Kosten die gesamtwirtschaftlichen Kosten voll widerspiegeln. Auf diesem Felde der „Internalisierung der externen Kosten" bedarf es weitergehender Anstrengungen als bisher. Wir Sozialdemokraten werden in diesem Jahr noch eine Änderung zum Stabilitäts- und Wachstumsgesetz vorschlagen, um die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung stärker auf die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen zu verpflichten. Es wäre gut, wenn die Bundesregierung diesem Anliegen positiv gegenübersteht. An einer weiteren Umgestaltung unserer Wirtschaftsordnung und -gesetze, um Ökologie und Ökonomie miteinander zu versöhnen, führt kein Weg vorbei. 870* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 Die Zeit der ideologischen Wirtschaftspolitik à la Lambsdorff scheint ein für allemal vorbei. Viel gebracht hatte der Monetarismus für die deutschen Bürgerinnen und Bürger nicht. Vielleicht ein bißchen Wirtschaftswachstum über einen längeren Zeitraum, dafür jedoch eine extrem ungerechte Einkommensverteilung und eine gewaltige Zunahme der öffentlichen Verschuldung. Mit Ideologien lassen sich im übrigen nach sozialdemokratischer Auffassung die Probleme von morgen nicht lösen. Die Tatsachen drängen vielmehr zu ökonomischer Nüchternheit und zum Pragmatismus. Das sozialdemokratische Ziel ist jedoch klar: wir wollen schnellstmöglich eine Angleichung der Lebensverhältnisse in den neuen Bundesländern. Wir wollen für ganz Deutschland eine ökologie-orientierte und soziale Marktwirtschaft! Dafür brauchen wir vor allem eine konzertierte Aktion der Verantwortlichen und zielgerichtetes und entschlossenes Handeln der Bundesregierung. Leider sind die Weichen noch immer nicht in die richtige Richtung gestellt. Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Die Bundesregierung legt mit dem Haushalt 1991 jetzt erstmals einen gesamtdeutschen Haushalt vor. Dies hätte sich vor 11/2 Jahren in der Debatte über den Haushalt 1990 wohl niemand vorstellen können. Mit der deutschen Einheit ist das wichtigste Ziel der deutschen Nachkriegspolitik verwirklicht worden. Zur wirtschaftspolitischen Lage: Die Herstellung der deutschen Einheit stellt die Bundesrepublik vor enorme Aufgaben, für die es in der Geschichte keinen Vergleich gibt. Dies gilt vor allem für die Wirtschaftspolitik. In den neuen Bundesländern ist der Übergang von der sozialistischen Kommandowirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft mit einer tiefgreifenden Strukturkrise verbunden. Die Probleme sind insgesamt schwieriger als ursprünglich angenommen. Besonders gravierend ist die steigende Arbeitslosigkeit. Die im alten DDR-System vorhandene verdeckte Arbeitslosigkeit (personell weit überbesetzte Betriebe und überdimensionierter Behördenapparat) tritt jetzt immer deutlicher zutage. Allerdings gibt es auch schon erste Anzeichen einer Besserung — z. B. rund 300 000 neue Existenzgründungen — , die aber bei weitem nicht ausreichen, um den Beschäftigungsabbau in anderen Bereichen zu kompensieren. Die Menschen in den neuen Bundesländern haben Anspruch auf unsere Hilfe. Deutsche Einheit bedeutet auch finanzielle Solidarität. Ich räume ein, daß es innerhalb der Koalition gewisse Fehleinschätzungen gab, als wir davon ausgingen, dies würde sich auch ohne Steuererhöhungen erreichen lassen. Ich verwahre mich aber gegen den Vorwurf des „Steuerbetrugs". Jeder Mensch — auch ein Politiker — hat ein Recht auf Irrtum. Es war nicht vorauszusehen, daß mit dem Golfkrieg und den Hilfen für Osteuropa weitere einschneidende finanzielle Lasten auf die Bundesrepublik zukommen. Damit wurde eine vorübergehende Steuererhöhung unumgänglich. Angsichts der positiven Wirtschaftsentwicklung in den alten Bundesländern halte ich die Steuererhöhung auch insgesamt für verkraftbar. Im vergangenen Jahr hatte die alte Bundesrepublik neben Japan das stärkste Wirtschaftswachstum unter den großen westlichen Industrieländern. Auch für 1991 wird ein weiteres Wachstum von etwa 3 % prognostiziert. Um so wichtiger ist es, dafür zu sorgen, daß die Schere zwischen alten und neuen Bundesländern so schnell wie möglich geschlossen wird. Vordringlich ist deshalb die Schaffung neuer wettbewerbsfähiger Strukturen im Beitrittsgebiet. Dazu bedarf es gemeinsamer Anstrengungen von Bund, Ländern, Gemeinden, Tarifparteien und Verbänden. Mit dem vom Kabinett am vergangenen Freitag beschlossenen Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost hat der Bund ein wichtiges Zeichen gesetzt. Zusätzlich werden 1991 und 1992 insgesamt 24 Milliarden DM zur Förderung von öffentlichen und privaten Investitionen und zur Sicherung von Beschäftigung in die neuen Bundesländer fließen. Es kommt jetzt darauf an, daß dieses Geld schnell und effektiv in beschäftigungswirksame Maßnahmen umgesetzt wird. Nun zum Haushalt des Bundeswirtschaftsministeriums: Auch im Regierungsentwurf dieses Einzelplans schlägt sich bereits der beitrittsbedingte Mehrbedarf nieder. Der Haushalt steigt danach gegenüber 1990 um mehr als das Doppelte auf 14,5 Milliarden DM an. Die Steigerung von rund 7 Milliarden DM betrifft zum einen Maßnahmen der Wirtschaftsförderung in den neuen Bundesländern. Im Vordergrund steht dabei die regionale Wirtschaftsförderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur", für die der Entwurf Mittel in Höhe von 2 Milliarden DM vorsieht. Zusammen mit den Landesmitteln ergibt sich ein Fördervolumen von 4 Milliarden DM allein im Jahr 1991. Nimmt man dazu die 12%ige Investitionszulage und die vorgesehenen Sonderabschreibungen, ergibt sich daraus ein erhebliches Präferenzgefälle zugunsten der neuen Bundesländer. Mit diesen positiven Investitionsbedingungen kann der wirtschaftliche Erneuerungsprozeß tatkräftig unterstützt werden. Ein weiterer Schwerpunkt bei den Wirtschaftsförderungsmaßnahmen ist die rasche Entwicklung des Mittelstandes im Beitrittsgebiet. Hierfür sieht der Entwurf rund 650 Millionen DM vor. Für den notwendigen Strukturwandel ist vor allem die Gründung neuer selbständiger Existenzen unerläßlich. Die Erfahrung aus dem alten Bundesgebiet lehrt, daß durch neue mittelständische Unternehmen auch zukunftsträchtige Arbeitsplätze geschaffen werden. Dazu gehört aber auch, daß die Arbeitnehmer ausreichend qualifiziert sind. Ebenso wie die Gründung neuer Unternehmen muß deshalb die berufliche Qualifizierung nachhaltig gefördert werden. Neben den Maßnahmen der Wirtschaftsförderung gibt es aber auch noch andere Folgekosten der deutschen Einheit, die im Einzelplan 09 ihren Niederschlag finden. Als Beispiel seien hier nur die Kosten für die ökologische Sanierung und Rekultivierung der Gebiete des ehemaligen Uranerzbergbaus durch die Wismut AG in Sachsen und Thüringen genannt, wo ganze Landstriche von der Zerstörung bedroht sind. Ich hoffe, daß die Verhandlungen mit der UdSSR über den vollständigen Übergang des Unternehmens in deutsches Eigentum bald abgeschlossen werden kön- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 871* nen, damit die notwendigen Arbeiten zur Umstrukturierung und Sanierung der Bergbauflächen möglichst zügig — im Interesse der dort lebenden Menschen — fortgesetzt werden können. In den nächsten Jahren muß hierfür mit Kosten von mindestens 5 Milliarden DM gerechnet werden. Zuletzt zur Ausgabendisziplin und zum Einsparungszwang: Die historische Aufgabe der deutschen Einheit erfordert einen beträchtlichen Finanzaufwand; deshalb müssen alle Anstrengungen unternommen werden, durch strikte Ausgabendisziplin in den nächsten Jahren die Haushaltsdefizite eng zu begrenzen, um negative Auswirkungen auf die Geldwertstabilität und das Wirtschaftswachstum zu vermeiden. Die Koalition hat den Abbau von Steuervergünstigungen und Finanzhilfen in der Größenordnung von jährlich 10 Milliarden DM ab 1992 beschlossen. Minister Möllemann hat sogar mehrmals öffentlich mit seinem Rücktritt gedroht, falls dieses Ziel nicht erreicht wird. Aus meiner Arbeit im Haushaltsausschuß weiß ich, wie schwierig es ist, einmal zugestandene Subventionen wieder abzubauen. Dies ist für die Betroffenen, die sich an das oftmals „süße Gift" der Subventionen gewöhnt haben, in jedem Falle schmerzlich. Aber die finanziellen Belastungen im Zusammenhang mit der deutschen Einheit haben eine neue Situation geschaffen, die einen mutigen Schritt in Richtung Subventionsabbau nicht nur rechtfertigt, sondern geradezu erfordert. Ich begrüße es deshalb, daß der Bundesminister für Wirtschaft dieses Anliegen so nachhaltig unterstützt, und gehe davon aus, daß er in seinem Etat mit gutem Beispiel vorangehen wird. Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirtschaft: Die Wirtschafts- und Finanzpolitik steht vor der größten Bewährungsprobe in Deutschland nach dem Kriege. Innenpolitisch hat der wirtschaftliche Aufbau in den neuen Bundesländern absolute Priorität. Ich bin als Wirtschaftsminister mit dem Ziel angetreten, dafür zu sorgen, daß das gesamte Deutschland gleichermaßen am wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben kann und die Bürger in den neuen Ländern eine neue Zukunft für sich und ihre Familien erkennen können. Von uns allen ist jetzt eine große gemeinsame und solidarische Anstrengung für den Wiederaufbau gefordert. Die Bundesregierung hat mit der Verabschiedung des Gemeinschaftswerks Aufschwung-Ost dieses Zeichen der Solidarität gesetzt. In diesem und im nächsten Jahr stehen 24 Mrd. DM für die neuen Bundesländer bereit. Wir haben damit das Notwendige in die Wege geleitet, um die wirtschaftliche Apathie im Osten zu verbannen und in eine dynamische Aufwärtsbewegung zu überführen. Das, was man mit Geld erreichen kann, haben wir auf den Weg gebracht. Unser Leitgedanke: Wer im Osten investieren will, erhält die beste Förderung, die es in der Bundesrepublik je gab. Keine Investition soll am Geld scheitern; keine private, aber auch keine öffentliche. Hier liegt der Schlüssel für neue Dauerarbeitsplätze. Deshalb haben wir die 12-%-Investitionszulage um ein halbes Jahr bis Ende 1991 verlängert. Mit der 50%igen Sonderabschreibung für Bauten und Ausrüstungsgüter haben wir Fördermöglichkeiten geschaffen, mit denen wir jetzt eine Förderintensität von 100 % einer Investition je nach Unternehmensgröße erreichen. Bei mittelständischen Unternehmen bringt die Kumulation staatlicher Hilfen sogar noch höhere Vorteile. Es lohnt sich jetzt auch finanziell, in den neuen Bundesländern zu investieren. Wir haben alles getan, damit — um mit Karl Schiller zu sprechen — die Pferde saufen können. Wir unterstützen die private Initiative mit einem riesigen Infrastrukturprogramm. Allein für Telekommunikation, Straßen und Schienenwege investiert der Bund in diesem Jahr 17 Milliarden DM. Hieraus ergibt sich eine unmittelbare Beschäftigungswirkung vor Ort, vor allem für die Bauwirtschaft und das Handwerk. Insgesamt stehen in den neuen Ländern und ihren Gemeinden 1991 50,1 Milliarden DM für öffentliche Investitionen zur Verfügung; allein 37,5 Milliarden tragen der Bund und die Bundesunternehmen. Das ist pro Kopf der Bevölkerung das größte Investitionsvolumen, das wir jemals auf den Weg gebracht haben. Die ersten Zeichen einer beginnenden wirtschaftlichen Gesundung sind schon zu sehen. Seit Beginn des letzten Jahres hat in den neuen Bundesländern rund i Million Menschen neue Arbeitsplätze gefunden. Ich erwarte, daß der notwendige Abbau unproduktiver Arbeitsplätze mehr und mehr vom Aufbau wettbewerbsfähiger Beschäftigung aufgefangen wird, zumal da wir die Vorfahrtregelung bei Investitionen, Eigentum und Altlasten verstärkt haben. Wir wollen den Vorrang für Investitionen. Wir verlangen aber auch viel von den Menschen, die sich mit ihren Kenntnissen und Fähigkeiten auf die neue Zeit einstellen müssen. Deshalb geben wir Hilfe zur Qualifizierung. Deshalb unterstützen wir im öffentlichen Bereich die extensive Nutzung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in der Übergangszeit. Wir lassen die Menschen mit ihren Sorgen nicht allein. Jeder muß aber seinen individuell möglichen Beitrag leisten, um die Schwierigkeiten im Übergang zu meistern. Ich bin sicher, wir haben mit dem Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost die richtige Mischung zwischen dem investiven Mitteleinsatz und der arbeitsmarktpolitischen Absicherung gefunden. Alle verfügbaren Instrumente werden genutzt, um den Unternehmen den Weg in die neuen Bundesländer zu ebnen, Verwaltungshürden aus dem Weg zu 872* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 räumen und möglichst vielen Menschen Perspektiven für Selbständigkeit zu eröffnen. Die Eigeninitiative der Bürger ist eine wichtige Hilfe bei allem, was wir tun. Wir setzen auf die freie und verantwortliche Mitwirkung unserer Bürger in ganz Deutschland. Ein Staat, der da verzichtet, bleibt unvermeidlich hinter seinen Möglichkeiten zurück. Je mehr sich Selbständigkeit und Kreativität der Bürger jetzt für den Aufschwung entfalten können, desto eher werden wir unser Ziel erreichen. Einige Punkte möchte ich besonders hervorheben. Erstens. Die Finanzausstattung der neuen Länder und Gemeinden war — gemessen an den jetzt erkennbaren Aufgaben — unzureichend. Wir haben die Möglichkeiten des Einigungsvertrages ausgeschöpft oder — um es mit Herrn Biedenkopf zu sagen — fortgeschrieben und neben dem Gemeinschaftswerk weitere Hilfen in den Finanzrahmen des Einigungsvertrages aufgenommen. Das war richtig und wichtig. Die neuen Länder und ihre Kommunen verfügen jetzt über genügend Mittel, um ihre Aufgabe wahrzunehmen. Zweitens. Mein Vorschlag zur Soforthilfe ist mit der Investitionspauschale von 5 Milliarden für Modernisierung und Instandsetzung in den Gemeinden in vollem Umfang aufgenommen worden. Wichtig ist, daß die Kommunen jetzt schnell handeln und sich auf Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßnahmen konzentrieren. Hier hemmen weder große Planungsvorläufe noch Eigentumsprobleme. Die Bürgermeister und Landräte müssen jetzt die vom Bund ausgereichten Schecks in die Hand nehmen und die Renovierung von Schulen, Krankenhäusern und Wohnungen vorantreiben. Dann wird der Aufschwung für die Bürger in jeder Straße ein sichtbares Zeichen setzen. Drittens. Der Übergang vom Unrechtsstaat zum Rechtsstaat, vom Plansystem zur freiheitlichen Marktwirtschaft erfordert in der Eigentumsfrage, daß wir die Hemmnisse überwinden auf dem Weg zu mehr Freiheit und zur Restitution des Rechts — zur Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse und zur Wiederherstellung des Eigentums. Für Arbeitsplätze, Wohnbedarf und notwendige Infrastruktur müssen frühere Eigentümer auf Rückgabe verzichten. Sie bekommen stattdessen den Kaufpreis, den der Investor zahlt — unter Umständen sogar mehr. Das ganze muß schnell und einfach laufen. Wir wollen deshalb zugunsten von Investoren im Beitrittsgebiet die Verfügungssperre vorübergehend aussetzen. Ohne schnelle Klarheit über die Verfügungsrechte öffentlicher Investoren — der Treuhand wie der neuen Bundesländer, der Kreise wie der Kommunen — gibt es keinen Aufschwung, keine Freisetzung der Dynamik, die von öffentlichen Investitionen wie vor allem von Privateigentum ausgeht. Was nicht für Investitionen gebraucht wird, wird natürlich zurückgegeben, sobald klar ist, an wen es zurückzugeben ist. Aber diese Unklarheit darf nicht länger den Aufschwung hemmen. Die Verwaltungsinsuffizienz im Beitrittsgebiet müssen wir überwinden. Aber weil das nicht von heute auf morgen zu schaffen ist, müssen wir überall vereinfachen, nicht nur zur Lösung der Eigentumsfrage, sondern auch bei den Umweltaltlasten. Umweltaltlasten dürfen nicht neue Investitionen verhindern. Es hilft nichts: Die ökologischen Altlasten sind Kosten der Einheit. Der Versuch, sie auf Erwerber abzuwälzen, hemmt den Aufschwung. Kein Unternehmer unternimmt unkalkulierbare Risiken. Kein Vorstand darf das machen. Wenn nach langen Versuchen zur Bewertung der Risiken doch eine kalkulierbare Altlast ermittelt wird, wird jeder Erwerber den Kaufpreis entsprechend verringern. So landet die Altlast wirtschaftlich wieder bei der öffentlichen Hand, nur leider samt den enormen Kosten der Verzögerung des Aufschwungs. Die jetzige Freistellungspraxis ist unzulänglich. Wir müssen die komplexen Anstrengungen um die interne Lastenverteilung zwischen Bund und Ländern, Kreisen und Kommunen vom Privatisierungsgeschäft abkoppeln. Das gilt genauso für die unverzichtbaren Bemühungen, auch die Industrie an der Lösung des Altlastenkomplexes angemessen zu beteiligen. Insgesamt liegen hier Herausforderung und Chance zugleich: Die aktive Beseitigung der Umweltaltlasten fördert gleichzeitig den Ausbau des Umweltsektors in den neuen wie den alten Bundesländern. Sie schafft Arbeitsplätze und bedeutet letztlich das, was man Versöhnung zwischen Ökologie und Ökonomie nennt. Die Mehraufwendungen für den Aufschwung-Ost sind nicht nur unabweisbar. Sie sind mit den steuerpolitischen Beschlüssen der Bundesregierung solide finanziert. Auch wenn manche die Diskussion um die Neidsteuer für Besserverdienende wiederbeleben wollten, den Solidarbeitrag für Gesamtdeutschland müssen wir alle mit den beschlossenen Steuererhöhungen leisten. Die Erhöhung der Einkommensteuer wird klar auf ein Jahr begrenzt bleiben. Die Erhöhung der Mineralölsteuer ist angesichts der Entwicklung der Ölpreise gesamtwirtschaftlich und vom Preisniveau her zu verkraften; darüber hinaus kann der einzelne durch sparsames und umweltfreundliches Verhalten seine Belastung verringern. Mit den Steuerbeschlüssen wird die bisher konsequent durchgehaltene haushaltspolitische Grundlinie der vergangenen Jahre keineswegs verlassen: Die Rückführung der Staatsquote und die Förderung der Marktkräfte bleiben Ziele der mittelfristigen Finanzpolitik. Strikte Ausgabendisziplin, Abbau von Subventionen und Privatisierung staatlicher Unternehmen und Infrastrukturaufgaben sind weiterhin die Leitlinien der Haushaltspolitik. Mit der jüngsten Unterstützung, die die Bundesregierung für die jüngsten Koalitionsbeschlüsse vom DIW erhalten hat, hat die Opposition ein sonst oftmals geschätzter „Kronzeuge" im steuerpolitischen Abseits stehenlassen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 873* Noch wichtiger ist, daß der Deutsche Gewerkschaftsbund den wirtschafts- und finanzpolitischen Kurs der Bundesregierung unterstützt. Das ist ein ermutigendes Zeichen. Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften müssen im Interesse eines schnellen Aufbaus in Ostdeutschland gemeinsam handeln. Der Europäische Binnenmarkt und der Wettbewerb der Produktionsstandorte verlangen von uns auch mittelfristige Weichenstellungen. Die Verbesserung der steuerlichen Rahmenbedingungen und die Neuordnung der Unternehmensbesteuerung bleiben auf der Tagesordnung. Die Unternehmenssteuerreform wird in dieser Legislaturperiode fortgeführt. Das Gesetzgebungsverfahren wird vor Beginn des Europäischen Binnenmarkts abgeschlossen sein. Wenn wir steuerpolitisch glaubwürdig bleiben wollen, müssen wir die Kürzung von Subventionen auf allen Gebieten vorantreiben. Mittelfristig werden Steuervergünstigungen und steuerliche Sonderregelungen — Höhe : 5 Milliarden DM — und Finanzhilfen bis 1994 in Höhe von 1,5 Milliarden DM abgebaut. Auf meine Initiative hin ist die Einsparung von weiteren 4 Milliarden DM beschlossen worden. 1992 wird es zu einem Subventionsabbau von rund 10 Milliarden DM kommen. Schon Mitte des Jahres werden die Kollegen Schäuble, Waigel und ich gemeinsam konkrete Kürzungsvorschläge vorlegen. Der eine oder andere Lobbyist wird dann erstaunt feststellen, daß auch manche heiligen Kühe, die schon Fett angesetzt haben, nicht von der Abmagerungskur verschont bleiben. Wir werden dem Steuerzahler deutlich machen, daß wir mit seinem Geld verantwortungsbewußt umgehen. Die Rückführung der Ausgaben hilft uns, die Neuverschuldung des Bundes zu begrenzen. Wir dürfen die Verantwortung für die Stabilität nicht allein der Bundesbank in Frankfurt überlassen. Die wirtschaftliche Solidität des vereinten Deutschlands ist ein Motor für die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft und die Weiterentwicklung der Europäischen Integration. Wir treten mit Nachdruck ein für die Vollendung des Europäischen Binnenmarktes, die parallele Verwirklichung der Politischen Union und der Wirtschafts- und Währungsunion, die Herstellung des europäischen Wirtschaftsraumes mit den Staaten der Europäischen Freihandelszone (EFTA). Die Bundesregierung setzt sich intensiv auch für die Erhaltung und Stärkung der freiheitlichen Welthandels- und Wirtschaftsordnung im Rahmen des GATT ein. Ich begrüße die Wiederaufnahme der Verhandlungen im Rahmen der Uruguay-Runde. Wir müssen jetzt den mutigen Schritt wagen, in Sektoren, in denen Marktwirtschaft noch nicht verwirklicht ist Strukturwandel zuzulassen. Wir müssen die Weltwirtschaft unter Wettbewerbsbedingungen weiterentwickeln, wenn wir den Rückfall in den Protektionismus vermeiden wollen. Freihandel und offene Märkte müssen als Grundlage unserer exportorientierten Wirtschaft erhalten bleiben. Ihr verdanken wir unseren Wohlstand. Unsere Unterstützung für die Landwirtschaft wäre ohne sie nicht finanzierbar. Die Kurskorrektur Richtung Markt muß im Agrarbereich jetzt gelingen. Der Handel mit Agrarprodukten darf nicht zu einer ständigen Gefährdung des Welthandels führen. Antiquierte Schutzmechanismen gilt es zugunsten marktkonformer Lösungen umzugestalten. Direkte Ausgleichszahlungen für Landschaftspflege und Umweltschutz stören die Marktkräfte weit weniger als im jetzigen System der Agrarordnung. Ich werbe deshalb für die Erkenntnis, daß es keinen Gegensatz zwischen Industrieinteressen und Landwirtschaftsinteressen gibt, sondern nur ein gemeinsames Interesse an einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft. Die anstehenden Vereinbarungen zum geistigen Eigentum, zum Marktzugang und im Dienstleistungsbereich müssen umfassend sein. Mit Teilergebnissen können wir uns nicht zufriedengeben. Hier können wir die Kraft zur politischen Führung im Interesse unseres Gemeinwohls unter Beweis stellen. Kein geringeres Gut als die Grundlagen unseres Wohlstandes steht auf dem Spiel. Unsere Deutschlandpolitik war erfolgreich, weil unsere Außenpolitik immer schon die Bürger in Mecklenburg-Vorpommern wie in Brandenburg, in Sachsen und Sachsen-Anhalt, in Thüringen und dem früheren Ost-Berlin zum Ziel hatte, ihre Freiheit und ihre Selbstbestimmung. Jetzt sind sie frei. Jetzt haben sie frei bestimmt und sich für die Einheit entschieden. Jetzt haben unsere Wirtschaftspolitik insgesamt, unser Eintreten für offene Märkte wie unsere Strategie Aufschwung-Ost wiederum die Einheit zum Ziel: die innere Einheit, den Ausgleich der Lebenschancen und Lebensverhältnisse im vereinten Deutschland. Unsere Deutschland- und Außenpolitik hat die Einheit ermöglicht. Unsere Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik wird die Einheit vollenden. Bernd Wilz (CDU/CSU): Die Bundeswehr ist in die Schlagzeilen geraten! Dies ist in einer pluralistischen Gesellschaft weder ungewöhnlich noch schädlich. Ungewöhnlich und schädlich sind lediglich die äußeren Umstände, unter denen die Bundeswehr ins Gerede gekommen ist. Äußerungen und Verhaltensweisen im Zusammenhang mit der Verlegung von Bundeswehreinheiten in die Türkei bzw. ins Mittelmeer — wenngleich von den Medien teilweise überzeichnet — haben die Frage nach Defiziten bei der Bundeswehr aufgeworfen. Wir müssen uns die Frage stellen, ob unsere Bundeswehr, die eher zur territorialen 874* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 Selbstverteidigung erzogen und ausgebildet wurde, auch dann einsatzfähig, d. h. kriegstüchtig ist, wenn als Bündnisverpflichtung Recht und Freiheit anderswo als auf unserem Boden verteidigt werden sollen. Ich will nichts über einen Kamm scheren. Die überwiegende Mehrheit der Bundeswehrangehörigen hat weder Schwierigkeiten mit ihrem soldatischen Grundverständnis noch mit der Frage der Solidarität gegenüber unseren Alliierten. Einzelstimmen und Minderheiten sorgen allzu rasch für ein falsches Bild. Die nach Erhac, Diyarbakir und ins Mittelmeer entsandten Soldaten haben treu und vorbildlich ihre Pflicht erfüllt. Die Diskussion hier im Lande hat dies nicht genügend widergespiegelt. Um so mehr schuldet das Hohe Haus diesen Soldaten Dank und Anerkennung. Gleichermaßen gilt unser Respekt den Soldaten und zivilen Mitarbeitern der Bundeswehr, die über Jahrzehnte einen wichtigen Beitrag zur Friedenssicherung geleistet haben. Die CDU/CSU bekennt sich nachdrücklich zu unseren Streitkräften. Die Bundeswehr wird auch künftig — wenngleich mit neuem Gesicht und neuen Aufgaben — unsere zuverlässige Risikoversicherung darstellen. Notwendig ist allerdings ein Umdenkungsprozeß. An dessen Ende müssen die Bereitschaft zur Übernahme einer erweiterten Sicherheitsverantwortung und ein umfassenderes Verständnis des Sicherheitsbegriffes stehen. Es ist Aufgabe der Politik, in dieser Frage klare Positionen einzunehmen und den Soldaten eindeutige Vorgaben an die Hand zu geben. Nach Auffassung der CDU/CSU ist Sicherheitsvorsorge auch in Zukunft nur innerhalb kollektiver Sicherheitssysteme möglich. Deutschland muß sich zu seiner Verantwortung innerhalb dieser Solidargemeinschaften bekennen. Für das Ausland, die deutsche Öffentlichkeit und unsere Bundeswehr muß Klarheit bestehen, was die Deutschen künftig tun wollen und können. Wer — wie Teile der Opposition — die Übernahme internationaler Verantwortung auf Blauhelme begrenzen oder gar ganz ablehnen will, muß wissen, daß er sich damit an den Katzentisch der Völkergemeinschaft setzt. Es gibt keine halbe Solidarität — es sei denn um den Preis einer Sonderrolle Deutschlands, die wir jedenfalls nicht wollen. Die jüngsten Ereignisse haben auch die Frage nach dem Für und Wider der Wehrpflicht in den Mittelpunkt gerückt. Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion will ich an dieser Stelle nochmals eindeutig unser Ja zur Wehrpflicht bekräftigen. Wir halten an der bewährten Verankerung der Streitkräfte in unserer Gesellschaft fest. Sie hat sich als vorteilhaft erwiesen und in der Bevölkerung den Gedanken des Dienstes am Gemeinwesen wachgehalten. Wehrdienst ist eine klassische Form des Dienstes an der Gemeinschaft. Wer Kriegsdienstverweigerung und Zivildienst von vornherein als die höheren moralischen Werte einstuft, leugnet das legitime Recht eines Staates zu seiner Verteidigung. Mehr noch: Er hat den objektiven Faktor militärischer Macht als Garant zur Sicherung oder Wiederherstellung von Frieden in Freiheit nicht verstanden oder will ihn nicht verstehen. Mit dem Ja zur Wehrpflicht verbindet sich für uns die klare Forderung, dem Prinzip von Wehr- und Wehrübungsgerechtigkeit noch mehr als bisher Anerkennung zu verschaffen. Wir können die Akzeptanz der Wehrpflichtarmee auf Dauer nur erhalten und weiter erhöhen, wenn wir die Gleichbehandlung aller wehrfähigen jungen Männer sicherstellen. Dies ist der Staat seinen Wehrdienstleistenden schuldig. Die Bundeswehr steht vor den größten Herausforderungen seit ihrem Bestehen. Wir wollen nicht nur die politische Verpflichtung zum Abbau auf 370 000 Mann bis Ende 1994 erfüllen. Gleichzeitig müssen die Integration ehemaliger NVA-Angehöriger vollzogen und eine umfassende Neustruktur der Bundeswehr bewältigt werden. Dabei sind zahlreiche Standortentscheidungen — auch in Abstimmung mit den Alliierten — zu treffen. Das Ergebnis all dieser Maßnahmen muß sich in eine neue NATO-Strategie einfügen lassen, die derzeit entwickelt wird und stärker als bisher das Element der Multinationalität enthalten soll. Diese gewaltigen Aufgaben werden Geld kosten. Umstrukturierungen und auch Reduzierungen sind nicht kostenlos zu haben, wenn sie für die betroffenen Menschen sozial verträglich sein sollen. Was wir heute in der Fürsorge gegenüber den Bundeswehrangehörigen versäumen, kann morgen schmerzhafte Auswirkungen auf das innere Gefüge und den sozialen Frieden in den Streitkräften haben. Dies gilt vor allem für die Soldaten in den neuen Bundesländern. Der Verteidigungshaushalt von 52,6 Milliarden DM bildet für diese Aufgaben einen engen, vielleicht zu engen Finanzrahmen. Ich darf daran erinnern, daß es Ziel der CDU/CSU war, für die Bundeswehr/West einen Verteidigungshaushalt von unter 50 Milliarden DM zu erreichen. Der jetzige Haushaltsumfang, der bezogen auf die zusätzlichen Bedürfnisse der Bundeswehr/Ost schon eine Einsparung um 7 bis 8 Milliarden DM bedeutet, muß nun für die gesamte Bundeswehr ausreichen. Aus verteidigungspolitischer Sicht sind daher mittelfristig weitere Beschneidungen des Verteidigungshaushalts kaum zu verantworten. Der Einzelplan 14 darf nicht zum Selbstbedienungsladen für andere Staatsaufgaben werden! Der Umfang des Verteidigungshaushalts ist nach außen Gradmesser des Solidarbeitrags Deutschlands zur kollektiven Verteidigung. Nach innen ist er Ausdruck der Fürsorgepflicht des Staates gegenüber seinen Streitkräften. Die von Teilen der Opposition geforderte Halbierung des Verteidigungshaushaltes bis 1994 wird weder den sicherheitspolitischen Erfordernissen unseres Landes gerecht noch läßt sie Raum für zusätzlich notwendige Leistungen wie Verifikation, Umweltschutz oder Verbesserung des sozialen Umfeldes. Im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten hat sich die CDU/CSU eine Reihe von Zielen zur Verbesserung der personellen und materiellen Struktur der Bundeswehr gesetzt. Dazu gehören vor allem: erstens die möglichst rasche Gleichstellung der Soldaten und Zivilbediensteten in den alten und neuen Bundesländern; zweitens sozial verträgliche Maßnahmen im Rahmen der Struktur- und Standortentscheidungen; drittens besondere infrastrukturelle Anstrengungen für die neuen Bundesländer. Dazu sollten mehr als Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 875* geplant Infrastrukturmittel West und aus dem Programm „Kaserne 2000" in die neuen Länder fließen. Viertens fordern wir die Fortführung des Attraktivitätsprogramms besonders zur Nachwuchssicherung. Wir wollen auch mehr Führerdichte und den schnellen Abbau des Staus bei unseren Feldwebeln. Darüber hinaus müssen mit Blick auf die Zukunft auch weiterhin ausreichende Mittel für Forschung, Entwicklung und Beschaffung bereitgestellt werden. Technologieentwicklung und Modernisierung bleiben unabdingbare Voraussetzungen für die Funktionstüchtigkeit einer motivierten Armee. Wer heute daran spart, muß morgen doppelt dafür bezahlen! Meine Damen und Herren, die NATO bleibt auch künftig der sichere Anker für unsere Sicherheitsvorsorge. Zusätzlich ist der Blick zu weiten für eine verstärkte Mitwirkung der Bundeswehr im Rahmen unserer Mitgliedschaft in anderen kollektiven Bündnissen. Die Reduzierung der Bundeswehr auf 370 000 Soldaten bedeutet einen Vorgriff auf weitere Rüstungskontrollverhandlungen. Sie stellt aus unserer Sicht für eine längere Zeit die untere Marge des Bundeswehrumfangs dar. Eine 100 000-Mann-Armee, wie von Teilen der Opposition gefordert, läßt die Risiken und Unwägbarkeiten künftiger sicherheitspolitischer Entwicklungen völlig außer acht. Unsere Bundeswehr und mit ihr die verantwortlichen Politiker stehen vor großen Aufgaben. Die CDU/ CSU nimmt diese Herausforderung an. Wir werden mit klaren politischen Vorgaben den Weg in kollektive Sicherheitsstrukturen vorzeichnen und dabei den Platz für unsere Streitkräfte bestimmen. Walter Kolbow (SPD): Die späte Stunde, zu der die Aussprache über den Verteidigungshaushalt 1991 stattfindet, ist symptomatisch für die Öffentlichkeits- und Informationspolitik des Bundesministers der Verteidigung seit seinem Amtsantritt. Ihnen, Herr Bundesminister, kommt es sicher gelegen, daß wir nicht unter den Augen der Öffentlichkeit gewissermaßen live jetzt debattieren, da Ihr Anliegen, ja möglicherweise Ihr Auftrag das Verhindern jeglicher Öffentlichkeit über die Lage der Streitkräfte ist. Gern möchte ich die Aussprache über den Einzelplan 14 beginnen mit einer der wenigen guten Nachrichten der letzten Wochen auf Ihrem Feld, Herr Minister Dr. Stoltenberg, nämlich mit der Meldung über den Abzug von NATO-Einheiten aus der Türkei und damit auch der Rückkehr unserer Soldaten aus diesem Land. Trotz aller politischen Vorbehalte gegen diesen Einsatz deutscher Einheiten möchte ich auch an dieser Stelle unseren Soldaten Dank sagen für die Art und Weise der Erfüllung dieses Auftrages. Wir konnten uns vor Kreta und in Erhac mit einer Delegation des Verteidigungsausschusses überzeugen von der positiven Haltung der Bundeswehrsoldaten und ihrer Einstellung. Trotz einer beinahe schon dramatischen Konzeptionslosigkeit der politischen Leitung des Verteidigungsministeriums, trotz mangelhafter Unterstützung durch die Türkei als „host nation" haben unsere Soldaten ihre Aufgabe beispielhaft erfüllt. Ich nehme dieses aber auch zum Anlaß, für den Einsatz von Bundeswehrsoldaten außerhalb Deutschlands möglichst bald Rechtssicherheit anzumahnen. Wir dürfen unsere Soldaten in der Frage der Rechtsstaatlichkeit ihres Einsatzes und in der möglichen Gewissensnot bei der Anwendung von militärischer Gewalt nicht alleine lassen. Unserem Marinesuchverband, der dieser Tage zur Erfüllung einer humanitären Aufgabe in den Golf unterwegs ist, wünschen wir alles Gute und eine glückliche Heimkehr. Der Golfkrieg hat uns dramatisch mit der Tatsache konfrontiert, daß nach den tiefgreifenden Veränderungen der sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen in Europa vieles in unserer Verteidigungspolitik nicht mehr stimmt. Deutschland gewinnt mit dem Zusammenwachsen Europas seine zentralstrategische Lage in der Region zurück. Erstmals in der neueren Geschichte ist unser Land dabei von Verbündeten und solchen Staaten umgeben, die sich uns politisch und wirtschaftlich rasch annähern und militärischen Ausgleich in einem europäischen Sicherheitssystem suchen. Wir wissen: Unser Land wird militärisch nicht mehr unmittelbar bedroht. Spätestens seit dem Golfkrieg ist uns sehr bewußt geworden, daß wir uns deutsche Nabelschau künftig ebensowenig werden leisten können wie selbstgenügsamen Eurozentrismus. Jetzt rücken die Probleme und Konflikte in den Vordergrund, die allzu lange unbeachtet und vor allem ungelöst blieben. Auch die militärische Führung war fixiert auf das immer wieder Geübte: Rot greift Blau über Finnland oder Österreich an und muß gestoppt werden — wenn notwendig mit dem Ersteinsatz von Nuklearwaffen auf ostdeutsche und osteuropäische Städte. Es war die Stunde von Wintex/Cimex. Keine Rede von einer möglichen horizontalen Eskalation außerhalb Europas oder gar im Nahen Osten; keine Rede von Krisenmanagement in solchen Fällen. Unsere Fragen hierzu blieben auch im Gemeinsamen Ausschuß stets unbeantwortet. Angesichts neuartiger Gefährdungen der Menschheit brauchen wir ein erweitertes, eben internationales Verständnis von Sicherheit. Das Elend in Ländern der Dritten Welt, die gewaltige Verschuldung vieler Entwicklungsländer, Umweltkatastrophen, Flüchtlingsströme und der immer noch weitgehend unkontrollierte Waffenhandel zeigen uns, daß Sicherheit nicht mehr länger in erster Linie ein militärischer, sondern vielmehr ein politischer Begriff ist — Sicherheit ist eben nurmehr gemeinsam möglich, so wie wir Sozialdemokraten dies vor der Entspannung in Europa bereits festgestellt und damit auch Abrüstung zumindestens mitbewirkt haben. Unter dieser Prämisse erscheint uns ein Verteidigungshaushalt von über 50 Milliarden DM mehr denn je als überhöht. Dabei ist uns sehr bewußt, daß vor allem Abrüstungs- und Konversionskosten zusätzlich zu Buche schlagen werden. Unser Nahziel ist daher, den Verteidigungshaushalt auf unter 50 Milliarden DM zu senken und damit weitere 3 Milliarden DM einzusparen. Wir haben hierzu konkrete Vorschläge erarbeitet. Die großen Herausforderungen und Aufgaben für die nächsten Jahre haben sich auch in der Verteidigungspolitik von Grund auf verändert. Es sind dies: Drastische Verringerung der Umfangszahlen, Neu- 876* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 strukturierung der nun gesamtdeutschen Streitkräfte für aktuelle und künftige Aufgaben, Bewältigung der Abrüstungsfolgen, Standorte- und Rüstungskonversion. Der Generalinspekteur sagte bei der 32. Kommandeurtagung: „Nach der Wiedervereinigung steht die Bundeswehr vor der größten Reform seit ihrer Gründung. Sie kommt fast einem Neubeginn gleich." Dieses ist fürwahr eine treffliche Lagebeurteilung. Doch was macht der Bundesminister der Verteidigung daraus? Wer nun glaubte, der von der Bundesregierung vorgelegte Einzelplan 14 dieses Bundeshaushaltes würde diese Erkenntnisse aufnehmen und umsetzen, der sieht sich in der Tat getäuscht. Die Philosophie dieses Haushaltentwurfes heißt vielmehr: Fortführen des Begonnenen, globale Minderausgaben statt Schwerpunktbildung. Das Fazit ist: Hier wird nicht neugestaltet, hier wird wider bessere Erkenntnis nur verwaltet. Dies ist keine Politik, sondern Ausdruck der Hilflosigkeit gegenüber den Problemen und Folge einer gedankenlosen Unbekümmertheit, mit der die Bundesregierung insgesamt an die großen Gegenwartsaufgaben herangegangen ist. Wir treten für Umschichtungen ein, die klare Schwerpunkte setzen; wir treten für Kürzungen ein, die dafür die erforderlichen Finanzmittel freimachen können. Die aktuellen Herausforderungen können nicht mit halbherzigem Krisenmanagement unter Ausschluß der Öffentlichkeit bewältigt werden. Eine auf 370 000 Soldaten schrumpfende Bundeswehr muß entschlossen umstrukturiert und neu gegliedert werden, sie muß anders ausgerüstet werden, sie muß einen neuen Auftrag bekommen auf der Grundlage der unveränderten Wertebestimmung unserer Verfassung! Der vorliegende Einzelplan 14 wird dieser Forderung nicht gerecht, da die bisherigen Ausrüstungs- und Rüstungsprogramme nur fortgeschrieben werden. Sie, Herr Bundesminister, haben es zu verantworten, daß wie in den vergangenen Jahren auch in diesem Haushalt wieder der Jäger 90 mit 800 Millionen DM zu Buche schlägt. Und dies, obwohl das europäische Jagdflugzeug 90 wahrscheinlich nie in die Produktion gehen wird. Wären Sie unseren Vorschlägen der vergangenen Jahre gefolgt, hätten durch Streichung des Jäger 90 schon weit mehr als 5 Milliarden DM eingespart werden können. Gerade die Freien Demokraten spitzen hier wie in anderen Fällen ständig den Mund, pfeifen aber nicht. Das Heer reduziert seine Brigadezahl von 42 auf 28. Dieses ist eine gute Entscheidung, ist sie doch der sicherheitspolitischen Entwicklung angemessen. Warum aber, so frage ich, brauchen wir noch etwa 20 mechanisierte Brigaden mit insgesamt über 4 000 Kampfpanzern, wenn rings um uns künftig nur noch befreundete demokratische Staaten sein werden? Obwohl dieses so ist, sind in diesem Haushaltsentwurf noch über 1 Milliarde DM für die Beschaffung von Kampffahrzeugen angesetzt. Die Beschaffung von Munition verschlingt die Riesensumme von über 2 Milliarden DM. Hier liegt unseres Erachtens noch beachtliches Sparpotential. Die Bewilligung von Mitteln für das Entwicklungsprojekt Panzerabwehr-Hubschrauber 2 erscheint uns nicht plausibel. Dieses mag daran liegen, daß es der Bundesregierung bisher nicht gelungen ist, einen vernünftigen Auftrag für die künftigen deutschen Streitkräfte zu formulieren. Wir werden jedoch die vielpropagierte Luftbeweglichkeit so nicht mitmachen. Schon gar nicht sind uns die voraussichtlich enormen Kosten einer künftigen Luftmechanisierung einsichtig. Für diese Rüstungsprojekte gibt es derzeit kein vernünftiges militärisches Konzept und keine sicherheitspolitische Rechtfertigung. Hier wird aus politischen und wirtschaftlichen Erwägungen Geld verteilt, das wir für andere Aufgaben dringend benötigen. Wir fordern die Streichung bzw. drastische Kürzung dieser abrüstungspolitisch schädlichen, sicherheitspolitisch unnötigen und für eine seriöse Streitkräfteplanung nicht erforderlichen Mittel. Wir fordern die Umschichtung von Mitteln zugunsten der dringend erforderlichen Baumaßnahmen und Sanierungsaufgaben in den neuen Bundesländern, z. B. aus den Ausgaben für die NATO-Infrastruktur und aus dem Attraktivitätsprogramm. Baumaßnahmen in den alten Ländern müssen gestoppt oder zumindest gestreckt werden, um für die Soldaten im Osten zumutbare Verhältnisse zu schaffen. Gleiche Lebensbedingungen in Deutschland heißt auch gleiche Bedingungen für die Soldaten in Ost und West. Durch globale Minderausgaben, insbesondere durch Kürzung der extrem hohen Betriebsausgaben müssen umfangreiche Mittel für die Verbesserung der Infrastruktur und zur Unterstützung der Kommunen geleistet werden. Mein Kollege Neumann aus Gotha wird hierzu im einzelnen sprechen. Es ist zu prüfen, ob weitere Mittel zugunsten der Standortkonversion und zur Beseitigung von Altlasten umgeschichtet werden können. Beide wichtigen Themen werden von der Bundesregierung und hier vom Bundesminister der Verteidigung absolut unzureichend behandelt. Von der Verringerung der Streitkräfte, sowohl der Bundeswehr als auch der Stationierungsarmeen, werden viele Soldaten, zivile Beschäftigte, Städte, Gemeinden und Regionen betroffen. Sie, Herr Bundesminister der Verteidigung, vermeiden hartnäckig den gesellschaftlichen Dialog zur Beantwortung wichtigster Fragen, wie: — Was kommt nach dem Militär in den bisherigen Standorten, wenn Divisionsstäbe, Brigadestäbe, Bataillone, Geschwader und andere Einheiten abziehen? — Wie bewältigen wir die Folgen der Truppenreduzierung? — Wie gelingt uns die Umstellung der bislang militärisch genutzten Ressourcen und Dienstleistungen in zivile Verwendung, damit zum einen die Chancen, die in der Abrüstung liegen, genutzt werden können und damit zum anderen die wirtschaftlichen Folgen der Abrüstung gedämpft werden? Mit einem Satz: Wie planen wir sozialverträglich für die betroffenen Menschen, Kommunen und Regionen die Standortekonversion? Was verstehen Sie unter Sozialverträglichkeit, Herr Bundesminister? Erklären Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 877* Sie, daß Sie gewillt sind, für Besitzstandwahrung der betroffenen Soldaten und Zivilbeschäftigten einzutreten. Erklären Sie, daß es keinem Soldaten oder Zivilbeschäftigten schlechter gehen soll als bisher. Erklären Sie, daß Sie Sozialpläne für jede einzelne Dienststelle entwickeln werden. Und erklären Sie schließlich, daß Sie einen nationalen Sozialplan für die Standortekonversion im Bundeskabinett nicht nur vorschlagen, sondern auch verwirklichen wollen. Um hier richtige Positionen beziehen zu können, bedarf es einer vollständigen Transparenz in den militärischen Angelegenheiten, die insbesondere wirtschaftliche Komponenten haben, und umfassender, frühzeitiger Information der politisch Verantwortlichen, auch des Verteidigungsausschusses, der Betroffenen und Beteiligten durch die Bundesregierung und durch Sie, Herr Bundesminister! Leider weigern Sie sich, Herr Dr. Stoltenberg, die Auswirkungen der Abrüstung und der damit verbundenen Verkleinerung oder Auflösung von Garnisonen öffentlich und mit den Betroffenen zu diskutieren. Sie nennen keine Zahlen für Soldaten und Zivilbedienstete, die betroffen sein werden, Sie nennen keine Standorte und haben kein Konzept für den Verminderungs- und Konversionsprozeß. Ein weiteres Mal hoffen Sie, über einen wichtigen Wahltermin, nämlich den 21. April 1991, im stark betroffenen Bundesland Rheinland-Pfalz zu kommen. Dabei gilt hier der Grundsatz: Je früher Tatsachen offengelegt werden, desto leichter können sich alle Beteiligten darauf einstellen und planen! Die SPD fordert seit Beginn dieser Entwicklung ein Konversionsprogramm, das den wirtschaftlichen Folgen von Abrüstung, Truppenreduzierungen und Standortauflösungen Rechnung trägt und einen Ausgleich vorsieht. Wir verlangten dies bereits Anfang des Jahres 1990 im Zusammenhang mit der frühzeitigen Einbindung aller Betroffenen in diesen Prozeß. In unserem Regierungsprogramm, das uns auch in der Opposition verpflichtet, werden regionale Strukturprogramme für betroffene Gebiete — unter anderem dotiert mit freiwerdenden Mitteln aus dem Verteidigungsetat — vorgesehen. In vielen Fachkonferenzen über die Standortkonversion in den Bundesländern haben wir die Unsicherheit verspürt. Mühevoll haben wir uns Zahlen über die Soldaten und Zivilbeschäftigten in den militärischen Standorten, Aussagen über das Profil der Beschäftigten und ihrer Arbeitsplätze, über die Altersstruktur, über die Wirtschaftskraft der Streitkräfte und die Abhängigkeiten von Dienstleistungen aller Art besorgt. Dies hilft uns, die Fördergebiete, ihre Förderkulisse und die daraus resultierenden Förderungsmittel besser beurteilen zu können. Gegen Ihre Verschleierungstaktik, Herr Dr. Stoltenberg, mußten wir angehen, damit die Bekanntgabe der Pläne über den Abbau und die Umorganisation von Bundeswehrstandorten forciert und schließlich wieder Sicherheit für Arbeits-, Lebens- und Wirtschaftsplanungen der betroffenen Menschen und Regionen geschaffen wird. Die Soldaten und Zivilbeschäftigten sind nämlich nicht so unmündig und passiv, wie Sie offensichtlich vermuten. Vielleicht empfinden sie die Konversion und Reduzierung auch als Chance, ihre bisherige Lebensplanung zu verändern. Sie wollen ihr Schicksal in die Hand nehmen und nicht der Bürokratie im BMVg überlassen. So kann ich nur meinen Appell wiederholen: Informieren Sie lieber schnell als später vollständig! In der Armee ist es inzwischen ein geflügeltes Wort: Der Mensch steht im Mittelpunkt und damit allen im Wege. Jeder weiß, daß bis 1994 militärisches und ziviles Personal in großem Umfang abgebaut werden muß. Vielleicht sage ich Ihnen etwas Neues: Aussteuern und Umsetzen von Personal kostet Geld. In diesem Haushaltsentwurf ist noch nirgendwo ein Hinweis auf die Kosten des im Entwurf schon existierenden Personalstrukturgesetzes. Die Anhebung der Gehälter in den neuen Bundesländern auf Westniveau wird sich nicht dadurch vermeiden lassen, daß man sie nicht in den Haushaltsentwurf aufnimmt. Allen ist bekannt, daß die Bezüge noch in diesem Jahr auf 60 % der vergleichbaren Westgehälter angehoben werden müssen. Auch dieses ist im Haushalt nicht vorgesehen. Auch hier finden wir einen deutlichen Beweis für die Konzeptionslosigkeit der Bundesregierung: Während im Westen in Kürze Stellen in erheblichen Umfängen abgebaut werden müssen, werden derzeit im Osten im großen Stil Stellen angehoben. Der Verdacht drängt sich auf, daß hier an dem Erfordernis vorbei in einer unübersichtlichen Lage noch schnell Karrieren gezimmert werden, die nicht gerechtfertigt sind. Obwohl im Verteidigungshaushalt das Geld an allen Ecken und Enden fehlt, scheut sich diese Bundesregierung nicht, über 640 neue Planstellen für Soldaten und Beamte aus dem Westen zu fordern, die als Führungspersonal für den Aufbau der Bundeswehr im Osten vorgesehen sind, davon allein 14 Generale, 292 Obristen und Oberstleutnante und 77 Stellen für Zivilpersonal im höheren Dienst. Und dies erfolgt alles vor dem Hintergrund der umfangreichsten Personalreduzierung der Bundeswehr, die man sich nur vorstellen kann; dies erfolgt, so grotesk es auch anmutet, parallel zu einem in Arbeit befindlichen Personalverminderungsgesetz. Sollen hier Leute nochmals befördert werden, um sie kurz darauf in den vorzeitigen Ruhestand zu schicken? Warum gehen Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, so großzügig mit den Steuermitteln unserer Bürger um, so müssen Sie sich fragen lassen. Wir Sozialdemokraten fordern, daß stattdessen im Haushalt 1991 sichergestellt wird, daß alle Portepeeunteroffiziere vor ihrem Ausscheiden zum Stabsfeldwebel befördert werden können. Der Haushalt für 1991 sieht auch wieder keine einzige Planstelle A 13g für Offiziere des militärfachlichen Dienstes vor, obwohl bereits im letzten Haushalt der Verteidigungsausschuß dies beschlossen hatte. In den übrigen Verwaltungen gibt es bei vergleichbaren Tätigkeiten bereits die Möglichkeit, die Besoldungsstufe A 14 g zu erreichen. Den Soldaten verweigert man nach wie vor mit fadenscheinigen und absolut nicht stichhaltigen Gründen das Erreichen der Besoldungsstufe A 13 g. Wir Sozialdemokraten fordern die erforderlichen Planstellen im Haushalt 1991. Auch bei den zivilen Mitarbeitern der Bundeswehr vermissen wir im Haushalt die notwendigen Verbesserungen im Bereich des mittleren und gehobenen Dienstes. Auch das hat mit einer sozialen Politik nichts zu tun. Wir jedenfalls werden in der Kontinuität unserer so- 878* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 zialen Forderungen für die Streitkräfte bleiben. Daher werden wir das Thema Dienstzeitbelastung wieder auf die Tagesordnung dieser Legislaturperiode setzen und darauf drängen, daß eine gesetzliche Regelung der Dienstzeit auch für Soldaten endlich eingeführt wird. Auch die Frage der Beteiligungsrechte werden wir wieder aufnehmen und unseren leider zum Ende der letzten Legislaturperiode abgelehnten Gesetzentwurf wieder einbringen. In Europa sind wir auf dem Wege internationaler Zusammenarbeit und Übertragung souveräner Rechte auf multinationale Institutionen schon ein gutes Stück vorangekommen. Die SPD ist für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Gemeinschaft. Dies kann am Ende auch gemeinsame europäische Streitkräfte bedeuten. In allen Parteien, in den Medien und in der Bevölkerung wird eine heftige Debatte geführt über die künftige Rolle Deutschlands im Rahmen von Aktionen der Vereinten Nationen. Wir stehen unter erheblichem internationalen Druck zugunsten einer Entscheidung für mehr internationales militärisches Engagement. Im Rahmen einer Fortschreibung des Grundgesetzes muß diese Frage geklärt werden. Vor einer Entscheidung wollen wir jedoch darüber eine breite gesellschaftliche Diskussion führen. Dabei wird eine Rolle spielen, daß der Gewaltverzicht Deutschlands bei den Bürgerinnen und Bürgern tief verwurzelt ist. Andererseits wissen wir, daß die Weltorganisation nicht völlig auf Zwangsmittel verzichten kann. Wir wollen diese Debatte in großer Ernsthaftigkeit und dem Friedensgebot unserer Partei verpflichtet mit der Öffentlichkeit führen. Ich möchte an dieser Stelle die Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition nachdrücklich auffordern: Brechen Sie eine solche Entscheidung nicht über's Knie. Was wir brauchen ist eine neue Legitimationsbasis für unsere Streitkräfte. Eine Verfassungsänderung muß von einer überzeugenden Mehrheit der Bevölkerung getragen werden. Hierfür werden wir die politischen Bedingungen definieren müssen, unter denen die Bundesrepublik als Mitglied der Vereinten Nationen nötigenfalls auch einen militärischen Beitrag zur Friedensbewahrung oder Friedenswiederherstellung im Rahmen der UNO leisten sollte. Es wird weiterhin zu prüfen sein, wie das Grundgesetz bzw. die zukünftige deutsche Verfassung diese politisch gewollte Entscheidung hinreichend präzise begrenzen kann, um Mißbrauch auszuschließen. Auf dieser Basis lassen sich auch Einzelfragen aus dem Spannungsfeld Wehrpflicht, allgemeine Dienstpflicht, Wehrgerechtigkeit sowie Auftrag und Umfang künftiger deutscher Streitkräfte sehr viel leichter lösen. Meine Damen und Herren, der vorliegende Etatentwurf wird den tiefgreifenden Änderungen der Außen- und Sicherheitspolitik nicht gerecht. Er bietet keine Grundlage für einen Umbau unserer Streitkräfte, der sich an den drastisch veränderten strategischen und operativen Gegebenheiten orientiert. Unsere Bundeswehr muß nicht nur umstrukturiert und neu gegliedert werden. Was das eigentliche Defizit ist: Nach dem Wegfall der Ost-West-Konfrontation hat unsere Bundeswehr keinen konkreten und plausiblen Auftrag. Und hier liegt das Grunddilemma dieses Etatsentwurfs: Wenn der politische und strategische Überbau fehlt, kann eigentlich nicht neu strukturiert werden und sind Rüstungsprogramme reine Makulatur. Was aber tut die Bundesregierung? Was tun Sie, meine Damen und Herren, von der Koalition? Man hält sich bedeckt! Man sitzt aus! Man wartet, bis in den internationalen Gremien vorgedacht wird. Man tastet im nationalen Bereich mit der Stange im Nebel, wo Führung und Gestaltungskraft gefordert sind. So schickt z. B. die CDU ihren Generalsekretär Volker Rühe als Minenhund mit der Bemerkung vor, die Bundeswehr solle im Rahmen der Westeuropäischen Union künftig zur Wahrung europäischer Interessen auch außerhalb Europas eingesetzt werden können, „wenn es" , so Rühe wörtlich, „beispielsweise um die Herstellung internationalen Rechts" gehe. Was sind denn europäische Interessen? Wo ist die Grenze zu Interessen eines europäischen Partnerlandes? Hier ist die Bundesregierung aufgefordert, endlich Klarheit in die Diskussion zu bringen. Zunächst müssen unsere Sicherheitsinteressen klar und eindeutig definiert werden. Was dann den militärischen Anteil unserer Sicherheitspolitik anbelangt, wollen wir, meine Damen und Herren, der Bundeswehr die Mittel und die Möglichkeiten, die sie zur Erfüllung des von uns, vom Deutschen Bundestag gestellten Auftrages braucht, nicht verweigern. Lassen Sie uns dieses gemeinsam in die richtige Reihen- und Prioritätenfolge bringen und uns der Verantwortung bewußt sein, daß Haushaltsgelder, die anderenorts viel dringender gebraucht werden, nicht für unsinnige Programme und überholte Projekte ausgegeben werden dürfen. Erst dann können wir auch die innere Krise, die Desorientierung und Motivationsdefizite in der Truppe überwinden. Unser gemeinsames Ziel muß sein, eine friedens- und abrüstungsorientierte Sicherheitspolitik zu definieren und eine entsprechend den verteidigungspolitischen Erfordernissen richtig strukturierte und gerüstete Bundeswehr als zuverlässiges Instrument dieser Politik zu ermöglichen. Wenn wir dann noch einen hohen Akzeptanzgrad für den Auftrag unserer Streitkräfte in der Bevölkerung erreichen, kann man auch in Etatforderungen umsetzen, was unsere Sicherheit und damit dem Frieden dienlich ist. Carl-Ludwig Thiele (FDP): Als ich im letzten Jahr für den Deutschen Bundestag kandidierte, hatte nicht nur ich, sondern hatten auch große Teile der Bevölkerung das Gefühl, daß das Zeitalter der Bedrohungen beendet sei und das Zeitalter des Friedens Einzug halten werde. Auf grausame Weise sind wir dann ja alle von dem Golfkrieg zunächst eines anderen belehrt worden. Ich hatte damals gewünscht, daß die Sanktionen und die politischen Bemühungen zum Erfolg, nämlich einem Abrücken der irakischen Armee aus Kuwait führen. Rückblickend muß ich feststellen, daß diese Sanktionen wohl nicht zum Erfolg führen konnten, da Saddam Hussein sein Volk so unterdrückte und heute noch unterdrückt, daß auch eine Not im Volk den Sturz des Diktators nicht hätte herbeiführen können Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 879* und offensichtlich auch jetzt noch nicht herbeiführen kann. Dieser Krieg hat aber auch gezeigt, daß für die Bewahrung von internationalem Recht, Frieden und Freiheit notfalls gekämpft werden muß. Ich möchte an dieser Stelle den Streitkräften der Alliierten danken. Dank möchte ich auch unseren Soldaten aussprechen, die in der Türkei und im Mittelmeer gezeigt haben, daß wir Teil der NATO sind und zu unseren Bündnisverpflichtungen stehen. Ich möchte an dieser Stelle aber nicht unerwähnt lassen, daß unser Grundgesetz uns mit gutem Grund enge Schranken für den Einsatz der Bundeswehr auferlegt hat. Nach unserer Auffassung besteht der Auftrag unserer Streitkräfte darin, Kriege zu verhindern und Frieden zu bewahren. Friedenspolitik ist deshalb die beste Verteidigungspolitik. Friedenspolitik ist deshalb auch die liberale Gestaltung der Außenpolitik, denn der Frieden ist die unabdingbare Voraussetzung für ein Leben in Freiheit und Menschenwürde. Liberale tragen seit 1969 die Verantwortung für die deutsche Außenpolitik. Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher haben hierfür in der sozial-liberalen wie auch in der christlich-liberalen Regierung gekämpft und gearbeitet. Diese Friedenspolitik auf der Grundlage von Solidarität und Vertrauen in einem Bündnis demokratischer Staaten führte zu den internationalen Menschenrechts- sowie Abrüstungskonferenzen. Auf Grund des Erfolgs dieser Konferenzen und auf Grund der durch Generalsekretär Gorbatschow ermöglichten tiefgreifenden Veränderungen im Osten, im Ost-West-Verhältnis sowie in dem nunmehr wiedervereinten Deutschland müssen bei uns in der Bundeswehr bisherige Konzepte und Strukturen überdacht und neu definiert werden. Dieser Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 1991 trägt dem schon Rechnung. Die nächsten Haushalte werden es ebenfalls tun. Wenn man sich ansieht, daß der gesamte Haushalt der Bundesrepublik 300 Milliarden DM in 1990 auf gut 400 Milliarden DM in 1991 gestiegen ist, so findet man in diesen Zahlen die deutsche Einheit und die um ein Drittel größer gewordene Bundesrepublik augenfällig wieder. Der Verteidigungshaushalt ist demgegenüber nicht gestiegen, sondern sogar gesunken. Gegenüber dem Haushaltsansatz für die Bundeswehr Ost und West von gut 60 Milliarden DM wurden rund 7,5 Milliarden DM eingespart. Unsere Bundeswehr hatte 495 000 Mann; die NVA hatte 170 000 Mann. Hinzu kamen auf dem Gebiet der alten DDR mehr als 400 000 Mann Betriebskampfgruppen bzw. paramilitärische Verbände. Ohne diese Verbände ergibt sich, daß es vor der deutschen Einheit 665 000 deutsche Soldaten gab. Die Gesamtstärke soll stufenweise auf 370 000 Mann, mithin etwas mehr als die Hälfte, innerhalb von nur vier Jahren bis Ende 1994 gesenkt werden. Da diese Senkung nicht sofort durchgeführt werden kann, haben wir einen Verteidigungshaushalt vorliegen, der so personalintensiv ist, wie noch nie einer war. 48 % werden für Personal ausgegeben. Dies ist ein Anteil, der nur als Übergang in dieser Höhe bestehen kann. An diesen Zahlen wird deutlich, daß der Verteidigungshaushalt 1991 einen Einschnitt in die europäische und die deutsche Politik markiert. Vor allem ist dies ein Einschnitt in Umfang und Struktur der Bundeswehr. Die von der FDP in diesem Hohen Hause unter Berücksichtigung der gesamtpolitischen Entwicklung schon in der 11. Legislaturperiode als verantwortbar geforderte Trendumkehr bei Verteidigungsausgaben unseres Landes nimmt nun konkrete Formen an. Die Verschiebung der Schwerpunkte im Einzelplan 14 kennzeichnet den Umbruch, der sowohl die angestrebte Verkleinerung der Bundeswehr insgesamt wie vor allem die Integration des östlichen Teils — der ehemaligen NVA — personell und materiell verkraften muß. Ein wesentliches Problem besteht in diesem Haushalt auf dem Gebiet der Bundeswehr Ost. Ich hatte noch Dienstag letzter Woche die Möglichkeit, dort Besichtigungen vorzunehmen und Gespräche zu führen. Unser Ziel muß es sein, aus dem Bereich der Bundeswehr Ost und dem Bereich der Alt-Bundeswehr — die in den neuen Bundesländern „Original-Bundeswehr" bezeichnet wird — eine einzige Bundeswehr zu werden. Dies setzt voraus, daß Vertrauen geschaffen wird. Das ist besonders deshalb erforderlich, weil das kommunistische System der SED das Land und die Menschen ausgeplündert hat, um sich hochzurüsten. Lassen Sie mich hierzu einige Zahlen nennen, die einen Teil der Problemlage verdeutlichen: Ca. 250 000 t Munition müssen entsorgt werden. Nach Ratifizierung der Wiener Verträge sind ca. 11 000 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge zu vernichten. Von ca. 100 000 vorgefundenen Fahrzeugen sind 70 000 Fahrzeuge auszusondern. Bei der Summe der übernommenen Liegenschaften müssen im erheblichen Umfang Wachdienste geschoben werden. Ein kurzfristig erreichbarer Schwerpunkt muß darin liegen, von der Bewachung auf den Dienst und die Ausbildung übergehen zu können. Dies ist auch wichtig für die Motivation der Bundeswehr im Osten. Vergleicht man ferner die räumliche Unterbringung der Soldaten in den neuen Bundesländern, so wird offensichtlich, daß hier direkter und konkreter Handlungsbedarf besteht. Küchen und Sanitätseinrichtungen sowie die Unterkünfte sind vorrangig herzurichten. Auf Grund der altertümlichen und enorm personalintensiven Heizanlagen sind auch in diesem Bereich schleunigst Verbesserungen herbeizuführen. Es sollte alles getan werden, damit die hierfür vorgesehenen Mittel in der Größenordnung von mehreren hundert Millionen DM sofort eingesetzt werden, damit gröbste Mißstände beseitigt werden. Man muß sich vor Augen führen, daß man hier mit relativ geringen Mitteln ein Maximum an Erfolg und Verbesserung erreichen kann. Diese Aufträge sollten insbesondere an ortsansässige kleinere Unternehmen und Handwerker vergeben werden. Dieses kann dann gleichzeitig zu gewünschter Beschäftigung in den neuen Bundesländern führen. 880* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 Ein ganz wesentliches Ziel von uns allen muß es sein, in den neuen Bundesländern Vertrauen in und für die Bundeswehr zu schaffen. Dieses setzt voraus, daß die innere Führung in der Bundeswehr gerade in den neuen Bundesländern gilt. Es muß deutlich werden, daß es in der Bundeswehr zu den besonderen Pflichten des Vorgesetzten gehört, Würde und Rechte des Soldaten zu respektieren, durch eigene Haltung und Pflichterfüllung innerhalb und außerhalb des Dienstes ein Beispiel zu geben und von seiner Befehlsgewalt im Bewußtsein seiner Verantwortung Gebrauch zu machen. Diese Tradition der inneren Führung in unserer Bundeswehr muß fortgesetzt werden. Es muß deutlich werden, daß in unserem Staat Soldaten Rechte auch gegenüber Vorgesetzten haben. Ich begrüße es, daß von den Generälen der NVA niemand und von den gut 2 200 Obersten lediglich 80, teilweise unter erheblicher Herabstufung, befristet von der Bundeswehr übernommen wurden. Man muß sich immer wieder vor Augen führen, wie kopflastig und funktionärsartig die NVA aufgebaut war: Bei der Bundeswehr gab es für 100 Mannschaftsdienstgrade ca. 12 Offiziere, bei der NVA 32. Lassen Sie mich an dieser Stelle einen Punkt nennen, der noch diskutiert werden muß: Wehrpflichtige in den neuen Bundesländern erhalten 250 DM Weihnachtsgeld und 500 DM Entlassungsgeld. Wehrpflichtige in der alten Bundesrepublik erhalten 380 DM Weihnachtsgeld und 2 500 DM Entlassungsgeld. Da Wehrpflichtige nach meiner Auffassung nicht mit normalen Bediensteten gleichgestellt werden dürfen und auch nicht so einzustufen sind, sondern etwas anderes darstellen, sollte diese unterschiedliche Behandlung im Westen und im Osten Deutschlands aufgegeben und eine einheitliche Regelung gesucht werden. Für mögliche Zusatzausgaben ist eine kostenneutrale Deckung im Einzelplan zu suchen. Lassen Sie mich abschließend für die FDP feststellen, daß nach unserer Auffassung die Bundeswehr im Rahmen der künftigen europäischen Sicherheitspolitik einen wichtigen Beitrag leisten muß und leisten wird. Für mich als neuen Abgeordneten ist es eine besondere Herausforderung, in dieser Zeit als Berichterstatter der FDP für den Verteidigungsetat im Haushaltsausschuß tätig zu sein. Wenn politische Tätigkeit Gestalten und nicht nur Verwalten bedeutet, dann liegen sehr politische Jahre vor uns. Andrea Lederer (PDS/Linke Liste): Wer heute abend die Nachrichten verfolgen konnte, durfte feststellen: Noch bevor hier die Debatte um den Verteidigungshaushalt begonnen hat, fordert Verteidigungsminister Stoltenberg weitere 16,5 Milliarden DM für Neuinvestitionen! Die Kosten für den Minensuchbooteinsatz sind im jetzt vorgesehenen Haushalt auch noch nicht enthalten. Das sind aktuelle Beispiele für die Uferlosigkeit dieses Rüstungshaushaltes. Nicht ohne Grund hatten wir die Verschiebung der Haushaltsdebatte beantragt und als Debattenort Berlin vorgeschlagen. Gerade der Entwurf des Verteidigungshaushaltes rechtfertigt und begründet unseren Antrag. Es zeugt von Demokratieverständnis dieser Regierung, daß den Volksvertreterinnen am Freitag der Vorwoche der mehrere hundert Seiten dicke Haushalt zugeleitet wird, der vier Tage später im Plenum verhandelt werden soll. Die ernsthafte und gründliche Auseinandersetzung mit diesem Haushaltsteil hätte Zeit und umfassende Erläuterungen seitens der Bundesregierung benötigt. Kaum ein anderer Teil des Haushaltsentwurfs vermag so drastisch den Menschen in den sogenannten fünf neuen Ländern vorzuführen, welcher Stellenwert ihrer sozialen und wirtschaftlichen Katastrophe beigemessen wird. An die Adresse des Kollegen Schulz vom Bündnis 90. Gerade auf Grund Ihrer Sympathien für den Inhalt des Antrages halte ich es für wenig nachvollziehbar, diesen mit formaler Argumentation abzulehnen, zumal da der Inhalt offensichtlich nicht schwer zu erfassen war. Ich hätte mir gewünscht, im Jahre 5 nach Einleitung der außen- und sicherheitspolitischen Perestroika in der Sowjetunion und im Jahre 2 nach der Wende in der DDR, kurz: nach dem Ende des Kalten Krieges, zu etwas Erfreulicherem als einem gigantischen Rüstungshaushalt reden zu können. Allein die Existenz des Einzelplans 14 und weiterer offener und versteckter Militärausgaben in anderen Einzeltiteln des Haushalts ist nicht nur ein Ärgernis, sondern beredtes Zeugnis alten Denkens dieser Bundesregierung. Dieses alte Denken setzt sich bei der veranschlagten Höhe der militärischen Ausgaben fort. Während der Öffentlichkeit Verteidigungsminister Stoltenberg quasi am Bettelstab hinkend vorgeführt wird, während von angeblich drastischer Kürzung des Rüstungshaushalts die Rede ist, ergibt sich für 1991 ein Betrag an Finanzmitteln für militärische Zwecke in einer Höhe von über 66 Milliarden DM. Die Gruppe der PDS/Linke Liste macht nämlich die regierungsamtliche Trennung bei den Militärausgaben zwischen den direkten Mitteln für das Verteidigungsministerium und den Mitteln zur Unterstützung des Golfkriegs nicht mit. Dabei sind in dem von mir genannten Betrag weitere militärische Ausgaben noch nicht enthalten: die Rüstungssonderhilfen und NATO-Verteidigungshilfen, die Versorgungsbezüge der Soldaten der Bundeswehr, die Wehrstrafgerichtsbarkeit und anderes. Die realen Ausgaben der BRD im Jahr 1991 für militärische Zwecke dürften weit über dem offiziell eingeräumten Milliardenbetrag liegen. Das ist ein neuer bundesdeutscher Rekord, traurig und zynisch zugleich. Denn mit diesem militärischen Gesamtetat wurde und wird nicht mehr nur der Kalte Krieg, sondern zum ersten Mal in dieser Größenordnung zugleich ein heißer Krieg mitfinanziert. Unter dem Titel „Allgemeine Finanzverwaltung" findet sich der Posten „Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Golfkrieg", der mit einem Betrag von angekündigt insgesamt rund 17 Milliarden DM die Mitverantwortung der Bundesregierung an dem verheerenden Krieg der USA im Nahen Osten symbolisiert. „Allgemeine Finanzverwaltung" — soll das eindeutige Kriegsfinanzierung zur allgemeinen unspektakulären Normalität deklarieren? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 881* In diesem Kontext ist noch einmal auf das Thema Kriegssteuer einzugehen, denn Finanzminister Waigel hat hier gestern dankenswert offen den Charakter der Steuer dargelegt. Er sagte: Wären nicht die Kriegsausgaben anläßlich des Golfkrieges entstanden, so gäbe es im Frühjahr 91 keine Steuererhöhung: Die Wahrheit liegt vermutlich in der Mitte zwischen Steuerlüge und Kriegsfinanzierung. Aber aus Herrn Waigels Erklärung ist der logische Schluß folgender: Die Bevölkerung darf für diesen Krieg zahlen; die Lage in den neuen Bundesländern war derartige finanzielle Maßnahmen nicht wert; Maßnahmen, die in ihrer von der Bundesregierung beschlossenen Art obendrein zutiefst unsozial sind. In dieser Verteilung der Gelder für heiße und kalte Kriege spiegelt sich das Verständnis wider, das die Bundesregierung von der sogenannten neuen deutschen Verantwortung hat, das — wie alle laufenden Diskussionen von der Eingreiftruppe bis zu Out-ofarea-Einsätze — von Militarisierung, von Großmachtpolitik geprägt ist. Die Menschen in den neuen Bundesländern können Militärausgaben in dieser Größenordnung nur als Zynismus empfinden angesichts der dortigen katastrophalen Lage, die der Crash-Kurs der Bundesregierung nach sich zieht. Wir werden ihnen raten, sich das Geld zum Leben von der Hardthöhe zu holen. Ein weiterer Roßtäuschertrick läuft im Zusammenhang mit der geplanten Reduzierung der Bundeswehr. Laut Unterrichtung der Bundesregierung über den Finanzplan 1990-1994 soll die Reduzierung auf 370 000 Mann bis 1994 „mit dem Inkrafttreten des ersten KSE-Vertrages beginnen" . Die in Paris vereinbarte Reduzierung hat aber unabhängig von den KSE- Verhandlungen zu erfolgen. Diese Verknüpfung ist unzulässig. Abgesehen davon, daß in unseren Augen 70 Milliarden DM Militärausgaben genau 70 Milliarden zuviel sind, zeigt sich unter dem Stichwort Reduzierung eine weitere Entwicklung, die ins Bild paßt: Natürlich sind 370 000 weniger als 495 000 Soldaten. Aber gleichzeitig vollziehen sich im Rahmen dieser Reduzierung eine Modernisierung und Umstrukturierung der Bundeswehr, die — schon lange geplant — jetzt ihren Anfang in den neuen Ländern nehmen und die eine offenkundige Vorbereitung auf das sind, was heute bereits ausführlich diskutiert wurde: Einsatzfähigkeit deutscher Truppenteile, innerhalb und außerhalb des NATO-Gebietes, unter UNO oder NATO oder bundesdeutschem Kommando. Das als Abrüstung in Form der bloßen Reduzierung zu verkaufen, ist Täuschung wie so vieles andere in der Regierungspolitik. Diese Entwicklung muß verstärkt Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit werden. Selten war der Widerspruch zwischen regierungsamtlicher Friedens- und Abrüstungsrhetorik und der unproduktiven und unsozialen Auswirkungen von Militär so augenfällig wie in der aktuellen Situation. Die PDS/Linke Liste lehnt daher den Rüstungshaushalt ab, weil er für eine Politik steht, die nichts mit Friedenspolitik zu tun hat. Wir unterstützen die Forderungen der Friedensbewegung gegen eine Ausweitung des militärischen Handlungsspielraums der Bundesrepublik, wie er derzeit mit der geplanten Grundgesetzänderung und den Diskussionen um Eingreiftruppen vorbereitet wird, an denen sich zu unserem Bedauern mittlerweile immer mehr SPD-Politiker durch die Befürwortung von Blauhelmtruppen und mehr beteiligen. Wir hoffen, der SPD-Parteitag bringt ein Votum, das der heutigen Anzeige in der Frankfurter Rundschau entspricht: gegen eine Grundgesetzänderung, gegen Schnellschüsse, wo es bitterernst ums Schießen geht! Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE): Dieser Militärhaushalt ist ein Haushalt wie aus den Zeiten des Kalten Krieges; man spürt noch immer den abschreckenden Geist der Ost-West-Konfrontation. Die Bundesregierung hat damit eine große Chance vertan, denn eigentlich hätten vom ersten gesamtdeutschen Haushalt wesentliche Impulse für eine friedliche Zukunft Europas ausgehen müssen. Statt dessen ist der Trend zur Hochrüstung ungebrochen. Um der neuen Situation nach dem Zusammenbruch der Ost-West-Konfrontation dennoch Rechnung zu tragen, versucht die Bundesregierung mit haushaltstechnischen Tricks, kosmetischen Eingriffen und einem finanztechnischen Bäumchen-Wechsel-DichVersteckspiel, der Öffentlichkeit den Eindruck vermitteln, als werde im Militärhaushalt konsequent und hart gespart. Außenpolitisch möchte sie wohl dokumentieren, daß sie sich nach der Ratififzierung der Zwei-plus- Vier-Verhandlungen im Militärhaushalt Einschränkungen auferlege. Leider ist dem nicht so. Die militärische Kunst der Tarnung im Haushaltsressort der Hardthöhe ist lediglich zu einer gewissen Perfektion entwickelt worden. Man könnte es auch bewußte Irreführung der Öffentlichkeit nennen. Die Militärausgaben reduzieren sich keineswegs auf den Einzelplan 14, sondern sind als verteidigungsrelevante Kosten in anderen Einzelplänen versteckt. Zählt man diese getarnten Kosten mit, ergibt sich die unglaubliche Summe von über 73 Milliarden Mark. Damit steht dieser neue Entwurf in der Tradition des Kalten Krieges und des Wettrüstens. Dieser Militärhaushalt ist durch keine sicherheits- oder außenpolitische Entwicklung begründet. Er steht in einem eklatanten Widerspruch zu den außen- und sicherheitspolitischen Veränderungen in Europa, die sich doch eigentlich bis auf die Hardthöhe herumgesprochen haben müßten. Der Warschauer Pakt wird am 1. April 1991 endgültig sein Leben aushauchen; die Sowjetunion hat ihr westliches Vorfeld geräumt und auch ihre Fähigkeit zu „raumgreifenden offensiven Operationen" verloren, und nicht zuletzt sprechen die demokratischen Entwicklungen in Osteuropa gegen eine weitere Aufrechterhaltung des militärischen Apparates in diesem gigantischen Umfang. Was sich dieser Tage in Albanien und in Italien abgespielt hat, ist ein Vorgeschmack dessen, was Westeuropa und Deutschland in unmittelbarer Zukunft erwartet. Gegen ein Millionenheer von ökologischen und wirtschaftlichen Flüchtlingen helfen weder Panzer noch Patriots. Helfen könnten nur radikales Um- 882* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 denken in Richtung eines ökologischen Umbaus der Weltwirtschaft, eines Konzeptes der ökologischen Sicherheit und einer gerechten Weltwirtschaftsordnung. Der notwendige erste Schritt dazu wäre konsequente Abrüstung und Konversion. Aber im Zahlenwald des Militärhaushalts ist von Umdenken nichts zu spüren. Im Gegenteil, während sich der Warschauer Pakt auflöst, wird keineswegs am Abbau der NATO gearbeitet, sondern an einem neuen Feindbild, das die Fortexistenz des Bündnisses legitimieren soll. Im Golfkonflikt wurde ein mittelmäßiger Wüstendiktator zu einem neuen Hitler hochstilisiert, ihm die viertgrößte Militärmacht der Welt angedient, und dann wurde ohne Rücksicht auf die Folgen für die Bevölkerung und die Umwelt der Krisenregion das „zwangsabgerüstet" , was ihm vorher eilfertig und gewinnbringend geliefert worden war. Mit dem Krieg am Golf sollte nicht nur der Irrglauben an die Führ- und Gewinnbarkeit von Kriegen genährt, sondern auch die Forderung nach der HighTech-Waffentechnologie und damit nach weiterer Aufrüstung legitimiert werden. Darüber hinaus soll er für die Befürworter weltweiter Einsätze der Bundeswehr in Zukunft wohl als Paradebeispiel für eine „effektive Konfliktlösung" dienen. Um das zu erreichen, wurde dieser Krieg unter künstlichen Bedingungen geführt, unter einer bewußten Ausklammerung der gravierenden ökologischen Folgen für die Golfregion und darüber hinaus. Aber gerade diese Inkaufnahme scheinbar unscheinbarer „Nebenfolgen" beweist die Unhaltbarkeit der Clausewitzschen Denkweise. Denn für Clausewitz, jenen Kriegstheoretiker der napoleonischen Zeit und Lieblingszitatlieferanten für die amerikanische Militärführung, waren die globalen Folgen moderner Kriegsführung nicht existent und die globalen Folgen hemmungslosen Wettrüstens unbekannt. Kommen wir nun zum Militärhaushalt. Ein Trend durchzieht den gesamten Entwurf: Wenn man schon zur Abrüstung genötigt wird, dann, bitte schön, sollen erst mal die schrottreifen Waffen ausgemustert werden. Wenn man die Zahl der Waffen schon reduzieren muß, dann soll dies wenigstens durch qualitative Verbesserungen ausgeglichen werden. Was diese Regierung vorbereitet, ist keine wirkliche Abrüstung, sondern die propagandistische Vermarktung einer völkerrechtlich verbindlichen Zusage als Anpassung an militärische Notwendigkeiten. High-Tech soll die Lücke schließen, die die Reduzierung hinterläßt. Außerdem ist in diesem Militärhaushalt nicht der geringste Ansatz für den vielprophezeiten Umbau und die Strukturreform der gesamtdeutschen Streitkräfte erkennbar. Dabei ist doch der Zeitraum für diese dringend erforderlichen Veränderungen durch bereits getroffene nationale und internationale Entscheidungen klar vorgegeben. Wo sieht man in diesem Entwurf die Umsetzung der Ergebnisse der Rüstungskontrollverhandlungen in Wien oder die Implementierung der in den Zwei-plus- Vier-Verhandlungen vereinbarten Obergrenze der Personalstärke von 370 000 Mann? Natürlich sind wir als Vertreter des Bündnisses 90/ GRÜNE sehr erfreut, daß im Einzelplan 14 in diesem Jahr erstmals ein Posten „Rüstungskontrolle und Abrüstung" auftaucht — ein Ereignis, auf das die ehemalige Fraktion DIE GRÜNEN IM BUNDESTAG Jahr um Jahr leider vergeblich warten mußte. Leider wurde uns bis jetzt keine Einsichtnahme in die sogenannten geheimen Erläuterungsblätter ermöglicht. Deshalb ergeben sich für uns folgende Fragen: Was verbirgt sich hinter den Ausgaben für wehrtechnische Forschung, Technologie, Entwicklung und Erprobung? Sollen sie der Konversion dienen, oder werden sie für die Entwicklung von Spionagesatelliten genutzt? Worauf bezieht sich der Aufwendungsersatz für die Stornierung der Verträge der ehemaligen NVA? Übernimmt die Bundeswehr möglicherweise ehemalige Rüstungsexportverpflichtungen der NVA? Diese Fragestellung ist uns um so wichtiger, als die für den Aufwendungsersatz veranschlagte Summe von 120 Millionen die Hälfte der Gesamtausgaben des Kapitels ausmachen. Die Bundesregierung setzt voll auf den weiteren Ausbau der modernen Kriegstechnologie, auf die „smarten" Killerwaffen, die präzise durch Bunkertüren Hunderte von Zivilisten töten. Dies zeigt sich an der deutlichen Prioritätensetzung der Ausgaben für Forschung, Entwicklung und Erprobung. Dieser Militärhaushalt wird, nachdem er kaum noch durch die klassische Bedrohung durch die Sowjetunion begründet werden kann, nun mit neuen Bedrohungen und neuen Feinden legitimiert. Nicht umsonst spricht die Bundesregierung in ihrer Unterrichtung (BT-Drs. 12!/201, S. 9) von der Notwendigkeit einer „vernünftigen Sicherheitsvorsorge", weil man neuen Sicherheitsrisiken — gleich woher sie kommen — erfolgreich begegnen möchte. Nicht umsonst verwies der Bundesminister der Verteidigung weit vor der Golfkrise auf die Notwendigkeit einer gemeinsamen Politik der NATO gegenüber diesen neuen Bedrohungen. So führte Minister Stoltenberg im Frühjahr 1990 mehrmals aus: Regionale Konflikte in Verbund mit religiösem Fundamentalismus, Terrorismus und Waffenproliferation, aber auch Drogenhandel, die ökologischen Gefährdungen unserer Zeit und die zunehmenden Probleme der Entwicklungsländer erfordern immer mehr ein gemeinsames Handeln der westlichen Industrienationen. Neben dieser Orientierung an neuen Bedrohungen und neuen Feinden, die den Militärhaushalt legitimieren sollen, fühlt sich die Bundesregierung auch noch der Rüstungsindustrie und dem militärisch-industriellen Komplex verpflichtet. Denn wie sonst ist es erklärbar, daß auch in diesem Jahr für die Entwicklung des Jagdflugzeuges Jäger 90 800 Millionen Mark ausgegeben werden, wo doch jeder Pfennig für die Lösung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme in den neuen Ländern benötigt wird? Um die katastrophale Lage in den neuen Bundesländern etwas aufzufangen, schlagen wir vor, auf solche Projekte zu verzichten und mindestens 1 % des Gesamtetats zur Unterstützung von Rüstungskonversion und Konversionsforschung einzusetzen und eine Bundesanstalt für Abrüstungsplanung zu schaffen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 883* Wenn man diese Regierung nicht an ihren Worten, sondern an ihrer Ausgabenpolitik mißt, dann hat sie in der Sicherheitspolitik überhaupt nichts dazugelernt. Die Entwicklungskosten für den Jäger 90 verschlingen zehnmal mehr Steuergelder, als der Umweltminister für das Bundesumweltamt erhält. Wenn die Bundesregierung jetzt keine durch Zahlen beweisbare Abrüstung vornimmt, dann setzt sie sich dem Verdacht aus, in Europa und künftig wohl auch weltweit auf militärische Mittel gegründete klassische Machtpolitik betreiben zu wollen. Verstärkt wird der Eindruck eines Schreis nach militärischem Machtzuwachs durch die gegenüber 1990 sogar noch gestiegenen Beiträge zu den NATO-Militärhaushalten. Die Bundesregierung liegt in den Ketten eines völlig antiquierten Sicherheitsbegriffs. Sie ist immer noch auf eine nahezu ausschließlich militärisch definierte Sicherheit fixiert. Wir sind aber schon heute und erst recht künftig vor allem ökologisch bedroht. Um dieser Bedrohung zu begegnen, müssen Staatsgelder endlich nicht länger für weitere Aufrüstung, sondern für den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft eingesetzt werden. Die alte Fraktion der GRÜNEN hatte in ihrem Vorschlag für einen Abrüstungshaushalt 1990 bereits gezeigt, welche finanziellen Ressorucen durch Einsparungen im Rüstungshaushalt gewonnen werden könnten, wenn die Bereitschaft bestünde, eine radikale Defensivierung der Bundeswehr vorzunehmen. Allein der wirtschaftliche Zusammenbruch in den neuen Bundesländern, ganz zu schweigen von den wirtschaftlichen und ökologischen Problemen der Zweidrittelwelt, die in allernächster Zeit auf uns zurückschlagen werden, gebietet es, solche Vorschläge endlich ernsthaft zu durchdenken, statt sie wie bisher nur abzuschmettern. Hans-Werner Müller (Wadern) (CDU/CSU): In der politischen Diskussion der letzten Monate ist der Einzelplan des Bundesministers der Verteidigung zum Steinbruch der Nation erklärt worden. Es gibt so gut wie keine öffentliche Erklärung, von Berufenen oder Unberufenen, die nicht Umschichtungen im Haushalt zu Lasten des Verteidigers vorsieht. Zunächst ist das eine rein fiskalische Aussage. Hinter dieser Erklärung steht sehr oft ein Infragestellen der Verteidigungsbereitschaft schlechthin. Eine gefühlspazifistische Stimmung, von der SPD kräftig geschürt, führt zu einer regelrechten Aufwiegelung gegen die Wehrbereitschaft. Über eine eventuelle Beteiligung unserer Soldaten im Bündnisfall tobte eine heftig SPD-interne Diskussion: Ich zitiere aus der Presse: „Genossen im Zwielicht", „SPD bleibt gespalten", „Björn Engholm schweigt, die SPD spielt Weltmacht", „Doppelfehler der SPD", „Offener Bruch verhindert", „Das Leid der SPD", „Schwungvoller Eiertanz der SPD", „Realos im Streit mit Moralos". Die Liste ist beliebig fortsetzbar. Da braucht man sich ja nicht zu wundern, daß angesichts solcher Stimmung und Stimmen die Anzahl der Wehrdienstverweigerer steigt. Wenn z. B. ein evangelischer Pfarrer in Gladbeck in einem über 3 000mal als Brief versandten Text die männlichen Gemeindemitglieder zwischen 17 und 35 auffordert, den Kriegsdienst zu verweigern, dann erzeugt so etwas Stimmung. Oder wenn immerhin ein früherer SPD-Staatssekretär im Verteidigungsministerium — von Bülow — für seinen Sohn, der demnächst zum Bund muß, einen Musterbrief entwirft, mit dem dieser einen Einsatz im Golf als verfassungswidrig verweigern kann, dann braucht man sich nicht über die Stimmung zu wundern. Es wird die Mentalität geschürt: „Frieden um jeden Preis". Dies führt dazu, daß das Ansehen Deutschlands im Ausland Schaden nimmt. Ich sagte es bereits: Dies wird uns noch teuer zu stehen kommen. Vergessen sind die klugen Sätze, etwa von Madame de Staël: „Freiheit ist eine Bürgschaft; vor Bürgschaften kann man nicht ausreißen, man muß sie leisten. " Oder von Blaise Pascal: „Gerechtigkeit ohne Macht ist hilflos, Macht ohne Gerechtigkeit Tyrannei. " Wir müssen Gerechtigkeit und Macht miteinander in Einklang bringen. Wir sind keine Weltmacht — das ist gut —; aber wir haben keine politische Zwergenrolle. Unsere Friedenspolitik muß die Komponente der militärischen Absicherung einschließen. Genau dieser Komponente unserer Friedenspolitik dient dieser Verteidigungshaushalt. Dabei steht gerade im Jahr 1991 dieser Haushalt unter den 4 folgenden Prämissen: Erstens. Die Bundeswehr wird reformiert. Sie ändert ihren Auftrag, ihre Truppenstärke, ihre Strategie im Bündnis, ihre innere Struktur und ihre Ausbildung. Zweitens. Die Bundeswehr schrumpft. Bei der Vereinigung von Ost und West hatten wir einschließlich der zivilen Bediensteten rund 700 000 Menschen; an Soldaten werden wir Ende 1994 nur noch 370 000 haben. Drittens. Die Bundeswehr ist eine Armee ohne erkennbaren Gegner. Eine neue NATO-Struktur ist überfällig. Viertens. Die Bundeswehr ist eine Armee vor neuen Aufgaben. Lassen Sie mich deswegen unter Einbeziehung dieser Prämissen einiges zu den Zahlen sagen. Erstens. Der Verteidigungshaushalt 1990 Teil West und Ost schließt mit einem Ist von 62,2 Milliarden. Der Entwurf 1991 hat einen Plafond von 52,6 Milliarden, wobei die Kosten der Eingliederung der ehemaligen NVA in die Bundeswehr mit 4,3 Milliarden sowie eine globale Minderausgabe von 1 Milliarde berücksichtigt sind. Der Haushalt wird also von der Regierung — dies ist meine erste Einschätzung — auf ein vernünftiges Maß zurückgeschnitten. 884* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 Zweitens. Es geschieht ein erster Einstieg in die personelle Reduzierung in einer beachtlichen Größenordnung im militärischen wie im zivilen Teil. Drittens. Der Anteil an den Verteidigungsausgaben an den gesamten Bundesausgaben beträgt noch 13,5 %. Das ist der niedrigste Anteil seit 1956. Auch ein Blick auf die vorgesehene Finanzplanung bis 1994 ist nach meiner ersten Einschätzung interessant. Beim Gesamthaushalt haben wir 1992 eine Steigerung von 0,8 %, 1993 eine Steigerung von 2,2 To und 1994 eine Steigerung ebenfalls von 2,2 % zu erwarten. Für den Verteidigungshaushalt ist allerdings ein Senken vorgesehen, und zwar 1992 von 2,9 %, 1993 von ebenfalls 2,9 % und 1994 von 3,0 %. Dies sollte man schon registrieren. Viertens. Wir erleben auch eine deutliche Änderung der Ausgabenstruktur. Der Anteil der Betriebsausgaben an den gesamten Verteidigungsausgaben steigt auf 71,9 % gegenüber 66,4 % im Vorjahr. Gleichzeitig vermindert sich der investive Anteil entsprechend um 5 To auf 28,1 % gegenüber 33,6 % im Vorjahr. Dieses Sinken des inventiven Anteils könnte — dies muß man sehen — negative Folgen für die Bundeswehr und ihre Vertrags- und Bündnispartner haben. Diese Folgen müssen gemindert werden. Lassen Sie mich einige Schwerpunkte im Ausgabenbereich kommentieren. Den ersten Abbauschritt beim Personal habe ich erwähnt. Zum dritten Nachtrag 1990 haben wir im Haushaltsausschuß Beschlüsse gefaßt, die im Bereich Ost eine schnelle Abschmelzung insbesondere beim Zivilpersonal vorsehen. Die Regierung bittet nun mit diesem Entwurf diese Entscheidungen noch einmal zu überdenken. Wir werden uns dieser Frage vorurteilslos stellen, nicht zuletzt unter dem Eindruck einer Berichterstatterreise in der vergangenen Woche in die Standorte südlich von Potsdam. Ich nenne nur einige der Stichworte: veraltete Braunkohlenanlage, veraltete Wirtschaftsgebäude, Aufrechterhaltung von Fernmeldeversorgungen. Mit den Maßstäben in den Altländern kann leider nicht gemessen werden. Diese Korrektur würde, wenn ich richtig rechne, ca. 2 Milliarden kosten. Wir werden auch etwas für die Verbesserung der Laufbahnerwartung für Portepee-Unteroffiziere tun können. Das gilt auch für die Hebung zur Umsetzung des 5. Personaländerungsgesetzes. Das haben wir schon im vergangenen Jahr in Aussicht gestellt. Die Aufgeregtheit der Berufsverbände ist nicht nötig. Ich kündige bereits hier in der ersten Lesung an, daß wir uns im Haushaltsausschuß sorgfältig anschauen werden, wie es mit der unterschiedlichen Bezahlung insbesondere der Grundwehrdienstleistenden in Ost und West bestellt ist, und zwar mit der Tendenz, die bestehenden Unterschiede abzubauen. Erwähnt werden muß auch, daß das Attraktivitätsprogramm fortgesetzt wird, das immerhin 370 Millionen kosten könnte. Ein Wort zu einigen Problemen, die sich aus der Übernahme der NVA ergeben. Da müssen z. B. Bewirtschaftungen fortgesetzt werden, weil zivile Wohnsiedlungen von militärischen Anlagen beheizt werden. Immerhin kostet dies nahezu 1,5 Milliarden DM. Die Bauerhaltung und Modernisierung von Truppenunterkünften muß vorangetrieben werden, wobei der Schwerpunkt bei der Instandsetzung der zum Teil in äußerst schlechtem Zustand befindlichen Unterkünfte, Küchen und Speiseräumen liegen wird. Erwähnt werden muß auch, daß für die Bewachung der Liegenschaften im Beitrittsgebiet etwa 1/2 Milliarde DM aufzubringen ist. Ein Wort zu Materialerhaltung und Betrieb. Hier sind weniger Mittel als im vergangenen Jahr veranschlagt. Auch hier kommen neue Aufgaben auf uns zu für die Delaborierung und Entsorgung von Munition der ehemaligen NVA. Ich befasse mich nun mit Forschung, Entwicklung, Erprobung und den militärischen Beschaffungen. Will man moderne Ausrüstungsgüter beschaffen, so bedarf dies eines Entwicklungsvorlaufs von etwa 10 Jahren. Das, was wir Ende der 90er Jahre brauchen, muß also jetzt entwickelt werden. Wir brauchen intensive Forschung und Entwicklung, damit unsere Armee in ihrer Ausrüstung innovationsfähig bleibt und Alternativen zur Verfügung stehen. Dabei wird die internationale Rüstungsoperation immer wichtiger. Ausgaben für neue Vorhaben stehen im Haushalt 1991 nicht zur Verfügung. Es werden nur die bereits laufenden Entwicklungen fortgeführt. Seit 1987 bereits erleben wir einen deutlichen Abwärtstrend bei den Beschaffungen. Im Entwurf sind diesmal deutlich unter 10 Milliarden vorgesehen. Dabei müssen 160 Millionen aufgewendet werden, die nicht einmal der Beschaffung dienen, sondern Aufwendungsersatz für die Stornierung von Verträgen der ehemaligen NVA sind; rund 140 Millionen sind für Rüstungssonderhilfe an die Türkei und Griechenland bestimmt. Ich will es mit diesem kleinen Streifzug durch das Zahlenwerk sein bewenden lassen. Dieser Haushalt wird, so hoffe ich, dann, wenn wir unsere sorgfältigen Beratungen beendet haben, dazu beitragen, daß das Gerede von einer Armee in der Krise aufhört. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 885* Die Bundeswehr ist nicht irgendein Arbeitgeber, sondern eine Institution mit einem fest umrissenen Verteidigungsauftrag. Dazu, daß dieser Auftrag erfüllt werden kann, gibt der Haushalt die Voraussetzungen. Ich appeliere gerade an die SPD: Überwinden Sie die Phase der Orientierungslosigkeit, in der Sie im Hinblick auf die politische Grundfrage der Wehrbereitschaft stecken, und treten Sie mit uns in einen konstruktiven Dialog über eine leistungsfähige Armee von mündigen Bürgern ein!
Gesamtes Protokol
Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1201400000
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Wir setzen die Aussprache über den Tagesordnungspunkt 2, das Haushaltsgesetz 1991 und den Finanzplan 1990 bis 1994, fort:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1991

(Haushaltsgesetz 1991)

— Drucksache 12/100 —
Überweisung: Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Der Finanzplan des Bundes 1990 bis 1994
— Drucksache 12/101 —
Überweisung: Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die heutige Aussprache 12 1/2 Stunden vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Vogel.

Dr. Hans-Jochen Vogel (SPD):
Rede ID: ID1201400100
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Aussprache über den Einzelplan 04, über Ihren Haushalt, Herr Bundeskanzler, hat traditionell die zentralen Fragen der Außen- und der Innenpolitik unserer Republik zum Gegenstand, vor allem die Politik, die Sie als Bundeskanzler und damit als Inhaber der Richtlinienkompetenz in besonderer Weise zu verantworten haben. In dieser Aussprache werden Gegensätze und tiefgreifende Unterschiede in den Analysen und Konzepten, an manchen Stellen aber auch Übereinstimmungen deutlich werden.
Ich beginne mit einer Feststellung, mit der wohl das ganze Haus übereinstimmt, nämlich dem Ausdruck der Freude darüber, daß am Golf seit zwölf Tagen die Waffen schweigen und der Krieg ein Ende gefunden hat,

(Beifall im ganzen Hause)

der Freude darüber, daß das Leiden und Sterben und das Werk der Zerstörung jedenfalls insoweit ein Ende gefunden haben, als sie auf unmittelbaren Kriegshandlungen beruhten. Bei allem, was wir uns an früheren Entscheidungen anders gewünscht haben — und wir haben davon nichts zu korrigieren —, danke ich in diesem Zusammenhang dem amerikanischen Präsidenten, daß er in der Schlußphase des Krieges nicht denen nachgegeben hat, die die Kämpfe zur Erreichung von Zielen fortgesetzt wissen wollten, die über die UNO-Resolution hinausgingen, sondern daß er am 28. Februar das Ende der offensiven Operationen befohlen hat.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ CSU und der FDP)

Jetzt geht es darum, den Frieden zu gewinnen und zunächst einmal denen zu helfen, die unter den Folgen der brutalen Politik Saddams und unter den Kriegsfolgen in ähnlicher Weise leiden, wie die Älteren unter uns das aus dem Frühjahr 1945 in Erinnerung haben. Das sind die Kuwaitis, das ist aber das irakische Volk, dem Saddam zuerst mit dem von ihm begonnenen achtjährigen Krieg gegen den Iran und dann mit der Okkupation Kuwaits und der zerstörerischen Fortführung eines endgültig sinnlos gewordenen Krieges schwere Blutopfer aufgebürdet hat und das jetzt zusätzlich von einem mörderischen Bürgerkrieg heimgesucht wird.
Folgende Punkte erscheinen uns bei dem Ringen um den Frieden wesentlich:
Erstens. Sofortige humanitäre Hilfe. Die Menschen in der Region müssen erkennen, daß dem Westen diese Hilfe ebenso wichtig ist wie zuvor das militärische Engagement.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE sowie der Abg. Dr. Solms [FDP] und Dr. Keller [PDS/Linke Liste])

Dazu gehört der Einsatz aller verfügbaren Mittel zur Abwehr und dann zur Beseitigung der ökologischen Schäden. Ich fürchte, das Ausmaß dieser Schäden steht uns noch immer nur ganz unzulänglich vor Augen.
Zweitens. Die Mitwirkung daran, daß in der Region ein Prozeß in Gang kommt, der in etwa dem KSZE-



Dr. Hans-Jochen Vogel
Prozeß entspricht. Hier sind in erster Linie die konstruktiven Kräfte in der Region und die Vereinten Nationen gefordert.
Die Resolutionen der Vereinten Nationen, die Kuwait betrafen, sind mit größter Entschiedenheit, mit bislang beispiellosen militärischen Anstrengungen und schweren Opfern durchgesetzt worden. Das verpflichtet die Vereinten Nationen, jetzt auch früheren Resolutionen, die andere Elemente einer künftigen Friedensordnung in dieser Region betreffen, mit Nachdruck Geltung zu verschaffen.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Das gilt für den gequälten Libanon. Das muß auch für das kurdische Volk gelten, dessen Rechte nicht nur von Saddam, wenn auch von ihm in besonders grausamer Weise, mißachtet worden sind.
Das gilt für die Lösung des Palästinenserproblems. Solange hier nicht die Anerkennung des Rechtes Israels darauf, in sicheren Grenzen zu leben, mit der Verwirklichung der legitimen Rechte des palästinensischen Volkes in Einklang gebracht worden ist, wird es im Nahen Osten keinen dauerhaften Frieden geben.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Israel hat in den vergangenen Wochen ein bewundernswertes Maß an Besonnenheit und Verantwortungsbewußtsein an den Tag gelegt. Ich bitte unsere israelischen Freunde, in gleicher Weise jetzt auch an diese Frage heranzugehen. Es wäre gut, wenn der Stärkere — und gegenüber den Palästinensern ist Israel gerade jetzt deutlich der Stärkere — den ersten Schritt unternähme. Die amerikanischen Initiativen der letzten Tage und Wochen zielen erfreulicherweise in diese Richtung, und die Vorschläge, die Shimon Peres, der Vorsitzende der israelischen Labour-Party, vor wenigen Tagen vorgelegt hat, tun es ebenfalls. Und sie sind besonders ermutigend, weil sie sowohl den Gedanken „Land für Frieden" als auch den eines internationalen Daches für die notwendigen Verhandlungen einschließen. Wir wünschen, daß diese Linie die allgemeine Linie der israelischen Politik werden könnte.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Drittens. Wir unterstützen das Bemühen, die ganze Region von A-, B- und C-Waffen freizumachen. Die entsprechende Forderung wäre allerdings noch glaubhafter und überzeugender, wenn atomwaffenfreie Zonen auch in anderen Regionen, etwa in Mitteleuropa, verwirklicht werden würden.

(Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/ GRÜNE und bei der PDS/Linke Liste)

Wenn Länder der Dritten Welt sagen, für Atomwaffen, zumal für taktische Atomwaffen, dürfe im Ergebnis nichts anderes gelten als für chemische Waffen, dann ist das wahrlich nicht ganz abwegig. Ich jedenfalls verabscheue — und ich meine, gemeinsam mit der Mehrheit dieses Hauses — beide Waffenarten in gleicher Weise, die chemischen wie die atomaren und die biologischen.

(Beifall im ganzen Hause)

Viertens. Eine wesentliche Konsequenz aus den Ereignissen der letzten Monate ist für uns die Stärkung der Vereinten Nationen. Dazu bedarf es konkreter Reformen, wie sie Kollege Brandt vor kurzem vorgeschlagen hat. Kern dieser Reformen muß sein, daß die Vereinten Nationen als solche an Gewicht gewinnen, daß sie nicht nur bestimmte Maßnahmen für zulässig erklären und dann die Verwirklichung in andere Hände legen, sondern daß sie diese Maßnahmen unter ihrer eigenen Verantwortung und ihrer eigenen Leitung durchführen.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Das setzt die Stärkung der Stellung des Generalsekretärs, eine zunehmende Selbstbeschränkung — Selbstbeschränkung sage ich — bei der Ausübung des Vetorechts und insgesamt eine Entwicklung voraus, bei der die Vereinten Nationen Schritt für Schritt in die Rolle einer Weltregierung hineinwachsen, einer Institution also, die nicht erst eingreift, wenn im nationalen Bereich die Polizei tätig werden müßte, sondern die schon weit im Vorfeld aktiv wird, um soziale, ökologische und politische Spannungen zu überwinden oder wenigstens zu mildern, damit es nicht zur Konfrontation kommt.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Denn auch das ist sicher eine Lehre, die ernst genommen werden muß: Sicherheit ist nicht länger nur ein militärischer Begriff.
Ökonomische und ökologische Fehlentwicklungen können den Frieden ebenso, nein, eher noch stärker bedrohen. Ich sage das mit besonderem Nachdruck, weil da und dort — leider auch in der Bundesrepublik — dieser Tage der Meinung Vorschub geleistet wird, Kriege seien wieder führbar geworden, jedenfalls der technische Präzisionskrieg sei wieder ein Mittel der Politik und der Durchsetzung nationaler oder regionaler Interessen. Wir widersprechen dieser Auffassung mit allem Nachdruck und mit großem Ernst.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ Linke Liste)

Für uns gilt: Die soziale Frage im Weltmaßstab kann heute ebensowenig durch Anwendung militärischer Gewalt gelöst werden, wie die Anwendung von Gewalt eine Antwort auf die sozialen Fragen im nationalen Maßstab war. Gelöst werden kann sie vielmehr nur durch die ökologisch gebändigte Entwicklung der weltweiten Produktivkräfte, einen solidarischen Interessenausgleich und durch die Mitbestimmung der Beteiligten, auch der Milliarden von Menschen in der südlichen Hemisphäre, die aus der Objektrolle heraustreten müssen.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)




Dr. Hans-Jochen Vogel
Fünftens. Die Bundesrepublik muß an der Reform und dem Engagement der Vereinten Nationen in dem Maße teilnehmen, das ihrem politischen und wirtschaftlichen Gewicht, aber auch ihren geschichtlichen Erfahrungen und ihren allgemeinen politischen Zielvorstellungen entspricht. Da wir den raschen Übergang zu einer Europäischen Union wollen — soweit ich sehe, quer durch das ganze Haus —, wäre es unseres Erachtens nicht sinnvoll, einen deutschen, also einen weiteren nationalen, ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat anzustreben. Vielmehr sollte hier eine europäische Lösung gefunden werden, die unser Gewicht im europäischen Rahmen zum Tragen bringt. Dafür gibt es verschiedene Optionen.
Nach Überwindung der deutschen Teilung muß auch die Wahrnehmung unserer Pflichten aus der Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen neu überdacht werden. Meine Partei wird sich damit auf ihrem nächsten Parteitag befassen und über einen Vorschlag befinden, der das Grundgesetz so verändern will, daß eine Beteiligung deutscher Streitkräfte an friedenssichernden Einsätzen im Rahmen der UNO und unter UNO-Kommando — sogenannte Blauhelmmissionen — möglich wird. Dabei wird auch diskutiert werden, ob das den Verpflichtungen nach der UNO- Charta in ausreichendem Maße entspricht, insbesondere den Verpflichtungen aus Kapitel VII der UNO- Charta.
Einer Grundgesetzänderung, die darüber hinaus auch die Beteiligung an Operationen außerhalb unseres Bündnisgebietes erlauben würde, die von den Vereinten Nationen nur für zulässig erklärt worden sind, werden wir nicht zustimmen.
Nicht zustimmen werden wir auch, daß die hier in Rede stehende Grundgesetzänderung vorweg vorgenommen wird. Sie stellt sich als eine Frage im Gefolge der deutschen Einigung. Deshalb muß sie zusammen mit allen anderen Entscheidungen getroffen werden, die sich im Zusammenhang mit dem Übergang vom Grundgesetz zur endgültigen Verfassung der Bundesrepublik als notwendig erweisen. Dafür haben wir im Einigungsvertrag übereinstimmend eine Frist von zwei Jahren in Aussicht genommen.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE — Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Vorwärts, Kameraden, wir müssen zurück! Zurück marsch marsch!)

Sechstens. Die Bundesrepublik war in den vergangenen Wochen Gegenstand lebhafter Kritik, vor allem in der öffentlichen Meinung befreundeter Länder. Dieser Kritik haben sich einige deutsche Medien angeschlossen, und zwar gelegentlich in einer Weise, als ob sie zumindest eine klammheimliche Freude über diese ausländische Kritik empfänden.
Wir halten die Kritik in einem Punkt für berechtigt, nämlich soweit sie sich gegen die Mitwirkung Deutscher an der Produktion chemischer Waffen und der Entwicklung von Raketen und insbesondere dagegen richtet, daß dadurch Israel in Mitleidenschaft gezogen worden ist. Ich sage: „insbesondere" ; nicht: „nur" . Denn mich bedrückt und bekümmert auch, daß mit diesen chemischen Waffen auch andere Menschen und Völker bedroht werden, wobei das „insbesondere" auf der schicksalhaften Verflechtung der deutschen Geschichte mit dem Holocaust beruht.
An dem, was gewissenlose Elemente hier getan haben, Elemente, die sich von ihrem mörderischen Tun noch nicht einmal von den furchtbaren Bildern vergaster kurdischer Kinder abschrecken ließen, werden wir noch lange und schwer zu tragen haben. Diejenigen in der Bundesregierung und den Koalitionsparteien, die dabei trotz aller Warnungen und Hinweise untätig geblieben sind und den Rüstungsexport insgesamt immer wieder gefördert haben, haben das in vollem Umfang mitzuverantworten.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ Linke Liste)

Ich wundere mich im übrigen, wie eilfertig einige von diesen Herren im Januar in Sachen Rüstungsexport vorübergehend die Fronten gewechselt haben und jetzt schon wieder ganz ungeniert dabei sind — so etwa kürzlich ein Staatssekretär im Bundesrat — , vor zu strengen Vorschriften und übermäßigen Beschränkungen zu warnen.
Es möge sich keiner täuschen: Über diese Dinge wird kein Gras wachsen. Wenn Sie nicht selber alle Fakten auf den Tisch legen und die nötigen personellen und sachlichen Konsequenzen ziehen, dann wird das ein Untersuchungsausschuß des Deutschen Bundestages leisten müssen.

(Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/ GRÜNE und bei der PDS/Linke Liste)

Ansonsten sehen wir zu deutschen Entschuldigungen reihum an die verschiedenen Adressen keinen Anlaß. Manches, was hierzu aus den Reihen der Bundesregierung in den letzten Wochen gesagt und getan wurde, erscheint unnötig, beflissen, ja in einzelnen Akzenten fast liebedienerisch.
Im übrigen: Was die Pflege der deutschamerikanischen Beziehungen angeht, so bin ich davon überzeugt, daß sich die Haltung der Bundesrepublik bei den GATT-Verhandlungen und ihre Weigerung, in der Frage der Subvention von Agrarexporten auf die jahrelang geäußerten und berechtigten Wünsche der USA einzugehen, auf Dauer viel nachteiliger auswirken

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Sie müssen Informationen einholen!)

als die Tatsache, daß in der Bundesregierung erfreulicherweise keine Kriegsbegeisterung aufgekommen ist.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE — Lachen bei der CDU/CSU — Rühe [CDU/CSU]: Wollen Sie den Amerikanern Kriegsbegeisterung unterstellen? Das ist doch abwegig!)

In diesem Zusammenhang noch ein Wort zur Kritik an Herrn Genscher. Wir sind als Opposition nicht dazu berufen, den Außenminister gegen Angriffe zu verteidigen,

(Rühe [CDU/CSU]: Der große Schutzheilige!)




Dr. Hans-Jochen Vogel
die aus der Koalition gegen ihn geführt werden.

(Rühe [CDU/CSU]: Gegen alle Angriffe!)

Schließlich gehört Herr Kollege Genscher dieser Koalition und der Regierung nicht gegen seinen Willen an.

(Heiterkeit im ganzen Hause)

Aber ich sage noch einmal: Nicht nur mir wäre sehr unwohl, wenn an Stelle des Kollegen Genscher diejenigen für die deutsche Außenpolitik verantwortlich wären, die ihn jetzt Tag für Tag wegen angeblicher Laschheit attackieren.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der FDP)

— Na, sehen Sie!

(Bohl [CDU/CSU]: Knappe Vogel!)

Natürlich gibt es außer dem Golfkonflikt wichtige außenpolitische Themen. Ich nenne als Stichworte nur die Entwicklung in der Sowjetunion, die Lage in den Staaten des östlichen Mitteleuropas nach der Wiederherstellung ihres Selbstbestimmungsrechts, die Situation Jugoslawiens und vor allem den Fortgang der europäischen Einigung. Dazu werden Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion heute mittag das Wort nehmen. Deshalb beschränke ich mich hier auf zwei kurze Bemerkungen zur Lage in der Sowjetunion und zur jüngsten Entwicklung in Jugoslawien.
Hinsichtlich der Sowjetunion bedauern wir, daß die von Michail Gorbatschow eingeleitete Politik der Glasnost und der Perestroika ins Stocken geraten ist und da und dort sichtbare Rückschläge erlitten hat. Wir sprechen auch offen aus, daß es uns Sorge bereitet, wenn erneut Kräfte in Erscheinung treten, die frühere Machtstrukturen erhalten oder gar wiederherstellen wollen. Wir können uns aber auch nicht wünschen, daß die Entwicklung in der Sowjetunion außer Kontrolle gerät und chaotische Züge oder sogar Formen gewaltsamer Konfrontation annimmt.
Ich bezweifle, daß uns allen klar ist, was dies für die Entwicklung der Zuwanderung aus Osteuropa bedeuten würde. Ich bezweifle aber auch, daß uns klar ist, was es bedeuten würde, wenn beispielsweise die zentrale Kontrolle über die große Anzahl von Atomwaffen verlorenginge, die in vielen Republiken der Sowjetunion an nicht wenigen Plätzen lagern.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Das ist richtig!)

Im übrigen glaube ich nach wie vor nicht, daß Präsident Gorbatschow sein bisheriges Werk in Frage stellen oder gar zerstören will. Im Gegenteil: Die Ratifizierung des Zwei-plus-Vier-Vertrags zeigt, daß er an seiner großen außenpolitischen Linie auch gegen Widerstände festhält. Für diese Ratifizierung spreche ich auch von dieser Stelle noch einmal den Dank aus.

(Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/ GRÜNE und bei der FDP sowie des Abg. Rühe [CDU/CSU])

Die Entwicklung in Jugoslawien erfüllt uns mit größter Sorge. Sie hat zuletzt in Serbien dazu geführt, daß Panzer und Soldaten gegen Demonstranten eingesetzt wurden, die von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machten. Wir verurteilen
dieses Vorgehen, das Menschenleben gekostet hat, mit aller Entschiedenheit. Die serbischen Machthaber müssen lernen, daß sie ein System, das von den Menschen abgelehnt wird, nicht auf Dauer mit Waffengewalt aufrechterhalten können. Auch das Selbstbestimmungsrecht der einzelnen Völker Jugoslawiens wird auf Dauer nicht mit Waffengewalt unterdrückt werden können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir appellieren, daß an die Stelle der Konfrontation und der blutigen Auseinandersetzung friedliche Verhandlungen unter dem Gesichtspunkt des Selbstbestimmungsrechts treten.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, mit dem Ende des Golfkriegs gewinnen der Fortgang und der gegenwärtige Stand der deutschen Einigung wieder die öffentliche Aufmerksamkeit, die ihnen gebühren. Diese Entwicklung ist durch eine dramatische Verschlechterung der Lebensbedingungen in den neuen Bundesländern gekennzeichnet. Das ist nicht Schwarzmalerei, wie Sie gelegentlich behaupten. Das ist die Realität, auf die die Ministerpräsidenten der neuen Länder immer nachdrücklicher hinweisen, an ihrer Spitze die Herren Biedenkopf und Stolpe.
Aber auch die Menschen selber weisen darauf hin: Sie gehen von neuem in wachsender Zahl auf die Straße und protestieren, vorgestern zum erstenmal auch wieder bei einer Leipziger Montagsdemonstration — diesmal im Protest gegen die explodierende Arbeitslosigkeit, gegen den Zusammenbruch wirtschaftlicher Strukturen, gegen die Verteuerung der Lebenshaltungskosten, mit der die Steigerung der Einkommen nicht Schritt hält, und dagegen, daß der wirtschaftliche Aufschwung nicht in Gang kommt.
An die Stelle der Freude und der Zuversicht, die die Menschen nach der Wende erfüllt haben, sind zunächst Enttäuschung und dann Bitterkeit getreten, Bitterkeit, die sich zunehmend mit Aggression verbindet. Schon schließen nüchterne Beobachter und Kenner der Verhältnisse — Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer gehören dazu — soziale Unruhen nicht mehr aus.
Dies alles hat seine Wurzel in dem schlimmen Zustand, in dem die ehemalige DDR am Ende der mehr als 40jährigen Herrschaft der SED und der Blockparteien war. Das lasten wir Ihnen, Herr Bundeskanzler, und der Bundesregierung nicht an. Diejenigen, die sich selber als Nachfolgepartei der SED bezeichnen, sollten besser schweigen,

(Rühe [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

als sich jetzt als Fürsprecher der Menschen aufzuspielen, deren Not in erster Linie eben diese SED zusammen mit den Blockparteien herbeigeführt hat.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Ich wiederhole etwas, was ich an dieser Stelle schon früher gesagt habe, nämlich daß Sie, Herr Bundeskanzler, zur Herstellung der staatlichen Einheit Ihren vollen Beitrag geleistet haben.

(Rühe [CDU/CSU]: Das war das Understatement des Jahres!)




Dr. Hans-Jochen Vogel
Aber Sie haben durch vier gravierende Fehlentscheidungen den Fortgang des Einigungsprozesses belastet und sind deshalb für die Enttäuschung der Menschen und für Härten, die vermeidbar waren, weithin verantwortlich.
Herr Bundeskanzler, Sie haben die Größe der Aufgabe verkannt. Sie haben die Zusammenarbeit der politischen Kräfte, die dringend angezeigt war und die wir Ihnen im Herbst 1989 angeboten haben, abgelehnt. Sie haben — das wiegt am schwersten — die Menschen in den neuen und den alten Bundesländern vor den Wahlen und auch noch danach mit unhaltbaren Versprechungen getäuscht. Sie haben viele Monate ungenutzt verstreichen lassen, in denen bereits Durchgreifendes hätte geschehen können und geschehen müssen.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Das ist keine Auseinandersetzung in die Vergangenheit hinein. Das sind Fehlentscheidungen, die fortwirken und mit deren Folgen wir uns jetzt zu beschäftigen haben.
In der Euphorie des vergangenen Jahres haben Sie den Eindruck entstehen lassen, mit der Währungs- und Wirtschaftsunion und der staatlichen Einheit sei das Wesentliche bereits geschehen; alles andere werde der Markt leisten. Unsere Mahnungen, daß dies nicht genüge, daß die Finanzausstattung der Länder und Gemeinden unzureichend sei — ich erinnere an die Dispute am Tisch im Bundeskanzleramt, als wir immer wieder darauf hingewiesen haben, daß eine Ausstattung mit 70 Milliarden DM keinen Pfennig für Investitionen übriglassen würde — , daß für die jetzt notwendigen beispiellosen Strukturveränderungen eine umfassende staatliche Strukturpolitik und Strukturhilfe notwendig seien, wurden immer wieder als Schwarzmalerei abgetan.
Dabei ist es doch mit Händen zu greifen. In den neuen Bundesländern kann sich doch nicht in Monaten sozialverträglich das vollziehen, was in den alten Bundesländern Jahr um Jahr gedauert und viele Milliarden gekostet hat. Hier wären doch — um nur ein Beispiel zu nennen — die Werften genauso zusammengebrochen und die Arbeitslosenzahlen an der Küste genauso explodiert, wie sie es jetzt in Rostock tun, wenn Bund und Länder den Strukturwandel nicht über einen langen Zeitraum und unter Einsatz öffentlicher Mittel in zweistelliger Milliardenhöhe sozialverträglich gestaltet hätten. Wir können doch nicht den Menschen drüben zumuten, in Wochen und Monaten Prozesse ablaufen zu lassen, die wir miteinander aus guten Gründen sozialverträglich über Jahre haben ablaufen lassen, damit die Menschen nicht unter die Räder kommen.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Den Eindruck, alles Wesentliche sei schon geschehen, haben Sie durch Wahlversprechungen verstärkt. Statt die solidarischen Kräfte des ganzen Volkes durch eine wahrheitsgemäße Darstellung des einmaligen Ausmaßes der zu bewältigenden Aufgabe zu wecken und den Menschen reinen Wein einzuschenken, sind die Menschen getäuscht worden, und dadurch wurden ganz wesentlich Verdrossenheit und Bitterkeit verursacht, die eben nicht beflügeln, sondern lähmen.
Dabei waren die Menschen in unserem Volk in den alten und in den neuen Bundesländern durchaus zu solidarischen Anstrengungen bereit. Die Menschen in den alten Bundesländern waren bereit, ihren Beitrag zu leisten, und die Menschen in den neuen Bundesländern waren bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Übergang von einem System ins andere zunächst mit Härten und Umstellungsschwierigkeiten verbunden sein werde.
Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen: Sie haben nun einmal den Menschen in den neuen Bundesländern versprochen, niemandem werde es schlechter gehen als zuvor, aber vielen bald besser. Den Wählerinnen und Wählern in den alten Bundesländern haben Sie versprochen, es werde keine Steuererhöhungen geben. Muß man wirklich alle Zitate von damals noch einmal zur Kenntnis bringen? Es genügt wohl diese Zeitungsanzeige vom November 1990. Da heißt es: „Keine Steuererhöhung für die deutsche Einheit! " und „Wir reden vor der Wahl nicht anders als nach der Wahl. "

(Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Hahaha!)

Überboten wurde das nur durch den Grafen. Der sagte nämlich noch Mitte Februar: „Ich behaupte nach wie vor," — Mitte Februar, Graf Lambsdorff! — „daß diese Aufgabe ohne Steuererhöhungen zu leisten ist." Originalton Graf Lambsdorff vom 19. Februar!
Das ist der gleiche Graf Lamsdorff, der nicht einmal drei Wochen später — es waren genau 19 Tage — Steuererhöhungen mit einem Volumen von zunächst einmal rund 100 Milliarden DM in den nächsten 4 Jahren zustimmte und der kurz zuvor noch behauptete, die CDU sei — Originalton — steuerpolitisch noch niemals völlig zuverlässig und verläßlich gewesen. Er sagte, nur auf die FDP sei in Steuerfragen Verlaß.

(Heiterkeit bei der SPD)

Ich sehe da zwischen der CDU/CSU und der FDP nicht den geringsten Unterschied!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste und des Bündnisses 90/ GRÜNE — Matthäus-Maier [SPD]: Ja, beide sind nicht verläßlich!)

Sie haben beide ihr Wort gebrochen, und sie sind beide umgefallen.
Lieber Graf, das, was eine Zeitung mit großen Buchstaben schon in der Vergangenheit öfter proklamiert hat, hat sich einmal mehr bestätigt.

(Beifall bei der SPD — Der Redner zeigt die Titelseite einer Ausgabe der „Bild"-Zeitung mit der Schlagzeile „FDP fiel wieder um". — Heiterkeit bei der SPD)

Diese Zeitung holt immer wieder den alten Stehsatz heraus, weil er stets zu verwenden ist.



Dr. Hans-Jochen Vogel

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: So kann man auch mit kleinen Sachen großen Kindern Freude machen! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU — Glocke der Präsidentin)

— Frau Präsidentin, ich habe volles Verständnis für diese Reaktion.

(Dr. Vogel [SPD] trinkt einen Schluck Wasser — Zurufe von der CDU/CSU: Prost!)

— Sie sind schon ziemlich tief gesunken, daß Sie jetzt schon bei reinem Leitungswasser „Prost!" rufen; das war bei der CSU früher anders.

(Heiterkeit im ganzen Hause — Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/ Linke Liste und des Bündnisses 90/GRÜNE — Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Das war leider gut!)

Sie nehmen unsere Aufforderung zur Sparsamkeit jetzt sehr ernst; ich komme darauf noch zurück.
Zunächst haben Sie Ihren Wortbruch mit den Kosten des Golfkrieges begründet. Das aber war durchsichtig und peinlich zugleich. Es war durchsichtig, weil Sie selber die Kosten des Einigungsprozesses für 1991 mit 150 Milliarden DM und die Höhe der Leistungen, die durch den Golfkrieg bedingt sind, mit 15 Milliarden DM angegeben haben. — Im übrigen scheint sich inzwischen nach den Berechnungen, die wir bekommen, in den Vereinigten Staaten ein Guthaben anzusammeln.

(Heiterkeit bei der SPD)

Wir wären dankbar, wenn wir vom Außen- oder vom Finanzminister hören könnten, was mit diesem Überschuß, der sich dort gebildet hat, eigentlich geschehen soll.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE — Rühe [CDU/CSU]: Kosten entstehen auch jetzt noch!)

— Entschuldigung, fragen wird man doch noch dürfen. Ich bin ja froh, daß die Kriegskosten hinter den eingeplanten Kosten zurückgeblieben sind, aber man darf doch nachfragen. Oder ist das Geld einfach bedingungslos, à fonds perdu gegeben worden? Das traue ich nicht einmal Ihnen zu.

(Zurufe von der SPD: Doch!)

— Ich lasse mich in der Beziehung gerne übertreffen.
Es war peinlich, weil Ihnen selber die Frage, was das eigentlich für eine Politik sei, die in Wochenfrist die Steuern erhöht, um den Krieg zu finanzieren, eine Steuererhöhung zugunsten der existentiellen Sicherung von Millionen unserer Landsleute aber ablehnt, wohl unangenehm wurde, was Sie im Grunde ja ehrt. Jedenfalls verschwand diese Begründung genauso schnell, wie sie aufgetaucht war. Selbst Herr Waigel hat es nicht mehr gewagt, diese Begründung für die Steuererhöhung hier vorzutragen.

(Zurufe von der SPD: Doch! — Gestern! — Matthäus-Maier [SPD]: Ja, er bleibt dabei!)

— Doch? Hat er es? Dann habe ich eine deutbare Stelle günstiger ausgelegt, als sie es verdient.

(Beifall bei der SPD und bem Bündnis 90/ GRÜNE)

Aber vielleicht kann der Bundeskanzler klarstellen, wofür die Steuern denn nun eigentlich erhöht worden sind.
Statt dessen sagen Sie jetzt, Herr Bundeskanzler, Sie hätten sich geirrt — wobei sich in Ihrer Regierung jeder über etwas anderes geirrt haben will.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

Sie, Herr Bundeskanzler, haben sich über die Entwicklung des Handels mit den RGW-Ländern geirrt. Der Graf hat sich schon etwa breiter geirrt, nämlich nach eigenem Geständnis über den Anstieg der Löhne und über die Dauer der Privatisierung. Herr Graf, es tut Ihrem Ruf als Wirtschaftsfachmann nur bedingt gut, daß Sie solche Irrtümer am laufenden Band eingestehen.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)

Lieber Graf, in diesem Punkt ist Ihnen Herr Möllemann wieder ein kleines Stück voraus. Er sagt nämlich frank und frei, er habe sich überhaupt geirrt; ganz generell habe er sich geirrt.

(Heiterkeit bei der SPD)

Herr Waigel macht es sich noch bequemer. Er erklärt sich einfach für überfordert und sagt, er habe überhaupt nichts voraussehen können. Das sagt er auch heute noch!

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

Diese Unfähigkeit, irgend etwas vorauszusehen, qualifiziert ihn in besonderer Weise für das Amt des Finanzministers! Aber der Kollege Waigel hat ja auch in anderen Funktionen mit der Voraussicht manchmal Probleme. Auch die politische Entwicklung der DSU hat der Ehrenvorsitzende dieser Partei offenbar nicht vorausgesehen. Das ist also so eine Sache mit der Voraussicht.

(Zustimmung bei der SPD)

Meine Damen und Herren auf der Regierungsbank, empfinden Sie diese Ansammlung einander widersprechender Ausreden nicht selber als ziemlich — na, ich bin einmal milde — unglücklich? Sie erscheinen ja als ein Kabinett der Irrenden.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

— Ich habe „der Irrenden" gesagt.
Dabei ist Ihre Ausrede, Herr Bundeskanzler, eigentlich diejenige, die man am wenigsten belasten kann.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Da war der Komödienstadl trotzdem noch besser, Herr Vogel!)

— Lieber Herr Bötsch, nun kennen wir uns so lange. Wenn Sie all das, was unsere Menschen nun wirklich bewegt und umtreibt — ich zeigen Ihnen nachher



Dr. Hans-Jochen Vogel
noch mehr von dem, was die Menschen bewegt —, als Komödienstadl betrachten — —

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Nein, Ihre Ausführungen! — Gegenruf des Abg. Duve [SPD]: Das ist der Herr Missionar!)

— Aha, aber ich bitte Sie um alles in der Welt: Ich werde doch ehrerbietigst die Ausführungen der Herren, worüber sie sich alles geirrt haben, hier vortragen dürfen. Dann bin ich doch nur Berichterstatter über einen Komödienstadl, und der sitzt dort, auf der Regierungsbank!

(Lebhafter Beifall bei der SPD — Beifall bei der PDS/Linke Liste und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Herr Bötsch, ich weiß selber: Zwischenrufe sind manchmal hilfreicher für den, der sie empfängt, als für den, der sie macht. Auch uns geht das manchmal so.
Herr Bundeskanzler, Ihre Ausrede ist nun wirklich die am wenigsten haltbare; denn daß der Absatz der ehemaligen DDR in den RGW-Ländern, wie Sie der staunenden Bundespressekonferenz dargelegt haben, drastisch zurückgehen würde, haben Sie doch selber dem Parlament bereits im Oktober 1990

(Bundeskanzler Dr. Kohl: Aber nicht auf Null!)

— die Zahlen kommen noch, Herr Bundeskanzler — in Ihrer Antwort auf eine von uns gestellte Große Anfrage mitgeteilt. In der Antwort heißt es u. a. von neuem, daß die Einkäufe der Sowjetunion bereits im ersten Halbjahr 1990 um 15 % zurückgegangen sind und daß für das zweite Halbjahr 1990 mit einem weiteren Rückgang von 30 % zu rechnen sei. Das sind dann schon 45 %. Bei den Einkäufen der kleineren RGW-Länder — das sind alle anderen; wenn man sie zusammenzählt, sind sie auch ganz schön groß; Sie wissen ja, was an Exporten aus der DDR nach Ungarn, nach Polen und in die Tschechoslowakei ging — sei mit 60 °A° Rückgang zu rechnen.

(Zuruf von der SPD: Er glaubt sich selber nicht!)

Anschließend wird ausgeführt, daß ein weiterer spürbarer Rückgang — die Exporte waren also schon auf unter die Hälfte zurückgegangen — des Handels mit der UdSSR und den anderen RGW-Ländern ab 1991 nicht auszuschließen sei.
Herr Bundeskanzler, das ist doch genau das, was Sie erst jetzt entdeckt haben wollen. Dabei wußten Sie es schon im Herbst 1990, es sei denn, Sie berufen sich jetzt nicht mehr auf Irrtum, sondern auf Vergeßlichkeit. Aber auch das wäre nicht gut.

(Beifall bei der SPD — Matthäus-Maier [SPD]: Blackout!)

Herr Bundeskanzler, so leicht, glaube ich, kommen Sie nicht davon. Ich bezweifle auch — aber ich lasse das offen — , daß Sie sich geirrt haben. Aber geirrt haben sich mit Sicherheit diejenigen Wählerinnen
und Wähler, die Ihnen geglaubt und die Ihnen deshalb ihre Stimme gegeben haben.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Jetzt kommt ja eine neue Verteidigungslinie auf. Die ist nun ganz besonders pfiffig. Sie lautet: Das kann eigentlich gar kein Betrug gewesen sein, weil die Wähler das dem Bundeskanzler ohnehin nicht geglaubt hätten. Ich glaube, darauf sollte sich eine honorige demokratisch-parlamentarische Regierung wirklich nicht berufen. Das offenbart nämlich einen noch größeren Defekt im Umgang mit den Wählerinnen und Wählern.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Die Wählerinnen und Wähler, die sich am 2. Dezember geirrt haben, bereuen das inzwischen bitter — in Ost und West. Wenn Sie es nicht glauben, dann gehen Sie bitte noch einmal auf die Plätze in Leipzig, Rostock, Erfurt und Magdeburg, auf denen Sie vor der Wahl so eindrucksvoll gesprochen haben. Folgen Sie doch der Einladung, die, glaube ich, Kollege Schulz in einer durchaus angemessenen und maßvollen Weise an Sie gerichtet hat.
Es wird Ihnen auf manchen Plätzen und in manchen Sälen der alten Bundesländer ebenfalls vieles an Fragen begegnen. Sie würden, Herr Bundeskanzler, sicher anders empfangen werden als vor der Wahl, und Sie wissen das. Bei nächster Gelegenheit werden Sie auch die Quittung bekommen; so zuerst einmal der Herr Kollege Wagner in Rheinland-Pfalz. Das prophezeien Ihnen ja inzwischen schon Ihre eigenen Leute. Insbesondere Ihr bereits angekündigter Nachfolger, Herr Wilhelm, läßt daran keinen Zweifel. Wenn das Bedürfnis besteht, lese ich Ihnen das schöne Montagsinterview im Deutschlandfunk vor, wo Herr Wilhelm sagte, es sei schon alles verloren. Das sei keine Politik, sondern „management by surprise".
Das kann ich Ihnen vorlesen. Sie kennen ja Herrn Wilhelm.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auch die Familie Vogel kennt Herrn Wilhelm.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Ich kann Ihnen, Herr Wagner, nur zur Vorsicht raten. Sie haben keinerlei Gewähr, daß die zwei Jahre, wenn es passierte — aber es passiert nicht — , eingehalten werden, weil es zwischendurch bei Ihnen noch einen Parteitag gibt. Seien Sie deshalb vorsichtig.
Damit wir uns recht verstehen: Der Skandal liegt nicht darin, daß die deutsche Einigung Opfer erfordert und daß deshalb Steuern erhöht werden. Das ist ein Gebot der Solidarität, und das haben wir schon vor der Wahl nicht nur als notwendig bezeichnet, sondern wir haben auch bereits Vorschläge dazu gemacht, welche Steuern erhöht werden sollten. Der Skandal besteht darin, daß die Menschen getäuscht



Dr. Hans-Jochen Vogel
wurden und daß die vorhandene Bereitschaft zur Solidarität nicht gefördert, sondern gelähmt

(Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist der Punkt!)

und mit Mehltau überlagert worden ist.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Inzwischen geben Sie ja mehr oder weniger unverblümt zu, daß Oskar Lafontaine und wir in vielen Punkten der Wahrheit viel näher waren als Sie.

(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)

— Na ja, gut. Sie machen das sicherlich pflichtgemäß. Ich wundere mich überhaupt, daß Herr Gerster so lange so ruhig ist.

(Zuruf von der CDU/CSU: Der ist gar nicht da! — Weitere Zurufe)

— Er ist krank? Gute Besserung!
Sie übernehmen ja von uns auch eine Position nach der anderen und kaschieren das auch gar nicht mehr.
Wir haben gesagt — Herr Kollege Waigel, ich will das vor allem Ihnen in Erinnerung rufen, weil ich als ehemaliger Oberbürgermeister nun wirklich wußte, wovon ich spreche — , daß die Finanzausstattung der Gemeinden völlig unzureichend ist. Sie haben das bei den Verhandlungen über den Einigungsvertrag — wir saßen uns schräg gegenüber — bestritten. Jetzt, mit sechs Monaten Verspätung, tun Sie das, was wir gefordert haben, wenn auch noch immer nicht in ausreichendem Maße. Reicht denn Ihre Phantasie nicht, sich vorzustellen, was die Gemeinden schon hätten auf den Weg bringen können, wenn man ihnen die 5 Mil-harden DM an freien Investitionsmitteln schon vor einem halben Jahr gegeben hätte

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ Linke Liste)

und wenn die Selbständigen, die Handwerker, die sich selbständig gemacht haben und die händeringend auf Aufträge warten, diese Aufträge von den Gemeinden schon im November oder im Dezember bekommen hätten? Es weiß doch jeder von uns, daß auch der deutsche Wiederaufstieg in den alten Bundesländern damit begonnen hat, daß die Gemeinden für ihre Infrastruktur und für Baumaßnahmen endlich Aufträge geben konnten.
Wir haben gefordert, die Altschulden der Wohnungsbaugesellschaften zu reduzieren, weil diese sonst zusammenbrechen. Jetzt, nach einem halben Jahr, ringen sie sich wenigstens zu einem Moratorium durch. Ich sage Ihnen voraus: Sie werden mit dem Moratorium allein das Problem nicht bewältigen.

(Beifall bei der SPD)

Sie müssen die Wohnungsbaugesellschaften von Altschulden entlasten, die zum Teil mit dem Wohnungswesen gar nichts zu tun haben, sondern ihnen oktroyiert worden sind, weil das alte System ihnen ganz
andere Aufgaben — solche, die hier die Gemeinden erledigen — zudiktiert hat.

(Dr. Struck [SPD]: Sehr wahr!)

Wir haben gesagt: Die Altschulden müssen insgesamt wenigstens um den Anteil der betriebsfremden Lasten vermindert werden. Jetzt tun Sie das wenigstens bei der Landwirtschaft.
Wir haben bei den Verhandlungen über den Einigungsvertrag vor einer Investitionsblockade durch unklare Eigentumsverhältnisse gewarnt. Jetzt reden Sie selber — manche mit einer sehr forschen Tonart — von einer solchen Blockade. Ich muß noch einmal die gesamte Bundesregierung, nicht nur den Bundeskanzler, fragen: Was alles hätte schon in Gang gesetzt werden können, wenn diese Forderungen schon im letzten Jahr erfüllt worden wären?
Übrigens bildet sich da eine Legende weil Sie immer von den 15 Milliarden DM reden, deren Zahlung an die Regierung Modrow/de Maizière wir angeblich verlangt hätten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Nur Modrow!)

— Herr de Maizière hat die 15 Milliarden DM genauso verlangt wie Herr Modrow.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Es gibt ja wohl einen Unterschied zwischen de Maizière und Modrow!)

— Entschuldigung, Herr de Maizière war Stellvertreter von Herrn Modrow, war Mitglied des Kabinetts und hat hier in Bonn öffentlich die 15 Milliarden DM genauso eingefordert wie Herr Modrow. Das ist doch die Wahrheit!

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Meine Damen und Herren, hier bildet sich eine Legende. Wir haben nie verlangt, daß Herrn Modrow diese 15 Milliarden DM rasch überwiesen werden.

(Zuruf von der CDU/CSU: In die eigene Tasche!)

Ich sage aber: Welche Investitionen hätten in der öffentlichen Infrastruktur bereits laufen können,

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

wenn damals oder jedenfalls sofort nach der Volkskammerwahl eine entsprechende Verpflichtungsermächtigung gegeben worden wäre und mit der Planung und Vorbereitung der Projekte schon hätte begonnen werden können. Das ist auch die Wahrheit!

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ Linke Liste)

Ich sagte: Sie haben einen Teil unserer Forderungen übernommen. Wir begrüßen auch andere Elemente der Beschlüsse, die Sie in der letzten Woche endlich gefaßt haben, so insbesondere die direkte Verstärkung der Gemeindefinanzen zur Instandsetzung von Schulen, Krankenhäusern und Altersheimen. Vor allen Dingen ist es gut, daß Sie diese Beträge jetzt pauschal zur Verfügung stellen. Die Gemeinden drüben sind völlig außerstande, die hochkomplizierten Förderungs- und Zuschußverfahren zu handha-



Dr. Hans-Jochen Vogel
ben, was wir hier im Laufe vieler Jahre gelernt haben. Es war dringend notwendig, daß ihnen das Geld einfach gegen den Nachweis, daß sie Aufträge für Investitionen und für die Bauwirtschaft erteilt haben, gegeben wird. Das sollte man fortsetzen.
Wir begrüßen auch die zusätzlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Aber Entscheidendes muß noch geschehen. Unter Bezugnahme auf das, was Herr Kollege Lafontaine bereits gestern gesagt hat, nenne ich aus dem nationalen Aufbauplan, den wir vorgelegt haben, vor allem folgende Punkte:
Erstens. Es bleibt dabei: Korrektur des Gesetzes über offene Vermögensfragen, die über das, was jetzt in einem fast nicht nachzuvollziehenden Verfahren vorgelegt worden ist, hinausgeht, durch die Normierung des Vorrangs der Entschädigung vor der Rückgabe überall da, wo das Gemeinwohl dies erfordert. Ich fürchte, wir geraten in ein neues Gestrüpp, das die Behörden drüben nicht anwenden können, wenn es detaillierte Aufzählungen mit Unterausnahmen, Gegenausnahmen, Hauptausnahmen und Befristungen gibt. Es kann nur der klare Satz helfen: Überall da, wo das Gemeinwohl es erfordert, hat die Entschädigung Vorrang vor der Rückgabe.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ Linke Liste)

Ich will die Debatte nicht vorwegnehmen, aber dies entspricht dem Recht in den alten Bundesländern. Hier können Sie Grundstücke enteignen, um eine Straße zu bauen. Sie können sogar enteignen, um einen Sportplatz zu bauen. Dann muß es doch, wenn es um die Arbeit für Millionen von Menschen geht, möglich sein, zu verlangen, daß dieselben Grundsätze gelten, daß sich der bisherige Eigentümer mit Entschädigung zufriedengibt und daß die Menschen drüben eine Chance haben. Es geht doch nicht um das einzelne Haus, es geht doch nicht um das Elternhaus!

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

So lange, wie nicht eine handhabbare, einfache Formel gegeben wird, wird das nicht funktionieren.
Zweitens: Entwicklung einer aktiven Struktur-, Industrie- und Beschäftigungspolitik, die sich die entsprechenden Aktivitäten in den Montanregionen und den Werftregionen der alten Bundesländer zum Vorbild nimmt. Ich habe es vorhin schon ausgeführt: Sie werden den Menschen drüben nicht erklären können, warum sie bei der Umstrukturierung härter herangenommen werden, als wir selbst es unseren Menschen aus guten Gründen je zugemutet haben. Dabei muß auch das Instrument der Beschäftigungs- und der Qualifizierungsgesellschaft eingesetzt werden.
Ich weiß nicht, ob Ihnen so deutlich ist — mir ist es in Gesprächen deutlich geworden —, was es für die Selbstachtung von Menschen bedeutet, die drüben auch 20, 30 oder 40 Jahre tüchtig und anständig gearbeitet haben, wenn ihnen gesagt wird: Für Euch ist kein Bedarf mehr. Für Euch ist kein Platz mehr. Euch können wir nicht brauchen. Geht nach Hause! — Ich bin selber in Verlegenheit, den Menschen dann etwas
Überzeugendes zu sagen. Ich glaube, das Instrument der Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaft wäre ein Weg.
Lassen Sie uns auch eine große Gemeinschaftsinitiative unternehmen, damit wir den sowjetischen Soldaten drüben — 400 000 an der Zahl — eine Umschulung und eine Qualifizierung anbieten können.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Nehmen Sie die alten Handwerks- und Werkmeister dazu; das wäre eine sinnvolle Aufgabe.
Ich sage hier in vollem Ernst: Arbeitslosenanteile von 40 und 50 % — ich zitiere mit diesen Zahlen den Bundesarbeitsminister — sind unerträglich. Ihre Abwendung erfordert außerordentliche Maßnahmen. Dafür, daß diese Maßnahmen getroffen werden und daß die Treuhand in eine solche Politik eingebunden wird, sind der Gesetzgeber und der Bundesfinanzminister verantwortlich. Solange die dafür notwendigen Änderungsgesetze und die Richtlinien nicht ergehen, richtet sich unsere Kritik gegen die Bundesregierung und nicht so sehr gegen die Treuhand. Ich habe jetzt nämlich den Eindruck daß da und dort und gerade auch bei Ihnen die Treuhand stellvertretend für andere geprügelt wird, weil sich die Regierung hinter der Treuhand verborgen hält.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ Linke Liste)

Drittens: Korrektur des von Ihnen vorgelegten Steuer- und Abgabenerhöhungspakets in den Punkten, die Herr Kollege Lafontaine gestern dargelegt hat. Ich wiederhole nur zwei Forderungen, die für uns von besonderer Bedeutung sind; und wenn Sie unsere Mitarbeit wünschen, würde ich Ihnen empfehlen, gerade diese beiden Punkte sorgfältig zu erwägen.

(Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]: Wie lange redet der noch?)

— Mit Ihrer Erlaubnis, bis ich fertig bin, Herr Kollege!
Die erste Forderung ist auf die Ersetzung der Erhöhung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge durch eine generelle Arbeitsmarktabgabe oder einen Arbeitsmarktbeitrag gerichtet.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Wir werden nicht müde werden, zu sagen: Es ist grob ungerecht, zur notwendigen — das unterstreiche ich — Finanzierung eines Strukturwandels solchen Ausmaßes nur die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber heranzuziehen. Die Heranziehung der anderen Gruppen — Selbständige, Beamte, natürlich auch wir alle hier miteinander — ist ein Gebot der Gerechtigkeit.

(Zustimmung bei der SPD und beim Bündnis 90/GRÜNE)

Herr Waigel, Sie haben nicht recht, wenn Sie sagen, das sei eben Arbeitslosigkeit, und da gelte das Solidarprinzip der Arbeitnehmer. Dies ist aber keine normale Arbeitslosigkeit, sondern eine gewaltige Struk-



Dr. Hans-Jochen Vogel
turveränderung. Diese Aufgabe stellt sich uns allen. Wir alle müssen zu ihrer Lösung beitragen.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ Linke Liste)

Ich verstehe auch folgendes nicht. Sie kämen doch in eine viel günstigere Position, wenn Sie den Arbeitnehmern sagen würden: Von euch verlangen wir nur das, was wir selber auch erbringen, weil wir diesen Beitrag auch leisten.

(Zuruf von der SPD: Dann müßten sie ja auf etwas verzichten!)

Außerdem würde es ein Mehr von 7 Milliarden DM gegenüber Ihren Plänen ergeben. Diese 7 Milliarden DM werden wir noch bitter notwendig brauchen.
Die zweite Forderung von sehr großem Gewicht ist der Verzicht auf die Streichung der Vermögensteuer und der Gewerbekapitalsteuer. Wenn Sie diese Steuern in den neuen Bundesländern suspendieren, weil die Voraussetzungen für die Erhebung nicht gegeben sind, dann ist das für uns nicht der Knackpunkt. Das kann man verstehen, denn die Einheitswerte sind noch nicht ermittelt. Außerdem ist die Zahl derer, die dort ein Millionenvermögen haben, von Herrn Schalck-Golodkowski abgesehen — aber der hat ja hier Aufnahme gefunden —,

(Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Bayern! Tegernsee! — Dr. Struck [SPD]: CSU!)

nicht so groß.

(Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Gestern bei Herrn Lafontaine klang das aber anders!)

— Langsam! — Wir widersetzen uns mit aller Entschiedenheit der Beseitigung der Vermögensteuer und der Gewerbekapitalsteuer hier in den alten Bundesländern.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Schulz [Berlin] [Bündnis 90/GRÜNE])

Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, einer handvoll von Millionären in dem Zeitpunkt die Erleichterung der Steuerlast um Millionenbeträge zuzusagen, in dem die Belastungen für die Gemeinschaft notwendigerweise erhöht werden. Wenn das kritisiert wird, ist das nicht Neid. Die Kritik richtet sich gegen einen Verstoß gegen die Gerechtigkeit!

(Beifall bei der SPD und des Abg. Schulz [Berlin] [Bündnis 90/GRÜNE])

Verglichen mit dem Skandal, den Sie hier auslösen, ist der seinerzeitige Flugbenzin-Skandal, an den ich Sie erinnern darf — auch Sie, Herr Bötsch — , harmlos. Das sagen Ihnen ja inzwischen Ihre eigenen Parteifreunde. Herr Scharrenbroich könnte Herrn Hörsken und andere zitieren, auch den Herrn Wilhelm. Ich nehme an, daß auch Herr Wagner hier an dieser Stelle und nicht nur draußen in Rheinland-Pfalz dagegen protestieren wird. Außerdem wäre es gut, wenn Sie Ihre Einsparungsankündigungen nun selber ernst nehmen würden.
Viertens liegt mir persönlich etwas sehr am Herzen. Bei allen Auffassungsunterschieden in diesem Hause darüber, wie das Schwangerschaftsrecht novelliert
werden soll, stimmen wir doch weitgehend darin überein, daß der Schutz des vorgeburtlichen Lebens viel stärker als bisher durch Hilfen bewirkt werden muß, die Schwangerschaftskonflikte abwenden oder doch mildern. Von Frauen aus meiner Fraktion sind dafür zusammen mit Frauen aus anderen Fraktionen in der letzten Legislaturperiode neue Rechtsansprüche und Verbesserungen bestehender Rechtsansprüche in einem Gesamtbetrag von damals 4,7 Milliarden DM gefordert worden. Dieser Betrag bedarf auf Grund der Koalitionsvereinbarungen — darin steht ja manches — der Aktualisierung; er wird aber jedenfalls beträchtlich sein.
Für mich — und ich hoffe, nicht nur für mich — ist es ein Prüfstein für die Ernsthaftigkeit vielfältiger Bekundungen über den Lebensschutz, ob die Politik bereit ist, diese Mittel zur Verfügung zu stellen. Wer sich für Lebensschutz ausspricht — das tun ja viele und manche mit besonderer Verve —, der muß sich an dieser Stelle prüfen lassen und an dieser Stelle bewähren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Wer bereit ist, Steuern innerhalb kürzester Frist zu erhöhen — ich verweise noch einmal leise auf den Bezug zum Golfkrieg — , der darf keinen Augenblick zögern, die Steuereinnahmen unseres Gemeinwesens zu verbessern, wenn es um den Schutz des vorgeburtlichen Lebens geht.

(Beifall bei der SPD)

Wenn Sie, Herr Bundeskanzler und Herr Waigel, eine geeignete Steuermaßnahme vorschlagen, um dies zu gewährleisten, dann werden Sie jedenfalls mich an der Seite derer haben, die dem zustimmen, weil es ein Prüfstein ist.

(Zustimmung bei der SPD)

Fünftens. Notwendig ist die rasche Rehabilitierung derer, die unter dem vergangenen System durch Willkür und staatliche Repression in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt worden sind. Es ist eher bedrükkend, daß wohl ständig und lautstark über Verluste an Grund und Boden, aber kaum über die Wiedergutmachung der Schäden diskutiert und geredet wird, die so viele Menschen an ihrer Freiheit, an ihrer Gesundheit und an ihrem beruflichen Fortkommen erlitten haben. Ich appelliere an uns alle, daß das ganz oben auf die Tagesordnung unserer politischen Arbeit kommt.

(Beifall bei der SPD)

Sechstens. Erforderlich ist auch die unverzügliche Ingangsetzung des Verfassungsdialogs, weil das Zusammenwachsen der Menschen in den alten und den neuen Bundesländern und die Entwicklung eines gemeinsamen Bewußtseins dadurch gefördert und belebt werden.
Siebtens sage ich, ohne daß ich mich an dieser Stelle jetzt in der Sache äußere: Bitte keine unnötige Verzögerung der Entscheidung über den Sitz des Bundestages! Beide Städte haben einen Anspruch darauf, daß bald Klarheit geschaffen wird; sonst wird die Entwicklung beider Städte gebremst. Über diese Frage sollte nicht überhastet, aber bald entschieden werden; ich



Dr. Hans-Jochen Vogel
meine, bis zur oder jedenfalls kurz nach der Sommerpause.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Richtig!)

Es wäre gut, Herr Bundeskanzler, wenn Sie in dieser Frage allmählich auch Ihre Meinung öffentlich erkennen ließen.

(Bundeskanzler Dr. Kohl: Was soll denn das? — Bohl [CDU/CSU]: Nun mal langsam! Grüßen Sie mal Herrn Ehmke!)

Über diesen zentralen Themen der deutschen Innenpolitik dürfen wir die anderen Probleme nicht vergessen, von deren Bewältigung das Wohlergehen unseres Volkes ebenfalls abhängt. Es ist ja wahrlich nicht so, daß in den alten Bundesländern nichts zu ändern und nichts zu verbessern wäre. Zu den anstehenden Aufgaben gehören die ökologische Erneuerung unserer Wirtschaft und die substantielle Verminderung unseres Energieverbrauchs; dazu gehören das Zuwanderungsproblem, die Pflegeproblematik, die Wohnungsnot, der drohende Verkehrsinfarkt und die Gleichstellung der Frauen, um nur einige Stichworte zu nennen. Meine Kolleginnen und Kollegen werden darauf noch näher eingehen.
Herr Bundeskanzler, zum Schluß muß ich noch einmal auf Ihr Versprechen, es werde keine Steuererhöhungen im Zusammenhang mit der deutschen Einigung geben, und auf die Tatsache, daß dieses Versprechen gebrochen wurde, zurückkommen. Das ist ein gravierender Vorgang, der die politische Kultur, der die Glaubwürdigkeit der Politik insgesamt beschädigt hat. Wie tief, das zeigt die Tatsache, daß sich Bürgerinitiativen an die Bevölkerung wenden und ihrer Empörung über diesen Vorgang in ganzseitigen Anzeigen Ausdruck geben und das sogar mit der Forderung nach Neuwahlen verbinden. Sie und wir alle
— denn wir sind immer mit betroffen von solchen Vorgängen — sollten das nicht auf die leichte Schulter nehmen.
Sie selbst glaubten, als Oppositionsführer im Jahre 1976 einmal zu einem entsprechenden Vorwurf Anlaß zu haben. Herr Bundeskanzler, Sie haben diesen Vorwurf damals vom Podium des Deutschen Bundestages aus wie folgt formuliert — ich empfehle auch deswegen Aufmerksamkeit, weil es sich um Ausführungen des Bundeskanzlers handelt — :
Herr Bundeskanzler
— Sie hatten den damaligen Bundeskanzler als Adressaten —
das für mich Unfaßbare ist, daß Sie es nicht fassen können, daß sich Bürger auf das Wort des Kanzlers verlassen und daß diese Bürger empört sind, wenn der Kanzler sein Wort einfach bricht, so, als wäre dies das Natürlichste von der Welt. Wer
— so fuhr Helmut Kohl als Oppositionsführer fort — soll Ihnen jetzt eigentlich noch glauben? (Beifall bei der SPD)

Wer so die Axt an die Wurzel des Vertrauens in den Staat legt, ist dabei, den Lebensnerv der Demokratie zu gefährden, wenn nicht gar zu zerstören.
So Helmut Kohl in der Funktion, in der ich hier heute rede, nämlich als Oppositionsführer, gegenüber dem damaligen Bundeskanzler im Jahre 1976.
Diese Frage und die Feststellung, die Sie damit verbunden haben, fallen heute mit ihrem ganzen Gewicht auf Sie selber zurück.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ Linke Liste)

Ich bitte Sie eindringlich, den Schaden, der hier entstanden ist, zumindest dadurch zu mindern, daß Sie heute und hier nicht mit Ausreden und Irrtumsbehauptungen fortfahren, sondern daß Sie gegenüber der Öffentlichkeit ein klares und deutliches Wort und auch ein Wort der Entschuldigung finden. Ich glaube, die Menschen haben einen Anspruch darauf, und unsere Demokratie braucht das.

(Beifall bei der SPD)

Solange Sie das nicht tun, ist Ihre Regierung mit einem doppelten Makel belastet: mit dem Makel, daß Sie Ihre Mehrheit und damit das Zustandekommen Ihrer Regierung — ich formuliere vorsichtig — auch einer Täuschung verdanken — das ist ein Makel, der Sie begleiten wird — , und dem Makel, daß diese Regierung nicht die Kraft aufbringt, wenigstens im nachhinein die Wahrheit zu sagen und dadurch diesen Makel wenigstens zu mildern.
Wie immer Sie sich entscheiden, unsere Verantwortung, die Verantwortung der Opposition, ist durch diese Vorgänge gewachsen, schon deshalb, weil die Menschen erkannt haben: Wir sagen die Wahrheit auch dann, wenn sie unpopulär klingt. Wir sind — ohne Verwischung der Funktionen, die uns in diesem Hause übertragen worden sind — zur Zusammenarbeit bereit, wo immer die Größe der Aufgabe das erfordert. Wir werden alles tun, was in unserer Kraft steht, um dieser gestiegenen Verantwortung gerecht zu werden, d. h. Schaden von unserem ganzen Volk abzuwenden und seinen Nutzen zu mehren. Jeder wird verstehen, wenn ich das jetzt vor allem auf die Menschen in den neuen Bundesländern konzentriere.
Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der SPD — Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1201400200
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Dregger.

(Gansel [SPD]: Herr Kohl soll sich selbst entschuldigen!)


Dr. Alfred Dregger (CDU):
Rede ID: ID1201400300
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es hat in den letzten Wochen viel Kritik gegeben. Sie war allerdings nur selten konstruktiv,

(Zustimmung bei der CDU/CSU — Lachen und Widerspruch bei der SPD)




Dr. Alfred Dregger
häufig oberflächlich, manchmal heuchlerisch

(Beifall bei der CDU/CSU — Gansel [SPD]: Schon wieder ein Irrtum! — Weitere Zurufe von der SPD)

und vor allem in keiner Weise den großen Aufgaben angemessen, vor denen wir jetzt alle stehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Zunächst: Der soeben wiedervereinigte deutsche Staat hat nicht nur normale staatliche Aufgaben zu erfüllen. Hinzu kommen Sonderaufgaben in einer Dichte und Dramatik, wie sie zur Zeit keinem anderen Staat der Erde gestellt sind.
Ich möchte diese Sonderaufgaben aufzählen.
Erstens. Aus der vor weniger als einem halben Jahr wiederhergestellten staatlichen Einheit muß nun wirtschaftliche und soziale Wirklichkeit werden. Das ist nach 45 Jahren kommunistischer Unterdrückung und Mißwirtschaft eine gigantische Aufgabe, meine Damen und Herren,

(Beifall bei der CDU/CSU)

eine Aufgabe, für die es in der Geschichte kein Beispiel gibt.

(Zuruf von der PDS/Linke Liste: Für Sie auch nicht!)

Wer diese Wirklichkeit übersieht, verliert die Fähigkeit, diese Wirklichkeit zu verändern und grundlegend zu verbessern.
Zweite Sonderaufgabe: Wir haben den Staaten Ostmitteleuropas beizustehen. Nach der Auflösung des RGW-Systems und des Warschauer Paktes wenden sich Ungarn, die Tschechoslowakei und Polen vor allem uns zu. Der polnische Ministerpräsident hat vor seiner Reise nach Bonn gesagt: „Der Weg Polens nach Europa führt über Deutschland. " — Es liegt auch in unserem deutschen Interesse, daß diese Länder mit uns und durch uns Halt für ihre wirtschaftliche Entwicklung und ihre Sicherheit in Europa finden. Würden sie das nicht, würden sie Notstandsgebiet bleiben. Dann wäre die Massenauswanderung von dorther zu uns die unvermeidliche Folge.

(Zuruf vom Bündnis 90/GRÜNE: Das ist Realität!)

Dritte Sonderaufgabe: Wir müssen die politischen Anstrengungen in der Sowjetunion unterstützen, zu einer besseren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung zu finden. Uns Deutschen geht es dabei vor allem um eine tragfähige Grundlage für gute Beziehungen zwischen dem deutschen Volk und den Völkern der Sowjetunion. Wir Deutsche sind heute Verbündeter des Westens und zugleich wichtiger Partner des Ostens; beides wollen wir bleiben. Diese Konstellation, ein Ergebnis der Außenpolitik von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl, ist für unser Land in der Mitte Europas eine Traumkonstellation, die dem Bismarck-Reich, das bald allein stand, nie vergönnt war.
Wir sind daran interessiert, meine Damen und Herren, daß die Sowjetunion ihre Truppen — zur Zeit noch über 350 000 Mann — wie vereinbart, spätestens bis 1994, von deutschem Boden abzieht. Dieser Abzug
trägt wesentlich zur Entmilitarisierung der Ost-West-Beziehungen bei, die nicht nur uns, sondern allen Europäern zugute kommt. Wir Deutsche zahlen dafür 13 Milliarden DM und vermindern — im Vorgriff auf diesen Abzug — die deutschen Truppen auf 370 000 Mann. Das ist wenig mehr als die Hälfte des vorherigen Bestandes von Bundeswehr und NVA.
Wir begrüßen es, daß der Oberste Sowjet den Zweiplus-Vier-Vertrag, den großen Partnerschaftsvertrag und den Vertrag über die wirtschaftliche und technische Zusammenarbeit ratifiziert hat. Den Vertrag über den Truppenabzug hat der Oberste Sowjet grundsätzlich gebilligt.
Weil dies zu Spekulationen geführt hat, sage ich: Wir werden diesen Vertrag erfüllen wie die anderen Verträge auch. Zu irgendwelchen Nachbesserungen sehen wir keinerlei Anlaß.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir erwarten ferner, daß die Republik Polen die Erfüllung dieses Vertrages erleichtert. Auch in Polen wird man einsehen müssen, daß es Solidarität auf Dauer nur auf der Grundlage der Gegenseitigkeit geben kann.
Vierte Sonderaufgabe: Wir hatten und haben die Aufgabe, im Golfkonflikt zur Solidarität mit der UNO, unseren atlantischen Verbündeten sowie Israel beizutragen. Wir haben das nicht mit Soldaten getan — die Gründe dafür kennen Sie — , wir haben es aber durch Sachleistungen und finanzielle Beiträge getan. Dafür haben wir 17 Milliarden DM aufwenden müssen. Nun, nach dem Sieg der Alliierten, im Auftrag der Vereinten Nationen, geht es dort um eine stabile Ordnung des Friedens und um den Wiederaufbau. Der Wiederaufbau Kuwaits und des Irak wird vor allem eine Sache der reichen Golfländer sein, aber auch wir werden unseren Beitrag leisten. In einer Region, für die wir zur Abwehr des Aggressors und Diktators viel Geld aufgewandt haben, mit der wir aber auch seit langem wertvolle kulturelle Beziehungen unterhalten, werden wir in der Lage sein, für die Entwicklung einen positiven Beitrag zu leisten.
Zur Diskussion über den möglichen Einsatz der Bundeswehr in ähnlich gelagerten Fällen sage ich: Wir, die CDU/CSU, wollen durch eine klarstellende Grundgesetzänderung die Konsequenz aus den gemachten Erfahrungen ziehen. Deutschland, dessen Lage sich grundlegend verändert hat, muß nach Überwindung der Teilung und nach Rückgewinnung der Souveränität im Rahmen der kollektiven Sicherheitssysteme, denen dieses Deutschland angehört — das sind die UNO, die NATO und die WEU — bereit sein, seinen militärischen Beitrag zur Friedensicherung zu leisten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wären wir dazu nicht bereit, dann wären wir nicht bündnisfähig, zum Schaden für unser Land, zum Schaden für unsere Bundesgenossen und zum Schaden auch für die Völkergemeinschaft. Wir hoffen, daß sich die SPD, die sich seit 1959 zum Bündnis bekennt, dieser Einsicht, Herr Kollege Vogel, nicht verschließen wird.



Dr. Alfred Dregger
In meiner Rede auf der Sondersitzung des Deutschen Bundestages vom 17. Januar 1991 habe ich die solidarische Haltung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur UNO, zu den USA und zu den anderen Betroffenen so klar zum Ausdruck gebracht, daß zu Zweifeln an unserer Haltung kein Anlaß bestand. Da solche Zweifel dennoch geäußert wurden, nicht was unsere Unionsposition, aber was die gesamtdeutsche Position angeht, erlaube ich mir, auf diese Rede noch einmal hinzuweisen.
Fünfte Sonderaufgabe: Wie müssen die europäische Wirtschafts- und Währungsunion in einer Weise zustande bringen, die sich an der Geldwertstabilität der D-Mark und an der unabhängigen Stellung der Deutschen Bundesbank orientiert.
Das alles, meine Damen und Herren, wird nicht leicht sein; denn die Ausgangslage der europäischen Partner ist sehr unterschiedlich. Die Divergenzen nehmen in letzter Zeit sogar zu. Wie groß die Unterschiede sind, zeigt das Beispiel eines europäischen Partnerlandes, dessen Nettoneuverschuldung nicht 0,8 % beträgt wie bei uns vor Wiederherstellung der Einheit, sondern 10,8 % — nicht 0,8 %, sondern sage und schreibe 10,8 % Nettoneuverschuldung!
Ebenso besorgniserregend ist die Divergenz der Inflationsraten. In einem anderen europäischen Partnerland beträgt die Geldentwertungsrate nicht 2,7 % wie zur Zeit bei uns, sondern 23%.
Meine Damen und Herren, ich will das nicht dramatisieren. Wir müssen aber und können unsere europäischen Partner bitten, bereits vor der Vergemeinschaftung von Wirtschaft und Währung, also jetzt, und das heißt im nationalen Rahmen, zu stabilen Verhältnissen zu kommen. Das alles der künftigen Europäischen Union überlassen zu wollen, könnte deren Scheitern bedeuten. Ich teile die Auffassung des britischen Premierministers, daß gesundes Geld wichtiger ist als dasselbe Geld.

(Zuruf von der SPD: Viel Geld ist wichtiger als wenig!)

Ich meine: wenn wir alle dasselbe Geld in Europa haben werden, dann muß es eben gesundes Geld sein.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Das ist eine dringend notwendige Voraussetzung. Jeder sollte vorher sein Haus in Ordnung bringen.
Eine Wirtschafts- und Währungsunion wird es nicht geben, wenn nicht auch eine Europäische Sicherheitsunion zustande kommt. Beide Felder betreffen die Kernstücke der staatlichen Souveränität. Man kann nicht das eine an Europa übertragen und das andere für sich behalten wollen. Ich freue mich, daß die Bundesregierung diesen Standpunkt mit Nachdruck vertritt. Ich möchte das ausdrücklich unterstützen, zumal wir immer dafür eingetreten sind.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Die Europäische Sicherheitsunion wird zwei Aufgaben haben. Sie wird Pfeiler der Atlantischen Allianz sein, die unentbehrlich bleibt, und zugleich sicherheitspolitische Grundlage der Politischen Union Europas. Ich hoffe, daß alle Partnerländer bereit sind, ihre Sicherheitspolitik zu europäisieren, auch Frankreich, das in dieser Frage eine Schlüsselrolle hat.
Meine Damen und Herren, die genannten fünf Sonderaufgaben — zusätzlich zu den normalen Staatsaufgaben — sind ein ungewöhnliches Arbeitsprogramm. Ich sage das nicht, um über unsere Arbeitsbelastung zu klagen, im Gegenteil: daß sich diese Aufgaben stellen, ist ein ungeheurer Erfolg unserer Politik und daher insgesamt erfreulich und beflügelnd. Mir geht es nur darum, ins öffentliche Bewußtsein zu rufen, daß man politische Entwicklungen und finanzielle Belastungen in diesen Sonderbereichen nicht so voraus-schätzen konnte und zum Teil auch heute noch nicht kann, wie das bei normalen Staatsausgaben möglich ist, bei denen man nach der Regel „simile, simile" —„es war alles schon einmal da" — einigermaßen sicher vorausschätzen kann, was zu erwarten ist.
Meine Damen und Herren, das finanzielle Fundament für die Wiedervereinigung Deutschlands haben wir in den Jahren 1983 bis 1989 gelegt. Wir haben in nur sieben Jahren die öffentlichen Haushalte konsolidiert und die Steuerzahler drastisch entlastet. Die Bundesausgaben stiegen in dieser Zeit im Jahresdurchschnitt um 2,5 %. Dies war nur halb so viel wie der Anstieg des Bruttosozialprodukts, das im selben Zeitraum im Jahresdurchschnitt um 5,1 % zunahm. Dies ist auch im internationalen Vergleich eine ganz ungewöhnliche Leistung, die es verdient, vor dem deutschen Bundestag und vor dem deutschen Volk hervorgehoben zu werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Nettoneuverschuldung des Bundes haben wir in derselben Zeit von 2,3 % des Bruttosozialprodukts auf 19 Milliarden DM — das sind 0,8 % des Bruttosozialprodukts — zurückgeführt. Das angemessen zu würdigen, ist ebenfalls nur im internationalen Vergleich möglich. Ich verweise auf das vorher von mir dazu in die Debatte eingeführte Beispiel.
Unsere große Steuerreform hat die Steuerzahler um 50 Milliarden DM netto entlastet. Die Steuerquote betrug 1990 22,5 %. So niedrig war sie seit 30 Jahren nicht mehr. Auch das ist im internationalen Vergleich Spitze. Unser besonderer Dank dafür gilt dem Bundeskanzler Helmut Kohl und seinen beiden Finanzministern Gerhard Stoltenberg und Theo Waigel.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, für 1991 lautet angesichts der zusätzlichen Belastung in einigen der fünf Sonderbereiche die Alternative aber nicht mehr: Steuererhöhung ja oder nein? sondern: Steuererhöhung oder Nettoneuverschuldung über die Grenze von 70 Milliarden DM hinaus?
Das zweite wäre im Hinblick auf die Geldpolitik der Bundesbank, auf die Geldwertstabilität der D-Mark und die Auswirkungen auf die internationalen Finanzmärkte nicht verantwortbar gewesen. Deshalb haben wir uns zu einer begrenzten Steuererhöhung entschlossen. Neben Verbrauchsteuererhöhungen, insbesondere der Mineralölsteuer, geht es um einen auf ein Jahr befristeten, nämlich von Mitte 1991 bis



Dr. Alfred Dregger
Mitte 1992 geltenden Solidarzuschlag zur Einkommen-, Lohn- und Körperschaftsteuer.

(Becker-Inglau [SPD]: Wer es glaubt!)

Dieser Zuschlag wird auf zwei Haushaltsjahre verteilt, so daß die Belastung je Jahr in 1991 und 1992 nur 3,75 % beträgt.

(Wettig-Danielmeier [SPD]: Ihnen glaubt doch keiner mehr!)

— Ja, Sie glauben nicht.
Einige zweifeln an der Einhaltung der Befristung, dazu sage ich: Daß diese Befristung eingehalten wird, liegt nicht nur im Interesse der Steuerzahler, sondern auch im Interesse des Fiskus, denn die Fortsetzung des wirtschaftlichen Aufschwungs in Westdeutschland und ein sich anbahnender Aufschwung in den neuen Bundesländern lassen mehr Steuereinnahmen erwarten, als sie aus Steuererhöhungen hervorgehen können.
1991 leistet der Bund an Hilfen für die neuen Bundesländer insgesamt 93 Milliarden DM. Davon sollen 57 Milliarden DM für Investitionen verwendet werden. Meine Damen und Herren, das haben wir zustande gebracht, nachdem, die politische Einheit noch keine sechs Monate hergestellt ist,

(Bundeskanzler Dr. Kohl: So ist es!) eine erstaunliche Leistung, finde ich.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Das ist ein gewaltiger Betrag. Wir könnten ihn heute nicht aufbringen, wenn wir nicht durch die Haushaltskonsolidierung der Jahre 1983 bis 1989 und die massive Steuersenkung um 50 Milliarden DM in den Jahren 1986, 1988 und 1989 dafür die Voraussetzungen geschaffen hätten.
Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion — das möchte ich unterstreichen — , sind weiterhin auf den wirtschaftlichen Aufschwung und nicht auf Steuererhöhungen eingestellt.

(Lachen bei der SPD)

Darin unterscheiden wir uns grundsätzlich von der SPD.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben nicht vergessen, meine Damen und Herren, daß die SPD in ihrer Regierungszeit die Verbrauchssteuern sage und schreibe 17mal erhöht und in den letzten Jahren 48 Steuer- und Abgabenerhöhungspläne präsentiert hat.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Dazu gehört auch der Vorschlag einer Mineralölsteuererhöhung um 50 Pfennig, also doppelt so viel, wie wir es beschlossen haben.
Meine Damen und Herren, gestern hat Ihr Debattenredner Lafontaine — daß er Ministerpräsident ist, war gar nicht zu merken —

(Dr. Struck [SPD]: Na, na!)

darauf hingewiesen — —

(Poß [SPD]: Als Fraktionsvorsitzenden habe ich Sie auch nicht gemerkt!)

— Ich habe es nicht gemerkt, das kann ich wohl als freier Parlamentarier hier sagen, denke ich! —

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Weiß Gott!)

Herr Lafontaine hat darauf hingewiesen, daß entgegen der üblichen Rollenverteilung zwischen Regierung und Opposition die SPD lange vor der CDU/CSU Steuererhöhungen vorgeschlagen habe. Das ist zutreffend,

(Poß [SPD]: Das war unvermeidbar!) aber in meiner Sicht kein Pluspunkt.


(Zuruf von der SPD: Aber die Wahrheit!)

Ich sehe darin mangelnden Respekt vor dem Portemonnaie des Bürgers

(Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der SPD)

und außerdem eine Fehleinschätzung

(Matthäus-Maier [SPD]: Sie lügen!)

im Hinblick auf die Vorteile von Steuererhöhungen für das Gemeinwohl. Wir glauben mehr an die Kraft der Bürger, die den Wohlstand schafft, und nicht an Steuererhöhungen, die Sie nachher verteilen können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Lebhafte Zurufe von der SPD)

Sie, meine Damen und Herren, sind die klassische Steuererhöhungspartei.

(Widerspruch bei der SPD)

Jeder weiß es: Es gibt keine Partei in Deutschland, die dem kleinen Mann so unverfroren in die Tasche greift, wie Sie es getan haben und wieder tun wollen.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Auch wir können in besonderen Situationen Steuererhöhungen nicht ausschließen.

(Kuhlwein [SPD]: Der hat die falsche Rede mit! Das ist die Rede aus dem Wahlkampf!)

Unsere Grundtendenz zielt jedoch, wie unsere Steuerpolitik seit Anbeginn und auch jetzt beweist, in die entgegengesetzte Richtung.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Tauschen Sie doch mal das Manuskript aus, Herr Dregger!)

Meine Damen und Herren, wir werden Ihnen das nicht ersparen. Zum Zeitpunkt der von uns vorgeschlagenen begrenzten Steuererhöhung läßt sich rückblickend sagen: Natürlich hätte man schon 1990 eine Steuererhöhung sozusagen auf Vorrat ankündigen oder gar beschließen können.

(Zuruf von der SPD: Das ist ja ganz neu!)

Ich halte diesen Gedanken allerdings für absurd. Wir
jedenfalls erhöhen Steuern nur, wenn zweifelsfrei



Dr. Alfred Dregger
nachgewiesen ist, daß es dazu keine Alternative gibt, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Im übrigen: Wie hätten wir damals das Volumen für eine Steuererhöhung bemessen sollen? Weder die Aufwendungen für den späteren Golf-Krieg noch die Lasten, die durch den Zusammenbruch des RGW-Systems für die Exportwirtschaft in den neuen Bundesländern entstehen, waren 1990 abschätzbar.

(Zuruf von der SPD: Von Ihnen nicht abschätzbar!)

Für die Wirtschaftsentwicklung und die Wahrung der Haushaltsdisziplin wäre ein solcher steuerlicher Vorgriff ausgesprochen schädlich gewesen. Auch die Auseinandersetzungen mit Herrn Lafontaine und der SPD wären durch eine vorweggenommene Steuererhöhung oder ihre Ankündigung nicht versachlicht worden. Lafontaine ging es ja gar nicht um einen Steuerkonsens. Ihm ging es darum, mit Kostenargumenten gegen die Vereinigung Deutschlands Stimmung zu machen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Bohl [CDU/CSU]: Bravo!)

Er wollte die Deutschen von der Wiedervereinigung abschrecken, die ihm ganz und gar zuwider war.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Abschließend: Es besteht kein Anlaß, die Inkompetenz Lafontaines und der SPD in der Deutschlandpolitik jetzt in eine Sachkompetenz für die Steuerpolitik umzufälschen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, wer Steuererhöhungen auf Verdacht will — nur darum konnte es 1990 gehen —, der ist in der Steuerpolitik nicht kompetent, sondern inkompetent. Es wäre schädlich für die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere der neuen Bundesländer, solchen Leuten das finanzpolitische Steuerrad zu überlassen. Das werden wir verhindern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir, die CDU/CSU, wollten die deutsche Einheit. Wir wollten sie immer. Wir sind glücklich, sie durchgesetzt zu haben, auch wenn das zu Finanzschwierigkeiten führt. Wir hätten die deutsche Einheit auch dann gewollt, wenn sich diese Schwierigkeiten als größer herausgestellt hätten, als sie es sind. Denn die Wiedervereinigung Deutschlands als entscheidender Schritt zur Vereinigung Europas und die Veränderungen in der Sowjetunion, die mit diesen beiden Einheitsprozessen zusammenhängen, sind der größte Beitrag, den wir Deutschen Europa und den Europa dem Frieden der Welt leisten konnte.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Eine gesamteuropäische Friedensordnung, um die es letztlich geht, kann nicht ohne die beiden Weltmächte geschaffen werden. Im KSZE-Prozeß, an dem die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten von Amerika beteiligt sind, haben wir schon wesentliche Bausteine für eine gesamteuropäische Friedensordnung zusammengefügt. Ich will den letzten Baustein nennen. Der
tschechoslowakische Staatspräsident Vaclav Havel hat vor kurzem das Sekretariat der KSZE in Prag eröffnet.
Wesentlich für eine dauerhafte europäische Friedensordnung sind zwei in sämtlichen KSZE-Dokumenten verbriefte Grundsätze: unveräußerliche Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Staaten. Erst die Verwirklichung dieser beiden Prinzipien macht freie Gesellschaften in freien Staaten möglich, die innerlich befriedet sind. Entscheidend ist die Verwirklichung dieser Grundsätze, nicht das Papier, auf dem sie stehen. Sie müssen immer neu durchgesetzt werden. In den letzten beiden Jahren haben diese Grundsätze den friedlichen Wandel in Ost- und Ostmitteleuropa ermöglicht. Dafür danken wir unseren Verbündeten, insbesondere den Vereinigten Staaten von Amerika. Dafür danken wir auch der Sowjetunion und den Reformkräften in Osteuropa.
Nun steht diese Politik im Baltikum zur Bewährung — und nicht nur dort. In dieser außergewöhnlichen Lage, in der über die Zukunft des europäischen Reformprozesses entschieden wird, wende ich mich an die sowjetische Führung und an die Führungen der baltischen Republiken mit der Bitte, gemeinsam dafür Sorge zu tragen, daß die Früchte der im letzten Jahr feierlich verkündeten Charta von Paris nicht im Baltikum durch Relikte des unseligen Hitler-Stalin-Paktes verdorben werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das heißt — ich bitte genau auf die Wortwahl zu achten — : Das Selbstbestimmungsrecht der baltischen Völker muß gewahrt, und das Interesse der Sowjetunion an einer kooperativen Lösung muß berücksichtigt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Welche Seite auch immer einen vernünftigen Kompromiß ablehnt: Sie läuft Gefahr, dadurch das Ganze, das für beide Seiten notwendig und nützlich ist, zum Scheitern zu bringen.
Lassen Sie mich noch einen weiteren Gedanken hinzufügen. Auf der Grundlage der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts der Völker und Staaten wird, so hoffen wir, eine Friedensordnung für Europa entstehen, an der beide Weltmächte beteiligt sind, die Sowjetunion im Osten und die Vereinigten Staaten im Westen und die politische Union Europas von Polen bis Portugal in der Mitte. Ein so vereinigtes Europa, das alle Völker und Staaten umfaßt, die nach ihrem kulturellen und historischen Selbstverständnis zum Abendland gehören, könnte und sollte zur friedenserhaltenden Mitte zwischen den Weltmächten werden.
Herr Bundeskanzler, wir fordern Sie und Ihre Regierung auf, Ihre so außerordentlich erfolgreiche Einheits- und Freiheitspolitik für Deutschland und Europa fortzusetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Struck [SPD]: Ach du lieber Himmel! Das ist ja ganz überraschend!)




Dr. Alfred Dregger
Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, werden Sie dabei auch in Zukunft unterstützen, verläßlich und wirksam.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und Beifall bei der FDP)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1201400400
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gysi.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1201400500
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man sich mit den Grundzügen der Regierungspolitik auseinandersetzt, müssen die neuen Möglichkeiten, die sich durch die Veränderungen im internationalen Kräfteverhältnis, durch die Reformen im Osten Europas ergaben, als Maßstab dienen. Es gibt keinen Warschauer Vertrag mehr, und auch der RGW ist aufgelöst. Damit sind insbesondere in Europa Veränderungen eingetreten, die zweifellos die gravierendsten seit 1945 sind. Aus dieser neuen Gesamtlage ergab sich auch die Chance der Vereinigung der beiden deutschen Staaten.
Nun ist einfach zu fragen, ob in der Politik der Bundesregierung dieser neuen Gesamtlage ausreichend Rechnung getragen worden ist bzw. getragen wird oder ob sich hier altes Denken fortsetzt. In diesem Zusammenhang ist es nicht nur gerechtfertigt, sondern auch legitim, sich über die gewachsene Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland Gedanken zu machen.
Für gefährlich halte ich es aber, über eine Großmachtrolle nachzudenken, weil ich glaube, daß es die notwendige Demokratisierung der internationalen Beziehungen erfordert, sich von der Vorstellung zu trennen, daß eine Macht oder einige Mächte letztlich darüber entscheiden, wie sich die anderen Völker und Staaten der Erde zu verhalten haben.
Wir sind für eine Demokratisierung der internationalen Beziehungen und damit auch für eine Demokratisierung der UNO. Wir sind daher gegen ein weiteres Vetorecht — z. B. der Bundesrepublik Deutschland oder auch Europas — , sondern eher für die Abschaffung vorhandener Vetorechte, um die Beziehungen zwischen den Staaten gleichberechtigter zu gestalten.
Wir sehen auch nicht ein, daß die gewachsene Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland damit beantwortet werden soll, daß Grundgesetzänderungen angestrebt werden, die militärische Einsätze außerhalb des NATO-Bereiches und damit in die Welt hinaus möglich machen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)

Das veränderte Kräfteverhältnis in der Welt hat zunächst nicht zu mehr Frieden, sondern zu mehr Krieg geführt, wie der Golfkrieg deutlich zeigte. Diejenigen, die vor diesem Krieg wegen seiner ungeheuren Opfer in der Zivilbevölkerung, wegen der Gefährdung Israels und wegen der ökonomischen und ökologischen Folgen warnten, behielten diesbezüglich leider recht. Fest steht auch, daß kein einziges bisheriges Problem im Raum des Nahen Ostens durch diesen Krieg gelöst wurde.
Die Bundesregierung hat sich an diesem Krieg mit 17 Milliarden DM beteiligt. Das ist eine ungeheure Summe, und niemand hat auch nur geahnt, daß dies innerhalb weniger Wochen von der Bundesregierung einfach so zur Verfügung gestellt werden kann. Ich frage mich, weshalb so viele Bürgerinnen und Bürger diesen Krieg, den sie nicht wollten, mitfinanzieren müssen. Sollen doch jene ihn bezahlen, die für ihn eingetreten sind, vor allem aber die Unternehmen, die an Rüstung und insbesondere an Rüstungsexporten, auch in den Irak, enormes Geld verdient haben.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)

Die veränderte Situation in der Welt, insbesondere in Europa, hätte meines Erachtens auch ein neues Denken in bezug auf NATO und Rüstung verlangt. Über Jahre und Jahrzehnte wurde die Existenz der NATO und die Notwendigkeit einer steigenden Rüstung in der Bundesrepublik Deutschland mit der Bedrohung aus dem Osten, insbesondere aus den Staaten des Warschauer Vertrages, begründet. Dieser Staatenverbund existiert aber als Verbund nicht mehr. Die Nationale Volksarmee ist aufgelöst. Soweit sie noch besteht, ist sie Bestandteil der Bundeswehr geworden. Niemand kann mehr behaupten, daß von den Militärpotentialen Polens, der CSFR, Rumäniens, Ungarns oder Bulgariens irgendeine Bedrohung der NATO-Staaten oder gar der Bundesrepublik ausgeht.
Mit der Sowjetunion wurden Verträge ausgehandelt, die ein friedliches Zusammenleben garantieren. Dennoch gibt es auch in dieser Hinsicht keinen einzigen neuen Gedanken der Bundesregierung. Im Gegenteil: Immer wieder wird betont, wie notwendig die NATO ist und bleibt. Der Rüstungshaushalt, der mit den vorliegenden Haushaltsgesetzen beschlossen werden soll, unterscheidet sich nicht vom Rüstungshaushalt der vergangenen Jahre.
Die tatsächlich eingetretenen Veränderungen verlangen aber, daß auch durch die Bundesregierung an diese Fragen völlig neu herangegangen wird. Kriege dürfen künftig nicht mehr mitfinanziert werden. Die NATO ist aufzulösen und durch die Schaffung gesamteuropäischer Sicherheitsstrukturen unter Einbeziehung der Sowjetunion abzulösen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)

Der Rüstungshaushalt kann drastisch reduziert, und als Schritt der Abrüstung kann die Wehrpflicht abgeschafft werden.

(Zustimmung bei der PDS/Linke Liste)

Mit den freiwerdenden Mitteln könnte viel zur Lösung sozialer und ökologischer Probleme getan werden. Abrüstung selbst ist schon eine ökologische Maßnahme.
Neues Denken wäre meines Erachtens auch in bezug auf Europa erforderlich. Wer zu Europa ja sagt, muß das ganze Europa und nicht nur das halbe meinen. Er darf die Mitgliedschaft europäischer Länder in der EG nicht ablehnen und muß sich gleichzeitig gegen jeden Eurozentrismus wenden, weil sich ansonsten die Probleme mit der sogenannten Dritten Welt immer weiter verschärfen werden.



Dr. Gregor Gysi
Auch in dieser Beziehung gibt es in der Politik der Bundesregierung keine neuen Denkansätze. Nach wie vor wird der Tatsache nicht Rechnung getragen, daß der Abstand zwischen den führenden Industriestaaten und den sogenannten Entwicklungsländern permanent wächst und eine Katastrophe für die gesamte Zivilisation heraufbeschworen wird. Es gibt keine nennenswerten Initiativen der Bundesregierung, wenigstens für eine Entschuldung der Länder der sogenannten Dritten Welt aktiv einzutreten. Es geht dabei um Schulden, die durch diese Völker bereits mehrfach zurückgezahlt worden sind.
Das Ausbeutungsverhältnis spitzt sich immer weiter zu. Ob es uns nun recht ist oder nicht: Wir alle leben auch auf Kosten dieser sogenannten Dritten Welt. Wenn hier nicht bald eine grundsätzliche Korrektur im Denken und im Handeln der führenden Industriestaaten einsetzt, so bedeutet das nicht nur, die Verelendung der Menschen dieser Region einfach hinzunehmen, sondern es wird auch zur Folge haben, daß spätestens unsere Kinder und Enkelkinder vor unlösbaren ökologischen, ökonomischen und sozialen Problemen stehen werden.
Die Unfähigkeit oder der mangelnde Wille, den veränderten Bedingungen in der Welt und in Europa Rechnung zu tragen, wurde im vergangenen Jahr auch bei der Politik der Vereinigung der beiden deutschen Staaten deutlich. Dabei geht es mir nicht um das Ob, sondern um das Wie.
Erstens bestand meines Erachtens die Aufgabe, in den neuen Bundesländern ein Höchstmaß an politischer Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zu garantieren. Niemand wird leugnen, daß es seit dem Herbst 1989 bis zum heutigen Tag auf diesem Gebiet erhebliche Fortschritte im Vergleich zu früherer Zeit gibt. Das gilt insbesondere für solche Rechtsinstitute wie die Meinungsfreiheit, die Redefreiheit, die Versammlungsfreiheit oder z. B. das Demonstrationsrecht. Ich bin durchaus in der Lage, es zu schätzen, daß mir hier im Bundestag Oppositionsreden möglich sind, an die in der Volkskammer vor dem Herbst 1989 nicht einmal zu denken gewesen wäre.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Auch durch die Abschaffung großer Teile des politischen Strafrechts hat sich die Rechtsstaatlichkeit beachtlich erhöht. Das gilt auch für die fast vollständige Öffnung des Gerichtsweges im Verwaltungsrecht und auf anderen Gebieten.

(Dr. Mahlo [CDU/CSU]: Was heißt „fast"?)

— Weil es natürlich Ausnahmen gibt — wie in jedem Recht.

(Dr. Mahlo [CDU/CSU]: Es gibt keine Ausnahmen!)

— Doch, das kann ich Ihnen beweisen.

(Gansel [SPD]: Was heißt „Rechtsstaatlichkeit erhöht" ! )

Das gilt auch für andere Bereiche, die ich jetzt hier im einzelnen nicht zu benennen brauche.
Aber dem steht die Tatsache gegenüber, daß eine Vielzahl von Menschen jetzt politisch ausgegrenzt
wird, und zwar auch solche Menschen, die keine Verbrechen begingen und große Bereitschaft zeigen, sich demokratisch einzuordnen. Diese Ausgrenzung führt zu völlig unnötigen politischen Spannungen. Gerade von der Bundesregierung wäre hier eine völlig andere Politik zu erwarten gewesen, nachdem in diesem Teil Deutschlands nach 1945 eine vielleicht in jeder Hinsicht übertriebene Integrationspolitik betrieben wurde. Die Praxis der Berufsverbote, der Ruf der Bayerischen Staatsregierung nach dem Verfassungsschutz in bezug auf die PDS, die Abwicklung fast aller marxistischen Wissenschaftler zeugt nicht nur von einem hohen Maß an Intoleranz, sondern ist auch politisch unklug und letztlich ideologisch bestimmt. Ebenso, wie es absolut falsch war, außerhalb der theologischen Fakultäten der Universitäten in der DDR nur die marxistische Philosophie zuzulassen, ist es jetzt falsch und intolerant, die marxistische Philosophie an allen Universtäten und Hochschulen abzuwickeln. Das Gegenteil von einem Fehler ist eben zumeist auch ein Fehler.
Noch schlimmer ist aber, daß die Praxis der demokratischen Struktur nach dem Herbst 1989 in der DDR nicht studiert und genutzt, sondern bewußt abgelehnt wird. Es lohnt sich aber, über bürgernahe Einrichtungen wie Runde Tische und ähnliches nachzudenken.
Was die Rechtsstaatlichkeit angeht, will ich mich nur mit einer Einschränkung befassen. Das gesamte Rechtssystem in der Bundesrepublik Deutschland ist so unüberschaubar und so unverständlich, daß eine Heerschar von Spezialisten erforderlich ist, um die Anwendung dieses Rechts zu ermöglichen.

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Arbeitsbeschaffungsprogramm!)

Obwohl ich selber Rechtsanwalt bin, kann ich nicht einsehen, daß es die Aufgabe des Gesetzgebers in erster Linie wäre, das Recht so undurchschaubar wie nur möglich zu gestalten, damit Steuerberater und Rechtsanwälte ausreichend beschäftigt sind. Die Kompliziertheit eines Rechtssystems verhindert im übrigen auch die Inanspruchnahme von Rechten, weil die Rechte nur ungenügend Bekanntwerden. Deshalb, meine ich, wäre es ein großes Werk, hier im Sinne der Vereinfachung tätig zu werden.
Noch kritischer sind die Zustände in Wirtschaft, Ökologie und im Sozialbereich zu beurteilen. Tatsache ist selbstverständlich, daß es durch den Braunkohletagebau, durch die Chemieindustrie in Bitterfeld und in anderen Bereichen zu erheblichen ökologischen Schäden in der früheren DDR gekommen ist. Aber es ist eben auch undifferenziert, wenn nicht gleichzeitig darauf hingewiesen wird, daß es in der DDR ein für Europa vorbildliches System der Sekundärrohstofferfassung gab, ein System, das auch große Vorteile gegenüber vergleichbaren Versuchen in der Bundesrepublik hatte. Nun frage ich Sie: Warum konnte dieses System nicht erhalten und für Gesamtdeutschland eingeführt werden? Warum mußte es zerstört werden? — Nur weil man nicht zugeben wollte, daß es auch auf diesem Gebiet zumindest einen Posten gab, der fortschrittlicher geregelt und organisiert war als in den alten Bundesländern!



Dr. Gregor Gysi
Nicht gerechtfertigt ist es, in diesem Zusammenhang zu verschweigen, daß es natürlich auch beachtliche ökologische Probleme in den alten Bundesländern gibt.
Was nun die Wirtschaft betrifft, folgendes: Tatsache ist, daß die marktwirtschaftlichen Strukturen in allen führenden westlichen Industriestaaten zu einer höheren Effektivität und Produktivität im Vergleich zu allen Staatswirtschaften der früheren sogenannten sozialistischen Länder geführt haben. Es bringt aber überhaupt nichts ein, permanent von 40jähriger sozialistischer Mißwirtschaft zu sprechen und damit wieder die Pauschalierung an die Stelle einer differenzierten Wahrheit zu setzen. Sie wissen, daß es durchaus ökonomische Bereiche gab, in denen Produkte hergestellt wurden, die auf dem Weltmarkt Bestand hatten. Als Beispiel sei nur der Werkzeugmaschinenbau genannt.
Aber anstatt hier zunächst eine differenzierende Analyse vorzunehmen, um darauf mit gezielten, differenzierten Maßnahmen zu reagieren, wird angestrebt oder doch zumindest in Kauf genommen, den gesamten Industriestandort in der früheren DDR zu vernichten. Diese Vernichtung schließt aber auf Jahre und Jahrzehnte einen wirklichen wirtschaftlichen Aufschwung aus. Ohne einen Industriestandort kann sich auch der Mittelstand nicht entwickeln und bleiben oder werden die Kommunen lebensunfähig, weil sie eben nicht über die entsprechenden Steuereinnahmen verfügen.
Das alles ist bekannt. Dennoch fehlten bei der Einführung der Währungsunion fast alle notwendigen wirtschaftspolitischen Begleitmaßnahmen. Wer Ungleiches gleich behandelt, sorgt nicht nur dafür, daß es ungleich bleibt, sondern er vertieft die Ungleichheit. — Das ist übrigens eine Erkenntnis von Marx, die nach wie vor Gültigkeit hat.
Nun erklärt die Bundesregierung, daß sie sich geirrt habe, daß sie von falschen Voraussetzungen in bezug auf die Wirtschaft der ehemaligen DDR ausgegangen ist und auch bestimmte internationale Entwicklungen nicht voraussehen konnte. Kurzum: Der Irrtum wird sogleich entschuldigt.
Aber der Irrtum — wenn es denn einer war — ist voll verschuldet. Zunächst einmal kann die Bundesregierung nicht ernsthaft behaupten, daß sie keine Kenntnis von der Struktur der Wirtschaft in der DDR hatte. Seit Jahren gab es immer enger werdende wirtschaftliche Verflechtungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Es gab nicht nur den Warenaustausch, sondern auch Swing-Vereinbarungen und Kredite, zum Teil in Milliardenhöhe. Betriebsdirektoren und Wirtschaftspolitiker — insbesondere Herr Dr. Günther Mittag — aus der DDR waren ständige Gäste in Betrieben, auch bei der Bundesregierung und bei Landesregierungen. Umgekehrt erfolgten auch zahlreiche Besuche in der DDR.
Sie diskreditieren Ihre gesamte diesbezügliche bisherige Wirtschaftspolitik, wenn Sie heute so tun, als ob sie jeweils auf vollständiger Unkenntnis der wirtschaftlichen Verhältnisse der DDR beruhte.
Insbesondere aber, seitdem Lothar de Maizière Ministerpräsident der DDR wurde, standen Ihnen sämtliche Ministerien und Einrichtungen der DDR offen. Überallhin entsandten Sie Ihre Beamten. Spätestens seit dieser Zeit hatten Sie deshalb auch exakte Kenntnisse.
Ferner begründen Sie den angeblichen Irrtum damit, daß niemand damit rechnen konnte, daß die Außenhandelsbeziehungen im Rahmen des RGW zusammenbrechen. Das ist nun eine glatte Lüge; denn mit der Abschaffung des transferablen Rubels haben Sie selber die Voraussetzung dafür geschaffen, daß dieser Außenhandel zusammenbrechen mußte. Sie wußten aber, daß über 70 % des Außenhandels der DDR mit den Staaten des RGW betrieben wurde. Wäre es nicht sinnvoll gewesen, diesen Außenhandel zu stützen, z. B. an eine Swing-Vereinbarung oder ähnliches zu denken?

(Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Wer zahlt das denn?)

Damit hätten Sie den Staaten Osteuropas und den Betrieben in der DDR geholfen. Viele Beschäftigte in der früheren DDR hätten noch ihre Arbeit oder würden sie nicht in den nächsten Monaten verlieren. Damit wiederum hätte der Bundeshaushalt große Ausgaben für Kurzarbeitergeld und Arbeitslosenunterstützung eingespart. Vorbeugen ist eben besser als heilen und wesentlich billiger.

(Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Darüber kannst du lange streiten!)

— Ja, dazu bin ich gerne bereit.
Letztlich führt die Bundesregierung noch an, daß sie mit dem Ausbruch des Golfkrieges nicht rechnen konnte. Auch das ist eine glatte Lüge; denn seit dem Herbst 1990 ist das Ultimatum an den Irak bekannt, das so formuliert worden war, daß von Anfang an auch an einen militärischen Eingriff gedacht wurde — es sei denn, Sie wollen uns heute plötzlich erklären, daß Sie an das Gute in Saddam Hussein geglaubt haben. Das allerdings wäre wohl schwer nachzuvollziehen.
Wenn also von einem Irrtum nicht die Rede sein kann, dann muß die Bundesregierung von Anfang an gewußt haben, daß es zu Steuererhöhungen kommen wird. Wenn sie das aber gewußt hat, dann waren die Wahlversprechungen der Regierungsparteien eine Täuschung.
Hinsichtlich der Menschen aus den neuen Bundesländern ist dies besonders übel, weil ein Motiv der Herbstrevolution von 1989 für eine Vielzahl der Aktivisten darin bestand, endlich Ehrlichkeit in die Politik einziehen zu lassen. Niemand hat deshalb das Recht, gerade diesen Bürgern etwas vorzumachen.
Herr Waigel, Sie waren es, der am 23. Mai 1990 im Bundestag sagte, daß mit der Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion außerordentlich günstige Startchancen für Investoren aus der DDR, aus der Bundesrepublik und aus der ganzen Welt geschaffen werden.
Sie, Herr Bundeskanzler, waren es, der laut „Wirtschaftswoche" vom 1. März 1991 im Mai 1990 erklärte, daß die Wirtschafts- und Währungsunion von niemandem hierzulande Sonderopfer verlangt. Sie waren es auch, der am 21. Juni im Bundestag sagte:



Dr. Gregor Gysi
Niemandem wird es schlechtergehen als zuvor, dafür vielen besser.
Herr Waigel, geradezu kabarettistisch klingt Ihr Satz im Bundestag vom 21. Mai 1990, daß der Vertrag über die Schaffung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in der DDR die Freiheit der Arbeitsplatzwahl bringe. Die Menschen in den neuen Bundesländern wären schon glücklich, wenn sie ihren Arbeitsplatz behalten könnten.
Ist es nicht zutreffend, daß Sie vor der Einführung der Währungsunion erklärt haben, daß diese unbedingt so überstürzt erforderlich sei, weil ansonsten die Abwanderung von qualifizierten Arbeitskräften in den Westen nicht zu verhindern sei? Ist es nicht andererseits zutreffend, daß diese Abwanderungszahlen heute schon weit höher liegen?
Zu Recht wurde an der Wirtschaftspolitik der DDR der überdimensionale Zentralismus kritisiert. Er machte die Wirtschaft zu einem großen Teil unflexibel. Die Treuhandanstalt ist aber wohl das zentralistischste Instrument, das es je gab. In der Hand einer Behörde wird praktisch alles entschieden, was für die Wirtschaft in den neuen Bundesländern maßgeblich ist. Nach wie vor verschließt sich aber die Bundesregierung der Forderung, die Treuhandanstalt wesentlich zu dezentralisieren. Wenn das ein Fehler war
— ich habe in der Volkskammer übrigens gegen das Gesetz gestimmt — , dann bedürfte es eben dringend der Korrektur.
Von vielen Betrieben wurden Konzepte für die Sanierung bei der Treuhandanstalt eingereicht. Die meisten Konzepte wurden jedoch abgelehnt. Sozialpläne werden unter der Bedingung genehmigt, daß sie aus
— nicht vorhandenen — Gewinnen der Betriebe bestritten werden. Seit der Existenz dieser Treuhandanstalt gibt es lediglich einen einzigen Betrieb, der entschuldet wurde.
Der Präsident der Treuhandanstalt hat darauf hingewiesen, daß sein Auftrag betriebswirtschaftlicher und nicht volkswirtschaftlicher Natur ist. Schon darin liegt ein klarer Konstruktionsfehler. Es ist nicht möglich, an Hand des einzelnen Betriebes zu überprüfen, ob er saniert werden soll, und alle anderen Faktoren außer Betracht zu lassen. Das bedeutet nämlich, jegliche Überlegung auszuschließen, welche Bedeutung die Schließung eines Betriebes für die Infrastruktur einer Region und vieles andere mehr haben kann.
Wenn es schon ein großer Fehler ist, mit der Treuhandanstalt den Zentralismus zu festigen, so besteht ein weiterer Fehler darin, daß sie so undemokratisch strukturiert ist. Im Verwaltungsrat der Treuhandanstalt sind die Kommunen und Länder und die Gewerkschaften völlig unzureichend vertreten. Wir haben einen Änderungsantrag eingebracht — er wird Ihnen zugestellt — , der die Vertretung dieser Einrichtungen und übrigens auch der Unternehmerverbände sichert. Wir sind also auf diesem Auge nicht blind. Ich hoffe, daß der Antrag Ihre Zustimmung finden wird. Es ist erforderlich, hier so schnell wie möglich Änderungen zu beschließen.
Zu Recht wird im übrigen darauf hingewiesen, daß die Verwaltungen in den neuen Bundesländern nicht funktionieren. Ich frage Sie aber, wie diese funktionieren sollen, wenn Sie die 650 000 Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in eine Warteschleife versetzen und niemand von den Beschäftigten weiß, ob er nach dem 30. Juni 1991 noch im Beschäftigungsverhältnis steht. Es ist doch völlig klar, daß dies die eigene Qualifizierung, das Schöpfertum und den Fleiß in der Arbeit nicht befördert, sondern die Betroffenen völlig entmotiviert.
Wer glaubt, Verwaltungsprobleme in den neuen Bundesländern durch Zwangsversetzung von Beamten aus den alten Bundesländern lösen zu können, bereitet den nächsten großen Irrtum vor. Auch diese sind nämlich nicht motiviert. Sie kennen die Probleme in den neuen Bundesländern nicht. Selbstverständlich sollen Spezialisten aus dem Westen im Osten helfen. Aber die grundlegenden Probleme können auf diese Art und Weise nicht gelöst werden.
Im sozialen Bereich ist festzustellen — ob Sie das nun wahrhaben wollen oder nicht —, daß es vielen Menschen in den neuen Bundesländern heute schlechtergeht als früher. Niemand versteht, weshalb er gewonnene Freiheiten mit einer sozialen Schlechterstellung bezahlen soll. Menschenrechte sind universell. Sie haben nicht nur eine politische, sondern eben auch eine soziale Seite.
Die Renten in der DDR waren für einen Großteil der Rentner immer extrem niedrig. Aber durch die Stützung der Mieten, der Energiepreise, der Preise für Grundnahrungsmittel, der Preise im öffentlichen Verkehr und in anderen Bereichen gab es keine Existenzangst. Inzwischen sind die Renten in der DDR nicht viel höher; aber die Abzüge und die gestiegenen Preise verschlechtern die Situation vieler Rentner erheblich.
Dann gibt es immer wieder irgendwelche Versprechungen über Erhöhungen. Aber die Bundesregierung klärt nicht gleichzeitig darüber auf, welche Anrechnungen und Abzüge damit verbunden sind, was dabei also real mehr für die Betroffenen herauskommt — zumeist nichts oder nur sehr wenig. Stimmen Sie wenigstens unserem Entschließungsantrag auf Mietpreisstopp für die neuen Bundesländer — vorerst bis zum 31. Dezember 1991 — zu, um hier einen weiteren Sozialabbau zu verhindern.
Erschütternd ist, mit welcher Selbstverständlichkeit über die Notwendigkeit von Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit gesprochen wird. Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit führen aber nicht nur zu einer Verschlechterung der materiellen Lebenslage, sondern zusätzlich zu einer enormen psychischen Belastung der Betroffenen. Niemand in der DDR hatte gelernt, mit Arbeitslosigkeit zu leben.
Hinzu kommt die Unsicherheit. Niemand sagt den Besitzern von Grundstücken und Eigenheimen, wie es um ihr Eigentums- oder Nutzungsrecht in Zukunft bestellt sein wird. Die ganze Sorge der Bundesregierung gilt diesbezüglich irgendwelchen Großgrundbesitzern, die ihre Ländereien in der früheren DDR zurückfordern. Wenn man früheres Unrecht beseitigen will, dann frage ich, weshalb man diesbezüglich erst im Jahre 1945 oder 1949 beginnen will. Man könnte sich ja einmal darüber unterhalten, wieviel Eigentum in der Bundesrepublik besteht, das z. B. über die soge-



Dr. Gregor Gysi
nannte Arisierung von Unternehmen und Geschäften erworben wurde.
Kurzum: Wenn wir in die Geschichte hinsichtlich des Erwerbs von Eigentum zurückgehen wollten und hier Gerechtigkeit herstellen wollten, dann gäbe es auch in den alten Bundesländern eine Menge zu tun. Sie finden es eben normal, und ich halte es für den Gipfel, daß die IG Farben in Liquidation ihre Ansprüche in der früheren DDR geltend macht.
Um auch hier Mißverständnissen vorzubeugen: Es gibt natürlich Fälle, in denen solche Ansprüche berechtigt sind. Aber es ist eine Differenzierung erforderlich. Man muß den Tatsachen und den Verhältnissen Rechnung tragen, die in der früheren DDR entstanden sind, oder wir müssen wirklich zurück bis zum Mittelalter, d. h. bis zu der Zeit, als Thurn und Taxis noch Posträuber waren.
All die Probleme, die in den neuen Bundesländern entstanden sind und weiterhin entstehen, sind zu einem nicht unbeachtlichen Teil der verfehlten Politik der Bundesregierung zuzuschreiben. Ich sehe einen Mißbrauch dieser Probleme auch darin, damit von allen Problemen, die in den alten Bundesländern bestehen, abzulenken. Deshalb verstehe ich auch, daß die Menschen hier unzufrieden werden, weil niemand mehr darüber spricht, daß es auch hier Wohnungsnot, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger gibt.

(Vorsitz: Vizepräsident Hans Klein)

Zu den Steuererhöhungen wurde gestern ausführlich gesprochen und wird auch heute noch gesprochen werden. Gestatten Sie mir nur den Hinweis, daß wir Steuererhöhungen nicht zustimmen können, die einerseits die Sozialschwachen erheblich belasten und die andererseits Reiche befördern.
Wir schlagen vor, eine Ergänzungsabgabe, die im Grundgesetz vorgesehen ist, für Alleinstehende, die mehr als 60 000 DM im Jahr verdienen und für Ehepaare, die mehr als 120 000 DM im Jahr verdienen, einzuführen. Wir schlagen statt der Abschaffung der Vermögensteuer eine zusätzliche Belastung für solche Bürgerinnen und Bürger vor, die steuerpflichtiges Vermögen von 500 000 DM und mehr besitzen.
Lassen Sie mich zum Schluß darum bitten, Wirtschaftspolitik und nicht nur Finanzpolitik zu machen; aktive Wirtschaftspolitik, d. h. Struktur- und Beschäftigungsprogramme.
Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: in Greifswald muß das Kernkraftwerk geschlossen werden. Es muß ein neues Kraftwerk, kein Kernkraftwerk — das ist viel zu unsicher — , errichtet werden. Aber das soll nun in einer anderen Region gebaut werden, was diese Region zerstört. Das zweite ist: Der Auftrag soll an eine Westfirma und nicht an Bergmann/Borsig gehen, die einzige Firma in der früheren DDR, die Kraftwerke erbauen kann.
Würde der Auftrag an Bergmann/Borsig gehen, dann wäre wirklich vieles gerettet. Die Menschen in den neuen Bundesländern sind eben nicht nur eine rechnerische Größe. Sie sind nicht nur Wählerinnen und Wähler, denen man etwas versprechen kann, das man dann nicht zu halten braucht. Es sind in erster Linie Menschen mit Verstand, Herz und Seele, deren
psychologische Befindlichkeit man auch beachten muß. Hören Sie auf, sie so zu behandeln, als kämen sie gerade aus dem Urwald. Anerkennen Sie, daß auch sie nicht wenig in den vergangenen mehr als 40 Jahren geleistet haben.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201400600
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Graf Lambsdorff.

(Poß [SPD]: Aha!)


Dr. Graf Otto Lambsdorff (FDP):
Rede ID: ID1201400700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 4. März hat das sowjetische Parlament den Zwei-plus-VierVertrag ratifiziert. Die Sowjetunion, allen voran ihr Präsident Michail Gorbatschow, hat Wort gehalten. Wir bedanken uns dafür.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und beim Bündnis 90/GRÜNE)

Ich war an diesem Tage in Riga. Es war der Tag der Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses für die Unabhängigkeit Lettlands. Beide Ereignisse machen wohl deutlich, welche Probleme gelöst sind und wie viele es noch zu lösen gilt.
Für eine Weile hatte der Golfkrieg alles andere in den Hintergrund gedrängt. Dieser Krieg ist von den Alliierten gewonnen worden.
Wird auch der Frieden gewonnen werden? Deutschland wird dabei gebraucht werden, nicht nur für den wirtschaftlichen Wiederaufbau. Welche Rolle sollen wir dabei spielen? Wie definieren wir unsere aus der Einheit gewachsene größere internationale Verantwortung? Was erwartet die Welt von uns, und was gesteht sie uns zu?
Herr Vogel hat die Verfassungsdiskussion angesprochen. Sollen alle Verfassungsänderungen in einem Paket — diese auch — zusammengefaßt werden?
Ich fürchte, Herr Vogel, wir werden bei unseren Freunden im Westen einige Schwierigkeiten bekommen, wenn wir unsere sehr einzelnen, nationalen Fragen in diesen internationalen Zusammenhang einbauen und damit Lösungen blockieren bzw. zeitlich verzögern.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: 40 Jahre lang haben Sie es gemacht!)

— Ja, 40 Jahre lang haben Sie dies anders gesehen. Aber die Situation hat sich eben im Vergleich zu den letzten 40 Jahren verändert, Herr Vogel.

(Dr. Vogel [SPD]: Ist schon wieder etwas im Busch? — Zuruf des Abg. Gansel [SPD])

— Das hat nichts mit Krieg zu tun, Herr Gansel.
Niemand hängt hier neuen Großmachtträumen nach, wie das gelegentlich behauptet wird. Verwundert haben wir doch wohl alle gelesen, daß uns dieselben, die uns im Sommer 1990 vor solchem Irrweg und solchen Träumen warnten, im Januar 1991 zum



Dr. Otto Graf Lambsdorff
aktiven militärischen Eingreifen am Golf aufforderten.

(Beifall bei der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Das ist wohl wahr!)

Aber gewiß, meine Damen und Herren, waren das nicht die Regierungen unserer westlichen Verbündeten. Wir würden uns aber täuschen, glaubten wir, daß gute Beziehungen zwischen Regierungen allein ausreichten. Es bedarf des Vertrauens der Völker, der Menschen, der Parlamente, auch der Medien zueinander. Erst das bildet das Fundament von Freundschaft zwischen demokratisch regierten Ländern.

Dr. Norbert Herr (CDU):
Rede ID: ID1201400800
Ich halte das deutschfranzösische Jugendwerk für ebenso wichtig wie die regelmäßigen Treffen des Bundeskanzlers mit dem Staatspräsidenten.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sehr bald werden Ost-West-Probleme wieder im Vordergrund der internationalen Politik stehen — das ist keine gewagte Voraussage —, und wieder wird nach uns gefragt werden. Die europäische Friedensordnung, zu der das Tor mit der Pariser KSZE-Konferenz im November vergangenen Jahres aufgestoßen wurde, wird erst dann verwirklicht sein, wenn Freiheit und Demokratie in allen Ländern Europas verwirklicht sind, wenn Gewalt als Mittel der Politik ausgeschlossen bleibt. Vorgänge, wie sie im Januar im Baltikum geschahen, dürfen sich nicht wiederholen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU — Zustimmung des Abg. Gansel [SPD])

Meine Damen und Herren, das sozialistische planwirtschaftliche System hat versagt. Alle Länder des Ostens befinden sich in einem schwierigen Reformprozeß zu marktwirtschaftlichen Strukturen. Zurück zum alten System — das gibt es nicht. Aber die Länder müssen durch eine tiefe Anpassungskrise, so wie wir sie jetzt auch in den neuen Bundesländern erleben. Darin liegen aber erhebliche Gefahren des Rückfalls in politische Systeme der Unterdrückung und Bevormundung. Wir müssen diesen Ländern deshalb bei ihren Reformen helfen. Der Erfolg der Reformen liegt auch in unserem Interesse. Hilfe ist leichter bei den Ländern, die sich mutig auf den Weg gemacht haben — wie Polen, Ungarn, CSFR —; es ist schwieriger bei den anderen Ländern.
Besondere Sorge bereitet die Entwicklung in der Sowjetunion, weil die Reformen nicht vorankommen und das Nationalitätenproblem nicht gemeistert wird; die Fernsehbilder heute morgen waren wieder schrecklich. Die wirtschaftliche Lage in der Sowjetunion ist trostlos. Weder Plan- noch Marktwirtschaft, sondern ein hybrides Gemisch aus beidem ist die Schlimmste aller Welten. Wie lange noch kann das gutgehen? Die Namensliste verabschiedeter sowjetischer Wirtschaftsreformer wird immer länger: Bogomolov, Albalkin, Schatalin, Aganbegyan, um nur einige zu nennen. Aber keine Reformen!
Wie soll eine zielgerichtete Zusammenarbeit ohne grundlegende Reformen aussehen? Die Frage ist schnell gestellt, aber Vorsicht vor der schnellen, vor der zu schnellen Antwort: Kein Geld ohne Reformen — das ist ja wohl richtig. Aber Reformen ohne Geld?
Uns ist klar, daß ein Auseinanderfallen der wirtschaftlich gebeutelten Sowjetunion ein Problem für ganz Europa, auch darüber hinaus, bedeuten würde. Herr Vogel hat die Zuwanderung angesprochen. Diesen Weg der Proliferation, statt einer Nuklearmacht plötzlich acht haben zu wollen, wird wohl auch niemand ernsthaft in Erwägung ziehen mögen.

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Das widerspricht auch dem Atomsperrvertrag!)

Wir können das alles nicht wollen.
Meine Damen und Herren, der polnische Ministerpräsident Bielecki hat in Bonn daran erinnert, daß sein Land nach der Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft strebt. Die FDP unterstützt diesen Wunsch. Sie unterstützt den Wunsch Polens, Ungarns und der CSFR. Er lenkt unser Augenmerk auf die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft. Wir wollen Erweiterung u n d Vertiefung.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Erfreulich entwickeln sich die Dinge im europäischen Binnenmarkt. Dieser Prozeß ist unumkehrbar, und er wirft schon jetzt vielfältige Erträge ab. Dieses Werk gilt es zügig bis zum 1. Januar 1993 zu vollenden und weiterzuentwickeln. Sorge müssen wir dafür tragen, daß die Entwicklung zur Wirtschafts- und Währungsunion so positiv ausfällt wie die zum gemeinsamen Binnenmarkt. Hier gibt es noch erhebliche Hürden zu überwinden. Die Positionen sind durchaus nicht kongruent.
Für die FDP besteht kein Zweifel daran, daß die Weiterentwicklung zur Währungsunion nur auf einem Wege erfolgen kann, der uns eine Währung beschert, die der D-Mark ebenbürtig oder überlegen ist.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Eine rasche Währungsintegration ist nur zwischen Mitgliedstaaten möglich, deren monetäre Rahmenbedingungen weitgehend angeglichen sind. Herr Dregger, Sie haben Herrn Major zitiert, der uns eine stabile Währung empfiehlt: Er sollte doch einmal über den hard ECU und über die Situation des Pfund Sterling nachdenken, denn so überzeugend ist das zur Zeit nicht.
Es kann weiter keinen Zweifel daran geben, daß Kompetenzübertragungen in so wichtigen Bereichen wie der Geld- und Währungspolitik, die mit der Wirtschaft und Währungsunion verbunden sind, einhergehen müssen mit gleichzeitigen Fortschritten in der politischen Union Europas.
Das zweite große internationale wirtschaftspolitische Thema, bei dem wir eine Führungsaufgabe wahrnehmen müssen, ist die GATT-Runde. Ein freies, offenes Welthandelssystem ist eine der entscheidenden Quellen des Wachstums und des Wohlstands in



Dr. Otto Graf Lambsdorff
der westlichen Welt. Die GATT-Runde muß bald ein Erfolg werden. Das liegt nicht nur in unserem eigenen Interesse. Es ist wichtig zur Integration der Länder Osteuropas in die Weltwirtschaft. Es liegt im Interesse der vielen Entwicklungsländer, die mit wirtschaftlichen Reformen ihrer Probleme Herr zu werden versuchen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir dürfen die Hoffnungen dieser Länder nicht enttäuschen.
Meine Damen und Herren, unsere größte innenpolitische Aufgabe bleibt die ökonomische, die gesellschaftliche Vereinigung Deutschlands. Ich will versuchen, dies mit so wenig Polemik wie möglich zu behandeln. Der Wahlkampf ist vorbei, dieser Wahlkampf ist vorbei. Wie wir auf die Dauer mit der Frage fertig werden sollen, daß wir 16 Landtagswahlen innerhalb von vier Jahren plus plus plus an Wahlen zu bestreiten haben, ist wohl auch ein Thema, dem wir uns einmal widmen müssen.
Wir unternehmen mit dem Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost mit den Haushalten 1991/92 eine gigantische Kraftanstrengung. Der Bundeswirtschaftsminister wird das heute noch im einzelnen darstellen.
Herr Vogel, Sie haben uns noch einmal empfohlen und noch einmal das Thema angeschnitten, ob wir die 15 Milliarden DM, die Herr Modrow von uns forderte, nicht vor der Volkskammerwahl oder gleich danach, wie Sie gesagt haben, hätten zur Verfügung stellen sollen.

(Dr. Vogel [SPD]: Verpflichtungsermächtigungen!)

— Vor der Einführung der D-Mark, frage ich.
Die FDP hat rechtzeitig, frühzeitig einen Vorschuß für die Kommunen gefordert, weil wir genau gewußt und gesehen haben, daß z. B. die Entwicklung des mittelständischen Handwerks nicht vorwärtsgehen kann, wenn die öffentlichen Auftraggeber nicht in der Lage sind, solche Aufträge zu finanzieren. Wir hätten uns das gerne früher gewünscht. Jetzt kommt es, und soweit ist das in Ordnung.

(Gansel [SPD]: Zwei Jahre zu spät!)

Aber steht das alles, meine Damen und Herren, etwa in der Verantwortung der Bundesregierung? Hat es allein bei der Bundesregierung gelegen, daß das finanzielle Gesamtaufkommen so spät zustande kam? Wie haben sich die Länder verhalten? Wie haben sich sozialdemokratisch geführte Länder — ich erwähne zuvörderst Niedersachsen — in dieser Frage verhalten?

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Da der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz hier ist, möchte ich der rheinland-pfälzischen Landesregierung ausdrücklich unseren Dank dafür sagen, daß sie auf dem Wege mitgeholfen hat, zu positiven Ergebnissen zu kommen, die jetzt endlich erzielt worden sind, aber doch auch nur in Teilbereichen. Noch immer nehmen die fünf neuen Bundesländer erst ab 1995 am Länderfinanzausgleich teil. Dies ist nicht in
Ordnung. Dabei entgehen Ihnen Milliardenbeträge, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir bieten Investoren finanzpolitische Anreize wie nie zuvor in Deutschland. Die Tarifpartner schließen Tarifverträge, deren Höhe man vielleicht beanstanden kann, die wegen ihrer Langfristigkeit und der erst spät einsetzenden kürzeren Wochenarbeitszeit aber eine verläßliche Kalkulationsbasis bieten. Das ist ein erheblicher Vorteil für die Investitionslandschaft. Es gibt ja auch mehr private Initiative als für viele Beobachter erkennbar.
Wir warnen, meine Damen und Herren, ganz gewiß vor Schönfärberei. 1991 — das sagen wir nicht erst jetzt — wird ein überaus schwieriges Jahr. Die Arbeitslosigkeit wird steigen, und vieles kommt langsamer in Gang, als wir es erwarteten.
Herr Vogel, im Zusammenhang mit der Arbeitslosigkeit stimmen wir Ihnen zu, wenn Sie sagen, Qualifizierung müsse angeboten werden, entsprechende Anstrengungen müßten verstärkt werden. Ich füge hinzu: Es muß aber auch die Bereitschaft vorhanden sein, sich dann zu qualifizieren. Auch das ist notwendig.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sie haben den Vergleich der Werftindustrie in Rostock mit ähnlichen Entwicklungen der Werftindustrie bei uns angesprochen. Ich habe ja wenig Nachholbedarf, denn ich mußte damals, vor der Wahl zur Bremer Bürgerschaft, 2 000 Mitarbeitern der AG Weser sagen: Bei euch ist es in 14 Tagen zu Ende. Das sind keine einfachen Situationen.
Sie haben gesagt: Wir können nicht in Wochen und Monaten verlangen, was bei uns Jahre gedauert hat. Nur, dies konnte man im Norden bei den Werften oder im Saarland bei Arbed-Saarstahl zu Lasten der ganzen ertragreichen und wirtschaftlich starken Bundesrepublik finanzieren. Den ganzen Abwicklungsprozeß, der sich in den fünf neuen Bundesländern als unausweichlich zeigt, über Jahre hinaus zu finanzieren, das ist wahrscheinlich nicht zu schaffen.

(Dr. Vogel [SPD]: Nicht in Wochen und Monaten!)

Zur sozialen Abfederung und sozialen Verträglichkeit sagen wir ja. Aber das künstliche Erhalten nicht wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze wird uns vor ganz erhebliche Schwierigkeiten stellen. Wenn meine Informationen zutreffen, dann decken von den auf Kiel liegenden Schiffen in Rostock zwei nicht den Materialwert und kein einziges den Produktionswert dessen, was dort noch hergestellt werden kann.

(Dr. Vogel [SPD]: Und wie war das bei uns?)

Das ist ja kein Vorwurf an die dort Beschäftigten; das weiß doch jeder. Aber das ist eine Situation, aus der wir einen sozial abgefederten, aber wirtschaftlich und finanziell überhaupt vertretbaren und erträglichen Ausweg finden müssen. In diesem Sinne ist der Bundeswirtschaftsminister in Rostock tätig geworden.
Dabei kommt auch das Stichwort RGW-Handel zur Sprache. Natürlich haben wir gewußt, daß der RGW-



Dr. Otto Graf Lambsdorff
Handel, wenn wir hier eine konvertible Währung einführen, in seinen wesentlichen Beständen zusammenbrechen würde. Aber die Frage heißt: Wie reagieren wir darauf? Wie teuer reagieren wir darauf?

(Dr. Gysi [PDS/Linke Liste]: Wie denn?)

Die Art und Weise, die gewählt worden ist und die Herr Möllemann in Moskau ausgehandelt hat, ist mit Rücksicht auf die Sozialverträglichkeit eine teure Art und Weise geworden. Ich unterstreiche: Wir unterstützen das, wir halten das für richtig.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU — Poß [SPD]: Monate zu spät! Wo war denn Möllemanns Vorgänger?)

Nur, auf die Dauer wird man in dieser Weise nicht verfahren können, wenn man nicht wettbewerbsunfähige Strukturen festschreiben will.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich habe Informationen — ich werde versuchen, ihnen nachzugehen — , daß nun auf derselben Basis, auf der wir die existierenden Verträge gesichert haben, wieder neue Verträge abgeschlossen werden, in der schönen Beruhigung oder Gewißheit: Sie werden uns dann auch finanziert werden. Da werden wir vorsichtig sein müssen.
Meine Damen und Herren, Geld ist ganz gewiß wichtig; aber es ist nicht alles.

(Matthäus-Maier [SPD]: Das ist richtig!)

Ich bin sicher, daß wir Ende 1991 sehen werden, daß nicht alle Mittel, die wir jetzt vorgesehen haben, ausgegeben werden konnten. Das wäre ja auch gar keine neue Erfahrung.
Neu sind Investitionshemmnisse, die in ihrer Art und Vielfältigkeit nicht erkannt worden sind. Da spielen die Rechtsfragen Eigentum, Nutzungsrechte und Verfügungsrechte eine erhebliche Rolle.
Ich sehe, daß wir mit den Sozialdemokraten grundsätzliche Meinungsunterschiede in der Frage des Privateigentums haben. Das ist ja nicht völlig neu. Ich will das jetzt gar nicht streitig austragen. Ich möchte nur fragen, Herr Vogel: Was würden Sie denn wohl sagen, wenn man Ihre wahrscheinlich berechtigten — das wird zu prüfen sein — Rückerstattungsansprüche bezüglich früher einmal im sozialdemokratischen Eigentum stehender Zeitungen einfach bestreiten würde, weil man sagte: Da kommt ein stärkerer, ein größerer Investor; dieser bekommt sie; er sichert die Arbeitsplätze; auf euch warten wir nicht. So kann es ja nicht gehen.

(Dr. Vogel [SPD]: Das ist ja nicht der Punkt! Wenn, treten wir zurück und nehmen Entschädigung!)

Meine Damen und Herren, die FDP war die erste Partei, die darauf hingewiesen hat, daß für Investitionen der Produktionsfaktor Grund und Boden verfügbar sein müsse. Wenn Sie den Produktionsfaktor Grund und Boden in einer Marktwirtschaft nicht disponibel haben, gibt es keine Investitionen und keine Arbeitsplätze. Wir haben das im August 1990 in Hannover gesagt. Das hat zum Investitionsgesetz im Einigungsvertrag geführt. Dessen Vorschriften reichen nicht; das wissen wir inzwischen alle. Wir verbessern sie jetzt; wir machen das Gesetz für Investoren, für Länder und Kommunen und für die viel kritisierte Treuhandanstalt handhabbar.

(Dr. Vogel [SPD]: Wenn es nicht klappt, haben Sie wieder eine neue Entschuldigung!)

Es bleibt beim Grundsatz: Rückgabe vor Entschädigung. Die verfassungsrechtlichen Risiken bei einer Umkehr wären riesengroß, und die finanzpolitische Entschädigungsdimension wäre nicht zu verantworten. Eine einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts, wenn wir etwas anderes täten, würde uns den ganzen Weg blockieren.
Schließlich, meine Damen und Herren, einfach auch ganz praktisch: Auf halbem Wege umzukehren, das erinnert an die französische Lebensweisheit: „ordre, contre ordre, désordre".
Herr Vogel sagt, überall, wo es das Gemeinwohl erfordere, solle man nach seinen Vorstellungen verfahren. Das sieht in der Praxis, in der Auslegung, in den Streitigkeiten darüber ganz genauso aus wie das, was wir jetzt vor uns haben, Herr Vogel. Es gibt kein Patentrezept; auch Sie haben es nicht.
Hüten wir uns aber davor, die Eigentumsfrage zum monokausalen Investitionshemmnis zu erklären. Das ist falsch.

(Poß [SPD]: Das hat doch keiner getan!)

Die Verwaltung funktioniert nicht — darauf ist hingewiesen worden —, es fehlen Bebauungspläne, es gibt in der Tat Rechtsprobleme und Schwierigkeiten bei der Anwendung des umfassenden bundesdeutschen Rechts innerhalb von sechs Monaten — wie soll das bewältigt werden; Herr Gysi hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht — , es fehlen Flächennutzungspläne, es fehlen kommunale Haushalte, es gibt Grundbuchprobleme. All das gilt es zu bewältigen.
Gestern habe ich einen Brief gesehen, in dem ein Investor schrieb: Ich übernehme den Laden nicht; § 613 a BGB hindert mich daran, die Arbeitsplätze abzubauen, die ich abbauen muß, wenn ich rentabel wirtschaften will.
Der Aufbau der Telekommunikation geht nach Auffassung der FDP deutlich zu langsam.

(Beifall bei der FDP)

Bundespost und Telekom blockieren den Zutritt Privater zu diesem Markt. Es wird immer noch nicht eingesehen, daß funktionierende Telefonverbindungen eine der wesentlichen Voraussetzungen für Investitionsbereitschaft sind.
Meine Damen und Herren, wir verdanken es der soliden Finanz- und Wirtschaftspolitik seit 1982, daß wir zu dieser gewaltigen Anstrengung überhaupt in der Lage sind. Ich teile die Meinung des Finanzministers, wir hätten die Finanzierung der deutschen Einheit jedenfalls 1991 ohne Steuererhöhungen bewältigt. Wer Zahlen lesen und rechnen kann, der weiß das. Aber alles zusammen an zusätzlichen Anforderungen, das war ohne Steuererhöhungen nicht zu schaffen.



Dr. Otto Graf Lambsdorff
Ich habe gesagt: Ich halte mich von Polemik fern. Ich will deswegen auf polemische Äußerungen auch nicht eingehen. Wer hier aber sagt, für den Golf seid ihr zu zahlen bereit, für die deutsche Einheit nicht, der benutzt schlimme und vergiftete Polemik in unserem Lande.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Ganz übel! — Poß [SPD]: Sie haben noch im Februar erklärt: ohne Steuererhöhungen!)

Ich kann ja verstehen, daß der Kollege Vogel heute so aufgetreten ist, wie er das getan hat. Wer hätte das an seiner Stelle in dieser Situation wohl nicht getan! Ob es gleich vom Komödienstadel bis zu der Frage gehen mußte, ob Rheinland-Pfalz ein Vogelschutzgebiet ist oder nicht, das lasse ich einmal dahingestellt.
Ich habe von dieser Stelle aus am 21. Februar das Nötige gesagt. Ich habe bekannt und erklärt, daß es Irrtümer gegeben hat. Wer in dieser einmaligen historischen Situation, mit der wir es wirtschaftspolitisch und wirtschaftshistorisch zu tun haben, behaupten wollte, er sei von Irrtümern frei, muß ein Übermensch sein.
Ich sage noch einmal für meine Person und meine Partei — ich habe an der Spitze der Partei diese Position zu vertreten gehabt und habe sie vertreten — : Den Vorwurf der Täuschung und der Lüge weise ich mit allem Ernst zurück.

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Aber wahr ist er! — Matthäus-Maier [SPD]: Er bleibt richtig — Dr. Götte [SPD]: Wie nennen Sie das denn?)

Ich habe in meinem politischen Leben dem Wähler manchen Irrtum gesagt. Meinethalben können Sie auch über Kompetenz streiten; das ist etwas ganz anderes, als wenn man über „lügen" und „bewußt täuschen" streitet. Über Kompetenz kann man streiten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Dolus eventualis!)

— Das ist ein gutes Stichwort, Herr Vogel. Es wäre jetzt bei mir sowieso vorgekommen.
Ich habe mich hinsichtlich der Frage geprüft, ob ich nicht vielleicht gern einer Selbsttäuschung im Sinne von dolus eventualis erlegen bin. Ich glaube: nein. Herr Lafontaine hat gestern gesagt: Es irrt der Mensch, solang er lebt. Das Zitat ist falsch. Es heißt richtig: solang er strebt. Ich habe es ihm aufgeschrieben. Wenn wir im Irrtum befangen wären, solange wir leben, wäre das eine traurige Sache. Wer nicht mehr strebt, unterliegt auch keinem Irrtum.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Für die Liberalen, meine Damen und Herren, steht fest: Wir müssen so schnell wie möglich zu der soliden Haushaltspolitik der 80er Jahre zurück, auch und gerade im Interesse der fünf neuen Bundesländer. Das Konzept der marktwirtschaftlichen Erneuerung war in den 80er Jahren erfolgreich. Es bleibt für die 90er Jahre richtig. Jetzt aber gilt es, unseren Mitbürgern Mut zu machen, ihnen zu erklären, daß wir alles tun, um die Durststrecke so kurz wie möglich zu halten. Da lesen Sie besser nicht alte Anzeigen in der ,,Bild-Zeitung". Ich empfehle eher das Studium des Aufsatzes von Christian Meier in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 5. März 1991 mit dem Untertitel „Ein Plädoyer für mehr Großzügigkeit" im Hinblick auf die psychologische Befindlichkeit unserer Mitbürger in den fünf neuen Bundesländern.

(Beifall bei der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Die Überschrift in der „Bild-Zeitung" ist besser!)

— Diese Balkenüberschrift entspricht Ihren Bedürfnissen; es reicht für Sie wahrscheinlich, Herr Vogel. Lesen Sie doch nicht nur die Überschriften, sondern auch den Inhalt!

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Und nicht nur die „Bild-Zeitung" !)

Es gilt jetzt, unseren Mitbürgern Mut zu machen, ihnen zu erklären, daß wir alles tun, um die Durststrecke so kurz wie möglich zu halten. Noch nie ist ein Land in einer Stimmung von Neid und Mißgunst, von Verzagtheit und Angst wiederaufgebaut worden. Nehmen wir bitte alle die Ängste der Menschen in den neuen Bundesländern ernst! Fahren wir hin, reden wir mit ihnen, machen wir ihre Sorgen zu unseren Sorgen! Dann werden wir dies auch gemeinsam schaffen.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Matthäus-Maier [SPD]: Sagen Sie das doch dem Bundeskanzler!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201400900
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Dr. Feige.

Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1201401000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein wohlbekanntes Sprichwort sagt: Irren ist menschlich. — Das ist normalerweise alles nicht so schlimm. Die Auswirkungen von Irrtümern in der Politik können aber durchaus auch unmenschlich sein. Noch schlimmer ist es, wenn sich hinter den vermeintlichen Irrtümern nicht etwa Inkompetenz oder Dummheit, sondern sogar ein ausgeklügeltes System von Absichten und Unterlassungen verbirgt.

(Dr. Hornhues [CDU/CSU]: Auauau!)

Welche großen Hoffnungen hatten die Bürgerinnen und Bürger in beiden Teilen Deutschlands nach dem friedlichen Aufbruch im Herbst 1989 für die DDR und für die Zukunft ganz Deutschlands gehabt! Gerade diese Hoffnungen wurden durch viele Politiker der heutigen Koalition in den Wahlkampfmonaten besonders genährt und für die eigene Profilierung, aber nicht für Deutschland ausgenutzt.
„Niemandem soll es nach der Einheit schlechter gehen", so der Bundeskanzler im vergangenen Jahr. „Wir brauchen Motivation statt Demotivation. Steuererhöhungen wären genau das falsche Signal" , so der gleiche Kanzler vor der Wahl; man kann es gar nicht oft genug sagen.
Aber was ist jetzt von diesen Ehrenworten geblieben? Da liegen sie plötzlich, die riesigen unsozialen Steuerpakete. Da geht es den in die Massenarbeitslo-



Dr. Klaus-Dieter Feige
sigkeit Entlassenen schlechter als vor ihrem Schritt in die Freiheit.

(Dr. Vogel [SPD]: Leider wahr!)

Da fliehen immer noch zigtausende Menschen von Ost nach West über eine Grenze, die es gar nicht mehr geben sollte.
Die Menschen in den neuen Bundesländern sind im allgemeinen nicht nachtragend. Aber sie haben eine Angewohnheit: Sie merken sich alles.

(Dr. Vogel [SPD]: Ja!)

Wir lernen ja bei uns gerade erst Demokratie, und in dieser Phase — das können Sie mir glauben — prägt das die Menschen, was sie jetzt erleben.
Noch haben die Menschen im Osten nicht vergessen, wie sie einmal von Honecker & Co. betrogen wurden. Die Erinnerungen sind noch frisch, und so darf man sich nicht wundern, wenn die Bürgerinnen und Bürger auf ihren neuerlichen Massendemonstrationen auf ihren Transparenten die Politik des Bundeskanzlers mit der des abgelösten Regimes vergleichen. An dieser Rückbesinnung ist nicht nur die Blockpartei-Vergangenheit der Ost-CDU und der ehemaligen Bauernpartei schuld, sondern auch die aktuelle Politik der Koalition steht bei den Menschen in den neuen Ländern zur Diskussion. Nicht die Steuererhöhungen sind das Verwerfliche an den Ergüssen des Kabinetts. Die hat die Opposition im Gegensatz zur Koalition längst vorhergesehen, und eine gute Regierung hätte sie ebenfalls vorhersehen müssen.
Die Bereitstellung von Geldmitteln für den Aufbau im Osten geht soweit in Ordnung. Aber hierin besteht ja noch gar kein nennenswertes Verdienst dieser Regierung; die Mittel werden ja nicht durch sie erarbeitet. Und Geld ausgeben kann ja heutzutage jeder. Aber es kommt darauf an, wie ich das Geld verteile. Erst wenn es zum Vorteil der Bürger im ganzen Land wirken kann, hat eine Regierung ihre Hausaufgaben gemacht. Dafür ist aber zumindest eine Konzeption für eine Volkswirtschaft erforderlich. Diese elementare Voraussetzung kann ich im gesamten Haushaltsplan nicht erkennen.
Steuern haben durchaus etwas mit dem Steuern der Wirtschaft zu tun. Doch das Boot mit dem schönen Namen „Ostdeutschland-Politik" droht augenblicklich an den Klippen der Wirtschaft in den fünf neuen Ländern zu zerschellen. Die Regierungscrew wird sich bald eines Besseren besinnen und zu steuern beginnen müssen. Vielleicht trifft schon in naher Zukunft auch für sie das Gorbatschow-Wort zu, das er einmal — ich weiß nicht mehr, in welchem Zusammenhang — gesagt hat: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Oder, um mit Willy Brandt zu sprechen: Ist man in Deutschland vielleicht manchmal geneigt, sich die Zwirnsfäden selbst zu ziehen, über die man dann stolpert und — in eigener Ergänzung — schließlich sogar umfällt?
Die Wirtschaft der DDR war nicht sehr effektiv. Daß sie aber 1989 nicht völlig am Boden lag, ist vor allem dem großen Fleiß vieler Menschen in der ehemaligen DDR zu verdanken.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, der SPD und der PDS/Linke Liste)

Wenn sich das ostdeutsche Gebiet heute im Zustand eines Entwicklungslandes befindet, so ist dies nicht mehr allein das Ergebnis von 40 Jahren sozialistischer Planwirtschaft. Wenn man den Menschen im Osten alle Voraussetzungen nimmt, weiterhin fleißig zu sein, darf man sich neun Monate nach der Währungsunion nicht darüber wundern, daß man in den fünf neuen Bundesländern nicht einen Schritt weiter vorangekommen ist.

(Dr. Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Sehr richtig!)

Diese Regierung ist mit dem Aufbau des einigen Deutschlands völlig überfordert. Es mag sein, daß der Kanzler als „Kanzler der Vereinigung" in die Geschichte eingehen wird, aber als „Kanzler der Einheit" sicherlich nicht. Die Nachrichten aus den fünf neuen Bundesländern sprechen dazu ihre eigene Sprache. Die Werften an der Ostseeküste, in Mecklenburg und Vorpommern stehen vor dem Zusammenbruch. Aufträge aus den osteuropäischen Ländern liegen nicht mehr vor. Aufträge aus westeuropäischen Ländern kommen nicht über Hamburg hinaus. Dieser Zusammenbruch kommt uns sicherlich teuer. Graf Lambsdorff, teurer als eine Übergangssubventionierung. Darüber hinaus fehlt die von Ihnen angeforderte Solidarität aus der Wirtschaft.
Die für die Sanierung der ostdeutschen Wirtschaft bereitgestellten Gelder erreichen die Betriebe nicht oder nicht rechtzeitig. In der Landwirtschaft melden immer mehr Produktionsgenossenschaften, aber auch bereits neue Familienbetriebe Konkurs an. In den Ställen krepiert das Vieh, der Ackerboden bleibt un-gepflügt. Die Bauern werden ihre zum Teil hochwertigen oder zumindest mit westlichen Produkten vergleichbaren Waren an die Handelsketten oder ihre Monopolwirtschaft nicht mehr los.
Besonders hoch ist der Anteil der Arbeitslosigkeit bei den Frauen. Sie sind durch diese Ruinpolitik doppelt betroffen. Was meines Erachtens noch viel schlimmer ist: Diese sogenannte Politik der Regierung führt zu einer neuartigen Teilung Deutschlands. Das Mißtrauen zwischen den Menschen aus Ost und West nimmt zu. Die Teile-und-herrsche-Politik hat dazu geführt, daß immer mehr Menschen aus den westlichen Bundesländern Angst haben, daß sie die deutsche Einheit in ihrem persönlichen Wohlstand einschränken wird. Viele Menschen in den neuen Bundesländern vermissen immer mehr die einmal im Herbst 1989 nach der Öffnung der Grenzen gezeigte begeisterte Solidarität.
Ich möchte all diese Ungerechtigkeiten, all die Folgen einer neuen Mißwirtschaft, wie ich sie Woche für Woche persönlich in der ehemaligen DDR erlebe, aus mir herausschreien. Ich bin erschüttert von der Hoffnungslosigkeit der Menschen, ich bin erschüttert von einer steigenden Selbstmordrate, erschüttert von einer neuen sozialen Verelendung durch diese sogenannte Politik. Das haben die Menschen, die die deutsche Einheit im Osten auch für Sie vorbereitet haben, nicht verdient. Es stimmt, Graf Lambsdorff, allein Geld rüberzureichen, das genügt nicht. Diese Politik braucht ein menschlicheres, ein sozialeres Gesicht.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der SPD und der PDS/Linke Liste)




Dr. Klaus-Dieter Feige
Ich bezweifle wirklich, daß alle Abgeordneten dieses Hauses eigentlich wissen, welche Katastrophe sich dort in Ostdeutschland vollzieht. Um sich hierüber wirklich ein Bild zu vermitteln, reicht es nicht aus, nur Zeitungen zu lesen oder die Nachrichten im Fernsehen zu verfolgen. Ich fordere alle Abgeordneten auf, sich in irgendeiner Kommune, in irgendeiner Stadt persönlich umzusehen, nur dort eine Woche einmal zu leben, um wirklich beurteilen zu können, was sie hier tun.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Umsehen bedeutet nicht etwa, wie es z. B. der Wirtschaftsminister in Rostock tut, wenn er dort weilt, über die Zukunft der Werften nachzudenken, sich hinter die festen Mauern — von mir aus eines Rathauses — zurückzuziehen. Da muß man schon einmal in die Werft gehen und mit den Menschen dort direkt und persönlich sprechen. Sie haben darauf gewartet; das weiß ich persönlich.
Dazu gehört heute schon wieder Mut, denn in ihrer Verzweiflung rufen die Menschen heute nicht mehr nach Wohlstand, sondern nur noch nach Arbeit, nicht nach Reisen in ferne Länder, sondern nach sicheren Wohnungen.
Herr Bundeskanzler, ich fordere Sie — bitte — noch einmal auf: Kommen Sie am 18. März nach Leipzig, und erklären Sie diese Ihre Politik den Bundesbürgern im Osten!

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, der SPD und der PDS/Linke Liste)

Haben Sie den Mut dazu, sich zu entschuldigen! Es sind nicht nur Irrtümer, Wählertäuschungen oder Black-outs, es ist die ideologische Verblendung, mit der die Koalition glaubt einen Wirtschaftsumschwung wie in den 50er Jahren kopieren zu können.
Wir haben jetzt eine völlig neue Situation: Der Angleichungsdruck ist ungleich stärker, die Randbedingungen sind andere als vor 40 Jahren. Allein die umweltpolitische Situation muß völlig neu bewertet werden.
Die jüngsten Steuererhöhungen kommen einem politischen Offenbarungseid gleich. Neue Irrtümer sind bereits fest einprogrammiert; die Steuerschraube wird spätestens 1993 erheblich weiter gedreht werden, nämlich dann, wenn die Mehrwertsteuer erhöht wird.
Es ist z. B. bezeichnend, daß nach jüngsten Umfragen gerade noch 19 % der Bundesbürger glauben, daß die Lohn- und Einkommensteuer nach einem Jahr wieder gesenkt wird, wie es angekündigt ist. Selbst 65 % der Unionsanhänger glauben diesen Versprechungen nicht mehr.
Den Mannen und Frauen um Helmut Kohl ist offenbar noch nicht aufgegangen, daß die Angleichung der Lebensverhältnisse der neuen Bundesländer an die der alten die Herausforderung der 90er Jahre schlechthin ist. Hier könnte ein neuer Geist des Wirtschaftens demonstriert werden, eines Wirtschaftens,
das die Ökologie und das vernetzte Denken zur Leitschnur des Handelns macht.

(Pfeffermann [CDU/CSU]: Also kein Geld, wenn ich Ihre Rede zu den Steuererhöhungen richtig verstanden habe! Machen Sie doch mal einen konkreten Vorschlag!)

— Nein, nicht ohne Geld. Selbstverständlich sollen das soziale Steuerpakete und nicht solche sein, die den Schwachen etwas nimmt und den Reichen das läßt. Das ist kein Steuerpaket, mit dem man operieren kann.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Pfeffermann [CDU/CSU]: Das ist doch seichtes Geschwätz, was Sie da machen!)

— Das ist überhaupt nicht seichtes Geschwätz. Sie müssen dort hinkommen; dann werden Sie erleben, was „seichtes Geschwätz" heißt, und werden erleben, was ich Tag für Tag miterlebe. Haben Sie den Mut, gehen Sie dorthin!

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Mit einem klaren und modernen Konzept der Wirtschaftsentwicklung könnten die ostdeutschen Länder den Sprung ins 21. Jahrhundert schaffen. Moderne und leistungsfähige Technologien und hochqualifizierte Beschäftigte im Produktions- und Dienstleistungssektor, eine saubere Umwelt mit einem großen Kultur- und Freizeitangebot, das ist die Alternative

(Pfeffermann [CDU/CSU]: Und alles ohne Steuererhöhungen?!)

zu einer von Irrtümern geprägten Politik, die letztendlich Ostdeutschland zum Hinterhof Mitteleuropas degradiert.
Meine Damen und Herren von der Regierung, Sie haben sehr wenig getan, um die Investitionshemmnisse im Osten Deutschlands zu beseitigen, fast gar nichts. Sie haben in Kauf genommen, daß Ostprodukte einen schlechten Ruf genießen, sowohl bei Konsumwaren als auch bei Investitionsgütern.

(Pfeffermann [CDU/CSU]: Das ist nicht zu fassen! — Zuruf von der CDU/CSU: Fahren Sie doch einmal in die neuen Länder, damit Sie wissen, wie die Situation dort ist! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Sie wußten doch, daß der alte RGW-Markt

(Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU)

— das wußten Sie vorher — nach der Währungsunion zusammenbrechen wird.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der PDS/Linke Liste — Pfeffermann [CDU/ CSU]: Unverschämter, arroganter Bursche!)

Nur eine Mischung aus Unfähigkeit und Überheblichkeit konnte Sie das übersehen lassen, daß die Privatisierung des Treuhandvermögens mühselig oder langsam über die Bühne gehen wird. Das sind die Hemmnisse. Oder war das gar das Ziel?

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und der PDS/Linke Liste)




Dr. Klaus-Dieter Feige
Dazu kam die fatale ideologische Fixierung bei den Eigentumsverhältnissen. Es war kein Problem, mobiles Eigentum, Sparguthaben und ähnliches zu enteignen oder abzuwerten. Mit der Formel „Rückgabe vor Entschädigung" bei immobilem Eigentum haben Sie selbst die möglichen Investoren abgeschreckt und gleichzeitig bei ehemaligen Eigentümern Begehrlichkeiten geweckt, die nicht erfüllbar sind.

(Pfeffermann [CDU/CSU]: Sie sind doch derjenige, der bei allen Abstimmungen mit der PDS abstimmt! Das sind Sie doch?)

— Ich stimme so, wie es mir mein Gewissen erlaubt; und wenn dann einmal eine Abstimmung mit der PDS dabei ist, dann ist das mein freies Recht in diesem Parlament.

(Pfeffermann [CDU/CSU]: Ich wollte das nur mal zu Protokoll geben! — Dr. Vogel [SPDJ: So eine Arroganz! Wie habt ihr denn in der Volkskammer gestimmt? Mein Gott noch mal, überhebliche Arroganz!)

Wenn es z. B. um den Straßenbau geht, wird die „heilige Kuh" Eigentum relativ schnell wieder geschlachtet. Der Entwurf eines Gesetzes zur beschleunigten Planung für die Verkehrswege des Bundes vom 7. Februar 1991 läßt brutale Enteignung zu. Mit dem darin vorgesehenen schnellen Enteignungsverfahren entlang von geplanten Trassen steigen Sie in gefährlich ausgetretene Fußstapfen der jüngsten DDR-Vergangenheit.
Die Verwaltungen von Kommunen, Kreisen und Ländern tun sich schwer. So war aus dem Finanzministerium zu hören, daß 5 Milliarden DM für Ostländer ungenutzt bei den Banken liegen. Doch wer fühlt sich zwischen dem Finanzministerium und den Kommunen für die Nutzung des Geldes verantwortlich? Statt diese Vollzugsdefizite abzubauen, hat die Koalition ein ganz neues Hindernis ausgemacht, den „mündigen Bürger" nämlich. Genehmigungsverfahren sollen beschleunigt werden. Die öffentliche Beteiligung wird als unerwünscht angesehen. Mittels eines Maßnahmengesetzes soll zentral entschieden werden, was gut für die Menschen ist. Das erinnert fatal an die zentralistische Planwirtschaft der Vergangenheit. Stellen Sie Ihre Planung zur Diskussion! Vertrauen Sie doch auf die Urteilskraft der Menschen in diesem Lande, die noch kein überzeugendes und vernünftiges Konzept behindert haben.
Der Kurs von Bündnis 90/GRÜNE für den Osten und ganz Deutschland ist klar: Wir brauchen einen wirtschaftspolitischen Rahmen, der die ökologische Sanierung und den ökologischen Umbau mit der schnellen Schaffung zukunftsgerichteter Arbeitsplätze verbindet. Hier sind auch angesichts der Bedrohung der Menschheit durch die Erwärmung der Erdatmosphäre Eckdaten zu setzen, um das Umweltvorsorgeprinzip als Leitlinie bundesdeutscher und globaler Wirtschaftspolitik durchzusetzen und zu praktizieren. Dies ist um so notwendiger, als verhindert werden muß, daß die bereits erkannten Fehlentwicklungen in den alten Ländern im Osten potenziert werden. Kluge und weitsichtige Entscheidungen in dieser Hinsicht sind auf Dauer wesentlich preisgünstiger als die nachträgliche Reparatur von Fehlentscheidungen und Irrtümern.
In den ostdeutschen Bundesländern ist der strukturelle Rahmen für eine dezentrale und effiziente Energiepolitik sowie für eine Verkehrs- und Städtebaupolitik zu schaffen, die sich nicht an den gescheiterten Vorstellungen der 60er Jahre im Westen orientiert, sondern aus dessen Fehlentwicklung lernt. Das liest man sogar in westdeutschen Zeitungen. Zu diesen Fehlentwicklungen zählt auch der von Bundeswirtschaftsminister Möllemann angekündigte und geförderte Bau von zwei neuen Atomkraftwerken in Ostdeutschland. Ich glaube, es lohnt sich, erst darüber nachzudenken und mit der Opposition zu reden, wenn Sie, Herr Möllemann, eine merkliche Vergangenheitsbewältigung der Ereignisse von Tschernobyl erkennen lassen.
Im Energiebereich ist darüber hinaus dafür Sorge zu tragen, daß der Stromvertrag der westdeutschen EVUs und der Treuhand sowie der ehemaligen DDR, der die auf die einseitig auf mehr Umsatz und Gewinn zielende Struktur der Energiewirtschaft West übernimmt, für null und nichtig erklärt wird.
Statt dessen ist die Rekommunalisierung der Energieversorgung zu fördern. Notwendig ist, wo immer es gewünscht wird, der Aufbau kommunaler Stadtwerke in den ostdeutschen Bundesländern. Der Kommunalverfassungs- und -vermögensgesetzgebung der ehemaligen DDR muß unverzüglich Geltung verschafft werden, damit die ostdeutschen Kommunen mit Energieeinsparung, Kraft-Wärme-Kopplung und Energiedienstleistungsunternehmen einen Beitrag zu einer modernen und effizienten Energieversorgung leisten können.
Notwendig ist auch ein Stadterneuerungsprogramm, das von den Kommunen der ostdeutschen Bundesländer gestaltet wird. Mit einem solchen Stadterneuerungsprogramm kann nicht nur ein Beitrag zur Anwendung drohender Beschäftigungslosigkeit geleistet werden, sondern auch eine umweltgerechte Stadtsanierung erfolgen. Eine beschäftigungsorientierte, kleinteilige Stadterneuerung, nicht die Fortsetzung industrialisierter Großplattenbauweise, ist ein wirksames Mittel, um zahlreiche Arbeitsplätze in handwerklichen und mittelständischen Betrieben sowie in Beschäftigungsgesellschaften zu schaffen. Das hätte bisher schon in Gang gesetzt werden können.
Stadterneuerung umfaßt aber nicht nur die Sicherung, Instandsetzung, Modernisierung und den Neubau von Wohn- und Gewerberaum sowie öffentlicher Infrastruktureinrichtungen, sondern auch den Aufbau von lokalen Entwicklungsträgern, Beratungsbüros für Mieter und Mieterinnen und eine demokratische Mitbestimmung durch Stadtteilvereine, Durchführungsgesellschaften und vieles mehr.
Im Verkehrssektor sind die strukturellen Bedingungen für den Vorrang des öffentlichen Personenverkehrs zu schaffen. Dazu bedarf es der vorrangigen Vergabe öffentlicher Mittel für die Sanierung und den Ausbau des Schienennetzes bzw. der Einrichtungen der Deutschen Reichsbahn und von mir aus auch der Bundesbahn. Hierdurch kann ein eindeutiges Signal gegen den individuellen Pkw-Verkehr gesetzt werden, der sich angesichts der drohenden Klimakatastrophe zunehmend als Fossil einer falschen Mobilitätspolitik erweist.



Dr. Klaus-Dieter Feige
Ähnliches gilt auch für den Güterverkehr, der in Ostdeutschland nach wie vor in erster Linie auf der Schiene erfolgt.
Fassen wir zusammen: Diese Regierung hat auf keine der drängenden Fragen der Zukunft eine vernünftige Antwort parat. Das gilt nicht nur für die Situation in Ostdeutschland, das gilt für die Umweltpolitik, hier besonders für konsequente Maßnahmen zur Bekämpfung der drohenden Klimakatastrophe, das gilt für die Außenpolitik, für die Beziehungen zu den Staaten der Zweidrittelwelt, das gilt insbesondere für das deutsch-sowjetische Verhältnis, aber auch für die Entwicklung einer europapolitischen Konzeption zum Ende der Ost-West-Konfrontation. Meine Kollegen werden dazu noch detaillierte Ausführungen machen können.
Ich appelliere auch an die Koalitionsabgeordneten aus den fünf neuen Bundesländern, gerade an Sie: Haben Sie den Mut — —

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201401100
Herr Abgeordneter, verzeihen Sie bitte: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krause?

Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1201401200
Ja, bitte schön, wenn es auf meine Zeit nicht angerechnet wird.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201401300
Natürlich nicht.

Dr. Günther Krause (CDU):
Rede ID: ID1201401400
Herr Dr. Feige, Sie polemisieren über die Maßnahmengesetze und haben hier laut den Vorwurf verkündet, daß die Regierung nichts tue, um schnell handeln zu können. Ist nicht auch Ihrer Meinung nach der Notstand in der Verkehrsinfrastruktur in Ostdeutschland offensichtlich und deshalb die Maßnahmengesetzgebung ein schnelles Mittel, um diesen Notstand zu beseitigen und nicht wieder von Investitionshemmnissen sprechen zu müssen? Warum sind Sie gegen die schnelle Beseitigung des Notstandes?

(Dr. Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Das stinkt nach Eigenlob!)


Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1201401500
Herr Krause, ich bin nicht gegen die schnelle Beseitigung dieses Notstands, sondern ganz im Gegenteil dafür, daß verhindert wird, daß ein neuer Notstand auf Jahre im voraus festgelegt wird, der, daß nur die Straßen entwickelt werden und im Schienenverkehr nichts passiert.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und der SPD)

Es ist einfach die Frage, wie ich diese Mittel proportioniere.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201401600
Zusatzfrage?

Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1201401700
Bitte.

Dr. Günther Krause (CDU):
Rede ID: ID1201401800
Anerkennen Sie, daß in dem Projekt Deutsche Einheit, in dem siebzehn Maßnahmen vorgesehen sind, neun Maßnahmen für die Schiene, eine Maßnahme für die Binnenschiffahrt und nur sieben Maßnahmen für den
Straßenverkehr vorgesehen sind, um beispielsweise im Gütertransport maßgeblich die Binnenschiffahrt und die Schiene zu fördern?

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Sie sollen keinen Vortrag halten, sondern eine Frage stellen!)

Akzeptieren Sie, daß hier der Umweltgedanke maßgeblich einfließt?

Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1201401900
Ich akzeptiere, daß die Zahlen, die Sie nennen, in Ordnung sind, aber zwischen der einfachen Aufzählung von ein, zwei oder drei Maßnahmen und dem, was an Substanz dahintersteht, können sehr große Unterschiede, können Welten liegen. Ich glaube, daß es eine Disproportion zwischen dem tatsächlich notwendigen Einsatz für den Schienenweg im Verhältnis zum Straßenbau gibt und daß Sie den durchsetzen wollen.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der SPD)

Ich bitte also in dieser Situation auch die Abgeordneten der Koalition aus den neuen Bundesländern, mit Mut und Selbstvertrauen für die Menschen der ostdeutschen Länder, die sie mit Ihrem Mandat hierher nach Bonn geschickt haben, einzutreten. Durchbrechen Sie auch einmal die Schranken des Fraktionszwangs! Eine Regierung, die ihr Wort derart bricht, die die elementarsten Auswirkungen der Einführung der D-Mark in den fünf neuen Ländern nicht vorhersehen konnte, darf der wirtschaftlichen Entwicklung in Ostdeutschland nicht länger im Wege stehen. Ziehen Sie mit uns, der Opposition, an einem Strang, und machen Sie mit uns deutlich, daß diese Regierung, daß dieser Kanzler im Land keine Mehrheit, kein Vertrauen mehr haben! Sorgen Sie gemeinsam mit uns dafür, daß die Menschen in diesem Land Gelegenheit bekommen, des Kanzlers Irrtümer zu korregieren!
Vielen Dank.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201402000
Herr Bundeskanzler, Sie haben das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP — Zuruf von der SPD: Er hat ja noch gar nichts gesagt!)


Dr. Helmut Kohl (CDU):
Rede ID: ID1201402100
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte dem geschätzten Kollegen, der gerade vor mir sprach, nur sagen: Man kann über vieles von dem streiten und streitig diskutieren, was Sie gesagt haben, aber Sie sollten hier vor dem Forum der deutschen Offentlichkeit nicht den Eindruck erwecken, als würde irgendeiner der Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion oder der FDP-Fraktion gehindert sein, seiner Überzeugung, seinem Gewissen entsprechend abzustimmen. Lassen Sie also bitte derartige Behauptungen aus der Diskussion heraus! Es gibt keinen Fraktionszwang. Das wissen Sie in Wahrheit so gut wie ich.

(Widerspruch bei der SPD und der PDS/ Linke Liste — Dr. Rose [CDU/CSU]: Bei uns nicht!)




Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
— Nun, meine Damen und Herren, bei uns in der Tat nicht! Ich verdächtige Sie doch auch nicht.
Wir werden mit Sicherheit in diesem Jahr bei zwei Abstimmungen, die ich allerdings hinsichtlich ihrer Gewissensbelastung doch unterschiedlich sehe, quer durch alle Fraktionen ein unterschiedliches Abstimmungsverhalten haben. Das kann man doch schon jetzt sagen. Es wird der Fall sein, wenn es um Bonn oder Berlin geht. Wir sollten auch stolz darauf sein, daß solche Abstimmungen bei uns möglich sind und niemand sie einschränken kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der SPD: Ab und zu!)

Das wird sicherlich auch der Fall sein — und das ist dann eine der wirklich seltenen Gewissensentscheidungen im Leben eines Parlamentariers — , wenn es um den Schutz des ungeborenen Lebens geht, den § 218 und all die Probleme, die damit zusammenhängen.
Wir sollten gegenüber der Öffentlichkeit doch nicht den Eindruck erwecken, als wären wir untereinander gar nicht mehr gesprächsfähig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle führen die heutige Debatte in dem Bewußtsein unserer besonderen Verantwortung für die Menschen in den neuen Bundesländern, für die Entwicklung unserer Bundesrepublik Deutschland, und wir wissen, daß dies in einer schwierigen Zeit geschieht. Wir stehen national wie international vor großen Herausforderungen. Ich will nur drei Bereiche nennen.
Ich nenne den wirtschaftlichen Neuaufbau in den neuen Bundesländern. Trotz aller Übergangsprobleme können und werden wir schrittweise erreichen, was wir gemeinsam wollen: gleiche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der SPD: Wann denn?)

Und, meine Damen und Herren, ich habe überhaupt nichts von dem zurückzunehmen, was ich auf vielen Kundgebungen gesagt habe und auch in sehr naher Zukunft bei Veranstaltungen in den neuen Bundesländern wieder sagen werde: Wir haben alle Chancen, durch unsere gemeinsame Arbeit in — wie ich es formuliert habe — einem Zeitraum von drei bis fünf Jahren dieses Ziel zu erreichen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wer diese Debatte heute und gestern hörte, mußte sich doch manchmal fragen, ob man hier eigentlich den Kalender völlig außer Betracht gelassen hat. Anfang Oktober ist die deutsche Einheit vollzogen worden. Nur fünf Monate danach kann doch nun wahrhaft niemand erwarten, daß wir die gigantischen Probleme bis dahin hätten lösen können. Ich will gleich einiges dazu sagen.
Ich habe vor insgesamt vielen Millionen Zuhörern immer wieder gesagt: Es wird ein schwerer Gang; er wird Opfer kosten, aber wir werden es schaffen.

(Zuruf von der SPD: „Keiner wird schlechtergestellt" !)

Ich habe von dem, was ich gesagt habe, nichts zurückzunehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich nenne eine zweite wichtige Herausforderung: unsere Hilfe für die Reformländer Mittel-, Ost- und Südosteuropas auf ihrem Weg zu mehr Demokratie und zu Sozialer Marktwirtschaft. Das allein ist der Weg, der zu dauerhaftem, zu wirklichem Frieden führt, zu gesicherter Freiheit und zur Einheit unseres Kontinents.

(Zurufe von der SPD — Gegenrufe von der CDU/CSU)

— Lassen Sie sie doch ruhig lärmen. Wer das für einen passenden Beitrag in einer ernsten Stunde unseres Landes erachtet, kann selbst nicht ernstgenommen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich nenne zum dritten unsere Unterstützung für Frieden und Ausgleich am Golf und im gesamten Nahen Osten. Denn dort gilt es, jetzt — nach dem Waffenstillstand — eine dauerhafte und gerechte Friedensordnung zu schaffen.
All diese Herausforderungen, deren Dimension für jedermann erkennbar ist, müssen von uns bestanden werden. Aber ich füge hinzu — im Gegensatz zu manchem, der hier heute gesprochen hat — : Kaum jemand hat mit einem zeitlichen Zusammentreffen dieser gravierenden Entwicklungen gerechnet.
Jetzt stehen wir im eigenen Land vor der großen Aufgabe, nach der staatlichen Einheit auch die innere Einheit Deutschlands zu vollenden. Wir alle wollen, daß dieses Ziel möglichst schnell erreicht wird. 40 Jahre SED-Regime haben die ehemalige DDR in den Bankrott geführt.

(Pfeffermann [CDU/CSU]: So ist es!)

Man kann es nicht oft genug sagen; denn die Legendenbildung ist bereits im Gange. Ich kann es nicht oft genug wiederholen: Wenn es nicht zur deutschen Einheit gekommen wäre, wäre der SED-Staat wirtschaftlich genauso kollabiert wie andere Länder in Mittel-, Ost- und Südosteuropa.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Kollege Vogel, es ist doch einfach wahr: Selbst als der Kollaps der sozialistischen Kommandowirtschaft schon ganz unübersehbar war, gab es in Ihren Reihen noch genügend Sprecher — denken Sie an das Jahr 1989; das ist immerhin erst zwei Jahre her — , die für die damalige DDR an einem Weg festhalten wollten, der sich längst als katastrophal abgezeichnet hatte. Es gab Unverbesserliche, die an eine Zukunft dieser Art von Sozialismus glaubten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Die gibt es immer noch! — Dr. Vogel [SPD]: Herr de Maizière zum Beispiel! — Dr. Rose [CDU/CSU]: Die Jusos jetzt wieder!)

Auf diese Weise wurde eine Wende zum Besseren aufgehalten. Deswegen sind manche Ratschläge, die Sie
heute uns und vor allem auch mir geben, für mich



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
nicht sehr überzeugend. Denn auf dem Weg zur deutschen Einheit haben Sie schlicht versagt:

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

die einen, weil sie kleinmütig waren und an den Auftrag der Geschichte nicht glaubten, und die anderen, weil sie sich aus ganz anderen Gründen mit der deutschen Teilung abgefunden hatten. Herr Kollege Honecker — —

(Lachen bei der SPD, beim Bündnis 90/ GRÜNE und bei der PDS/Linke Liste)

— Sie sind sehr leicht zu erheitern.

(Zuruf von der SPD: Sie haben die Blockparteien in Ihrem Kopf!)

Herr Kollege Vogel,

(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)

daß aus Ihren Reihen bei jeder nur denkbaren Gelegenheit bis in die letzten Tage auch der ModrowRegierung hinein die Aufforderung kam, wir, die alte Bundesrepublik und die Bundesregierung, sollten zahlen, läßt sich wirklich nicht leugnen. Ich kann Ihnen nur sagen: Lesen Sie die Schmähungen nach, die damals aus Ihren Reihen gegenüber der Bundesregierung laut wurden, als Herr Modrow im Februar 1990 in Bonn zu Besuch war und Sie erklärten, wir müßten jetzt unbedingt alles tun, um ihm zu Hilfe zu eilen.

(Widerspruch bei der SPD) Wir haben das nicht getan.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Es war das kommunistische Regime, das uns eine marode Wirtschaft und eine zerstörte Umwelt hinterlassen hat.
Meine Damen und Herren, in den wenigen Wochen und Monaten seit der deutschen Einigung haben wir alle feststellen müssen, wie groß das Ausmaß dieser bedrückenden Hinterlassenschaft tatsächlich ist. Dabei geht es nicht nur um eine deprimierende Bilanz von Wirtschaft und Verwaltung, von Infrastruktur und Bausubstanz, es geht vor allem — und dies wiegt schwerer — um die immateriellen Schäden aus der Zeit der SED-Diktatur. Ich denke an die schlimmen Wunden, die über 40 Jahre kommunistischer Herrschaft im geistigen Leben und auch in den Seelen der Menschen hinterlassen haben. Gerade vor diesem düsteren Hintergrund haben sich seit Herbst 1989 grundlegende Veränderungen und Wandlungen vollzogen.
Erstmals seit 58 Jahren leben die Menschen in den neuen Bundesländern in Freiheit. Was es wirklich bedeutet, frei zu sein, weiß wohl nur derjenige, der einer Diktatur — auch einer kommunistischen Diktatur — ausgeliefert war. Wer unter der Bespitzelung und Drangsalierung durch die Stasi zu leiden hatte und wer auch heute immer wieder die fortwirkende Vergiftung durch diese Willkürherrschaft spürt, der weiß, was es bedeutet, sich jetzt auf den Rechtsstaat verlassen zu können. Und erstmals verfügen die Menschen in den neuen Bundesländern mit der D-Mark über eine der stabilsten Währungen der Welt. Leere Regale
gehören der Vergangenheit an. Die Kaufkraft hat zugenommen. Aus niedrigen Einheitsrenten sind — wie im alten Bundesgebiet seit 1957 — jetzt dynamische Renten geworden. Das heißt: sie steigen in gleichem Maße wie die Einkommen der Beschäftigten.
Meine Damen und Herren, wer sich dies alles bewußt macht, wird erkennen, daß wir bei allen vorhandenen — und niemand will das beschönigen — schwierigen Problemen der Gegenwart ein gutes Stück vorangekommen sind. Wir werden diesen Weg unbeirrt fortsetzen.
Ich sage es Ihnen noch einmal: Wir stehen jetzt erst gut fünf Monate nach dem Tag der deutschen Einigung. Wir haben in diesen fünf Monaten wichtige Marksteine errichtet, und wir werden weiter vorankommen.

(Duve [SPD]: Keinen Zentimeter!)

— Herr Kollege, Ihr Beitrag ist außer, zugegebenermaßen, ungewöhnlich lauten Zwischenrufen ziemlich unerheblich für den Fortgang der Debatte.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP — Zuruf von der CDU/ CSU: Von ihm kann man nichts erwarten!)

Die Bundesregierung hat in diesen Tagen eine ganze Reihe wichtiger Kabinettsbeschlüsse gefaßt, die ich noch einmal kurz ansprechen will: Wir verbessern die Finanzausstattung der Länder, Städte und Gemeinden in den neuen Bundesländern. Wir geben zusätzliche Hilfen und Anstöße, damit mehr und schneller investiert und die Beschäftigung kurzfristig erhöht wird. Wir leisten entschiedene Hilfe, damit Verwaltung und Justiz in den neuen Bundesländern schnell funktionsfähig werden. Auf allen drei Feldern bleibt eine Frage von zentraler Bedeutung, das vertrauensvolle Einvernehmen zwischen Bund und Ländern bei dieser Zukunftsaufgabe.
Ich begrüße, daß es nach manchem Zögern jetzt möglich war, im Gespräch mit den 16 Ministerpräsidenten der Bundesländer am 28. Februar zu guten Vereinbarungen zu kommen. In voller Übereinstimmung haben wir gemeinsam eine tragfähige Basis für die künftige Finanzausstattung der neuen Länder geschaffen. Bund und westliche Länder haben sich darauf verständigt, schon für dieses Jahr jeweils rund 5 Milliarden DM zusätzlich bereitzustellen. Allein in diesem Jahr stehen für öffentliche Investitionen in den neuen Bundesländern rund 50 Milliarden DM zur Verfügung.
Ich will dazu noch ein Beispiel nennen, weil es hier angesprochen wurde: den Ausbau des Telefonnetzes. Die Deutsche Bundespost investiert in diesem Jahr 6,5 Milliarden DM in den neuen Bundesländern. Damit wird u. a. eine halbe Million zusätzlicher Telefonanschlüsse möglich gemacht. Bis 1994 — also in gerade vier Jahren — steigt die Zahl neuer Anschlüsse auf bis zu 1,2 Millionen jährlich. Die gesamte Investitionssumme der Bundespost wird sich bis 1994 auf über 30 Milliarden DM erhöhen.
Meine Damen und Herren, wenn man diese Zahlen, diese Tatsachen nennt, kann man doch nun beim be-



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
sten Willen nicht behaupten — wie die es hier tun —, es gehe alles abwärts und es geschehe nichts.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Zu den öffentlichen Investitionen kommt die umfangreiche Förderung privater Investitionen, etwa durch die Investitionszulage und Hilfen für Betriebsgründungen. Etwas Vergleichbares hat es in der Geschichte unserer Bundesrepublik ebenfalls nicht gegeben. Auch das ist ein Aktivposten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Matthäus-Maier [SPD]: Der aber zu spät kommt!)

— Verehrte, gnädige Frau, Ihr Beitrag besteht darin, daß Sie „Zu spät!" und „Zu wenig! " rufen. Hätten wir heute die Ergebnisse Ihrer Wirtschaftspolitik vom Jahr 1982, dann hätten wir gar nichts leisten können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Hauchler [SPD]: Es gibt heute mehr Arbeitslose als zu unserer Zeit, Herr Kohl!)

Wir beschleunigen die notwendige Umstrukturierung zudem durch ein „Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost". Wir haben darüber mit den Gewerkschaften, mit der Wirtschaft, mit dem Handwerk, mit allen führenden Kräften der Gesellschaft gesprochen. Ich freue mich, daß wir in der letzten Woche hierfür eine breite Zustimmung gefunden haben, eine Zustimmung, wie ich sie seit Jahren in dieser Form nicht erlebt habe.

(Zuruf von der SPD: Wo haben Sie Zustimmung?)

Das Gemeinschaftswerk ist als Sonderprogramm für
1991 und 1992 angelegt. Es umfaßt 24 Milliarden DM,
für dieses Jahr beläuft es sich auf 12 Milliarden DM.
In diesen Tagen, meine Damen und Herren, geht hiervon bereits ein Betrag in Höhe von 5 Milliarden DM direkt an die kommunale Ebene, um — wie wir wollen und hoffen — vor Ort möglichst rasch Investitionen mit einer hohen Beschäftigungswirkung in Gang zu setzen. Die dazu notwendige Verwaltungsvereinbarung wurde beim Treffen mit den Ministerpräsidenten am 28. Februar geschlossen.
Die Bürgermeister und Landräte in den neuen Bundesländern haben jetzt die Chance, ganz unverzüglich Aufträge zu vergeben. Sie können bei der Instandsetzung von Schulen, von Altersheimen, von Krankenhäusern helfen, und Sie können damit vor allem die Arbeitsplätze in den Betrieben des Handwerks und des Mittelstands vor Ort sichern und weiter ausbauen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Toetemeyer [SPD])

Die übrigen 7 Milliarden DM für 1991 stehen für Investitionen, für Qualifizierungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zur Verfügung. Die nochmals verstärkte Investitionsförderung wird vor allem den Ausbau der Verkehrswege und die Modernisierung sowie die Privatisierung des Wohnungsbestandes beschleunigen.
Alle diese Maßnahmen — dessen bin ich sicher — führen schnell zu mehr Arbeitsplätzen. Zusätzlich er-
möglichen wir über die bislang vorgesehenen 130 000 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen hinaus in diesem Jahr weitere rund 150 000 Fördermaßnahmen.

(Zuruf von der SPD: Bei McDonalds!)

— Wissen Sie, wie jemand im Deutschen Bundestag sitzen und bei diesen Ausführungen sagen kann, das seien „Arbeitsplätze bei McDonalds", verstehe ich nicht. Da kann ich nur sagen: Sie haben von der Wirklichkeit des Landes keine Ahnung!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, wer jetzt immer noch behauptet, das alles reiche nicht, der möge doch zur Kenntnis nehmen, was der Ministerpräsident von Brandenburg zu diesen Beschlüssen gesagt hat — ich zitiere — : „Jetzt sind wir dran!" — Gemeint sind die neuen Länder und ihre Verwaltungen. — „Denn was nützt es uns, wenn man uns mit Investitionsmitteln zuschüttet, wenn wir sie nicht umsetzen können?"

(Dr. Rose [CDU/CSU]: So ist es!)

Meine Damen und Herren, bei diesem Umsetzen müssen wir helfen; denn dies braucht ein vernünftiges Zusammenwirken aller. Deshalb ist auch vorgesehen, daß die Landräte und die Oberbürgermeister unverzüglich regionale Aufbaustäbe bilden. In diesen Aufbaustäben sollen erfahrene Mitarbeiter der Arbeitsverwaltung, des örtlichen Handwerks, der örtlichen Wirtschaft, der Verbände, der Kammern und der Gewerkschaften mitwirken.
Ich will das auch im Blick auf die besondere Verantwortung hervorheben, die wir gegenüber jungen Leuten in den neuen Bundesländern haben, die jetzt eine Lehrstelle suchen. Ich bin sicher, daß es uns — ähnlich wie bei der Lehrstelleninitiative in der ersten Hälfte der 80er Jahre — durch gemeinsame Anstrengung auch diesmal gelingt, ausreichend viele Ausbildungsplätze bereitzustellen. Wir werden alles tun, um das Ziel zu erreichen, daß jeder Jugendliche, der eine Lehrstelle sucht, eine solche Chance auch erhält.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, wenn ich mich daran erinnere — ich könnte das ja bei fast jedem Satz sagen — , wie Sie damals meine Lehrstelleninitiative in der alten Bundesrepublik mit Häme und mit Kritik begleitet und den Erfolg dann totgeschwiegen haben, dann bin ich überzeugt, daß Sie auch jetzt schweigen werden, wenn die Lehrstelleninitiative in den neuen Bundesländern erfolgreich ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Duve [SPD]: Der Bundeskanzler wird langsam zur Leerstelle!)

Natürlich kommt es jetzt ganz wesentlich auf die Eigeninitiative und die Aktivität der unmittelbar Betroffenen an. Ebenso entscheidend sind die Beiträge der Wirtschaft und der Tarifpartner. Gerade die Tarifpartner können mit ihren Lohnabschlüssen zu einer klaren Zukunftsperspektive für Unternehmen und Arbeitsplätze beitragen

(Zuruf von der SPD: Was heißt das?)

und zugleich für die dringend notwendige Lohndifferenzierung sorgen. — Wenn Sie dazu wirklich eine



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Erläuterung nötig haben, dann frage ich mich, wo Sie in den letzten Monaten, in den letzten Wochen waren, etwa bei der Diskussion um den Tarifabschluß im öffentlichen Dienst, etwa beim Tarifabschluß im Metallbereich.

(Duve [SPD]: Warum sind Sie so nervös? Warum sind Sie nicht souverän, Herr Bundeskanzler?)

Sie wissen genau, daß wir hier ein Problem haben, das wir in zwei, drei Jahren lösen müssen, Schritt für Schritt. Wir sind in dieser Frage mit den Gewerkschaften offenbar

(Duve [SPD]: Was soll denn diese Unsicherheit?)

mehr einig als mit Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Duve [SPD]: Sie haben doch eine feste Rede; an der können Sie doch bleiben! — Gegenrufe von der CDU/CSU: Schreihals!)

— Lassen Sie ihn doch sprechen, meine Damen und Herren! Es ist besser, er ist hier so laut, als zu Hause.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der CDU/CSU: Zu Hause darf er nicht! — Zuruf des Abg. Duve [SPD])

— Das gefällt Ihnen, weil es zutreffend ist!

(Heiterkeit — Duve [SPD]: Ich weiß, daß Sie aus Erfahrung sprechen, Herr Bundeskanzler!)

Auf dem schwierigen Feld der Eigentumsfragen in den neuen Bundesländern kommt es darauf an, die berechtigten Interessen früherer Eigentümer und die Notwendigkeit von Investitionen und neuen Arbeitsplätzen gegeneinander abzuwägen. Dabei bleibt es bei dem Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung". In diesem Spannungsfeld führt jede Regelung unvermeidlich zu Härten.
Aber, meine Damen und Herren, ich denke, wir stimmen wenigstens in einem überein: Es muß ein rechtsstaatlich angemessener Weg gefunden werden. Er muß zu tragfähigen Lösungen für die Menschen und für die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern führen.
Vor diesem Hintergrund und im Blick auf die wirtschaftlichen Erfordernisse in den neuen Bundesländern hat sich die Bundesregierung für eine großzügige Vorfahrtregelung für Investitionen entschieden. Investitionen in neue Arbeitsplätze können in Zukunft wesentlich schneller als bisher durchgeführt werden. Für diejenigen früheren Eigentümer, die in diesen Fällen — das sage ich mit Bedacht — nur noch eine Entschädigung erhalten, ist dies zweifelsohne eine Härte. In der gegenwärtigen Situation, die in nahezu jeder Hinsicht einmalig und ungewöhnlich ist, müssen jedoch die Sozialbindung des Eigentums und damit das hohe Interesse der Allgemeinheit an Arbeitsplätzen und Investitionen Vorrang haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Meine Damen und Herren, die Bundesregierung engagiert sich in solidarischer Weise für den Aufbau in den neuen Bundesländern. Ich will hier noch einmal die Zahlen nennen: Im zweiten Halbjahr 1990, d. h. nach Einführung der D-Mark und der Währungs- und Wirtschaftsunion, war dies ein Betrag von 35 Milliarden DM. Im Haushaltsentwurf für 1991 sind es noch einmal mehr als 50 Milliarden DM für den Bereich der neuen Bundesländer. Zu diesen Zahlen kommt mit dem Gemeinschaftswerk noch ein Betrag von 12 Milliarden DM für 1991 hinzu. Ich erinnere hier auch noch einmal an unsere Soforthilfen in Höhe von 5 Milliarden DM für die Haushalte der neuen Bundesländer.
Meine Damen und Herren, das heißt: In der Zeit von 18 Monaten, also seit dem Inkrafttreten der Währungs- und Wirtschaftsunion und der Einführung der D-Mark in ganz Deutschland, in der Zeit vom 1. Juli 1990 bis zum Ende dieses Jahres, macht dies insgesamt einen Betrag von knapp über 100 Milliarden DM aus. Ich frage Sie nun wirklich: Wann je in der deutschen und in der europäischen Geschichte gab es eine ähnlich große Kraftanstrengung wie die, die wir gemeinsam und mit allgemeiner Zustimmung jetzt für unsere Landsleute im östlichen Teil Deutschlands unternehmen?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Bei aller Kritik, daß es an diesem oder an jenem Punkt immer noch zuwenig sei, will ich doch darauf hinweisen, daß wir eine Größenordnung erreicht haben, die die wenigsten in dieser Weise für jetzt möglich gehalten haben. Wir haben das geschafft.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir wissen aus eigener Erfahrung, daß dieses Geld für sich allein nicht das leistet, was es leisten soll, wenn wir bei den Strukturen, vor allem in der Verwaltung nicht ebenfalls die notwendige breite Unterstützung geben. Wir versuchen auch als Bundesregierung in diesem Bereich unseren Anteil zu leisten. Die Bundesregierung entsendet eigene Mitarbeiter. Wir unterstützen vor allem die östlichen Landkreise, Städte und Gemeinden dabei, Fachkräfte für ihre Verwaltungen aus den alten Bundesländern zu gewinnen.
Das entsprechende Personalkosten-Zuschußprogramm für 1991 haben wir auf 100 Millionen DM verdoppelt. Damit können schon heute bis zu 2 000 Fachkräfte in die Kommunen und Landkreise der neuen Bundesländer entsandt werden. Die zentrale Anlaufstelle in Berlin soll bei dieser Vermittlung helfen.
Mein dringender Wunsch ist es, daß die neuen Bundesländer jetzt ihrerseits den Fachkräftebedarf mitteilen; in diesem Bereich gibt es noch eine ganze Menge zu tun. Wenn der Bedarf genauer erkannt wird, kann noch gezielter und noch wirkungsvoller geholfen werden.
Im Blick auf die besonders schwierige Personalsituation im Bereich der Justiz hat das Bundeskabinett auf Vorschlag des Bundesjustizministers ein Sofortprogramm von jährlich 120 Millionen DM für die nächsten 3 Jahre beschlossen. In Zusammenarbeit mit den westlichen Bundesländern können somit jetzt sehr rasch bis zu 2 300 Richter, Staatsanwälte und Rechtspfleger in die neuen Bundesländer entsandt



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
werden. Ich gehe davon aus, daß auch die westlichen Bundesländer vergleichbare Anstrengungen unternehmen, um den Verwaltungsaufbau in den neuen Ländern zu beschleunigen.
Dies alles sind Tatsachen, und dies alles wird dazu beitragen, daß wir ungeachtet der aktuellen Schwierigkeiten aus dem Tal herauskommen können.
Manche Schwierigkeiten, die den Weg der alten Bundesrepublik zu Wohlstand und sozialer Sicherheit vorübergehend begleitet haben, erleben wir auch jetzt. Aber diejenigen, die die Dinge damals und heute vergleichen, sollten nicht vergessen, daß wir von der Zeit der Währungsreform 1948 bis in die 50er Jahre hinein brauchten, um den Durchbruch zu erzielen. Heute haben wir diese Zeit nicht. Wir müssen schneller vorankommen und, wo immer möglich, noch gezielter handeln. Wir haben aber in den vergangenen fünf Monaten schon ein gutes Stück des Weges zurückgelegt.
Ich will, weil mancher dies bereits vergessen zu haben scheint, hier einmal folgendes sagen: Im vergangenen Jahr wurden wir von vielen doch zu einem langsameren Tempo gedrängt. Im vergangenen Jahr wurde uns doch gesagt: Die Währungs- und Wirtschaftsunion kommt viel zu früh. Im vergangenen Jahr wurde doch gesagt: Diese Eile ist dem ganzen Thema nicht gemäß. Nun frage ich Sie in diesen Tagen der Ratifikation des Zwei-plus-Vier-Vertrages im Obersten Sowjet: Glauben Sie ernsthaft, daß wir diesen Vertrag heute noch so bekommen würden?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es ist wahr: Wenn wir den Ratschlägen der SPD gefolgt wären, hätten wir heute einen Teil unserer Probleme nicht, aber wir stünden bei der deutschen Frage auch nicht dort, wo wir heute sind: Wir hätten die Teilung noch nicht überwunden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir haben — das nehme ich für uns in Anspruch — richtig gehandelt, indem wir zum frühestmöglichen Zeitpunkt die staatliche Einheit unseres Vaterlandes wiederherstellten.
Meine Damen und Herren, jeder von uns weiß, wie sehr diese tiefgreifenden Veränderungen die Menschen betreffen, betroffen machen und aufwühlen. Es kann doch jeder nachvollziehen, was sich in vielen Familien vollzieht, wenn gefragt wird: Werde ich, wenn ich jetzt meinen Arbeitsplatz verliere, einen neuen Arbeitsplatz bekommen? Werden meine Kinder eine Lehrstelle finden? Bleibt die Wohnungsmiete für unsere Familie bezahlbar? Das sind die selbstverständlichen Fragen im privaten Leben von vielen.
Mit solchen Fragen verbunden sind zugleich große Hoffnungen auf eine schnelle Besserung der Lage und Erwartungen — auch das habe ich in den großen Veranstaltungen oft genug gesagt — , die sich eben nicht in wenigen Wochen oder Monaten erfüllen lassen.
Ich habe Verständnis dafür, daß es vielen, die ganz unmittelbar betroffen sind, schwerfällt, sich in Geduld zu fassen. Jene, die auf der Sonnenseite deutscher Geschichte einen ganz anderen Weg gehen konnten, sind nicht die richtigen Ratgeber, um von Geduld zu reden. Ich verstehe die drängende Ungeduld der
Menschen in den neuen Bundesländern. Ich habe auch Verständnis für manches Wort, das ich in der Sache letztlich nicht für angemessen halte. Aber ich habe Verständnis dafür. Dies ist eine Situation, in der Menschen eben so reagieren. Ich habe allerdings überhaupt kein Verständnis für so manches unbedachte und auch belehrende Wort aus den westlichen Bundesländern zu unseren Landsleuten in den neuen Bundesländern.
Man muß Verständnis füreinander haben. Man muß miteinander, nicht übereinander sprechen. Wir werden dabei erkennen, daß wir in 40 Jahren in vielem getrenntere Wege gegangen sind, als manche von uns gedacht hatten. Ich selbst sehe in Gesprächen immer wieder deutlich, wie sehr wir uns — das soll man doch zugeben; das ist doch keine Schande — auseinandergelebt haben und wie notwendig es jetzt ist, weit über das Materielle hinaus aufeinander zuzugehen und in der menschlichen Dimension das Miteinander zu gewinnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Schulz [Berlin] [Bündnis 90/ GRÜNE])

Unsere Landsleute in den westlichen Bundesländern haben gewiß Grund — auch das darf gesagt werden — , auf die Leistungen in den letzten 40 Jahren, die die Bundesrepublik Deutschland prägten, stolz zu sein. Aber wir sollten gerade jetzt immer wieder deutlich machen, daß die schwierige Lage der Deutschen in den neuen Bundesländern nicht etwa Folge geringeren Könnens oder mangelnden Fleißes ist. Sie ist das Ergebnis von 40 Jahren sozialistischer Mißwirtschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich möchte uns alle auffordern, daß wir — auch vielleicht im Umgang miteinander hier im Haus — im Bewußtsein unserer Zusammengehörigkeit mit mehr Takt und Einfühlungsvermögen aufeinander zugehen.

(Dr. Götte [SPD]: Auf einmal!)

— Das war immer meine Position. Ich weiß nicht, was daran neu ist.
Wie im bisherigen Bundesgebiet, so hat jetzt in ganz Deutschland jeder Anspruch auf den Beistand der Gemeinschaft, auf Schutz und soziale Sicherheit. Das gilt bei Renten und Gesundheitsversorgung ebenso wie im Falle von Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit oder bei Mieterhöhungen. Nicht alles, was sich über 40 Jahre auseinanderentwickelt hat, läßt sich schnell und reibungslos zusammenfügen. Deswegen ist ein Prozeß des Umdenkens notwendig. Das ist, wie jeder von uns weiß, ein schwieriger Prozeß.
Die Menschen in den neuen Bundesländern, die lange genug unter Vormundschaft standen, müssen jetzt Eigeninitiative entwickeln. Es wird von ihnen erwartet, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. All dies kommt nicht über Nacht; denn das planwirtschaftliche System hat in Jahrzehnten Eigeninitiative unterdrückt und Leistungsbereitschaft zerstört. Aber, meine Damen und Herren, wir können noch so viel Geld zur Verfügung stellen: Die Neuorientierung der



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Menschen ist unerläßlich, wenn die Verbesserung der Lebensverhältnisse erreicht werden soll.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Chancen dafür — dies sage ich bewußt nicht zuletzt nach der Rede, die ich gestern hier hörte — sind unverändert günstig; denn uns gemeinsam kommt die erfreuliche wirtschaftliche Verfassung der bisherigen Bundesrepublik zugute.
Es ist ja schon erstaunlich — wenn ich das einmal sagen darf —, daß bei der Generaldebatte über den Gesamthaushalt das Thema: Wie präsentiert sich eigentlich die alte Bundesrepublik in diesem Augenblick? bisher ausgespart wurde. Herr Kollege Vogel, wenn Sie sich die Katastrophengemälde, die Sie in den letzten acht Jahren entworfen haben, jetzt einmal anschauen, dann verstehen Sie, daß ich das Katastrophengemälde, das Sie jetzt für die nächsten Jahre im Blick auf die neuen Bundesländer malen, nicht so ernst nehme. Sie haben sich immer getäuscht, und Sie werden sich auch jetzt täuschen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Sie haben sich getäuscht, mein Lieber! Von Täuschen verstehen Sie etwas! — Weitere Zurufe von der SPD)

— Lieber Herr Kollege Vogel, Sie wissen, daß sich die alte Bundesrepublik — die alten Bundesländer — heute wirtschaftlich in einer Form präsentiert, die vielleicht mit Ausnahme Japans, wohl keinen Vergleich in der ganzen Welt findet. Ich sage ja nun nicht: Das ist der Erfolg dieser Bundesregierung oder der Koalition. Es ist der Erfolg der Menschen, die hier leben; der Unternehmer genauso wie der Gewerkschafter, der Betriebsräte und der Arbeitnehmer, der Beamten und aller anderen.
Nur: Es waren doch die gleichen fleißigen Deutschen in der alten Bundesrepublik, die bis 1982 solche Ergebnisse nicht erzielt haben. Folglich hat doch die Politik etwas damit zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Mit Ihrer Wirtschaftspolitik hätten wir doch die Leistungsfähigkeit nicht erreichen können, die wir jetzt erreicht haben.

(Duve [SPD]: Wer war eigentlich Wirtschaftsminister damals? — Dr. Vogel [SPD] [zu Abg. Dr. Graf Lambsdorff gewandt]: Das geht wieder auf Sie!)

— Meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben doch immer gesagt und vertreten dies doch jetzt auch als ein Argument gegen mich: Es kommt auf den Kanzler an! Den haben doch Sie in jenen Jahren gestellt. Weichen Sie doch jetzt nicht aus!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Sie können doch nicht dem Kanzler alles Schlechte in die Schuhe schieben und all das, was positiv ist, verschweigen. Sie müssen schon einigermaßen in der Logik der Argumentation bleiben.
Ich sage Ihnen noch einmal, weil Sie es so gern hören: Bei Wachstum, Beschäftigung und Preisstabilität nehmen wir zusammen mit Japan weltweit eine Spitzenposition ein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201402200
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Graf Lambsdorff?

Dr. Helmut Kohl (CDU):
Rede ID: ID1201402300
Nein.
Die Beschäftigung in den bisherigen Bundesländern ist so kräftig gestiegen wie zuvor nur ein einziges Mal, nämlich Mitte der 50er Jahre.
Allein im vergangenen Jahr, meine Damen und Herren, gab es annähernd 700 000 zusätzliche Arbeitsplätze. Die Arbeitslosigkeit ist zurückgegangen.

(Zurufe von der SPD)

— Sie mögen ja das alles für falsch halten, aber wenn Sie aus dem Saal hinausgehen und mit den Bürgern im Ruhrgebiet oder anderswo sprechen,

(Zuruf von der SPD: Machen Sie das mal! — Matthäus-Maier [SPD]: „Steuerlüge" sagen die dann!)

dann werden Sie feststellen, daß diese Zahlen stimmen und die Menschen dies so empfinden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wir haben gleichzeitig das System sozialer Sicherheit bei den Renten und bei der Gesundheitsversorgung reformiert. Für Familien und Mütter haben wir die Sozialleistungen verbessert und für Eltern den Erziehungsurlaub eingeführt.
Dies alles, meine Damen und Herren, ist das Ergebnis einer Politik mit Augenmaß; vor allem aber — ich sage es noch einmal — das Ergebnis des Leistungswillens und der Leistungskraft der Menschen in unserem Land.
Meine Damen und Herren, das Fundament der Sozialen Marktwirtschaft, auf dem wir alle stehen und auf dem die Leistungsfähigkeit unseres Landes beruht, ist auf das engste mit der Solidität der Staatsfinanzen verbunden. Das galt und gilt auch und gerade angesichts der außergewöhnlichen Anforderungen im Gefolge der deutschen Einheit. Dies gilt selbstverständlich ebenso für die jetzigen Entscheidungen. Die finanziellen Verpflichtungen außerhalb der deutschen Grenzen nehmen erheblich zu, und zwar in doppelter Hinsicht. Vor allem zwei Bereiche will ich nennen:
Ich nenne zunächst die finanzielle Belastung aus dem Golfkrieg. Hierfür waren 1990 und sind im ersten Quartal 1991 zusammen über 15 Milliarden DM aufzubringen. Wir, die Bundesrepublik Deutschland, haben aus den bekannten verfassungsrechtlichen Gründen keine deutschen Soldaten an den Golf entsandt. Gerade deshalb ist es für mich selbstverständlich, daß das wirtschaftlich starke Deutschland seinerseits einen spürbaren Solidaritätsbeitrag leistet; denn am Golf kämpften unsere Freunde und Partner — allen voran die Amerikaner, die Briten und die Franzo-



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
sen — auch dafür, daß wir, die Deutschen, morgen in einer friedlichen Welt leben können.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Herr Kollege Vogel, ich hätte eigentlich erwartet, daß Sie hier einmal zu der Frage Stellung nehmen, ob die SPD gegen diesen Solidaritätsbeitrag ist

(Sehr wahr! bei der CDU/CSU)

und wie Sie — für den Fall, daß Sie dies so aussprechen — international begründen wollen, daß die Deutschen auf der einen Seite im militärischen Bereich keinen Beitrag leisten und dann auf der anderen Seite als eines der drei wirtschaftlich stärksten Länder der Welt auch noch die wirtschaftliche Unterstützung versagen. Glauben Sie denn im Ernst, daß eine Ihrer sozialistischen Bruder- oder Schwesterparteien in Europa für eine solche Argumentation Verständnis hätte?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie haben heute — ich kann das nur begrüßen und unterstützen — im Hinblick auf manche Äußerungen im Ausland gegen die Deutschen nicht nur gute Formulierungen gefunden, sondern ganz überzeugend dargelegt, daß diese Vorbehalte falsch sind. Ich bedanke mich dafür. Ich finde es gut, wenn das der Oppositionsführer hier so ausspricht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, die Art und Weise aber, wie gestern Ministerpräsident Lafontaine beispielsweise

(Zuruf von der CDU/CSU: Wer ist denn das?)

zu diesem Thema sprach,

(Zuruf von der SPD: Das war sehr gut!)

hat sich sehr von dem unterschieden, was Sie heute gesagt haben.

(Bohl [CDU/CSU]: Wie wahr!)

Herr Kollege Vogel, Sie sollten den deutschen Bürgern und Bürgerinnen schon sagen, ob Sie ernsthaft glauben, daß angesichts einer Gemeinschaftsaktion mit Zustimmung der Vereinten Nationen gegen ein Regime, das zutiefst verbrecherische Handlungen begangen und das internationale Recht gebrochen hat, Deutschland beiseite stehen und sagen kann: Wir leisten weder Unterstützung durch Soldaten, noch sind wir bereit, einen finanziellen Beitrag zu leisten. Das kann doch nicht ernsthaft deutsche Politik sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir wissen, daß diese Ausgabe von 15 Milliarden DM nicht vorhersehbar war. Gerade sind hier dazu Ausführungen gemacht worden, die ich überhaupt nicht verstehen kann. Ich wiederhole: Es war nicht klar, in welche Dimension dieser Betrag gehen würde. Wir haben schnell gehandelt, und zwar aus Gründen, die jeder verstanden hat. Dieses Geld fehlt uns aber jetzt für andere, dringliche Aufgaben.
Ich nenne ein zweites Feld, das Sie hier ganz zu Unrecht karikiert haben, nämlich die deutschen Exporte in die Sowjetunion und in die anderen Länder
Mittel-Ost- und Südosteuropas, die, wie jeder weiß, im Augenblick fast völlig zusammengebrochen sind. Wir alle wissen, daß im Comecon die Betriebe und die Unternehmen in der früheren DDR nahezu komplett auf diesen Absatzmarkt eingerichtet waren und daß ein Zusammenbruch dieses Marktes für die Betriebe und für die Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern schwere Folgen haben muß. Gleich werden Sie durch Zahlen hören, daß dies so ist.
Die Bundesregierung hatte damit gerechnet, daß der Export aus der damaligen DDR in die sogenannten Staatshandelsländer, vor allem in die Sowjetunion, zwar nicht in der früheren Höhe von 30 Milliarden DM, aber doch zu einem guten Teil aufrechterhalten werden könne. Lassen Sie mich Zahlen nennen: Für das Jahr 1990 betrug der Export der früheren DDR, der jetzigen neuen Bundesländer, in den RGW-Raum 36,4 Milliarden DM. Meine Damen und Herren, diese Zahl entsprach einer Steigerung um 22 % gegenüber dem Jahr 1989.

(Bohl [CDU/CSU]: So ist es!)

Die Zahl im Jahr 1990 war nicht geringer als im Jahr 1989, sie ist vielmehr gestiegen.
Wenn ich speziell die Sowjetunion hervorhebe
— das ist der wichtigste Brocken — , dann entsprach der Export dorthin im Jahr 1990 21,8 Milliarden DM. Das ist gegenüber 1989 eine Steigerung um 32 % gewesen. Dies bedeutet, daß die Exporte aus dem Raum der früheren DDR nach Osteuropa und in die Sowjetunion 1990 nicht zurückgegangen waren.

(Dr. Diederich [Berlin] [SPD]: Vergleichen Sie doch mit heute!)

— Ich komme ja gerade darauf zu sprechen. Warten Sie doch erst einmal ab! Die Argumentation muß doch schließlich von Punkt zu Punkt weitergeführt werden.
Hierzu haben Aufträge beigetragen, die im Blick auf das Ende 1990 auslaufende Transferrubelsystem vorgezogen wurden. Richtig ist, daß im Blick auf die Umstellung des Handels mit den osteuropäischen Ländern auf Devisenbasis ab 1991 allgemein mit einem Rückgang des RGW-Handels gerechnet wurde.
Sie haben vorhin eine Kleine Anfrage der SPD zitiert. Ich darf das aufnehmen. Damals, am 24. Oktober 1990, hat die Bundesregierung gesagt:
Ein zunächst spürbarer Rückgang des Handels mit der UdSSR und den anderen RGW-Ländern ab 1991 nach Übergang des Handelsverkehrs auf Weltmarktpreise und konvertible Währung ist nicht auszuschließen.
— Die Experten haben jedoch nicht mit dem nahezu vollständigen Zusammenbruch des sogenannten Osthandels gerechnet. Dies erklärt sich daraus, daß
— zusätzlich zur Umstellung des RGW-Handels auf Devisenbasis — die internen Probleme der Sowjetunion eine viel stärkere Rolle gespielt haben, als dies generell vorherzusehen war.
Meine Damen und Herren, das ist für mich persönlich ein wichtiger Punkt, weil vor allem ich mich hier angesprochen fühle: Ich habe noch vor wenigen Monaten die Aufrechterhaltung von wenigstens der Hälfte des Exportvolumens für realistisch gehalten.



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Ich stand mit dieser Meinung nicht allein. Die meisten der Experten — ich habe nie für mich in Anspruch genommen, ein Experte auf diesem Feld zu sein — haben in einer Zahlendimension gerechnet, die knapp an die Hälfte des früheren Volumens herankommt. Das war aber immerhin eine Dimension von über 10, vielleicht sogar bis 15 Milliarden DM. Wenn Sie mich fragen, ob ich mich an einem Punkt geirrt habe, dann ist es genau dieser Punkt.

(Zurufe von der SPD)

— Aber Entschuldigung, das sage ich doch jeden Tag. Sie haben mich doch danach gefragt, an welcher Position ich mich geirrt hätte. Ich habe mich an dieser Position geirrt.
Aber, meine Damen und Herren, wer behauptet, die jetzige Krise im Handel mit der Sowjetunion — das ist doch Ihre Behauptung — sei eine Folge der Währungsunion und der Vereinigung Deutschlands, der stellt die Dinge schlicht auf den Kopf.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Wer hat denn das behauptet?)

Es waren die Länder des ehemaligen Ostblocks, die ihren Außenhandel mit Wirkung zum Beginn dieses Jahres auf harte Devisen umgestellt haben. Ausschlaggebend für die jetzigen Probleme ist vor allem die innere Entwicklung der Sowjetunion.
Die Bundesregierung hat bereits Ende des letzten Jahres zusätzliche Beschlüsse gefaßt, um Exporte aus den neuen Bundesländern in die Sowjetunion noch höher abzusichern. Das heißt für unseren Haushalt, daß wir uns jetzt noch stärker als bisher zur Absicherung des Risikos in diesem Bereich verpflichten. Es gibt dafür gute Gründe; deswegen tun wir es ja auch. Es geht um die Kontinuität im Handel mit der Sowjetunion, der für uns und für die Sowjetunion auch in Zukunft von großer Bedeutung ist.
Aber, meine Damen und Herren, es geht natürlich in letzter Konsequenz auch um Hunderttausende von Arbeitsplätzen. Fast 40 % aller Exporte der früheren DDR gingen in diesen Raum. Wenn es uns gelungen wäre, den Verlust von Arbeitsplätzen in diesen Jahren stärker zu bremsen, dann hätten wir es jetzt in vieler Hinsicht leichter.

(Dr. Gysi [PDS/Linke Liste]: Das wäre doch drin gewesen! — Dr. Briefs [PDS/Linke Liste]: Warum haben Sie das nicht gemacht!)

— Ich komme gleich auf den Punkt zu sprechen.
Ich zeige dies an einem konkreten Beispiel auf, nämlich an der Tatsache, daß die fünf größten Werften in Mecklenburg-Vorpommern zu über 60% von sowjetischen Aufträgen abhängen. Davon sind etwa 30 000 Arbeitsplätze betroffen.
Sie fragen, was wir gemacht haben. Bundesminister Möllemann war kürzlich in — —

(Zurufe von der SPD: Aha! — Gegenruf des Abg. Bohl [CDU/CSU]: Niveaulos!)

— Ich weiß gar nicht, was das eigentlich soll. Wollen wir hier ein ernsthaftes Gespräch miteinander führen oder wollen wir nur noch Brett gegen Brett halten?
Bundesminister Möllemann war in diesen Tagen im Auftrag der Bundesregierung in Moskau mit dem Ziel, kurzfristig neue Aufträge im Umfang von rund 9 Milliarden DM zu vereinbaren. So wie die Dinge liegen, hoffen wir, daß dies zu einem guten Abschluß kommt.
Aber — dieses Aber muß ich korrekterweise hinzufügen — diese neuen Vertragsabschlüsse sind nur möglich, wenn wir unsererseits bereit sind, praktisch vollständige Exportbürgschaften zu übernehmen. Wir werden dies tun, weil wir zum einen hoffen, daß dies der inneren Situation, d. h. der Stabilisierung der Sowjetunion zugute kommt und weil es zum anderen um den Erhalt von Arbeitsplätzen und Betrieben in den neuen Bundesländern geht.

(Duve [SPD]: Lieber Hermes mit Moskau als Hermes mit Bagdad!)

Aber ich füge hinzu, dies bedeutet, daß der Bund ein zusätzliches Risiko dabei trägt.

(Dr. Solms [FDP]: So ist es!)

Meine Damen und Herren, ich sage noch einmal, die unvorhergesehene Belastung infolge des Golfkrieges und die dramatischen Ausfälle im Osthandel machen zusätzliche Aufwendungen in zweistelliger Milliardenhöhe unumgänglich. Diese Beträge stehen für zusätzliche Maßnahmen zugunsten der neuen Bundesländer nicht mehr zur Verfügung.
Heute oder gestern wurde in der Debatte gesagt, wir hätten das Geld ohnehin nicht zur Verfügung stellen können. Meine Damen und Herren, wenn wir diese Ausgabenposition nicht hätten, stünde das Geld natürlich zur Verfügung.
Vor diesem Hintergrund standen wir in der Koalition nach den bereits vorgenommenen beachtlichen Einsparungen im Bundeshaushalt 1991 vor der Alternative, entweder die Nettokreditaufnahme oder die Steuern zu erhöhen. Der auf den ersten Blick bequemere Weg über eine Erhöhung der Nettokreditaufnahme kam nicht in Frage. Im Blick auf Zinsen und Geldwertstabilität dürfen wir den Kapitalmarkt nicht stärker in Anspruch nehmen. Ich würde mir überhaupt wünschen, daß dies in der bundesstaatlichen Ordnung für alle Ebenen unserer Republik gelten würde.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich weiß wohl, daß in einer Reihe von Bundesländern der Weg wahrscheinlich gar nicht anders zu gehen ist. Ich sage: in einer Reihe von Bundesländern; auch hier gibt es Unterschiede. Aber es gibt noch mehr Städte und Gemeinden, die sich sehr wohl in diesen Jahren bei der Nettokreditaufnahme einmal etwas zurückhalten könnten, um das Ganze im Blick auf die Geldentwicklung zu stabilisieren.

(Dr. Hauchler [SPD]: Vermögensteuer!)

— Ich komme noch auf diesen Punkt. Lassen Sie doch einmal die Rede auf sich wirken; sie wirkt ja offensichtlich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Lachen bei der SPD — Duve [SPD]: Wir sind Zeugen der Wirkung Ihrer Rede!)




Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Angesichts der notwendigen Rücksichtnahme auf Zinsen und Geldwertstabilität war für uns nur der Weg über eine Steuererhöhung verantwortbar. Unsere Kernfrage war: Wie können Rückwirkungen auf die konjunkturelle Entwicklung so gering wie möglich gehalten werden? Denn über eines besteht kein Zweifel: Nur mit soliden Staatsfinanzen und einer weiter positiven Wirtschaftsentwicklung können wir die anstehenden Aufgaben in den neuen Bundesländern bewältigen. Entscheidend ist dafür, daß wir auch auf den anderen Gebieten das wirtschaftlich und politisch Notwendige voranbringen können. Ich nenne dabei ausdrücklich die vereinbarte Steuerreform zugunsten von Familien, die notwendigen Verbesserungen im Umweltschutz und auch — jetzt komme ich zu diesem Thema, Herr Kollege Vogel — die Fragen der Unternehmensteuerreform.
Ich verstehe eigentlich nicht, warum wir zu einem Zeitpunkt, zu dem das Gespräch zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, das hier ja zwingend notwendig ist, noch gar nicht stattgefunden hat, bereits wieder Schützengräben ausheben.

(Dr. Vogel [SPD]: Das steht in der Koalitionsvereinbarung! Sie haben es ja hineingeschrieben!)

— Entschuldigung, ich kann es Ihnen ja vorlesen. Sie wissen genau, daß das so nicht stimmt, wie Sie es dazwischenrufen.

(Dr. Vogel [SPD]: „Zum frühestmöglichen Zeitpunkt" steht darin!)

Worum geht es denn, meine Damen und Herren? Das ist doch eigentlich keine Frage, über die wir uns streiten müßten. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß am 31. Dezember 1992 der große europäische Binnenmarkt vollendet wird. Er ist mit 340 Millionen Menschen der stärkste Wirtschaftsraum der Welt. Die Bundesrepublik Deutschland und auch die neuen Bundesländer haben darin ihre besondere Zukunftschance. Wahr ist auch — es gibt genügend Hinweise und Zahlen, die das belegen — , daß unser jetziges Steuersystem vor allem im Blick auf die Unternehmensbesteuerung unseren Unternehmen nicht mehr, sondern weniger Chancen im Vergleich zu anderen Ländern einräumt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, dies ist doch wahr.

(Widerspruch bei der SPD)

Deswegen ist es richtig, daß die Unternehmen — das gilt übrigens für Arbeitnehmer wie für Arbeitgeber gleichermaßen — am Vorabend des Binnenmarktes, also Ende 1992, wissen müssen, was sie in Zukunft erwartet.
Wir haben doch nie gesagt, daß Ende 1992 die Unternehmenssteuerreform in Kraft treten werde, sondern wir haben gesagt: Derjenige, der investiert, muß um seine künftigen Belastungen wissen.
Das, was jetzt in Frage steht, betrifft Themen, die alle angehen. Es geht doch nicht allein um das Thema Vermögensteuer. Es geht auch um die Gewerbekapitalsteuer und um die finanzielle Ausstattung der deutschen Gemeinden. Ich selbst — die Kollegen der CDU, der CSU und der FDP gleichermaßen — habe
bei jeder Gelegenheit erklärt: Wir wollen nicht die Grundstruktur unseres Selbstverwaltungssystems ändern. Es ist eines der großartigen Ergebnisse deutscher Geschichte, daß wir unabhängige Gemeinden haben, die mit einer gewissen Grundsubstanz ausgestattet sind. Wir wollen nicht die Gemeinden zu Kostgängern machen. Wir wollen, daß sie ihr eigenes Recht haben.
Aber das bedingt doch, Herr Kollege Vogel, daß wir über diese Fragen miteinander reden.

(Dr. Vogel [SPD]: Das steht doch alles bei Ihnen in der Koalitionsvereinbarung!)

— Entschuldigung, dort steht genau, daß wir darüber reden

(Dr. Vogel [SPD]: Dort steht, daß die Vermögensteuer zum frühestmöglichen Zeitpunkt abgeschafft werden soll!)

und daß wir im Gesamtkontext auch bezüglich Vermögensteuer und Gewerbekapitalsteuer mit den Gemeiden und mit den Ländern sprechen müssen. Das ist doch keine Sache, die man so einfach über den Tisch schiebt, sondern das ist eine Sache, an der wir gemeinsam arbeiten müssen.
Ich möchte Sie herzlich einladen, daß wir — bevor Sie, und zwar aus ganz anderen Gründen, weil Sie nämlich wieder den alten sozialistischen Neidkomplex durchs Land tragen wollen,

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

bereits Positionen beziehen, und das sage ich an alle, die Gespräche unmöglich machen — in dieser Frage miteinander die notwendigen Gespräche führen. Wir stehen doch diesbezüglich gar nicht unter Zeitdruck.
Meine Damen und Herren, ich sage es noch einmal: Die vorgesehenen Maßnahmen sind konjunkturell vertretbar, und sie berücksichtigen in besonderem Maße die wirtschaftliche und steuerliche Leistungsfähigkeit auch des einzelnen. Ich wiederhole: Es gab nur die Alternative zwischen einer höheren Kreditaufnahme und höheren Steuern. Wir haben uns für den ganz gewiß schwierigen Weg der Steuererhöhung entschieden. Damit sind wir in der Lage, trotz unvorhersehbarer Zusatzbelastungen Aufträge, Produktion und Beschäftigung in den neuen Bundesländern zu fördern. Das bedeutet Wachstum in ganz Deutschland.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dieser Generaldebatte muß auch die Frage nach der Verantwortung des wiedervereinten Deutschlands in der Welt und in Europa gestellt werden. Unsere Partner in der Welt fordern zu Recht, daß das vereinte Deutschland künftig seinen Beitrag zu Sicherheit und Stabilität nicht nur in Europa, sondern auch außerhalb Europas leistet. Es geht darum, dem Anspruch des Grundgesetzes zu genügen, in dem es heißt: Wir wollen als gleichberechtigtes Glied dem Frieden in der Welt dienen. Dabei wissen wir, daß Friedenswahrung eine Aufgabe ist, die heute die Kräfte jedes einzelnen Staates übersteigt. Wir können diese Aufgabe nur gemeinsam bewältigen.



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Das Grundgesetz weist uns auch hier den Weg. Ich darf zitieren:
Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.
Wir sind auf der Grundlage dieser Bestimmung unserer Verfassung Mitglied des Nordatlantischen Bündnisses und der Westeuropäischen Union. Als Mitglied der Vereinten Nationen haben wir die Pflichten übernommen, die in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt sind. Dazu gehören auch Maßnahmen der kollektiven Sicherheit. Unsere Verfassung — aber auch die deutsche Teilung — hat uns bei der vollen Wahrnehmung dieser Pflichten bisher Schranken auferlegt; das ist eine historische Gegebenheit.
Jetzt ist es das vereinte Deutschland, das in der Gemeinschaft der Völker der Welt steht. Das ist eine neue Lage, und daraus müssen wir die verfassungspolitischen Konsequenzen ziehen. Wir müssen sehen, daß unsere Entscheidung vor allem als ein Prüfstein für die Ernsthaftigkeit unseres politischen Willens, die Last der internationalen Friedenssicherung mitzutragen, angesehen werden wird.
Herr Kollege Vogel, ich habe Ihnen keinen Rat zu geben. Aber meine Bitte ist, bevor Sie Festlegungen
— bis hin zu der doch sehr gewichtigen Festlegung durch einen Parteitag — treffen: Überlegen Sie wirklich, ob das, was Sie heute hier genannt haben
— wenn ich es richtig verstanden habe: Teilnahme der Bundeswehr lediglich an sogenannten BlauhelmMissionen — , unserer internationalen Position gerecht wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, wir sollten sorgfältig prüfen, auch gemeinsam, wieweit eine Beteiligung der Bundeswehr an militärischen Maßnahmen nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen, wieweit die Beteiligung der Bundeswehr an gemeinsamen Aktionen im Rahmen einer künftigen europäischen Sicherheitsstruktur, beispielsweise der Westeuropäischen Union, möglich ist.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Diese Beispiele sind gar nicht so neu. Im alten Bundestag gab es vor langer Zeit einmal leidenschaftliche Debatten über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft.

(Gansel [SPD]: Zur Verteidigung, aber nicht als Eingreiftruppe! — Weitere Zurufe von der SPD)

— Ich denke schon, meine Damen und Herren, daß in diesen Wochen auch Leistungen zur Verteidigung von Frieden, Freiheit und Völkerrecht erbracht wurden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Und ich sage Ihnen auch: Sie müssen doch bei all dem, was Sie jetzt tun — das ist natürlich Ihre Sache, und ich respektiere Ihre Meinung —, bedenken, daß
wir spätestens — das sage ich Ihnen voraus — im Jahre 1993 in einer Bundestagssitzung über die Dokumente und die Ergebnisse der Regierungskonferenz zur Wirtschafts- und Währungsunion und zur Politischen Union zu entscheiden haben werden. Und es ist doch nun wirklich nicht denkbar, meine Damen und Herren, daß wir ja sagen zur Politischen Union, daß wir — ich will das, und ich komme gleich noch einmal auf das Thema zu sprechen — ja sagen zu mehr Rechten für das Europäische Parlament, aber in Sachen Verteidigung beiseite stehen. Das ist doch nicht denkbar, das kann doch nicht deutsche Politik sein!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Kollege Vogel, selbstverständlich sind wir uns — da stimme ich Ihnen zu — bewußt, daß Frieden und Stabilität in der Welt nicht nur militärisch gesichert werden können. Der Griff zu diesem Zwangsmittel muß immer Ultima ratio bleiben. Das Schwergewicht muß auf vorbeugender Friedenssicherung liegen. Es geht in der Dritten Welt um die Festigung der wirtschaftlichen und sozialen Stabilität. Es geht um den Ausgleich von Konflikten mit religiösen, nationalen und kulturellen Wurzeln. Es geht um politische Stabilität durch friedliche Konfliktlösungen.
Gerade der Konflikt am Golf hat uns vor Augen geführt, was es für den Frieden und damit auch für unsere eigene Sicherheit bedeutet, wenn irgendwo in der Welt ein Rüstungspotential, das jedes Maß an Selbstverteidigung überschreitet, angehäuft wird,

(Gansel [SPD]: Durch Ihr Versagen in der Rüstungsexportpolitik! — Weitere Zurufe von der SPD)

wenn dort Androhung und Anwendung von Gewalt zum Mittel der Politik werden. Hieraus, meine Damen und Herren, gilt es Konsequenzen zu ziehen, und wir ziehen diese Konsequenzen.
Der Ausgang des Golfkrieges hat dem Frieden neue Chancen eröffnet.
Übrigens, Herr Kollege Vogel: Sie haben gesagt, Sie erwägten, einen Untersuchungsausschuß zu beantragen. Ich habe keine Bedenken dagegen.

(Dr. Vogel [SPD]: Wunderbar!)

Ich kann Ihnen nur sagen, er wird ein sehr erstaunliches Ergebnis zutage fördern.

(Zustimmung bei der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Das sage ich auch!)

Überhaupt möchte ich bei der Gelegenheit einmal sagen — das trifft weniger die Mitglieder des Hauses, aber einen Teil der deutschen und internationalen Öffentlichkeit — : Angesichts der Veröffentlichungen in den letzten Wochen — Tag für Tag — , wer alles in den Irak geliefert hat, müßte eigentlich der eine oder andere Vorwurf gegen die Deutschen sehr rasch verstummen. Das will ich bei dieser Gelegenheit einmal sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das bedeutet aber überhaupt nicht, meine Damen und Herren, daß wir alle irgendein Verständnis für jene hätten, die aus egoistischen, ja, zum Teil verbrecherischen Gründen ihren Beitrag zum Anhäufen von



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Waffenarsenalen oder zur Entwicklung von schrecklichen Waffen geleistet haben.

(Zustimmung bei der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Genau darum geht es!)

Aber darüber können wir ja miteinander sprechen; wir sind gerade dabei, wie ich höre, in dieser oder der nächsten Woche die Gesetzgebung in diesem Haus abzuschließen.

(Dr. Vogel [SPD]: Den Bericht hätten wir gern!)

Wir haben uns bei dem Konflikt im Golf auf der Seite von Freiheit, Recht und Gerechtigkeit mit den Mitteln engagiert, die uns nach unserer Verfassung zur Verfügung standen. Ich will bei dieser Gelegenheit gern einmal sagen, weil so viel Falsches darüber verbreitet wurde, daß unsere Verbündeten und Partner dies ausdrücklich gewürdigt haben, egal, ob es sich um Präsident Bush, Staatspräsident Mitterrand oder Premierminister Major handelt. Mit ihnen allen habe ich in dieser kritischen Zeit immer wieder gesprochen, und in all unseren Gesprächen war deutlich, daß sie erstens dankbar sind für die Solidarhilfe aus Deutschland und — zum zweiten — daß sie wissen, daß wir in unseren Handlungsmöglichkeiten noch beschränkt sind. Aber wir alle, auch Sie in der SPD, müssen dann, wenn wir über die Verfassungsänderung sprechen, auch die Frage, die von dort kommt, beantworten: Seid ihr für die Zukunft bereit, auch militärisch Solidarhilfe zu leisten?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es bieten sich jetzt nach dem Golfkrieg neue Chancen für dauerhaften Frieden in der Region durch eine Verhandlungslösung. Aber ich denke, die Ideen, Vorstellungen und Elemente müssen vor allem aus der Region selbst kommen. Es besteht auch die Notwendigkeit, aus der Region selbst einen Beitrag zum Aufbau zu leisten.
Der Kollege Alfred Dregger hat vorhin mit Recht etwas gesagt, was ich aufnehmen will, auch angesichts einer Debatte, die in die Richtung läuft: Was werdet ihr tun? Wir werden sicherlich einen Beitrag zu einer friedlichen Entwicklung leisten. Aber ich sage Ihnen auch, es ist jetzt an der Zeit, daß die reichen Länder dieser Region ihren Beitrag für jedermann erkennbar leisten,

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

und daß man dann darüber diskutiert, ob dieser Beitrag angemessen ist, bevor andere in diesem Zusammenhang wieder angesprochen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Meine Damen und Herren, am 31. März werden wir ein historisches Datum verzeichnen können.

(Zuruf von der SPD: Schon wieder eines!)

— Ja, das ist auch eins. Daß Sie jetzt diesen Zwischenruf machen, zeigt nur, wie weit Sie von der Wirklichkeit entfernt sind. Ich spreche nämlich von der Auflösung der militärischen Struktur des Warschauer Paktes. Dies ist ein historisches Datum.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das ist ein Ergebnis auch unserer Politik, und auf unseren Beitrag dürfen wir auch stolz sein.

(Vorsitz: Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg)

Manche stellen jetzt — —

(Zuruf von der SPD: Wann ist die NATO dran?)

— Ich weiß, Sie wollten immer aus der NATO raus, aber alle Ihre außenpolitischen Wege auf diesem Feld waren Irrwege. Wenn wir Ihnen gefolgt wären, hätten wir gar nichts erreicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Auf Ihre Frage, ob wir die NATO brauchen, ist meine Antwort klar: ja. Gerade wir Deutschen haben ein elementares Interesse daran, daß die stabilisierende und friedenswahrende Rolle des Bündnisses in Deutschland unangetastet bleibt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich sage dies angesichts der erfreulichen Entwicklung in Mittelost-, und Südosteuropa, auch in der Sowjetunion. Die NATO braucht zu ihrer Existenzberechtigung wirklich kein Feindbild. Sie gründet sich auf gemeinsame Interessen und vor allem auf gemeinsame Werte. Dieses Bündnis hat den Wandel in Europa und in Deutschland entscheidend geprägt, ja mit herbeigeführt. Die NATO hat in ihrer Gipfelerklärung vom Juli 1990 in London die Konsequenzen aus dem Wandel gezogen. Die dort in Auftrag gegebene Überprüfung der Strategie und der Strukturen macht gute Fortschritte. Wir werden auf diesem Weg weiter vorangehen.
Eines der Kernstücke des gewandelten Verhältnisses zwischen Ost und West ist der Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa. Meine Damen und Herren, wir alle haben ein überragendes Interesse daran, daß die noch bestehenden Hindernisse im Blick auf die Ratifikation dieses Vertrages ausgeräumt werden und daß alle Signatarmächte den Vertrag nach Buchstaben und Geist erfüllen. Ungeachtet der Fortschritte im Bereich der europäischen Sicherheit wissen wir, daß auch in Zukunft militärische Risiken nicht auszuschließen sind. Deshalb muß eine verantwortungsbewußte Sicherheitspolitik auch weiterhin militärische Vorsorgemaßnahmen zur Kriegsverhinderung und zur Verteidigung vorsehen. Das heißt, daß auch für die Zukunft die Rolle der Bundeswehr von großer Bedeutung ist. Frieden und Freiheit gibt es nicht zum Nulltarif, und wir müssen in unserer Gesellschaft das Bewußtsein dafür wachhalten, daß der Schutz unserer freiheitlichen Lebensordnung jeden einzelnen Bürger unmittelbar angeht. Deswegen halten wir entschieden an der allgemeinen Wehrpflicht fest.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Die Soldaten unserer Bundeswehr leisten einen unersetzlichen Dienst am Frieden für die Sicherung der Freiheit. Gerade nach mancherlei Diskussionen der letzten Wochen ist es wichtig, auch hier vor dem Forum des Deutschen Bundestages noch einmal zu sa-



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
gen: Wir haben allen Grund, unseren Soldaten zu danken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Präsident, meine Damen und Herren, Ziel der 90er Jahre bleibt für uns die europäische Einigung. Wir wissen, nur eine einige und starke Europäische Gemeinschaft kann auch in Zukunft politischer und wirtschaftlicher Anker unseres Kontinents sein. Wir setzen deshalb unsere ganze Kraft dafür ein, daß beide Regierungskonferenzen über die Wirtschafts- und Währungsunion sowie über die Politische Union zum Erfolg geführt werden, daß die Europäische Gemeinschaft zur Europäischen Union ausgebaut wird.
Für uns Deutsche ist dabei wichtig — und ich werde das immer wieder sagen — , daß das Ergebnis beider Regierungskonferenzen befriedigend ist und daß es auch bei der Ratifikation als Ganzes gesehen werden muß. Es ist für mich nicht akzeptabel, daß wir auf dem einen Feld Fortschritte erreichen, auf dem anderen Felde aber nicht. Wer die Wirtschafts- und Währungsunion will — wir wollen dies — , muß auch die Politische Union wollen. Wer die Politische Union will, muß auch die Wirtschafts- und Währungsunion wollen. Wir nennen das die „Parallelität" der beiden Konferenzen. Gemeinsam mit Frankreich haben wir diese beiden Konferenzen mit inhaltlichen Anstößen nach vorn gebracht, wobei wir uns der Sensibilität und der Schwierigkeiten der anstehenden Themen in den einzelnen Ländern wohl bewußt sind.
Ich vermerke hier dankbar, daß gerade bei meinen Gesprächen am Montag dieser Woche mit Premierminister John Major deutlich wurde: Ungeachtet durchaus beachtlicher Gegensätze in einzelnen Feldern der europäischen Politik nimmt der britische Premierminister die ganz klare Position ein, daß Großbritannien nicht außerhalb dieser Gemeinschaft, sondern als eines der Zentren Europas in dieser Gemeinschaft seinen Platz sucht. Ich bin dankbar für diese klare Aussage.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, unser deutscher Standpunkt ist klar. Die Europäische Gemeinschaft muß mit mehr Rechten ausgestattet werden, auch wenn dies einen Einschnitt in die nationale Souveränität bedeutet. Das gilt beispielsweise für den Bereich der Außen- und der Sicherheitspolitik. Wir Europäer können unsere Interessen in einer sich verändernden Welt nur dann gemeinsam durchsetzen, wenn wir auch in diesem Bereich vorankommen.
Auf Grund eines Vorschlags, den Staatspräsident Mitterrand und ich eingebracht haben, beginnt sich in der Sicherheitspolitik ein Grundkonsens zu entwikkeln. Das wird noch viel Arbeit bringen, aber die Dinge bewegen sich.
Wir wollen die Westeuropäische Union zu einem integralen Bestandteil des europäischen Einigungsprozesses machen und sie zugleich zum echten europäischen Pfeiler im Atlantischen Bündnis ausgestalten. Meine Damen und Herren, es ist wichtig, dies auszusprechen. Dies alles bedeutet, die Westeuropäische Union ist nicht Ersatz des Atlantischen Bündnisses, sondern Bindeglied zwischen Europa und unseren nordamerikanischen Verbündeten. Wir wollen während unserer WEU-Präsidentschaft ab Sommer dieses Jahres die Arbeiten weiter voranbringen.
Eine weitere wichtige Forderung an die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist für uns die Erarbeitung gemeinsamer Rüstungsexportkontrollen. Ich denke, an diesem Punkt sind wir uns hier einig. Alle nationalen Anstrengungen, so notwendig sie sind, führen nur dann zum Erfolg, wenn sie auf gemeinsamer Ausrichtung beruhen und unseren gemeinsamen Interessen entsprechen.
Meine Damen und Herren, unsere Bemühungen im Rahmen der Regierungskonferenz über die Politische Union gelten in besonderem Maße der Stärkung der Rechte und Kompetenzen des Europäischen Parlaments. Es kommt hier die Stunde der Wahrheit für viele in EG-Europa: In der Frage, wie wir das Parlament, das im Sommer 1994 gewählt wird, mit Kompetenzen ausstatten wollen, zeigt sich auch etwas von der Überzeugungskraft der europäischen Idee. Wir haben Vorschläge eingebracht für die Wahl des Präsidenten und der Mitglieder der EG-Kommission, für die Ausweitung der Rechte des Parlaments im Haushaltsbereich und bei den Außenbeziehungen und für den Einstieg in eine echte Mitentscheidung des Parlaments in der Gesetzgebung.
Schließlich ist die Einbeziehung der Kernbereiche polizeilichen und justizpolitischen Handelns in die Gemeinschaftsverträge ein wichtiges Anliegen. Der Wegfall aller Grenzkontrollen innerhalb der Gemeinschaft ist Kern des Europäischen Binnenmarktes, ein Stück „Europa der Bürger".
Hieraus gibt es enorme Konsequenzen etwa im Bereich der inneren Sicherheit. Wir brauchen vordringlich eine gemeinsame europäische Einwanderungs- und Asylpolitik. Ich will jetzt schon warnend darauf hinweisen: Angesichts der kritischen Entwicklungen in nicht wenigen Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas ist die Frage eines gemeinsamen europäischen Asylrechts von entscheidender Bedeutung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Richtig!)

Ich nenne ein anderes Beispiel, nämlich die Bekämpfung des organisierten internationalen Verbrechens, des Terrorismus und vor allem der Drogenmafia. Die neuesten Zahlen über den weltweiten Umsatz der Drogenmafia, vor allem in den großen Industrienationen, zeigen, daß wir hier bereits Größenordnungen des Jahresetats großer Industrieländer erreichen.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Mein Gott!)

Ich bin ganz sicher, daß wir bei allem Sinn für föderalistische Strukturen und nationales Denken scheitern werden, wenn wir nicht fähig sind, sehr bald eine internationale Polizeiorganisation auf den Weg zu bringen, die hier tatkräftig zupacken kann. Das ist eine Voraussetzung für viele ganz wichtige Entwicklungen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Verwirklichung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion bleibt unser Ziel. Wir stehen zu den inhaltlichen und zeitlichen Vorgaben, die wir im Oktober letzten Jahres in Rom festgelegt hatten. Sie stimmen mit unseren grundsätzlichen Vorstellungen



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
überein. Wir werden davon nicht abgehen. Ich sage noch einmal: Beide Konferenzen gehören für uns zusammen.
Der dynamischen Entwicklung in der Gemeinschaft stehen zunehmende Schwierigkeiten im Bereich des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe gegenüber. Ab 1. Januar dieses Jahres wird der Handel unter den Mitgliedstaaten in konvertibler Währung verrechnet. Dieser marktwirtschaftlich logische Schritt stellt das bisherige planwirtschaftlich gesicherte System jedoch insgesamt in Frage. Die Entwicklung hat enorme Konsequenzen für uns.
Erstens gerät die Reformentwicklung in den Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas immer mehr unter Druck, was zu weiteren Entlastungswünschen an die Adresse der westlichen Staaten führt. Alle Wege von Mittel-, Ost- und Südosteuropa führen, auch so verstanden, über Deutschland.
Zweitens drohen, wie sich in den neuen Bundesländern zeigt, traditionelle Austauschbeziehungen abzureißen, Beziehungen, die wir doch alle unter marktwirtschaftlichen Vorzeichen fortsetzen wollen. Das heißt, daß wir alles tun müssen, um einen Beitrag zu leisten, daß sich die Idee der Marktwirtschaft dort durchsetzt.
Wir wissen genau, daß der weitere Erfolg entscheidend von der Lösung der großen wirtschaftlichen und sozialen Probleme abhängt. Der polnische Ministerpräsident Bielecki hat mir in der vergangenen Woche in aller Eindringlichkeit die Entwicklung in seinem Land und auch den Willen dargelegt, die Reformen konsequent fortzusetzen. Ich habe unsere Bereitschaft angekündigt, dafür einzutreten, daß die westlichen Länder diesen Weg Polens und auch der anderen Reformstaaten weiterhin stützen. Aber, es muß vor allem in den Ländern selber das Notwendige an Entscheidungen getroffen werden; denn Hilfe von außen kann nur Hilfe zur Selbsthilfe sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Gerade weil wir die deutsche Einheit nicht zuletzt den Reformbewegungen in der Tschechoslowakei, in Polen, in Ungarn zu verdanken haben, sollen diese Länder wissen, daß wir im Rahmen unserer Möglichkeiten helfen wollen.
Aber wahr ist auch, daß die deutsche Hilfe bereits jetzt weit über das Engagement anderer westlicher Länder hinausgeht. Ich sage das nicht, um diese Tatsache zu beklagen. Ich verstehe diese Leistung als eine Abschlagszahlung auf die Zukunft, auf den Frieden, denn in Europa dürfen keine neuen Wohlstandsgrenzen entstehen. Welch eine Vorstellung, daß sich an der deutsch-polnischen Grenze eine Entwicklung vollziehen könnte, die dann als Wohlstandsgrenze verstanden würde! Das wäre eine katastrophale Entwicklung für die Zukunft. Das kann nicht Ziel unserer Politik sein.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und beim Bündnis 90/GRÜNE)

Man kann es auch anders sagen: Wir wollen die Gräben der Ideologie überwinden, aber wir wollen nicht durch ein soziales Gefälle neue Gräben aufreißen.
Das vereinte Deutschland mißt den Beziehungen zur Sowjetunion zentrale Bedeutung bei. Wir wollen, daß Präsident Gorbatschow seine Politik des neuen Denkens und seinen außenpolitischen Kurs der Zusammenarbeit fortsetzen kann. Wir wünschen ihm Erfolg.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und beim Bündnis 90/GRÜNE)

Angesichts mancher internationaler und nationaler Stimmen möchte ich hier noch einmal klar betonen: Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln, daß er die Politik der Perestroika fortsetzen will. Ich habe Grund, zu danken, denn er hat seine Zusage eingehalten, bis Mitte März die Zustimmung zum Zwei-plus-Vier-Vertrag im Obersten Sowjet zu erreichen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und beim Bündnis 90/GRÜNE)

Auch das ist von vielen angezweifelt worden. Wir sollten dankbar erwähnen, daß diese Zusage eingelöst wurde. Der Oberste Sowjet hat zugleich den Vertrag vom 3. November über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit wie auch den deutsch-sowjetischen Wirtschaftsvertrag gebilligt. Das heißt, die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern stehen auf einem festen und soliden Fundament. Wir wollen auch in Zukunft berechenbare Partner füreinander sein.
Die Aussöhnung der Deutschen mit den Völkern der Sowjetunion ist ein entscheidender Schritt auch auf dem Weg zu einem größeren Europa, das politisch, wirtschaftlich und sozial zusammenwachsen soll.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das vereinte Deutschland ist gefordert und bereit, diesen Weg zu gehen im Geist der Partnerschaft, der guten Nachbarschaft, der Solidarität. Wir wollen ihn zusammen mit den anderen Völkern Europas und auch an der Seite unserer Freunde in den Demokratien Nordamerikas gehen. Die Einheit in gemeinsamer Freiheit, die wir im vergangenen Jahr wiedererlangt haben, bedeutet für uns Deutsche vor allem eine gemeinsame Verpflichtung. Wir wollen uns dieser Pflicht stellen, besonders im Interesse kommender Generationen, am Ende eines Jahrhunderts, das viel Leid und Elend sah und das in Europa — wie wir alle hoffen dürfen — einen guten, einen versöhnlichen Ausklang finden wird.
Ich darf uns alle einladen, auf diesem Weg ein Stück Miteinander zu finden.

(Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1201402400
Das Wort hat der Abgeordnete Voigt (Frankfurt).

Karsten D. Voigt (SPD):
Rede ID: ID1201402500
Herr Bundeskanzler, zum innenpolitischen Teil Ihrer Rede möchte ich nur zwei Bemerkungen machen.

(Unruhe)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1201402600
Herr Abgeordneter, ich möchte Ihnen die notwendige Ruhe verschaffen. Wir wollen denjenigen, die nicht im Saal



Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
bleiben, die Möglichkeit geben, schnell den Saal zu räumen.

Karsten D. Voigt (SPD):
Rede ID: ID1201402700
Ja, das ist ganz klar: Nachdem die Herren ihre Pflicht abgesessen haben, wollen sie jetzt das Vergnügen versäumen.

(Heiterkeit bei der SPD — Duve [SPD]: Karsten, das war sehr gut! — Dr. Laufs [CDU/ CSU]: Das wird ein zweifelhaftes Vergnügen werden! — Pfeffermann [CDU/CSU]: Jedenfalls keine Steigerung!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1201402800
Bitte sehr, Herr Abgeordneter; ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie noch einmal beginnen würden.

Karsten D. Voigt (SPD):
Rede ID: ID1201402900
Herr Bundeskanzler, zum innenpolitischen Teil Ihrer Ausführungen möchte ich zwei Bemerkungen machen.
Die erste betrifft das Thema Vermögensteuer. Dazu haben Sie der SPD Gespräche angeboten. Das wäre zu begrüßen. Aber es ist nur dann seriös und glaubwürdig, wenn gleichzeitig die Koalitionsvereinbarung in diesem Punkte geändert wird.

(Beifall bei der SPD)

Denn dort heißt es: In einer ersten Stufe werden die Gewerbekapitalsteuer und die Vermögensteuer abgeschafft. Die einzelnen Entlastungsmaßnahmen werden in Stufen zum frühestmöglichen Zeitpunkt in Kraft treten.

(Duve [SPD]: Hört! Hört!)

Wenn die Koalitionsvereinbarung so stehen bleibt, kann es sich nicht um ein seriöses Gespräch handeln.

(Beifall bei der SPD — Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Sie verwechseln Gespräch mit Manipulation! — Dr. Vogel [SPD]: Und Sie Verkündigung mit Gespräch!)

Denn für uns sind eine Senkung und die Abschaffung der Vermögensteuer völlig unakzeptabel. Die Vermögensteuer wird nur von den 700 000 reichsten Menschen in unserem Staat gezahlt.

(Schäfer [Mainz] [FDP]: Sie sollen dabei sein, Herr Voigt!)

Von den 41 reichsten Personen hätte jede im Durchschnitt ungefähr 3 Millionen DM Entlastung zu erwarten.

(Dr. Vogel [SPD]: Das ist der Kern! — Koschnick [SPD]: Gloria braucht dieses Geld!)

Das ist nicht nur für die Kommunen schlimm. Es ist schlicht und ergreifend eine Verhöhnung der Menschen, die in den fünf neuen Bundesländern heute um ihr Überleben und ihre nackte Existenz kämpfen.

(Beifall bei der SPD)

Damit komme ich zu meiner zweiten Bemerkung. Herr Bundeskanzler, man merkt Ihrer Rede an, daß Sie seit den Bundestagswahlen nicht mehr in den
fünf neuen Bundesländern waren. Sie kennen die Stimmung nicht, die heute dort herrscht.

(Dr. Rose [CDU/CSU]: Sie auch nicht! — Dr. Dregger [CDU/CSU]: Das ist doch kein Stimmungsbericht!)

— Ich bin mindestens einmal die Woche dort.

(Dr. Rose [CDU/CSU]: Deshalb wird auch nichts besser!)

Ich sage Ihnen: Die Menschen dort sind tief enttäuscht und verbittert.

(Dr. Vogel [SPD]: Leider wahr!)

Das ist nicht nur für die CDU schlimm — das könnte ich noch mit Fassung ertragen — , sondern sie machen die Erfahrung, daß beim erstenmal, nachdem sie ihre Stimme zu einem gesamtdeutschen Bundestag abgegeben haben, die Wahlversprechen, die vorher gemacht worden sind, nicht eingehalten werden. Das ist eine tiefe Erschütterung des Vertrauens in die demokratische Politik überhaupt. Das muß uns alle besorgt machen. Das können wir nicht hinnehmen.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Nun zum außenpolitischen Teil. Wir halten an unserem Angebot zur konstruktiven Zusammenarbeit in den Grundfragen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik fest. Wir haben uns nach diesem Angebot verhalten. Da wir die deutsche Einheit wollten, haben wir im vergangenen Jahr all den Verträgen zugestimmt, die die deutsche Einheit ermöglicht haben

(Austermann [CDU/CSU]: Gegen den Rat aus Saarbrücken!)

und die Sie international eingebettet haben.
Aber ich füge hinzu: Die SPD ist keine Verfügungsmasse, die der Bundesregierung bei Bedarf zur Verschleierung außenpolitischer oder auch innenpolitischen Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen zur Verfügung steht.

(Beifall bei der SPD)

Unser Partei- und Fraktionsvorsitzender Jochen Vogel hat Bundesaußenminister Genscher schon gegen die Kritik in Schutz genommen, die aus der CSU gegen ihn gerichtet war. Dem schließe ich mich an. Aber die außenpolitischen Fehlentscheidungen und Fehleinschätzungen dieser Bundesregierung müssen hier zur Sprache gebracht werden und dürfen nicht deshalb verschleiert werden, weil solche Fehleinschätzungen zum Teil auch aus der CDU oder im Ausland kritisiert werden.

(Zustimmung bei der SPD — Dr. Laufs [CDU/ CSU]: Und das muß jemand von der SPD sagen! Unglaublich!)

Meiner Meinung nach hat die Bundesregierung Kohl — das betrifft den Bundeskanzler und den Bundesaußenminister — in den letzten Wochen und Monaten dem Ansehen Deutschlands schweren Schaden zugefügt.

(Matthäus-Maier [SPD]: Sehr richtig!)

Das Konzept der Bundesregierung in der Außenpolitik — daran hat der Diskussionsbeitrag vom Bundes-



Karsten D. Voigt (Frankfurt)

kanzler überhaupt nichts geändert — ist immer noch konturenlos.

(Matthäus-Maier [SPD]: Sehr richtig!)

Es ist unklar und im besten Fall widersprüchlich. Durch die Neigung dieser Bundesregierung zum außenpolitischen Provinzialismus, verbunden mit einem gleichzeitigen Hang zur außenpolitischen Selbstüberschätzung droht jetzt weiterer Schaden zu entstehen.
Provinziell verhielt sich die deutsche Außenpolitik, als sie im vergangenen Jahr viel zuwenig und viel zu spät für eine friedliche Lösung im Golf tätig wurde.

(Dr. Hauchler [SPD]: Richtig!)

Ich sage aus eigener jahrelanger Beobachtung: Wenn beim Bundesaußenminister kein Rauch ist, ist auch kein Feuer.

(Dr. Altherr [CDU/CSU]: Sie brauchen eine neue Brille!)

Ich sage auch: Es war eine pure Selbstüberschätzung, als Bundesaußenminister Genscher am Tag nach dem Ende des Golfkrieges nach Washington reiste und hoffte, für deutsche Friedenspläne zu diesem Zeitpunkt mehr als ein höfliches Interesse ernten zu können. Die Amerikaner sind in solchen Fällen sehr höflich.

(Pfeffermann [CDU/CSU]: Das haben Sie wohl schon öfters erlebt!)

Aber der reale Einfluß der Deutschen auf eine Friedensregelung am Golf tendiert auf Grund des Verhaltens der Bundesregierung, die vorher nicht klar Position bezogen hat, gegen Null. Es wäre besser gewesen, sie hätte gegenüber den Amerikanern klar eine andere Position bezogen, als bei den Amerikanern den Eindruck zu erwecken, sie sei der Meinung der Amerikaner; und es wäre besser gewesen, sie hätte bei den Franzosen nicht den Eindruck hervorgerufen, sie sei der Meinung der Franzosen, und hätte vor den Bundestagswahlen nicht den Eindruck suggeriert, sie sympathisiere mit der deutschen Friedensbewegung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Alles das gleichzeitig geht nicht. Das wird dort beobachtet. Das führt zu einem Ansehensverlust Deutschlands insgesamt, aber natürlich auch des Bundeskanzlers und des Bundesaußenministers.

(Matthäus-Maier [SPD]: Und es kommt uns teuer!)

Völlig erheblich und unrealistisch war natürlich die Forderung nach einem deutschen Sitz im UNO-Sicherheitsrat. Daß man auf eine von Portugalow, einem bekannten sowjetischen Kommentator und Beobachter der deutschen Szene, stammende Äußerung hereinfällt und dann gleich darauf springt und daß das einem erfahrenen Außenpolitiker passieren kann, ist für mich immer wieder erstaunlich. Das Echo ist ja nicht nur im Osten, sondern auch im Westen bemerkenswert.

(Dr. Hauchler [SPD]: Dilettantisch ist das! — Bundeskanzler Dr. Kohl: Wer hat denn das gefordert?)

— Es sind mehrere Leute aus den Koalitionsfraktionen, die diese Forderung unterstützt haben; damals bereits.

(Dr. Vogel [SPD]: Sehr richtig!)

Die Bundesregierung hat wie andere westliche Regierungen jahrelang den aggressiven Charakter des Regimes von Saddam Hussein unterschätzt und verharmlost.

(Bindig [SPD]: Sie tut es immer noch!)

Ich warne die Bundesregierung davor, diesen Fehler jetzt gegenüber anderen Staaten zu wiederholen. Auch wenn es kurzfristig opportun erscheint, sollte man nicht übersehen, daß das Regime von Assad in Syrien zwar nicht mit dem im Irak von Saddam Hussein identisch ist, aber in Syrien eine Diktatur herrscht.

(Duve [SPD]: Richtig! — Toetemeyer [SPD]: Genauso menschenfeindlich!)

Auch dieses Regime besitzt Scud-Raketen, die Israel bedrohen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß es auch über chemische Waffen verfügt. Syrien verfolgt in der Region regionale Großmachtinteressen. Das, was es im Libanon vollzieht, ist alles andere als die Achtung des Selbstbestimmungsrechtes eines anderen Volkes.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Die Verurteilung der Verfolgung und Ermordung von Kurden im Irak durch die Bundesregierung erfolgte viel zu spät. Wir Sozialdemokraten haben die Giftgaseinsätze gegen irakische Kurden bereits verurteilt, als diese Bundesregierung noch weitgehend tatenlos hinnahm, daß deutsche Firmen dem Irak bei der Produktion von Giftgas behilflich waren.
Warum aber schweigt die Bundesregierung jetzt, wenn es um die Unterdrückung der Kurden bei unserem Verbündeten, der Türkei, geht? Man darf in Fragen der Menschenrechte — haben Sie, Herr Bundesaußenminister, früher immer wieder gesagt — nicht mit doppeltem Maßstab messen. Was gegenüber dem Irak gilt, muß auch gegenüber dem Verbündeten Türkei gesagt werden.

(Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/ GRÜNE und bei der PDS/Linke Liste)

Sonst wird das als Doppelmoral wahrgenommen.
Die Bundesregierung prangert heute, wie auch wir, die Menschenrechtsverletzungen im Irak öffentlich an. Aber wo bleibt die öffentliche Verurteilung der immer noch andauernden Menschenrechtsverletzungen im Iran, wenn der iranische Außenminister Bonn besucht? Bereits vor Jahren hat der Bundesaußenminister die Vereinbarung eines Dialogs über Menschenrechtsfragen mit dem Iran als großen außenpolitischen Erfolg gepriesen. Wo bleibt dieser Dialog, und wo bleiben die praktischen Ergebnisse dieses Dialoges?

(Bindig [SPD]: Herr Velayati!)

Die Bundesregierung gesteht heute selber ein, daß die Gesetzgebung und Kontrolle beim Export von rüstungsrelevanten Gütern lückenhaft war. Aber warum legt sie jetzt ein Gesetz vor, das immer noch



Karsten D. Voigt (Frankfurt)

Schlupflöcher offenläßt? Warum ist diese Bundesregierung auch nach den bitteren Erfahrungen im Golfkrieg immer noch bereit, Rüstungsexporte in den Nahen Osten zu befürworten, z. B. nach Ägypten, aber auch an andere arabische Staaten?

(Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Israel?)

— Ich persönlich sage Ihnen ganz offen, ich bin auch gegen weitere Rüstungslieferungen an Israel. Deutsche Waffen haben im Nahen und Mittleren Osten nichts zu suchen.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ Linke Liste)

Es gibt im Nahen und Mittleren Osten Mangel an vielem. An Waffen gibt es keinen Mangel; da gibt es nur zuviel Waffen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

Deshalb kann man gegenüber allen dortigen Staaten nur auf Abrüstung- und Rüstungskontrolle drängen.
Wir Sozialdemokraten haben in jeder Phase des Golfkonflikts für einen Vorrang der politischen vor der militärischen Lösung plädiert, erst gegen die Rüstungsexporte — heute vielfach vergessen —, dann für die Fortsetzung der Sanktionen und schließlich gegen die militärische Eskalation. Aber auch heute, nach dem militärischen Sieg der Allianz, warnen wir vor dem gefährlichen Irrglauben, die Androhung oder der Einsatz militärischer Gewalt könnten die Probleme des Nahen und Mittleren Ostens lösen.

(Toetemeyer [SPD]: Sehr wahr! — Dr. Hornhues [CDU/CSU]: Das hat ja keiner behauptet!)

Über der erfolgreichen militärischen Beendigung des Golfkriegs dürfen wir nicht die Kriegsfolgen, das heißt vor allem die Leiden der Menschen und die Zerstörung der Umwelt, aus dem Blick verlieren. Versöhnung braucht Zeit. Das haben wir während der Entspannungspolitik in Europa gelernt. Die Logik des Friedens hat eine andere Zeitdimension als die Logik des Krieges.
Aber das ändert nichts daran, daß auch der Nahe und der Mittlere Osten jetzt endlich eine Politik der Versöhnung und der Entspannung zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern, zwischen Israelis und Palästinensern und auch für das kurdische Volk brauchen.
Wir werden uns auch dagegen wehren, wenn jetzt falsche Lehren aus der militärisch erfolgreichen Befreiung Kuwaits gezogen werden. Oder plädiert etwa irgend jemand in diesem Saal ernsthafterweise dafür, daß die völkerrechtswidrige Annexion der spanischen Sahara durch Marokko, die Besetzung eines Teils Zyperns durch die Türkei, das Vorgehen Syriens im Libanon, die Besetzung arabischer Gebiete durch Israel ebenfalls durch massiven militärischen Einsatz rückgängig gemacht werden sollen, obwohl zu diesen Themen Resolutionen der Vereinten Nationen und auch des UNO-Sicherheitsrates vorliegen? Das ist doch die Frage nach dem Verhalten nach Beendigung des Krieges.
Ich bin gar nicht sicher, ob es letzten Endes eine Alternative zum Einsatz militärischer Gewalt gab. Ich war skeptisch, weil man den Sanktionen nicht mehr Zeit eingeräumt hat. Ich bin nicht endgültig sicher, ob man gegen Saddam Hussein zu militärischer Gewalt greifen mußte. Wer kann das genau wissen? Aber jetzt, nach dem Sieg, plötzlich auf die Priorität militärischer Gewalt zu setzen und das als die große Errungenschaft der Vereinten Nationen darzustellen, halte ich für einen völligen Irrweg und für einen falschen Lernprozeß.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Im übrigen würde ich den USA vor allem empfehlen, jetzt die Benzinpreise zu erhöhen. Das wäre ein richtiges Lernergebnis aus dem Golfkrieg. Das würde übrigens nicht nur dazu beitragen, daß Energie gespart wird, sondern auch dazu, daß sich das Haushaltsdefizit verringert. Das würde vielen Ländern in Europa, aber auch in der Dritten Welt sehr helfen.
Von der Bundesregierung fordern wir als Lehre aus dem Golfkrieg vor allem mehr politische Kreativität, mehr Engagement und mehr finanzielle Mittel für eine kriegsvorbeugende und kriegsverhindernde Außen- und Sicherheitspolitik.

(Bindig [SPD]: Humanitäre Zwecke!)

Mit den Milliarden — man setze sie einmal in Relation zu dem, was bisher für Entwicklungshilfe ausgegeben worden ist — , mit denen die Bundesregierung jetzt die Führung eines Krieges unterstützt hat, könnte sie im Nahen und Mittleren Osten, in Afrika, aber auch in Europa, insbesondere in Jugoslawien und in Albanien, die Ursachen von Gewalt bekämpfen und ihre Eskalation zu Bürgerkriegen oder zwischenstaatlichen Kriegen verhindern.
Wiederum: Die Fixierung auf militärische Mittel — ich bin kein Pazifist; ich glaube, wir können auf eine Bundeswehr nicht verzichten; ich bekenne mich zur Wehrpflicht — , die sich nach dem Golfkrieg darin ausdrückte, daß man so tat, als sei es das A und O der deutschen Außenpolitik, eine größere Verfügung über militärische Mittel außerhalb des NATO-Gebietes zu haben, verkennt die wirklichen Probleme dieser Welt und die Instrumente, die für deutsche Politik angemessen und prioritär sind.

(Beifall bei der SPD)

Ich sage das als jemand, der schon 1988 zusammen mit Norbert Gansel und einigen anderen für die deutsche Beteiligung an Blauhelm-Missionen der UNO geworben hat.

(Beifall der Abg. Matthäus-Maier [SPD])

Übrigens, damals war Bundesaußenminister Genscher noch dagegen.

(Bundesaußenminister Genscher: Inzwischen sind wir vereinigt!)

— Inzwischen sind wir vereinigt. —
Die CSU behauptet, diese Art von Wandlungsfähigkeit sei Ihr Konzept. Ich würde so etwas nicht behaup-



Karsten D. Voigt (Frankfurt)

ten, weil ich mehr Vertrauen als die CSU zu Ihrer außenpolitischen Kontinuität und Substanz habe.

(Dr. Rose [CDU/CSU]: Die CSU behauptet momentan überhaupt nichts!)

Aber ich warne vor dem gefährlichen Irrglauben, es sei jetzt nicht nur die erste Priorität, sondern es beweise sich zudem die internationale Handlungsfähigkeit des vereinigten Deutschlands darin, sich jetzt schnell a) im Rahmen der UNO an Blauhelm-Aktionen oder an UNO-Truppenkontingenten, die es ja noch nie gegeben hat, zu beteiligen oder b) sich außerhalb der NATO an solchen Aktionen wie der im Golf zu beteiligen oder c) zu allererst darüber zu philosophieren, ob es Interventionsstreitkräfte für außereuropäische Aktionen der WEU geben soll.
Wir lassen mit uns über die Beteiligung der Bundeswehr im Rahmen und unter Kontrolle der Vereinten Nationen reden.
Das schließt die Bereitschaft zur Diskussion über das Kapitel VII ein, nicht nur über Blauhelme. Darüber gibt es bei uns unterschiedliche Auffassungen.
Aber ich sage Ihnen ganz offen: Je mehr Sie das als ersten Schritt zu Aktionen militärischer Art im Rahmen der WEU außerhalb Europas definieren und je mehr Sie deutschen militärischen Aktivitäten weltweit das Wort reden, desto geringer wird bei uns die Bereitschaft sein, auch über anderes im Rahmen der Vereinten Nationen zu reden.

(Beifall bei der SPD)

Das ist nicht nur bei uns so. Wenn Sie über die WEU und über einen europäischen verteidigungspolitischen Pfeiler — den ich befürworte — reden, dann sage ich Ihnen: Nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Staaten Westeuropas wird man in der Diskussion über einen solchen europäischen verteidigungspolitischen Pfeiler um die WEU keine Mehrheit und keinen Konsens finden, wenn man ihn mit der gleichzeitigen Forderung nach Einsatztruppen der WEU außerhalb Europas belastet.
Aus diesem Grund und nicht nur aus verfassungsrechtlichen Gründen widerspreche ich dem außenpolitischen Sprecher der CDU/CSU, Herrn Lamers. Ich bedauere, daß nicht auch Bundeskanzler Kohl ihm ausdrücklich widersprochen hat. Insofern bleibt da nach dieser Rede ein Fragezeichen in bezug auf die Haltung des Bundeskanzlers. Er hat darin Andeutungen gemacht und sich klar zu UNO-Aktivitäten bekannt, aber bei der WEU-Frage war er eher ausweichend und vieldeutig.

(Duve [SPD]: Er ist auch nicht im Saal! — Gegenrufe: Doch! — Dr. Diederich [Berlin] [SPD]: Freimut, erst gucken!)

Im übrigen noch etwas zu der verfassungsrechtlichen Diskussion. Es gibt jetzt große Teile der CDU/ CSU, die behaupten, ein Einsatz der Bundeswehr außerhalb des Geltungsbereichs der NATO sei auch ohne Verfassungsänderung rechtlich möglich.
Der Bundeskanzler hat sich zu dieser Frage nicht geäußert, weder in der einen noch in der anderen Richtung. Aber ich erinnere ihn daran, daß es vor den Bundestagswahlen einen verfassungspolitischen
Konsens zwischen SPD, FDP und CDU/CSU gab, daß ohne eine Verfassungsänderung ein Einsatz der Bundeswehr außerhalb des Geltungsbereichs der NATO nicht in Frage kommt.
Wenn sich jetzt Teile der CDU/CSU — wie gesagt, der Bundeskanzler äußerte sich in dieser Frage unklar — von diesem verfassungspolitischen Konsens entfernen, dann ist das der Bruch eines weiteren Wahlversprechens und eine weitere Wahllüge, ein Betrug am Wähler.

(Beifall bei der SPD — Dr. Rose [CDU/CSU]: Ziehen Sie doch nicht alles an den Haaren herbei! — Dr. Hornhues [CDU/CSU]: Das ist doch Unsinn!)

— Das wäre eine Wählertäuschung. Wenn man vor den Wahlen sagt, man mache das nur mit einer Verfassungsänderung, und nach den Wahlen von diesem Konsens abrückt und sagt, man könne es auch ohne Verfassungsänderung machen,

(Dr. Rose [CDU/CSU]: Was will man machen, wenn ihr verrückt spielt?)

dann ist das im politischen Sinne als eine Wählertäuschung und als nichts anderes zu bewerten. Nicht mehr und nicht weniger ist dazu zu sagen.

(Beifall bei der SPD — Dr. Rose [CDU/CSU]: Jetzt verstehe ich, daß Gansel gegen Sie gewonnen hat!)

— In den meisten außen- und sicherheitspolitischen Fragen stimmen wir übrigens überein.

(Dr. Hornhues [CDU/CSU]: Wo habt ihr euch denn gestritten?)

Im übrigen: Das Drängen der CDU/CSU auf eine deutsche Beteiligung an Interventionsstreitkräf ten steht im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Passivität angesichts der sich dramatisch zuspitzenden Lage in Jugoslawien und in anderen Teilen Südost- und Osteuropas.

(Austermann [CDU/CSU]: Der will da einmarschieren!)

Einerseits gibt diese Bundesregierung zum Schaden für die gutnachbarlichen Beziehungen zwischen Deutschen und Polen in Schlesien den Vertriebenenverbänden zuviel Geld, andererseits zögert sie mit öffentlicher Kritik und finanziellem Engagement, wenn Rechte der Albaner in Kosovo, der Türken in Bulgarien, der Ungarn in Rumänien oder der baltischen Völker in der Sowjetunion bedroht werden.

(Austermann [CDU/CSU]: Da gibt es noch einen kleinen Unterschied!)

— Was gibt es dort?

(Austermann [CDU/CSU]: Zwischen Schlesiern und Türken gibt es noch einen kleinen Unterschied!)

— Ja, für Sie gibt es einen kleinen Unterschied. Und das unterscheidet uns voneinander. Als Deutscher setzte ich mich nicht nur für die Rechte deutscher Minderheiten ein, sondern auch für die von Minderheiten überhaupt.

(Beifall bei der SPD)




Karsten D. Voigt (Frankfurt)

Ich sage Ihnen: Diese deutschnationale Fixierung allein auf die deutschen Minderheiten ist europafeindlich und wird auch von unseren Nachbarn so wahrgenommen.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste — Austermann [CDU/ CSU]: Das ist Patriotismus und nicht deutschnational!)

— Ich bin Patriot, aber nicht Nationalist. Das unterscheidet uns.

(Duve [SPD]: Sehr interessant war das!)

Der Widerspruch zwischen politischer Rhetorik und politischer Praxis ist das einzig erkennbare konzeptionelle Band zwischen der Außen- und Innenpolitik dieser Bundesregierung. Ansonsten bleibt nur die Feststellung: Ebensowenig, wie sich diese Bundesregierung innenpolitisch frühzeitig und realistisch auf die finanziellen und wirtschaftlichen Folgen der deutschen Einigung eingestellt hat, hat sie ein brauchbares Konzept für die Außen- und Sicherheitspolitik eines vereinigten Deutschlands.
Ich beobachte mit einem gewissen Amüsement, daß derselbe Bundesaußenminister, der in den vergangenen Jahren die westlichen Alliierten immer wieder bedrängte, ein außenpolitisches Gesamtkonzept zu entwickeln, jetzt, wenn er nach Washington kommt, immer ganz pragmatisch klein-klein macht und deutsche Außenpolitik immer Schritt für Schritt, einmal einen Schritt zurück, einmal einen Schritt zur Seite, aber auf jeden Fall nicht einen Schritt im Rahmen eines Gesamtkonzepts betreibt.

(Duve [SPD]: Choreographie!)

Ich sage: Solange dieser Bundesaußenminister nicht ein Gesamtkonzept entwickelt hat, kann man es schlecht kritisieren.

(Widerspruch bei der FDP — Dr. Hauchler [SPD]: Das will er ja! Das ist Absicht!)

Es ist nämlich nichts da, was man kritisieren kann. Deshalb möchte ich jetzt nicht das Konzept kritisieren, das der Bundesaußenminister ja nicht hat, sondern das darstellen, was die SPD hat.

(Beifall bei der SPD)

Wir sind — das ist das A und O — nach unserer politischen Konzeption für das vereinigte Deutschland eine proeuropäische Partei. Deshalb wollen wir — da stimmen wir mit dem Bundeskanzler überein — die politische Union Europas sowie die Wirtschafts- und Währungsunion und werden den Bundeskanzler, wenn er das zu langsam angeht, eher bedrängen, als daß wir ihn irgendwie behindern. Wir sind eine pro-europäische Partei, denn wir wollen die Vereinigten Staaten von Europa bereits seit den 20er Jahren.
Wir wollen eine Vertiefung, aber auch eine Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft. Alle EFTA-Staaten sind ökonomisch in der Lage, Mitglied der Europäischen Gemeinschaft zu werden. Deshalb sage ich: Wenn sie den Willen dazu haben, müssen wir ihnen den Weg dazu öffnen. Ich bin ganz entschieden dagegen, daß wir die Diskussionen über einen verteidigungspolitischen Pfeiler in Europa — den ich befürworte — instrumentalisieren, um neue Barrieren gegen die Öffnung der EG für blockfreie und neutrale Staaten nördlich und östlich von Deutschland aufzubauen.

(Beifall bei der SPD)

Die wahre Probe für unsere Solidarität und für unsere Handlungsfähigkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik wird sich aber erst dann stellen, wenn es um die finanzielle und politische Solidarität der Deutschen, natürlich auch der anderen Westeuropäer, mit Ost- und Südosteuropa geht. Wenn dort nicht bald geholfen wird, wenn dort nicht mehr Solidarität gezeigt wird, dann werden die jungen Demokratien in Osteuropa in eine neue Krise geraten, und dann drohen neue autoritäre Regime. Das, was wir heute an Milliarden für die Stützung der Demokratien und des ökonomischen Wandels in diesen Demokratien zuwenig geben, werden wir später für neue verteidigungspolitische Ausgaben vielfach zu bezahlen haben.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb ist jede Milliarde mehr zur Stützung der Demokratien und des ökonomischen Wandels eine gesparte Milliarde für unsere Außen- und Sicherheitspolitik. Übrigens werden wir dann auch weniger Interventionsstreitkräfte brauchen.
Zuletzt etwas zu dem aufbrechenden Nationalismus in Osteuropa, dem ich zum Teil Verständnis entgegenbringe, zum Teil aber auch widerspreche. Es ist überhaupt keine Frage, daß der Internationalismus Stalins auf Gewalt beruhte. Ein solcher Internationalismus ist nicht akzeptabel, und es ist gut, daß er aufbricht. Insofern, als sich das Aufbrechen dieses erzwungenen Internationalismus in Osteuropa vollzieht, sehe ich in den nationalen Bewegungen auch Elemente von demokratischen Bewegungen. Ich wage es nicht, das von hier, von Westeuropa aus kritisch zu beurteilen.
Ich sehe aber, daß sich in der Gegenreaktion gegen den erzwungenen Internationalismus Stalins und der stalinistischen Regime auch neuer nationaler Haß und neue nationalistische Emotionen entfalten. Dies können wir nur ändern und positiv beeinflußen, wenn wir den osteuropäischen Staaten Chancen geben, an den Erfahrungen der westeuropäischen multinationalen Zusammenarbeit teilzunehmen. Deshalb müssen wir für eine Ost-Öffnung der westeuropäischen Institutionen plädieren. Ein Westen, der sich heute gegenüber Osteuropa abschottet, nachdem er jahrelang die Öffnung zwischen Ost und West gefordert hat, spaltet Europa und ist friedensfeindlich.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Deshalb ist die Bereitschaft zur Öffnung nach Osten nicht Ausdruck einer klassischen Sehnsucht der Deutschen nach Osten, sondern unsere Einsicht darin, daß die Demokratie in Europa insgesamt nur gewinnen kann, wenn die Staaten Osteuropas daran teilhaben können. Ich bin etwas betrübt, daß ein Teil der südeuropäischen Staaten wie Spanien und Portugal, die genau diese Erfahrungen früher gemacht haben, heute in bezug auf die Öffnung Europas nach Osten so skeptisch sind.



Karsten D. Voigt (Frankfurt)

Europa wird auch künftig naturgemäß weiterhin mit dem atlantischen Partner verbunden bleiben müssen; ich bin dafür, die Sozialdemokraten sind dafür. Insofern lagen die Angriffe von Bundeskanzler Kohl völlig neben der Sache. Aber der Kernpunkt unserer Politik ist natürlich die Formierung eines vereinigten Europa, die Gestaltung eines vereinigten Europa.
Europa wird noch für lange Zeit von einem Pluralismus der Institutionen — KSZE, Europarat, EG, NATO und WEU — geprägt sein. Aber der Kern des europäischen Einigungsprozesses ist die Europäische Gemeinschaft. Insofern wird sich die deutsche Außen-und Sicherheitspolitik in den nächsten Jahren in dem Ausbau der Europäischen Gemeinschaft zum Kern der Vereinigten Staaten von Europa bewähren müssen. Die Westeuropäische Union und ihr Ausbau können nur dann sinnvoll sein, wenn sie, die WEU, ein Pfeiler der Friedenspolitik wird und den Ausbau der Europäischen Gemeinschaft hin zu den Vereinigten Staaten von Europa nicht behindert.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1201403000
Das Wort hat der Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz, Herr Dr. Wagner.

Hans Georg Wagner (SPD):
Rede ID: ID1201403100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundeshaushalt 1991 ist geprägt von großen zusätzlichen Ausgaben und Aufgaben, die sowohl aus dem Inland wie auch aus dem Ausland auf uns alle zukommen. Es sind Aufgaben von gewaltiger Größenordnung und auch solche Ausgaben. Sie entsprechen in ihrer Dimension der Größe der Herausforderungen.
Die Bundesrepublik Deutschland ist diesen Herausforderungen gewachsen. Die Wirtschaft wächst. Sie wächst seit acht Jahren beständig. Ihr Wachstum hat sich im vergangenen Jahr beschleunigt, nicht zuletzt auch durch zusätzliche Effekte, die von der deutschen Einheit her bedingt waren. Die Bundesfinanzen und auch die Länder- und Gemeindefinanzen sind in einem Prozeß, der sechs, sieben Jahre gedauert hat und kontinuierlich betrieben wurde, konsolidiert worden. Die Bürger sind durch die Steuerreform in mehreren Stufen entlastet worden. Das Steueraufkommen steigt kräftig. Das ist also eine gute Voraussetzung, um sich bedeutende zusätzliche Aufgaben aufzuladen.
Ich muß Sie fragen, meine Damen und Herren: Wie wäre es, wenn wir dieser Herausforderung gegenüberstünden, unsere Wirtschaft und unsere öffentlichen Finanzen sich aber in einem Zustand befänden, wie er etwa 1981/82 bestanden hat? Ich wage mir nicht vorzustellen, wie wir dann mit dieser zusätzlichen Herausforderung fertig geworden wären.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Auch bei der bestehenden Lage handelt es sich allerdings um eine gewaltige Anspannung aller Kräfte, und wir haben nie etwas anderes gesagt. Alle Beteiligten — Regierung, Parlament und Parteien — haben im Sommer 1990 selbstverständlich erwartet, daß die
deutsche Einheit erhebliche materielle Anstrengungen erfordern würde. Wir wußten das, und wir haben es auch gesagt. Wer heute — mit Bezug auf die Bundesregierung — behauptet, sie habe vom Bezahlen aus der Portokasse oder ähnlichem bzw. von einer Einheit zum Nulltarif gesprochen, sagt die Unwahrheit.

(Gerster [Worms] [SPD]: Für wen sprechen Sie denn, Herr Ministerpräsident?)

— Ich spreche für mich, für meine politischen Freunde und für mein Land. Im übrigen mache ich hier — zu Ihrer Information — von meinem Rederecht Gebrauch.

(Zustimmung bei der CDU/CSU — Matthäus-Maier [SPD]: Aber nicht für die Bürger in Rheinland-Pfalz, die getäuscht wurden!)

— Ich spreche selbstverständlich für die Bürgerinnen und Bürger in Rheinland-Pfalz, und dies sicher, Frau Kollegin, mit mehr Recht, als Sie das aus vielen Gründen je für sich in Anspruch nehmen könnten.

(Beifall bei der CDU/CSU — Matthäus-Maier [SPD]: Aber die fühlen sich getäuscht!)

Wir, ich und viele andere, haben gesagt, daß die deutsche Einheit mit äußerster Anspannung aller Kräfte ohne Steuererhöhungen zu finanzieren sein würde. Das ist gesagt worden, und das ist richtig und bleibt richtig.

(Matthäus-Maier [SPD]: Was?)

Andere in der Öffentlichkeit haben diese Aussagen umgebogen.

(Roth [SPD]: Ich habe den Eindruck, der will verlieren!)

Es ist nämlich von vielen, auch von mir, vor der Wahl klar gesagt worden, daß diese Aussage für Steuererhöhungen im Zusammenhang mit der deutschen Einheit gilt, aber nicht für andere, unvorhersehbare zusätzliche Anforderungen, etwa für solche im Zusammenhang mit dem Golfkrieg. Das ist einfach auseinanderzuhalten, und das sollte auch Ihnen möglich sein, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU — Matthäus-Maier [SPD]: Nur glaubt's keiner!)

— Ich komme noch darauf mit ein paar Zahlen. Das ist keine Frage des Glaubens, sondern eine Frage der Tatsachen.
Ich möchte an die Adresse des Herrn Kollegen Vogel, der jetzt nicht da ist, sagen, daß selbstverständlich auch der Kollege Wilhelm nie etwas anderes gesagt hat. Ihm wäre im Traum nicht eingefallen, das zu erklären, was Herr Vogel, wohl vom Wunschdenken getragen, hier in bezug auf unsere Wahlaussichten in Rheinland-Pfalz gesagt hat. Das lassen Sie einmal die Sorge der Wählerinnen und Wähler im Lande Rheinland-Pfalz sein!

(Beifall bei der CDU/CSU — Zustimmung bei Abgeordneten der SPD)




Ministerpräsident Dr. Carl-Ludwig Wagner (Rheinland-Pfalz)

Ich rate dem Kollegen Vogel und allen seinen Parteifreundinnen und Parteifreunden,

(Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Wo ist der denn?)

sich nicht zu sehr und zu früh auf die vermeintliche Chance eines Sieges zu versteifen. Die Aussichten sind für Sie im Endergebnis nicht gut.

(Zuruf von der SPD: Sie wissen das schon?) Die Enttäuschung wird dann um so größer sein.


(Matthäus-Maier [SPD]: Wenn Sie so weiterreden, steigen unsere Chancen!)

— Frau Matthäus-Maier, lassen Sie es. Sie bringen es auf diese Weise doch nicht fertig, mich etwa aus der Ruhe oder aus dem Konzept zu bringen.
Es hat keine Täuschung stattgefunden, sondern die Aussage bleibt richtig. Richtig ist, daß die Ausgaben für die Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse in ganz Deutschland noch größer sind, als wir es angenommen haben. Gleichwohl wären sie ohne Steuererhöhungen zu bewältigen, wenn nicht die Ausgaben für Osteuropa und die Ausgaben für die Beteiligung an den Kosten des Golfkrieges dazukämen. Das wird durch das Volumen der geplanten Steuererhöhungen eindeutig belegt. Es reicht in diesem Jahr nicht einmal aus, um die Belastungen der Bundesrepublik Deutschland aus dem Konflikt am Golf und aus den Verpflichtungen unseres Landes gegenüber den osteuropäischen Staaten zu decken.
In Zusammenhang mit dem Golfkrieg hat der Bund für die Jahre 1990 und 1991 bislang etwa 16 Milliarden DM aufzubringen. Das allein entspricht schon annähernd dem Mehraufkommen aus den vorgesehenen Steueränderungen für 1991. Für Osteuropa kommen mehrere Milliarden DM hinzu. Zusammen ist der Betrag also höher als das, was sich in diesem Jahre, im Jahre 1991, an Steuererhöhungen ergeben wird. Für die Folgejahre, 1992 und danach, ist die Entwicklung namentlich der Umfang unserer auswärtigen Verpflichtungen, insbesondere etwa gegenüber den osteuropäischen Staaten, selbstverständlich noch nicht so klar abzusehen. Ich rechne damit, daß auch diese Verpflichtungen in den Jahren nach 1991 erheblich sein werden.
Für 1991 ist jedenfalls klar: Nur das Zusammenkommen aller dieser Faktoren zwingt zu den Steuererhöhungen. Hieraus hat, wie ich nachgelesen habe, der Kollege Lafontaine in der gestrigen Debatte einen Vorwurf abgeleitet, den ich für abwegig halte. Er meinte, da die Bundesregierung sich zur Begründung der Steuererhöhungen auf den Golfkrieg berufe, wolle sie offenbar dafür Geld beschaffen, für die Menschen in den neuen Ländern aber nicht. Die Wahrheit ist, meine Damen und Herren, daß Bund und Länder für das Beitrittsgebiet gewaltige Beträge zur Verfügung stellen. An Bereitschaft dazu fehlt es also nicht. Nur, es besteht eben, wie ich gerade gesagt habe, die Möglichkeit, diese Hilfeleistung ohne Steuererhöhung zu erbringen. Dies ist an sich leicht auseinanderzuhalten, vor allen Dingen dann, wenn man sich um die Klarheit des Denkens bemüht, die dem vom Kollegen Lafontaine zitierten Voltaire nachgerühmt wird. Wenn man das tut, erkennt man, daß diese Aufgabe
ohne den zusätzlichen Belastungseffekt der anderen eindeutig finanzierbar war und auch weiter finanzierbar wäre.
Ich möchte erwähnen, daß die Länder einen beachtlichen Anteil — er ist geringer als der Anteil des Bundes, aber er ist beachtlich — für den Aufbau in der früheren DDR erbringen und daß sie das ohne Steuererhöhungen tun; denn die Steuererhöhungen, die geplant sind, bringen den Ländern ja keine zusätzlichen Einnahmen.
Die Bundesländer im Westen Deutschlands haben in der Tat erhebliche Verpflichtungen übernommen. Sie leisten partnerschaftliche Hilfe, besonders Verwaltungshilfe. Sie haben die Beteiligung der neuen Länder an der Umsatzsteuer aufgestockt; eine Operation, für die ich mich sehr eingesetzt habe, wofür ich im Vorfeld viele Vorwürfe kassieren mußte. Allein das bedeutet 4,7 Milliarden DM im Jahre 1991 und 24,4 Milliarden DM bis 1994.
Wichtig ist: Die Länder finanzieren einen Kapitalanteil am Fonds Deutsche Einheit in Höhe von 47,5 Milliarden DM. Das sind selbstverständlich Beträge, die von den Ländern verzinst und zurückgezahlt werden müssen. Sie bedeuten also praktisch Schulden, die auf den Länderhaushalten lasten. Ich sage das nicht, um darüber zu klagen, sondern um das zu klären. Selbstverständlich sind die Länder verpflichtet und auch bereit — sie sind sogar gerne bereit; das sage ich jedenfalls für Rheinland-Pfalz — , den erforderlichen Anteil für die deutsche Einheit zu erbringen.
Ich will aus der Sicht unseres Landes und auch aus meiner persönlichen Sicht ein paar Worte zur Struktur der Steuererhöhungen sagen. Es ist sehr zu begrüßen, daß der Solidaritätszuschlag auf ein Jahr — auf zwei Halbjahre — begrenzt ist. Im übrigen ist festzustellen, daß gerade diese steuerliche Belastung ausgesprochen gerecht ausgestaltet ist. Wer eine kleine Steuerlast trägt, zahlt auch einen geringen Zuschlag. Wer eine hohe Steuerlast trägt, zahlt einen hohen Zuschlag.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Alle Voraussetzungen für eine gerechte Verteilung nach dem Motto „den schwachen Schultern keine oder eine geringe Belastung, den starken Schultern eine große Belastung" sind bei dieser Solidaritätsabgabe erfüllt.
Was die Mineralölsteuererhöhung angeht, so habe ich als Ministerpräsident eines Flächenlandes vor allen Dingen zu beachten, daß sie für die Arbeitnehmer, die längere Wege zur Arbeitsstätte zu fahren haben, für die Pendler im ländlichen Raum, eine zusätzliche und zum Teil für sie gewichtige Belastung darstellt. Deswegen hat die Landesregierung von Anfang an begrüßt, daß von der Bundesregierung der Vorschlag unterbreitet wird, die Kilometerpauschale von gegenwärtig 50 Pfennig auf 65 Pfennig zu erhöhen. Nach Berechnungen, die wir angestellt haben, reicht diese Erhöhung in vielen Fällen, so etwa bei den Fahrern von Dieselfahrzeugen, aber auch in gewissen anderen Fällen, aus, um die zusätzlichen Kosten zu decken. Sie reicht aber längst nicht in allen Fällen aus. Deswegen halte ich hier eine zusätzliche Verbesserung für wün-



Ministerpräsident Dr. Carl-Ludwig Wagner (Rheinland-Pfalz)

schenswert und erforderlich. Rheinland-Pfalz schlägt
vor, diese Erhöhung nicht auf 65 Pfennig, sondern auf
70 Pfennig — 5 Pfennig mehr — vorzunehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das ist, glaube ich, eine relativ bescheidene Forderung. Damit würden die Kosten im Durchschnitt abgedeckt.
Ich möchte übrigens den Herrn Bundesfinanzminister auf ein Sonderproblem aufmerksam machen, welches einen erheblichen Teil unseres Landes betrifft, und zwar auf die Situation des Tankstellengewerbes im Grenzbereich zum Großherzogtum Luxemburg. Das Großherzogtum Luxemburg hat eine sehr, sehr niedrige Mineralölsteuer. Schon jetzt ist die Differenz zwischen den Treibstoffpreisen auf unserer Seite und denen auf der luxemburgischen Seite sehr beachtlich. Sie liegt bei etwa 25 Pfennig pro Liter und wird sich nun etwa verdoppeln. Das bedeutet für viele unserer mittelständischen Betriebe in einem weiten Grenzstreifen ganz erhebliche Existenzprobleme, für viele Existenzbedrohung oder sogar Existenzvernichtung.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

Wir können dem nicht tatenlos zusehen. Ich habe dies dem Bundesfinanzminister geschrieben und habe mich übrigens auch an den luxemburgischen Ministerpräsidenten Santer gewandt. Wir müssen eine gemeinsame, am europäischen Gesamtinteresse — das heißt im Prinzip: an dem Weg zu einer europäischen Steuerharmonisierung — orientierte Lösung dafür finden.
Im übrigen wird sich im kommenden Jahr zeigen, inwieweit der Ertrag der Mineralölsteuererhöhung für die Finanzierung anhaltender zusätzlicher Ausgaben auf Dauer benötigt wird. Ich bin jedenfalls der Auffassung, daß dieser Ertrag auch für die Senkung anderer Steuern eingeplant und vorgesehen werden muß. Ich bin nicht dafür, daß wir uns darauf einrichten, dauerhaft eine Erhöhung der Gesamtsteuerbelastung des deutschen Steuerzahlers anzustreben. Deswegen glaube ich, daß die Bundesregierung jedenfalls grundsätzlich auf dem richtigen Wege ist,

(Dr. Vogel [SPD]: Aha!)

wenn sie erklärt, daß die Familienbesteuerung verbessert werden muß und daß auch auf dem Wege der Erleichterung der Unternehmensbesteuerung Zusätzliches zu geschehen hat. Die Frage ist nur, ob die Vorschläge ausreichen.
Ein Wort zur Unternehmensbesteuerung; Stichwort: Vermögensteuer, Gewerbekapitalsteuer. Das ist im Prinzip eine richtige Linie. Unsere Unternehmen werden im europäischen Vergleich und im internationalen Vergleich eindeutig zu hoch besteuert. Ich könnte Ihnen viele Fälle aus dem rheinland-pfälzischen Grenzgebiet nennen, wo Unternehmen auch aus steuerlichen Gründen dabei sind, entweder Zweigbetriebe im westlichen Ausland zu gründen oder ihren Firmensitz überhaupt zu verlagern.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1201403200
Herr Ministerpräsident, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Gerster (Worms) zu beantworten?

Hans Georg Wagner (SPD):
Rede ID: ID1201403300
Ja, gerne.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1201403400
Bitte sehr.

Florian Gerster (SPD):
Rede ID: ID1201403500
Herr Ministerpräsident, bisher klang Ihre Rede mehr nach einer Rede zur Verteidigung der Bundespolitik als nach einer Rede für die Interessen von Rheinland-Pfalz. Ich möchte deswegen zwei Fragen stellen, die mit elementaren rheinland-pfälzischen Interessen zu tun haben.
Zur Gewerbekapitalsteuer: Nach meinen Erkundigungen in den letzten Tagen wird die Stadt Worms mit 75 000 Einwohnern einen Verlust von etwa 10 Millionen DM im Jahr verzeichnen müssen, wenn die Steuerpläne der Regierung durchkommen; die Stadt Oppenheim mit 5 000 Einwohnern, um beispielsweise eine sehr kleine Stadt zu nennen, müßte einen Verlust in Höhe von etwa 300 000 DM hinnehmen. Was werden Sie als Ministerpräsident unternehmen, um diese rheinland-pfälzischen Städte auf Alternativen zu verweisen, damit wichtige öffentliche Aufgaben erledigt werden können?

Hans Georg Wagner (SPD):
Rede ID: ID1201403600
Herr Kollege Gerster, zu Ihrer Vorbemerkung möchte ich feststellen: Sie ist abwegig. Es dürfte Ihnen bekannt sein, daß der Bundesrat ein Bundesorgan ist und daß es folglich ganz normal ist, wenn ein Mitglied des Bundesrates, der Ministerpräsident eines Landes, hier auch zu bundespolitischen Fragen Stellung nimmt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Bundeskanzler Dr. Kohl: Wohl wahr! — Gerster [Worms] [SPD]: Es geht um die Schwerpunkte!)

Ich komme nun auf die Zahl zu sprechen, die Sie angegeben haben. Ihre Behauptung, daß der Wegfall der Gewerbekapitalsteuer für die Stadt Worms einen Verlust von 10 Millionen DM jährlich bedeuten könne, halte ich für aus der Luft gegriffen. Ich kenne den genauen Betrag nicht, aber es kann nicht so sein, wie Sie behauptet haben. Die Gewerbekapitalsteuer beträgt 10 bis 15 % der gesamten Gewerbesteuer. Da die Stadt Worms keine Einnahmen aus der Gewerbesteuer in der Größenordnung von 100 Millionen DM im Jahr hat, ist die von Ihnen genannte Zahl nicht richtig.

(Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Das ist sozialistische Mengenlehre! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Dennoch stellt sich die Frage, wie es um den Ausgleich im Falle eines Wegfalls dieser Steuern bestellt ist. Herr Kollege Gerster, genau auf diese Frage will ich aber noch zu sprechen kommen. Ich bitte Sie deswegen, sich noch einen Moment zu gedulden.
Zunächst noch einmal zur Gewerbekapitalsteuer: Diese Steuer ist eindeutig von den Unternehmen zu tragen. Die Abschaffung dieser Steuer bzw. entsprechende Steuererleichterungen wären also eindeutig Teil einer Unternehmenssteuerreform.



Ministerpräsident Dr. Carl-Ludwig Wagner (Rheinland-Pfalz)

Bei der Vermögensteuer ist das anders. Hier werden sowohl Unternehmen als auch Privatleute entlastet.

(Dr. Vogel [SPD]: Aha! Sehr wahr!)

Ich möchte deutlich machen, daß ich den Wegfall der Vermögensteuer auf Privatvermögen nicht für geboten halte.

(Zustimmung bei der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Auch neidisch? Auch ein Neidkomplexler?)

— Nein. — Ich halte das nicht für erforderlich. In einer Zeit, in der wir sehr genau rechnen müssen und in der wir alle Einnahmen im Rahmen des irgendwie Möglichen ausschöpfen müssen,

(Dr. Vogel [SPD]: Wo er recht hat, hat er recht!)

bin ich nicht dafür — ich spreche hier für meine Landesregierung — , daß wir die Vermögensteuer auf Privatvermögen abschaffen. Anders steht es mit der Abschaffung der Vermögensteuer auf Betriebsvermögen.
Nun zur Frage des Ausgleichs. Herr Kollege Gerster, selbstverständlich erwarten die Länder für den Fall, daß es zur Aufhebung dieser Steuern — sowohl der Gewerbekapitalsteuer als auch der Vermögensteuer — kommt, einen Ausgleich. Das haben alle Ministerpräsidenten gemeinsam in den Beschlüssen von Ende Februar deutlich gemacht. Das ist ja ganz klar; das kann gar nicht anders sein.
Die Annahme eines meiner Vorredner — ich glaube, es war Herr Voigt — , daß die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer im wesentlichen zu Lasten der Länder gehe, ist zwar nicht richtig — die Abschaffung dieser Steuer würde vor allen Dingen zu Lasten der Gemeinden gehen — , aber, wie auch immer, die Länder nehmen ja auch die Interessen der Gemeinden wahr. Das heißt also: Die Länder und Gemeinden müssen dafür selbstverständlich einen Ausgleich bekommen.

(Gerster [Worms] [SPD]: Von wem denn?)

— Im Rahmen der Verhandlungen zwischen Bund und Land, Herr Kollege Gerster, wie das immer ist.

(Bundeskanzler Dr. Kohl: Wie es immer war! — Gerster [Worms] [SPD]: Wo soll es denn herkommen? Der Bund hat doch nichts!)

— Darüber, ob der Bund nichts hat, werden wir uns zu gegebener Zeit unterhalten.

(Gerster [Worms] [SPD]: Verschiebebahnhof!)

— Herr Kollege Gerster, es hält den Betrieb leider ein bißchen auf, wenn ich Ihnen das erklären muß, aber ich will es doch schnell tun. Es gibt da ein bestimmtes System: Das ist der Vergleich der Deckungsquoten. Nach diesem System wird verfahren und ermittelt, wie die Verteilung der Ressourcen zwischen Bund und Ländern vor sich zu gehen hat.

(Gerster [Worms] [SPD]: Das ist doch keine technische Frage! Das ist eine politische Frage!)

Selbstverständlich werden wir uns auf dieses System stützen und unsere berechtigten Interessen wahrnehmen.
Ich möchte aber noch sagen, daß ich es als ebenso wichtig, vielleicht als noch wichtiger empfinde, daß wir den Familienlastenausgleich noch stärker ausbauen, als es in den Koalitionsvereinbarungen hier in Bonn festgelegt wurde. Dabei bieten entweder die Erhöhung der Mineralölsteuer in späteren Jahren oder aber eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, wenn eine Harmonisierung innerhalb der EG dazu zwingen sollte, die Gelegenheit, eine zusätzliche kräftige Senkung der Besteuerung der Einkommen namentlich der Familien vorzunehmen. Ich möchte ankündigen, daß wir für dieses Anliegen, also für weitere Senkungen der Einkommensteuer insbesondere für die Familien, und auch für die Verbesserung des Kindergeldes in jedem Falle eintreten werden.
Ein Wort über die mittelfristige Perspektive für Bund und Länder, weil sich Herr Gerster darüber Gedanken gemacht hat, wer denn etwas hat. Wir kommen in diesem Jahre zu einer beachtlichen Nettoneuverschuldung, die an der oberen Grenze des Tragbaren liegt. Sie liegt bei gut 5 % des Bruttosozialproduktes. Wir hatten eine solche Größenordnung schon einmal; in den 70er Jahren war die Nettneuverschuldung sogar bereits einmal größer. Um etwas näher an die Jetztzeit heranzugehen: Wir hatten 1981 eine Nettokreditaufnahme in Höhe von 4,9 % des Bruttosozialproduktes und 1982 eine ähnlich hohe. Ich möchte allerdings daran erinnern, daß die heutige sehr hohe Quote das Ergebnis wirklich gewaltiger und zum erheblichen Teil auch sehr erfreulicher Ereignisse ist, während Sie es seinerzeit geschafft haben, durch Ihre pure Finanzpolitik diese Marken zu erreichen. Es gab damals weder die deutsche Einheit noch die Notwendigkeit, internationale Konflikte mitzufinanzieren.

(Dr. Vogel [SPD]: Aber z. B. eine Weltwirtschaftskrise! Das hat auch Lambsdorff immer gesagt! — Dr. Rose [CDU/CSU]: Das war hausgemacht!)

Es war das Ergebnis einer unguten Finanzpolitik.
Es ist, wie auch Sie sicher wissen, gelungen, im Verlaufe von sechs bzw. sieben Jahren diese Finanzlage in Ordnung zu bringen, d. h. sowohl die Bundesfinanzen als auch die Länderfinanzen zu konsolidieren.

(Dr. Hauchler [SPD]: Gut, daß das Ihre letzte Rede als Ministerpräsident ist!)

Seien Sie ganz gewiß, das wird auch jetzt wieder gelingen. Die Zahlen der mittelfristigen Finanzplanung zeigen, daß es möglich sein wird, von den in der Tat hohen Verschuldungsraten, die ja ein Grund für die jetzigen Steuererhöhungen sind, herunterzukommen und im Verlaufe von drei bis fünf Jahren wieder normale konsoliderte Verhältnisse sowohl im Bund als auch in den Ländern herzustellen. Wir werden das diesmal ebenfalls schaffen. Das möchte ich auch den Mitbürgerinnen und Mitbürgern in der ehemaligen DDR sagen, die natürlich erhebliche Sorgen haben. Diese Sorgen sind mir bekannt; denn wir haben eine Partnerschaft mit Thüringen.




Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1201403700
Herr Ministerpräsident, ich bin weit davon entfernt, Ihnen die Rechte zu beschneiden, die Ihnen verfassungsmäßig zustehen. Aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß dann, wenn Sie Ihre Redezeit jetzt überschreiten, dies auf Kosten der nachfolgenden Redner der CDU/CSUFraktion geht.

(Zuruf von der SPD: Das macht nichts!)

Ich weiß nicht, ob Sie das in Kauf nehmen wollen.

Hans Georg Wagner (SPD):
Rede ID: ID1201403800
Ich will mich solcher Verfehlungen auf keinen Fall schuldig machen, Herr Kollege Dregger. Ich werde also in zwei Minuten zum Abschluß kommen.
Ich will nur sagen, auf Grund der Partnerschaft mit Thüringen habe ich gute Informationen auch über die Stimmung in der früheren DDR. 250 Beamte und Angestellte aus Rheinland-Pfalz sind gegenwärtig im Wege der Verwaltungshilfe in Thüringen tätig, und eine ganze Reihe ist noch in anderen Ländern der ehemaligen DDR tätig. Wir wissen also einiges. Ich sage deswegen den Mitbürgerinnen und Mitbürgern in den neuen Ländern, daß wir selbstverständlich in unserer gemeinsamen solidarischen Anstrengung fortfahren und daß wir das auch gemeinsam schaffen werden; ich habe daran keinen Zweifel.
Für unser Land, für das Land Rheinland-Pfalz, möchte ich sagen, daß wir den Verzicht auf eigenes Geld, auf eigene Finanzen — allein über die Umsatzsteuerverteilung etwa 300 Millionen DM — natürlich spüren, daß uns das zu bestimmten Einsparungen zwingt und daß wir sehr wohl überlegen müssen, wo wir sie anbringen. Wir tun dies nicht bei den lebenswichtigen Dingen. Aber wir können — ich glaube, mit Recht — auf die Zustimmung unserer Bevölkerung zählen, wenn wir diesen Beitrag erbringen, und zwar gerne erbringen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1201403900
Sind Sie denn bereit, noch eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Matthäus-Maier zu beantworten?

Hans Georg Wagner (SPD):
Rede ID: ID1201404000
Ich möchte die Frau Kollegin bitten, Verständnis dafür zu haben, daß ich im Hinblick auf den bereits erfolgten Hinweis auf die abgelaufene Redezeit darauf verzichten möchte.
An der deutschen Einheit beteiligt sich RheinlandPfalz gern, unsere Bürger und Bürgerinnen auch.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der Herr Bundeskanzler hat mit Recht gesagt, das zweite große Thema für den Rest dieses Jahrzehnts ist Europa. Wenn es in Deutschland ein Land gibt, das am Gedeihen der Europäischen Gemeinschaft, an ihrem Blühen, an ihrem Ausbau, und zwar sowohl der Politischen Union als auch der Wirtschafts- und Währungsunion, ein eigenes Interesse hat, nicht nur das Interesse, das wir als Bundesrepublik, als deutsches Volk alle haben, das selbstverständlich überragend ist, sondern ein zusätzliches regionales Interesse, dann ist es das Land Rheinland-Pfalz. Europa ist für dieses Land und auch für andere Grenzregionen, namentlich aber für uns, die Gewähr dafür, daß wir auch
im Zuge der deutschen Einheit nicht wieder an den Rand geraten, sondern uns in diesem geeinten Europa, in dem großen Gemeinsamen Markt, in der Wirtschafts- und Währungsunion in einer zentralen Position bewegen und unsere Chance suchen können.
Deswegen hat die Landesregierung, deswegen habe auch ich persönlich immer mit aller Kraft die Politik der europäischen Einheit unterstützt. Wir werden das auch weiter tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1201404100
Das Wort hat der Abgeordnete Poppe.

Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1201404200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit dem 3. Oktober 1990 sind wir, die Bürger und Bürgerinnen der ehemaligen DDR, plötzlich zu Bürgern und Bürgerinnen eines reichen und mächtigen Staates der westlichen Welt geworden. Aber die Umwälzungen in Osteuropa haben nicht nur unsere, sondern die gesamte Situation des bisher in Blöcke geteilten Nachkriegseuropas grundlegend geändert.
Angesichts des Haushaltsentwurfs der Bundesregierung habe ich nicht den Eindruck, daß sie den aus dem Zerfall des Warschauer Pakts entstandenen neuen Herausforderungen und den wirtschaftlichen und ökologischen Krisenerscheinungen auch nur annähernd gerecht wird. Das Bild Deutschlands, das hinter dem Haushaltsentwurf steht, ist das eines Landes, das seinen Reichtum und seine von mir durchaus hochgeschätzte Demokratie notfalls mit Waffengewalt gegen das in Armut und Chaos zerfallende Osteuropa und gegen die armen Länder im Süden zu schützen sich vorbereitet.
Mit Erschrecken vernahm ich, daß das NATO-Mitglied Italien mit bewaffneten Einheiten die verzweifelten albanischen Flüchtlinge von seinen Ufern zu vertreiben versucht. Wird dies das Europa des Jahres 2000, auf das auch die Bundesregierung zusteuert, ein Kern reicher demokratischer Länder, die ihren Müll gegen Devisen verkaufen, die vor Bürgerkrieg und ethnischer Verfolgung Flüchtende mit Waffengewalt forttreiben und die NATO weiter hochrüsten, um gegen Bedrohungen aus der sogenannten Dritten Welt und gegen Bürgerkriege an der europäischen Peripherie gewappnet zu sein?
Hier im Westen des vereinigten Deutschlands hören wir oft: Was wollt ihr aus der ehemaligen DDR denn noch? Seid doch zufrieden, daß es euch nicht so geht wie denen in Polen und in der Sowjetunion! Wofür sollen wir denn noch alles bezahlen?
Es fehlt aber nicht nur Geld, sondern eine grundsätzlich neue Konzeption der Rolle Deutschlands in Europa und in der Welt. Die dramatische Entwicklung der letzten anderthalb Jahre in Mittel- und Osteuropa und im Nahen Osten muß zu erheblichen außenpolitischen Konsequenzen des vereinigten Deutschlands führen.
Der West-Ost-Konflikt hat seine entscheidende Bedeutung verloren. Das NATO-Mitglied Deutschland zieht daraus, wenn man der Regierung folgt, nur unzureichende sicherheitspolitische Schlüsse. Derzeit ist



Gerd Poppe
oft die Rede von der gewachsenen außenpolitischen Verantwortung der Bundesrepublik. Dabei gehen alle Fraktionen dieses Hauses davon aus, daß der Frieden im wesentlichen militärisch gesichert werden muß.
Dafür werden die unterschiedlichsten Modelle diskutiert. Ihnen ist aber eines gemeinsam: Die Lösung der friedenspolitischen Mission wird immer in Uniform und mit Waffen gesucht. Eine Verantwortung jenseits der militärischen erscheint nicht einmal denkbar. Genau dies wäre aber das Kernproblem einer angemessenen Reaktion auf die veränderte Lage in Europa. Nicht ein zur Großmacht vereinigtes Deutschland mit entsprechender militärischer Präsenz und der Drohung, seinen Reichtum gegebenenfalls mit Waffengewalt zu verteidigen, kann Konflikte vermeiden und lösen helfen, sondern nur politische Lösungen auf der Grundlage weitsichtiger Konzeptionen können auf Dauer zum Frieden führen; nicht zuletzt sind sie auch billiger.
Seit langem überfällig ist die Veränderung des NATO-Selbstverständnisses im Hinblick auf Europa, und damit ist ganz Europa — nicht nur sein westlicher Teil — gemeint. Die NATO als ein militärisches Bündnis gegen den Osten ist zum Anachronismus geworden. Ihre derzeitige Suche nach einer neuen Existenzberechtigung — was leider immer noch bedeutet: die Suche nach neuen Feindbildern — hat im Golfkrieg bereits erste, gefährliche Früchte getragen. Gleichzeitig versucht sich die Westeuropäische Union, als sicherheitspolitsches Gegengewicht zur NATO zu profilieren.
Anstelle einer Konzeption zum Aufbau eines politischen Bündnisses mit den Staaten Osteuropas, einschließlich der Sowjetunion, soll die westeuropäische Hegemonie auch auf sicherheitspolitischem Gebiet aufrechterhalten werden. Es fehlt eine Konzeption, die — so unser Vorschlag — die KSZE als übergreifende Konfliktschlichtungsinstitution entwickeln hilft und in der die NATO nur noch übergangsweise der sicherheitspolitischen Integration Europas, Nordamerikas und der Sowjetunion dienen würde. Hier könnte die Bundesrepublik einen konstruktiven Beitrag zur außenpolitischen Strategie der 90er Jahre leisten.
Offenbar hat die Bundesregierung bis heute nicht erkannt, welche gefährlichen Folgen es hat — und noch haben kann — , die Schwäche der Sowjetunion bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen allzusehr ausgenutzt zu haben. Überschwenglicher Dank an Gorbatschow dafür, daß er die schnelle Vereinigung Deutschlands ermöglicht habe, geht am Problem vorbei, insbesondere, wenn das als Argument dafür herhalten muß, ihn auch jetzt zu unterstützen, da er nicht mehr in der Lage zu sein scheint, den Konflikt zwischen demokratischen Selbstständigkeitsbestrebungen und zentralistischem Machtanspruch zu bewältigen. Gorbatschow mit Hille eines Milliardenkredits, der angesichts der dahinsiechenden Perestroika — abgesehen von eventuellen Aufträgen für deutsche Firmen — nutzlos versickern mußte, zur bedingungslosen Aufgabe der DDR gedrängt zu haben, war insofern ein strategischer Fehler der Bundesregierung, als sich damit die innenpolitischen Probleme in der Sowjetunion eher verschärften.
Pakethilfen für das hungernde Rußland und Ermahnungen an die sowjetische Führung wegen der militärischen Intervention im Baltikum ersetzen keine Konzeption. Wohlfahrt und verbale Solidarität einerseits, das Beharren auf der Vorstellung von der Sowjetunion als eines homogenen, zentralistisch steuerbaren Staates andererseits zeigen das Unverständnis gegenüber der dortigen Entwicklung.
Notwendig ist vor allem die praktische Solidarität mit jenen, die unter Berufung auf die Menschenrechte demokratische Entfaltungsmöglichkeiten suchen, z. B. den baltischen Ländern. Notwendig ist weiterhin ein Konzept zur gezielten Unterstützung der Bemühungen um den Abbau von planwirtschaftlich-zentralistisch gelenkten Strukturen und zur Behebung der durch diese Strukturen verschuldeten Mängel und Verteilungsprobleme.
Es geht darum, nicht undifferenziert den sowjetischen Zentralstaat zu unterstützen — aus Angst, Gorbatschow sonst zu schaden — , sondern die Herausbildung eines neuen Beziehungsgeflechts zwischen den bisherigen Sowjetrepubliken zur Kenntnis zu nehmen. Eine Konföderation miteinander verbundener souveräner Staaten könnte sich zu einem bedeutenden Partner in Europa entwickeln. Ähnliches gilt im übrigen auch für das zerfallende Staatenkonstrukt Jugoslawien.
Kurz zum Umfang mit dem außenpolitischen Thema Nummer eins der kommenden Jahre, dem Konflikt zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden: Auch hier gibt es kein ausreichendes Konzept, das die überfällige Umorientierung wirtschaftlicher Zusammenarbeit und damit einen erkennbaren Beitrag zum Abbau des wirtschaftlichen und sozialen Gefälles zwischen Norden und Süden enthielte. Eine solche Konzeption muß Programme zur finanziellen und ideellen Hilfe beim Aufbau eigenständiger wirtschaftlicher Strukturen in den armen Ländern ebenso enthalten wie einen Schuldenerlaß. Vor allem aber geht es um Schritte hin zu einer neuen Weltwirtschaftsordnung, die den armen Ländern gleichberechtigte Chancen auf dem Weltmarkt ermöglicht.
Nichts ist so schändlich, nichts hat in letzter Zeit so viel außenpolitischen Schaden angerichtet wie deutsche Rüstungsexporte in den Irak und andere Diktaturen in der Dritten Welt, die illegalen Exporte ebenso wie die mit Genehmigung der Bundesregierung erfolgten. In diesen Vorwurf sind selbstverständlich auch die auf Grund von Entscheidungen der früheren DDR-Regierungen vor und nach dem 18. März 1990 erfolgten Lieferungen einbezogen.
Man sollte meinen, daß angesichts des politischen Scherbenhaufens seitens der Bundesregierung endlich die erforderlichen Konsequenzen gezogen werden. Es ist notwendig, auf ein vollständiges Verbot von Rüstungsexporten hinzuwirken. Leider passiert das Gegenteil: Das Auswärtige Amt erhebt keine Bedenken gegen die Lieferung von U-Booten und Tornados nach Südkorea, obwohl doch jeder weiß, daß es sich um ein potentielles Krisengebiet handelt.
In die Schlagzeilen kamen auch Exportprojekte nach Indien. Der Bundesaußenminister hat seinerzeit die Unwahrheit gesagt, als er davon sprach, daß niemals Waffenlieferungen in den Irak genehmigt wur-



Gerd Poppe
den. Auf die Anfrage meines Kollegen Werner Schulz hat die Bundesregierung im Februar 1991 geantwortet, daß zwischen 1982 und 1986 für 353 Millionen DM Waren der Anlage 1 zur Außenwirtschaftsverordnung, Teil A, also Waffen, Munition und Rüstungsgüter, an den Irak geliefert wurden.
Der Staatssekretär Dr. Riedl antwortete mir am 5. März 1991 auf meine diesbezügliche Anfrage, daß der Gesamtumfang der genehmigten Rüstungsexporte im Jahre 1989 die astronomische Höhe von über 44 Milliarden DM erreicht hatte. Das ist eine Steigerung gegenüber 1988 von über 31 % und eine Steigerung in bezug auf den Teil A der Anlage 1 von sogar etwa 86 %.
Ich komme zum Schluß. Die Bundesrepublik erlebt gegenwärtig einen wahren Exportboom beim Geschäft mit dem Tod. Ich erwarte, daß vom Bundesaußenminister zu dieser Entwicklung Stellung genommen wird.
Aber nicht nur die Rüstungsexporte sind Anlaß zu unserer Beunruhigung, israelischen Berichten zufolge wurde sogar die alliierte Hilfe für Syrien sofort in den Kauf von Scud-Raketen umgesetzt, die jetzt wieder Israel bedrohen. Auch hierzu muß sich die Bundesregierung äußern.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201404300
Herr Abgeordneter, wenn Sie Ihre Ankündigung wahrmachen, machen Sie mir das Geschäft leichter.

Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1201404400
Ich mache sie sofort wahr, Herr Präsident.
Schließlich möchte ich wissen, wo der von der Bundesregierung seit Wochen angekündigte Bericht über ihre Rolle bei den Rüstungsexporten in den Irak bleibt. Anderenfalls, denke ich, ist es an der Zeit, umgehend auf den Antrag von Bündnis 90/GRÜNE auf Einsetzung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zurückzukommen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201404500
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Rose.

Dr. Klaus Rose (CSU):
Rede ID: ID1201404600
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige erste Lesung des Bundeshaushalts gibt die Chance, nicht bloß mit Zahlen zu jonglieren, sondern einmal die deutsche Außenpolitik insgesamt kritisch zu durchleuchten und gleichzeitig die Rolle der Deutschen nach der Wiedervereinigung zu erörtern. Es ist natürlich richtig, daß unser gesamtes politisches Bestreben dem Zusammenführen der Menschen in Deutschland gehören muß und daß der Wiederaufbau in den neuen Bundesländern Priorität hat. Die Konzentration all unserer Kräfte auf dieses Ziel, nämlich baldmöglich gleichwertige Lebensbedingungen in ganz Deutschland zu bekommen, enthebt uns aber nicht der Verantwortung für andere Regionen in der Welt, vor allem aber für die Entwicklung vernünftiger, gut nachbarlicher Beziehungen zu den Staaten in unserer Umgebung. Sinnfällig kommt diese Aufgabe im Etat des
Bundeskanzlers und im Etat des Auswärtigen Amts zum Ausdruck.
1955 wurde die Bundesrepublik Deutschland, d. h. die alte Bundesrepublik, souverän. In einem Standardwerk zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist zu lesen, daß es den deutschen Politikern damals schwerfiel, ihre verengte Sicht der Dinge zu überwinden. Das Gleiche scheint auch heute der Fall zu sein.

(Dr. Hauchler [SPD]: Wie bei Ihnen heute!)

Das ist aber nicht bloß bei uns, sondern das ist bei allen, auch bei den Kollegen der Opposition. Denn die größere Bundesrepublik, das vereinte Deutschland, ist souverän geworden, und tut sich offensichtlich noch ein bißchen schwer, die geeignete Rolle in der Außenpolitik zu finden.
Damals war aber klar, und es ist für mich auch heute klar, daß Sicherheit und Wohlstand nur in den großen wirtschaftlichen und militärischen Verbundsystemen der freien Welt zu gewährleisten sind. Adenauer spürte damals, daß ein Staat auch in Allianzen und Wirtschaftsgemeinschaften nur dann Gehör findet, wenn er über Macht und einen anerkannten Rang verfügt. So versuchte er, die Bundesrepublik — natürlich möglichst unauffällig — auf eine annähernd gleiche Ebene wie Frankreich und Großbritannien zu bekommen. Diese beiden Staaten — und natürlich auch weitere westeuropäische Länder im Rahmen der EG — müssen auch heute unsere Vergleichspunkte sein. Es ergibt sich deshalb an unmittelbaren außenpolitischen Zielen zum einen die Schaffung der Europäischen Union, zum anderen die sicherheitspolitische Überlegung, ob die NATO oder doch mehr der Ausbau der WEU zu bevorzugen ist, und drittens ein Netz von Verträgen mit den osteuropäischen Nachbarn.
Den möglichen Kritikern einer Stärkung oder zumindest Beibehaltung der NATO sei gesagt, daß unsere Nachbarn Deutschland eingebunden wissen wollen in ein System der Berechenbarkeit. Letztlich stimmte ja auch die Sowjetunion der Integration des vereinten Deutschlands in der NATO zu.
Auch wenn die Welt wegen der deutschen Haltung im Golfkrieg verwirrt gewesen sein mag, so ist die ursprüngliche Angst unserer Nachbarn vor einem ruhelosen Deutschland noch nicht überwunden, z. B. auch in der Frage, ob die Grenzen für immer festgelegt sind, ob Deutschland frei von nationalistischen Gefühlen bleibt, ob wir verläßlich sind. Das alles macht es notwendig, Europa weiter zu bauen. Wenn dieses Europa gebaut ist, zunächst auf jeden Fall als Politische Union im westlichen Teil Europas, unabhängig von einem früheren Gorbatschow-Vorschlag vom gemeinsamen Haus Europa, dann brauchen wir Deutschen auch keine Sorge mehr zu haben, daß über uns hinweg Brücken geschlagen werden, wie das früher beispielsweise zwischen Frankreich und Rußland der Fall war; dann braucht es aber auch nicht den Wunsch Deutschlands, vielleicht selber Europa beherrschen zu wollen. Deutschland darf nicht die verwirrte Nation sein, sondern muß mit seiner Souveränität umgehen können, also auch Verantwortung übernehmen und z. B. Mittler zwischen Ost und West werden.



Dr. Klaus Rose
Dabei kommt es besonders darauf an, daß das Gefühl entsteht, daß dem östlichen Europa die gleichen Chancen eröffnet werden wie dem westlichen. Deutschland muß also auch eine Art wirtschaftlicher Lokomotive sein, aber nicht nur einsam geradeaus brausen, sondern auch Lasten ziehen können.
Meine Damen und Herren, derzeit entsteht der Eindruck, daß die Deutschen leider nur mehr zu sehr für die Probleme aller anderen herangezogen werden, also der Lastesel geworden sind. Es ist schon so, daß die Welt von uns einen großen Beitrag zur Lösung der verschiedenen Probleme erwartet. Dem trägt ja auch der Bundeshaushalt 1991 Rechnung.
Im Regierungsentwurf sind einige Milliarden eingeplant, die sich im Gefolge des Golfkriegs ergeben haben. Wir haben eben nicht den Ohne-Mich-Standpunkt. So gibt es etwa 9 Milliarden DM, die im ersten Quartal 1991 für die USA und für Großbritannien oder Frankreich ausgegeben werden sollen. Zusätzlich sollen 900 Millionen DM aus dem Einzelplan 60, d. h. aus der Allgemeinen Finanzverwaltung, über das Auswärtige Amt Zusagen des Bundesministers Hans-Dietrich Genscher begleichen, die er bei seinen Besuchsreisen im Nahen Osten gemacht hat.
Natürlich hat das Parlament, sehr geehrter Herr Minister, ein Recht darauf, im einzelnen zu erfahren, wofür dieses Geld ausgegeben wird. Umgekehrt können wir aber dankbar sein, daß keine deutschen Soldaten gefallen sind und daß keine Zerstörungen in Europa oder gar im eigenen Land ertragen werden mußten. Wollen wir aber wirklich, daß z. B. auch bei der europäischen Einigung die Briten und die Franzosen die Soldaten stellen und wir nur zahlen?
Das souveräne Deutschland muß auch seinen eigenen Beitrag zur Sicherheit und zur Verteidigung leisten. Keine ernst zunehmende Stimme erhebt sich z. B. in Frankreich oder Großbritannien, geschweige denn in den Vereinigten Staaten, gegen eigene Streitkräfte. Wenn man sich aber über die Notwendigkeit einer eigenen Armee klar ist, dann muß man auch ein vernünftiges Verhältnis zu dieser eigenen Armee entwickeln.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich meine, es ist richtig, im Zuge einer Verkleinerung der Bundeswehr und einer Verringerung der militärischen Personalstärke eine angemessene Kürzung im Verteidigungsetat vorzunehmen. Doch ein Steinbruch für alle sonstigen Pläne kann dieser Verteidigungsetat nicht sein. Wo sollen denn die motivierten Soldaten herkommen, wenn man ihnen ständig das Gefühl vermittelt, eigentlich seien sie nicht erwünscht, eigentlich wolle man ihnen etwas wegnehmen, eigentlich wolle man sie mit minderwertiger Technologie abspeisen? Vielleicht träumen ja manche davon, das Deutschland eine kleine Schweiz sein könne, daß seine Ruhe haben, vielleicht das Geld horten wolle.

(Dr. Hauchler [SPD]: Bayern!)

Aber dieses Bild stimmt nicht für die Schweiz, und es stimmt selbstverständlich nicht für das in seiner Geographie, in seiner Wirtschaftskraft, in seiner Bevölkerungszahl viel größere Deutschland.
Ein souveränes Deutschland darf also durchaus selbstbewußt sein. Am besten ist es aber, wenn seine wirtschaftliche Stärke anderen zugute kommt, besonders den kleineren östlichen Nachbarn, ohne dort einen Ausverkauf zu machen, nachdem das bisherige Wirtschaftssystem zusammengebrochen ist.
Trotzdem sollte man die Deutschen nicht so sehr an ihrer Wirtschaftskraft messen und schon gar nicht an ihrer Armee. Man sollte uns vielmehr messen an der kulturellen Ausstrahlung, an der reichen Begegnungskraft, an den zahlreichen und auch erfolgreichen Bemühungen der kulturellen Begegnungen. Einem derartigen Ziel muß die deutsche Außenpolitik besonders dienen.
Meine Damen und Herren, im Bundeshaushalt 1991 sind eine Reihe von Ausgaben vorgesehen, die dem Ziel der internationalen kulturellen Begegnung dienen. Vor allem im Etat des Auswärtigen Amts, d. h. im Kulturhaushalt, stecken mehr als 1,1 Milliarden DM, die alle für die kulturelle Begegnung ausgegeben werden sollen.
Jahr für Jahr ist dieser Bereich des Bundeshaushalts kontinuierlich gestiegen. So sind wir von 755 Millionen DM 1982 inzwischen auf diese Größe gekommen. Wir sollten diese Mittel auch vernünftig einsetzen, besonders bei unseren osteuropäischen Nachbarn. Wir möchten ja, daß sie nicht bloß dem Europarat als Mitglied beitreten können wie z. B. die Tschechoslowakei als 25., sondern daß sie in absehbarer Zeit insgesamt zu Europa gehören. Wir sollten deshalb auch Gelder ausgeben, die diese Entwicklung vorbereiten.
In diesem Zusammenhang sehe ich auch die vorgesehenen Hilfen an Rumänien und Ungarn, d. h. die Stromhilfe in Höhe von 50 Millionen DM für Rumänien oder die Energiehilfe in Höhe von 40 Millionen DM für Ungarn, aber auch die 40 Millionen DM für die Umschulung sowjetischer Soldaten. Das Parlament wird im Rahmen der Haushaltsberatungen im Ausschuß natürlich kritisch hinterfragen, wem in Rumänien z. B. diese Stromhilfen endgültig zugute kommen. Sind es nur staatliche Betriebe? Sind es private Einrichtungen? Sind es in erster Linie die Deutschen in den leider immer leerer werdenden Gebieten um Hermannstadt und Kronstadt? Diese Fragen werden wir im Laufe der nächsten Wochen und Monate bei den Beratungen insgesamt stellen.
Das, was die Bundesregierung im Haushaltsentwurf vorgeschlagen hat, findet auf einen ersten Blick unsere Billigung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Hauchler [SPD]: „Auf einen ersten Blick"! Dann schauen Sie beim zweiten Blick genauer hin!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1201404700
Nun hat das Wort der Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher.

Hans-Dietrich Genscher (FDP):
Rede ID: ID1201404800
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Beratung dieses Haushalts ist Anlaß, sich Rechenschaft über die außenpolitischen Aufgaben und Herausforderungen abzulegen, vor de-



Bundesminister Hans-Dietrich Genscher
nen wir stehen. Das bedeutet auch, sich Gewißheit zu verschaffen über die Konstanten unserer Politik, über die neue und größere Verantwortung des vereinten Deutschlands und über die großen Herausforderungen, vor die sich die Welt und auch wir gestellt sehen.
Herr Kollege Voigt hat bei seinem Beitrag angekündigt, er wolle das außenpolitische Konzept der SPD hier vortragen. Ich hoffe, das war nicht alles, was wir dazu gehört haben. Sonst ware der Mund ein bißchen voll genommen worden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr. Rose [CDU/CSU]: Das Konzept ist nicht sichtbar und Voigt auch nicht!)

Dafür hat der Kollege Voigt Anlaß gesehen, die Außenpolitik der Bundesregierung, vor allen Dingen in der Frage des Golfkonflikts, zu kritisieren. Herr Kollege Voigt, was meinen Sie eigentlich, wenn Sie sagen, man hätte die Milliarden, die wir der Koalition am Golf zur Verfügung gestellt haben, besser anlegen sollen? Wollen Sie damit sagen, daß wir es nicht hätten tun sollen? Dann hätten Sie genau die Krise im deutsch-westlichen Verhältnis heraufbeschworen, die Sie uns selbst angehängt haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1201404900
Herr Bundesminister, sind Sie bereit, eine Frage des Abgeordneten Voigt (Frankfurt) zu beantworten?

Hans-Dietrich Genscher (FDP):
Rede ID: ID1201405000
Ja, Gern. Aber ich würde gern zuvor noch etwas sagen. Dann können Sie das in Ihre Frage mit einbeziehen.
Ich würde auch gern von Ihnen wissen, Herr Kollege Voigt, was Sie meinen und wen Sie meinen, wenn Sie davon sprechen, daß jetzt der militärischen Gewalt Priorität verliehen wird. Waren Sie für oder waren Sie gegen den Einsatz im Namen der UNO, um die Aggression gegen Kuwait rückgängig zu machen? Auch hier müssen Sie klar Farbe bekennen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sie hätten auch Anlaß gehabt, hier ein Wort zur Mission des amerikanischen Außenministers und zur Rede des amerikanischen Präsidenten zu friedlichen Lösungen für die Zeit nach dem Golf-Konflikt zu sagen. Zusammen mit dem englischen und dem französischen Außenminister habe ich hier am Montag feststellen können, daß wir zum ersten Mal seit langer Zeit als Europäer uns in den Fragen der Nah- und Mittelostpolitik in voller Übereinstimmung mit den USA befinden und daß wir deshalb diese Mission unterstützen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sie sehen also, Herr Kollege Voigt: Wenn Klärungsbedarf besteht — bei Ihnen besteht solcher Bedarf zuhauf, und als Frankfurter wissen Sie, was ich damit meine!

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1201405100
Da ich den Eindruck habe, daß derjenige, der antworten sollte, die Fragen gestellt hat, ist es gescheiter, dem Abgeordneten Voigt für eine Kurzintervention das Wort zu geben.

Karsten D. Voigt (SPD):
Rede ID: ID1201405200
Erst einmal zur Frankfurter Situation: Herr Genscher, ich habe meine innerparteiliche Rangerausbildung hinter mir, ich würde dort überleben.

(Heiterkeit bei der SPD)

Es ist zwar etwas merkwürdig, daß die Regierung jetzt die Opposition befragt, aber das ist Ausdruck der Situation, daß wir eine Konzeption haben, während Sie noch keine haben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wir wollen sie endlich hören!)

Erstens. Bei der militärischen Eskalation wäre ich mit der Minderheit des amerikanischen Kongresses der Meinung gewesen, daß man zu dem Zeitpunkt mit der militärischen Eskalation nicht hätte beginnen sollen, sondern mit einer verschärften Form der Sanktionen hätte fortfahren sollen.

(Beifall bei der SPD)

Übrigens haben Sie damals etwas Ähnliches gesagt.

(Zuruf von der SPD: So ist es!)

Wenn Sie heute davon abrücken, so ist das Ihr Bier. Sie haben so argumentiert.

(Zuruf von der SPD: Und dann haben Sie den Schwanz eingezogen!)

Zweitens. Da ich die Eigenschaft habe, nicht erst nach Abschluß eines Konfliktes in die USA zu reisen, sondern auch während eines Konfliktes, wenn die Stimmung gegenüber den Deutschen nicht so gut ist, dauernd dorthin reise, weiß ich, wie dort die Stimmung ist. Ich sage ganz offen: Wenn diese Bundesregierung frühzeitig, am Beginn des Konfliktes, sich bereit erklärt hätte, für friedliche Mittel, friedenserhaltende Mittel, friedensstabilisierende Mittel in der gesamten Region in erheblichem Umfang Geld einzusetzen, dann hätte sie a) bei den Amerikanern besser dagestanden, b) nicht so viel bezahlen müssen und c) wäre sie nicht in Druck gekommen, auch zur Finanzierung der Kampfhandlungen beizutragen. Das, was Sie zu spät gemacht haben, ist Ihnen politisch zum Schaden geraten, und es hat dazu beigetragen, daß Sie zum Teil etwas finanziert haben, was nicht sinnvoll und sinnfällig war.

(Beifall bei der SPD)


Hans-Dietrich Genscher (FDP):
Rede ID: ID1201405300
Herr Kollege Voigt, wenn Sie sich einmal die Probleme der amerikanisch-japanischen Beziehungen ansehen, die dortigen Diskussionen über die Verwendung der Mittel, die gezahlt werden, dann werden Sie schnell zu dem Ergebnis kommen, daß die Bundesregierung in dieser Frage richtig gehandelt hat. Sie hat sich dafür entschieden, eine Aktion im Namen der Vereinten Nationen zu unterstützen. Dazu stehen wir. Ich habe das in der Debatte zum Ausdruck gebracht, die wir neulich hatten, und daran ist nicht zu deuteln.



Bundesminister Hans-Dietrich Genscher
Meine Damen und Herren, wenn wir uns über die Ausgangspunkte unserer Politik vergewissern, so können wir als erstes feststellen: Die Vereinigung Deutschlands erweist sich als ein bedeutsamer Beitrag für die Schaffung eines freien und vereinten Europas. Sie hat nicht ein neues Problem für Europa geschaffen, sondern sie hat ein europäisches Problem gelöst. Heute stehen wir als Deutsche vor zwei Herausforderungen. Nach der äußeren Vereinigung gilt es, die innere Vereinigung zu vollenden, und es gilt, sich der größeren Verantwortung dieses vereinten Deutschlands zu stellen.
Auch in Zukunft steht die deutsche Politik unter dem Gebot unserer Verfassung, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. Deutsche Außenpolitik bleibt Friedenspolitik.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir haben das in dem Zwei-plus-Vier-Vertrag bekräftigt. Wir haben dort nämlich gesagt, daß das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen und mit seiner Verfassung. Weil Sie die Unklarheit in den Ausführungen des Bundeskanzlers gerügt haben, möchte ich aus der Rede, die er heute hier gehalten hat, zitieren, um Ihnen zu zeigen, daß Sie unrecht hatten:
Als Mitglied der Vereinten Nationen haben wir die Pflichten übernommen, die in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt sind. Dazu gehören auch Maßnahmen der kollektiven Sicherheit.
Unsere Verfassung — nicht zuletzt die deutsche Teilung — hat uns bei der vollen Wahrnehmung dieser Pflichten bisher Schranken auferlegt.
Das ist eine klare verfassungsrechtliche Position.
Meine Damen und Herren, die Wertbezogenheit unserer Außenpolitik und unsere Festlegung auf Freiheit und Menschenwürde, auf Selbstbestimmung und Friedensbewahrung, das sind die Lehren aus unserer Geschichte. Diese Politik hat uns den Weg zur Einheit geebnet, und sie hat uns das Vertrauen unserer Nachbarn und der Völker erworben. Wir werden auch in Zukunft unsere Politik auf diese Werte gründen. Wer daran zweifelt, daß wir dieses Vertrauen erworben haben — damit meine ich unser ganzes Volk — , der sehe sich, Herr Kollege Voigt, die Umfragen an, die in diesen Tagen aus Frankreich, aus den Vereinigten Staaten und aus vielen anderen Staaten der Welt publiziert worden sind: In die Friedfertigkeit und Friedensgesinnung des deutschen Volkes setzt niemand einen ernsthaften Zweifel. Das ist ein Kompliment für die Deutschen in der früheren Bundesrepublik und genauso für diejenigen, die in einer friedlichen Revolution ihre Freiheit in den neuen Bundesländern erworben haben. Darauf können wir stolz sein.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Nicht nur die Unterzeichnerstaaten des Zwei-plusVier-Vertrages, der inzwischen von allen Unterzeichnern ratifiziert ist, sondern die ganze Staatengemeinschaft bekräftigt, daß die Vereinigung Deutschlands
zu einem Staat mit endgültigen Grenzen ein bedeutsamer Beitrag zu Frieden und Stabilität in Europa ist.
In diesem Europa erweist sich die Europäische Gemeinschaft politisch und ökonomisch als Stabilitätsraum, als der Stabilitätsraum, der auf den ganzen Kontinent und darüber hinaus steigende Attraktivität ausübt. In diese Europäische Gemeinschaft bringen wir das größere Deutschland mit seiner gewachsenen Verantwortung ein. Das ist die europäische Option des vereinigten Deutschland. Wir verstehen diese Verantwortung als ein noch stärkeres Engagement für die europäische Einigung auf dem Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion und zur politischen Union.
Der Bundeskanzler hat heute schon gesagt, die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft und der WEU soll keine Ersatz-NATO schaffen. Für uns steht sie in der Finalität der europäischen Einigung. Sie wird so auch den europäischen Pfeiler des westlichen Bündnisses festigen. Wachsende europäische Identität soll den Atlantik nicht breiter, aber unser Bündnis fester machen. Das westliche Bündnis, das Bündnis der nordamerikanischen und der europäischen Demokratien, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ebenfalls als ein Stabilitätsfaktor für Europa und die Welt erwiesen. Wir wollen, daß es so bleibt.
Die deutsch-amerikanische Freundschaft und die europäisch-amerikanische Freundschaft und Partnerschaft gehören zu den Konstanten auch des vereinten Deutschland.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vielleicht sollten Sie, Herr Kollege Voigt, noch einmal darüber nachdenken, ob es nicht mißverständlich sein könnte, wenn Sie davon sprechen, daß die Amerikaner noch für einige Jahre hierbleiben sollten.

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Das habe ich nicht gesagt!)

— Für mehrere Jahre? (Voigt [Frankfurt] [SPD]: Nein, dauernd!)

— Dann lesen Sie einmal nach, was Sie gesagt haben. Die Klarstellung „dauernd" ist ein wichtiger Beitrag zur Übereinstimmung.
Wenn wir aber von dieser Konstanze der europäisch- amerikanischen Partnerschaft sprechen, dann wissen wir auch, daß wir das auch beachten müssen, wenn es jetzt um den Erfolg der GATT-Runde geht. Auch hier muß Partnerschaft gelten.

(Dr. Hauchler [SPD]: Gerade hier hat die deutsche Regierung doch am meisten gemauert!)

In diesem Bewußtsein der Bedeutung der europäischamerikanischen Partnerschaft nehmen wir das Angebot des amerikanischen Präsidenten zur Partnerschaft in der Führung an. Wir werden uns für die Fortentwicklung unseres Bündnisses engagieren, so wie das vor dem Londoner Gipfel 1990 vorgegeben wurde. Wir wollen damit das Bündnis für die neuen Chancen und Herausforderungen zukunftsfähig machen. Das



Bundesminister Hans-Dietrich Genscher
westliche Bündnis hat durch seine wertorientierte, politische und sicherheitspolitische Bestimmung seine eigene Identität gefunden. Es war von Anfang an mehr als nur die Reaktion auf die sowjetische Vorherrschaftspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. In Wahrheit wurde mit dem westlichen Bündnis die Lehre aus den Fehlern nach dem Ersten Weltkrieg gezogen. Das Ende des Warschauer Pakts berührt deshalb den Fortbestand des westlichen Bündnisses nicht.

(Dr. Gysi [PDS/Linke Liste]: Das ist aber neu!)

— Für wen ist das neu? Für Sie?

(Dr. Gysi [PDS/Linke Liste]: Nein, Sie haben früher die NATO häufiger mit dem Warschauer Pakt begründet — in den 50er und 60er Jahren und auch in den 70er Jahren!)

— Herr Gysi, wir haben nie einen Zweifel daran gelassen, daß für uns das westliche Bündnis mehr ist als eine Allianz alten Stiles, als eine Militärallianz, und daß ihm eine Übereinstimmung der Werte zugrunde liegt. Die grundsätzliche Unterscheidung zwischen westlichem Bündnis und Warschauer Pakt bestand darin, daß der Warschauer Pakt ein Instrument sowjetischer Vorherrschaft über Osteuropa war und das westliche Bündnis eine Wertegemeinschaft für Freiheit und für Demokratie.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr. Hauchler [SPD]: So hätte es sein sollen!)

— Herr Kollege, so ist es. Wenn Sie Unterlegenheitsgefühle haben, schlage ich Ihnen vor: Wirken Sie mit bei der Entwicklung des europäischen Pfeilers, dann werden Sie auch dieses letzte Gefühl der Unterlegenheit verlieren.

(Dr. Briefs [PDS/Linke Liste]: Sie glauben gar nicht, mit welch dumpfen Gefühlen Menschen in Westeuropa die Politik dieser Bundesregierung betrachten!)

— Ich habe vor allen Dingen den tiefen Eindruck, daß viele Menschen dort, wo Sie jahrzehntelang Verantwortung getragen haben, froh waren — —

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Er kommt aus Westdeutschland! — Zuruf von der CDU/CSU: Er hat doch nur einen holländischen Paß!)

— Er kommt aus Westdeutschland — und dann zur PDS zu gehen, das ist nun wirklich der Gipfelpunkt des politischen Irrtums. Das muß ich Ihnen sagen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ihre Beiträge heute, das waren schon „beachtliche Beiträge" zur Lösung der deutschen Probleme. Ich verstehe ja die tiefe Sorge vieler Menschen in den neuen Bundesländern, wie es weitergeht; aber wenn Sie hier Kritik üben, Herr Kollege Gysi und die anderen Angehörigen Ihrer Fraktion, dann kommt mir das vor, als wenn der Brandstifter die Feuerwehr wegen zu langsamer Arbeit kritisiert. Das ist das Problem, vor dem Sie stehen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, das westliche Bündnis ist und bleibt eine Konstante europäischer und weltpolitischer Stabilität. Es wird einen wichtigen Pfeiler der neu entstehenden Strukturen kooperativer Sicherheit in Europa bilden. Niemand wird dieses Bündnis als Bedrohung empfinden, aber alle werden es als Gewähr eigener Sicherheit betrachten.
Zu den Konstanten unserer Politik in Europa gehört auch die Mitwirkung im Europarat. Er hat den europäischen Rechtsraum, eigentlich müßte man besser sagen: den europäischen Rechtsstaatsraum, den Menschenrechtsraum, den europäischen Demokratieraum geschaffen. Wir haben unsere Einheit erreichen können, weil wir dem Auftrag unseres Grundgesetzes gerecht wurden, weil wir in der Verantwortung des Briefes zur deutschen Einheit auf einen Zustand des Friedens in Europa hingewirkt haben, der die Vollendung eben dieser Einheit in freier Selbstbestimmung möglich machte. Ich denke, daß es sich lohnt, an einer solchen Politik festzuhalten.
Dazu gehört auch die Konstanz der deutsch-sowjetischen Beziehungen. Die Gemeinsame Erklärung vom 13. Juni 1989, der deutsch-sowjetische Vertrag vom 9. November 1990 haben das deutsch-sowjetische Verhältnis als Konstante deutscher Außenpolitik bestätigt, erweitert und bekräftigt. Von allen diesen Konstanten ausgehend stellt sich das vereinte Deutschland seiner größeren Verantwortung. Das drückt sich aus in dem Einsatz unseres größeren Gewichts für die europäische Einigung, für die Schaffung des einen Europa und bei der Lösung der globalen Herausforderungen.
Es ist offenkundig, daß die deutsche Teilung auch die deutsche Außenpolitik über Jahrzehnte belastet hat: Berlin-Krisen, deutsch-deutsche Spannungen, offene Grenzfragen haben uns, die Hauptbetroffenen der Spaltung Europas, das immer wieder aufs neue bewußt gemacht. Aber wir haben zu keiner Zeit die von unserer Verfassung vorgegebenen Prioritäten und Wertbestimmungen zur Disposition gestellt. Wir haben uns zu keiner Zeit auf den Irrweg „Einheit vor Freiheit" oder „deutscher Sonderweg vor europäischer Einbettung" begeben. Wir haben beides gewonnen: die Einheit der Deutschen und die Chance zur Vereinigung Europas.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dieses Bewußtsein bestärkt uns in der Feststellung, daß wir an den Grundwerten und den Grundorientierungen unserer deutschen Außenpolitik festhalten werden. Wir werden sie zur Entwicklung der Konzeptionen für die Wahrnehmung größerer deutscher Verantwortung nutzen.
Die neu gewonnene Handlungsfreiheit des vereinten Deutschlands wird ganz gewiß nicht zu neuer Machtpolitik genutzt werden. Es wird auch nicht zu einer Renationalisierung der deutschen Außenpolitik kommen. Nein, wir setzen unser Gewicht für ein größeres europäisches Engagement in der EG und für das ganze Europa ein. Wir appellieren an die Völker Europas, dieses europäische Angebot der Deutschen anzunehmen.
Während sich der Stabilitätsraum, der durch die Staaten der Europäischen Gemeinschaft, des westlichen Bündnisses und des Europarates gebildet wird,



Bundesminister Hans-Dietrich Genscher
dynamisch entwickelt, sehen wir uns in Mittel- und Osteuropa neuen, großen, dramatischen und krisenhaften Herausforderungen gegenüber. Die Staaten Mittel- und Osteuropas ringen um die Festigung ihrer demokratischen Strukturen und den Erfolg ihrer Reformpolitik. Das Ende der militärischen Integration des Warschauer Paktes, die Aufhebung und die Überwindung der kommunistischen Diktatur setzen nationale Strömungen frei. Manche suchen nach europäischer Orientierung, andere noch nicht.
Jugoslawien steht in einem tiefen Konflikt, der durch den Willen zu nationaler Identität, zu Demokratie und zu wirtschaftlicher Reform bestimmt wird. In der Sowjetunion treffen der Wille zur Demokratisierung, zu nationaler Selbstbestimmung und die Suche nach einem wirtschaftlichen Reformkonzept auf den Widerstand der alten Strukturen. Die Übergangsphase, die dieses riesige Land durchläuft, stellt nicht nur die Sowjetunion selbst, sie stellt alle Europäer und eigentlich die ganze Weltgemeinschaft vor große Probleme und Herausforderungen.
Meine Damen und Herren, nicht nur für die Sowjetunion, bei allen Unterschieden auch für Jugoslawien und andere Staaten in Süd- und Osteuropa gilt: Die Entwicklung neuer Formen des Zusammenlebens verschiedener Nationen kann nur als Ergebnis eines friedlichen politischen Dialogs gesichert werden. Dieser Dialog muß auf der Grundlage der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Achtung der Menschen- und der Minderheitenrechte aller Beteiligten geführt werden.
So stellt sich unser Europa heute als ein Erdteil dar, der in dramatischen und doch friedlichen Prozessen lange aufgestaute Probleme gelöst hat, in dessen Westen es eine Stabilitätszone gibt, in dem zu gleicher Zeit im Osten und Südosten alte und neue Probleme nach einer Antwort suchen. Dabei gilt es jetzt, diesen dramatischen Entwicklungen einen stabilen Rahmen zu geben, damit wir nationale und europäische Bürgerkriege vermeiden. Die größere deutsche Verantwortung wird sich darin erweisen, daß wir auch hier die Lehren aus der eigenen Geschichte einbringen. Wir wollen dazu beitragen, daß auf alle Fragen, die Europa heute belasten, europäische und nicht nationalistische Antworten gegeben werden.
Meine Damen und Herren, es ist verständlich, daß sich die Aufmerksamkeit der Welt in den letzten Monaten auf den Mittleren und Nahen Osten konzentriert hat. Die Bemühungen um eine stabile Friedensordnung für diese Region werden jetzt größte Anstrengungen nicht nur der Staaten der Region, sondern auch der verantwortlichen Staaten und Staatengemeinschaften in der Welt verlangen. Aber wir dürfen über dem Mittleren und Nahen Osten unseren nächsten Osten, wir dürfen Mittel- und Osteuropa nicht vergessen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der Reformpolitik dort zum Erfolg zu verhelfen ist eine Aufgabe europäischer Solidarität, europäischer Stabilitätspolitik und europäischer Zukunftsgestaltung. Das verlangt große Anstrengungen des Westens, aller
Staaten des Westens für alle unsere östlichen Nachbarn einschließlich der Sowjetunion.
Übergangszeiten bedeuten immer Instabilität. Bei der Lösung ökonomischer Übergangsprobleme zu helfen ist ein Stabilitätsbeitrag. Wir Deutschen werden uns — wie in der Vergangenheit — auch in der Zukunft unserer Verantwortung stellen. Wir tun das auch angesichts der großen Herausforderungen in den neuen Bundesländern; denn wir wissen: Europa darf nicht neu geteilt werden durch eine Armutsgrenze oder durch unkontrollierbare Entwicklungen östlich von uns. Auf der anderen Seite bedeutet der Erfolg der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Bundesländern ganz sicher auch eine Ermutigung für die Reformer in den Staaten Mittel- und Osteuropas.
Wenn es um Mittel- und Osteuropa geht, meine Damen und Herren, dann sind wir als Deutsche in besonderer Weise gefordert, nicht nur wegen unserer geographischen Lage, sondern auch wegen unseres Gewichts und wegen unserer historischen Bindungen und Verbindungen zu unseren östlichen Nachbarn einschließlich der Sowjetunion. Es gehört zu den bewegenden geschichtlichen Erfahrungen, daß diese Bindungen durch die tragischen Ereignisse in den 30er und 40er Jahren eigentlich nur noch stärker geworden sind. Polens Präsident hat Deutschland als Tor der Freundschaft zu Europa bezeichnet. In der Tat: Wir wollen die gute deutsch-polnische Nachbarschaft noch in diesem Jahr vertraglich besiegeln. Wir wollen das gleiche mit der CSFR Vaclav Havels. Wir werden unseren Einfluß als vereintes Deutschland bei unseren Partnern und Freunden wahrnehmen, damit auch sie ihre gesamteuropäische Verantwortung erfüllen.
Alle Probleme im europäischen Osten sind auch unsere Probleme, und sie erfordern europäische Antworten.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Wir werden in der Europäischen Gemeinschaft dafür eintreten, daß die Europäische Gemeinschaft offen ist und offenbleibt für die Demokratien in Mittel- und Osteuropa.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wer sie ausschließen will, verstößt gegen den Namen unserer Gemeinschaft — sie heißt „Europäische Gemeinschaft" und nicht „Westeuropäische Gemeinschaft" — und gegen den Geist der Römischen Verträge. Wer aber die Chance zum Beitritt eröffnet, gibt die Kraft, die schwere Zeit des Übergangs zu bestehen.
Der KSZE-Prozeß bedarf in dieser Phase dringend neuer und kräftiger Impulse. Die erste Außenministerkonferenz, die auf der Grundlage der neuen Charta von Paris einberufen wird und im Juni in Berlin stattfindet, bietet eine Chance dafür. Der KSZE-Prozeß und die Charta für ein neues Europa bieten derzeit noch den einzigen Stabilitätsrahmen, der uns bisher für das ganze Europa zur Verfügung steht und der beide Großmächte einschließt. Seine Institutionen müssen genutzt, ausgebaut und entwickelt werden.
Das Konfliktverhütungszentrum und auch das in La Valletta vereinbarte neue KSZE-Streitbeilegungsver-



Bundesminister Hans-Dietrich Genscher
fahren sind ein gewiß bescheidener, aber prinzipiell neuer Anfang.
Aber wir brauchen mehr: Wir brauchen eine Entscheidungs- und Handlungsinstanz als Institution gesamteuropäischer Sicherheit und Zusammenarbeit. Wir brauchen ein europäisches Sicherheitsgremium und — warum nicht? — in ferner Zukunft auch einen Europäischen Sicherheitsrat unter dem Dach der Vereinten Nationen, damit wir die Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten für unseren Kontinent verstärken können.
In den neuen politischen, ökonomischen und kooperativen Sicherheitsstrukturen müssen auch die Demokratien Mittel- und Osteuropas ihren Platz finden können. Sie wenden sich hin zur Europäischen Gemeinschaft und zum Europarat. Das schafft für niemanden Probleme, aber es wird den Stabilitätsraum ausdehnen.
Nach Auflösung des Warschauer Pakts und damit auch der Beendigung der Vorherrschaft durch die Sowjetunion erheben die Staaten Mittel- und Osteuropas mit Recht Anspruch auf volle, gleichberechtigte Sicherheit. Es liegt im gesamteuropäischen Interesse, daß weder ein machtpolitisches Vakuum noch machtpolitische Verschiebungen in Europa entstehen. In diesem Bereich liegen die vordringlichen Aufgaben für die neue europäische Sicherheitsarchitektur. Die Staaten Mittel- und Osteuropas müssen in diesen Strukturen europäischer Sicherheit ihren sicheren Platz einnehmen können.
Im Verhältnis zur Sowjetunion wird es darauf ankommen, daß diese Länder an Stelle der überwundenen Vorherrschaft ein auf Gleichberechtigung beruhendes Nachbarschaftsverhältnis finden, das sich auf den Verzicht auf Gewalt sowie auf Zusammenarbeit gründet.
Für die Stabilität gesamteuropäischer Architektur ist es notwendig, daß einer ihrer wichtigsten Bausteine, nämlich der Vertrag über die konventionelle Abrüstung, ohne Abweichungen eingehalten wird und zur Ratifizierung kommt. Wir hoffen und wir erwarten, daß sich auch in der Sowjetunion die Auffassung durchsetzt, die bei der Verhandlung und Unterzeichnung des Vertrages galt.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Voigt [Frankfurt] [SPD])

Die Ratifizierung und die Einhaltung dieses Vertrages wird den Bemühungen um Beseitigung der nuklearen Kurzstreckensysteme und der nuklearen Artillerie in Europa zusätzliche Impulse geben. Diese Waffen haben in der europäischen Friedens- und Stabilitätsordnung, die wir anstreben, keinen Platz mehr.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir kennen die schwerwiegenden Probleme, denen sich der sowjetische Präsident gegenübersieht. Wir anerkennen, daß er in einer schwierigen innenpolitischen Phase außenpolitisch Kurs hält. Die verantwortungsvolle Mitwirkung der Sowjetunion im Weltsicherheitsrat während der Golfkrise beweist das ebenso wie die Auflösung der militärischen Strukturen des Warschauer Pakts als logische Konsequenz aus der Aufgabe sowjetischer Vorherrschaftsansprüche in Europa. Ich denke, wir sollten in diesem Zusammenhang nicht das Engagement Präsident Gorbatschows für die Ratifizierung des Zwei-plus-Vier-Vertrages vergessen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Es liegt auch in unserem Interesse, daß die Sowjetunion ihre inneren Probleme im Geist der Schlußakte von Helsinki, im Geist der Charta für ein neues Europa und der Grundsätze des Europarates lösen kann. Das verlangt die Fortsetzung der Demokratisierung, die von Präsident Gorbatschow so mutig begonnen worden ist. Wir alle brauchen eine stabile und handlungsfähige Sowjetunion als unverzichtbaren Faktor der neuen Architektur für das ganze Europa.
Die ermutigenden Entwicklungen, die in den letzten Jahren in Europa möglich wurden, die den WestOst-Gegensatz auch in der Dritten Welt beseitigt und damit die Lösung wichtiger regionaler Probleme ermöglicht haben, verlangen ebenfalls die Mitwirkung der Sowjetunion. Von keiner dieser Entwicklungen soll sie ausgeschlossen werden. Ihr Beitrag für die neue Weltordnung ist unverzichtbar.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deutschland sieht seine Aufgabe darin, im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft und des westlichen Bündnisses das Verhältnis zur Sowjetunion weiter auszubauen und zu entwickeln. Wir tun das im Bewußtsein der zentralen Bedeutung des deutsch-sowjetischen Verhältnisses.
Meine Damen und Herren, mit dem Blick auf die Vereinten Nationen können wir feststellen: Weltweit begegnen sich nicht mehr zwei deutsche Staaten. Auch in den Vereinten Nationen ist das deutsche Volk durch eine Regierung vertreten. Das ermöglicht es uns, weltweite Verantwortung auch in den Vereinten Nationen ohne jede Beschränkung zu übernehmen. Unser Wille, durch eine Änderung unserer Verfassung die in der Vergangenheit wohlbegründete Selbstbeschränkung zugunsten einer Mitwirkung deutscher Streitkräfte bei Einsätzen im Rahmen der Vereinten Nationen zu ermöglichen, ist Ausdruck dessen, jetzt möglich gewordene größere Verantwortung auch wahrzunehmen. Wir werden uns dieser Verantwortung stellen. Wenn wir das im Rahmen europäischer Streitkräfte tun könnten, wäre das ein wichtiger Schritt hin zu einer gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik.
Aber wir sehen unsere Mitwirkung in den Vereinten Nationen nicht zuerst und ganz gewiß nicht allein in der Perspektive der Teilnahme deutscher Streitkräfte an Aktionen der Vereinten Nationen. Wir wollen an der Stärkung der Vereinten Nationen und am Ausbau ihrer Handlungsfähigkeit mitwirken. Die Überwindung des West-Ost-Gegensatzes eröffnet die Chance dafür.
Eine Stärkung der Vereinten Nationen bedeutet zuallererst, die Fähigkeit ihrer Organe — des Generalsekretärs und des Sicherheitsrates —, die Möglich-



Bundesminister Hans-Dietrich Genscher
keiten der politischen Konfliktlösung zu verstärken. Die Vereinten Nationen sollen auch stärker mitwirken können bei der Bewältigung der globalen Herausforderungen, beim Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, bei der Überwindung von Hunger, Not und Elend auch als Ursache von Flüchtlingsströmen, bei der Entmilitarisierung der internationalen Beziehungen durch die Unterstützung regionaler Abrüstung in allen Teilen der Welt und bei der Beschränkung des weltweiten Rüstungsexports.
Wenn es darum geht, größere Verantwortung zu übernehmen, um damit sowohl unserer Geschichte wie den Werten unserer Verfassung gerecht zu werden, wird es uns besonders auszeichnen, wenn wir uns noch stärker der Lösung dieser Menschheitsaufgaben zuwenden. Hier gilt es, unsere größere Verantwortung zu erfüllen.
Ich denke, wir werden unser stärkeres Gewicht auch einsetzen, um unsere Wertverpflichtung bei der weltweiten Durchsetzung der Menschenrechte noch stärker zu vertreten.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, nach allem, was in der deutschen Geschichte war, kann es für die deutsche Politik immer nur den Platz auf der Seite der Menschenrechte, auf der Seite des Selbstbestimmungsrechts, der territorialen Integrität und der Souveränität aller Staaten geben. Das hat unsere Haltung während des Golfkrieges bestimmt. Das wird sie auch bei unserer Mitwirkung an der Schaffung einer Friedensordnung für die leidgeprüfte nah- und mittelöstliche Region bestimmen.
Es ist in den letzten Wochen und Monaten die Frage gestellt worden, ob sich das deutsche Volk nur in einer Idylle oder in einer Nische der internationalen Politik wohlfühlen und zurechtfinden könne. Ich denke, das deutsche Volk hat diese Frage in den letzten 45 Jahren beantwortet. Kein Volk war von dem West-OstGegensatz, von der Konfrontation in Europa, von der Spaltung Europas und vom Kalten Krieg so zutiefst betroffen, wie es die Deutschen waren. Das war wahrlich keine Nische für unser Volk,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

und die Deutschen in der DDR haben gewiß nicht in einer Idylle der Weltpolitik gelebt. Zu keiner Zeit haben die Deutschen der früheren Bundesrepublik gezögert, ihre Verantwortung für die Sicherung der Freiheit und des Friedens zu übernehmen.
Deutschland hat eine Wehrpflichtarmee, die in unserem Volk verankert ist, die Teil unserer demokratischen Gesellschaft ist und die von einem sicherheitspolitischen Konsens getragen wird. Unsere Soldaten haben ihren Dienst seit Bestehen der Bundeswehr in Zeiten der höchsten Spannungen, in Zeiten schärfster politischer Konfrontation und in Zeiten von Druck und Bedrohung getan, und niemand hatte einen Grund, an der Verläßlichkeit der Deutschen und ihrer Soldaten zu zweifeln.
Wenn wir uns nun entschließen, durch eine Verfassungsänderung die Mitwirkung deutscher Streitkräfte
im Rahmen der Satzung der Vereinten Nationen zu ermöglichen, so ist das kein Anlaß, deshalb den Grundsatz der Wehrpflichtarmee in Frage zu stellen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Der sicherheitspolitische Konsens unserer Gesellschaft, der für die Stabilität unseres Staates auch in Zukunft von großer Bedeutung ist, wird gerade durch die Wehrpflichtarmee und auch durch die Integration der Armee in die Gesellschaft garantiert. Die Bundeswehr wird auch in Zukunft auf der Grundlage der unveränderten Wertebestimmung unseres Grundgesetzes ihren Auftrag erfüllen.
Es bleibt dabei, meine Damen und Herren: Unser Auftrag lautet, Europa zu einen und dem Frieden der Welt zu dienen. Das ist der Auftrag unserer Verfassung. Wir wissen, daß viele Fragen in den alten und neuen . Bundesländern unterschiedlich beantwortet werden. Auch hier drücken sich Jahrzehnte unterschiedlicher Erfahrungen aus. Aber unser Volk ist eins in dem Willen zu Freiheit und zu Demokratie und zur Sicherung dieser Freiheit und dieser Demokratie.
Was die Gestaltung der deutschen Nachkriegsdemokratie bis zum 3. Oktober 1990 in der alten Bundesrepublik bedeutet, das hat die friedliche Freiheitsrevolution in der früheren DDR zum Ausdruck gebracht. Dieses Bekenntnis zur Freiheit hat dem deutschen Volk das zurückgegeben, was ihm die Schande des Faschismus genommen hat. Diese Würde einer freiheitlichen Demokratie und einer freien Gesellschaft werden wir uns für immer bewahren.
Für die Deutschen hat es in der Nachkriegsgeschichte gewiß keine Idylle gegeben. Ich sehe das auch jetzt nicht voraus. Die Herausforderungen waren unterschiedlich; je nachdem, wo wir diese Zeit — in West oder Ost — erlebt haben. Leicht war es nicht, sie zu bestehen. Wir haben sie bestanden. Die Deutschen in der früheren DDR hatten dabei die größere Last unserer Geschichte zu tragen.
Wenn ich das alles zusammennehme, meine Damen und Herren, dann können wir aus Überzeugung sagen: Auf das Bekenntnis zu Freiheit und Frieden und auf die Entschlossenheit, Freiheit und Frieden für sich und für andere zu bewahren, können sich die Völker der Welt bei den Deutschen verlassen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1201405400
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hauchler.

Prof. Dr. Ingomar Hauchler (SPD):
Rede ID: ID1201405500
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Regierung hat heute in einer sechsstündigen Debatte den Nord-SüdKonflikt nahezu totgeschwiegen.

(Bundesminister Genscher: Na! — Zurufe von der CDU/CSU: Dann haben Sie die ganze Zeit nicht zugehört! Der war wohl lange Zeit nicht da!)

Dies ist, Herr Minister Genscher, ein Armutszeugnis und setzt ein falsches Signal.



Dr. Ingomar Hauchler
Hört deutsche Außenpolitik in Osteuropa, in den USA, am Golf und am Mittelmeer auf, oder ist sie sich bewußt, daß vier Milliarden Menschen auf dieser Welt — und viele davon hungern — jenseits dieses verengten Blickfeldes der Außenpolitik dieser Bundesregierung leben?
Dabei hätte die Bundesregierung spätestens durch den Golfkrieg die Nord-Süd-Beziehungen als politische Herausforderung erster Ordnung begreifen müssen. Sie hätte endlich lernen können, daß der Entwicklungspolitik zunehmend die Rolle einer präventiven, globalen Sicherheitspolitik zufallen muß.
Am 30. Januar dieses Jahres versprach der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung — ich zitiere — :
Dialog und Ausgleich zwischen Nord und Süd werden die großen Herausforderungen in den 90er Jahren bleiben. Wir werden als vereintes Deutschland unsere Entwicklungshilfe auch in Zukunft steigern.
Wochen später aber bricht Helmut Kohl auch dieses Wort.

(Toetemeyer [SPD]: Sehr wahr!)

Das Bundeskabinett beschließt einen Haushalt, der, läßt man sich von Tricks nicht täuschen, im Vergleich zur Haushaltsplanung 1990 weniger Mittel für die Entwicklungsländer vorsieht.

(Toetemeyer [SPD]: So ist es!)

Nicht nur die für 1991 veranschlagten effektiven Ausgaben für Entwicklungshilfe sinken, wenn man die früheren Ausgaben der ehemaligen DDR berücksichtigt; und das muß man tun. Zusammengestrichen werden auch die Zusagen für künftige Projekte der bilateralen Zusammenarbeit um mehr als 700 Millionen DM.
Diese Kürzung ist eine Schande, wenn man den Hunger, die Naturzerstörung und die Flüchtlingsströme in und aus der Dritten Welt wachsen sieht und weiß, daß der Golfkrieg viele Entwicklungsländer zusätzlich belastet hat.
Wenn Kosten der deutschen Einheit und des Golfkrieges auf Kosten der Dritten Welt refinanziert werden, widerspricht dies diametral einer weiteren Ankündigung des Bundeskanzlers in seiner Regierungserklärung. Er sagte in bezug auf die Asylpolitik — ich zitiere wieder — :
Um das Problem der Flüchtlings- und Wanderungsströme in und nach Europa zu lösen, müssen wir gemeinsam die Ursachen in den Herkunftsländern bekämpfen.
Wohl wahr! Doch die Mittel, um die Probleme vor Ort zu lösen, werden gekürzt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundesrepublik muß mithelfen, die Lasten von NahostLändern, die durch den Golfkrieg verursacht sind, zu lindern. Gleichzeitig muß aber sichergestellt werden, daß zusätzliche Hilfen nur für die wirklich armen Länder zur Verfügung gestellt und daß dadurch die Mittel
für andere Entwicklungsländer nicht geschmälert werden.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Für den Nahen Osten selbst geht es jetzt darum, mit höherem Engagement als bisher eine dauerhafte Friedensordnung zu schaffen. Eine unverzichtbare Voraussetzung dafür ist aber, Vereinbarungen über wirtschaftlichen und sozialen Ausgleich dort zu erreichen. Dies hat Willy Brandt schon vor Jahren vorgeschlagen. In diesem Zusammenhang jetzt aber schon wieder von einem Marshallplan zu reden, wie dies der Bundeskanzler getan hat, halte ich für falsch. Nicht nur, weil es in den letzten Jahren wohlfeil geworden ist, immer gleich von Marshallplänen zu reden, wenn es um irgendein Weltproblem geht, sondern auch weil sich ein regionaler Wirtschaftsplan für den Nahen Osten gerade ganz wesentlich vom Marshallplan unterscheiden muß. Er muß und kann nämlich zum größten Teil aus der Region selbst finanziert werden.
Sodann darf ein regionales Aufbau- und Entwicklungsprogramm für den Nahen Osten nicht wie der Marshallplan mit hegemonialen Ansprüchen in diesem Raum verknüpft werden, und schließlich sollte dieses Programm nicht so sehr auf die einzelnen Länder, sondern vor allem auf regionale Entwicklung und regionalen Ausgleich gerichtet und damit Grundlage für eine gemeinsame Friedensordnung werden.
Meine Damen und Herren, die Kürzung der Mittel für die Dritte Welt ist kurzsichtig. In einem Jahr für Deutschland 150 Milliarden; für Osteuropa 20 Milliarden und mehr und für den Golfkrieg innerhalb weniger Monate so eben mal 17 Milliarden, Herr Außenminister. Für 120 Länder in der Dritten Welt aber nur ein Bruchteil dessen, was wir für Deutschland, Osteuropa und den Golf ausgeben? Wahrlich ein schlimmes Mißverhältnis!

(Beifall bei der SPD)

Der Süden wird registrieren, wie schnell der Norden unvorstellbare Kapitalsummen mobilisieren kann, um Zerstörung zu finanzieren, und wie genau der Norden jede Mark umdreht, wenn es um die Bekämpfung von Armut, Vertreibung und Umweltzerstörung geht. Viel, viel Geld also, wenn es um Krieg und Eingreiftruppen geht, um dem Völkerrecht Geltung zu verschaffen, das man selbst von mancher Seite vielfach gebrochen hat, wenig Geld, wenn es um Entwicklung, also die Verhütung von Krieg, um mehr Gerechtigkeit und um ökologische Vorsorge geht. Aber das kennen wir ja. Von bestimmten konservativen Kräften wurde wieder einmal wie eh und je vor allem das Bündnis der Solidarität der Reichen beschworen, statt Gerechtigkeit gegenüber den Hungernden zu üben. Dabei wissen wir: Die wichtigste aller Kriegsursachen ist — neben Eroberungsdrang und blanker Not — mangelnde Gerechtigkeit. Fundamentalistische Strömungen werden mehr und mehr wachsen, wenn diese Welt
— das gilt auch für die Verhältnisse im Nahen Osten
— auch durch unsere Schuld weiter so ungerecht geordnet ist.

(Beifall bei der SPD)




Dr. Ingomar Hauchler
Die Bundesregierung und die sie tragende Koalition aus CDU, CSU und FDP versagen nicht nur, wenn es darum geht, der gewachsenen Verantwortung Deutschlands für den Nord-Süd-Ausgleich finanziell gerecht zu werden. Sie hat auch dafür kein überzeugendes politisches Konzept. Ihre Entwicklungspolitik ist halbherzig, voller Widersprüche und spielt nicht selten auch den bloßen Handlanger anderer Interessen.
Die Halbherzigkeit dieser Regierung zeigt sich darin, daß sie Initiativen, die sie zu Schwerpunkten ihrer Politik erklärt hat, nicht ernsthaft genug verfolgt. Was ist aus der globalen Umweltoffensive des Bundeskanzlers, die er auf den letzten beiden Weltgipfeln ergriffen hat, geworden? Der Berg kreißte und gebar eine Maus. Was folgte aus den Ankündigungen, der internationalen Verschuldungskrise zu Leibe rücken zu wollen? Die Schulden sind weiter gestiegen. Welche Schlüsse wurden aus der Einsicht gezogen, man müsse die Flüchtlingsprobleme stärker am Ort ihrer Entstehung lösen? Entwicklungshilfe für solche Länder wird in Zukunft gekürzt. Die Bundesrepublik hat also auf keinem dieser Felder überzeugende Maßnahmen ergriffen.
Direkt widersprüchlich ist aber die Politik von CDU, CSU und FDP, wenn es darum geht, ihre so sehr vorgetragenen eigenen Maximen von Freihandel, Menschenrechten und ökologischer Verantwortung selbst zu befolgen. Statt Freihandel: Agrar- und Textilprotektionismus, jetzt vorgeführt in der Uruguay-Runde. Statt wirksamer Gesetze und Kontrollen bei Waffenexporten: Blaupausen für Südafrika, Chemie für Saddam und Tornado-Kredite für Jordanien. Statt Menschenrechte als Bedingung deutscher entwicklungspolitischer Leistungen: eine U-Bahn für das totalitäre chinesische Regime, das Panzer über Demonstranten rollen läßt. Und, Herr Genscher, ein 100-MillionenScheck des deutschen Außenministers für einen Diktator, der eine ganze Stadt im eigenen Land zerbomben läßt.
Zum schieren Handlanger aber gerät Entwicklungspolitik, wenn sie sich zum willfährigen Instrument kurzfristiger außenpolitischer Ziele und privater Unternehmens- und Bankinteressen machen läßt, wie es nach wie vor — nur auf etwas leiseren Sohlen als früher — geschieht. Die Schecks, die im Entwicklungshilfeministerium im Auftrag des Außenministers für Sonderhilfen ausgeschrieben werden, sind nicht gerade der Beweis einer entwicklungspolitischen Konzeption dieser Bundesregierung.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, die Koalitionsfraktionen haben nicht erkannt, daß die Nord-Süd-Politik zu den größten Herausforderungen der Zukunft zählt. Daran haben weder die Mahnungen der Kirchen noch die Appelle unseres Bundespräsidenten, auch nicht die Einsicht einiger nachdenklicher Kolleginnen und Kollegen aus den konservativen liberalen Fraktionen etwas geändert. Die konservativen Kräfte versagen vor einer historischen Aufgabe.
Wir Sozialdemokraten bestehen demgegenüber darauf, daß die Entwicklungspolitik sowohl finanziell als auch konzeptionell in die Lage versetzt wird, endlich eine wirksamere Antwort auf die globalen Probleme der Zeit zu geben. Begreifen wir doch, die Rezepte eines kruden internationalen Manchestertums à la Lambsdorff haben nicht gegriffen! Das beweist schlagend — ganz aktuell — auch die Entwicklung in der ehemaligen DDR.
Die SPD fordert ein Umdenken und Umsteuern in der deutschen Entwicklungspolitik.
Erstens: statt Diktat: Dialog. Dieser muß auf Respekt und Toleranz gegenüber anderen Kulturen und Religionen gegründet sein. Dies gehörte zu einer sinnvollen Außenpolitik mit langfristiger Perspektive. Wirklicher Dialog schließt aber auch Selbstkritik gegenüber den sozialen und ökologischen Folgen des westlichen Industriesystems und seinen materialistischen Begriffen von Fortschritt und Entwicklung ein.

(Beifall bei der SPD)

Zweitens. Entwicklungspolitik muß Querschnittsaufgabe werden, statt Summe isolierter Einzelprojekte zu sein. Von ihr müssen ressortübergreifende Impulse für global verantwortliches Handeln ausgehen.
Drittens. Mehr Geld ist keine hinreichende, aber immer noch eine notwendige Bedingung für die Entwicklungspolitik.

(Beifall bei der SPD)

Ohne zusätzliche Finanzmittel wird es keine Lösung des Schuldenproblems, keine ausreichende globale Umweltvorsorge und keine Eindämmung einer durch Armut und Naturzerstörung bedingten Völkerwanderung geben. Wenn wir heute nicht in Entwicklung investieren wollen, werden uns morgen viel höhere Quittungen präsentiert werden.

(Beifall bei der SPD)

Die Dividende aus der Abrüstung zwischen Ost und West, die sich ankündigt, darf nicht im Norden verfrühstückt werden.
Viertens. Die einzelnen Projekte der Entwicklungspolitik müssen effektiver sein und voll auf Armutsbekämpfung, Umweltschutz und eigenständige Entwicklung konzentriert werden, statt über sogenannte Warenhilfen, wie jetzt geschehen, Mittel für Großprojekte zu verschleudern und Waffenbudgets für ausbeuterische und aggressive Eliten aufzufrisieren.

(Beifall bei der SPD)

Fünftens. Neben einzelnen guten Projekten müssen vor allem bessere Rahmenbedingungen für eine eigenständige Entwicklung im Süden gefördert werden. Dies gilt für die weltwirtschaftlichen Strukturen. Sie müssen den Entwicklungsländern wirklich faire Chancen zur Teilnahme an der internationalen Arbeitsteilung eröffnen. Deshalb fordere ich Sie auf, auch Sie, Herr Außenminister: Sorgen Sie dafür, daß die GATT-Runde auch im Interesse des Südens wirklich zu einem Erfolg wird und nicht von uns selbst weiter boykottiert wird!

(Beifall bei der SPD)

Dies gilt aber auch für strukturelle Reformen in den Entwicklungsländern selbst.



Dr. Ingomar Hauchler
Die verengten Auflagen des Internationalen Währungsfonds sind, wiewohl in gewissen Punkten theoretisch richtig, praktisch völlig unzureichend, um autonome Entwicklungsprozesse zu beschleunigen. Es geht viel eher um eine gerechtere Einkommensverteilung, um dort Nachfrage zu schaffen, oder um Agrarreformen, um mehr Land produktiver zu bewirtschaften, oder um den Aufbau eines Kapitalmarktes, um das Sparkapital der Länder in produktive Verwendungen umzusetzen.
Ich komme jetzt wirklich zum Schluß, Herr Präsident. Vielen Dank für Ihre Geduld.
Spätestens der Golfkrieg hat gezeigt: Wir müssen Nord-Süd-Politik umfassender konzipieren und insgesamt ernster nehmen. Sie ist die unverzichtbare Grundlage einer vorsorgenden globalen Sicherheits- und Friedenspolitik. Statt die Trümmer von Kriegen wegzuräumen, muß Entwicklungspolitik Kriege, Flucht und Not verhindern helfen.

(Beifall bei der SPD)

Davon ist die Politik dieser Regierung noch weit entfernt.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1201405600
Nun hat der Abgeordnete Dr. Hornhues das Wort.

Dr. Karl-Heinz Hornhues (CDU):
Rede ID: ID1201405700
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich mit zwei Feststellungen beginnen. Erstens stelle ich fest, daß nach der Rede des Bundeskanzlers offensichtlich auch bei der Opposition im wesentlichen der Eindruck entstanden ist, er habe die Dinge schon fest im Griff; es lohne sich nicht, weiter gegen ihn zu argumentieren.

(Matthäus-Maier [SPD]: Wie kommen Sie denn darauf?)

Dieser Eindruck ist richtig.
Zweitens zur Ankündigung des Kollegen Voigt hinsichtlich seines außenpolitischen Konzepts für die SPD: Ich muß dem Kollegen Außenminister Genscher zustimmen und stelle fest, meine sehr verehrten Damen und Herren: Das, was die Bundesregierung durch den Kanzler und vor allen Dingen auch soeben durch den Bundesaußenminister vorgetragen hat, ist ein Konzept, soweit wir es in der Schnelle alles verstehen konnten.

(Lachen bei der SPD — Voigt [Frankfurt] [SPD]: Das war entlarvend, Herr Hornhues: nicht verstanden, aber schon zugestimmt!)

— Man muß sorgfältig zuhören; deswegen macht man sich noch ein Hintertürchen auf. Das sollten auch Sie häufiger tun, wenn Sie den Mund so voll nehmen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir kommen also zu dem Ergebnis, da wir die Bundesregierung wie üblich unterstützen, daß wir auch dort in der Vorhand sind.
Gestatten Sie mir zum Ende der Debatte noch einige Anmerkungen, von denen ich glaube, sie sollten hier,
weil sie nicht im Zentrum standen, doch noch erwähnt sein.
Zum einen hat sich durch die Debatte heute immer wieder der Golfkrieg gezogen. Dies ist richtig und berechtigt. Denn was hat uns in den letzten Wochen und Monaten, nachdem wir die Einheit erlebt hatten und jetzt gestalten müssen, so sehr bewegt wie das Problem des Golfkrieges?
Da dies die erste Debatte nach dem Ende dieses Krieges ist, ist es, glaube ich, richtig und wichtig, daß ich hier sage: Ich möchte denjenigen Anerkennung zollen, die den Sieg in einem Krieg errungen haben den sie nicht führen wollten, aber führen mußten, um einen Diktator und Aggressor in die Schranken zu weisen. Vieles ist dazu schon gesagt worden. Ich möchte betonen: Die Tatsache, daß dies unter dem Dach der UNO, unter der Führung der USA und unter politischer Mitwirkung der UdSSR möglich war, gibt Hoffnung auf eine neue, effektivere Frieden schaffende und sichernde Rolle der Vereinten Nationen. Es gibt Hoffnung, daß es gelingt, hinreichend abschrekkend auf potentielle Aggressoren zu wirken.
Wir möchten trotz der Eile und Hetze der Zeit nicht versäumen, all derer zu gedenken, die Opfer dieser Wahnsinnsentwicklung und -politik von Saddam Hussein gewesen sind. Die Folgen der verbrecherischen Politik halten an. Not und Elend im Irak und den angrenzenden Ländern halten an. Wir sollten das nicht aus den Augen verlieren, auch wenn sich die Scheinwerfer der veröffentlichten Meinung auf anderes richten. Wir jedenfalls werden dies tun.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir unterstützen die Bundesregierung in ihrem Bemühen, einen Beitrag zu leisten, wenn es jetzt gilt, nach dem Ende des Krieges den Frieden für diese Region zu gewinnen. Jeder weiß — ich brauche da nicht ins Detail zu gehen — , wie unendlich schwierig dies sein wird.
Wir danken den Alliierten für die faire Würdigung des deutschen Beitrags in diesem Krieg. Wir waren in diesem Konflikt von Anfang an Partei. Jedenfalls ist dies die Meinung der CDU/CSU; von anderer Seite klang es anders. Wir waren Partei auf seiten des Völkerrechts, auf seiten der Vereinten Nationen, auf seiten der Alliierten am Golf, gegen einen verbrecherischen Aggressor.
Vielleicht stünden wir ein wenig besser im internationalen Ansehen da, in der Beurteilung dieses neuen Deutschlands, auf das alle von außen her so heftig geschaut haben, wenn der Oppositionsführer in seinem heutigen Beitrag sich nicht auf den lapidaren Satz beschränkt hätte, auch nach der Beendigung des Krieges bleibe die SPD bei ihrer Auffassung, man habe diesen Auffassungen nichts hinzuzufügen.
Noch immer stehen die Schlagzeilen im Raum „SPD: USA führen den Krieg verbrecherisch" und „Lafontaine: Das Morden muß aufhören" — auf die USA gemünzt.
Ich hoffe nicht, meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD, daß diese Aussagen, die aus



Dr. Karl-Heinz Hornhues
Ihren Reihen stammen und nicht von irgend jemandem kommen, unverändert so bestehen bleiben.

(Matthäus-Maier [SPD]: Nicht die SPD!)

— Ich danke Ihnen, daß Sie sagen „Nicht d i e SPD ". Das ist eine Klarstellung. Ich hätte gern von Ihrem Fraktionsvorsitzenden gehört, was in Ihren Reihen eigentlich noch gilt oder nicht gilt.

(Hinsken [CDU/CSU]: Da kennt man sich bei denen nie aus!)

Meine Fraktion dankt den Soldaten der Bundeswehr, die jetzt aus der Türkei zurückkehren, für ihren Einsatz, den sie als Beitrag im Bündnis geleistet haben, der deutlich gemacht hat, daß wir zu unseren Bündnisverpflichtungen stehen. Wir freuen uns, daß sie gesund und heil zurückgekehrt sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir wünschen den Soldaten der Bundesmarine, die jetzt mit ihren Schiffen in den Golf auslaufen, um dort Minen zu räumen — ich habe mir sagen lassen, daß das nicht völlig ungefährlich sein soll — , daß sie ihre Arbeit, die sie zu tun haben, erfolgreich bewältigen. Wir wünschen ihnen eine glückliche Heimkehr zu ihren Familien in Deutschland.

(Zuruf von der SPD: Wir auch!)

— Ich bedanke mich, daß auch Sie das tun. Es wäre für diese Soldaten noch schöner gewesen, wenn Ihr Vorsitzender ihnen nicht hinterhergerufen hätte, das Ganze finde in einer Grauzone verfassungspolitischer Probleme statt. Wie müssen sich Soldaten fühlen, wenn das der Abschiedsgruß der SPD an sie ist?
Ich möchte einen anderen Punkt aus der heutigen Debatte aufgreifen. Meine Fraktion teilt, wie Sie vielleicht wissen, die Absicht des Bundeskanzlers, zu einer baldigen Klarstellung im Grundgesetz zu kommen, daß Deutschland im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme auch militärisch seinen angemessenen Beitrag zur Friedenssicherung leisten kann, wenn nötig. Wir sind aber zugleich der Auffassung, daß dies das Grundgesetz bereits jetzt prinzipiell ermöglicht. Wir meinen daß wir nach dem, was im Golfkrieg geschehen ist, unsere Hausarbeiten machen müssen. Das bedeutet nicht nur, aber auch die entsprechende Klarstellung im Grundgesetz.
Ich möchte hier einen konkreten Vorschlag zur Beförderung der Diskussion machen, nämlich den, Art. 87 a Abs. 2 des Grundgesetzes wie folgt zu ergänzen:
Außer zur Verteidigung
— dann käme die Ergänzung —
und zur Erfüllung von Aufgaben innerhalb eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit
— das wäre die Ergänzung —
dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das würde bedeuten, daß wir im Rahmen unserer eingegangenen — und künftig möglicher weiterer — Verpflichtungen im Rahmen der UN ein ganz normales Bündnisland werden, voll bündnisfähig sind und auch in Zukunft bleiben könnten.
Das, was der Herr Fraktionsvorsitzende der SPD, Herr Vogel, heute hierzu gesagt hat, läßt uns zweifeln, daß es möglich sein wird, eine derartige Klarstellung im Grundgesetz mit Zustimmung der SPD zu erreichen. Das gibt den Skeptikern in unseren Reihen recht, die immer ihre Zweifel daran gehabt haben, daß dieser Weg ein machbarer Weg sei; deswegen der Verweis darauf.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1201405800
Dies veranlaßt den Abgeordneten Voigt, eine Zwischenfrage stellen zu wollen.

Dr. Karl-Heinz Hornhues (CDU):
Rede ID: ID1201405900
Nein, danke schön. Ich möchte zum Ende kommen.
Ein zweiter Punkt gehört zu unseren Hausaufgaben, nämlich die von uns in dieser bzw. in der nächsten Woche beabsichtigte Verschärfung und Verbesserung der Exportkontrollen. Wir müssen uns dabei allerdings darüber im klaren sein, daß auch verbesserte und verschärfte Strafbestimmungen das Problem letztendlich nicht lösen werden. Wir möchten die Bundesregierung nachdrücklich auffordern, die Lösung dieses Problems auch durch europäische und — darüber hinausgehend — internationale Regelungen anzugehen, die dann letztlich auch greifen.

(Beifall des Abg. Hinsken [CDU/CSU])

Zwar haben wir — der Bundeskanzler hat darauf schon hingewiesen, meine sehr geehrten Damen und Herren — auf Grund dessen, was wir haben erfahren müssen, was uns ins Bewußtsein gekommen ist, unser spezielles Maß an Betroffenheit. Aber es ist notwendig, daß wir die Dinge gemeinsam lösen, weil wir sonst in einigen Wochen, Monaten oder Jahren hier stehen und ähnliche Probleme erneut zu diskutieren haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Scheinwerfer des Interesses der Öffentlichkeit wird sich wieder auf viele Themen richten müssen. Herr Kollege Hauchler, ich stimme Ihnen in einem grundsätzlich zu: Bei all der Fülle dessen, was wir zu diskutieren haben, kommt leider oft das zu kurz, was unmittelbar vor unserer Haustür passiert;

(Dr. Hauchler [SPD]: Das stimmt!)

denn Afrika ist nicht mehr weit weg, wie wir inzwischen begriffen haben sollten.
Der Kollege Voigt hat heute vorgeschlagen, wir müßten mehr — damit meinte er Geld — für Mittel-und Südosteuropa tun. Dagegen habe ich im Prinzip nichts einzuwenden; ich begrüße das. Und Sie sagen, es müsse auch mehr Geld für die Entwicklungsländer da sein; auch dagegen habe ich nichts. Nur, es fehlt natürlich wie üblich der Finanzierungsvorschlag von Ihrer Seite.

(Hinsken [CDU/CSU]: Das ist bei denen immer so! — Widerspruch des Abg. Voigt [Frankfurt] [SPD])

Aber vielleicht liefern Sie den noch nach.
Eine letzte Anmerkung, meine sehr geehrten Damen und Herren: Ich glaube, einer der wichtigsten Schritte wird für uns sein, nunmehr nicht nur die Pro-



Dr. Karl-Heinz Hornhues
blerne der deutschen Einheit zu lösen — das können wir, das wollen wir und das werden wir bewältigen —, sondern auch Europa weiterzuentwickeln.

(Hinsken [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Ich stimme dem Außenminister da ausdrücklich zu. Dieses Europa war in unseren Augen niemals allein ein Westeuropa. Deswegen begrüßen wir nachdrücklich, daß auch der britische Premierminister, als er kürzlich bei uns war, sehr deutlich — unsere Meinung teilend — gesagt hat, daß die Länder Mittel- und Osteuropas, vor allen Dingen Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn, eine klar definierte, eindeutige Option auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft haben müssen, damit sie ihre Probleme, auch die bei der Stabilisierung der Demokratie, bewältigen können.
Auch glauben wir, meine sehr geehrten Damen und Herren, daß es notwendig sein wird, diesen Ländern, die bis zum 31. März dieses Jahres dem Warschauer Pakt noch formal angehören, die nach neuer Sicherheit in diesem Europa suchen, etwas anderes zu sagen als das, was der Kollege von Bülow von der SPD glaubte anmerken zu müssen. Dieser hatte nämlich für diese Länder nur ein brüskes Nein bezüglich ihres Wunsches, Mitglied der NATO zu werden, übrig.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1201406000
Herr Abgeordneter Dr. Hornhues, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß Ihre Redezeit abgelaufen ist.

Dr. Karl-Heinz Hornhues (CDU):
Rede ID: ID1201406100
Herr Präsident, ich weiß, ich soll zum Schluß kommen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1201406200
Ja. ich versuche, Ihnen seit geraumer Zeit durch ein rotes, blinkendes Signal einen Wink zu geben. Ich wäre dankbar, wenn Sie ihn beachten würden.

Dr. Karl-Heinz Hornhues (CDU):
Rede ID: ID1201406300
Herr Präsident, ich gestehe freimütig, daß ich bewußt weggeguckt habe, um das nicht sehen zu müssen.
Ich danke Ihnen für Ihre Geduld und Ihre Aufmerksamkeit und hoffe, meine sehr geehrten Damen und Herren, daß wir — bei aller Kontroverse in den Beratungen, die wir in den nächsten Jahren vor uns haben — zu einer gescheiten Zukunft für Deutschland, für Europa kommen werden.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1201406400
Meine Damen und Herren, wir kommen nun zu einem neuen Kapitel. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Götte.

Dr. Rose Götte (SPD):
Rede ID: ID1201406500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die neue Bundesfamilienministerin hat kürzlich mit Bundeswehrflugzeug, klimatisiertem Reisebus und einer stattlichen Anzahl von Begleitpersonen eine Tagesreise in die neuen Bundesländer unternommen. „Schnupperkurs" hat sie das gegenüber der „Bild"-Zeitung genannt, einen Schnupperkurs bei sage und schreibe zwei sozialen Einrichtungen. Damit hat sie vor allen Dingen den Medien und den mitreisenden Journalisten deutlich gemacht: So einfühlsam schnuppert die neue Ministerin die Probleme in den neuen Bundesländern auf.
Ich erwähne das, weil diese Bildungsreise ein Schlaglicht auf die Familien- und Seniorenpolitik dieser Regierung wirft. Schnuppern, Betroffenheit zeigen, Pressekonferenzen machen, viel reden, alles beim alten lassen. Das ließe sich an der Seniorenpolitik nachweisen und erst recht bei der Familienpolitik.
Nehmen wir den Familienlastenausgleich. Bekanntlich gehört es zum Ton eines jeden guten CDU- Politikers, in jeder Sonntagsrede zu fordern, daß die Unterstützung der Familie allererste Priorität in der Politik haben müsse.
Die gleichen Abgeordneten haben zu Hause — säuberlich abgeheftet, nehme ich an — zwei Urteile des Bundesverfassungsgerichts liegen, die besagen, daß das Existenzminimum aller Familienmitglieder steuerfrei zu belassen sei, wobei offengelassen wird, ob der Staat durch Steuerfreibeträge, durch Kindergeld oder durch eine Kombination von beidem den Familien helfen will.
Wo sonst hat es das schon einmal gegeben, daß ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts einfach ignoriert wird?

(Beifall bei der SPD — Hinsken [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! Haben Sie den Finanzminister gestern nicht gehört?)

Was hätte eine fähige Ministerin mit diesem Urteil im Rücken nicht alles aus den Koalitionsverhandlungen herausholen können!

(Beifall bei der SPD)

Statt dessen erleben wir, wie sowohl Frau Lehr als auch jetzt Frau Rönsch stumm in der Ecke des Kabinetts sitzen und damit Beihilfe zu dem Versuch leisten, die Bedeutung dieses Urteils zu verniedlichen, nicht zur Kenntnis zu nehmen, zu verdrängen.

(Hinsken [CDU/CSU]: Frau Rönsch ist eine ganz tüchtige Frau!)

Vor der Wahl hat die CDU so manches versprochen. Es wundert einen schon gar nicht mehr, daß die lange Liste der gebrochenen Wahlversprechen, die wir gestern und heute vorgelegt haben, noch um einen weiteren Punkt ergänzt wird. Minister Waigel hat nämlich an derselben Stelle, an der ich jetzt hier stehe, am 25. Oktober 1990 den Eindruck erweckt, er wolle allen Familien die zuviel abgezogenen Steuern zurückzahlen, denn — Zitat Waigel — „es wäre in der Tat wohl nur schwer verständlich und schwer begreiflich zu machen, daß diejenigen, die keinen Einspruch eingelegt haben, schlechter als diejenigen behandelt werden, die Einspruch eingelegt haben".
In Rheinland-Pfalz gibt es einen Finanzminister, der durchs Land gereist ist und ebenfalls den Menschen verkündet hat: Selbstverständlich werden wir nach diesem Bundesverfassungsgerichtsurteil allen Familien die zuviel gezahlten Steuern zurückzahlen. Dafür werden wir als rheinland-pfälzische Landesregierung



Dr. Rose Götte
aber eintreten! Nichts ist geschehen. Auch das ist Geschwätz von gestern.

(Matthäus-Maier [SPD]: Leider, leider!)

Eine Rückzahlung sollen nun lediglich die erhalten, die Widerspruch eingelegt haben. Wer aber auf die Rechtmäßigkeit der Besteuerung vertraut und keinen Einspruch eingelegt hat, soll leer ausgehen. Das ist ungerecht.

(Beifall bei der SPD)

Aber Ungerechtigkeit scheint sich langsam zum Markenzeichen dieser Regierung zu entwickeln. Ist es etwa gerecht, daß die Beiträge für den Kindergarten steuerlich nicht abgesetzt werden können, wohl aber die Kosten für ein privates Kindermädchen?

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

Ist es etwa gerecht, daß Millionäre mit einer Streichung der Vermögensteuer rechnen können, während kleine Leute auf vieles verzichten müssen, damit die Kosten der deutschen Einheit aufgebracht werden? Ist es etwa gerecht, daß das Kind eines Besserverdienenden zur Zeit monatlich 184 DM vom Staat erhält, während das Kind eines Kleinverdieners nur 98 DM erhält?

(Hinsken [CDU/CSU]: Alles Klassenkampfparolen!)

— Sie nennen das Klassenkampf, Herr Kollege, ich nenne das Ungerechtigkeit.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE — Hinsken [CDU/CSU]: Sie müssen bei der Wahrheit bleiben! Sie haben doch heute den Bundeskanzler gehört!)

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bezog sich auf die Jahre 1983 bis 1985. Der Grundsatz aber, daß das Existenzminimum aller Familienmitglieder einer Familie steuerfrei zu bleiben hat, gilt natürlich auch für die Jahre danach. Und was tut die Regierung?

(Zuruf von der SPD: Sie irrt!)

Meine Damen und Herren, es ist sicher kein Zufall, daß es die neue Familienministerin bei ihrer ersten Vorstellung vor der Presse und im Ausschuß peinlich vermieden hat, irgendwelche Daten zu nennen, als es um die Verbesserung des Familienlastenausgleichs ging. Sofort, hat sie gesagt, werde sie beginnen, sich Gedanken zu machen. Eine Erhöhung des Kindergeldes wird es aber erst 1992 geben, und zwar nur für das erste Kind und auch da nur um 20 DM; ein Hohn, wenn man bedenkt, daß das Kindergeld von 50 DM seit 1975 keine Aufstockung erfahren hat.

(Hinsken [CDU/CSU]: Die SPD hatte es sogar einmal gesenkt!)

Das heißt im Klartext: Trotz des Urteils des Bundesverfassungsgerichts bleibt der Tatbestand bestehen, daß die Familien den ihnen zustehenden finanziellen Ausgleich weder rückwirkend noch in der Gegenwart, noch in der näheren Zukunft erhalten sollen.
Ich schlage vor, meine Damen und Herren von der CDU, daß Sie in Zukunft die Passagen über die angeblich so familienfreundliche CDU-Politik aus Ihren Sonntagsreden streichen.

(Beifall bei der SPD — Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Wir haben doch erhöht, während Sie gesenkt haben! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

— Das stimmt ja nicht. Meine lieben Kollegen, ich habe Ihnen schon hundertmal vorgerechnet, wie Sie 1982 die Ausgaben für die Familie zusammengestrichen und dann fast sechs Jahre gebraucht haben, bis Sie die alte Höhe der Ausgaben von 1981 wieder erreicht hatten; ich habe das schon so oft vorgerechnet.

(Beifall bei der SPD — Hinsken [CDU/CSU]: Keine Ahnung! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Tatsache ist, daß die Familien in Zukunft — und wir reden jetzt von der Gegenwart; das interessiert nämlich die Menschen draußen — nicht mehr, sondern weniger Geld in den Taschen haben. Statt den Familienlastenausgleich zu erhöhen, wie Sie das x-mal versprochen haben, haben Sie beschlossen, die Familien erheblich stärker zu belasten.
Jetzt wird der Kollege Faltlhauser auf seine Berechnungen für das Jahr 1992 zurückgreifen und sagen, er habe doch ausgerechnet, daß eine Familie mit zwei Kindern und einem Bruttomonatslohn von 3 500 DM im Jahr 1992 rund 600 DM mehr in der Tasche habe. Da hat der Kollege Faltlhauser in seine Berechnungen natürlich nicht die Haushaltsbeschlüsse der Koalition mit einfließen lassen. Tatsächlich wird es in der Kasse gerade der Familie, die er in seine Berechnungen einbezogen hat, ganz anders aussehen. Wenn ich alle Belastungen zusammenrechne und die erhöhten Zinsen außen vorlasse, die ich auch dazurechnen könnte, dann werden die Familien in der Kasse ein Loch von 1 200 DM haben. Das heißt, Sie geben den Familien 1 200 DM weniger und nicht 600 DM mehr. So sieht die Wirklichkeit der CDU-Familienpolitik aus.

(Beifall bei der SPD — Matthäus-Maier [SPD]: Deswegen muß die CDU weg!)

Meine Damen und Herren, Sozialdemokraten verstehen unter Familienpolitik etwas anderes.

(Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Das haben wir gemerkt!)

Wir wollen, daß alle Familien, denen zuviel Steuern abverlangt wurden, einen Ausgleich erhalten, und wir wollen, daß die ungerechten und unzulänglichen Kinderfreibeträge durch ein Kindergeld von mindestens 200 DM pro Kind ersetzt werden.

(Hinsken [CDU/CSU]: Als Sie dran waren, haben Sie gekürzt!)

Die zusätzlichen Mittel, die Sie ab 1992 für die Familie ausgeben wollen, sollen für eine weitere Erhöhung dieses Kindergeldbetrags verwendet werden.

(Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Stellen Sie sich vor, Sie würden in einer Regierung Finanzminister sein; dann gnade uns Gott!)

Ich meine, daß Sie zu diesen Gedanken nun einmal Stellung nehmen sollten. Ich meine, daß Sie mal zu



Dr. Rose Götte
Ihren Wahlversprechen Stellung nehmen sollten. Ich möchte, daß Sie mal ausrechnen, wie es denn mit dem Familienlastenausgleich in Zukunft aussieht und ob es wirklich stimmt, was Sie behaupten — ich habe es widerlegt — , daß die Familien bessergestellt werden. Das Gegenteil ist der Fall. Sie haben diesen Familien tief in die Tasche gegriffen. Sie haben die Familien im Stich gelassen.

(Lebhafter Beifall bei der SPD — Hinsken [CDU/CSU]: Naiv und primitiv!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1201406600
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Karwatzki.

(Matthäus-Maier [SPD]: Frau Karwatzki, sind Sie auch gegen die Vermögensteuerabschaffung?)


Irmgard Karwatzki (CDU):
Rede ID: ID1201406700
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Götte, ich weiß, es ist Wahlkampf; aber damit kommt man nicht weiter. Man hilft den Menschen überhaupt nicht, wenn Sie hier Unwahrheiten sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie haben 13 Jahre die Chance gehabt, für Familien etwas auf den Weg zu bringen.

(Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Sehr richtig! Da haben die gekürzt! — Zurufe von der SPD)

— Das können Sie ruhig als alten Hut bezeichnen. Nur, wenn wir jetzt einmal anfangen, alle familienpolitischen Maßnahmen aufzuzählen, werden Sie schon merken — —

(Zuruf von der SPD)

— Sie sind ganz neu; da würde ich erst einmal zuhören. Dann können Sie hier auch Ihre Meinung sagen. Ich höre gerne zu. Ich sitze ja da vorne. Ich höre allen immer gerne zu. Das wissen die Kolleginnen. Ich denke, es ist besser, wir hören einander zu, als daß wir alle durcheinanderschreien; das ist nämlich wie im Kindergarten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Kollegin Rönsch wird sicherlich gleich noch etwas zu den familienpolitischen Maßnahmen sagen. Ich will aus der Sicht des Haushalts zu zwei Bereichen Stellung nehmen. Ich bin beauftragt, sowohl für den Bereich Frauen und Jugend als auch für den Bereich Familie und Senioren etwas zu sagen. Ich habe mich entschieden, zu dem Bereich Jugend und Senioren etwas auszuführen.
Es ist sehr begrüßenswert, daß der Bundesjugendplan gegenüber dem Vorjahr mit ca. 48 Millionen DM aufgestockt worden ist. Dieser Zuwachs ist weit überwiegend für den Aufbau von Strukturen der Jugendarbeit sowie die Durchführung jugendpolitischer Maßnahmen in und für die neuen Bundesländer vorgesehen. Es ist verständlich, daß differenzierte Einzelheiten zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht genannt werden können. Entscheidend ist aber, daß die Richtung stimmt.
Auf Grund der deutschen Einigung ergibt sich automatisch für die internationale Jugendarbeit ein Mehrbedarf. Es geht zum einen darum, vertragliche
und gewachsene Jugendbeziehungen der ehemaligen DDR zu übernehmen, aber auch darum, Voraussetzungen für die Teilnahme von Trägern und Jugendlichen aus den neuen Bundesländern an internationalen Jugendbegegnungen wie den deutsch-französischen, deutsch-amerikanischen Begegnungen zu schaffen, aber den Blick auch nach Polen, Ungarn, Tschechoslowakei zu richten.
Im Feld der kulturellen Jugendbildung bedarf es ebenfalls einer besonderen Förderung. Hierfür sind ca. 4 Millionen DM vorgesehen. Gerade kulturelle Gruppen und junge Künstler haben in der ehemaligen DDR durch ihr entschiedenes Engagement den Boden für die deutsche Einigung mit bereitet. Auch dadurch hat die kulturelle Bildung dort im Bewußtsein der Bürger einen besonders hohen Stellenwert.
Die raschen gesellschaftlichen Änderungen treffen die Jugend dort unvorbereitet und führen zum Verlust kultureller Identität. Dadurch werden junge Menschen in erhöhtem Maße anfällig für Auswüchse wie Gewaltbereitschaft, Spiel- und Drogensucht, ja, und leider auch Kriminalität. Wir hier in der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland haben in 40jähriger Demokratie deutlich werden lassen, daß die Herstellung kultureller Identität mit Mitteln kultureller Jugendbildung die beste Form der Prävention ist.
Auch in der sportlichen Jugendbildung, z. B. auch bei den Bundesjugendspielen, ist erhöhter Bedarf anzusetzen, weil die Teilnehmerzahlen entsprechend hoch sind.
Es ist eine Freude, festzustellen, daß gerade im Sektor des freiwilligen sozialen Jahres ein hoher Mehrbedarf für junge Leute in den neuen Bundesländern vorgesehen ist. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird dieser Betrag mit 8,1 Millionen DM beziffert. Ich finde dies richtig.
Es ist auch sehr zu unterstützen, daß neben dem freiwilligen sozialen Jahr hier auch Modelle für freiwillige ökologische Jugendarbeit geschaffen werden. Der Mehrbedarf wird mit 2,1 Millionen DM beziffert. In jedem Bundesland soll ein Projekt mit ca. 60 Teilnehmern durchgeführt werden.
Meine Damen und Herren, die Ausbildungs- und Arbeitsmarktsituation in den neuen Bundesländern erfordert eine verstärkte Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit. Neue Modellprojekte sollen deshalb dazu beitragen, den betroffenen jungen Menschen bei der Eingliederung in das Berufsleben zu helfen. Der hier vorgesehene Mehrbedarf von 9,3 Millionen DM ist gerechtfertigt, ebenfalls der vorgesehene Mehrbedarf von ca. 500 000 DM für die Jugendsozialarbeit zentraler Verbände.
Ich gehe davon aus, meine Damen und Herren, daß im Deutschen Bundestag Übereinstimmung darüber erzielt wird, daß gerade für eine selbständige Mädchenarbeit ca. 5 Millionen DM vorgesehen werden. Die Damen und Herren, die diesem Parlament länger angehören, wissen, daß bereits bei der Beratung des Sechsten Jugendberichtes der Bundesregierung fest-



Irmgard Karwatzki
gestellt wurde, daß erhebliche Defizite im Bereich der Mädchenbildung liegen.

(Zuruf von der SPD: Warum machen Sie dann nicht mehr?)

Als Konsequenz wird dieses neue Programm, mit dem die Entwicklung und Erprobung neuer Ansätze der Mädchenarbeit im Rahmen der Jugendhilfe gefördert werden soll, in den Bundesjugendplan aufgenommen.
Ich will mich auf diese wenigen Bereiche beschränken, wohlwissend, daß noch viel zum Informations-, Beratungs- und Fortbildungsdienst der Jugendhilfe und zu den Erziehungshilfen sowie weiteren unterstützenden Hilfen, zur außerfamiliären und außerschulischen Hilfe für Kinder hätte gesagt werden müssen. Man kann aber in einer so kurzen Zeit nicht alles sagen.
Ich komme zu meinem zweiten Schwerpunkt, der Altenpolitik. Ein Fünftel der Bevölkerung in unserem Land ist heute 60 Jahre und älter. Ihr Anteil ist genauso groß wie der der jungen Menschen unter 20 Jahren. In 30 Jahren aber wird, soweit wir es heute absehen können, schon fast jeder dritte Bürger bei uns älter als 60 Jahre sein. Angesichts dieses sich dramatisch verändernden demographischen Aufbaus unserer Bevölkerung sehe ich darin eine entscheidende gesellschaftliche Herausforderung, der sich die Bundesregierung gestellt hat.
Die Verbesserung der Lebenssituation älterer Menschen durch eine Politik für ältere Menschen und mit ihnen bleibt eine Schwerpunktaufgabe dieser Regierung. Dies bringt klar zum Ausdruck, daß ältere Menschen für uns keine Problemgruppe sind. Politik für Ältere muß sich an den Adressaten und ihren spezifischen Bedürfnissen und weniger an ihrem Alter orientieren. Es sind also individuelle Lösungsansätze in der Altenpolitik gefragt, wenn man nicht Gefahr laufen will, an den eigentlichen Problemen vorbei oder sogar kontraproduktiv zu handeln.
In diesem Jahr ist ein Volumen von 14,5 Millionen zur Förderung von gesellschaftspolitischen Maßnahmen für die ältere Generation vorgesehen. Damit werden insbesondere Materialien zur Unterrichtung älterer Menschen, Forschungs- und Modellprojekte sowie zentrale Maßnahmen und Einrichtungen der Altenhilfe gefördert. Besonders wichtig erscheint mir die Information älterer Menschen über altersgerechtes Verhalten, z. B. über Unfallverhütung oder Freizeitgestaltung, — um zwei Extreme zu nennen.
Von zentraler Bedeutung sind 40 Millionen DM Soforthilfe zur Unterhaltung und Unterstützung der im Aufbau begriffenen Sozialstationen in den neuen Bundesländern, und zwar unter Berücksichtigung der Vielfalt der Träger. Hier wird an die wirksame Förderung des vergangenen Jahres angeknüpft, mit deren Hilfe inzwischen in den neuen Bundesländern mehr als 500 Sozialstationen entstanden sind. Dies wird die ambulante Versorgung älterer Menschen wesentlich verbessern. Außerdem sind diese Mittel für kleinere Reparaturarbeiten in den Altenheimen sowie für die Fortsetzung der Sozialhilfe für die Alten- und Altenpflegeheime dringend erforderlich.
Die Überlegungen im Ministerium für Frauen und Senioren, nach Abklärung aller Gesichtspunkte als mittelfristiges Ziel einen Bundesaltenplan analog dem Bundesjugendplan vorzulegen, sind begrüßenswert. Besonders wichtig in einem neuen Bundesaltenplan sind für mich folgende Zielsetzungen: die Angleichung der Lebensbedingungen für ältere Menschen in ganz Deutschland, die Förderung der gesellschaftlichen Teilhabe älterer Menschen, die Unterstützung älterer Menschen bei Hilfs- oder Pflegebedürftigkeit sowie die Förderung von Selbsthilfeaktivitäten älterer Menschen. Ein mir sehr wichtig erscheinender Gesichtspunkt ist die Stärkung des Zusammenhalts zwischen den Generationen.
Ich begrüße sehr, daß Frau Kollegin Rönsch den Gesetzentwurf über die Ausbildung in der Altenpflege in Kürze erneut einbringen will. Nur eine inhaltlich und finanziell attraktiv ausgestaltete Ausbildung in der Altenpflege auf bundesrechtlicher Grundlage eröffnet die Chance, im Wettbewerb um den Berufsnachwuchs zu bestehen.
Unsere älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger, die wegen Krankheit oder Behinderung auf Hilfe und Pflege angewiesen sind, haben besonderen Anspruch auf unsere Solidarität. Es ist daher nur konsequent, daß das Ministerium für Familie und Senioren seinen Beitrag leistet, um die Situation der Pflegenden und der Pflegebedürftigen zu verbessern.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1201406800
Das Wort hat nun die Abgeordnete Frau Dr. Höll.

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1201406900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der von der Bundesregierung vorgelegte Haushalt weist vielfältige Widersprüche zwischen dem in der Regierungserklärung erhobenen Anspruch auf eine friedensgerichtete, sozial und ökologisch verträgliche Gestaltung des Gemeinwesens Bundesrepublik Deutschland und den im Staatshaushalt real gesetzten Prioritäten auf. Ich frage mich, weshalb die BRD nach Beendigung des Kalten Krieges noch immer einen Rüstungshaushalt benötigt, der annähernd doppelt so hoch ist wie jenes Finanzvolumen, das die Regierung für Frauen, Jugend, Familie und Senioren insgesamt auszugeben bereit ist. Daß Frauen, Familien, Jugendliche und Senioren Sekundärprobleme dieses Staates sind, wird noch offensichtlicher, wenn man die angebotenen Haushaltstitel in den Einzelplänen mit den bestehenden sozialen und politischen Konflikten sowie dem daraus resultierenden Finanzbedarf ins Verhältnis setzt.
Eine Regierung, die Kinderfreundlichkeit, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Verbesserung der Lebenschancen für die Jugend, Achtung und Würdigung des Alters sowie Angleichung der Lebensverhältnisse in allen Bundesländern zum Programm erhebt, sollte auch ihrer eigenen Glaubwürdigkeit halber dieses Programm finanziell entsprechend untersetzen. Da gerade das im Haushaltsentwurf nicht in genügendem Maße zum Ausdruck kommt, sind die Defizite als dringend korrekturbedürftig anzumahnen. So konnte ich im Haushaltsplan für das Bundes-



Dr. Barbara Höll
ministerium für Frauen und Jugend nur einen einzigen auf Frauenpolitik zielenden Finanztitel mit dem beschämenden Umfang von 15 Millionen DM finden.

(Zuruf von der SPD: Mehr gibt es auch nicht!)

Dieser finanzielle und damit eng verbundene Entzug inhaltlicher Kompetenz für Frauenpolitik erweist sich als Ausgangspunkt einer ganzen Reihe politischer und sozialer Folgeprobleme für Frauen, Familien, Kinder und Senioren. Das Hauptproblem Frauenarbeitslosigkeit erscheint weder im Einzelplan 17, Frauen und Jugend, noch im Einzelplan 11, Arbeit und Soziales, als Schwerpunkt. Zwar werden Bundesmittel zur Mitfinanzierung von Frauenarbeitslosigkeit sowie zur Weiterfinanzierung von Nullbeschäftigung und Warteschleifen zur Verfügung gestellt, aber selbst bei Modellprojekten zur Arbeitsplatzbeschaffung spielt Frauenarbeitslosigkeit keine Rolle. Auch das bisherige Modellprogramm zur Wiedereingliederung von Berufsrückkehrerinnen wird im Haushaltsentwurf weder ausdrücklich weitergeführt noch bundesweit in die Praxis übernommen.
Daraus resultiert für mich die Frage, ob die Regierung die Frauenarbeitslosigkeit nicht eher als eine politisch gezielt einsetzbare Variable in ihrer Haushaltsrechnung handhabt.

(Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Quatsch!)

Denn je mehr Frauen aus ihrer Berufstätigkeit vertrieben und an den Herd zurückgeschickt werden, um so weniger Mittel braucht die Regierung für die Schaffung von Kinderbetreuungsplätzen und für die Altenpflege aufzuwenden. Vielmehr werden diese Kosten unter dem Stichwort Subsidiarität auf die Familien abgewälzt.
Für die politische Gestaltung einer familien- und kinderfreundlichen Gesellschaft in unserem Lande hält es die PDS/Linke Liste für notwendig, folgende Maßnahmen durch das Haushaltsgesetz mit dem erforderlichen Finanzrahmen auszurüsten.
Erstens. Der Familienlastenausgleich muß die Existenzsicherung von Kindern unabhängig vom Einkommen der Eltern und in einem dem Zivilisationsniveau der BRD entsprechenden Umfang garantieren. Dazu gehört nicht nur die Sicherung von Nahrung, Kleidung und Wohnung, sondern auch die Finanzierung der Persönlichkeitsförderung, des elternunabhängigen Zugangs zu Kinder- und Jugendkultur, zu sinnvoller Freizeit für jedes Kind.

(Roth [Gießen] [CDU/CSU] : Wie bei den Jungen Pionieren!)

Das jedoch wird mit den derzeit angesetzten Kinderfreibeträgen und dem Kindergeld nicht erreicht.
Zweitens. Im Interesse der Wahlfreiheit, wer von den Eltern ein Kind in den ersten 24 Lebensmonaten betreut, sollte der Haushaltstitel Erziehungsgeld auf eine nettolohnorientierte Zahlung von Erziehungsgeld bei gleichzeitiger Sicherung eines Mindestbedarfs von 1 200 DM für all jene Anspruchsberechtigten angehoben werden, die bisher über ein nur geringes bzw. noch nicht über eigenes Einkommen verfügen. Wir betrachten das für die harmonische Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes als förderlich und als unabdingbare Voraussetzung für die Gleichstellung der Geschlechter innerhalb der Familie.
Drittens erwarten wir auf der Grundlage des in der Koalitionsvereinbarung festgeschriebenen Anspruchs jedes Kindes auf einen Betreuungsplatz konkrete Aussagen zur finanziellen Absicherung der in den neuen Bundesländern bestehenden Einrichtungen und deren qualitative Verbesserung sowie des bedarfsgerechten quantitativen und qualitativen Ausbaus von Kindertagesstätten in den Altbundesländern. Wir sind der Meinung, daß für Aufgaben in diesem Umfang die Finanzmittel keines der Bundesländer bzw. keiner der Kommunen ausreichen. Im Osten ist es die Finanzmisere und im Westen die Masse der notwendigen neu zu schaffenden Ki-Ta-Plätze, die den Einsatz von Bundesmitteln erfordern. Deshalb ist auch die Beteiligung des Bundes an den Kosten der Tagesbetreuung von Kindern in den neuen Bundesländern über die im Einigungsvertrag — Art. 31 Abs. 3 — festgelegte Frist hinaus unverzichtbar.
Viertens. Wir sind der Ansicht, daß Hilfe für Schwangere nicht auf Konfliktsituationen beschränkt werden darf. Es gilt nicht, die flächendeckende Einrichtung von Zwangsberatungsstellen zu finanzieren — Einzelplan 18, Titel 68 558 — , sondern bundesweit eine qualifizierte Schwangerenbetreuung anzubieten. Über einen Schwangerschaftsabbruch sollen die betreffenden Frauen selbst entscheiden bzw. freiwillig Beratung suchen und vorfinden.
Da es aber wesentlich mehr Schwangere gibt, die ihr Kind austragen wollen und der Fürsorge bedürfen, ist es unangemessen, diese Frauen an den Hausarzt zu verweisen. Vielmehr muß der Finanzrahmen im realen Bedarf an Schwangerenfürsorge angepaßt werden. Warum sollte nicht das in der DDR ehemals gut funktionierende System der Schwangerenfürsorge mit kostenloser kontinuierlicher Betreuung durch darauf spezialisierte Ärzte Modellfunktion für die BRD insgesamt erfüllen? Hier wäre ein Beispiel unter vielen, wie die Angleichung an Modellhaftes aus der ehemaligen DDR auch in einem gewichtigen Aspekt die Lebensqualität in den Altbundesländern verbessern könnte.
Wenn die Seniorenpolitik materiell gut ausgestattet wird, dann ist das ein Ausdruck der Achtung und Würdigung eines erfahrenen und arbeitsreichen Lebens. Das ist notwendig, damit die von der Regierung oft hervorgehobene Kompetenz und Selbständigkeit der älteren Generation nicht zur politischen Leerformel verkommt. Das verlangt dringend nach der Angleichung der Lebensbedingungen, konkret der Renten, in allen Bundesländern.
Im Haushaltsgesetz sollte eindeutig festgelegt werden, wie erstens durch die staatliche Förderung der freien Träger der Altenhilfe bundesweit ein angemessener Qualitätsstandard der Altenheime erreicht werden kann, wie zweitens entsprechend dem realen Bedarf die Förderung sowohl neuer Altenheime als auch alternativer Formen der Seniorenbetreuung in Pflegewohnungen und Wohngemeinschaften stimuliert werden kann, wie drittens die weitere Existenz bestehender Pflege- und Feierabendheime gewährleistet wird und wie viertens bei kostendeckenden Preisen



Dr. Barbara Höll
die Finanzierung für Heim- und Pflegeplätze erfolgen soll, ohne die Insassen zu Bittstellern beim Sozialamt zu entwürdigen bzw. sie sozialen Angsten auszusetzen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Nicht Insassen, Bewohner!)

Dies widerspricht den Zielen staatlicher Seniorenpolitik, wie sie von Frau Ministerin Rönsch verkündet wurden.
Die PDS/Linke Liste fordert in diesem Zusammenhang eine nochmalige Prüfung des Haushaltsansatzes sowie eine sozialverträgliche dynamisierte Kostenbeteiligung der betreffenden Senioren für Heim- und Pflegeplätze entsprechend der Rentenangleichung.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1201407000
Nun hat Frau Abgeordnete Dr. Hoth das Wort.

Dr. Sigrid Hoth (FDP):
Rede ID: ID1201407100
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute debattieren wir zum erstenmal nach der Wiedervereinigung einen gemeinsamen Haushalt. Das hat insbesondere auf familienpolitische Bereiche, die heute beraten werden, große Auswirkungen, denn gerade im gesellschaftspolitischen Bereich hat die sozialistische Ideologie zu verheerenden Folgen geführt.
Auch wenn finanzielle Mittel allein nicht genügen werden, Ungleichheiten zu beseitigen, so ist doch der gesamtdeutsche Haushalt ein Ordnungsrahmen, in dem jeder einzelne seine Chancen erhält und in dem die Weichen für Umstrukturierungen gestellt werden.
Umstrukturierungen im frauen-, familien- und jugendpolitischen Bereich sind insbesondere für die neuen Bundesländer wichtig; denn diese Politikbereiche sind unter dem SED-Regime fortwährend mißbraucht worden und dienten weniger emanzipatorischen Zwecken oder dem Wohl der Familie, sondern waren vielmehr Hilfswerkzeuge,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

um einerseits Frauen in die Erwerbstätigkeit zu führen und andererseits die Kinder im Sinne des SED- Regimes zu erziehen.

(Vorsitz: Vizepräsident Helmuth Becker)

Wir wollen zukünftig keine einseitig ausgerichtete Politik. Wir wollen auch kein Überstülpen von Erziehungs- und Verhaltensmustern bei Kindern, in der Familie und bei den Frauen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Wichtig ist jedoch, daß die Familie einen größeren Stellenwert in unserer Gesellschaft erhält, als dies bisher in beiden Teilen Deutschlands der Fall war.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dazu gehört, daß Frauen und Männer individuell entscheiden können, welchen Lebensweg sie einschlagen wollen und wie ihre persönliche Lebensplanung
ist. Uns ostdeutschen Frauen war dies bisher nur begrenzt möglich;

(Widerspruch bei der PDS/Linke Liste)

denn unsere Erwerbstätigkeit war und ist bis heute ein wichtiger Bestandteil des Familieneinkommens. Oder verdient man bei uns jetzt schon so viel Geld?
Deshalb wiegt es um so schwerer, wenn Frauen in den neuen Bundesländern arbeitslos werden oder von der Arbeitslosigkeit bedroht werden. Soforthilfe ist deshalb dringend geboten. Die beiden Ministerien Familie und Senioren sowie Frauen und Jugend, die gemeinsam über Mittel in Höhe von 30 Milliarden DM verfügen, können die Gewähr für eine kurzfristige und schnelle Hilfe in den östlichen Bundesländern bieten. Aber auch einiges, was in den alten Bundesländern seit Jahren nach einem eingefahrenen Schema abgelaufen ist, muß neu überdacht und nachgebessert werden.

(Beifall bei der FDP)

Die Richter in Karlsruhe haben dazu klare Worte gesagt. Der Familienlastenausgleich in seiner heute bestehenden Ausgestaltung reicht nicht aus, um die Grundexistenz eines Kindes sicherzustellen. Wir erwarten, daß die Bundesregierung noch vor der Sommerpause klare Konzepte zur Weiterentwicklung des Familienlastenausgleichs vorlegt.

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abgeordneten Dr. Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE])

Der duale Familienlastenausgleich hat sich bewährt.

(Widerspruch bei der SPD))

— Da sind wir verschiedener Auffassung; aber dies ist meine.

(Anhaltende Zurufe von der SPD)

— Hören Sie doch erst einmal zu. Ich habe Sie doch auch ausreden lassen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Bei einer Weiterentwicklung kann es keinesfalls ausschließlich um eine Erhöhung von Kindergeld und steuerlichen Kinderfreibeträgen gehen.

(Zurufe von der SPD: Aber auch!)

Es hat sich hinsichtlich der Vergangenheit auch gezeigt, daß einige Bevölkerungskreise, wie z. B. die Alleinerziehenden, nicht in den vollen Genuß aller zur Verfügung stehenden Begünstigungen kommen. Deshalb ist es wichtig, ungleiche Behandlung von Kindern zu vermeiden, unabhängig davon, in welcher Familie und unter welchen Umständen sie groß werden.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Wir brauchen deshalb für diejenigen Familien einen Ausgleich, die gegenüber anderen Bevölkerungsschichten benachteiligt sind.

(Zuruf von der SPD: Da hat sie wieder recht!)




Dr. Siegrid Hoth
— Na, sehen Sie. — Ich befürworte daher besonders die Gelder, die direkt den Familien zugute kommen und ihnen helfen, ihren Lebensstandard zu sichern

(Dr. Götte [SPD]: Kindergeld!)

bzw. ihnen eine Basis für ihr weiteres Leben mit Kindern zu geben.
Die Unterstützung der ostdeutschen schwangeren Frauen in Not mit 40 Millionen DM in diesem Haushaltsjahr ist eine solche Maßnahme. Bis ein Netz von Schwangerenberatungsstellen, die unterschiedlichsten Trägern, wie Pro Familia, der Caritas oder der Diakonie — um nur einige zu nennen — , angehören können, in den neuen Bundesländern installiert ist, ist es nur durch einen solchen Hilfsfonds möglich, unbürokratisch und schnell zu helfen. Dies darf jedoch kein Dauerzustand sein. Auch die Bundesstiftung „Mutter und Kind" sollte kein politischer Dauerbrenner werden.

(Beifall bei der FDP)

Denn wir wollen mit einer Neuregelung des § 218 ein Bündel von sozial flankierenden Maßnahmen durchsetzen, auf die Frauen und ihre Familien einen Rechtsanspruch haben — keine Almosen, sondern einen Rechtsanspruch.

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie des Abg. Dr. Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE])

Ich betone das deshalb so eindringlich, weil ich mir der Rückendeckung meiner Kolleginnen und Kollegen in der Koalition gewiß bin.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU — Dr. Wegner [SPD]: Sie sind noch zu gutgläubig!)

— Nein, ich rede ja von den flankierenden Maßnahmen.
In unserem Gesetzentwurf zur Neuregelung des § 218 gehört auch der Ausbau des Bundeserziehungsgeldes, Eingliederungshilfen für Frauen nach der Familienphase, die Möglichkeit der Weiterbildung und Umschulung in Teilzeitformen, die bevorzugte Vergabe von Wohnungen an schwangere Frauen in Konfliktsituationen und vieles mehr dazu.
Ein entscheidender Punkt — für mich der entscheidende Punkt — für die Gestaltung einer kinderfreundlichen Gesellschaft, in der die Vereinbarkeit von Beruf und Familie selbstverständlich sein muß, ist der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Kinder brauchen den Kontakt zu anderen Kindern. Heute wächst aber bereits jedes dritte Kind als Einzelkind auf. Was liegt also näher, als den Kindern den Kontakt untereinander zu ermöglichen?
Wichtig ist aber auch, daß schwangere Frauen, die sich in einer Konfliktsituation befinden, bei ihrer Lebensplanung wissen, was sie in Zukunft erwartet.

(Beifall bei der FDP)

Ungewißheit und die Angst, durch die Aufgabe der Erwerbstätigkeit entstehende finanzielle Engpässe nicht meistern zu können, treiben heute viel zu viele Frauen in die falsche Richtung.
Mit fast 30 Milliarden DM hat die Bundesregierung den Weg bereitet, familien-, frauen- und jugendpolitisch etwas zu bewegen und der Sondersituation 1991 Rechnung zu tragen. Aus haushälterischer Sicht sei abschließend betont: bei allem Verständnis für die berechtigten Wünsche für diese wichtigen Politikfelder sind eine gesunde Wirtschaft, maßvolle Tarifabschlüsse sowie Einsparungen in allen Haushalten die Grundlage für den Auf- und Ausbau unserer Sozialpolitik.

(Beifall bei der FDP)

Deshalb muß es das Ziel unserer weiteren Haushaltsberatungen sein, diesen volkswirtschaftlichen Notwendigkeiten Rechnung zu tragen, damit ein Zusammenwachsen beider Teile Deutschlands auch im sozial- und familienpolitischen Bereich so schnell wie möglich Wirklichkeit wird.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der SPD — Dr. Weng [Gerlingen] [FDP] überreicht der Abg. Dr. Hoth [FDP] einen Blumenstrauß.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201407200
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das war der Beifall für eine Jungfernrede. Früher wurde das hier immer besonders gewürdigt. Ich glaube aber, man darf das an dieser Stelle und bei unserer neuen Zusammensetzung auch heute durchaus noch einmal tun.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Nunmehr hat das Wort Frau Schenk. Bitte sehr.

Christina Schenk (PDS):
Rede ID: ID1201407300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der vergangenen Woche haben wir zwei sehr interessante Papiere auf den Tisch bekommen. Ich meine zum einen die Presserklärung von Frau Merkel zum Internationalen Frauentag, und ich meine zum anderen den Haushaltsplan des Bundesministeriums für Frauen und Jugend. Das Interessante an dieser Presserklärung ist das Programm des Ministeriums für Frauen und Jugend, das in Stichpunkten auf diesem schönen bunten Rand des Papiers wiedergegeben wird. Frauenförderung, so lese ich da, Frauenforschung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Frauenverbände, soziale Sicherung, Schutz von Frauen vor Gewalt — so kommt es da vielversprechend einher. Da lacht das Herz der Feministin — das darf ich Ihnen sagen — , und da freut sie sich. Ja, da freut sie sich so lange, bis sie den Haushaltsplan aufschlägt und dort vergeblich nach den Mitteln sucht, mit denen die bunten Versprechungen finanziert werden sollen.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, der SPD und der PDS/Linke Liste)

Frauen, die der Meinung waren, Frauenpolitik würde in dieser Legislaturperiode ein größeres Gewicht bekommen, werden bitter enttäuscht. Zwar wurde die Abteilung Frauen im ehemaligen Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit zu einem vermeintlichen Ministerium aufgemotzt, mit einer leibhaftigen Ministerin und auch einem eigenen Telefonanschluß, aber das ist dann auch fast schon alles. Der vorliegende Haushaltsplan macht



Christina Schenk
deutlich, daß dieses Ministerium nichts anderes ist als das Feigenblatt für eine absolut patriarchalische und zutiefst frauenfeindliche Politik. — Frau Merkel kann nichts dafür. Zu den Zeiten von Frau Süssmuth und auch von Frau Lehr war das nicht viel anders.

(Zuruf von der CDU/CSU: Da waren Sie noch gar nicht hier!)

Schon im vergangenen Jahr hat der Bundesrechnungshof die Unverhältnismäßigkeit zwischen den hohen Personal- und Sachausgaben der Abteilung Frauenpolitik im Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit und deren geringen Kompetenzen beklagt. Diese Situation — das darf ich hier feststellen — hat sich durch die Umbenennung dieser Abteilung in ein Ministerium nicht im geringsten verändert.
Meine Damen und Herren, für die Erhaltung der Kindertagesstätten in den Ländern der ehemaligen DDR wurde dem Frauenministerium nur eine Milliarde DM bewilligt, obwohl die Bundesregierung genau weiß — das geht auch aus ihrer Antwort auf meine schriftliche Frage vom Februar 1991 hervor —, daß für den Erhalt dieser Kindertagesstätten jährlich an die 7 Milliarden DM benötigt werden. Damit kann die Frau den schönen Programmpunkt Vereinbarkeit von Familie und Beruf, von dem Frau Merkel in ihrer Presseerklärung spricht, gleich wieder vergessen. Nichts ist mehr mit der vielgepriesenen Vereinbarkeit nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten.
Früher war die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für 90 % der Frauen in der DDR zumindest im Grundsatz gegeben. Sie waren ganz selbstverständlich berufstätig, denn sie hatten Tagesstätten für ihre Kinder zur Verfügung.
Jetzt werden Frauen auf den Arbeitsämtern erst gar nicht als Arbeitssuchende registriert, wenn sie nicht nachweisen können, daß ihre Kinder untergebracht sind. Dieser Nachweis ist von Männern noch nie gefordert worden. Das sind Schikanen, die den Frauen in der DDR bisher völlig unbekannt waren.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Die frauenfeindliche Politik der Bundesregierung im annektierten Gebiet hat durchaus Systematik.

(Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: „Annektiertes Gebiet" hat sie gesagt!)

Sie geht dabei zweigleisig vor: Einerseits betreibt sie eine Politik, die zur Arbeitsplatzvernichtung führt — das hat meine Kollegin von der FDP hier so schön deutlich ausgeführt; darüber freue ich mich sehr —, andererseits läßt sie die Kindertagesstätten kaputtgehen. Auf der Strecke bleibt dabei nicht nur die ökonomische Unabhängigkeit der Frauen, also ein Stück ihrer vorher besessenen Freiheit, sondern auch die Interessen der geborenen Kinder.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201407400
Frau Kollegin Schenk, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Eimer?

Christina Schenk (PDS):
Rede ID: ID1201407500
Wenn das nicht auf die Zeit angerechnet wird, bitte.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201407600
Das wird es nicht. — Bitte sehr.

Norbert Eimer (FDP):
Rede ID: ID1201407700
Frau Kollegin. Sie haben gerade vom „annektierten Gebiet" gesprochen. Können Sie mir vielleicht sagen, was Sie darunter verstehen, was Sie mit „annektiertem Gebiet" meinen?

(Zuruf von der PDS/Linke Liste: Die ehemalige DDR!)


Christina Schenk (PDS):
Rede ID: ID1201407800
Sie können in jedem Fremdwörterbuch nachgucken, was Annexion heißt.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS/Linke Liste — Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Befinden Sie sich dann im Exil? — Eimer [Fürth] [FDP]: Sind die nicht freiwillig beigetreten?)

Bei ihrer gegen Frauen gerichteten Politik nimmt die Bundesregierung billigend in Kauf, daß die Entwicklung von Kindern, die mit ihren erwerbslosen Eltern allein zu Hause hocken, ganz erheblich beeinträchtigt wird.
Da hilft auch das Gerede vom Recht auf einen Kindergartenplatz nicht weiter. Wir in der ehemaligen DDR können mit diesem Gerede nichts anfangen. Wir erleben die Verlogenheit der hohlen Worte jeden Tag mit jeder Tagesstätte, die geschlossen, und mit jeder Gruppe, die aufgelöst wird.
Die Tatsache, daß nur knapp 30 % der Mittel, die für die Erhaltung der Kindertagesstätten benötigt werden, von der Bundesregierung bewilligt sind, ist ein Beweis dafür, wie hinterhältig dieser Einigungsvertrag ist und wie wenig die Menschen in der DDR seinerzeit dazu in der Lage waren, seine tatsächlichen Folgen abzusehen.
An dieser Stelle möchte ich unseren — d. h. vom Bündnis 90/GRÜNE — ersten frauenpolitischen Haushaltsantrag ankündigen. Wir fordern, daß die Bundesregierung den Schaden, der den Kindertagesstätten in der ehemaligen DDR durch Ihre Politik entstanden ist, bzw. die Gefahr der Schließung, die den Tagesstätten jetzt droht, abwendet. Wir fordern, daß die Bundesregierung die Finanzierung sämtlicher Kindertagesstätten im Gebiet der ehemaligen DDR so lange übernimmt, bis Länder und Kommunen in der Lage sind, ihren Anteil selber zu tragen. Wir fordern die Erhaltung aller Kindertagesstätten in der ehemaligen DDR über den 30. Juni 1991 hinaus und daher eine ganz erhebliche Erhöhung des entsprechenden Haushaltstitels.

(Borchert [CDU/CSU]: Das glauben Sie doch selber nicht!)

— Wenn ich Ihre Politik so sehe, glaube ich wirklich manches nicht mehr.
Wir dürfen gespannt darauf sein, was das Frauenministerium mit den 15 Millionen DM macht, die — ich zitiere — „für Arbeiten und Maßnahmen auf dem Gebiet der rechtlichen und sozialen Stellung der



Christina Schenk
Frau" vorgesehen sind. Dieses Geld reicht nicht einmal für das Allernotwendigste.
Ein Beispiel: Seit der Vereinigung hat sich die Position der Frauen in der ehemaligen DDR und das Verhältnis von Männern gegenüber Frauen ganz erheblich verschlechtert. Die zunehmende ökonomische Abhängigkeit der Frauen von Männern stärken machistische und auch sexistische Tendenzen. Die Erwerbslosigkeit und die soziale Unsicherheit führen zu einer ungeheuren Zunahme von Aggressivität und Gewalt gegen Frauen und Kinder.
Deswegen wurde vom früheren Frauenministerium der ehemaligen DDR bereits eine Anschubfinanzierung für 18 Frauenhäuser gewährt. Diese reicht jedoch bei weitem nicht aus. In den alten Bundesländern gibt es ca. 200 Frauenhäuser; dementsprechend werden in der ehemaligen DDR ungefähr 50 gebraucht werden. Wir fordern deshalb eine Anschubfinanzierung für 32 weitere Frauenhäuser. Auch dazu werden wir Haushaltsanträge einbringen.
Ein Thema, das unbedingt in den Arbeitsbereich eines Frauenministeriums hineingehört, ist die Förderung der lesbischen Lebensweise als alternativer Lebensform für Frauen, die autonom und frei ist von männlicher Dominanz, zumindest im privaten Bereich. Schätzungsweise 10 % aller Frauen und Mädchen haben sich für diese Lebensweise entschieden. Die jüngst bekanntgewordenen Diskriminierungsfälle zeigen, daß es durchaus notwendig ist, daß sich ein Frauenministerium mit der Situation lesbischer Frauen in der Gesellschaft beschäftigt.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS/Linke Liste)

Die Ministerin und der Staatssekretär machen es sich zu einfach, wenn sie im Ausschuß lapidar feststellen — ich zitiere —, die lesbische Lebensweise sei eine Frage der persönlichen Lebensführung und falle deswegen nicht in den Arbeitsbereich des Frauenministeriums.
Es ist richtig, wenn gesagt wird, die persönliche Lebensführung von Frauen gehe niemanden etwas an. Damit aber lesbisch leben endlich tatsächlich eine Frage der rein persönlichen Entscheidung wird, muß das Problem der gesellschaftlichen Diskriminierung von Lesben vom Frauenministerium aufgegriffen und offensiv angegangen werden. Uns geht es dabei allerdings nicht nur um eine aktive Antidiskriminierungs-politik seitens der Bundesregierung. Es geht uns vielmehr um eine solche Förderung der lesbischen Lebensweise, die der Förderung anderer Lebensweisen in nichts nachsteht.
Zum Beispiel müssen bundesweite Lesbenorganisationen und überregionale Aktionen der Lesbenbewegung von der Bundesregierung finanziell gefördert werden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Auch das noch!)

Im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit des Frauenministeriums müssen lesbische Lebensweisen überall und durchgehend als selbstverständliche Lebensform von Frauen mit benannt werden. Wir werden auch dazu entsprechende Haushaltsanträge stellen.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Mit dem hier vorliegenden Haushaltsentwurf wird das Frauenministerium keinen nennenswerten Beitrag zur Emanzipation von Frauen oder auch nur zur Lösung irgendeines der in dieser Hinsicht anstehenden Probleme leisten können.
Ich möchte mit einem Zitat der Ministerin schließen:
Aktive Politik für Frauen bedeutet, daß Frauen gleiche Chancen in Gesellschaft, Politik und Beruf eröffnet werden. Erfolg hat diese Politik aber nur, wenn Frauen sich zusammenschließen und gemeinsam gleiche Chancen einfordern.
Das klingt sehr gut. Ich meine allerdings, in diesem Fall müssen sich Frauen zusammenschließen, um Druck gegen die offizielle Frauenpolitik dieses Landes zu machen. Ich denke, die großen Demonstrationen, die in den Städten der ehemaligen DDR am 8. März stattgefunden haben, sind ein guter Anfang dafür.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201407900
Meine Damen und Herren, zu einer Kurzintervention hat das Wort der Kollege Eimer von der FDP-Fraktion.

Norbert Eimer (FDP):
Rede ID: ID1201408000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mich zu Wort gemeldet, weil der Begriff „annektiertes Gebiet" gefallen ist.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

Liebe Kollegen, ein frei gewähltes Parlament darf sich so etwas nicht gefallen lassen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir dürfen uns das deswegen nicht gefallen lassen, weil das Parlament nach ersten freien Wahlen nach langen, langen Jahren in der DDR zustande gekommen ist.

(Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Zurücknehmen!)

Ich möchte Sie deswegen bitten, daß Sie dieses Wort zurücknehmen. Es widerspricht den Fakten, den Tatsachen, und es beleidigt die Bürger, die sich in freien Wahlen für die Wiedervereinigung ausgesprochen haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201408100
Das Wort hat nunmehr die Ministerin für Familie und Senioren, Frau Rönsch.

Hannelore Rönsch (CDU):
Rede ID: ID1201408200
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin Götte, ich mußte mit großem Erstaunen zur Kenntnis nehmen, daß Sie Ihre Meinung offensichtlich nach der Lektüre von nur einer Tageszeitung bilden. Ich werde Ihnen das Ergebnis der Reise in der Berichterstattung der Presse übersenden und bitte Sie, das sehr aufmerksam durchzulesen. Ich würde Ihnen empfehlen, eine gleiche Reise anzutreten. Ich glaube, dann empfinden Sie die Betroffenheit über solche Einrichtungen.



Bundesminister Hannelore Rönsch
Es war nicht meine erste Reise in eines der fünf neuen Bundesländer. Es war meine erste Reise nach Mecklenburg. Das Wort „Schnupperkurs" ist im Zusammenhang mit der Eintragung ins Goldene Buch und der Einladung des Oberbürgermeisters zu einem Urlaub im Sommer an der Ostsee, den ich dort mit meiner Familie verbringen werde — auf eigene Kosten, damit es auch da kein Mißverständnis gibt — gefallen. Ich habe gesagt: Ich habe die Ostseeluft jetzt von dieser Seite geschnuppert. Ich werde das auch in Zukunft tun.
Ich bitte Sie, die Presseberichterstattung der Journalisten sehr aufmerksam zu lesen, die bei dieser Reise tatsächlich dabei waren. Noch einmal empfehle ich Ihnen: Machen auch Sie solche Reisen! Das geht unter die Haut.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich hätte mir gewünscht, Frau Kollegin Götte, daß es einige sehr konstruktive Beiträge für die Arbeit in den nächsten vier Jahren gegeben hätte. Die einzige Forderung, die ich erfahren habe, war eine Erhöhung des Kindergeldes auf 200 DM. Das ist natürlich ein gewaltiger Sprung, wenn man bedenkt, daß noch 1981 das Kindergeld für arbeitslose Jugendliche abgeschafft wurde.

(Zuruf von der CDU/CSU: Durch die SPD!)

Durch die SPD, die im Jahre 1981 an der Regierung war. Ich will auch noch einmal daran erinnern, daß durch die Sozialdemokraten die Kinderfreibeträge gestrichen worden sind.

(Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: So war es!)

Der Haushalt des Ministeriums für Familie und Senioren wird mit 28,783 Milliarden DM der viertgrößte Einzeletat im Haushalt des Bundes sein. Ich meine, das ist ein stolzer Betrag.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Das Kindergeld mit über 21,5 Milliarden DM und die steuerlichen Freibeträge stellen das materielle Rückgrat der Familienpolitik in den neuen wie in den alten Bundesländern dar.
Die Mittel für das Erziehungsgeld betragen 1991 5,8 Milliarden DM. Den Finanzrahmen steigern wir gegenüber dem Vorjahr um 1,3 Milliarden DM; denn heute haben die Familien in ganz Deutschland Anspruch auf die Leistungen der Familienpolitik. Wir setzen damit unsere Politik der Stärkung für die jungen Familien und für die Familien im allgemeinen fort.

(Zuruf von der PDS/Linke Liste: Haben wir alles gelesen!)

— Die Familien haben jetzt — das sage ich an Ihre Adresse, meine Damen und Herren Kollegen von der PDS, weil Sie sagen: Wir haben das alles gelesen! — einen anderen Stellenwert. Wir wollen nicht beide Ehepartner in den Produktionsprozeß pressen, sondern wir wollen freie Entscheidungen.

(Erneute Zurufe von der PDS/Linke Liste)

Wir wollen nicht, daß die Kinder zwangsweise schon
sehr früh in die Kinderbetreuungseinrichtungen geschickt werden, sondern dies soll auf freiwilliger Basis geschehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir werden zusätzliche Hilfsmittel für die Familien in den fünf neuen Bundesländern zur Verfügung stellen. Ich nenne beispielsweise die 40 Millionen DM für die werdenden Mütter in Not und die Förderung der bisher 69 Schwangerenberatungsstellen in den fünf neuen Bundesländern.
Weitere 40 Millionen DM setzen wir für Soforthilfeprojekte in den neuen Ländern ein. Der Auf- und Ausbau von Sozialstationen — bisher 500 — und Investitionen in Behinderten- und Altenheime können hieraus bestritten werden.

(Zurufe von der PDS/Linke Liste: Hätten Sie das Bestehende erhalten, brauchten Sie jetzt nicht aufzubauen!)

— Das Bestehende wollen wir nicht erhalten. Um Himmels willen: Ich bitte Sie, nicht mit geschlossenen Augen durch die ehemalige DDR zu gehen, sondern sich auch einmal Alteneinrichtungen anzusehen und dann neu zu urteilen. Ich würde es Ihnen wünschen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der Maßnahmenkatalog gilt auch für das neue Gemeinschaftswerk, aus dem 5 Milliarden DM für kommunale Investitionsprogramme bereitstehen. Hiermit lösen wir eine, wie ich meine, entscheidende Initialzündung aus, die unterstützt wird durch weitere 5 Milliarden DM für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Damit können dann endlich sozialpflegerische Aufgaben wahrgenommen werden, und das ist eine bedeutende Entlastung für die kommunalen und die freien Träger.
Der Revolvingfonds, aus dem die Kredite für die Sanierung von sozialen Einrichtungen vergeben werden, wird um 25 Millionen DM erweitert. Diese Mittel sollen vor allem den freien Wohlfahrtsverbänden zugute kommen, die dort ihre Arbeit aufgenommen haben und denen ich gerade von dieser Stelle aus meinen herzlichen Dank für ihre Arbeit in den fünf neuen Bundesländern sage; denn sie leisten dort hervorragende Arbeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Die neu hinzugekommenen Aufgaben in den fünf neuen Bundesländern erfordern aber noch weitergehende Unterstützung. Der Aufbau der freien Wohlfahrtspflege muß noch weiter ausgebaut werden. Der freiheitliche Sozialstaat muß sich in den fünf neuen Bundesländern noch weiter durchsetzen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir erkennen heute in der Altenpolitik zwei große Aufgaben. Es leben heute in Deutschland 16 Millionen Menschen über 60 Jahre. Ihr Anteil steigt, und im Jahr 2000 wird bereits jeder vierte Bürger über 60 Jahre alt sein. Ich habe großen Respekt vor der Lebensleistung der älteren Generation. Ihre menschlichen wie beruflichen Erfahrungen sind von großem Wert für die Gesellschaft, und sie dürfen nicht verlorengehen. Die



Bundesminister Hannelore Rönsch
über 60jährigen haben heute neue Chancen der gesellschaftlichen Beteiligung und der Mitsprache. Dem tragen wir Rechnung und fördern das Selbstbewußtsein der Älteren und die Partnerschaft zwischen den Generationen.
Die Lebensverhältnisse der Seniorinnen und Senioren in den neuen Ländern müssen dringend denjenigen in den alten Ländern angeglichen werden. Gemeinsam müssen wir sie dann noch verbessern.
Diesem Ziel gilt das gesonderte Hilfsprogramm mit den folgenden Schwerpunkten: dem weiteren Aus-und Aufbau von Sozialstationen zur besseren ambulaten Versorgung der älteren und behinderten Mitbürger, der Modernisierung und Sanierung der Alten-, Altenpflege- und Behindertenheime, der Förderung der Altenhilfeberatung mit dem Ziel, das Fachwissen von Spezialisten gerade für die älteren Menschen zu gewinnen.
Mit dem vorliegenden Haushalt leisten wir einen beachtlichen Beitrag zur Meisterung der anstehenden altenpolitischen Herausforderungen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Um zugleich aber auch den wachsenden Bedarf an Hilfe und Pflege besser absichern zu können, werden wir ein Gesetz über die Ausbildung in der Altenpflege einbringen. Der so schwere Dienst an und für Menschen muß auch für die Pflegekräfte humaner gestaltet werden. Nur eine attraktive Ausbildung in der Altenpflege auf einer bundesrechtlichen Grundlage eröffnet die Chance, im Wettbewerb um den Berufsnachwuchs bestehen zu können.
Die Altenpflegeberufe müssen den Krankenpflegeberufen gleichgestellt werden. Dies bedeutet: eine dreijährige Regelausbildung, die Gewährung eines Anspruchs auf Ausbildungsvergütung und den Schutz der Berufsbezeichnung.
Nur mit einem klaren, bundeseinheitlichen Berufsprofil sowie der weiteren materiellen und strukturellen Besserstellung der Pflegekräfte kann der Abbau des Fachkräftemangels in der Altenpflege gestoppt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Es darf nicht sein, daß das Mehr an Arbeit auf immer weniger Schultern ruht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Den ehemaligen und den in den fünf neuen Ländern weiter tätigen Gemeindeschwestern will ich sagen: Ihre reichhaltige Berufserfahrung, ihr langjähriges praktiziertes Wissen darf nicht verlorengehen. Vielmehr soll es berufsqualifizierend in das neue Ausbildungsprofil eingehen. Ich werde mich dafür einsetzen, daß es entsprechende Überleitungsregelungen geben wird.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, dem Schutz des ungeborenen Lebens muß eine neue Priorität beigemessen werden. Experten schätzen die bedrückende Zahl von jährlich über 300 000 Schwangerschaftsabbrüchen in ganz Deutschland. Dem darf
man nicht tatenlos zusehen. Ich vertrete daher eine Familienpolitik, die das Ja zum Leben unterstützt.

(Würfel [FDP]: Wir auch!)

— Frau Kollegin Würfel, ich würde mir gerade bei diesem Punkt wünschen, daß wir tiefernst auf einer ethischen Grundlage gemeinsam diskutieren und um den besten Weg ringen, ohne daß wir uns in parteipolitisches Zanken verrennen. Ich meine, daß es gerade dieser wirklich schwierige Punkt für Frauen, für Männer, für ihre Familien verdient, außerhalb jeglicher Parteientaktik und jeglichen Parteiengezänks zu bleiben. Ich erhoffe mir, daß wir nach der Diskussion, nach einem halben oder dreiviertel Jahr, hier im Parlament zu einem breiten Konsens finden werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Mein Zehn-Punkte-Programm weist den richtigen Weg. Ich meine, daß Eltern eine Lebensperspektive für ihre Kinder brauchen. Deshalb spreche ich mich für einen Rechtsanspruch auf Schwangerenberatung aus, bei der für die schwangere Frau und ihre Familie eine tragfähige Lebensplanung über die Geburt des Kindes hinaus erarbeitet wird. Das Kindergeld und der Kindergeldzuschlag, das Erziehungsgeld und der Erziehungsurlaub, das Wohngeld und die Sozialhilfe gehören genauso selbstverständlich zu den materiellen Stützen für die Familien wie die Leistungen aus der Bundesstiftung „Mutter und Kind" mit jährlich 140 Millionen DM und aus dem „Hilfsfonds für schwangere Frauen und Not" , von dem ich bereits gesprochen habe, der momentan in den neuen fünf Bundesländern besteht.
Familien brauchen auch Zeit für Kinder. Deshalb wird das Erziehungsgeld zum 1. Januar 1983 um weitere sechs Monate auf dann 24 Monate verlängert,

(Zurufe von der SPD)

der Erziehungsurlaub mit Beschäftigungsgarantie schon zum 1. Januar 1992 auf drei Jahre gesetzlich abgesichert.

(Zurufe von der SPD: 1983?)

— 1993. Ich hätte mir gewünscht, wenn wir es schon 1983 gehabt hätten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Damals haben wir die Regierung angetreten und dann konsequent gehandelt. Bis 1983 gab es in diesem bzw. in dem Haus dort drüben eine andere Mehrheit.
Damit haben Mütter und auch Väter Kündigungsschutz, die dann das Glück haben, ein Landeserziehungsgeld zu bekommen. Die Länder Bayern, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und auch Berlin, nachdem es eine neue Regierung hat, haben ein Erziehungsgeld eingeführt. Ich meine, auch die sozialdemokratisch regierten Bundesländer sollten sich jetzt dazu entschließen.

(Zustimmung bei der CDU/CSU und der FDP)

Familien brauchen Geld für Kinder. Zum 1. Januar des kommenden Jahres wird das Kindergeld auf 70 DM erhöht. Einkindfamilien in den neuen Bundes-



Bundesminister Hannelore Rönsch
ländern erhalten bereits ab dem 1. Januar 1991 das jetzt auf 65 DM erhöhte Kindergeld.
Gemeinsam mit dem Kindergeld wird der steuerliche Kinderfreibetrag das Existenzminimum sichern. Was Eltern und Kinder an Lebensnotwendigem benötigen, darf nicht dem Zugriff des Staates unterliegen. Wir werden die erste Stufe des Kinderlastenausgleichs noch in der Sommerpause bewerkstelligen und nach der Sommerpause vorlegen. Die zweite Stufe folgt noch in dieser Legislaturperiode.
Alleinerziehende Mütter und Väter brauchen auch finanzielle Sicherheit. Die Bezugsdauer für den Unterhaltsvorschuß werden wir verdoppeln. Wir werden gleichzeitig sicherstellen, daß Kinder bis zum Alter von zwölf Jahren berücksichtigt werden können.
Ich meine ferner: Kinder brauchen Kinder. Zusammen mit den Ländern wollen wir daher einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ab dem dritten Lebensjahr durchsetzen.

(Zurufe von der SPD)

— Ja, ich glaube daran. Hier kommt gerade ein Kollege aus Rheinland-Pfalz. Er wird mir bestätigen können, daß Rheinland-Pfalz einen derartigen Rechtsanspruch jetzt durchgesetzt hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der SPD)

— Ich glaube, was Nordrhein-Westfalen angeht, nicht daran, denn ich habe bei einer Diskussion mit Johannes Rau vor drei Wochen von diesem vernommen: Nein, das werden wir hier doch nicht durchführen. — Ich muß sagen: Kein Land ist gehindert, diesen Rechtsanspruch endlich durchzusetzen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201408300
Frau Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Götte? — Bitte.

Dr. Rose Götte (SPD):
Rede ID: ID1201408400
Frau Minister, denken Sie dabei an eine Lösung nach dem Beispiel Rheinland-Pfalz? Das Land Rheinland-Pfalz schreibt einen Rechtsanspruch ins Gesetz, ohne den Kommunen einen Pfennig aus Landesmitteln dafür zu geben.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Frau Götte, das, was Sie da erzählen, stimmt doch so gar nicht! Keine Ahnung!)


Hannelore Rönsch (CDU):
Rede ID: ID1201408500
Frau Götte, momentan ist ja Wahlkampf in Rheinland-Pfalz, und ich nehme an, Sie sind dann abends öfter zu Hause. Ich darf Ihnen doch abnehmen, daß Sie sich auch einmal angesehen haben, wie die Regelung aussieht. Auch im Haushalt von Rheinland-Pfalz ist dafür Geld vorgesehen.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: So ist es!)

Sie hätten heute morgen auch den Ministerpräsidenten, der ja hier war, fragen können. Ich kann Ihnen den Betrag nicht nennen, weil ich mich nicht unmittelbar um den Haushalt von Rheinland-Pfalz gekümmert habe. Ich habe nur mit großer Freude vernommen: Rheinland-Pfalz hat den Anspruch gesetzlich verankert. Ich würde Ihnen empfehlen, Johannes Rau
doch einmal zu bitten, in den Haushalt von RheinlandPfalz hineinzusehen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Götte [SPD]: Ohne zusätzliche Mittel!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201408600
Frau Minister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Frau Dr. Höll?

Hannelore Rönsch (CDU):
Rede ID: ID1201408700
Aber gern.

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1201408800
Frau Ministerin, nur eine kurze Verständigungsfrage, die Sie mir in der letzten Ausschußsitzung leider nicht beantworteten. Was verstehen Sie unter einem Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz? Ich meine, zwei Teile Deutschlands hatten ein unterschiedliches Verständnis darüber, was ein Kindergartenplatz ist.

Hannelore Rönsch (CDU):
Rede ID: ID1201408900
Ich kann Ihnen das gern noch einmal sagen. Ich habe soeben schon versucht, das deutlich zu machen. Ich will nicht, daß jede Mutter, jeder Vater ihr bzw. sein Kind abgeben muß.

(Zurufe von der SPD)

— Ja, das Wort „abgeben" war für mich symptomatisch für die Familien in der damaligen DDR, weil nur vom Abgeben der Kinder gesprochen wurde.

(Dr. Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Sie haben keine Ahnung von den Problemen!)

— Doch, ich habe ein wenig Ahnung von den Verhältnissen in der ehemaligen DDR, weil ich seit 27 Jahren regelmäßig dort war und mich mit sehr vielen jungen Frauen, jungen Müttern unterhalten habe, die ihre Kinder abgeben mußten. Das verstehe ich nicht darunter.

(Zustimmung bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich meine, daß — z. B. ähnlich wie in Rheinland-Pfalz — Kindergarten-, Kinderbetreuungsplätze mit einem Deckungsgrad von 95 % geschaffen werden müssen, so daß jede Familie die Möglichkeit hat, wenn sie es wünscht, einen Kindergartenplatz zu bekommen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201409000
Frau Minister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Frau Dr. Höll?

Hannelore Rönsch (CDU):
Rede ID: ID1201409100
Aber klar.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201409200
Bitte.

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1201409300
Frau Ministerin, Sie haben zwar geantwortet, aber nicht auf meine Frage. Mein Kind geht in den Kindergarten. Habe ich dann nur noch einen Anspruch auf einen Kindergartenplatz von früh um acht bis halb zwölf, d. h. müßte ich dann von der Arbeit nach Hause kommen, um Mittag zu kochen, oder ist es ein Rechtsanspruch auf eine ganztägige Betreuung? Diese beiden Möglichkeiten gibt es.




Hannelore Rönsch (CDU):
Rede ID: ID1201409400
Aber, Frau Kollegin, es gibt doch in den fünf neuen Bundesländern wie auch hier die verschiedensten Kinderbetreuungseinrichtungen. Ich nehme an, daß Sie sich nach dem Verlauf Ihrer Berufstätigkeit dann den Kinderbetreuungsplatz für Ihren Sohn oder Ihre Tochter, der der Arbeitszeit angepaßt ist, aussuchen.

(Dr. Höll [PDS/Linke Liste]: Ich möchte wissen, ob ich einen Anspruch auf eine ganztägige Betreuung habe!)

— Es soll eine Abdeckung durch die einzelnen Bundesländer erfolgen. Sehen Sie sich das Modell in Rheinland-Pfalz mit einer Deckung von 95 % an. Ich wünsche mir, daß auch bei Ihnen in den fünf neuen Bundesländern ein System geschaffen wird, damit Sie Ihr Kind dort abgeben können.

(Dr. Höll [PDS/Linke Liste]: Wir hatten in der DDR 100%!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201409500
Frau Minister, gestatten Sie noch eine weitere Zwischenfrage von Frau Weyel?

Hannelore Rönsch (CDU):
Rede ID: ID1201409600
Ja, das ist die letzte.

Gudrun Weyel (SPD):
Rede ID: ID1201409700
Frau Rönsch, können Sie uns sagen oder wissen Sie überhaupt, wie viele Kindergärten im Gebiet der alten Bundesrepublik eine Ganztagsbetreuung über die Mittagspause hinaus anbieten? Es sind ganz, ganz wenige, weil in den meisten Fällen keine Möglichkeit besteht, sie zu betreiben, da auch gesagt wurde, die Nachfrage ist zu gering.

(Bundesminister Hannelore Rönsch: Ganz genau, Frau Weyel!)

Weil Sie ständig auf Rheinland-Pfalz abheben, frage ich Sie, ob Ihnen bewußt ist, daß dieses Gesetz sehr jungen Datums ist — es ist nämlich erst wenige Wochen alt —,

(Zuruf von der SPD: Für den Wahlkampf!)

daß in der Realität ein großer Mangel an Kindergartenplätzen besteht und daß es Orte gibt, in denen kein Kind vor dem vollendeten fünften Lebensjahr in den Kindergarten aufgenommen wird?

Hannelore Rönsch (CDU):
Rede ID: ID1201409800
Liebe Kollegin Weyel, Sie haben sich eigentlich die Frage schon selbst beantwortet. Sie haben nämlich gesagt, daß Kindergärten und andere Kinderbetreuungseinrichtungen deshalb mittags schließen, weil kein Bedarf da ist.

(Widerspruch bei der SPD)

Genau das war die Antwort von Frau Weyel eben in ihrer Zwischenfrage. Ich kann Ihnen versichern, genau das ist auch mein Ziel. Ich wünsche mir, daß nach Bedarf Kindergärten oder sonstige Kinderbetreuungseinrichtungen vorhanden sind, daß aber Mutter oder Vater die Möglichkeit gegeben ist, wenn sie nur halbtags arbeiten, ihr Kind mittags mit nach Hause zu nehmen, so daß dann kein Bedarf für Ganztagsbetreuungseinrichtungen da ist.
Ich will noch einmal auf Rheinland-Pfalz zurückkommen. Ich sagte gerade schon, daß vor 14 Tagen der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz in Rheinland-Pfalz sichergestellt wurde.

(Dr. Niehuis [SPD]: Wie lange regiert die CDU schon in Rheinland-Pfalz?)

Der Deckungsgrad beträgt 95 %.

(Zuruf von der CDU/CSU: Seit zehn Jahren schon, Frau Minister!)

Ich meine, das ist eine stolze Zahl.
Ich wundere mich schon ein bißchen darüber, daß gerade die Sozialdemokraten, denen von führenden sozialdemokratischen Ministerpräsidenten immer wieder bescheinigt wird, daß ein Rechtsanspruch nicht notwendig ist, an dieser Stelle doch sehr stark Laut geben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich würde Ihnen empfehlen: Reden Sie mit Johannes Rau.
Jetzt werde ich in meiner Rede fortfahren, weil Familien noch mehr brauchen. Familien brauchen nämlich auch Wohnungen. Werdende Mütter und Alleinerziehende sollen deshalb bei der Vergabe von Wohnungen bevorzugt werden. Ich meine auch, daß gerade auf dem freien Wohnungsmarkt die Familien mit Kindern nicht diskriminiert werden dürfen. Kinder bedeuten Leben, Freude und Zukunft, natürlich manchmal auch Lärm. Aber ihnen darf ein angemessenes Zuhause nicht verweigert werden.
Kinder brauchen zudem Pflege. Mütter oder Väter, die sich um ein krankes Kind bis zu zwölf Jahren kümmern müssen, sollen zukünftig die Möglichkeit zur Freistellung von der Arbeit bis zu zehn Tagen erhalten. Bei Alleinerziehenden sind es 20 Tage.

(Dr. Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Das ist aber großzügig! — Dr. Höll [PDS/Linke Liste]: Wir hatten vier Wochen!)

Bei einer 38,5-Stunden-Woche, meine ich, ist das doch ganz angemessen. Freistellungstage sollen von den Alleinerziehenden, aber auch von verheirateten Müttern und Vätern in Anspruch genommen werden können.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe einige Aussagen zum Zehn-Punkte-Programm vorgetragen, die ich jetzt nicht weiter ausführen will und kann, weil die Zeit davonläuft.
Aber ich meine, daß wir die Sozialpartner in die Verantwortung nehmen müssen. Die Bedürfnisse der Familien müssen stärker in die Arbeitswelt eingehen. Um diesem Ziel näherzukommen, beabsichtige ich, noch in diesem Frühjahr die Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter zu einem Gespräch einzuladen, weil ich meine, daß die Arbeitszeiten familienfreundlicher und nicht die Familien arbeitszeitfreundlicher werden müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Mein Arbeitsprogramm will die Familien und die Solidarität der Generationen stärken. Jeder Mensch, gleich ob jung oder alt, ob Mann oder Frau, braucht



Bundesminister Hannelore Rönsch
Geborgenheit und die vertrauensvolle Bindung zum Nächsten und an seine Familie. Wer dies verkennt, der, meine ich, ignoriert auch sträflich das Wesen und die innersten Wünsche der menschlichen Natur. Ein isoliertes und lediglich als Arbeitsfaktor betrachtetes Individuum besitzt kein menschliches Antlitz. Ich sehe es als meine vordringlichste Aufgabe an, den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes die für sie und ihre Familien notwendigen Hilfen zu geben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201409900
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben eine Geschäftsordnung, in der Zwischenfragen vorgesehen sind. Das sollen aber nie Dialoge werden. Deswegen haben wir in die Geschäftsordnung noch etwas anderes eingefügt, und zwar den § 27, nämlich Zwischenbemerkung, wie der Titel heißt. Wir nennen das Kurzinterventionen, und dazu hat jetzt das Wort zunächst Frau Abgeordnete Schenk vom Bündnis 90.

Christina Schenk (PDS):
Rede ID: ID1201410000
Aus großer Betroffenheit möchte ich einige Worte zu der Intervention des Kollegen Eimer von der FDP sagen. Offensichtlich besteht bei einigen Kollegen und Kolleginnen hier im Hohen Hause im Zusammenhang mit der Benützung des Begriffes „Annexion" ein Erklärungsbedarf. Zunächst zeigt die Empörung über die Verwendung dieses Begriffs, daß Sie keine Vorstellungen davon haben, was bei uns in der ehemaligen DDR vor sich geht, was die Menschen jetzt denken und was sie jetzt fühlen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sind Sie die einzigen Abgeordneten?)

Sie erleben den totalen Zusammenbruch von Strukturen, die ein Mindestmaß an Existenzsicherheit bedeutet haben. Frauen erleben mit lähmendem Entsetzen — ich muß das hier so klar sagen —, wie ihnen die Grundlagen für ihre Emanzipation, für eine menschenwürdige Existenz genommen werden. Die ökonomische Selbständigkeit nicht auf der Grundlage von Almosen, sondern auf der Grundlage von selbst erarbeitetem eigenem Einkommen auf Grund qualifizierter Berufstätigkeit ist darin ein zentraler Aspekt.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: War das, was vor drei Jahren da war, menschenwürdig?)

Diese ökonomische Selbständigkeit von Frauen wird mit dieser Regierung nicht mehr herstellbar sein. Das muß einmal so klar gesagt werden.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der SPD und bei der PDS/Linke Liste — Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: War das, was vor drei Jahren da war, menschenwürdig?)

Der Anschluß der DDR an die BRD nach Art. 23 des Grundgesetzes ist auf der Grundlage — ich sage es hier ganz klar — eines Bluffs zustande gekommen. Die Bundesregierung und der Kanzler an erster Stelle haben da erklärt, niemandem werde es schlechter gehen. Ich sage nur: Machen Sie eine Fahrt in die fünf neuen Bundesländer oder in das beigetretene Gebiet.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Machen wir! Samstag/Sonntag bin ich doch wieder dort!)

Fazit: Ich nehme diesen Begriff hier nicht zurück. Er entspricht meinem Fühlen. Ich weiß auch, daß er dem Fühlen und Denken sehr vieler Frauen, wenn nicht der Mehrheit, entspricht.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201410100
Meine Damen und Herren, das Wort zu einer weiteren Intervention hat Frau Margot von Renesse von der SPD-Fraktion.

Margot von Renesse (SPD):
Rede ID: ID1201410200
Ähnlich wie der Kollege Eimer über eine Bemerkung in der Rede zuvor bin auch ich zu dieser Kurzintervention geschritten, weil mich einiges, Frau Ministerin, in der Rede, die Sie gehalten haben, bis zum Erschrecken geschmerzt hat. Das eine ist das, was Sie über die Feierabendheime sagen, die Sie in der DDR gesehen haben. Auch ich habe vor einem halben Jahr eine solche Reise gemacht und teile Ihre Bestürzung über das, was sich dort abspielt. Auf der anderen Seite frage ich mich, wenn ich Ihren Haushaltsplan sehe: Bis wann glauben Sie eigentlich bei den Mitteln, die Sie genau für diese Dinge einsetzen, vernünftige und auch für uns lebenswerte Verhältnisse für diejenigen geschaffen zu haben, die jetzt wirklich in der Verantwortung unseres Landes, unseres gemeinsamen Landes — und das heißt in erster Linie: Ihres Ministeriums — stehen? Ich kann mir vorstellen, daß Sie nach den dort ausgeworfenen Mitteln und dem Sanierungs- und Neubaubedarf, der sich dort auftut, sehr lange warten werden.
Das zweite, was mich schmerzt: Auch wenn Sie über die Familienstruktur in der DDR sprechen — Stichwort: abgeben; Sie sprachen von „abgeben müssen" —, teile ich Ihre Ablehnung, in die Familie, die der Ort der Freiheit ist, von Staats wegen hineinzuregieren, sei es, daß man abgeben muß, sei es, daß man für ein Kind keinen Kindergartenplatz findet und es nicht kann. Beides ist verhängnisvoll, weil es dem Grundgesetz von Familie, das Freiheit ist, widerspricht. Aber wenn Sie von der Familie in der DDR sprechen wie gerade hier und auch im Ausschuß, habe ich das Gefühl, daß wir dort nach 40 Jahren eines bestimmten und schrecklichen Systems in politischer Hinsicht nur noch Monster haben, die sich auch nicht mehr über Weihnachtsgeschenke freuen, wo die Kinder ihre Eltern nicht lieben, die Eltern ihre Kinder nicht, die Männer ihre Frauen nicht, und die Frauen nicht ihre Männer. Das stimmt nicht.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wer hat denn so etwas gesagt!)

Der real existierende Materialismus seit der Öffnung der Mauer ist für die Familien verhängnisvoll geworden.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201410300
Meine Damen und Herren, für Kurzinterventionen sind zwei Minuten vorgesehen. Ich bitte, sich daran zuhalten.



Vizepräsident Helmuth Becker
Das Wort zu einer Kurzintervention hat jetzt Frau Barbe, SPD-Fraktion.

Angelika Barbe (SPD):
Rede ID: ID1201410400
Auch ich bin hier jetzt wegen des Hinweises von Frau Rönsch aufgesprungen; denn ich habe meine Kinder in der DDR selbst erzogen. Ich bin zu Hause gewesen, aber nicht deshalb, weil ich die Familienpolitik so toll fand, sondern weil die Qualität der Kindererziehung gelitten hat. Da müssen wir ganz viel Geld hineinstecken. Es geht nicht darum, Kinderbetreuungseinrichtungen kaputtzumachen, sondern es geht darum, mit viel Geld gute Betreuung anzubieten. Das müssen wir schon deshalb tun, weil auch die alleinerziehenden Frauen, von denen wir in der ehemaligen DDR viel mehr haben, ein Recht darauf haben, daß die Kinder unter guten Bedingungen erzogen werden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
Ich bitte Sie auch, hier die Fachleute zu Rate zu ziehen und sie anzuhören. Diese sagen Ihnen: Natürlich braucht ein Kind einen Bezugspartner, aber es muß nicht unbedingt die Mutter sein. Und da frage ich jetzt die Regierung: Welche Schlüsse ziehen Sie aus den Studien, die vorliegen, in denen ganz klar wird, daß der Erziehungsurlaub dazu beiträgt, daß Frauen aus dem Arbeitsmarkt ausgegliedert werden? Da muß sofort reagiert werden. Ein ganz wichtiger Punkt.
Das nächste ist:

(Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Ist doch Debatte, Herr Präsident! — Bohl [CDU/ CSU]: Wir wollen auch noch fertig werden, Herr Präsident!)

Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um die soziale Kompetenz der Männer zu erhöhen, die ja an Kompetenz gewinnen, wenn sie die Kindererziehung in die Hand nehmen? Wieviel Prozent der Männer machen das, und welche Möglichkeiten gibt es hier?
Ein Letztes: Ich habe Angst vor dem Binnenmarkt, der sich 1992 eröffnet. Denn da haben nur die gut qualifizierten Mobilen eine Chance, und das sind dann nicht die Frauen. Das heißt in der Zukunft: Langzeitarbeitslosigkeit für Frauen. Ich denke, da besteht Handlungsbedarf.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201410500
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gab jetzt drei Kurzinterventionen. Die Frau Ministerin hat sich inzwischen gemeldet. Aber ich glaube, es war gut, daß wir erst alle drei abgewartet haben.
Frau Minister, Sie haben jetzt das Wort.

Hannelore Rönsch (CDU):
Rede ID: ID1201410600
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Ich werde natürlich nicht noch einmal auf alles eingehen können. Ich sehe mich aber in vielem mit Ihnen einig: Natürlich müssen Kinderbetreuungseinrichtungen auch in der Qualität verbessert werden. Damit ihre Ausstattung verbessert wird, damit sie saniert und ihre Schäden behoben werden, ist die erste Milliarde geflossen.
Ich bin Ihnen aber, Frau von Renesse, ausgesprochen dankbar dafür, daß Sie mir noch einmal die Gelegenheit geben, von hier aus auf unser Gemeinschaftswerk hinzuweisen. Mit diesem Gemeinschaftswerk,
das in der vorletzten Woche aufgelegt wurde, haben wir 5 Milliarden DM in die Kommunen und Landkreise gegeben, so daß die Bürgermeister, die Oberbürgermeister oder die Landräte die dringend zur Sanierung anstehenden Altenheime, Altenpflegeheime, Krankenhäuser und Schulen jetzt in eigener Entscheidung sanieren können. Ich erhoffe mir, daß sich ein Ortsbürgermeister vor Ort jetzt ganz schnell ausrechnet — die Formel dafür ist: Zahl der Einwohner mal 300 DM; so viel macht das nämlich aus — , was ihm in seiner Gemeinde, in seiner Region an Mitteln für die Sanierung von Altenpflegeeinrichtungen zur Verfügung steht. Das soll die ersten, übelsten, schlimmsten Schäden, die vorhanden sind, beseitigen.
Weitere Gelder sind im Haushalt. Wir haben im Revolving Fund 25 Millionen DM, mit denen ebenfalls geholfen werden kann. Nur, ich bin dankbar, daß ich auf dieses Gemeinschaftswerk noch einmal hinweisen konnte.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201410700
Wir fahren jetzt in der Debatte fort. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Wegner, SPD-Fraktion.

Dr. Konstanze Wegner (SPD):
Rede ID: ID1201410800
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Aufgabe ist es heute, aus der Sicht der Haushaltspolitik etwas zur Familien-, Senioren-, Jugend- und Frauenpolitik zu sagen, oder — konkreter — über das, was von dem ehemaligen Lehrschen Bauchladen-Ministerium nach Abtrennung des Gesundheitsministeriums übriggeblieben ist.
Ob sich diese Art der Aufteilung — wir hatten sie ja selbst gefordert, aber haben sie uns so nicht vorgestellt — in drei Ministerien mit sehr geringen finanziellen Spielräumen und auch mit zahlreichen Kompetenzüberschneidungen langfristig bewähren wird, darf man bezweifeln.

(Beifall bei der SPD)

Die „Stimme der Familie", das Organ des Familienbunds der Deutschen Katholiken, also wirklich kein linkes Kampfblatt, hat diese Art der Aufspaltung dann auch sehr hart kritisiert und hat festgestellt: Jetzt fehlt nur noch ein Ministerium für Männer und Haustiere.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

Sinn und Ziel dieser chirurgischen Operation war wahrscheinlich auch weniger eine effiziente Familien-, Senioren- und Frauenpolitik auf den Weg zu bringen, sondern Sinn und Ziel dieser Operation war vermutlich die Pflichtaufgabe für Kanzler Kohl, drei Damen als Ministerin in sein Kabinett zu holen. Wir wünschen den drei Damen eine glückliche Hand bei der Ausübung ihrer Aufgaben, und wir hoffen, daß sie sich sehr wenig streiten werden, denn der Bundesrechnungshof schläft nicht und wird irgendwelche Kompetenzrangeleien, die dann sicher teuer würden, mit Argusaugen überwachen. Ich wünsche Ihnen also, daß Sie sich gut vertragen und keine Abgrenzungsprobleme bekommen.
Nun zunächst zur sogenannten Familienpolitik, wie sie sich in den Koalitionsvereinbarungen — die sollte



Dr. Konstanze Wegner
man auch immer einbeziehen — und im Haushaltsentwurf darstellt. Wir haben es schon gehört, das Bundesverfassungsgericht hat ein sehr bemerkenswertes Urteil, das auch die Familienverbände sehr beschäftigt, gefällt. Es wurde festgestellt, daß der Familienlastenausgleich in den Jahren 1983 bis 1985 nicht verfassungskonform war, weil das Existenzminimum für die Familie bzw. für die Kinder nicht freigestellt war.
Die Regierung reagiert darauf in erstaunlicher Weise. Erstens. Sie lehnt es ab, ihren Fehler sofort zu korrigieren und kassiert, wenn ich recht unterrichtet bin, in diesem Jahr die überhöhten Mittel, rund 6 Milliarden DM, weiter.
Zweitens. Sie belohnt alle diejenigen, die sich einen Steuerberater halten können und deshalb rechtzeitig Einspruch eingelegt haben. Nur die, die das gemacht haben, sollen eine Rückerstattung erhalten.
Die weitere Reaktion der Regierung auf das Urteil: Erhöhung der Kinderfreibeträge um rund 1 000 DM, Erhöhung des Kindergeldes für das erste Kind ab 1. Januar 1992 um 20 DM, ist für uns Sozialdemokraten sozial ungerecht, unzureichend und außerdem bürokratisch außerordentlich aufwendig. Das sollte gerade die Haushälter interessieren.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

550 Millionen DM müssen derzeit jährlich aus dem Bundeshaushalt an die Bundesanstalt für Arbeit für die Auszahlung des Kindergeldes erstattet werden. Da ist der SPD-Vorschlag, ein gleiches Kindergeld für jedes Kind in Höhe von mindestens 200 DM, Verzicht auf die steuerlichen Freibeträge und Abwicklung durch das Finanzamt, nicht nur sozial gerechter, sondern auch in der Durchführung wesentlich weniger aufwendig.

(Beifall bei der SPD)

Auch sonst hat Ihre Familienpolitik durchaus eine unsoziale Schlagseite. Sie kennen sicher alle die farbige Persönlichkeit Mayer-Vorfelder, Baden-Württembergs Finanzminister. Er neigt sehr zu markanten Sätzen, und so hat er auch mal den Ausspruch getan, er, Mayer-Vorfelder, werde nicht daran denken, Ganztagsschulen zu bauen, damit sich die Arztfrau verwirklichen könne. Jetzt ermöglicht es die Regierung dieser Arztfrau, 18 000 DM pro Jahr bei der Steuer für eine Haushaltshilfe abzusetzen. Ich muß sagen, dies ist auch eine Art der Selbstverwirklichung. Dieses Privileg kostet den Steuerzahler immerhin fast 600 Millionen DM im Jahr. Für dieses Geld könnte man Ganztagsschulen bauen, die Mayer-Vorfelder nicht wollte, man könnte auch 35 000 Kindergartenplätze davon schaffen.
Ein weiteres Beispiel zu Ihrer Familienpolitik aus dem Haushalt. Sie halten eisern an ihrem Ideologietitel „Zukunft der Familie", der mit immerhin 17,5 Millionen DM bestückt ist, fest. Ich freue mich da, denn da kriege ich Deckungsvorschläge für die Beratungen. Aber er beinhaltet nichts als Selbstdarstellungsmaßnahmen des Ministeriums. Andererseits stocken Sie die Zuschüsse an die Wohlfahrtsverbände für die Ausführung zentraler Aufgaben nur um lächerliche 10 Millionen DM auf. Wie sollen die Wohlfahrtsverbände damit zurechtkommen, zumal gerade in den neuen Bundesländern jede Menge Aufgaben auf sie wartet?
Die Senioren oder die alten Menschen kommen in den Koaltionsvereinbarungen nicht vor. Indirekt betroffen sind sie aber sehr wohl; denn das wichtigste sie betreffende sozialpolitische Vorhaben am Ende dieses Jahrhunderts, die Pflegeversicherung, wird vertagt. Dabei ist dieses Problem so brisant, daß es keinen Aufschub duldet. Diskutieren Sie mit der Bevölkerung. Die Menschen sind bereit, die relativ geringen Pflichtbeiträge, die dazu notwendig sind, zu bezahlen, wenn ihnen dafür dieses zentrale Lebensrisiko abgenommen wird.

(Beifall bei der SPD)

In der CDU hat ja im Hinblick auf Pflichtversicherung offenbar ein Umdenkungsprozeß stattgefunden. Das ist sehr erfreulich. Hier sind jetzt die Liberalen die Bremser; sie wollen die Privatversicherung für die Wohlhabenden und weiter die Sozialhilfe für die Schwachen.

(Zuruf von der FDP: So sehen wir das nicht! — Lachen und Zurufe von der SPD)

— Ich lasse mich gerne korrigieren. Von einem Konzept für Altenpolitik ist nichts zu erkennen, zumindest nicht im Haushalt. Für den Aufbau von Sozialstationen in der ehemaligen DDR werden lediglich 40 Millionen DM zur Verfügung gestellt, obgleich nach Meinung aller Experten mindestens die dreifache Summe notwendig wäre. Die Mittel für die Maßnahmen für die ältere Generation — ich glaube, das war Frau Kollegin Lehrs ehemaliges Lieblingskind — werden nun gekürzt, obgleich die Zahl der alten Menschen in unserer Gesellschaft — zumindest nach meinen Informationen — ständig steigt.
Dazu kommt noch die Absicht des Finanzministers, mittelfristig die Zuschüsse für die Zivildienstleistenden im mobilen Sozialdienst und bei der Schwerstbehindertenbetreuung abzuschaffen. Ich hoffe, daß wenigstens Staatssekretär Carstens da ist — aber es ist niemand von der Finanzpolitik hier. Ich kann Minister Waigel nur raten, daß er die Zivis mal vor Ort bei ihrem Einsatz begleitet. Vielleicht ist er dann zu einem Umdenken bereit.

(Beifall bei der SPD)

Ein wirklicher Skandal ist, daß die Hilfe für behinderte Menschen, die ganze mickerige 3,8 Millionen DM beträgt, lediglich auf 4,5 Millionen DM aufgestockt wurde. Offenbar hat diese Gruppe, der es am allerschlechtesten geht, im Ministerium nicht den geringsten Stellenwert. Vielleicht gibt es in der ehemaligen DDR keine Behinderten!
Die Jugendpolitik findet in den Koalitionsvereinbarungen auch nicht statt. Im Haushalt hat sie einen Niederschlag gefunden; das ist richtig, Frau Kollegin Karwatzki. Der Bundesjugendplan ist aufgestockt worden. Das begrüßen wir. Aber Jugendpolitik hat natürlich auch etwas mit Kinderbetreuungseinrichtungen zu tun. Dazu kann ich mir Ausführungen ersparen; das ist hier im Dialog mit der Kollegin Rönsch erledigt worden. Man kann nur sagen: was die ehe-



Dr. Konstanze Wegner
malige Bundesrepublik angeht, befinden wir uns, was die Versorgung mit Betreuungseinrichtungen betrifft, auf dem Status eines Entwicklungslandes.

(Sehr wahr! bei der SPD)

Die Regierung will einen Rechtsanspruch auf Kindergarten im Jugendhilferecht verankern. Wir begrüßen das. Das war unsere eigene Forderung. Aber die Regierung drückt sich, und da hilft jetzt der Hinweis auf Rheinland-Pfalz und ein schnelles Gesetz vor der Wahl überhaupt nicht. Ich kenne die Situation vor Ort. Die Regierung drückt sich um die Finanzierung der zusätzlichen Plätze, die notwendig werden, um die Volldeckung zu erreichen. Sie schiebt damit das Problem an die Länder und an die Kommunen und indirekt natürlich auch an die Eltern weiter.
Hinsichtlich der fünf neuen Bundesländer hat sich der Bund verpflichtet, bis zum 30. Juni 1991 für die Kinderbetreuungseinrichtungen mit aufzukommen. Dafür ist ja auch eine Milliarde im Haushalt. Das klingt so ganz gut; aber Sie wissen selbst, daß diese Summe überhaupt nicht ausreicht. Die Länderminister hatten ja auch ausgerechnet, daß sie 3,4 Milliarden DM brauchten. Ich frage Sie einfach: Was geschieht nach dem 30. Juni 1991 mit den Kinderbetreuungseinrichtungen in der ehemaligen DDR? Entweder muß der Bund hier weiter direkt helfen, oder Sie müssen sofort einen anderen Länderfinanzausgleich zustande bringen. Wenn hier nichts geschieht, werden weitere Kinderbetreuungseinrichtungen in der ehemaligen DDR schließen, und damit wird die Frauenarbeitslosigkeit dort dramatisch ansteigen. Ich glaube, so hatten sich die Frauen dort die Wiedervereinigung nicht vorgestellt.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frauenpolitik ist der letzte, aber für mich nicht unwichtigste Schwerpunkt meiner Rede. Die Koalitionsvereinbarung zur Frauenpolitik stellt ein wahres Sammelsurium dar. Da gibt es Vernünftiges, da gibt es Überflüssiges, und es gibt auch Dinge, die sehr wichtig wären, die aber überhaupt nicht benannt sind. Für frauenpolitische Maßnahmen im engeren Sinne stehen im Einzelplan 17 ganze 15 Millionen DM zur Verfügung. Angesichts eines Gesamtvolumens des Bundeshaushalts von über 400 Milliarden DM ist diese Summe lächerlich gering. Darin sind 5 Millionen zur Verlängerung der Modellprojekte zur Wiedereingliederung von Frauen nach der sogenannten Familienphase enthalten.
Wir haben nichts gegen diese Projekte. Aber man muß sich klar machen, daß immer nur eine relativ geringe Anzahl von Frauen in den Genuß dieser Segnungen kommt. Außerdem haben sie den Nachteil, den Modellprojekte nun einmal haben, daß sie irgendwann auslaufen und daß es dann nichts mehr gibt. Deshalb wäre uns viel lieber gewesen, wenn der Rechtsanspruch auf Umschulung und Fortbildung wiederhergestellt würde, wie er vor der 9. AFG- Novelle bestanden hat.

(Beifall bei der SPD)

Die Regierung plant auch ein Artikelgesetz zur Gleichstellung. Wir begrüßen das. Wir werden auf der Basis unseres eigenen Gleichstellungsentwurfs, der leider vom Bundestag in der vorigen Legislaturperiode abgelehnt wurde, konstruktiv mitarbeiten. Wir werden sehr genau prüfen, ob in Ihrem Entwurf die Verankerung der Förderung von Frauen im öffentlichen Dienst, die Abschaffung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse und die gesicherte Teilzeitarbeit enthalten sind.
Wir begrüßen die geplante Ausweitung des Erziehungsgelds und des Erziehungsurlaubs mit Beschäftigungsgarantie. Wir müssen aber immer wieder darauf hinweisen, daß das Erziehungsgeld als solches viel zu niedrig ist. In dieser Höhe kann es den ausgefallenen Lohn nicht ersetzen.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Deshalb werden Sie auch damit nicht zu einem veränderten Rollenverhalten zwischen Männern und Frauen kommen; denn für 600 DM bleibt kein deutscher Mann zu Hause.

(Männle [CDU/CSU]: Einige wenige!)

— Ganz wenige; unter den jungen.

(Männle [CDU/CSU]: Zu wenige!)

— Auch meiner täte es nicht.

(Männle [CDU/CSU]: Einigen wir uns auf „wenige" ! )

Zentrale Probleme der Frauenpolitik bleiben aber in den Koalitionsvereinbarungen und im Haushalt unberücksichtigt. In den Vereinbarungen findet sich nichts zum Thema der Gewalt gegen Frauen und Kinder, obwohl die Überfüllung der wenigen Frauenhäuser, die wir in der ehemaligen DDR haben, zeigt, wie brisant auch dort das Gewaltproblem ist. Wir finden nichts zum Thema der Armut von Frauen, weder zur Armut von Alleinerziehenden noch zur Altersarmut von Frauen. Wir finden nichts zu besonders schwierigen Situationen von Frauen in den neuen Bundesländern.
Die Frauen dort sind nämlich — und das zeichnet sich immer mehr ab — die Verliererinnen der Vereinigung. Das beweist auch die letzte Infas-Umfrage sehr deutlich. Nur 31 % der befragten dortigen Frauen sehen hoffnungsvoll in die gesamtdeutsche Zukunft; eine weit größere Zahl, nämlich 38 %, hat sich außerordentlich skeptisch geäußert. Wir sollten diese Ängste sehr ernst nehmen.
Für die Frauen in der ehemaligen DDR entfallen nämlich neben den unbestrittenen Nachteilen und Mißständen des alten Systems die Vorteile, die sie unbestrittenermaßen dort hatten, nämlich sichere Arbeitsplätze, gesicherte Kinderbetreuung, ein hoher Grad an Berufstätigkeit, günstigere Berechnung der Frauenrenten und die Fristenlösung bei Schwangerschaftskonflikten. Statt dessen erfahren sie nun die gesamtdeutschen Benachteiligungen, die unser Leben hier nach wie vor prägen. Gucken Sie ins Arbeitsleben oder in die Politik oder in familiär-partnerschaftliche Beziehungen!



Dr. Konstanze Wegner
Ich sage am Schluß noch etwas Persönliches. Ich bin fest überzeugt: Wenn wir die Gleichberechtigung nicht auf einen abstrakten Verfassungsgrundsatz reduzieren wollen, wie es jetzt ist, dann brauchen wir auf gewisse Zeit Fördermaßnahmen für Frauen in den Verfassungen.

(Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ Linke Liste)

Wenn wir das nicht ganz konkret dort einfügen, wird es uns nicht gelingen, die Kluft zwischen dem Verfassungstext und dem Alltag, wie wir ihn alle erleben, zu schließen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201410900
Meine Damen und Herren, die nächste Rednerin ist Frau Michalk von der CDU/CSU-Fraktion. Sie haben das Wort.

Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1201411000
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der öffentlichen Diskussion der letzten Tage und Wochen dreht sich mehr oder weniger alles ums Geld. Vor allem von der linken Seite höre ich heute schon den ganzen Tag: wir fordern, wir fordern, wir fordern. Es gibt ein sorbisches Sprichwort:
Hdžcž pjenjezy rěča, woněmì prawda.

(Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Bravo!) Das heißt:

Dort, wo das Geld spricht, verstummt das Recht.
Daß dem nicht so ist, beweist, daß man sich sehr wohl auch Gedanken zu anderen Themen und hier zu Fragen der Familienpolitik macht.
Es ist entscheidend, welche Unterstützung der Staat einräumt. Die Familie ist die kleinste Zelle der Gesellschaft. Daß die Bundesregierung ein Familienministerium geschaffen hat, ist Ausdruck der Wahrnehmung der erhöhten Verantwortlichkeit in diesem wichtigen Bereich.
Es ist ein Erfordernis und uns auch ein Herzensanliegen, ständig über die Verbesserung der Familienpolitik nachzudenken und Verbesserungen einzuleiten. Ohne Zweifel muß die Familie die echte Förderung auch in finanzieller Hinsicht erfahren. Allerdings hat der Staat keine Berechtigung, unmittelbar in die Familie hineinzuwirken. Das habe ich selber 40 Jahre lang erlebt, und ich weiß, wie auf diese Weise ein verzerrtes Familienbild entstanden ist. Das hat oft genug den Familienmitgliedern zum Nachteil gereicht, sei es ideologisch, bildungspolitisch oder auch materiell. Die Förderung der Familie durch den Staat ist auf ein kinderfreundliches Land ausgerichtet. Herr Lafontaine meinte gestern, man sollte ein sehr hohes Kindergeld zahlen und nicht den Trauschein honorieren. Diese Familienpolitik ist mir unverständlich.

(Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei der SPD)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201411100
Kollegin Michalk, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Matthäus-Maier?

Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1201411200
Die beste Möglichkeit, sich selbst kennenzulernen, ist der Versuch, andere zu verstehen. Deshalb hören Sie bitte erst zu!

(Beifall bei der CDU/CSU — Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Frau Matthäus-Maier, setzen!)

Die Koalitionsvereinbarung bringt insbesondere für die Familien mit Kleinkind einen erheblichen Fortschritt: drei Jahre Erziehungsurlaub, zwei Jahre Erziehungsgeld des Bundes sowie die Aufforderung an die Länder, jeweils von sich aus zusätzlich ein drittes Jahr Erziehungsgeld zu gewähren.
Die neuen Länder können dies allerdings aus eigener Kraft kaum leisten. Daher wäre hier ein entsprechendes Angebot besonders wichtig, auch als mögliche Alternative zur Kinderkrippenbetreuung, zumal da diese im Einzelfall erheblich aufwendiger ist als die Zahlung eines Erziehungsgelds von 600 DM.
Die Familienförderung in den neuen Bundesländern sollte auch als Chance für die Schaffung gesünderer gesellschaftlicher Strukturen genutzt werden. Dies könnte im wesentlichen durch eine Umschichtung von öffentlichen Mitteln erreicht werden, die andernfalls für die Absicherung Arbeitsloser, für Sozialhilfe oder Kinderkrippenfinanzierung ausgegeben werden müssen.
Ich bin dem Familienbund der deutschen Katholiken dankbar, daß in der Stellungnahme des Zentralen Familienrates vom 10. März 1991 auch die besondere Situation der Familien in den neuen Bundesländern in einem sehr konstruktiven Sinn gewürdigt worden ist. Viele Familien in den neuen Bundesländern haben gegenwärtig noch unvertretbare finanzielle Notsituationen durchzustehen. Sie sind beispielsweise auch noch nicht hinreichend über Ansprüche auf Sozialhilfe oder ergänzende Hilfe informiert. Auch hier haben wir einen Nachholbedarf.
Die tiefgreifenden Veränderungen, die sich in unserem Land vollziehen, schlagen sich auch familienorganisatorisch nieder. So muß manch eine Familie in den alten Bundesländern längere Zeit auf den Vater oder die Mutter verzichten, weil sie sich in den neuen Bundesländern engagieren. Andererseits müssen Familien wochentags auf ihren Vater verzichten, weil er sich aus beruflichen Gründen in den westlichen Ländern aufhält. Die Notwendigkeit der Beschaffung finanzieller Grundlagen, aber auch der Reiz des Kennenlernens einer funktionierenden Marktwirtschaft machen manch einer Familie die Entscheidung schwer, entweder bei der Familie zu bleiben und mit Arbeitslosengeld zu leben oder die angebotenen Chancen der Weiterbildung und der Arbeitsplatzvermittlung in den alten Bundesländern zu nutzen.
Aus familienpolitischer Sicht muß ich also fordern, schnellstens wirtschaftliche Voraussetzungen in diesen Gebieten zu schaffen, damit diese Alternativen nicht mehr so verschärft einander gegenüberstehen und damit vor allem unsere Dörfer nicht vereinsamen. Aber ich betrachte es als Errungenschaft, daß die Fa-



Maria Michalk
milie in ihrem eigenen Interesse frei entscheiden kann.
Zu einer vernünftigen Familienpolitik gehört ebenso die Frage einer vernünftigen Familienplanung. Die Fristenlösung nach herkömmlichem DDR-Recht ist für mich noch nie ein geeignetes Mittel zur Familienplanung gewesen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Küster [SPD]: Was empfehlen Sie denn?)

Es geht um soziale und bewußtseinsbildende Maßnahmen; es geht um die Würde des Menschen.

(Dr. Küster [SPD]: Bewußtsein hatten wir schon einmal!)

Es geht aber auch darum, die Achtung vor dem vorgeburtlichen Leben zu bewahren. Wir denken über dieses Problem intensiv nach, auch, weil wir einen Auftrag aus dem Einigungsvertrag zu erfüllen haben.
Das falsche Bild, das uns gemalt wurde, bricht zusammen, wenn man die Auswertung der Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage des Instituts für angewandte Sozialwissenschaft analysiert. Demnach stehen bei den Befragten der fünf neuen Bundesländer Beruf und Arbeit nicht an erster Stelle, sondern es ergibt sich eine eindeutige Priorität für die eigene Familie und für Kinder auf Platz 1. An zweiter Stelle wurden Partnerschaft und an dritter Stelle Wohnung genannt. Erst an vierter Stelle rangieren Beruf und Arbeit. Das stimmt mich hoffnungsvoll. Aber es wird nicht zugelassen, daß die Probleme der Arbeitslosigkeit die Rollenverteilung in der Familie auf Dauer entscheiden und auf Ewigkeit forcieren. Frauen, die jetzt arbeitslos sind und deshalb zu Hause bleiben, müssen wir viele Hilfen anbieten: öffentliche Einrichtungen zur Information nutzen, Selbsthilfegruppen und ein Vereinswesen aufbauen — das alles haben wir noch nicht —, Nachbarschaftshilfen, Qualifizierungsmöglichkeiten in vielfältiger Form anbieten. Aber mitunter sind solche Frauen auch sehr froh, jetzt endlich Zeit für Dinge zu haben, die sie früher nie machen konnten.

(Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der SPD — Dr. Küster [SPD]: Das darf doch nicht wahr sein! Sagen Sie nicht, wo Sie herkommen! — Meckel [SPD]: Warum sind Sie eigentlich nicht zu Hause? — Dr. Götte [SPD]: Ich hätte nie gedacht, daß Arbeitslosigkeit so schön sein kann!)

— Ich habe meine Kinder nicht nach dem sozialistischen Familienbild erzogen, sondern bin zu Hause geblieben. Es war sehr schwer, sich gegen den Strom zu stellen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Küster [SPD]: Es freut mich, daß Sie das konnten!)

Deshalb hoffe ich, daß das nicht Einzelfälle bleiben, sondern daß das, wie meine Kollegin Barbe vorhin schon gesagt hat, gesetzlich geregelt wird. Die vielen sozialen Errungenschaften, die Sie immer einklagen und die jetzt verlorengehen, sind aus einem Topf finanziert worden, der eigentlich leer war. Die Anspruchsberechtigten hab en die Gelder genommen,
aber gar nicht gewußt, daß sie etwas in Empfang nehmen, das eigentlich nicht mehr da ist.

(Schenk [Bündnis 90/GRÜNE]: Es war aber doch da!)

Das war in sich widersprüchlich.

(Abg. Kolbe [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201411300
Frau Michalk, darf ich Sie nochmals fragen: Wollen Sie eine Zwischenfrage zulassen?

Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1201411400
Nein. Ich spreche jetzt weiter.
Ich möchte etwas zu den Kindergärten sagen. Trotz aller Zwänge zur Kostensenkung muß beachtet werden, daß Kindergärten die Aufgabe haben, die Erziehung in der Familie zu ergänzen, nicht, sie zu ersetzen,

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

und einen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung des Kindes zu leisten. Dazu werden auch in Zukunft pädagogisch ausgebildete Mitarbeiter in den Kindergärten gebraucht. Es ist ein lohnenswerter Beruf für unsere jungen Menschen,

(Schmidt-Zadel [SPD]: Auf ABM-Stellen, ja!)

sich hier zu engagieren.
Die unbefriedigende Situation in den neuen Bundesländern nehmen wir schon sehr ernst. Das Bestreben kann nur sein, keine Verschiebung der Altersstrukturen zuzulassen — damit komme ich auf die Jugendpolitik zu sprechen — , weil die Jugend in die voll erschlossenen alten Bundesländer zieht, da sie dort momentan die größeren Chancen sieht. Deshalb ist eine Lehrstellenkampagne der Bundesregierung mehr als begrüßenswert. Ich appelliere auch an die Wirtschaft, Ausbildungsplätze zu schaffen, weil nicht sein darf, daß unsere Jugendlichen die neu gewonnene Freiheit so nutzen, daß sie in eine Einbahnstraße geraten, daß sie in schwer zu beschreibende Gruppen abrutschen, die im Überfluß an Freizeit leben, und von sozialer Not begleitet werden. Dieser Weg führt in erhöhte Kriminalität. Das werden wir nicht zulassen.
Es ist uns bei allem Engagement für unsere Jugend, die jetzt an ihrer eigenen Zukunft mitbauen darf, eine Herzenssache, bei unserer Politik an die Menschen zu denken, die ihr Leben lang für eine bessere Zukunft gearbeitet haben. Unsere Aufgabe in der Altenpolitik ist es, das Altwerden und das Altsein nicht zu seinem fatalen Zustand werden zu lassen. Ältere Menschen sollen ihren gebührenden Platz in der Gesellschaft haben. Mit Inkrafttreten des Gesundheits-Reformgesetzes ist auf Grund der Regelungen für ambulante Pflege ein wichtiger Schritt getan. Allerdings reicht er noch nicht aus. In diesem Zusammenhang ist die Ankündigung der Bundesregierung zu begrüßen, noch in dieser Legislaturperiode die Pflege finanziell abzusichern.
Bei der Betrachtung der gegenwärtigen Verhältnisse sollte eine tägliche Bilanzierung von Soll und Haben vermieden werden. Das bringt uns weder Fort-



Maria Michalk
schritt, noch nähert es uns dem gemeinsamen Ziel, den gesellschaftlichen Anpassungsprozeß in unserem Land nach der Wiedervereinigung zu fördern. Nicht vergessen sollten wir daher, daß weder Wohlstand noch übertriebenes Streben nach monetärem Besitz unser Lebensglück bestimmen, sondern daß es, weit mehr durch Hilfsbereitschaft und Entgegenkommen gegenüber unseren Nächsten bewirkt werden kann. Hier haben wir insgesamt einen nicht geringen Nachholbedarf zu verzeichnen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Küster [SPD]: Amen!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201411500
Meine Damen und Herren, Frau Ingrid Matthäus-Maier hat das Wort zu einer Zwischenbemerkung.

Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1201411600
Frau Michalk, auf Ihre Äußerung wird meine Kollegin Edith Niehuis eingehen. Einen Punkt aber muß ich richtigstellen. Sie haben erklärt, Ministerpräsident Lafontaine habe gestern gesagt, man wolle die Familie mit Kindern fördern und nicht den Trauschein. Sie haben das kritisiert. Ich glaube, daß Sie das kritisiert haben, muß daran liegen, daß Sie unser sehr kompliziertes Steuerrecht noch nicht im einzelnen durchschauen.

(Doppmeier [CDU/CSU]: Woher wollen Sie das wissen? — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)

— Hören Sie doch bitte zu! Ich glaube, daß dieses sehr komplizierte Steuerrecht gerade in den neuen Bundesländern noch nicht — in den alten auch nicht — genügend durchschaut wird.
Dieser Bemerkung liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Wenn in beiden Teilen Deutschlands, die ja Gott sei Dank vereint sind, ein Spitzenverdiener eine nicht erwerbstätige Frau heiratet — oder umgekehrt —, dann führt das dazu, daß diese Heirat dem Paar einen Steuervorteil von 22 842 DM im Jahr bringt, auch wenn in dieser Ehe kein Kind vorhanden ist. Man nennt das den „Maximalen Splittingvorteil" .

(Doppmeier [CDU/CSU]: Das weiß sie doch!)

— Wenn sie das weiß, dann war ihre Bemerkung hier vorne allerdings fehl am Platze.

(Beifall bei der SPD)

Wenn sie weiß, daß eine Familie, die ein Kind hat, in 18 Jahren der Kindererziehung nicht auf diese 28 842 DM kommt — in 18 Jahren nicht! — , die eine Spitzenverdienerfamilie ohne ein Kind in einem einzigen Jahr erhält, dann muß ich allerdings sagen: Das ist der Grund, warum wir weltweit zwar als das ehefreundlichste, nicht aber als das kinderfreundlichste Land gelten. Das wollen wir ändern.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201411700
Meine Damen und Herren, Frau Barbe von der SPD-Fraktion hat das Wort zu einer Zwischenbemerkung.

Angelika Barbe (SPD):
Rede ID: ID1201411800
Frau Kollegin Michalk, ich wollte etwas richtigstellen. Ich habe aus der Betroffenheit, mit der ich Politik in der DDR erlebt habe, gelernt, mich in der Politik einzusetzen; deshalb bin ich hier im Bundestag.
Ich wollte Sie daran erinnern, daß Sie eine Interessenvertreterin der Bürger in unserer ehemaligen DDR sind. Diese Bürger setzen große Hoffnungen auf Sie. Wenn Sie jetzt nicht die Interessen der Frauen dort vertreten — und als Frauen fühlen wir uns ja hier —, dann sind sie enttäuscht. Ich will Ihnen einfach nur noch einmal vor Augen halten, daß da ganz grundlegende Dinge wichtig sind. Nicht Interessen persönlicher Art sind wichtig, sondern die Interessen der Bürger. Ich denke, das müssen wir noch einmal deutlich sagen.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201411900
Meine Damen und Herren, das Wort hat die Ministerin für Frauen und Jugend, Frau Dr. Angela Merkel.

Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1201412000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der erste Haushalt des Bundesministeriums für Frauen und Jugend umfaßt 3,8 Milliarden DM. Es ist das Budget für wichtige Hoffnungsträger unserer Gesellschaft, für junge Menschen und für Frauen.
Wir stehen heute vor der historischen Aufgabe, beide Teile unseres Landes nach 40 Jahren der Trennung zusammenzuführen. Ich werde alles nur Mögliche tun, um bei Frauen und Jugendlichen das Gefühl der Verantwortung für die vor uns liegenden Aufgaben zu stärken. Finanzielle Zuwendungen sind gewiß für viele Aufgaben unerläßlich; aber es wird auch wesentlich darauf ankommen, daß die Menschen in beiden Teilen Deutschlands in gleicher Weise fühlen und empfinden.
Jugendarbeit und Frauenarbeit leben in vielen Bereichen von freiwilligem Engagement. Nach 40 Jahren zentralistischer Herrschaft ist das für viele Bürger der neuen Länder schwer zu erfassen. Hier erwartet uns ein gutes Stück Arbeit an Bewußtseinsbildung.
Ich sehe in der vor uns liegenden Aufgabe des Aufbaus der neuen Bundesländer und des Zusammenwachsens des ganzen Deutschlands jedoch nicht nur Probleme und Schwierigkeiten, sondern gleichzeitig eine große Chance,

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sehr gut!) auch für die alten Bundesländer.

Lassen Sie mich als Beispiel nur die Kindertagesstätten im Gebiet der ehemaligen DDR nennen, die der Bund noch bis zum 30. Juni mit 1 Milliarde DM bezuschußt. Angeregt davon — ich glaube, wirklich davon angeregt —, will die Bundesregierung nun den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz im Kinder- und Jugendhilfegesetz verankern und ein bedarfsgerechtes Angebot an Kindertagesstätten sowie eine bedarfsorientierte Kinderbetreuung für Kinder unter drei Jahren schaffen.
Die Erhaltung von Kindertagesstätten ist eine Hilfe nicht nur für Mütter, sondern aus pädagogischen



Bundesminister Dr. Angela Merkel
Gründen auch für Kinder, d. h. sie betrifft beide Verantwortungsbereiche meines Ressorts. Es ist für mich ein ganz wesentliches Ziel, daß eine Regelung gefunden werden kann, wie die Kinderbetreuungsplätze auch über den 30. Juni hinaus bestehen bleiben können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD — Simm [SPD]: Da kriegen Sie sogar von uns Beifall, Frau Ministerin!)

— Ja, ich freue mich. Die Probleme sind so groß, daß wir wirklich auf konstruktive Zusammenarbeit angewiesen sind.

(Beifall der Abg. Wollenberger [Bündnis 90/ GRÜNE] — Sielaff [SPD]: Ihre eigene Fraktion hat sich verweigert!)

— Nein, für die ist das eine Selbstverständlichkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Küster [SPD]: Wir nehmen Sie beim Wort!)

Ich appelliere daher an die Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer, in ihren Haushaltsplanungen ausreichende Mittel für den Erhalt der Kindereinrichtungen bereitzustellen. Sie alle wissen, daß es am 28. Februar Neuregelungen für den Länderfinanzausgleich gegeben hat. Es wird ein wichtiges politisches Signal der Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer sein — ich bin mir ihrer Haltung da ganz gewiß —, daß sie sich für den Erhalt der Kinderbetreuungseinrichtungen einsetzen. Die Ministerpräsidenten der alten Bundesländer rufe ich auf, die Anzahl der Kinderbetreuungseinrichtungen bedarfsgerecht auszubauen.
Ich möchte in bezug auf meine Vorrednerin noch einmal sagen: Wir müssen in Betracht ziehen, daß es sich bei der Bundesrepublik um ein föderales System und nicht um einen zentralistischen Staat handelt, in dem der Bund für alle Aufgaben gleichermaßen verantwortlich ist.

(Beifall bei der CDU/CSU — Sehr richtig! bei der FDP)

Ich habe jetzt so lange über die Kinderbetreuungseinrichtungen gesprochen, weil es mir wichtig ist, in einem anderen Zusammenhang, und zwar in dem Zusammenhang der Wahlfreiheit der Frauen zwischen Familienarbeit und Beruf oder einer Verbindung von beidem, auf folgendes hinzuweisen:

(Dr. Küster [SPD]: Wenn es eine Freiheit gäbe, wäre es gut!)

— Ja, natürlich. Hören Sie mir doch erst einmal zu!

(Matthäus-Maier [SPD]: Es klingt aber schon besser als vorhin!)

Daß meine Partei diese Wahlfreiheit will, ist auf dem CDU-Parteitag in Essen vor vielen Jahren sehr deutlich herausgekommen. Daran hat sich nichts geändert.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wirkliche Wahlfreiheit kann es nur dann geben, wenn
Frauen wie Männer die Möglichkeit haben, nach einer Zeit in der Familie auf den Arbeitsmarkt zurückzukehren.

(Beifall bei der SPD)

Wir werden deshalb unser Modellprogramm zur Wiedereingliederung von Frauen nach der Familienphase verlängern und erweitern. Dafür stehen 5 Millionen DM zur Verfügung. Wahlfreiheit ist für mich eine Grundlage der Frauenpolitik.
Ich sehe in der Vereinigung Deutschlands einen Anstoß, die Politik für die Gleichberechtigung der Frau in dieser Legislaturperiode ihrem Ziel ein großes Stück näherzubringen. In Art. 31 des Einigungsvertrags steht, die Gesetzgebung zur Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen sei weiterzuentwikkeln, und die Rechtslage sei unter dem Gesichtspunkt der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu gestalten.
Diese Selbstverpflichtung werden wir in meinem Ministerium mit Leben erfüllen. Zwar sind die Lebensumstände für Frauen in Ost und West sehr unterschiedlich. Gemeinsam aber ist beiden Gesellschaften die Kluft, die zwischen dem Gleichberechtigungsgebot der Verfassung und der Realität besteht. Diese Kluft muß und wird überwunden werden. Wir können im laufenden Jahr für Projekte und Modelle auf dem Gebiet der rechtlichen und sozialen Stellung der Frau 15 Millionen DM ausgeben. Diese Modellprojekte werden uns wesentliche Erkenntnisse darüber liefern, wie die fundierten Grundlagen aussehen sollen, um neue gesetzliche Regelungen vorzubereiten. Genau dazu dienen diese Modellprojekte.
Die Bundesregierung wird möglichst bald dem Deutschen Bundestag den Entwurf eines Gleichberechtigungsgesetzes vorlegen, das verschiedene vorhandene Gesetze im Sinne einer wirklichen Gleichberechtigung ändern soll. Hier wird es um die Gleichberechtigung von Mann und Frau am Arbeitsplatz gehen.

(Zuruf von der SPD: Wir haben das in der letzten Legislaturperiode schon vorgelegt!)

— Wir werden zu gegebener Zeit auch darüber diskutieren können.

(Peter [Kassel] [SPD]: Möglichst bald!)

Frauenpolitik ist eine Querschnittaufgabe, die in möglichst viele gesellschaftliche Bereiche hineinwirken soll und muß. Ich werde mich als Frauenministerin überall dort intensiv einschalten, wo die Belange von Frauen tangiert sind, auch wenn die Federführung bei anderen Ressorts liegt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

So werden wir beispielsweise beim geplanten Rentenübergangsgesetz mitwirken, das Frauen aus beiden Teilen Deutschlands wesentlich tangieren wird.
Frauen sind — davon war heute schon die Rede — von Arbeitslosigkeit überproportional betroffen, besonders in den neuen Bundesländern. Hier umfassend beratend tätig zu werden halte ich für außerordentlich wichtig. Daher planen wir, in jedem der neuen Länder eine Beratungsstelle mit mobilen Einsatzmöglichkeiten einzurichten. Die Koalitionsvereinbarungen sehen vor, daß Frauen entsprechend ihrem Anteil an der



Bundesminister Dr. Angela Merkel
Arbeitslosigkeit an Umschulungs-, Qualifizierungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen beteiligt werden. Dazu eröffnet uns das Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost gute Möglichkeiten; denn dort ist der Einsatz von ABM-Kräften im sozialen Bereich explizit vorgesehen. Ich werde im übrigen auch darauf drängen, daß im Arbeitsförderungsgesetz diese Maßnahmen, die wir für die neuen Bundesländer in der Koalitionsvereinbarung festgelegt haben, gesetzlich verankert werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Matthäus-Maier [SPD])

Die Frauen in den neuen Bundesländern werden lernen müssen, ihre Rechte selber einzufordern. Uns ist daran gelegen. Wir werden dies nach Kräften fördern, insbesondere durch die Bildung von Frauenselbsthilfegruppen, Vereinen und Organisationen. Sowohl in beratender, als auch in finanzieller Hinsicht werden wir diese Arbeiten unterstützen.

(Zurufe von der PDS/Linke Liste — Zuruf von der CDU/CSU: Weitermachen, Frau Merkel!)

In allen Maßnahmen, die wir zugunsten der Frauen treffen — hier beziehe ich mich ausdrücklich auch auf die Ausführungen meiner Kollegin Rönsch — , sehe ich auch einen Beitrag zur Schaffung von Bedingungen in unserer Gesellschaft, die das Aufziehen von Kindern erleichtern und anerkennen. Ich denke, nur so können wir das ungeborene Leben wirksam schützen. Ich bin entschlossen auf diesem Weg weiterzugehen und die Möglichkeiten für Frauen und ihre Kinder zu verbessern.
Wir alle stehen vor der Aufgabe, den Schutz vorgeburtlichen Lebens und die verfassungskonforme Bewältigung von Konflikten schwangerer Frauen besser zu gewährleisten, als dies in beiden Teilen Deutschlands bisher der Fall ist. So steht es im Einigungsvertrag. Ich werde mich als Frauenministerin intensiv in diese Arbeiten einschalten und mein Recht auf Beteiligung bei allen die Frauen betreffenden Gesetzgebungsvorhaben nutzen. Für Gesetzgebungsvorhaben, die im Zusammenhang mit dem Schutz des ungeborenen Lebens stehen und die nicht strafrechtlichen Charakter haben, haben Frau Rönsch und ich eine gemeinsame Federführung unserer Ministerien vereinbart.
Hilfe, nicht Strafe steht für mich bei Schwangerschaftskonflikten im Mittelpunkt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des Bündnis 90/ GRÜNE)

Schwangere Frauen in Konfliktsituationen brauchen rechtlich gesicherte Ansprüche. Umfassende Aufklärung soll helfen, ungewollte Schwangerschaften zu vermeiden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Vor diesem Hintergrund muß die Diskussion um den Schutz des ungeborenen Lebens geführt werden. Wichtig ist mir, daß sie in den neuen Bundesländern wirklich geführt werden kann.
Im Interesse aller betroffenen Frauen erwarte ich eine sachliche Diskussion, die mit Respekt vor der Meinung aller Beteiligten geführt wird. Es handelt sich hierbei um eine Frage, die das Gewissen jedes einzelnen berührt.
Die Kinderfreundlichkeit unserer Gesellschaft erweist sich nicht nur gegenüber Kleinkindern, sondern auch gegenüber Kindern und Jugendlichen. Dafür zu sorgen ist eine zentrale Aufgabe der Kinder- und Jugendpolitik. Bei aller Sorge, die angesichts der momentanen Situation bei den jungen Menschen in den neuen Ländern besteht, muß es uns gelingen, ihnen Verständnis für die Demokratie und Vertrauen in die Zukunft zu vermitteln.
Erst im vergangenen Jahr ist nach fast 70 Jahren das Kinder- und Jugendhilferecht in der alten Bundesrepublik den neuen Erfordernissen der Gesellschaft angepaßt worden. Es gilt nun, das neue Recht, das auf familienunterstützende und vorbeugende Angebote viel Wert legt, in den alten Bundesländern anzuwenden und gleichzeitig in den neuen Ländern Strukturen aufzubauen, die die Anwendung dieses Rechts auch dort sicherstellen.
Wir werden mit allen nur möglichen Maßnahmen dafür Sorge tragen, daß der Aufbau der Jugendhilfe in den neuen Bundesländern schnell vonstatten geht. Das heißt für uns in erster Linie, daß die Qualifizierung von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern zu fördern ist. Zu diesem Zweck ist ein Informations-, Beratungs- und Fortbildungsdienst Jugendhilfe aufgebaut worden. Regelmäßige Regionaltreffen werden mit Mitarbeitern der Jugendämter in den neuen Bundesländern von uns veranstaltet und gefördert.
Für den Bundesjugendplan stehen in diesem Jahr insgesamt 180 Millionen DM zur Verfügung. Der Zuwachs von 48 Millionen DM verdeutlicht das Gewicht, das die Bundesregierung der Jugendpolitik beimißt. Er wird fast ausschließlich zugunsten der neuen Bundesländer verwendet.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201412100
Frau Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Kolbe?

Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1201412200
Ja.

Regina Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1201412300
Frau Merkel, ist Ihnen eigentlich bewußt, daß es in Bayern ein Urteil gegeben hat, in dem verboten wurde, einen Kinderspielplatz in einem Wohngebiet zu bauen? Das gab es in der ehemaligen DDR nicht.
Sie wollen bestimmte Rechte von Kindern zu uns, in die ehemalige DDR, übertragen. Soll das heißen, daß so etwas in Zukunft auch bei uns möglich sein könnte? Ich würde das als sehr schlimm empfinden.

Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1201412400
Jetzt muß ich folgendes sagen: Mit dem, was bei uns — wenn wir schon „bei uns" sagen, wenn wir von der ehemaligen DDR sprechen — an freien Initiativen unterbunden wurde, z. B. Initiativen zur Kinderbetreuung, zur Errichtung von Spielplätzen, zum Veranstalten von Festen, habe ich eine wirklich langjäh-



Bundesminister Dr. Angela Merkel
rige Erfahrung. Ich glaube, wir können froh sein, daß es damit vorbei ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich möchte noch einmal sagen: Der Zuwachs von 48 Millionen DM verdeutlicht das Gewicht, das die Bundesregierung der Jugendpolitik beimißt. Wir wollen im wesentlichen entsprechend Art. 32 des Einigungsvertrages den Auf- und Ausbau der freien Träger wirksam unterstützen.
Angesichts der schwierigen Situation auf dem Arbeitsmarkt der östlichen Länder sehen wir in Ergänzung zu dem Programm des Arbeits- und Sozialministers für arbeits- und ausbildungsfördernde Maßnahmen im Rahmen der Jugendsozialarbeit im Bundesjugendplan zusätzliche Mittel vor. Es soll in Zukunft neben dem freiwilligen sozialen Jahr das freiwillige ökologische Jahr geben, und zwar auf gesetzlicher Grundlage. Beide Einrichtungen müssen in den neuen Bundesländern möglichst zügig eingeführt werden.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201412500
Frau Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Elmer? — Bitte.

Dr. Konrad Elmer (SPD):
Rede ID: ID1201412600
Sie sprachen von den erfreulich umfangreichen Mitteln für die Jugendarbeit. Die Bundesregierung will aber die Berlin-Hilfe möglichst schnell abbauen. Wie wollen Sie den Zusammenbruch der von diesen Mitteln sehr abhängenden Jugendarbeit in West-Berlin verhindern? Das ist meine erste Frage.

Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1201412700
Die Finanzierung der Jugendarbeit Berlins wurde über viele Jahre von der Bundesregierung völlig übernommen. Sie ist in diesem Jahr nicht abgebaut, sondern in dem üblichen Maße erhalten worden. Ich glaube auch — das ist meine persönliche Meinung — , daß Berlin durch den verstärkten Warenabsatz sehr gute Steuereinnahmen hat, und ich vermute, daß Berlin damit den Abbau der Berlin-Hilfe verkraften wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der SPD: Aber Vermutungen helfen den Berlinern nicht weiter!)

— Ich habe nicht von Vermutungen gesprochen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201412800
Frau Minister, gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage?

Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1201412900
Ja, das ist aber die letzte.

Dr. Konrad Elmer (SPD):
Rede ID: ID1201413000
Gestatten Sie einem in diesem Hause noch unerfahrenen Abgeordneten eine Frage zur Abgrenzung der Ministerien. Wir hörten vorhin Ausführungen zum Ministerium für Familie und Senioren. Gehe ich recht in der Anname, daß die Seniorinnen dann in Ihr Ministerium gehören?

(Heiterkeit bei der SPD — Zuruf von der CDU/CSU: Es lohnt gar nicht zu antworten!)


Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1201413100
Ich bin für alle Frauen verantwortlich, insofern also auch für die Seniorinnen.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Dr. Elmer [SPD]: Ich beglückwünsche Sie zum Zuwachs an Kompetenz!)

Zum internationalen Jugendaustausch: Wir wollen in diesem Punkt die Jugendlichen aus den neuen Bundesländern möglichst schnell mit einbeziehen. Deshalb freuen wir uns, daß wir im Rahmen des Deutsch-Französischen Jugendwerkes erstmalig einen Zusatzbetrag von 1,2 Millionen DM erhalten haben, der die Zuschüsse für die Teilnehmer aus den neuen Bundesländer erhöht.

(Zustimmung des Abg. Dr. Weng [Gerlingen] [FDP])

Demnächst wird eine Stiftung Deutsch-Polnisches Jugendwerk gegründet. Die Regierungsabkommen mit der Sowjetunion, der CSFR und Ungarn bieten Voraussetzungen für eine Ausweitung und Intensivierung der Austauschprogramme. Wir werden zudem den Jugendaustausch mit Israel wie auch mit den arabischen Staaten beleben.
Junge Leute aus den alten Bundesländern sollen zunehmend Osteuropa kennenlernen, junge Leute aus den neuen Bundesländern sollen mit den westlichen Staaten vertraut werden.
Wir werden 1991 voraussichtlich 55 000 jungen Aussiedlern aus den mittel- und osteuropäischen Staaten Stipendien geben, damit sie die deutsche Sprache erlernen und an ergänzenden Ausbildungsprogrammen teilnehmen können. Für die jungen Aussiedler sind insgesamt 634 Millionen DM vorgesehen.
Im Bereich des Zivildienstes ist durch den Einigungsvertrag einheitliches Recht für das gesamte Bundesgebiet geschaffen worden. Wir müssen jetzt dafür sorgen, daß die jungen Männer ihren Zivildienst überall unter gleichen Bedingungen leisten können. Dazu muß in den neuen Bundesländern eine Zivildienstverwaltung aufgebaut und müssen Zivildienstplätze, Unterkünfte und Zivildienstschulen bereitgestellt werden.
Ich komme zum Schluß. Ich will mit meiner Politik dazu beitragen, daß Frauen in unserer Gesellschaft mehr Gleichberechtigung erfahren und daß wir eine kinder- und jugendfreundlichere Gesellschaft werden. Vor allem muß sich die Lage für Frauen und junge Menschen in den neuen Bundesländern so schnell wie möglich verbessern; denn ich denke, Frauen und junge Menschen werden sensible Indikatoren für das wirkliche Zusammenwachsen beider Teile Deutschlands sein.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201413200
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt Frau Dr. Edith Niehuis, SPD-Fraktion.

Dr. Edith Niehuis (SPD):
Rede ID: ID1201413300
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dies ist die



Dr. Edith Niehuis
erste Haushaltsdebatte nach der Dreiteilung des alten Ministeriums für Familie, Frauen, Jugend und Gesundheit. Wir haben immer kritisiert, daß man den berechtigten Interessen von Frauen nicht gerecht wird, wenn man einem Ministerium nur das Anhängsel „Frauen" hinzufügt, wie Sie das in den letzten Jahren getan haben.
Daß wir recht hatten, daß es mit einem Bauchladenministerium nicht geht, zeigt die frauenpolitische Bilanz der letzten Jahre. Weder von der Frauenministerin Süssmuth noch von der Ministerin Lehr sind diesem Parlament frauenpolitische Initiativen, geschweige denn Gesetzesvorhaben zugeleitet worden. Wenn es in diesem Parlament frauenpolitische Vorstöße gab, dann kamen sie von uns, von der Opposition, und die Regierungskoalition hat sie stets abgelehnt. Das ist die frauenpolitische Bilanz der letzten Jahre gewesen.

(Beifall bei der SPD)

Sie haben jahrelang das als Politik verkauft, was Frauen leider aus dem Alltag allzu gut kennen: Man widmet ihnen nämlich schöne Worte, aber keine Taten. Als ich die Rede von Frau Michalk hörte, habe ich gedacht: Um Gottes willen! Dies ist genau das: Schöne Worte, aber keine Taten. Liebe Frau Michalk, Sie müssen sich überlegen, was Sie den Frauen da alles erzählt haben. Sie haben ihnen eine Welt vorgegaukelt, die Frauen erstens nicht wollen und die es zweitens nicht gibt.

(Beifall bei der SPD, bei der PDS/Linke Liste und beim Bündnis 90/GRÜNE)

Sie haben durch diese Ihre Politik „Worte statt Taten" allerdings eines geschafft: Sie haben den deutschen Sprachschatz, ja sogar den deutschen Buchmarkt bereichert. Man nennt das nämlich den Süssmuth-Effekt.
Bei aller Sympathie, die ich für die Ministerin Merkel habe, möchte ich aber schon an dieser Stelle eines ankündigen: Wenn Sie, Frau Ministerin Merkel, diese Effekthascherei auf Kosten der Frauen auch in Zukunft betreiben werden, dann werden Sie in uns Sozialdemokratinnen die ärgsten Kritikerinnen Ihrer Politik finden.

(Beifall bei der SPD)

Mit unserer Kritik befinden wir uns übrigens in guter Gesellschaft.

(Zuruf von der CDU/CSU: Mit der PDS?) — Auf so etwas gehe ich gar nicht ein.


(Dr. Blank [CDU/CSU]: Können Sie uns dann einmal erklären, warum der Herr Lafontaine das Frauenministerium im Saarland abgeschafft hat? Können Sie uns das einmal erklären?)

— Rede ich oder Sie? Können wir uns darüber einmal einigen?

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201413400
Frau Dr. Niehuis, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Blank?

Dr. Edith Niehuis (SPD):
Rede ID: ID1201413500
Ja, bitte.

Dr. Joseph-Theodor Blank (CDU):
Rede ID: ID1201413600
Frau Kollegin, Sie haben gerade etwas über die Frage der Zuordnung des Frauenbereichs zu einem Ministerium gesagt. Hätten Sie die Freundlichkeit, dem Hohen Hause einmal zu erklären, welche Überlegungen den saarländischen Ministerpräsidenten Lafontaine bewogen haben, das von Ihnen seinerzeit so bejubelte Frauenministerium im Saarland wieder abzuschaffen?

Dr. Edith Niehuis (SPD):
Rede ID: ID1201413700
Sie wissen, daß das zunächst einmal auf scharfe Kritik der Sozialdemokratinnen gestoßen ist. Insofern kritisiere ich auch das.

(Beifall bei der SPD)

Ich bin nicht der saarländische Ministerpräsident und gedenke im Moment auch nicht, es zu werden.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Tun Sie es doch!)

— Lassen Sie mich doch einmal ausreden, Herr Gerster! Bei dem, was ich soeben gesagt habe, ging es aber um den Inhalt der Frauenpolitik. Ich habe Ihnen gesagt: Sie haben jahrelang nichts gemacht. Aber schauen Sie sich einmal an, was die Frauenministerin Brunhilde Peters im Saarland gemacht hat, gerade was Frauen und Arbeit anbetrifft! Wenn wir auf Bundesebene so weit wären, dann wären wir schon ein ganzes Stück weiter.

(Beifall bei der SPD — Gerster [Mainz] [CDU/ CSU]: Weil sie so gut war, ist sie fortgeschickt worden! Weil sie so viel geschafft hat, wird sie abgeschafft!)

— Jetzt darf ich aber weitermachen: Mit dieser Kritik bin ich nämlich in der Tat in guter Gesellschaft. Ich zitiere den Bundesrechnungshof, der im letzten Jahr festgestellt hat:
Der sehr eingeschränkte Aufgaben- und Kompetenzzuwachs rechtfertigt nicht den personellen Ausbau des Arbeitsstabes Frauenpolitik zu einer Abteilung.
Das geschah im letzten Jahr. Der Haushaltsausschuß forderte die Bundesregierung dann auf, die ungelösten Probleme der mangelnden Kompetenzen unverzüglich zu klären, damit die mit der Abteilung angestrebte Durchsetzung frauenpolitischer Belange besser erreicht werde.
Nichts ist geschehen. Statt dessen kam es schlichtweg durch eine Entscheidung des Kanzlers zu einer Dreiteilung. Aus der Frauen- und Jugendabteilung wurde ein eigenes Ministerium. Nun haben Sie den Spott der Öffentlichkeit.
Eines ärgert mich allerdings an dieser Geschichte: Leider hat nicht der Kanzler den Spott abbekommen. Der hätte ihn aufrichtig verdient.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Den Spott haben die Ministerinnen abbekommen. Das tut mir aufrichtig leid. Noch sehr viel mehr tut mir leid, daß sich aus der CDU/CSU und aus der FDP niemand gefunden hat, der sich für die Ministerinnnen und gegen diesen Spott eingesetzt hat und der mit



Dr. Edith Niehuis
Taten dieses Vorkommnis ausgeräumt hat. Das ist Frauendiskriminierung Ihrerseits!

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE — Zuruf von der CDU/CSU: Sie waren auf jeden Fall bei der Beratung nicht dabei!)

Nun möchte ich etwas zu der Politik „Worte statt Taten" in den Koalitionsvereinbarungen und im Haushaltsentwurf sagen: Auch bei den ersten Schritten der Ministerin habe ich leider zu wenige Ansätze für eine gute Frauenpolitik gefunden. Ich sagte Ihnen: Wir werden diese gute Frauenpolitik vier Jahre anmahnen.
Das gilt zuallererst für die gesetzliche Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs. Das Schauspiel, das die Regierungskoalition den Frauen hinsichtlich der Zukunft des § 218 bietet, ist für mich unerträglich.

(Beifall bei der SPD)

Da gibt es den Kollegen Hoffacker, der heute leider nicht da ist, der die Frauen für die Notlagenindikation vor einem öffentlich bestellten Tribunal verhören will. Es gibt die Kollegin Nolte, von der ich im „Spiegel" lesen mußte, daß sie die eine Schwangerschaft abbrechenden Frauen mit einem sozialen Pflichtjahr bestrafen will.

(Zurufe von der SPD: Aha! — Interessant!)

Des weiteren gibt es ein Süssmuth-Papier mit einem Indikationsmodell durch die Hintertür, und schließlich gibt es noch ein FDP-Papier.

(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Das ist vernünftig! Dem würden Sie zustimmen!)

Ich sage Ihnen jetzt, was es die ganze Zeit auch sonst noch gab, nämlich zwei Ministerinnen, die sich um die Kompetenzen gestritten haben und die sich in der Öffentlichkeit nicht mit einer klaren Aussage vorgewagt haben.
Leider, so muß ich sagen, genügen mir auch die heutigen Aussagen von Frau Rönsch und von Frau Merkel nicht. Einerseits sagt Frau Rönsch: Es muß einen Rechtsanspruch auf eine Schwangerenberatung geben. Das ist okay. Meine Frage ist: Bleibt es beim Rechtsanspruch, oder sagen Sie: Wer Rechte hat, hat auch Pflichten?
Auf der anderen Seite hat Frau Merkel heute gesagt: keine Strafbarkeit. Aber zur Beratung hat sie sich nicht geäußert. Ich denke, für eine Frauenministerin wird es dringend Zeit, hier den Weg klar vorzugeben.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Es geht darum, daß der Schwangerschaftsabbruch endlich aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wird.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind
nicht länger bereit, ein Strafrecht zu dulden, das allen,
die es wollen, eine Treibjagd auf Frauen ermöglicht.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Ach! Komm, komm! Das ist Märchenstunde!)

Ich erinnere an die frauenverachtenden Prozesse in Memmingen. Ich erinnere an die Polizeicomputer Baden-Württembergs und Bayerns, die jahrelang die Daten mehr oder weniger betroffener Frauen gespeichert haben. Nicht zuletzt erinnere ich an die Untersuchungen an der niederländischen Grenze. Diese Zeit muß vorbei sein.

(Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/ GRÜNE und der PDS/Linke Liste)

Darin sind wir Sozialdemokraten uns einig, mit dem Europäischen Parlament, das in seiner Entschließung vom 9. April 1990 die Bundesregierung auffordert, den Schwangerschaftsabbruch zu legalisieren. Wir sind uns auch einig mit dem Deutschen Juristinnenbund.
Frauen in Schwangerschaftskonflikten brauchen gute, vielfältige Beratungsmöglichkeiten, die sie in ihrer Not nutzen können. Aber Frauen sind keine unmündigen Bürgerinnen, denen man eine Beratung aufzwingen muß. Darauf werden wir bestehen.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ Linke Liste)

Zwang ist zudem eine vollkommen ungeeignete Grundlage für gute Beratung. Wer gute Beratung will, muß den Zwang abschaffen.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Wer das werdende Leben schützen will, der muß bereit sein, Geld für soziale Maßnahmen und für Rechtsansprüche auszugeben. Ich freue mich schon auf den Tag, an dem wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten hier unser Schwangerenhilfegesetz einbringen. Dann wird man an Ihrer Zustimmung oder Ablehnung sehen können, wer es mit Hilfe statt Strafe ernst meint und wer es mit Hilfe statt Strafe nicht ernst meint.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Frauen in Ost und West — und Gott sei Dank auch immer mehr Männer — wollen Kinder und Beruf miteinander vereinbaren können. Wir sind von diesem Ziel noch weit entfernt; das wissen wir alle. Doch leider legt die Bundesregierung seit Jahren eine Politik an, die uns von diesem Ziel immer weiter entfernt, als daß sie uns diesem Ziel näherbringt.
Da verpflichtet sich die Bundesregierung im Einigungsvertrag, zumindest bis zum 30. Juni für den Erhalt der Kinderbetreuungseinrichtungen in den neuen Bundesländern zu sorgen. Was ist daraus geworden? Seit Monaten werden die Kinderbetreuungseinrichtungen aller Art in den neuen Bundesländern geschlossen. Für die Menschen, für die Männer und Frauen in den neuen Bundesländern, bedeutet das: Vereinbarkeit von Beruf und Familie wird für sie in weite Ferne rücken.
Dann verwundert es mich schon, Frau Ministerin Merkel, wenn Sie angesichts der Erfahrung, daß noch nicht einmal eine Verpflichtung aus einem Vertrag eingehalten wurde, weil das Geld viel zu spät und dann viel zu spärlich angewiesen wurde, die Hoffnung aussprechen können, daß der Rechtsanspruch



Dr. Edith Niehuis
auf Kindergartenplätze, der in dem doch recht unverbindlichen Koalitionsvereinbarungsvertrag steht, eingehalten wird. Ich habe da meine Zweifel. Wer Verträge bricht, wird erst recht in der Lage sein, Koalitionsvereinbarungen zu brechen.

(Beifall bei der SPD)

Lassen Sie mich jetzt etwas Grundsätzliches zur Vereinbarkeit von Kindern und Beruf sagen, weil ich denke, daß es einige von Ihnen wieder nötig haben. Die Bundesregierung hat dankenswerterweise eine Umfrage bei den Frauen in den neuen Bundesländern durchführen lassen. INFAS stellt in dieser Untersuchung fest, daß 86 Prozent der Frauen zwischen 16 und 60 Jahren in Ostdeutschland erwerbstätig waren und daß die Erwerbstätigkeit für die ostdeutschen Frauen neben der Familie einen hohen Stellenwert im Leben hat, ja, zu ihrer Identität gehört. Frau Michalk, das stand darin! Diese Frauen fürchten als Folge der Vereinigung den Verlust von Kinderbetreuungseinrichtungen und den Verlust von Arbeitsplätzen. Beides verlieren sie leider auch.
Das sind die Signale, die diese Umfrage aussendet. Die erste politische Antwort einer Frauenministerin auf diese Umfrage hätte sein müssen, alle Maßnahmen zu ergreifen, um die Frauenarbeitsplätze zu erhalten. Das war aber nicht die erste Antwort, auch heute nicht. Es war immer erst die zweite Antwort dieser Frauenministerin.
Es ist kein Wort zum EG-Anpassungsgesetz gefallen, das endlich auch bei uns verschärft werden muß.

(Beifall bei der SPD)

Es ist kein Wort zum sogenannten Beschäftigungsförderungsgesetz gefallen. Es ist kein Wort zu den geringfügig Beschäftigten gefallen. Hätten Sie dazu etwas gesagt, hätten Sie schon etwas für die Frauen im Erwerbsleben tun können.

(Beifall bei der SPD)

Allerdings gibt es in den Koalitionsvereinbarungen — Sie haben es gesagt — die hoffnungsvolle Ankündigung der Quotierung von Qualifizierungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gemäß dem Anteil an den Beschäftigungslosen. Sie haben auf das Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost verwiesen. Danach müßte darin stehen, daß 55 % aller Qualifizierungs- und AB-Maßnahmen in den neuen Bundesländern von Frauen wahrgenommen werden können. Das steht aber überhaupt nicht darin. Dafür hätten Sie sorgen müssen.

(Zustimmung der Abg. Matthäus-Maier [SPD])

Leider steht dort etwas ganz anderes. Dort steht als ein Ziel — das ist die einzige Stelle, die Frauen betrifft —, AB-Maßnahmen in Bereichen mit besonders hohem Anteil von Frauen an den Beschäftigten — z. B. Sozialstationen, Pflegeheime, Kinderbetreuungseinrichtungen — zu schaffen; dies haben Sie ja auch mehrfach positiv erwähnt. Das heißt für mich im Klartext: Arbeitsmarktpolitik für Frauen — ja, aber nur in sogenannten frauentypischen Berufen; Frauenförderung — ja, aber nur für Kinder, Küche, Kranke und Alte.

(Zuruf von der SPD: Ja, wie gehabt!)

Alles andere steht nicht darin; Sie hätten aber dafür sorgen müssen, daß es hineingeschrieben wird.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRONE)

Jetzt komme ich zu der ersten Antwort, die die Frau Ministerin auch hier in bezug auf die Frauenarbeitslosigkeit gegeben hat. Sie bezieht sich auf die 46 der befragten Frauen, die sich eine Berufsunterbrechung für Kindererziehung vorstellen können — in Ost und West fast eine Bleichhohe Zahl. Daraus schließt sie, daß die Frauen in dem aus den 60er Jahren stammenden „Drei-Phasen-Modell" ihr Glück suchen, und propagiert flugs das Modellprogramm „Wiedereingliederung von Frauen nach der Familienphase " und Teilzeitarbeit.
Es wäre seriöser gewesen, wenn andere Untersuchungsergebnisse genannt worden wären, daß nämlich 61 % der Frauen (Ost) und 71 % der Frauen (West) über die Doppelbelastung bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf klagen, daß — jetzt bitte ich einmal die Herren von der CDU um Gehör — die Hilfe der Männer im Haushalt sehr zu wünschen übrigläßt und daß 55 % der Frauen (West) Schwierigkeiten mit der außerhäuslichen Kinderbetreuung haben.
Erst wenn man diese Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Kindern und Beruf, die unsere Gesellschaft nahezu allein den Frauen aufbürdet, mit berücksichtigt, wird klar, was das „Drei-Phasen-Modell" für viele wirklich ist: nicht das Glück, sondern eine Notlösung mit vielen Nachteilen, weil die Politik die Frauen alleine läßt.

(Beifall bei der SPD — Dr. Blank [CDU/CSU]: Frau Kollegin, denken Sie an Ihren Blutdruck!)

Daß es diese Nachteile gibt, zeigen Sie durch Ihr eigenes Modellprogramm zur Wiedereingliederung nach der Familienphase. Weil große Probleme bestehen — es bedarf der Beratung, der Einarbeitung und der Weiterqualifikation — , müssen wir solche Modellprogramme überhaupt haben. Aber ein Modellprogramm ist keine Politik. Davon haben nur ein paar tausend Frauen etwas. Von der Wiedereingliederungsproblematik sind allein im alten Bundesgebiet 320 000 Frauen betroffen. Sie lassen damit über 300 000 Frauen mit ihren Problemen alleine.
Gleiches gilt für die zweite Empfehlung: Teilzeitarbeit für Frauen. Erkundigen Sie sich einmal, was Teilzeitarbeit in unserer Gesellschaft auch bedeutet. Sie vergessen dabei nämlich zu erwähnen, daß Teilzeitarbeit für viele Frauen auch Abqualifizierung der beruflichen Position bedeutet. Teilzeitarbeit heißt auch Teilzeitrente, heißt auch Teilzeitarbeitslosigkeit, und sie bedeutet oft nur einen geringen Teil der sozialen Sicherheit, die Vollzeitarbeitsplätze garantieren. Teilzeitarbeit bedeutet zunehmend auch gar keine soziale Sicherheit, weil das Arbeitseinkommen unter der Geringfügigkeitsgrenze liegt. Das wollen Sie Frauen in der Tat als guten Weg, das wollen Sie als gute Frauenpolitik empfehlen? Das geht nicht!



Dr. Edith Niehuis
Gute Frauenpolitik heißt nicht, Benachteiligungen der Frauen mehr schlecht als recht abzufedern — das tun Sie — , sondern heißt, gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf für Männer und Frauen ohne Nachteil ermöglichen. Dafür treten wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ein.

(Beifall bei der SPD)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201413800
Frau Dr. Niehuis, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?

Dr. Edith Niehuis (SPD):
Rede ID: ID1201413900
Nein, ich bin gleich fertig. Sie können Ihre Frage hinterher stellen.
Neugierig sind wir auf das von der Bundesregierung angekündigte Artikelgesetz zur Gleichberechtigung von Frau und Mann, denn schließlich haben Sie unser Gleichstellungsgesetz ebenso wie alle anderen Vorhaben in der letzten Legislaturperiode abgelehnt.
Die Kollegin Würfel hat schon im „Zweiwochendienst" — Nr. 52 — angekündigt, daß Ihr Gleichstellungsgesetz keine Quotierung vorsehe. Was das für Frauen bedeutet, zeigt der Frauenanteil in den Bundestagsfraktionen von CDU, CSU und FDP. Sie lehnen die Quotierung ja ab. Bei Ihnen müssen sich die Frauen mit einem Anteil von 9,3 %, 13,8 % und gerade 20,3 % zufriedengeben. Das mag Ihnen reichen; uns reicht es nicht, und es reicht auch nicht für eine gute Frauenpolitik. — Ich habe so laut geredet, weil die Herren nichts anderes zu tun hatten, als die ganze Zeit zu quatschen.

(Matthäus-Maier [SPD]: Die Herren in der ersten Reihe!)

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ Linke Liste und der Abg. Karwatzki [CDU/ CSU])


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201414000
Das Wort zu einer Zwischenbemerkung hat Frau Minister Dr. Merkel.

Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1201414100
Ich will nur ganz kurz einem offensichtlich weitverbreiteten Irrtum vorbeugen. Bisher haben in den neuen Bundesländern nur wenige Kinderbetreuungseinrichtungen geschlossen. Wenn dies dennoch der Fall war, dann nur deshalb, weil kein Bedarf vorhanden war.

(Zurufe von der SPD)

— Hören Sie mir bitte einmal bis zum Ende zu.
In Rostock z. B. werden zur Zeit 1 700 Kindergartenplätze nicht genutzt. Meine Appelle — ich bitte Sie dabei um Mithilfe — richten sich an die Frauen, wenn sie arbeitslos sind, ihre Kinder auch weiterhin stundenweise in die Kinderbetreuungseinrichtungen zu bringen.
Es ist auch nicht so, daß das finanziell nicht erschwinglich wäre. In Mecklenburg-Vorpommern z. B. sind die Richtlinien, in denen die Gebühren festgelegt sind, derart sozial, daß sich das jede Frau leisten kann.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1201414200
Das Wort hat nunmehr Frau Ursula Männle.

Prof. Ursula Männle (CSU):
Rede ID: ID1201414300
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Einheit in Zwietracht, so läßt sich die Situation in Deutschland nach dem 3. Oktober beschreiben. Nicht nur soziale Barrieren — Ergebnis 40jähriger geplanter Mißwirtschaft — belasten den Einigungsprozeß, sondern auch neue ideologische Fronten mit enormem politischen Explosionstoff werden aufgebaut.
Wenn ich an die heutige Debatte, insbesondere an die Debatte denke, die wir in den letzten zwei Stunden geführt haben, dann habe ich den Eindruck, daß hier wirklich ideologische Fronten aufgebaut werden und daß hier —gestatten Sie, meine Damen von der SPD — so diskutiert wird, wie Sie es in der letzten Legislaturperiode und bisher immer abgelehnt haben.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Wenn Zwischenrufe von Männern unserer Seite oder auch aus anderen Fraktionen kamen, haben Sie sie als sexistisch empfunden und abgelehnt und haben manchmal mit Recht protestiert. Aber das, was hier heute gegenüber Kolleginnen, insbesondere neuen Kolleginnen, von Ihnen praktiziert worden ist, zeigt alles andere als Frauensolidarität.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn man einer Kollegin, weil sie eine Zwischenfrage nicht beantwortet, Feigheit vorwirft, aber dann selbst in ähnlicher Weise reagiert und auf die Zeit verweist, dann ist auch dies kein guter politischer Stil.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir werden sicherlich in den nächsten Monaten noch sehr viele Kontroversen haben. Ich denke, daß insbesondere die Neuregelung des § 218 ein ganz großes Streitthema werden wird. Wir haben heute schon gemerkt, daß es unterschiedliche Positionen gibt. Ich meine, die Haltungen gegenüber diesem Thema geben Auskunft über den familien- und sozialpolitischen Standort Bundesrepublik Deutschland und spiegeln auch das ethische Gewissen der Nation wider. Statt — auch dies ist heute schon geschehen — im rationalen Dialog nach vertretbaren, d. h. rechtsgüterabwägenden Lösungen für Frauen in Schwangerschaftskonflikten zu suchen, wird schablonisiert und polarisiert. Nicht wenige Politiker und Politikerinnen führen — so möchte ich fast sagen — moderne Kreuzzüge,

(Dr. Niehuis [SPD]: Ja, Hoffacker!)

sei es im Namen eines vermeintlich grenzenlosen Selbstbestimmungsrechts der Frau, sei es aber auch im Namen eines moralischen Rigorismus.

(Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ CSU)

In der Unionsfraktion wird sich eine Kommission um verfassungskonforme Lösungen bemühen und einen



Ursula Männle
Konsens suchen. Wie Sie wissen, lehnt die CSU die von vielen propagierte Fristenlösung, die auch von Ihnen heute genannt worden ist und die der Frau das Recht gibt, während der ersten zwölf Wochen einer Schwangerschaft eigenmächtig zu entscheiden, ob ungeborenes Leben getötet werden soll oder nicht, ab.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Würfel [FDP]: Eigenverantwortlich!)

Ich möchte noch zusätzlich zu bedenken geben, daß die Fristenregelung der Frau auch die alleinige Entscheidungsverantwortung überträgt. Die langfristigen Folgen einer derartigen Totalprivatisierung der Abtreibungsfrage müssen bedacht werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Lassen Sie mich einige nennen. Die Gesellschaft entledigt sich damit eines Stücks ihrer Mitverantwortung. Der Staat entzieht sich seiner Verpflichtung, dem Lebensschutz und dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes durch das Recht Priorität einzuräumen. Gesellschaftlich-staatliche Mitverantwortung heißt Hilfe zur verantwortlichen Entscheidungsfindung durch eine umfassende Beratung, die auch Aufklärung über finanzielle staatliche Angebote und praktische Unterstützung einschließt. Notwendig sind Anwälte und Anwältinnen, die für die Betroffenen, die ihre Rechte noch nicht selbst artikulieren und einklagen können, reden.
Die Bundesregierung hat in den neuen Bundesländern zügig mit dem Aufbau von Beratungsstellen in pluraler Trägerschaft begonnen. Zur Zeit werden aus Bundesmitteln 69 Beratungsstellen finanziert, ein Drittel der vorgesehenen Stellen, legt man den Richtwert — eine Beratungsstelle pro 40 000 Einwohner — zugrunde.
Frauen in den neuen Bundesländern trifft der wirtschaftliche Transformationsprozeß, der Umbau der Kommandowirtschaft in eine Soziale Marktwirtschaft, besonders hart. In den Beratungsgesprächen muß auf die frauenspezifische Situation in einer Phase radikalen gesellschaftlichen Umbruchs und sozialer Unsicherheit eingegangen werden. Den Frauen müssen durch breite Informationen Lebensperspektiven für sie und ihre Kinder aufgezeigt und praktische Hilfen angeboten werden.
Meine sehr geehrten Damen — ich spreche hier speziell die Damen an — , es gibt keine geschlossene Frauenfront gegen Beratung; diesen Eindruck wollen Sie hier erwecken.

(Dr. Wegner [SPD]: Gegen Zwangsberatung!)

Sie unterliegen hier einer Täuschung. In persönlichen Gesprächen mit betroffenen Frauen wird das Hilfsangebot, das wir ihnen bieten, positiv bewertet. Dies trifft auch auf die Inanspruchnahme der Mittel des neu geschaffenen Unterstützungsfonds „Frauen in Not" in den neuen Bundesländern zu.
Das Recht auf gesellschaftlich-staatliche Mitsprache durch Beratung schließt die Pflicht zur Mithilfe bei der Lösung der Problemsituation ein. Kindererziehung ist keine Freizeitgestaltung für Frauen; sie ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Schutz des ungeborenen Lebens bedeutet vor allen Dingen Förderung der Familie und Anerkennung ihrer gesellschaftlichen Leistungen und verlangt die Einhaltung des Gebots der „Familienverträglichkeit" . Im Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit prüfen wir immer alles auf Umweltverträglichkeit und neuerdings auch auf Frauenverträglichkeit. Prüfen wir doch viele Dinge bei uns einmal auf ihre Familienverträglichkeit!

(Beifall bei der CDU/CSU)


(Vorsitz: Vizepräsident Hans Klein)

Wir brauchen eine kinder- und familienfreundliche soziale Umwelt auch in der Arbeitswelt. Die sozialen Hilfen, durch die die materiellen und zeitlichen Belastungen für Familien gemildert werden, müssen ausgebaut werden. Die Lebensperspektiven und die realen Entfaltungs- und Gestaltungsmöglichkeiten von Frauen und Männern sind entscheidende Beweggründe für das Ja zum Leben mit Kindern.
In den Koalitonsverhandlungen sind die Frauen- und familienpolitischen Ziele klar markiert. Zu nennen sind vor allem: ein geplantes Artikelgesetz zur Gleichberechtigung von Frau und Mann, ein umfassendes Gesetzeswerk zur Frauenförderung im Beruf, in der Familie und in der Gesellschaft, des weiteren der Ausbau der beruflichen Reintegrationshilfen für Frauen nach der Familienphase durch Verlängerung des Sonderprogramms Wiedereingliederung und Verbesserung der Leistungen des Arbeitsförderungsgesetzes — auch dies haben wir vereinbart — , Verlängerung des Erziehungsurlaubs mit Beschäftigungsgarantie auf drei Jahre und des Bezugs von Bundeserziehungsgeld auf zwei Jahre.
Attacken, die hier geritten werden, sind meines Erachtens heuchlerisch. In Berlin wurde die rotgrüne Familienpolitik richtig demonstriert: Tätigkeit des Bundes wurde mit Kürzung des Landeserziehungsgeldes beantwortet. Wir erwarten, daß jetzt alle Bundesländer tätig werden, um den Erziehungsurlaub entsprechend auszuführen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir wollen auch einen Rechtsanspruch auf Kindergartenplatz für Drei- bis Sechsjährige. Ich weiß gar nicht, warum Sie sich darüber so mokieren.

(Zurufe von der SPD)

Sie haben doch selbst bei der Beratung des Kinder-und Jugendhilferechts den Antrag gestellt, und jetzt sagen Sie: Wie soll dieser Rechtsanspruch umgesetzt werden? Dann frage ich Sie, wie ernsthaft Ihr damaliger Antrag war.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD: Wir zweifeln an Ihnen!)

Wir haben noch vielfältige andere Punkte, die zum großen Teil auch schon von Frau Ministerin Rönsch dargestellt worden sind. Deswegen möchte ich hier im Rahmen dieser Rede darauf verzichten. Ich denke, staatliche Hilfen sind nur begrenzt wirksam. Nicht alles ist staatlich regel- und planbar.

(Zuruf von der SPD: Sehr richtig!)




Ursula Männle
Lassen Sie mich einige Beispiele geben. Arbeitgeber müssen durch Tarifverträge verpflichtet und durch staatliche Anreize bewogen werden, familienfreundliche Arbeitszeiten anzubieten. Gewerkschaftliche Politik für Arbeitnehmer greift dann zu kurz, wenn die Interessen von Arbeitnehmern als Familienväter und Familienmütter nicht mit einbezogen werden. Auch dann sind die Arbeitgeber gefragt, wenn es um Einstellungen von jungen Frauen geht, wenn es z. B. um befristete Arbeitsverhältnisse und ähnliches geht. Das ist für junge Frauen eine ganz problematische Situation.
Lassen Sie mich noch einen anderen Bereich ansprechen: Eigentum verpflichtet. An diesen Grundsatz unserer Verfassung wurden wir in den vergangenen Wochen mehrfach erinnert. Berechtigter Protest wird laut, wenn z. B. Mietangebote sich ausschließlich an deutsche Mitbürger richten, wenn Ausländer offen oder versteckt diskriminiert werden. Empörung ist rar, wenn Anzeigen von Vermietern den Passus „Kinder nicht erwünscht" enthalten. Eigentum verpflichtet auch und gerade gegenüber Familien.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201414400
Frau Professor Männle, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Prof. Ursula Männle (CSU):
Rede ID: ID1201414500
Ja.

Doris Odendahl (SPD):
Rede ID: ID1201414600
Frau Kollegin, darf ich Sie auf Grund Ihres Hinweises auf die Verpflichtung der Arbeitgeber fragen, ob denn der Bund als wesentlicher Arbeitgeber seiner Verpflichtung zur Frauenförderung entsprechend nachkommt und auch schon entsprechende Erfolge erzielt hat?

Prof. Ursula Männle (CSU):
Rede ID: ID1201414700
Die Richtlinie für den öffentlichen Dienst, die erlassen worden ist — und die Zahlen beweisen es — , war durchaus erfolgreich. Ich sage Ihnen: Wir wollen daß die Richtlinie in Gesetz umgemünzt wird, um dies noch deutlicher durchzusetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich möchte das Beispiel aufgreifen, das vorhin die Kollegin der SPD als kinderunfreundlich bezeichnet hat. Ich empfinde dies auch. Ich muß sagen, ein Richterspruch, der zwar den Bau eines Kindergartens zuläßt, aber nicht den dazugehörigen Spielplatz wegen des zu erwartenden Lärmpegels, spricht nicht dafür, daß unsere Gesellschaft kinderfreundlich ist.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und beim Bündnis 90/GRÜNE)

Wir müssen dafür sorgen, daß dies nicht weiter möglich ist.
Lassen Sie mich als letztes noch hinzufügen: Unsere Gesellschaft braucht auch dringend eine Ächtung der Doppelmoral, der alltäglichen Politik der Doppelzüngigkeit. Nicht selten gibt es ein Nebeneinander von verbalem Ja zum Leben und praktischem Nein zur Hilfe für Betroffene in Notsituationen. Selbsternannte Lehrer und Richter politischer Moral, die ihre Überzeugungen mediengerecht präsentieren, Worte und Taten ihrer Mitbürger und vor allen Dingen auch der Politiker und Politikerinnen mit der Goldwaage beurteilen, sich aber selber z. B. ihren Vaterpflichten entziehen, benötigen dringend Nachhilfeunterricht, auch in Zahlungsmoral.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD — Zuruf von der CDU/CSU: Meinen Sie Herrn Alt?)

— Ganz recht, ich meine Herrn Alt. Das SanktFlorians-Prinzip treibt seltsame Blüten in unserer Männergesellschaft.
Leider zeigt der Herr Präsident mir schon das rote Licht, so daß ich nicht mehr fortfahren kann und mich auf den einen Punkt beschränken mußte. Aber ich denke, dies war ein wichtiges Gebiet in dieser Haushaltsdebatte.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201414800
Zu einer Kurzintervention Frau Kollegin Würfel.

Uta Würfel (FDP):
Rede ID: ID1201414900
Ich würde gern noch einmal etwas zu den Bemerkungen aus dem sozialdemokratischen Lager sagen,

(Zuruf von der SPD: „Lager"? — Karwatzki [CDU/CSU] [zur SPD gewandt]: Fraktion!)

zu der immer als ,,Kindermädchenregelung" gescholtenen steuerlichen Absetzbarkeit von Aufwendungen für Pflegekräfte in der Familie oder für Erziehungshilfen oder Kinderbetreuungshilfen. Das ist ja teilweise auch — um es einmal so auszudrücken — auf meinem Mist gewachsen,

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Von „Mist" würde ich hier nicht reden!)

und ich habe mir dabei sehr wohl etwas gedacht.
Sie sprechen doch immer davon, daß es keine ungeschützten Arbeitsverhältnisse geben solle. Wenn wir die Familie nun schon als Unternehmen sehen und die Möglichkeit schaffen, daß die Familien Kosten steuerlich absetzen können, die ihnen aus der Schaffung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungen entstehen, so habe ich eigentlich erwartet, daß auch Sie als Sozialdemokratinnen das als etwas sehr Positives ansehen, zumal der Sinn dahinter ja nicht der ist, einer Arztfrau die Möglichkeit zu geben, ihre Aufwendungen für die Betreuungskraft für die Älteren in der Familie, die pflegebedürftig sind, oder für ihre Kinder von der Steuer abzusetzen, sondern es beispielsweise drei alleinerziehenden Müttern zu ermöglichen, eine Tagesmutter zu beschäftigen und die Kosten für diese Tagesmutter anteilig von der Steuer, die die Familie oder — in diesem Fall — die Alleinerziehende zu leisten hat, abzusetzen. Das ist der Hintergrund dieser Regelung.
Zweite Bemerkung: Daß 1 700 Kindergartenplätze in Rostock unbesetzt sind, muß uns doch sehr zu denken geben. Könnte es nicht sein, daß es genau andersherum ist, als es hier dargestellt worden ist — immer nach dem Motto: Ein halbvolles Glas ist in erster Linie halbleer —, nämlich so, daß es genügend Mütter gibt, die ihre Identität eben nicht aus der Erwerbstätigkeit ableiten, sondern ganz andere Ziele in ihrem Leben verfolgen und der Auffassung sind, daß es richtig und angemessen ist, ihre Kinder über einen längeren Zeitraum zu Hause zu erziehen, die sehr viele Freude



Uta Würfel
daran haben und in der Elternschaft das für sie Wichtige im Leben sehen und überhaupt nicht darunter leiden oder einen Mangel an Selbstachtung darin sehen, ihre Kinder zu Hause allein zu betreuen? Dies so zu sehen, zu Hause bleiben zu können und Bedingungen anderer Art vorzufinden ist auch in der ehemaligen DDR sicherlich gegeben gewesen und wird heute in einem ganz anderen Maße ausgelebt, als es früher möglich war.
Unbeschadet dessen ist es natürlich richtig und wichtig, für all diejenigen Fälle, in denen aus finanziellen oder auch aus anderen Gründen die Notwendigkeit besteht, erwerbstätig zu sein, Betreuungseinrichtungen zu schaffen, die sich aber in der Qualität ganz sicher von dem unterscheiden müssen, was in der ehemaligen DDR für die Familien geboten wurde.
Ich persönlich habe es nie als einen besonderen Fortschritt angesehen, einjährige Kinder um fünf Uhr morgens aus dem Tiefschlag zu reißen und sie in den nächsten Kinderhort zu schaffen, um sie dort dann unter Umständen zehn Stunden lang außerhalb der Familie zu belassen. Das hat für mich mit Vereinbarkeit von Familie und Beruf nichts mehr zu tun. So kann sich überhaupt kein soziales Gefüge innerhalb der Familie entwickeln, .. .

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201415000
Frau Kollegin, ich bitte, zum Schluß zu kommen.

Uta Würfel (FDP):
Rede ID: ID1201415100
. . . wenn ich meine Kinder nur am Wochenende für wenige Stunden zur Verfügung habe und ihre Entwicklung gar nicht begleiten kann. Für mich war das nie ein Fortschritt.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201415200
Das Wort zur Erwiderung ihm Rahmen einer Kurzintervention hat Herr Kollege Dr. Elmer.

Dr. Konrad Elmer (SPD):
Rede ID: ID1201415300
Frau Kollegin, ich würde Ihrer Deutung dieser vielen freien Kindergartenplätze gerne folgen, wenn die Arbeitslosenrate unter Frauen in Rostock nicht mindestens ebenso hoch wäre.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201415400
Das war in der Tat kurz.
Als nächstes hat das Wort der Bundesminister des Innern, Dr. Wolfgang Schäuble.

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1201415500
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bundesfinanzminister hat gestern den Bundeshaushalt 1991 den Haushalt der deutschen Einheit genannt. Der Beitrag, den die Innenpolitik zur möglichst raschen Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse in ganz Deutschland leisten kann und leisten muß, ist vor allem, zum schnellen Aufbau einer leistungsfähigen Verwaltung in den fünf neuen Ländern beizutragen. Die neuen Länder müssen so rasch wie möglich in der Lage sein, ihre Verantwortung selbst wahrzunehmen, und das heißt, daß sie vor allem leistungsbereite und befähigte Mitarbeiter brauchen, und dies heißt vor allem, daß sie Mitarbeiter aus den fünf neuen Ländern selbst zur Erfüllung der Verwaltungsaufgaben brauchen.
Der Einigungsvertrag hat die Voraussetzungen für die Ernennung von Beamten in den neuen Bundesländern geschaffen, und die Bundesregierung hat auch die notwendigen Übergangsregelungen getroffen. Natürlich kommt der Bezahlung qualifizierten Personals immer eine Schlüsselfunktion zu, denn Leistungswillen kann nur erwarten, wer Arbeit auch leistungsbezogen bezahlt.
Der Tarifabschluß vom 5. März 1991 sieht vor, die Grundstrukturen des Vergütungs- und Lohnsystems des öffentlichen Dienstes im bisherigen Bundesgebiet in vollem Umfang auch in den neuen Ländern anzuwenden. Ab Juli 1991 werden die Löhne und Gehälter in Höhe von 60 % der jeweiligen Beträge im Tarifgebiet West bezahlt.
Ich will in diesem Zusammenhang auch an die Tarifparteien appellieren, bei den derzeit laufenden Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst dem Ziel der Herstellung einheitlicher Bezahlungsverhältnisse Priorität einzuräumen. Wir sollten den Bogen nicht überspannen. Ich halte es auch nicht für vertretbar, wenn die laufenden Verhandlungen, in denen die öffentlichen Arbeitgeber ein Angebot vorgelegt haben, in diesen Tagen mit ungerechtfertigten Aktionen, die auf dem Rücken der Bürger ausgetragen werden, belastet werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der Tarifabschluß für die Bediensteten in den fünf neuen Ländern wird auch für die Besoldung analog übernommen werden. Mit der zweiten Besoldungsübergangsverordnung soll grundsätzlich die amtsgemäße, leistungsbezogene Besoldung in Höhe von 60 % der Westbesoldung eingeführt werden, das Bundesbesoldungsgesetz soll mit seinen Strukturen und Bewertungen umfassend eingeführt werden.
Leistungswillige Mitarbeiter können Leistungen nur erbringen, wenn man ihnen die notwendige Qualifikation vermittelt. Deswegen steht im Vordergrund der Hilfen von Bund und Ländern für den Aufbau der Verwaltung die Gewährung von Hilfen bei der Ausbildung und Qualifikation.
Wir bieten Ausbildungs- und Praktikantenplätze in großer Zahl im Westen bei Bund und Ländern an, wir bieten Aus- und Fortbildungslehrgänge sowohl in den westlichen elf Ländern als auch in den neuen Ländern an, und wir stellen den neuen Ländern beim Aufbau eigener Aus- und Fortbildungseinrichtungen Lehrpersonal zur Verfügung. Der Bund allein fördert Aus-und Fortbildungsmaßnahmen, an denen bis 1992 mehr als 30 000 Mitarbeiter aus den neuen Ländern teilnehmen werden. Ich möchte auch den elf alten Bundesländern danken, die im Rahmen der Verwaltungshilfe Aus- und Fortbildungsveranstaltungen durchgeführt haben, an denen bereits über 5 000 Bedienstete teilgenommen haben.
Natürlich können die neuen Bundesländer und ihre Gemeinden eine funktionsfähige Verwaltung nicht in kurzer Zeit aus eigener Kraft allein bewerkstelligen, und deshalb müssen wir helfen. Die elf alten Bundesländer konzentrieren ihre Hilfe auf die jeweiligen Partnerländer. Die Hilfe des Bundes erfolgt für übergreifende Fragen über die Clearingstelle, die sich aus Vertretern des Bundes, der Länder und der kommu-



Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
nalen Spitzenverbände zusammensetzt. Mit dieser Clearingstelle haben wir eine Zentrale zur Klärung von Fragen im Zusammenhang mit dem Aufbau der Verwaltung und der Einführung des im bisherigen Bundesgebiet in über 40 Jahren gewachsenen Rechtssystems zur Verfügung. Diese Clearingstelle hat vielfältige Hilfe für den Aufbau einer rechtsstaatlich handelnden und leistungsfähigen Verwaltung in den fünf neuen Ländern geben können, sie steht ständig für die Koordinierung der Arbeiten beim Aufbau der Verwaltung zur Verfügung.
Mein Haus gibt einen Info-Dienst „kommunal" in bisher über 20 Ausgaben mit einer Auflage von mehr als jeweils 20 000 Exemplaren für alle Gemeinden, Städte, Kreise und alle kommunalen Mandatsträger in den fünf neuen Ländern heraus. Dieser Informationsdienst hat sich als eine wertvolle Orientierung für alle Fragen der kommunalen Praxis erwiesen.
Der Kollege Dr. Waffenschmidt hat zum wiederholten Male in allen neuen Bundesländern Kommunalkonferenzen durchgeführt, die dem Informations-und Erfahrungsaustausch vor Ort dienen. Ein Großteil der Mitarbeiter aus dem früheren Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen wird unter der Leitung von Staatssekretär Priesnitz dafür eingesetzt, als Berater für die Landkreise, Städte und Gemeinden in den neuen Bundesländern ständig zur Verfügung zu stehen. Wir haben dabei nicht zuerst nach Zuständigkeiten des Bundes gefragt, sondern meinen, daß in einer solchen Zeit des Übergangs die Frage der Zuständigkeiten erst in zweiter Linie wichtig ist. Wichtig ist, daß wir unbürokratisch und so rasch wie möglich mit Rat und Tat helfen.
Hilfe beim Aufbau einer funktionstüchtigen Verwaltung heißt auch, den neuen Ländern mit qualifiziertem und leistungsfähigem Personal aus den alten, westlichen Ländern für eine Übergangszeit unter die Arme zu greifen. Wir wollen Mitarbeiter, die aus den alten Ländern zeitweilig in die neuen gehen, nachhaltig fördern, um Leistungsbereitschaft und Mobilität anzuregen. Wir haben dazu vorgesehen, daß etwa die Perspektiven für die weitere berufliche Entwicklung solcher Mitarbeiter verbessert werden durch günstigere Beförderungs- und erleichterte Aufstiegsmöglichkeiten, durch die Einführung eines auf Dienstposten im Osten beschränkten Verwendungsaufstieges, durch finanzielle Besitzstandswahrung in vollem Umfange, durch den Zuwachs des vollen Beförderungsgewinns, durch die Gewährung einer Zulage für die Wahrnehmung höherwertiger Funktionen im Beitrittsgebiet, durch die Erhöhung und Verlängerung der geltenden, bis zum 31. März befristeten Aufwandsentschädigungsregelung. Ich hoffe sehr, daß im Haushaltsausschuß des Hohen Hauses die Bereitschaft, diese Aufwandsentschädigungsregelung zu verlängern, jetzt größer sein wird. Ich hoffe, daß auch der frühere Kollege Kühbacher in Zukunft die Gewährung dieser Aufwandsentschädigung unterstützen wird, die er im letzten Jahr noch heftig kritisiert hat.
Schließlich wollen wir auch Beihilfen für wöchentliche Familienheimfahrten gewähren, notfalls auch unter Übernahme der Flugkosten bei ungünstigen Verkehrsverbindungen. Wir wollen auch Pensionären, die im Beitrittsgebiet tätig werden, diesen Einsatz
ermöglichen, um die Erfahrung noch einsatzfähiger Mitarbeiter im Ruhestand für den Neuaufbau zu erschließen. Wir wollen deshalb auf die Anrechung des auf solche Weise erzielten Einkommens auf die Pension für einen begrenzten Zeitraum verzichten. Ich glaube, daß auch dies eine in dieser Übergangszeit richtige und notwendige Maßnahme ist.
Schließlich stellt der Bund, um die personelle Verwaltungshilfe für die neuen Länder und vor allen Dingen für die Landkreise und Kommunen zu verstärken, Personalkostenzuschüsse an Landkreise, kreisfreie Städte und kreisangehörige Gemeinden 1991 und 1992 in Höhe von jeweils 100 Millionen DM zur Verfügung. Ich hoffe, daß diese Personalkostenzuschüsse — im Gegensatz zum vergangenen Jahr — jetzt in den Jahren 1991 und 1992 von den Kommunen in den fünf neuen Ländern auch in Anspruch genommen werden.
Mit diesem Maßnahmenpaket — auch mit den wesentlichen Verbesserungen für die finanzielle Ausstattung der fünf neuen Länder seit der Konferenz des Bundeskanzlers mit den Regierungschefs aller Bundesländer am 28. Februar — setzen wir die fünf neuen Länder instand, leistungsfähige Verwaltungen aufzubauen. Aber ich will auch dieses sagen: mit den Hilfsangeboten allein werden sich die Verhältnisse nicht ändern. Es kommt darauf an, daß unsere Angebote auch angenommen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die neuen Länder — und es wird Zeit, daß wir dazu auch ein nachdenkliches Wort sagen — müssen ihre Verantwortung auch wahrnehmen. Ich sage in diesem Zusammenhang, daß öffentliche Klage über mangelnde Hilfe aus Bonn oder aus dem Westen nicht mehr überzeugend klingt, wenn diejenigen, die solche Klage führen, sich nicht zugleich in der Lage oder bereit erweisen, angebotene Hilfe anzunehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich sage dies ohne Vorwurf; denn ich weiß, die fünf neuen Länder stehen am Anfang, und nach über 40 Jahren sozialistischem Zentralismus fällt das Denken in föderalen Strukturen, das heißt in der Selbständigkeit und Eigenverantwortung von kommunaler Selbstverwaltung und von Ländern als staatlicher Ebene, nicht leicht. Aber wir müssen damit anfangen. Der Schritt der Gründung der fünf neuen Länder am 14. Oktober vergangenen Jahres war richtig und notwendig. Die Menschen, die sich in 40 Jahren Sozialismus nicht mit ihrem Staat identifizieren konnten, haben ja noch während der friedlichen Revolution ihrer Sehnsucht Luft gemacht, daß die alten Länder wieder entstehen sollten. Aber deshalb müssen diese Länder jetzt schnell funktionsfähig werden. Sie müssen dazu ihre Verantwortung übernehmen. Alle müssen diese Verantwortung tragen, die neuen Länder, der Bund, auch die alten Länder. Dies gehört zum Föderalismus.
Wenn ich etwa aus den Ländern Kritik daran höre, daß die Beratung von Kommunen in den neuen Ländern nicht Sache des Bundes sei, dann stört mich dies wirklich in dieser Lage, in der wir uns befinden; denn ich finde, wir sollten jetzt unbürokratisch alle miteinander Hand anlegen, und jeder sollte im Rahmen sei-



Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
ner Möglichkeiten so rasch und so unbürokratisch helfen wie irgend möglich.
Der Wunsch nach der Wiederherstellung der Länder in der früheren DDR hatte viel mit dem Wunsch der Menschen nach Identifikation mit ihrem eigenen Lebensraum zu tun. Deswegen gehört dazu — ganz wichtig — , daß wir die kulturellen Einrichtungen im Beitrittsgebiet und das kulturelle Erbe dieser Länder und Landschaften erhalten. Wir sind hier in die Pflicht genommen, die kulturelle Substanz in den neuen Ländern vor weiterem Schaden zu bewahren.
Die Bundesregierung hat, um schnell zu helfen, im November vergangenen Jahres eine Übergangsfinanzierung von 900 Millionen DM zur Verfügung gestellt. Zwei Drittel dieses Betrages werden für einen Sonderfonds „Förderung gefährdeter kultureller Einrichtungen und Veranstaltungen" — insbesondere von europäischem Rang — vorgesehen, zu dem die fünf Länder Förderlisten erstellt haben. Ein Drittel des Gesamtbetrags soll für ein kulturelles Infrastrukturprogramm verwendet werden, um wichtige Einrichtungen zu erhalten oder zu leistungsfähigen kulturellen Zentren umzugestalten.
Auf Grund der über Jahrzehnte völlig unzureichenden Pflege und Erhaltung ist die Substanz vieler Baudenkmäler und Ortskerne in einem desolaten Zustand. Zum Zwecke des Denkmalschutzes, der nicht in die vorgenannte Übergangsfinanzierung einbezogen ist, sind in meinem Haushalt im Rahmen des Programms zur Denkmalpflege und zur Erhaltung historischer Bausubstanz für 1991 und 1992 jeweils zusätzliche 50 Millionen DM vorgesehen. Verbunden mit den zusätzlichen Mitteln des Geschäftsbereichs des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau können wir damit erste Schritte zur dringend notwendigen Erhaltung der denkmalpflegerischen Substanz leisten.
Auch die trotz ideologischer Bevormundung beachtliche Filmkultur in der früheren DDR, die besonders mit dem traditionsreichen Produktionsschwerpunkt Potsdam-Babelsberg verbunden war, muß erhalten bleiben:

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der PDS/ Linke Liste und beim Bündnis 90/GRÜNE)

Die kulturelle Filmförderung des Bundes ist deshalb zeitgleich mit der Wiederherstellung der deutschen Einheit für die Filmschaffenden auch im Beitrittsgebiet eröffnet worden.
Ziel der Bundesregierung war und bleibt, von der kulturellen Substanz in den fünf neuen Ländern so viel wie irgend möglich zu erhalten. Der Bund wird allein 1991 über 1,2 Milliarden DM zur Deckung des gewaltigen Defizits in den Kulturhaushalten der fünf neuen Länder beisteuern. Der Bund geht damit an die Grenze des ihm Möglichen — ihm Möglichen! —, sowohl in finanzieller wie auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht. Wir möchten dazu beitragen, daß die neuen Länder und Kommunen sobald wie möglich ihre Aufgaben im Kulturbereich selbst wahrnehmen können. Weil Kultur ureigenste Aufgabe der Länder ist, sollten auch die elf alten Länder ihre Zurückhaltung aufgeben und einen eigenständigen Beitrag zur
Sicherung der kulturellen Substanz in den Beitrittsländern leisten,

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

denn diese Probleme sind für uns alle eine Herausforderung. Sie bedeuten für den Föderalismus eine entscheidende Bewährungsprobe. Wenn Kulturförderung Sache der Länder ist, müssen auch die Länder ihre entsprechende Verantwortung jetzt wahrnehmen.
Ich habe auch die Hoffnung, daß es gelingen wird, die bisherige gemeinsame Trägerschaft der Stiftung Preußischer Kulturbesitz durch Bund und Länder künftig möglichst mit allen Ländern des größer gewordenen Deutschlands fortzusetzen. Es bereitet mir Sorge, daß im Haushalt 1991 der Stiftung zwar der Bund seinen Finanzierungsanteil an dem durch die Vereinigung der Sammlungen erhöhten Zuschußbedarf bereitstellen will, aber die alten Bundesländer ihrer Verpflichtung bisher nicht entsprechen wollen. Auch dies ist kein gutes Verständnis von kooperativem Föderalismus. Ihren Standpunkt, den zusätzlichen Mittelbedarf für die hinzugekommenen Sammlungen müsse allein der Bund tragen, halte ich für verfehlt, auch aus kulturpolitischen Erwägungen. Die Stiftung war bisher ein gutes Beispiel für kooperativen Föderalismus, und dies sollte sich auch in einer Zeit bewähren, in der die Lasten für alle gestiegen sind.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

Die Einheit Deutschlands muß — und auch dazu möchte ich noch ein paar Sätze sagen — auch im Sport wachsen. Wir müssen die Kommando- und Staatssportstrukturen in der ehemaligen DDR abbauen. Wir müssen das in der ehemaligen DDR aufgebaute deutsch-deutsche Feindbild im Bereich des Sports abbauen und beim Aufbau demokratischer Strukturen helfen, und wir wollen die international herausragende Stellung der Spitzenathleten der ehemaligen DDR so gut wie möglich erhalten.
Auch dafür hat die Bundesregierung ihre Verantwortung angenommen und zusätzliche Mittel bereitgestellt, etwa für die Erhaltung der Trainingseinrichtungen des Spitzensports, für die Erhaltung der für den Spitzensport notwendigen angestellten Trainer in diesen Einrichtungen, für die soziale Absicherung der Spitzenathleten, für den Aufbau der Strukturen der Fachverbände in den neuen Bundesländern und schließlich für die Fortführung wichtiger sportwissenschaftlicher Einrichtungen.
Zu den Altlasten gehört das Doping-Problem. Wir haben deshalb mit dem Deutschen Sportbund und dem NOK eine unabhängige Expertenkommission eingesetzt, die Strukturen aufdecken soll, die zum Doping geführt haben, und die Handlungskonzepte entwickeln soll, um für die Zukunft Doping zu vermeiden.
Sie werden mir im übrigen bei der Feststellung zustimmen, daß bei allen Schwierigkeiten im Detail und bei aller grundsätzlichen Verschiedenheit der alten Systeme der Vereinigungsprozeß gerade im Sport erstaunlich reibungslos und bis jetzt erfolgreich verlaufen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)




Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
Ich möchte mich, Herr Präsident, an dieser Stelle auf diese Ausführungen beschränken. Ich habe zu den Grundlinien der Innenpolitik bei der Aussprache über die Regierungserklärung des Bundeskanzlers Stellung genommen. Es wird in dieser Legislaturperiode neben den Herausforderungen, die die deutsche Einheit mit sich bringt, vor allem darauf ankommen zu verhindern, daß die Veränderungen in Osteuropa und die Öffnung der Grenzen eine Massenwanderung von Ost nach West auslösen und daß das Fallen des Eisernen Vorhangs und die Abschaffung der Grenzkontrollen in der Europäischen Gemeinschaft etwa dazu führen, daß Grenzen vor allem für organisierte Kriminalität offen werden.
Aber entscheidend ist, daß wir die Chancen, die das Verschwinden des Eisernen Vorhangs und die Öffnung der Systeme und Grenzen mit sich bringen, nützen. Je schneller die größer gewordene Bundesrepublik Deutschland in ihrer Gesamtheit ein Hort der Freiheit, der Gerechtigkeit und des sozialen Friedens wird, desto schneller werden die Gräben überwunden, die über 40 Jahre Teilung zwischen Ost und West und zwischen Freiheit und Diktatur geschaffen haben; Gräben, die unser Land und unseren Kontinent getrennt haben und die wir jetzt überwinden müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201415600
Das Wort hat der Abgeordnete Wartenberg.

Gerd Wartenberg (SPD):
Rede ID: ID1201415700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Durch die deutsche Einheit haben sich auch die Schwerpunkte der deutschen Innenpolitik verlagert. Die besonderen Schwierigkeiten in den neuen Bundesländern und auch in Berlin setzen besondere Anstrengungen der Innenpolitik voraus, um die Gleichheit der Lebensbedingungen in den Beitrittsländern zu gewährleisten.
Herr Bundesminister, Sie sind im letzten Jahr bei der Ausarbeitung des Einigungsvertrages für den Arbeitseinsatz gelobt worden, den Sie und Ihre Mitarbeiter geleistet haben. Dennoch wissen wir, daß der Einigungsvertrag — sei es aus Zeitdruck, sei es aus Fehleinschätzung oder auch aus Ignoranz — dramatische Mängel aufweist. Gerade Sie als Innenminister und Ihr Haus sind deswegen verpflichtet, die Unzulänglichkeiten des Einigungsvertrages zu heilen, denn jede Unzulänglichkeit des Vertrages trifft in dramtischer Weise einzelne Menschen. Der inneren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland muß heute eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Wo sind denn nun die Schwächen?)

— Dazu kommen wir gleich noch. — Innere Sicherheit verstehe ich hier nicht im engeren Sinne, sondern ich spreche von jener Form der inneren Sicherheit und Zufriedenheit, die erst dann entsteht, wenn die Bürgerinnen und Bürger der Beitrittsländer das Gefühl haben, daß im Arbeits- und Privatleben eine positive Perspektive geboten wird. Gerade der Verfassungsminister — das sind auch Sie als Innenminister — muß ein vorrangiges Interesse daran haben, daß die Menschen Vertrauen in unsere Verfassung und Demokratie gewinnen. Hier sind die Gefährdungen groß. Der vorsätzliche Versuch der Bundesregierung im letzten Jahr, die Menschen mit Versprechungen zu täuschen, hat schon heute zur Entfremdung gegenüber der Politik geführt. Diese Entfremdung schlägt sehr schnell in Wut und Aggression um. Noch nie wurde so deutlich, daß innere Sicherheit und innere Stabilität von den sozialen und gesellschaftlichen Voraussetzungen abhängen, die das vereinte Deutschland bieten muß.
Der Aufbau der Verwaltung hat besonderen Vorrang. Das haben Sie eben an mehrern Beispielen deutlich gemacht. Wir wissen, daß in den neuen Bundesländern viele Menschen in der Verwaltung überfordert sind, weil sie schlagartig mit dem Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland zurechtkommen müssen. Es muß weiterhin Hilfe durch westdeutsche Beamte und andere Fachkräfte, aber auch durch Umschulungsmaßnahmen geleistet werden. Einige Maßnahmen, die auf dem Weg sind, begrüßen wir. Wir werden noch weiter darüber diskutieren müssen.
Der Aufbau der Verwaltung ist auch deswegen wichtig, weil die in diesem Haushalt vorgesehenen zusätzlichen Mittel für die neuen Bundesländer nur ausgegeben werden können, wenn eine halbwegs funktionierende Verwaltung in der Lage ist, diese Mittel auch abzurufen und umzusetzen. Ich habe die große Sorge, daß sich der Bundesfinanzminister schon jetzt seine Rückfallposition sichert, indem er am Jahresende, wenn ein Teil der Mittel nicht abgerufen werden kann, mit Häme auf die angebliche Unfähigkeit in den neuen Bundesländern verweist. Wir haben ähnliche Schäbigkeiten dieses Finanzministers schon gegenüber dem früheren Finanzminister der DDR, Herrn Romberg, erlebt.

(Beifall bei der SPD — Gerster [Mainz] [CDU/ CSU]: Na, na, na! Was ist das für eine Sprache!)

Ich warne die Bundesregierung davor, sich in eine solche billige Auffangposition zu begeben. Gerade deswegen muß vom Innenminister der Aufbau einer funktionsfähigen Verwaltung mit Vorrang betrieben werden.
Neben dem Aufbau der allgemeinen Verwaltung ist insbesondere die Polizei in einer schwierigen Situation, die verändert werden muß. Der Personalkörper ist stark reduziert. Die verbliebenen Beamten sind sehr häufig nicht in der Lage, unsere Rechtsvorschriften anzuwenden. Auch hier muß der Bund dringend Hilfe leisten.
Wir wissen, daß die Kriminalitätsentwicklung in den neuen Bundesländern beängstigend ist. Neue Formen der Kriminalität, die es bisher dort nicht gegeben hat, verunsichern die Bürger. Trotzdem müssen wir den Menschen in den Beitrittsländern sagen, daß die Kriminalität im Vergleich zu den alten Bundesländern insgesamt noch relativ gering ist. Während im letzten Jahr 226 000 Fälle in den neuen Bundesländern gemeldet worden sind, sind es in Nordrhein-Westfalen bei etwa gleicher Einwohnerzahl im gleichen Zeitraum 1,2 Millionen Fälle.

(Dr. Altherr [CDU/CSU]: Woran liegt das wohl?)




Gerd Wartenberg (Berlin)

Wir können also froh sein, wenn das Niveau, auf dem sich das jetzt eingependelt hat, gehalten werden kann. Bloß geht das nur, wenn Polizei und Gerichtswesen funktionsfähig sind. Das scheint eine dringende Voraussetzung zu sein, um nicht eine noch stärkere Steigerung der Kriminalität in den nächsten Monaten oder Jahren zu erreichen.
Eine Voraussetzung zur Akzeptanz der Demokratie ist besonders die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit. Wir sind uns darüber einig, daß eine gesetzliche Grundlage für die Nutzung der Stasi-Akten möglichst schnell geschaffen werden muß. Es muß ein sehr weitgehendes Einsichtsrecht für alle Betroffenen möglich sein. Der Umgang mit der Stasi-Vergangenheit wird für uns alle eine Bewährungsprobe sein, nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern.
Jedoch gibt es schon jetzt, am Beginn der Aufarbeitung der Vergangenheit, einen höchst unangenehmen Fall. Der Fall de Maizière hat einen außerordentlich schlechten Nachgeschmack hinterlassen. Herr de Maizière ist nicht, wie eigentlich vorgesehen, vom Präsidium des Deutschen Bundestages überprüft worden, sondern der Bundeskanzler hat den Bundesinnenminister mit der Prüfung beauftrat. Der Bundesinnenminister hat der Öffentlichkeit einen Bericht vorgelegt, der offensichtlich nicht mit dem Bericht identisch ist, den die Behörde Gauck vorgelegt hat. Ich fordere Herrn de Maizière auf, das Präsidium des Deutschen Bundestages damit zu beauftragen, seinen Fall nochmals zu überprüfen,

(Marschewski [CDU/CSU]: Das ist schlimm!)

und dem Präsidium alle Unterlagen der Gauck-Behörde zugänglich zu machen.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE] — Geis [CDU/ CSU]: Alles hat seine Grenzen!)

Es wäre katastrophal, wenn am Beginn der Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit auch nur der Hauch eines Verdachts bestehen bliebe, daß ein ehemaliger Bundesminister und stellvertretender Parteivorsitzender eine Sonderbehandlung erfahren habe.

(Beifall bei der SPD — Marschewski [CDU/ CSU]: Das ist eine Sauerei! Das ist eine echte Sauerei! — Geis [CDU/CSU]: Versuchen Sie keine Türken aufzubauen!)

Um die Akzeptanz für die weitere Aufarbeitung zu erhöhen, meine ich, daß auch Sie, Herr Innenminister, Herrn de Maizière — er ist genauso Abgeordneter dieses Parlamentes wie alle anderen — dazu auffordern müssen.

(Marschewski [CDU/CSU]: Das bestreitet doch kein Mensch! Ihre Art und Weise ist eine Sauerei, ganz ehrlich! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

— Durch Schreiereien werden Sie diesen Vorgang nicht beerdigen können.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ziehen Sie doch die Juso-Hosen aus!)

Die deutsche Einheit hat auch die Aufgaben des Verfassungsschutzes der Altbundesländer reduziert.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Schimäre!)

Fast alle sozialdemokratisch regierten Länder haben daraus vernünftige Schlüsse gezogen: Sie haben ihre Landesverfassungsschutzämter sehr stark abgebaut. Niedersachsen hat den Apparat fast um die Hälfte reduziert.

(Geis [CDU/CSU]: Was ist mit Salzgitter?)

Ich fordere den Bundesinnenminister auf: Setzen Sie ein Zeichen, reduzieren Sie das Bundesamt für Verfassungsschutz drastisch, beschränken Sie die Tätigkeit des Verfassungsschutzes auf den gerade noch notwendigen Kern seiner Aufgaben. Unterbinden Sie, daß in der Öffentlichkeit pausenlos neue Funktionen für den Verfassungsschutz gesucht werden. Organisierte Kriminalität und Vorfeldobservation im Bereich des Waffenexportes sind keine Aufgaben für den Verfassungsschutz. Es wäre ein Hohn, wenn in einer Zeit, in der zum Glück viele Aufgabenfelder des Verfassungsschutzes überflüssig werden, der Verfassungsschutz auf eine schiefe Ebene geriete und wenn das Trennungsgebot zwischen Polizei und Verfassungsschutz schleichend aufgehoben würde.

(Geis [CDU/CSU]: Das will doch keiner!)

Die Zuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland ist, um ein anderes innenpolitisches Thema anzusprechen, in den letzten Jahren eine große Herausforderung für die Länder und Kommunen, aber auch für unsere Bürgerinnen und Bürger geworden. Die Belastungen sind groß. Wir müssen aber den Menschen sagen, daß der Wanderungsdruck auf Westeuropa anhalten wird.
Trotzdem sollten wir uns bemühen, Steuerungsinstrumente zu finden, insbesondere im Bereich der Zuwanderung durch Aussiedler, aber auch im Bereich der Asylbewerber.

(Zurufe von der CDU/CSU: Aha!)

Dies muß eine Verfassungsdiskussion nicht unbedingt einschließen. Wir sind zu einer fairen Diskussion bereit, da wir meinen, daß es eine Lehre der letzten Jahre sein muß, daß dieses Thema nicht dem demagogischen Parteienstreit unterworfen sein darf.

(Beifall bei der SPD)

Ein Beispiel, wie es im Augenblick schlecht läuft, muß konkret angesprochen werden: Den neuen Bundesländern werden 20 % der Asylbewerber sehr mechanistisch zugewiesen, und dies, obwohl die Länder und Kommunen der Beitrittsländer darauf nicht vorbereitet sind.
Es ist bekannt, daß die Menschen in der ehemaligen DDR in einer besonders schwierigen Lage sind, mit der sie selbst häufig kaum fertig werden. Die Gefahr, daß sich Gewalt gegen Asylbewerber und Ausländer als Ventil anbietet, ist groß. Wir haben in den letzten Wochen schlimme Vorfälle erlebt und gesehen, daß die Polizei in den neuen Bundesländern nicht in der Lage ist, die Sicherheit der zugewiesenen Menschen zu gewährleisten. Ich fordere Sie dringend auf, mit den Ländern zusammen die Regelung der 20 %-Zuweisung von Asylbewerbern in den neuen Bundeslän-



Gerd Wartenberg (Berlin)

dern übergangsweise auszusetzen. Wir können es uns nicht leisten, daß es zu derartigen Gewalttätigkeiten kommt. Das ist eine unverantwortliche Politik. Wir müssen in diesen Ländern statt dessen erst die Voraussetzungen für die Aufnahme schaffen.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Was sagt Oskar dazu?)

Wir stehen im Augenblick in der Debatte um die Verhinderung von Rüstungsexporten, aber auch in der Auseinandersetzung um den verstärkten Kampf gegen organisierte Kriminalität. Es gibt eine fatale Bereitschaft, wegen der Vordringlichkeit der Bekämpfung dieser Formen der Kriminalität jedes Mittel einzusetzen. Wir warnen davor, den Einsatz von nachrichtendienstlichen Mitteln bei der Vorbeugung hoffähig zu machen.

(Beifall bei der SPD)

Der liberale Rechtsstaat Bundesrepublik nähme schweren Schaden, wenn wir nach dem Motto „Der Zweck heiligt die Mittel" unsere 40jährige rechtsstaatliche Tradition verließen.

(Beifall bei der SPD — Geis [CDU/CSU]: Wer will denn das? — Dr. de With [SPD]: Der Möllemann will das!)

Der Einigungsvertrag wirkt sich in besonderer Weise auf die Kulturpolitik des Bundes aus, worauf der Innenminister eingegangen ist. Der Bund wird somit zu einem grandiosen Förderer von Kunst und Kultur, was wir unter finanziellen Aspekten begrüßen. In den neuen Bundesländern werden 1,2 Milliarden DM für Kunst und Kultur ausgegeben.
Es ist aber unglaublich, daß der Bundestag kein wirksames Gremium hat, durch das die inhaltliche Kontrolle dieser Mittel gewährleistet wird.

(Beifall bei der SPD)

Wir fordern Sie deswegen auf: Geben Sie Ihren Widerstand gegen einen Kulturausschuß auf.

(Beifall bei der SPD)

Es kann nicht angehen, daß Beamte des Bundes im Gespräch mit Beamten der Länder weiterhin die Gelder verteilen und darüber entscheiden, was gefördert wird, ohne daß das Parlament ein wirksames Mitspracherecht hat. Das kann auch nicht in Ihrem Interesse sein.

(Beifall bei der SPD — Gerster [Mainz] [CDU/ CSU]: Der Thierse soll das entscheiden!)

Innerhalb des Kulturhaushalts gibt es, wie ich eben andeutete, positive Aspekte — Herr Schäuble hat sie vorgetragen — , insbesondere was die Erhaltung des kulturellen Erbes angeht. Aber es gibt auch einige skandalöse Punkte. Immer noch wird die mitteldeutsche Kulturarbeit von hier aus gefördert,

(Marschewski [CDU/CSU]: Sehr gut ist das!)

d. h. Organisationen und Vereine, die hier angesiedelt sind, machen Kulturarbeit für die Beitrittsländer. Ich halte das für peinlich. Dieses Geld steht den neuen Ländern zu. Sie sollen damit ihre eigene Kulturarbeit
machen. Bauen Sie das endlich ab! Da muß ein Schlußstrich gezogen werden.

(Beifall bei der SPD)

Ein weiterer Punkt betrifft die ostdeutsche Kulturarbeit. Auch die ostdeutsche Kulturarbeit, die sich auf Gebiete jenseits von Oder und Neisse und auf deutsche Minderheiten im Ostblock bezieht, muß umstrukturiert werden.

(Beifall des Abg. Dr. de With [SPD])

Es kann nicht angehen, daß der Hauptanteil dieses Geldes an die Bundesvertriebenenverbände geht,

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: 6,8 Prozent!)

die nicht einmal den deutsch-polnischen Grenzvertrag anerkennen. Es kann doch nicht der Sinn sein, daß solche Organisationen hauptsächlich rückwärtsgewandte Kulturpolitik machen. Wir sind dafür, daß eine Förderung der Kulturpolitik weitergeführt wird, auch um Traditionen zu wahren und zu pflegen. Aber diese Verbände, die so eine Art Kriegsfolgelasten sind, sollten damit nicht mehr beauftragt werden.

(Beifall bei der SPD — Marschewski [CDU/ CSU]: Unverschämte Frechheit! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Die Innenpolitik ist auch für den Sport zuständig. Die Mittel für den Sport werden drastisch erhöht. Das ist erfreulich. Allerdings sind von diesen 172 Millionen DM nur ca. 7 Millionen DM als Strukturhilfe für den Aufbau von Fachverbänden in den neuen Bundesländern vorgesehen. Allein die Landessportverbände beziffern in einer Umfrage ihren Vereinsbedarf für 1991 auf 125 Millionen DM.
Das heißt, der ostdeutsche Sport steht vor dem Kollaps. Die finanzielle Basis des Breitensports in Ostdeutschland tendiert gegen Null. Es ist nicht akzeptabel, daß der Bund zwar den Spitzensport und damit die von dem SED-Regime einseitig bevorzugten Strukturen weiter fördert, daß er aber für den Breitensport so gut wie nichts tut.

(Beifall bei der SPD — Baum [FDP]: Doch, er tut etwas, wenn er zuständig ist!)

Unter dem Gebot der Haushaltssparsamkeit werden wir zu diskutieren haben, ob es Aufgabe des Staates sein kann, an der sporttechnischen Aufrüstung weiter teilzunehmen, wie dies in der Forschungs- und Entwicklungsstelle für Sportgeräte in Berlin geschieht. Das Ende des Wettkampfes der politischen Systeme auf deutschem Boden muß sich auch in einer spürbaren „Abrüstung" im staatlich geförderten Hochleistungssport niederschlagen.
Andererseits ist der Sport ein weites Feld für Investitionen: Weniger als die Hälfte der Landkreise in den neuen Ländern verfügen über ein Hallenbad; die Masse der Sportanlagen ist in einem desolaten Zustand.

(Parl. Staatssekretär Lintner: Das ist doch keine Zuständigkeit des Bundes! Der Bund ist doch nicht zuständig!)




Gerd Wartenberg (Berlin)

Die SPD erneuert daher die Forderung nach einem Goldenen Plan, nach einem Sportstättenprogramm für Ostdeutschland.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD — Baum [FDP]: Wer finanziert?)

Wir machen uns zum Fürsprecher der Vereine und der Kommunen. Letztere benötigen endlich eine Finanzausstattung — ich hoffe, daß dafür jetzt Gelder da sind — , die sie in die Lage versetzt, die Sportanlagen vernünftig zu betreiben.
Der Bund muß angesichts der Notlage des Breiten-und Vereinssports in den Ostländern im Zuge seiner Verpflichtung zur Herstellung gleicher Lebenschancen über den eng gesteckten verfassungsrechtlichen Kompetenzrahmen hinaus alle Möglichkeiten nutzen, den Vereinen, den Gemeinden und damit dem Sport insgesamt zu helfen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Da sind andere Dinge vorrangiger!)

Meine Damen und Herren, die konkrete Aufgabenbewältigung in der Innenpolitik muß das Ziel haben, daß unsere demokratische Rechtsordnung auch in den Beitrittsländern — trotz der großen Schwierigkeiten, die sich dort auftürmen — akzeptiert wird. Wenn diese Akzeptanz unseres demokratischen Rechtssystems und die Akzeptanz auch unserer komplizierten Demokratie nicht gelingt, dann scheitert nicht nur eine Bundesregierung, dann wird wohl ein Scheitern der politischen Klasse in der Bundesrepublik insgesamt die Folge sein. Ich glaube, dies müssen wir alle insgesamt verhindern.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD — Marschewski [CDU/ CSU]: Das war aber keine Klasse! — Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Diese Rede hat nichts dazu beigetragen!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201415800
Herr Abgeordneter Dr. Hirsch, Sie haben das Wort.

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1201415900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man kann sicherlich viele weitere Wünsche äußern. Wir sollten uns aber auf die Wünsche konzentrieren, die in unseren Verantwortungsbereich fallen. Der Breitensport ist Sache der Länder und bleibt es, Herr Wartenberg.
Der Haushalt des Innenministers steigt ohnehin um fast 70 %. Vieles davon ist zwangsläufig. Es entspricht der großen nationalen Aufgabe, die Vereinigung mit den neuen fünf Bundesländern und mit ganz Berlin tatsächlich zu vollziehen. Das ist nicht nur ein wirtschaftliches Problem. Es gilt, auch die geistige und politische Infrastruktur eines modernen Staates zu erneuern und die geistigen Schleifspuren von 40 Jahren Gängelung zu überwinden.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Wir entdecken neu, daß eine umfangreiche Infrastruktur, daß eine funktionierende Verwaltung, daß eine berechenbare und Vertrauen genießende Justiz und Rechtsprechung wichtige Voraussetzungen für unsere wirtschaftliche Existenz sind —

(Beifall bei der FDP)

eine glänzende Bestätigung des Berufsbeamtentums.
Darum ist die Revitalisierung der Verwaltung in den neuen Bundesländern für diesen Teil des Haushalts vorrangig, und sie ist bisher nicht gelungen.
Minister Schäuble hat dargestellt, wie der 10Punkte-Plan verwirklicht werden soll. Wir stimmen dem völlig zu. Aber so unverzichtbar es ist, qualifizierte Beamte in den neuen Bundesländern einzusetzen — natürlich nicht zwangsweise — , so ist es doch unsere eigentliche Aufgabe, geeignete Mitarbeiter aus den neuen Bundesländern auszubilden und einzusetzen und ihnen nicht erneut andere Leute vor die Nase zu setzen. Das geht nicht mit acht- oder vierzehntägigen Kursen. Wir brauchen ein ganzes System von Ausbildungshilfen bis hin zu einem umfangreichen Angebot von Praktikantenstellen auf allen Ebenen der Verwaltung, auch auf allen Ebenen der Verwaltungshierarchie, aber auch in der Wirtschaft und in den Wirtschaftsverbänden, die zur freiwilligen Mithilfe aufgerufen werden müssen.
Zur Revitalisierung der Verwaltung gehört aber auch eine ausgewogene Gehaltsstruktur. Die fünf neuen Länder können auch in der Verwaltung keine Billiglohnländer bleiben. Dann laufen die guten Leute eben weg, und das tun sie. Dann sind die Grenzen des Sonderopfers schnell erreicht. Wir wollen die Solidarität aller, aber nicht ein Sonderopfer einzelner Gruppen, und das gilt für den Westen wie für den Osten.

(Beifall bei der FDP)

Zur Revitalisierung der Verwaltung gehört schließlich der Abbau des Mißtrauens. Darum muß schnell abschließende Klarheit darüber geschaffen werden, wer im Stasi-System Täter und wer Opfer war. Die Frage, was mit den Akten zu geschehen hat, in denen wir das erkennen, darf nicht ohne die Kollegen entschieden werden, die in diesem System gelebt haben.
Unsere Grundüberlegung ist, daß der Staat es den Bespitzelten nicht verwehren kann und darf, ihre eigenen Akten zu sehen. Das kann für den einzelnen bitter sein, aber der Staat kann es dem einzelnen nicht verwehren, sich Klarheit über seine eigenen privaten Lebensumstände zu verschaffen, wenn er sie denn haben will.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Der Staat selber aber hat in diesen Opferakten nichts zu suchen. Er sollte für keine seiner Tätigkeiten zu Lasten der Opfer und gegen ihren Willen Zugang zu deren Akten haben.
Die Grundentscheidungen zu diesen Fragen sollten in größtmöglicher Übereinstimmung zwischen den Fraktionen und möglichst schnell getroffen werden. Ich glaube nicht, daß es richtig ist, Einzelfälle hier im Plenum zu erörtern, ohne daß der Betroffene die Möglichkeit hat, sich in irgendeiner Weise dazu zu äußern. Das ist schlechter Stil.

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die zweite elementare Aufgabe ist die Erhaltung unseres gemeinsamen kulturellen Erbes. Dabei geht es nicht nur um Burgen und Schlösser, sondern auch



Dr. Burkhard Hirsch
um das sehr individuelle Bild der Städte und Dörfer, die vom Verfall heute ebenso bedroht sind wie zuvor von den Großplatten. Dazu gehört auch die lebende Kunst. Wir begrüßen, daß im Bundeshaushalt dafür erhebliche Mittel eingesetzt worden sind. Wir folgen der Frage des Bundesinnenministers danach, wie eigentlich die Länder in diesem Bereich ihre besondere Zuständigkeit und damit auch ihre besondere Verantwortung wahrnehmen.
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu Fragen der inneren Sicherheit machen. Ich möchte nur am Rande erwähnen, daß die drastische Vergrößerung der Sicherungsgruppe Bonn des Bundeskriminalamts zum Schutz bedeutender Persönlichkeiten in der vorgelegten Form nicht akzeptiert werden kann. Wir waren uns eigentlich darüber einig, daß diese Aufgabe dem BGS übertragen werden muß. Es wird Zeit für eine ernsthafte, den einzelnen vielleicht enttäuschende Bedrohungsanalyse, um festzustellen, wo eine wirkliche, außerordentliche und für den einzelnen unzumutbare Gefahr vorliegt.
Natürlich nehmen wir das Anwachsen der Kriminalität in den neuen Bundesländern ernst. Natürlich müssen wir bei der Ausbildung und Ausrüstung sowie bei der Motivation einer modernen, dem demokratischen Rechtsstaat verpflichteten und handlungsbereiten Polizei helfen und unsere Erfahrungen anbieten. Aber letztlich werden wir entdecken, daß sich die Kriminalität auch in den neuen Bundesländern auf einem Niveau einpendeln wird, das der Struktur unserer Gesellschaft entspricht. Ich wage es zu sagen, daß die Kriminalität nach allen Erfahrungen von allen Regierungen, wie immer sie politisch zusammengesetzt waren, nur in bestimmten Grenzen beeinflußt werden kann, wenn wir nicht zu drakonischen Maßnahmen greifen, die nur in Diktaturen hingenommen werden, weil dort die Verbrecher selbst in der Regierung sitzen.

(Beifall des Abg. Dr. Schmude [SPD])

Es kommt auf das Maß an, auf das angemessene Mittel, auch bei der Bekämpfung der sogenannten organisierten Kriminalität, von der alle sprechen und unter der sich jeder etwas anderes vorstellt. Daß das so ist, sollte uns nachdenklich machen.
Natürlich müssen wir uns auf die Internationalisierung auch der Kriminalität einstellen. Wir dürfen dabei nicht vergessen, daß sich polizeiliche Rechte immer gegen Leute richten, die möglicherweise unschuldig sind. Es gehört zu den üblichen Phrasen, daß man im Vorfeld tätig werden müsse.
Vor Jahren hat einmal ein großer Kriminalist, den ich persönlich sehr schätze, gesagt, sein Ideal sei, daß die Polizei vor dem Täter am Tatort sein müsse. Er ist später davon abgerückt, weil er gesehen hat, was das in der Wirklichkeit bedeuten würde. Das Vorfeld ist uferlos. Es beginnt mit der Geburt.

(Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause)

Wir kommen nicht umhin, Grenzen zu ziehen. Das ausgewogene Gefüge von Polizeirecht und Strafprozeßordnung ermöglicht nicht nur wirksame Ermittlungen, sondern es bewahrt den Bürger auch vor dem
Übermaß von rücksichtslosem Durchgreifen, wie es früher einmal hieß.
Der Staat und seine Rechtsordnung beruhen nicht auf Rücksichtslosigkeit, nicht nur auf Macht, nicht nur auf Herrschaftsgewalt, sondern eben auch auf der inneren Freiheit, ohne die es keine freien Bürger, sondern nur Untertanen gibt.

(Beifall bei der FDP)

Meine Zeit erlaubt es nicht, auf unser Verhältnis zu Ausländern, zur notwendigen Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, zur Aufnahme politischer Flüchtlinge oder zum Problem der Aussiedler einzugehen. Das sind Gebiete, bei denen wir ebenso auf großzügige Berücksichtigung der Internationalisierung unserer Lebensbeziehungen angewiesen sind wie in der Wirtschaft. Wir suchen in allen diesen Fragen nicht den Streit, sondern die Zusammenarbeit mit der Opposition. Wir wollen gemeinsam darauf achten, daß der Stil und die Zeitpläne unserer Beratungen dem entsprechen.
Ein Parlament, das sich selbst nicht ernst nimmt, wird auch nicht ernst genommen. Wir wollen Ergebnisse, aber wir haben eine eigene Verantwortung, und wir sind keine Abstimmungsmaschine, in die von oben ein Gesetzentwurf hineingesteckt wird, der unten unbeschädigt wieder herauskommen soll.

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Diese Forderung wird immer wieder erhoben und immer wieder mißachtet. Kein Abgeordneter kann sich allein dagegen wehren, aber wir können es gemeinsam tun, und wir sollten das tun.
Wir leben in außerordentlichen Zeiten. Wir werden ihnen nur gerecht werden, wenn wir nicht zuerst an die Macht des Staates, sondern zuerst an unsere Fähigkeit glauben, die Mitarbeit der Bürger zu gewinnen.
Zum Schluß möchte ich noch eine ganz persönliche Bemerkung machen: Ich bin im übrigen der Meinung, daß Bundesregierung und Bundestag möglichst bald entscheiden sollten, daß ihr Sitz in der Hauptstadt dieses Landes ist, also in Berlin.

(Beifall bei der FDP, der SPD, der PDS/Linke Liste und des Bündnis 90/GRÜNE — Zuruf von der CDU/CSU: Einspruch!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201416000
Das Wort hat der Abgeordnete Gerster.

Dr. Johannes Gerster (CDU):
Rede ID: ID1201416100
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich finde, Herr Kollege Wartenberg, Sie haben hier wie ein Mensch aus dem Tal der Ahnungslosen gesprochen.

(Zurufe von der SPD)

— Ich will das an drei Beispielen deutlich machen. Zu Beginn behaupteten Sie, der Einigungsvertrag hätte Schwächen. Als ich dazwischenrief „Welche?", sagten Sie, Sie kämen später darauf zurück, aber Sie haben dann keine einzige genannt.



Johannes Gerster (Mainz)

Im zweiten Teil arbeiteten Sie mit Allgemeinplätzen. Sie redeten hier groß davon, im Asylbereich müßten wir die Probleme lösen. Dann kam folgende Formulierung: eine Diskussion, die Verfassungsänderungen nicht unbedingt mit einschließen soll. Dazu haben Sie also nicht einmal eine Meinung. Sagen Sie einmal: Wollen Sie eine Verfassungsänderung, oder wollen Sie keine?

(Odendahl [SPD]: Jetzt sagen Sie es einmal!)

— Natürlich brauchen wir zu diesem Thema eine Verfassungsergänzung.
Der dritte Punkt: Sie greifen in die Kiste und werfen mit Dreck. Ich finde das, was Sie über den Kollegen de Maizière hier gesagt haben, unverantwortlich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Kraus [CDU/CSU]: Unanständig!)

Herr Wartenberg, man kann über einzelne Äußerungen aus dem Bereich der Vertriebenenverbände sehr geteilter Meinung sein. Aber wie Sie hier über 2 Millionen Menschen — als Kriegsfolgenlast oder wie Sie das nennen — , die, als Sie noch in den Windeln lagen, bereits aktiv für den Frieden eingetreten sind, mit einer Bemerkung hinweggehen, das ist nicht in Ordnung. Dieses Spielchen sollten Sie wirklich sein lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Minister Schäuble hat — ich fand das sehr angemessen — praktisch seine ganze Rede der Bewältigung von Problemen, die wir in den neuen Bundesländern und in Ost-Berlin natürlich haben, gewidmet. Ich bin froh, daß er dies gemacht hat, weil es deutlich macht, daß wir in dieser Wahlperiode neben der Angleichung der Freiheit in ganz Deutschland auch die Angleichung im Lebensstandard, im Wohlstand und weiteren Bereichen erreichen müssen — das ist eine entscheidende Frage — , und weil wir natürlich auch den Prozeß des Zusammenwachsens der Deutschen in den 16 Bundesländern im Hinblick auf den Einigungsprozeß in Europa kongruent entwickelt sehen müssen, der ja bedeutet, daß wir ab 1. Januar 1993 offene Grenzen haben.
Deswegen wird die Innenpolitik in dieser Wahlperiode ganz erhebliche Schwerpunkte setzen müssen und ganz wichtige Aufgaben lösen müssen. Ich will das in wenigen Stichworten darstellen und — im Gegensatz zum Kollegen Wartenberg — immer anfügen, wohin die Reise geht, mich also nicht in Allgemeinheiten verlieren.

(Odendahl [SPD]: Noch regieren Sie ja!)

Erstens. Wir wollen, daß das Gesetz betreffend Aufbewahrung, Nutzung und Sicherung der Stasi-Akten unmittelbar verabschiedet wird, am besten noch vor der Sommerpause.

(Baum [FDP]: Sehr gut!)

Wir laden die SPD zur Mitarbeit ein. Wir haben konkrete Formulierungsvorschläge. Ich bin gespannt, ob Sie sich der Mitarbeit entziehen werden oder ob Sie mitwirken werden.
Zweitens. Wir drängen als Fraktion darauf, daß endlich durch ein Gesetz die Ergänzung des Bundesarchivgesetzes erfolgt und sichergestellt wird, daß wir an die Akten der SED und der Massenorganisationen herankommen. Es ist keine Frage: Die SED war der Staat, der Staat war die SED. Diese Akten gehören in staatliche Hand. Das muß unverzüglich geschehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Drittens. Natürlich müssen wir sehen, daß wir mit den Menschen in den neuen Bundesländern eine funktionsfähige Verwaltung aufbauen. Aber sie werden natürlich Hilfe aus dem Westen brauchen. Ich wiederhole hier jetzt nicht unser 10-Punkte-Programm. Herr Minister, ich glaube, dieses Programm der Koalition hat auch in Ihrem Ministerium in den letzten Tagen sehr viel bewegt. Wir sind sehr froh, daß Sie das hier konkretisiert haben.
Ich glaube, daß wir mit Sicherheit allein im Bereich der Juristen, der juristischen Berufe und auch der juristischen Hilfsberufe etwa 30 000 Menschen gewinnen müssen, die in die neuen Bundesländer gehen. Ich werbe auch hier dafür und bin froh, daß durch rechtliche Änderungen die Voraussetzungen geschaffen werden.
Wir müssen des weiteren natürlich auch an den öffentlichen Dienst in den alten Bundesländern denken. Wir müssen, wenn Sie so wollen, gleichzeitig auf zwei Pferden reiten und sehr viel auch für den öffentlichen Dienst in den neuen Bundesländern tun. Selbstverständlich müssen wir aus dem Strukturbericht der Bundesregierung in dieser Wahlperiode Konsequenzen ziehen und das öffentliche Dienstrecht weiterentwickeln. Ich will nur auf das Problem hinweisen, daß wir vor allem in den Technikerberufen Nachwuchsprobleme haben. Wir müssen hier also die Eingangsbesoldung im Laufe dieser Wahlperiode verbessern und müssen die entsprechenden Schritte wagen.
Dabei möchte ich hinzufügen, daß wir in jedem Fall auch denjenigen, die heute nicht mehr im aktiven Arbeitsprozeß sind, entgegenkommen müssen. Ich meine die Ruhestandsbeamten. Sie müssen an der allgemeinen Einkommensentwicklung beteiligt werden. Sie müssen die Verbesserungen, die im aktiven Bereich erfolgen, ebenfalls mit genießen können. Außerdem müssen wir in dieser Wahlperiode — das wird sehr schwer werden — die Konsequenzen aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil ziehen, was die Pensionsbesteuerung angeht, wo eine klare Schlechterstellung gegenüber anderen Gruppen zu sehen ist.
Wir müssen die Besoldungsanpassung 1991 beraten und beschließen. Ich möchte hier in aller Deutlichkeit sagen: Ein Sonderopfer für die Beamten wird und darf es nicht geben.

(Baum [FDP]: Richtig!)

Man kann über den Zeitpunkt, wann die Anpassung erfolgt, sicherlich reden, um hier einen gewissen Ausgleich zu schaffen. Ich persönlich warne vor der Vorstellung, wir würden den Angestellten mehr geben, weil sie streiken können, und den Beamten weniger geben, die nicht streiken können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Hier darf der bewußte Verzicht auf das Streikrecht
nicht zur Bestrafung führen. Deswegen lehnen wir



Johannes Gerster (Mainz)

niedrigere Sätze ab. Ich sage das bewußt sehr deutlich.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang bei allem Respekt vor der Tarifautonomie noch eine kritische Bemerkung anfügen: Ich muß ganz ehrlich sagen, daß ich über manche Forderungen und Äußerungen der Gewerkschaften, was die Tarifauseinandersetzungen angeht, etwas bedrückt bin. Etwas mehr Solidarität gegenüber den Menschen drüben, deren Einkommen —verglichen mit dem Niveau bei uns — noch bei 35% liegt, und im Sinne einer Verbesserung der Besoldung in den neuen Bundesländern etwas mehr Zurückhaltung im Westen würden auch den Gewerkschaften bei ihren Forderungen gut anstehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Gewerkschaften haben das Wort „Solidarität" ja aus gutem Grund in ihrem Programm.

(Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Neue Heimat!)

Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen muß: Wir müssen den Bundesgrenzschutz endlich zu einer echten Bundespolizei umbauen. Wir müssen ihn weiterentwickeln. Wir müssen die Kompetenzen der Bahnpolizei und, sofern die Länder das wollen, die Kompetenzen der Luftsicherheit übertragen.
Natürlich werden wir einer Europäisierung und einer Harmonisierung auf europäischer Ebene beim Asylrecht durchführen. Dies soll, Herr Wartenberg, unserer Meinung nach mit einer Grundgesetzergänzung erfolgen. Dabei ist klar — so steht es in der Koalitionsvereinbarung — : Die europäische Angleichung ist angezielt.
Bei der Angleichung gibt es, Herr Kollege Hirsch, nur zwei Möglichkeiten. Entweder übernehmen die anderen unseren Art. 16 Abs. 2, oder wir müssen uns den Verhältnissen der anderen anpassen. Hier werden wir auch in der Koalition noch lustige Diskussionen haben.
Wir müssen schließlich das Konzept zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität und insbesondere der Rauschgiftkriminalität — Gesetze, die wir bereits im 11. Deutschen Bundestag eingebracht hatten — wieder einbringen. Hier bin ich sehr froh. Hier waren die Koalitionsgespräche sehr konstruktiv und weiterführend. Hier sollten wir jede Menge Dampf machen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201416200
Herr Kollege Gerster, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Hirsch?

Dr. Johannes Gerster (CDU):
Rede ID: ID1201416300
Mit großem Vergnügen.

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1201416400
Lieber Herr Gerster, Sie haben mich mit Ihrer Bemerkung zu Art. 16 provoziert. Ist Ihnen eigentlich bekannt, daß in fast allen Asylrechten unserer europäischen Nachbarstaaten ein zweistufiges Verfahren vorgesehen ist und die Möglichkeit des einzelnen Asylbewerbers besteht, gegen eine Ablehnung ein Rechtsmittel einzulegen, und ist Ihnen bekannt, daß die Praxis des Asylverfahrens in den meisten europäischen Ländern sehr viel humaner ist, sage ich mal, als das, was wir uns zur Zeit leisten?

Dr. Johannes Gerster (CDU):
Rede ID: ID1201416500
Den zweiten Teil Ihrer Ausführung kann ich nicht bestätigen. Herr Kollege Hirsch, da Großbritannien im Jahr etwa 2 500 bis 5 000 Menschen über die eigenen Grenzen hereinläßt, während wir 200 000 hereinlassen, zeigt das, daß allein die Nichtexistenz einer dem Art. 16 Abs. 2 vergleichbaren Bestimmung es diesem Land ermöglicht, in offensichtlich unbegründeten Fällen die Betroffenen an der Grenze abzuweisen, was wir nicht können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Da ich weiß, daß Sie nicht nur ein sehr sachkundiger, intelligenter und fleißiger Mann sind, sondern auch ein sehr beweglicher Mann sind, bin ich ganz sicher, daß wir uns im Sinne einer besseren Erkenntnis aufeinander zubewegen und eine hervorragende Regelung im Sinne der europäischen Harmonisierung gemeinsam hinbekommen werden.

(Dr. Hirsch [FDP]: Es wird mir ein Vergnügen sein!)

Ich habe da mehr Vertrauen zu Ihnen und Ihren Fähigkeiten, als Sie vielleicht selbst. Sie werden sich da bestimmt weiterentwickeln. Wir packen das, Herr Hirsch. Glauben Sie mir!

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1201416600
Es wird mir ein Vergnügen sein, Sie bei einem richtig guten und praktikablen Asylrecht an meiner Seite zu sehen.

Dr. Johannes Gerster (CDU):
Rede ID: ID1201416700
Wir machen das gemeinsam, Herr Hirsch.

(Beifall des Abg. Dr. Weng [Gerungen] [FDP] und bei Abgeordneten der SPD)

Ich bin sicher, auch hier wird die Wahrheit siegen. Da können Sie ganz sicher sein.
Lassen Sie mich zum Schluß zwei weitere Punkte nennen. Ich will das ganz knapp machen, weil auch der Kollege Deres für die Haushaltspolitiker hier noch sprechen wird.
Natürlich müssen wir dafür sorgen, daß die Arbeit des Bundes und die finanzielle Ausstattung im Sinne der Wahrung des kulturellen Erbes weiter betrieben wird. Wir begrüßen zunächst einmal die Bereitstellung von 900 Millionen DM, die in die neuen Bundesländer gehen, um den praktischen Kulturbetrieb aufrecht zu erhalten. Aber selbstverständlich ist es gerade eine originäre Aufgabe des Bundes, die ostdeutsche Kulturarbeit zu fördern. Wenn es einen Bereich gibt, wo der Bund neben der Kulturkompetenz der Länder zuständig ist, dann ist es die ostdeutsche Kulturarbeit. Natürlich ist es auch wichtig, die Kultur Schlesiens, Ober- und Niederschlesiens, oder der Gebiete, die östlich der Oder-Neiße-Grenze liegen, zu bewahren. Dies ist Aufgabe auch des Bundestages und der jeweiligen Bundesregierung, weil dieses kulturelle Erbe unabhängig von der Frage, wo Grenzen verlaufen, besteht. Es ist eine bösartige Unterstellung,



Johannes Gerster (Mainz)

wenn man dieses Kulturerbe bewahren will, von Revanchismus zu reden. Das ist zu kurz gesprungen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Schließlich, meine Damen und Herren, werden wir mit Sicherheit in bezug auf den Zivil- und Katastrophenschutz in dieser Wahlperiode einiges, gerade in den neuen Bundesländern und in Ostberlin, auf den Weg bringen müssen. Ich bin der Meinung, daß wir neben dem Aufbau der Feuerwehren in den neuen Bundesländern hier eine entscheidende Zuständigkeit haben, um auch das THW in den neuen Bundesländern neben anderen Organisationen einzuführen. Ich darf den Kollegen aus den neuen Bundesländern sagen — ich weiß auch von drüben, daß es schon verschiedene Vereine, Bestrebungen und Bemühungen auf diesem Gebiet gibt — , daß wir bereit sind, im Rahmen einer Gesamtkonzeption für den zivilen Katastrophenschutz dieses Technische Hilfswerk anzubieten und in den neuen Ländern einzurichten.
Meine Damen, meine Herren, ich habe nur einige Punkte sehr stichwortartig genannt. Es gibt mit Sicherheit noch viele andere Punkte zu nennen. Ich bin der festen Überzeugung, daß die Innenpolitik in dieser Wahlperiode Schwerpunkt unserer gesamten Gesetzgebungsarbeit sein wird. Riesenherausforderungen werden auf uns zukommen. Ich bin aber fest davon überzeugt, daß wir diese Herausforderungen gemeinsam bewältigen können.
Ich möchte auch an dieser Stelle sagen: Dabei muß die Solidarität mit den Menschen in den neuen Bundesländern Vorrang haben. Ich habe bereits hier an dieser Stelle gesagt: Wer schnell hilft, hilft doppelt. Wer langsam hilft, zahlt doppelt. Weil das so ist, sollten wir in unser aller Interesse schnell helfen, damit die Menschen neben dem Gefühl der Freiheit, auch das Gefühl der gleichberechtigten Lebenschance in diesem vereinigten Deutschland haben. In diesem Sinne ist die deutsch-deutsche Politik früherer Jahre inzwischen Innenpolitik. Wir werden uns als Fraktion und Koalition dieser Aufgabe stellen und uns an dem, was wir versuchen, in dieser Wahlperiode gesetzgeberisch in die Tat umzusetzen, messen lassen.
Herr Minister, Sie genießen dabei unsere Unterstützung und unsere Solidarität — so, wie wir, selbstkritisch genug, Sie und Ihre Mitarbeiter wohlwollend begleiten werden, um dieses große Werk zu bewältigen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201416800
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Riege.

Dr. Gerhard Riege (PDS/LL):
Rede ID: ID1201416900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Schäuble hat ein Plädoyer für die unbedingte Erhaltung der Kultursubstanz in den Ländern des Beitrittsgebietes gehalten. Das kann ich nur unterstützen. Wir müssen uns aber über die Situation im klaren sein. Im Augenblick vollzieht sich gerade auch auf diesem Gebiet ein solches Maß an Substanzverlust, daß wir besorgt sein müssen, es werde nicht nur wenige Jahre dauern, ehe dieser Prozeß umgekehrt verlaufen wird.
Das Leben ist zu unterschiedlich, als daß dort die kulturelle Substanz in dem notwendigen Maße erhalten bleiben kann.
Natürlich sind da viele Aspekte relevant. Es ändern sich Wertvorstellungen, was im Augenblick völlig verständlich ist. Die Werteskala des einzelnen setzt neue Prioritäten. Die ökonomische Lage, die sozialen Befindlichkeiten wirken in der Entscheidung „pro oder contra Kultur" immer gegen die Kultur. Die Finanzen, die für kulturelle Aufgaben zur Verfügung stehen — ob im Bereich der Kommune, ob im Bereich der Institutionen, meinetwegen der Universitäten und Hochschulen —, reichen nicht aus.
Im Augenblick haben wir eine Fülle von Einschränkungen.

(Dr. Blank [CDU/CSU]: Welche Einschränkungen meinen Sie?)

Wenn ich allein an die Praxis der Universität denke, von der ich komme, dann muß ich sagen: Es gibt kaum noch eine Möglichkeit, an dieser Universität in Jena — —

(Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Wer hat denn die Leute eingeschlossen? Das waren doch Sie!)

Bis in die jüngste Zeit hat es an dieser Universität Chöre, Orchester, Kulturgruppen der verschiedensten Art gegeben. Darüber müssen wir sprechen.

(Geis [CDU/CSU]: Jetzt verteidigen Sie das alte Regime! Ich würde mich an Ihrer Stelle schämen!)

Sie haben unter den gegebenen Bedingungen kaum noch Möglichkeiten der Existenz, Möglichkeiten, sich zu betätigen, wenn sie überhaupt noch existent sind.

(Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Lieber einen Chorleiter als 100 Stasi-Leute!)

Darauf muß ich zunächst verweisen: Bis vor kurzem war das Geld da; jetzt ist es nicht mehr vorhanden.

(Geis [CDU/CSU]: An Ihnen ist der November 1989 vorbeigegangen!)

Die Funktionsfähigkeit der Länder und der Kommunen durch eine leistungsfähige Verwaltung, durch eine funktionierende Justiz herbeizuführen, ist ein unbedingt zu bejahendes richtiges Postulat.

(Dr. Blank [CDU/CSU]: Wo war denn eine funktionierende Justiz? Wo in der DDR? In Bautzen? Was Sie da sagen, ist ja wohl eine Unverschämtheit! — Geis [CDU/CSU]: Haben Sie da drüben je eine funktionierende Justiz erlebt?)

Wir brauchen eine Rechtsausbildung, die einer Veränderung unterliegt,

(Dr. Blank [CDU/CSU]: Ein Unrechtsstaat, Terrorjustiz war das!)

die sich auf die neue Rechtsmaterie der Bundesrepublik einstellt. Das ist natürlich eine unausweichliche Situation.
Daß auch die Hilfe von Kollegen aus den Juristischen Fakultäten der alten Bundesländer notwendig



Dr. Gerhard Riege
ist, ist nicht zu bestreiten. Daß diese Hilfe in einem nicht unbeträchtlichen Maße auch gegeben wird, ist zu bejahen. Was ich in diesem Zusammenhang aber anmerken muß und als kritikwürdig zu bezeichnen habe, ist, daß in dem gleichen Prozeß die undifferenzierte Ausgrenzung all derjenigen erfolgt, die im akademischen Ober- oder Mittelbau bislang an diesen Einrichtungen tätig waren.

(Geis [CDU/CSU]: Als Stasi!) So kann eine Entwicklung nicht erfolgen.


(Beifall der Abg. Dr. Höll [PDS/Linke Liste])

Ich halte es auch nicht für richtig, daß wir eine These kultivieren, die lautet: Wir kommen zu einer neuen Rechtskultur dadurch, daß wir zunächst einmal für nicht ganz kleine Gruppen der Bevölkerung — Mitarbeitern staatlicher Organe, staatlicher Einrichtungen — Gesetzlichkeit de facto außer Kraft setzen. Das zu dieser Seite.

(Dr. Blank [CDU/CSU]: Sie sollten das Wort „Recht" überhaupt nicht in den Mund nehmen! Peinlich so was!)

In einer bestimmten Sphäre betrachte ich den Haushaltsplan, wie er vorgelegt worden ist, als den Plan eines alten Denkens.

(Lachen bei der CDU/CSU)

Trotz grundlegend veränderter politischer Situation, die sich in dem Zerfall der ehemals sozialistischen Staaten ausdrückt, wird, so scheint mir, von der Bundesregierung weiterhin an der alten Konzeption der inneren Sicherheit festgehalten. Ausdruck dessen ist, daß weiterhin beträchtliche Summen in das Bundesamt für Verfassungsschutz, andere geheimdienstliche Einrichtungen, das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik u. a. gehen.

(Otto [Frankfurt] [FDP]: Das von Ihnen vorgehalten zu bekommen, ist ja nun wirklich ein Hammer!)

— Ja, ich weiß, wovon ich spreche.

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

— Wir erstreben eine Welt ohne Geheimdienste.

(Dr. Blank [CDU/CSU]: Das kann ich mir denken!)

— Ja, das können Sie sich denken. Aus Erfahrungen, die auch bei uns gesammelt worden sind, wäre ein Streben für eine Welt ohne Geheimdienste etwas, was Förderung verdiente.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)

Die Realität, die wir hier aus diesem Material ersehen können, ist völlig gegenläufig.
Daß es auch anders geht, läßt ja das Beispiel der niedersächsischen Landesregierung erkennen, die in diesem Bereich eine beträchtliche Reduktion vorgenommen hat.

(Otto [Frankfurt] [FDP]: Die wird sich ob des Lobes von dieser Seite schon sehr freuen!)

Nach allem, was den Menschen in den fünf neuen Bundesländern vor den Wahlen und vor der staatlichen Vereinigung

(Zuruf von der CDU/CSU: Das Volk hat sich vereinigt!)

zum Teil sehr schnellippig und vollmundig versprochen wurde, und angesichts dessen, was sich in der Wirklichkeit vollzieht — darüber ist heute schon mehrfach unter unterschiedlichsten Gesichtspunkten gesprochen worden — , ist eine verbreitete Enttäuschung eingetreten, und Verbitterung weitet sich aus.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wo, bei Ihnen? — Gegenruf der Abg. Dr. Höll [PDS/Linke Liste]: Kommen Sie doch mal nach Leipzig!)

Es wächst die Entschlossenheit — Leipzig ist dafür nur ein Beispiel —, öffentlich, auf der Straße soziale Sicherheit, Gleichwertigkeit als deutscher Barger einzufordern. Das Konfliktpotential nimmt zu,

(Zuruf von der CDU/CSU: Wir sollen in sechs Monaten heilen, was Sie in 40 Jahren kaputtgemacht haben!)

und es wird neuen Zuwachs erhalten, wenn Null-Kurzarbeit und Warteschleife

(Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Das sind doch Ihre Arbeitslosen! Die SED-Arbeitslosen sind das doch!)

auch formell in das einmünden, was sie der Sache nach schon längst sind: Arbeitslosigkeit und zum Teil Ausgrenzung.

(Geis [CDU/CSU]: Wir können in vier Wochen nicht 40 Jahre wegräumen! — Gegenruf des Abg. Dr. Heuer [PDS/Linke Liste]: Wo gab es denn da Arbeitslose, mein Herr? — Lachen bei der CDU/CSU — Gegenruf von der CDU/CSU: Für Hungerlöhne haben sie gearbeitet! — Weitere lebhafte Zurufe von der CDU/CSU)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201417000
Meine Damen und Herren, einen Moment bitte!

Dr. Gerhard Riege (PDS/LL):
Rede ID: ID1201417100
Ihre Bemerkungen zur Arbeitslosigkeit in der früheren DDR zeigen nur, wie weit weg Sie von irgendeiner Kenntnis der realen Situation sind.

(Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Ihr habt die Menschen eingesperrt! — Dr. Hirsch [FDP]: Wie war sie denn? Erzählen Sie doch mal! — Gegenruf der Abg. Dr. Höll [PDS/ Linke Liste]: Ignoranten!)

Es geht hier nicht um das Thema „Effektivität der Arbeit". Auch das spielte eine Rolle.
Die Situation, die jetzt massenhaft gegeben ist, ist eine qualitativ gänzlich andere und von existentieller Bedeutung nicht nur für Hunderttausende.

(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Dafür sind Sie verantwortlich! — Zuruf von der CDU/CSU: Aber dafür sind sie frei!)

— Mit dieser Aussage machen Sie es sich etwas zu leicht.



Dr. Gerhard Riege
Die Mitbürger, die dieses kritische Potential, dieses Konfliktpotential, wie ich sagen möchte, verkörpern, sind von ökonomischen und sozialen sowie, glaube ich, zunehmend auch von politischen Motiven und Erwartungen beherrscht. Es wird — um dies zu sagen, braucht man kein Prophet zu sein — wahrscheinlich einen heißen Herbst geben.
Ich setze den Haushaltskomplex Inneres auch in Beziehung zu diesen Tendenzen. Der gesamte Apparat, der geeignet ist, Protestbewegungen zu observieren und niederzuhalten, wird finanziell gut bedacht.

(Dr. Blank [CDU/CSU]: Reden Sie von der früheren DDR oder von was? Was man sich hier von so einem Stasi-Heini anhören muß! Unglaublich! — Weitere lebhafte Zurufe von der CDU/CSU)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201417200
Bitte, meine Damen und Herren, lassen Sie den Redner ausreden! Ein paar Zwischenrufe sind in Ordnung. Aber Zwischenrufe in einer Häufung, daß er nicht weiterreden kann, sind nicht in Ordnung.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das ist ein Stasi-Bruder! — Dr. Blank [CDU/CSU]: So ein Stasi-Bonze da! — Dr. Höll [PDS/Linke Liste]: Jetzt bleiben Sie doch einmal sachlich! — Köppe [Bündnis 90/GRÜNE] [zur CDU/CSU-Fraktion gewandt]: Sie sollten doch ganz ruhig bleiben!)


Dr. Gerhard Riege (PDS/LL):
Rede ID: ID1201417300
Ich finde es schon bemerkenswert, mit welcher — wie mir scheint — Unverfrorenheit

(Dr. Blank [CDU/CSU]: Sie hier stehen und hier reden!)

hier Diffamierungen ausgesprochen werden.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Mit wem identifizieren Sie sich denn? Mit der SED? Ist das richtig? Nachfolger der SED!)

Das ehemalige Ministerium für innerdeutsche Beziehungen lebt in dem vor uns liegenden Haushaltsgesetz fort.

(Dr. Hirsch [FDP]: Und was lebt in Ihnen fort?)

In einem bestimmten Bereich, der nicht frei von revanchistischen Momenten ist, sind Finanzmittel vorgesehen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Wo?)

Da werden für den Haushaltstitel 685 02 — Förderung der historischen Landeskunde in Mitteldeutschland sowie politischer und kultureller Arbeit von Flüchtlings- und Vertriebenenverbänden — über 5 Millionen DM eingesetzt.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Na und?)

In diesem Titel atmet für mich nicht der Geist einer neuen internationalen Beziehung und nicht der Geist der Entwicklung der staatlichen Beziehungen in Europa.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das müssen Sie jetzt einmal erklären, warum nicht!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201417400
Einen Moment, bitte, meine Damen und Herren.
Herr Dr. Riege, Sie haben Ihre Redezeit bereits weit überzogen. Bitte beachten Sie doch, daß es dort ein Licht gibt, das Ihnen ein Signal gibt.

Dr. Gerhard Riege (PDS/LL):
Rede ID: ID1201417500
Ich habe es nicht gesehen, Herr Präsident; entschuldigen Sie bitte.
Auf diese Momente möchte ich verweisen und auch darauf, daß nicht wenige Institutionen, die in diesem Bereich tätig sind, beträchtliche finanzielle Unterstützungen erwarten können. Daß es sich dabei nicht nur um die Förderung von Volkstänzen handelt, wissen wir aus den Debatten in diesem Hause.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201417600
Herr Dr. Riege, Sie sind eine Minute und 33 Sekunden über der Zeit.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Die Zeit, in der Sie und Ihresgleichen allein reden durften, ist vorbei!)

Das Wort hat Frau Abgeordnete Köppe.

Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1201417700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte meine Rede mit einer kleinen Geschichte beginnen, die mir nahegeht. Ich hoffe, daß Sie die Bereitschaft finden, dieser Geschichte zuzuhören.
Ich kannte einmal einen Mann, der ein stellvertretender Regierungschef war. Diesen Mann habe ich vor einiger Zeit recht häufig getroffen. Wir saßen uns regelmäßig an einem rechteckigen Tisch schräg gegenüber. Neben ihm saß häufig ein weiterer Herr, der eine rotgeränderte Brille trug. Zwischen den beiden — so kann ich mich erinnern — saß eine Frau, die eine weiße Bluse trug. Diese Frau hat kaum ein Wort zu diesen Unterhaltungen, die da stattfanden, beigetragen. Aber sie war die einzige Frau auf der damaligen Regierungsseite.
Eines kalten Tages sagte der Mann zu mir in der Mittagspause: „Frau Köppe, ich möchte nicht, daß Sie frieren. " Da er etwas kleiner war als ich, mußte er sich emporrecken, um mir seinen kostbar scheinenden Mantel über die Schultern zu legen. Er blieb stehen, und ich konnte nichts anderes machen, als ebenfalls stehenzubleiben. Denn wenn ich einfach weitergegangen wäre, hätte es ja nach Manteldiebstahl ausgesehen. Jedenfalls sind wir zusammen essen gegangen und haben uns unterhalten. Ich weiß noch, wir aßen Suppe, und der Mann sagte, wir müßten uns häufiger unterhalten und viel intensiver. Er warnte mich vor den politischen Interessen eines anderen noch kleineren Mannes, der mit uns auch immer an diesem rechteckigen Tisch saß. Aber unser Gespräch zu Mittag wurde unterbrochen, und der Mann sagte: „Ich hoffe, daß wir uns wieder sprechen; wir müssen unbedingt unser Gespräch fortsetzen. "
An dem Tisch, an welchem der Mann mir regelmäßig gegenübersaß, bekam ich viele Briefe, begeisterte Briefe, empörte Briefe, auch Briefe, die mich erschreckten. Es war z. B. auch ein Blatt dabei, auf dem nur ein Galgen gemalt war. Ein anderes Mal war unter der Post ein Brief, geschrieben mit Schreibmaschine



Ingrid Köppe
auf sehr dünnem Papier. Dieser Brief berichtete über Kontakte des mir schräg gegenüber sitzenden Mannes mit einem Major namens Hasse. Es gab einen weiteren Brief, der nicht an mich gerichtet war

(Zuruf von der FDP: Jetzt weiß ich, wen Sie meinen! Das haben Sie im Innenausschuß schon einmal gesagt!)

— vielleicht können Sie dennoch zuhören — , der auf gleichem Papier geschrieben war, mit der gleichen Schreibmaschinentype.

(Geis [CDU/CSU]: Sie sollten mal über sich selbst nachdenken!)

Dieser Brief berichtete über ähnliche Verbindungen eines anderen an diesem Tisch sitzenden Advokaten. Heute allerdings mögen viele Leute von diesem weiteren Mann, den zwei Monate später seine Vergangenheit eingeholt hat, am liebsten nichts mehr wissen. Doch dies nur nebenbei.
Seit ich diesen Brief erhielt, sind inzwischen ein Jahr und zwei Monate vergangen, und ich habe diese Angelegenheit intensiv verfolgt wie viele andere auch
— wie z. B. ganz speziell Vera Wollenberger, die ebenfalls ihre Erfahrungen mit diesem Mann gemacht hat, noch andere Erfahrungen als ich.
Gestern wollte ich auf das Angebot des Mannes zurückkommen, daß wir im Gespräch bleiben sollten und daß er jederzeit bereit sei, mit mir zu sprechen. Ich suchte von mir aus wegen dringender Gründe das Gespräch mit ihm. In seinem Büro weigerte sich sein Sekretär jedoch, meinen Anruf zu dem Mann überhaupt nur durchzustellen. Er fragte lediglich nach meiner Telefonnummer und versprach einen Rückruf. Später rief er dann auch zurück und teilte mir mit, daß dieser Mann jetzt kein Interesse mehr habe, mit mir zu sprechen, und daß ich mich in der Angelegenheit an die wirklich zuständigen Stellen wenden sollte. Das mußte ich dann so hinnehmen.
Ich will Ihnen noch erzählen, was ich von dem Mann wollte. Ich wollte den Mann gern fragen, wie er sich fühlt, wo gerade zwei Mitarbeiter des Sonderbeauftragten Gauck entlassen worden sind, weil es ihnen so wichtig war, die Fakten über diesen Mann bekanntzumachen, die Fakten, die er selbst bisher weder bekanntgemacht hat noch zu denen er ausreichend Stellung bezogen hat. Ich hätte ihn fragen wollen, warum er einer Überprüfung durch die Bundestagspräsidentin bisher noch nicht zugestimmt hat, um die vielen Fragen nach seinen Verbindungen zur Staatssicherheit zu beenden, zumal diese Fragen ja bisweilen auch den eigenen Arbeitsplatz kosten können, wie wir jetzt gesehen haben.

(Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Sie verpacken Bösartigkeit sehr intelligent!)

Ich stelle diese Fragen heute von hier aus noch einmal.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201417800
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1201417900
Ich beende den Satz noch. — Herr de Maizière, auch wenn Sie heute nicht mehr mit mir sprechen wollen, fordere ich Sie
auf, reinen Tisch zu machen. Beenden Sie die Spekulationen! — Bitte!

(Geis [CDU/CSU]: Eine richtige Bösartigkeit ist das von Ihnen!)


Wilfried Seibel (CDU):
Rede ID: ID1201418000
Gestatten Sie folgende Zwischenfrage. Könnten Sie meiner Interpretation Ihres Vortrages zustimmen, daß es sich um eine eiskalte Ehrabschneidung handelt, ohne auch nur einen einzigen konkreten Beweis für Ihre These zu liefern?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1201418100
Nein, dem kann ich nicht zustimmen. Es handelt sich vielmehr darum, daß ich Ihnen die Erlebnisse schildern wollte und daß ich hier öffentlich diese Aufforderung, die ich leider gestern nicht persönlich aussprechen konnte, vortragen wollte. Ich meine, daß Herr de Maizière endlich in der Öffentlichkeit Stellung zu diesem Thema beziehen muß.

(Zuruf von der CDU/CSU: Daß er mit Ihnen beim Essen war?)

— Lassen Sie mich doch ausreden! — Es gibt sehr viele Fragen, die da offen sind. Ich denke, daß es wichtig wäre, sie zu klären. Ich würde jetzt gerne in meinem Text fortfahren.

(Zurufe von der CDU/CSU: Mit Ihnen würde ich auch nicht reden! — 14 Monate haben Sie für das Gespräch gebraucht!)

— Aber nein! Nein, so ist es nicht. Ich könnte die Geschichte natürlich noch ausweiten.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Bitte sagen Sie, was Sie ihm konkret vorwerfen? Was wissen Sie? — Weiterer Zuruf von der CDU/ CSU: Was werfen Sie ihm vor?)

— Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, dann melden Sie sich. — Darum bitte ich heute nicht nur Herrn de Maizière, sondern auch alle anderen Kollegen und Kolleginnen, die ähnliche Kontakte hatten — —

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201418200
Frau Köppe, Sie haben einer Zwischenfrage bereits zugestimmt?

Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1201418300
Ja.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201418400
Bitte, Herr Kollege Gerster.

Dr. Johannes Gerster (CDU):
Rede ID: ID1201418500
Frau Kollegin, ich unterstelle, daß Sie wissen, daß der Angeklagte selbst in einem Prozeß so lange als unschuldig gilt, bis er rechtskräftig verurteilt ist. Können Sie mir bitte sagen, was Sie glauben, Herrn de Maizière konkret vorwerfen zu können? Was wissen Sie konkret, was können Sie ihm vorwerfen, wenn Sie über ihn hier so urteilen?

Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1201418600
Ich weiß wahrscheinlich nicht viel mehr als Sie.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Ehrabschneidung, was Sie hier machen! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Das ist eine üble Verleumdung!)




Ingrid Köppe
— Lassen Sie mich bitte ausreden. — Aber ich denke, daß es sehr viele offene Fragen gibt, zu denen sich Herr de Maizière nicht geäußert hat.

(Zuruf von der CDU/CSU: Nicht, was Sie denken!)

Ich nenne nur ein Beispiel — das geht hoffentlich nicht von meiner Zeit ab — : Herr de Maizière hat geäußert, er möchte Major Hasse gegenübergestellt werden, er kenne keinen Major Hasse. Im Bericht des BMI, den wir jetzt vorliegen haben, steht, daß Major Hasse zu Herrn de Maizière durchaus Kontakt hatte. Und ich frage mich: Warum kennt Herr de Maizière dann nicht Herrn Major Hasse? Das ist eine der Fragen, und ich möchte es dabei bewenden lassen. Wir können im Innenausschuß gern ausführlicher darüber sprechen.

(Geis [CDU/CSU]: Wo liegt denn da der Vorwurf? — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)

Dazu waren Sie gestern nicht bereit. Und ich möchte Sie daran erinnern, daß ich im Innenausschuß einen Antrag gestellt habe, daß uns der Bericht der Recherche-Kommission der Gauck-Behörde dort vorgelegt wird, so daß wir ihn dann mit dem Bericht des BMI vergleichen können. Die Antwort des Innenministers darauf war, es gebe nicht zwei Berichte, sondern nur einen Bericht. Im Bericht des Innenministers steht aber, daß sein Bericht auf diesem anderen „Bericht" des Sonderbeauftragten fußt. Damit möchte ich es hier bewenden lassen.

(Lintner [CDU/CSU]: Üble Mache, die Sie hier betreiben! — Abg. Gerster [Mainz] [CDU/CSU] meldet sich zu einer weiteren Zwischenfrage)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201418700
Sie wollen keine Zwischenfrage mehr zulassen?

Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1201418800
Nein, jetzt nicht mehr.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sehr schade! — Geis [CDU/CSU]: Das sagt alles!)

Ich denke, daß Sie ausreichend Möglichkeit dazu hatten.
Warum habe ich diese lange Geschichte zu Beginn dieser Haushaltsdebatte erzählt?

(Geis [CDU/CSU]: Eine fiese Geschichte!)

Ich denke, sie zeigt, welche Auswirkungen die Staatssicherheit bis heute hat.
Zur Regelung des Umgangs mit den Stasi-Akten sagte Herr Gerster vorhin, er würde die SPD gern zu Gesprächen darüber einladen. Ich kann mich erinnern: Ursprünglich stand in der Koalitionsvereinbarung, es sollten Gespräche sowohl mit der SPD als auch mit dem Bündnis 90 geführt werden.

(Lintner [CDU/CSU]: Sie disqualifizieren sich doch selbst! Sie betreiben doch öffentliche Verurteilung, bevor der Sachverhalt überhaupt aufgeklärt ist!)

Wir würden unsere Ideen dazu nach wie vor gern einbringen.
Zu der Regelung, die für die Staatsakten gefunden werden muß: Für mich zählen dazu nicht nur die SED-Akten, sondern auch die Akten der anderen Blockparteien. Ich denke, es reicht nicht aus, diese Akten unter Verschluß zu halten, sie vielleicht dem Bundesarchiv unterzuordnen. Vielmehr müssen wir da eine Lösung finden, die natürlich auch Forschung möglich macht.
Ich möchte weiter über Sicherheit des Staates, aber zunächst über Unsicherheit der Bürgerinnen und Bürger sprechen, besonders der im Osten Deutschlands. Von der unzureichenden Finanzausstattung der fünf neuen Bundesländer war hier ja schon die Rede.

(Dr. Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Hören Sie auf, das ist doch schon geregelt!)

Kaum gesprochen wurde dabei über die zunehmende Armut und die Existenzsorgen der Menschen. Ich nenne hierfür nur beispielhaft die hohen Quoten offener und verdeckter Arbeitslosigkeit.
Es scheint, daß seitens der Verantwortlichen ein Anstieg der Proteste gegen diese Entwicklung im Osten erwartet wird. Aus dem Haushaltsentwurf der Bundesregierung kann ich leider nicht die Absicht erkennen, dieser Entwicklung mit angemessenen Mitteln entgegenzuwirken oder eine soziale Absicherung der Bürger und Bürgerinnen im nötigen Umfang wiederherzustellen. Vielmehr deuten die Finanzansätze darauf hin, daß diese sozialen Verwerfungen vorrangig als Bedrohung der Sicherheit des Staates angesehen werden, der mit einer Erhöhung und Verbesserung polizeilicher Kapazitäten begegnet werden soll.
Für diesen sich aufdrängenden Eindruck möchte ich nur einige wenige Beispiele nennen. Ich frage Sie: Ist es richtig, daß der Haushaltsansatz des Innenministeriums die dritthöchste Steigerungsquote aller Etats aufweist und daß in diesem Etat die Mehransätze für die innere Sicherheit gegenüber 1990 mit am höchsten sind? Ist es richtig und angemessen, daß die Kosten für den Bundesgrenzschutz im Innenetat den größten Umfang haben sollen und mit 30 % eine der höchsten Steigerungsraten — neben den neu aufgenommenen Kapiteln — haben? Ist es angebracht, für den Bundesgrenzschutz mehr auszugeben als für die Belange der Vertriebenen, Flüchtlinge, Aus- und Übersiedler zusammen, mehr als für die gesamte Kulturförderung des Bundes, bei dreimal höherer Steigerungsrate? Ist es angemessen, für diese Polizei des Bundes mehr auszugeben als für die gesamte Wohnungsbauförderung, mehr als für die Förderung von Eisenbahn und öffentlichem Personennahverkehr? Und ist es angemessen, für die Bereitschaftspolizei doppelt so hohe Zuschüsse zu gewähren wie für Drogenmodellprogramme? Weiter: Ist es begreifbar, daß die Bundesregierung für Polizei und Bundesgrenzschutz mehr aufwenden will als für die gesamte Jugendhilfe?
Kann mir jemand erklären, warum für die Beschaffung von Panzerwagen und Wasserwerfern für die Polizei höhere Ausgaben sinnvoll sein sollen als für Denkmalschutz und Theaterförderung zusammen? Stimmt es, daß ein einziger Wasserwerfer mehr kosten soll, als für die gesamte seelsorgerische Betreuung und berufsethische Erziehung der über 20 000 Grenz-



Ingrid Köppe
Schützer aufgewendet werden soll? Ist es richtig, daß für die Berufsförderung und Bildungsmaßnahmen im Bundesgrenzschutz nur halb so viel ausgegeben werden soll, wie ein einziger Panzerwagen dort kostet?
Und stimmt es tatsächlich, daß die Bundesregierung verantworten will, daß für Nachrichtendienste und das Bundeskriminalamt allein mehr Geld bereitzustellen ist als für Berufs-, Aus- und Fortbildung sowie Umschulung, wobei diese doch gerade für die Qualifizierung der Arbeitnehmer im Osten sehr wichtig wäre?
Viele dieser Haushaltsansätze und deren Relation zueinander kann ich angesichts der Lage der Menschen beim besten Willen nicht nachvollziehen. Ich denke, es geht vielen Menschen so. Ich hoffe, die Bundesregierung wird dies in den weiteren Beratungen erklären und Antworten auf einige dieser Fragen geben können.
Ich danke Ihnen.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der PDS/Linke Liste und der SPD — Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das war an Naivität nicht zu überbieten!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201418900
Meine Damen und Herren, bevor ich der Abgeordneten Frau Odendahl das Wort gebe, erlauben Sie mir eine Bemerkung. Es ist hier, eingeführt vom Kollegen Wartenberg, jetzt in einer besonderen Weise fortgesetzt von Frau Köppe, angeklungen in anderer Weise bei Herrn Riege, plötzlich mit Andeutungen auf einen Kollegen, die eine Menge Unterstellungen zumindest antickten, operiert worden.
Das hat sich dann erhitzt. Dann sind Zwischenrufe gekommen, die unter normalen Umständen rügenswert gewesen wären. Ich finde, meine Damen und Herren, wir sollten denen, über deren Opfer wir sprechen und wo wir zum Teil bis heute nicht erkennen können, wo Opfer und Täter und Täter und Opfer identisch waren, nicht nachträglich den Gefallen erweisen, in diesem Hause in dieser Art mit solchen sensiblen menschlichen Themen umzugehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Wort hat Frau Abgeordnete Odendahl.


Doris Odendahl (SPD):
Rede ID: ID1201419000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wurde über vieles geredet, auch über Kultur. Etwas ist noch nicht zur Sprache gekommen, und das will ich jetzt ansprechen. Es ist der Bereich Bildung, der für die Menschen hier bei uns und in den neuen Ländern dazu von besonderer Wichtigkeit ist.
Der vorgelegte Haushalt des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft mit einer Steigerung von 46 % oder 1,6 Milliarden DM könnte als ein Papier des guten Willens bezeichnet werden, wenn es nicht gerade in den Bereichen, in denen es am meisten brennt, gravierende Lücken aufweisen würde. Somit ist dieses sogenannte „Papier des guten Willens" auch gleichzeitig ein Dokument des fehlenden Handelns.
Ich weiß, liebe Kollegen Sie fragen jetzt: Was hat das denn alles mit Innenpolitik zu tun? Es ist für die
Menschen wichtig, und es ist ein Bereich, der bei der Innenpolitik dann als eigenes Ressort mit dazugehört.
Ich zähle dazu jetzt gleich die markantesten Punkte auf: Erstens. Das bereits überall angekündigte Hochschulsonderprogramm — —

(Unruhe)

— Herr Präsident, wäre es vielleicht möglich, für etwas Ruhe zu sorgen, damit man einige Zuhörer gewinnen kann?

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201419100
Meine Damen und Herren, keine Seite des Hauses braucht sich in dem Zusammenhang über die andere zu überheben. Eine muntere Debatte ist eine Sache, aber Privatgespräche im Plenarsaal, die die Rednerin stören, sind eine andere. Die Privatgespräche halte ich für schlicht unhöflich, nicht nur weil das gegen die Geschäftsordnung verstößt.
Ich bitte Sie also, der Rednerin zuzuhören oder, wenn Sie wichtige Dinge zu besprechen haben, das vor der Tür zu tun.

Doris Odendahl (SPD):
Rede ID: ID1201419200
Erstens. Das überall angekündigte Hochschulsonderprogramm III mit einem auch schon angekündigten Finanzrahmen von 300 Millionen DM für die Hochschulen der neuen Bundesländer ist im Haushalt nicht zu finden.
Zweitens. Ein Programm zur Sicherung der beruflichen Bildung in den neuen Ländern ist nicht vorgesehen.
Drittens. Der Bildungsminister trägt in keiner Weise der Tatsache Rechnung, daß nach zuverlässigen Prognosen der Kultusministerkonferenz die Schülerzahlen in den 90er Jahren erneut um 14 % anwachsen und auch die Zahlen der Studienanfänger und Studierenden an deutschen Hochschulen voraussichtlich bis zu 24 To über den bisherigen Zahlen liegen werden.
In allen Bereichen, in denen der Bund Verantwortung trägt, also insbesondere bei den Hochschulen, bei der Ausbildungsförderung und ganz besonders bei der beruflichen Bildung, werden deutlich höhere Investitionen notwendig sein. Der Bundeshaushalt zieht aus dieser Erkenntnis keinerlei Konsequenzen.
Vor 14 Tagen hat sich der Deutsche Bundestag in einer Aktuellen Stunde mit der Haltung der Bundesregierung zur Ausbildungssituation in den neuen Bundesländern befaßt. Unsere Kolleginnen und Kollegen haben eindringlich die katastrophale Ausbildungssituation in unseren neuen Ländern geschildert. Auch aus den ostdeutschen Bildungsministerien, aus Berufsschulen und aus Kreisen der Wirtschaft wird auf den drohenden Zusammenbruch der Berufsbildung hingewiesen.
Die Entwicklung in der beruflichen Bildung, die in diesem Jahr 140 000 Jugendliche ohne große Erfolgsaussichten auf Lehrstellensuche schicken wird, ist vorauszusehen. Mit dem zunehmenden wirtschaftlichen Zusammenbruch in den neuen Ländern verschlimmert sich auch die Situation der Auszubildenden, vor allem derjenigen, die nun ohne Ausbildungs-



Doris Odendahl
platz dastehen und ihre Ausbildung abbrechen müssen.
Es ist allerhöchste Zeit, die nötigen Mittel bereitzustellen, um eine Ausbildungsstruktur in den neuen Ländern zu schaffen, die den Anforderungen des Berufsbildungsgesetzes genügt. Es ist pure Augenwischerei, ein paar spärliche Haushaltsmittel für Modellversuche einzustellen und so zu tun, als ob wieder einmal die heilenden Kräfte des Marktes — sprich, die Wirtschaft, die es in den neuen Ländern in dieser Funktion noch gar nicht gibt — den Aufbau und die Sicherung der beruflichen Ausbildung besorgen könnten. Modellversuche müssen inhaltlich in ein Programm eingebettet sein und dann auch vom Umfang her so ausgestattet werden, daß sie überall greifen können.
Ebenso wenig geeignet, den mindestens 140 000 einen Ausbildungsplatz suchenden Jugendlichen eine gute, zukunftsorientierte Ausbildung zu sichern, sind die Mittel, die für überbetriebliche Ausbildungsstätten zur Verfügung stehen.
Beim Vergleich mit diesem Haushaltsansatz erinnere ich an das noch laufende gemeinsame Programm des Bundes mit dem Land Nordrhein-Westfalen zur Ausbildungssicherung in den Stahlorten. Wenn Sie das auf die neuen Bundesländer umrechnen, wird bei diesem Haushaltstitel wieder ein Schuh daraus.
Wenn nun die Bundesregierung versucht sein sollte, von der sich abzeichnenden Ausbildungsnot in den neuen Ländern dadurch abzulenken, daß sie auf die unbesetzten Ausbildungsplätze in verschiedenen Regionen der bisherigen Länder verweist, so lassen Sie sich sagen: Sie können nicht in den nächsten Jahren ganze Jahrgänge von Schulabgängern quer durch Deutschland karren und diesen jungen Menschen damit die Heimat wegnehmen, die sie ja mit aufbauen und neu gestalten wollen.
Für die berufliche Bildung brauchen wir ein Sofortprogramm, das der Bund gemeinsam mit den neuen Ländern vorbereiten und finanzieren muß. Solch ein Sofortprogramm müßte im einzelnen eine ganze Reihe von Maßnahmen vorsehen, wobei wir auch gerne mitarbeiten.
Bei den Ausbildungsplätzen, meine Damen und Herren, spielt auch die Treuhand und spielen die bis heute ungeklärten Eigentums- und Vermögensfragen eine entscheidende Rolle. Die über 9 000 Anträge auf Rückgabe von Unternehmen führen dazu, daß auch an sich überlebensfähige Unternehmen zugrunde gehen, weil sie nicht schnell genug an geeignete Investoren übertragen werden können. Ich führe das hier an, weil damit gleichzeitig viele Ausbildungsplätze und schon bestehende Ausbildungsverträge zerstört werden. Diese Fehler müssen schnell und grundlegend korrigiert werden. Investitionen und damit auch Investitionen in Ausbildung müssen Vorrang vor Rückgabe haben.
Der Bereich Ausbildung ist bisher in der Treuhand fast überhaupt nicht beachtet worden. Die Pflicht des Staates ist es, über die Treuhand nicht nur Firmen zu verhökern, sondern den neuen Besitzern mit der Verantwortung für die Arbeitsplätze auch die Verantwortung für Ausbildungsplätze aufzuerlegen.
Wenn die Bundesregierung nun nach langem Scharren und Suchen die von der SPD bereits seit langem vorgeschlagenen Beschäftigungsgesellschaften als richtigen Weg aus der Wirtschaftskrise in den neuen Bundesländern entdeckt, so hat sie nur einen Teil des SPD-Vorschlags aufgegriffen. Untrennbar mit den Beschäftigungsgesellschaften verbunden sind Qualifizierungsgesellschaften, in denen Erstausbildung und Weiterbildung ermöglicht werden. Hier ist der Bildungsminister gefragt. Nur, meine Damen und Herren, viele fragen ihn, und niemand antwortet.
In besonders starkem Maße sind Frauen und junge Mädchen von der derzeitigen Beschäftigungs- und Ausbildungsmisere in den neuen Ländern betroffen. Wir kennen ihre benachteiligte Situation aus der Bundesrepublik und den langen und mühsamen Weg, der herausführt.
Durch die verschiedenen gegen Frauen gerichteten Maßnahmen der Einsparung sozialer Leistungen sind Frauen nicht frei, über ihre berufliche Zukunft zu entscheiden. Wenn Kinderbetreuung fehlt, kann eine entlassene Frau für Umschulungsmaßnahmen nicht zur Verfügung stehen. Sie fällt also aus dem Arbeitsprozeß für lange Zeit heraus.
Es ist schon fast purer Hohn, wenn im Bildungshaushalt bei der beruflichen Bildung auf AFG-Maßnahmen verwiesen wird, aber keine besonderen Maßnahmen für Frauen vorgesehen sind, die ihnen eine Erstausbildung oder Weiterbildung unter den erschwerten Bedingungen ermöglichen. So findet man auf der Liste der Umschulungsmaßnahmen folgerichtig denn auch eine reine Männergesellschaft. Diese Erfahrungen müssen auch die Frauen machen, die bisher im Hochschulbereich beschäftigt waren. Auch hier trifft sie die Umstrukturierung und die personelle Umgestaltung besonders hart, ohne daß der Haushalt hierauf eingeht.
Die Lage der Hochschulen in den neuen Ländern bietet kein erfreulicheres Bild als die Lage in der beruflichen Bildung. Ich habe vorher das dringend notwendige 300-Millionen-DM-Programm angesprochen, das zwar angekündigt, aber im Haushalt nicht vorhanden ist.
Meine Damen und Herren, die Länder können den Aufbau der Bildungslandschaft in den neuen Ländern auf dem Niveau, das wir für die Bundesrepublik beanspruchen, aus eigener Kraft nicht leisten. Die Herstellung gleicher Lebensverhältnisse ist Bundesaufgabe. Dieser Aufgabe sind sowohl der Bildungsminister Ortleb als auch der Finanzminister Waigel verpflichtet.
Auch die Verantwortung, die der Bund für den Bildungsbereich in den westlichen Ländern erkennen läßt, zeigt immer klaffender werdende Lücken. Wenn ich heute in meiner Rede vorrangig auf die Bildungssituation in den neuen Ländern eingegangen bin, so deshalb, weil dort der Bedarf an Bildungsinvestitionen aus Bundesmitteln überlebensnotwendig ist. Ohne sofort greifende Programme bei der beruflichen Bildung und für die Hochschulen laufen wir Gefahr, in der Bildung einen Zweiklassenstaat zu bekommen. Die Auswirkungen wären verheerend. Wir würden nicht nur hier gut ausgebildete und dort schlecht ausgebildete junge Menschen haben, sondern wir würden denen,



Doris Odendahl
die ihre Länder nun aufbauen und gestalten wollen, das dafür notwendige Fundament verweigern.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, getäuscht haben Sie schon genug, enttäuschen Sie nicht jetzt die, die in Zukunft unseren Staat gestalten sollen.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201419300
Meine Damen und Herren, ich habe noch den Kollegen Deres auf der Rednerliste, der aber offensichtlich nicht im Saal ist. — Dann schließen wir diesen Komplex ab.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten de With.

Dr. Hans de With (SPD):
Rede ID: ID1201419400
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gemessen an den übrigen Ausgaben des Bundes fällt der Haushalt des Bundesministers der Justiz normalerweise weder ins Gewicht noch in seinen Positionen auf. Umstritten sind meist nur Rechtspositionen. Ins Gewicht fällt der Justizhaushalt im Vergleich zu den Riesenausgaben des Bundes ebensowenig wie bisher.
Aber er fällt auf durch Aufgaben, die es bisher nie gab. Er stellt 120,5 Millionen DM zum Aufbau der Justiz in den neuen Ländern bereit, und damit ist die zur Zeit wichtigste Aufgabe aller Justizpolitik bereits umrissen. —
Herr Präsident, ich kann ja verstehen, daß es hier viele Privatunterhaltungen gibt, auch von denen, die normalerweise mit der Justiz beschäftigt sind. Aber sehr angenehm ist das für die, die hier oben sitzen, ganz oben auf der halben Treppe, wohl doch nicht!

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201419500
Also, Herr Kollege, dies war eine relativ moderate Atmosphäre. Es war heute schon einmal lauter und auch schon schwieriger, und ein bißchen kann sich der Redner ja wohl selbst durchsetzen. Wenn es zu laut wird, greife ich schon ein.

(Zuruf von der CDU/CSU: Es zwingt ihn ja niemand zu reden!)


Dr. Hans de With (SPD):
Rede ID: ID1201419600
Ich habe mir nur eine sanfte Mahnung gestattet. Ich weiß, daß wir heute im Rechtsausschuß viel heftiger und lange gestritten haben. Wir haben uns fast geeinigt. Deswegen, meine ich, sollte ein Rest an Solidarität bleiben, damit wir hier zuhören und erwidern können.

(Geis [CDU/CSU]: Ihnen hören wir immer gern zu!)

— Das ist nett.
Was tut der Bundesminister der Justiz, Herr Kinkel, was tun die Länder, was können wir tun, um den Rechtsstaat in den neuen Ländern möglichst bald in volle Funktion zu bringen? Mittlerweile hat sich ja allenthalben die späte Erkenntnis — immerhin die Erkenntnis — durchgesetzt, daß neben Geld und einer funktionierenden Verwaltung auch die Gewährung von Rechtsstaatlichkeit und deren Funktionieren zum Wiederaufbau zwingend, ja, unabdingbar ist. Wenn Rechtsuchende bei Gericht keinen Rechtsrat finden, weil Rechtspfleger nicht vorhanden sind, wenn dieselben Rechtsuchenden, falls sie willens sind, zu zahlen,
Schwierigkeiten haben, einen geeigneten Rechtsanwalt zu finden, wenn es generell an ausreichend kompetenten Richtern und Staatsanwälten fehlt, wenn ein Eintragungsantrag für eine GmbH beim Registergericht nicht unter vier Monaten zu haben ist und wenn Arbeitnehmer von alten Stasi-Seilschaften mit dem zynischen Hinweis entlassen werden, die Arbeitsgerichte funktionierten ja doch nicht, und wenn Rehabilitierungsanträge deshalb erledigt werden, weil schon ältere Antragsteller — und das ist wohl etwas fatal für uns alle — wegen Stillstandes der Rechtspflege versterben, dann ist die Resignation wahrhaftig nicht weit, dann kommt der Glaube an den Rechtsstaat ins Wanken, ja, es verbittert.
Herr Minister Kinkel, Sie wissen, was ich damit ansprechen will: Von den 40 erledigten Rehabilitierungssachen in Sachsen sind eine ganze Menge Fälle erledigt, nur weil die zu Rehabilitierenden verstorben sind. Eine makabre Sache für uns alle, aber erst recht für die Betroffenen und ihre Familien!
Vor 14 Tagen konnten wir von diesen 120,5 Millionen DM im Justizhaushalt noch nirgendwo etwas lesen. Und obwohl seit der Wiedervereinigung etwas mehr als sechs Monate verstrichen sind, begrüßen wir diesen Erfolg des Justizministers. Was Recht ist, muß Recht bleiben, und wir sind selbstbewußt genug, dies auch so zu handhaben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir möchten allerdings auch nicht, daß dabei unser Licht ganz unter dem Scheffel bleibt; denn wir waren ständige Mahner schon zu einer Zeit, als man allenthalben noch glaubte, es genüge allein, wenn die Wirtschaft dies aufgreife. Mittlerweile sind wir ja klüger geworden. Wir wissen um die Kompetenzschwierigkeiten mit den Ländern. Wir wissen auch die Anstrengungen der einzelnen Länder sehr zu schätzen.
Wir haben aber auch schon seit geraumer Zeit den Aufbau der Justiz in den neuen Ländern als gesamtstaatliche Aufgabe betrachtet und deshalb eine Gesamtanstrengung gefordert, damit endlich ein Signal gesetzt wird, damit langfristig gedacht und damit von einer Hand koordiniert werden kann, damit sich drüben wirklich etwas bewegt. Ich sehe, es gibt immer noch gewisse Schwierigkeiten, die nicht von der Hand zu weisen sind.
Ich will nicht den Forderungskatalog von uns Sozialdemokraten wiederholen. Sie kennen ihn. Wir haben ihn bei der letzten Debatte hier in der vorigen Sitzungswoche aufgestellt. Aber, Herr Minister, ich frage erneut:
Erstens. Haben sich die Justizminister endlich auf feste Quoten geeinigt, nach denen Richter, Staatsanwälte und auch Rechtspfleger in die neuen Länder rasch und in ausreichender Zahl entsandt werden können?
Zweitens. Ist dafür Sorge getragen, daß in Verwaltungssachen — ich betone: Verwaltungssachen — rasch judiziert werden kann, was wegen der Rückgabe und Entschädigung von Unternehmen und Grundstücken dringend erforderlich ist? Bei den Bera-



Dr. Hans de With
tungen vorgestern bzw. auch noch heute — es waren Sondersitzungen des Rechtsausschusses —

(Geis [CDU/CSU]: Wir haben nur noch Sondersitzungen!)

waren wir über alle Parteigrenzen hinweg einig, daß eine Prozeßwelle über uns hereinbrechen kann und in Verwaltung und Justiz hierfür rechtzeitig Sorge getroffen werden muß.
Drittens. Hat sich die Bundesregierung endlich überlegt, welche obersten Gerichte in den neuen Ländern installiert werden sollen? Das kann nicht auf die lange Bank geschoben werden. Das kann nicht ausgesessen werden. Hier kann und muß bald ein Signal gesetzt werden.
Ich habe hier an diesem Ort in der letzten von mir gerade erwähnten Debatte für mich erklärt — ich wiederhole es — , daß der Umzug des Bundesverfassungsgerichts nach Weimar ein solches Signal wäre. Ich kann hierzu bisher nur von einem positiven Echo sprechen, von Zuschriften von den Medien bis hin zum Oberbürgermeister von Weimar. Aber vom Bundesminister der Justiz habe ich damals in der Debatte
— er hat nach mir gesprochen — nichts gehört. Bis heute haben Sie sich ausgeschwiegen.
Ich meine, wir müssen uns wirklich einmal entscheiden. Bisher ist, was oberste Gremien anlangt, überhaupt noch nichts geschehen. Wie sollen wir drüben Mut machen, wenn sich die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen — ich sage es vorsichtig — so zurückhalten oder drücken?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch am 6. September 1990 hat das erste frei gewählte Parlament der ehemaligen DDR das Rehabilierungsgesetz verabschiedet: ein anderes Thema. Dieses Gesetz
— ich darf das hier einmal sagen — schaffte die Grundlage für die Rehabilitierung und Entschädigung aller Personen, die in der 40jährigen Geschichte des SED-Unrechtsstaates Opfer einer politisch motivierten Strafverfolgungsmaßnahme oder einer sonstigen rechtsstaatswidrigen Entscheidung geworden waren. Das Leben ungezählter Menschen war zerstört worden, nur weil sie verfassungsmäßige und auch politische Grund- und Menschenrechte wahrgenommen hatten. Sie waren strafrechtlich verfolgt und einer Willkürjustiz ausgeliefert worden. Im öffentlichen Dienst und in den volkseigenen Betrieben waren viele Menschen entlassen und diskriminiert worden. Nach dem Einigungsvertrag aber bleiben von diesen Rehabilitierungsbestimmungen nach dem Beitritt nur die Regeln in Kraft, die die strafrechtliche Rehabilitierung zum Ziel haben.
Für uns gibt es deswegen, meine ich, eine doppelte Pflicht. Wir haben zunächst darüber zu wachen, daß die strafrechtlichen Rehabilitierungen rasch erfolgen können. Und wir sind aufgerufen, ein zweites Rehabilitierungsgesetz zu erlassen. Denn es geht nicht an
— ich betone das —, daß wir nur die des Eigentums Beraubten unterstützen und diejenigen, denen man ein Stück Leben genommen, denen man die Ehre geraubt hat, auf das Altenteil verweisen.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Ich darf die Bundesregierung deshalb an die Große Anfrage der Sozialdemokraten zur Rehabilitierung der Opfer des SED-Unrechtsstaates erinnern. Hier sollte über die Parteigrenzen hinweg sofort gehandelt werden, damit auch bejahrte Opfer noch die Chance der Rehabilitierung erhalten.
Herr Präsident, ich habe etwas innegehalten. Ich dachte, mir stünden 15 Minuten Zeit zur Verfügung. Ist das ein Irrtum, oder wie steht es?

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201419700
Das muß ein starker Irrtum sein. Ihre Fraktion hat für Sie zehn Minuten gemeldet.

(Vizepräsident Klein verhandelt mit den Schriftführern)

Ihre Redezeit ist auf 15 Minuten erhöht.

Dr. Hans de With (SPD):
Rede ID: ID1201419800
Ich bedanke mich sehr, Herr Präsident.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1201419900
Er wird uns immer an seiner Seite finden, wenn es darum geht, den Rechtsstaat in den neuen Ländern aufzubauen, und er wird unsere Unterstützung haben, damit für Rechtsgewährung gesorgt wird.
Aber über all die schwierigen Aufgaben zur Herstellung und Gewährung von Rechtsstaatlichkeit in der vormaligen DDR dürfen wir die generellen Rechtsdinge nicht aus dem Auge verlieren. Hier gibt es einiges an- und auch aufzugreifen.
Da hat sich das Bundesverfassungsgericht vor wenigen Tagen mit der Gelegenheit zur Äußerung bis zum 1. April mit folgenden Worten an die Bundesregierung gewandt — ich zitiere — :
Im Hinblick auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 33/1 und 40/276, wonach Eingriffe in Grundrechte von Strafgefangenen einer gesetzlichen Grundlage bedürfen, sowie im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Bedenken in Rechtsprechung und Literatur wird um Stellungnahme gebeten, warum die Arbeiten an einem Jugendstrafvollzugsgesetz noch immer nicht beendet worden sind.
Das bedeutet in meinen Augen nichts anderes als die deutliche Mahnung an die Bundesregierung, endlich Grundlagen zu schaffen, damit die Inhaftierung Jugendlicher auf Grund eines Jugendstrafvollzugsgesetzes — meinethalben auch im JGG — erfolgt. Wir Sozialdemokraten hatten dies zuletzt mit unserem Antrag von 28. Juni 1989 angemahnt.
Erinnert sei daran, daß der damalige Bundesminister der Justiz, Hans-Jochen Vogel, sage und schreibe 1976 eine Kommission einberufen hat, die sich mit der Regelung des Jugendstrafvollzugs befassen sollte. Diese Kommission hatte schon Ende 1979 dem Justizministerium ihren Schlußbericht vorgelegt. Ich hatte damals die Ehre, ihn für das Bundesjustizministerium entgegennehmen zu können. Ich frage den Bundesminister der Justiz, ob und wann er sich hier bewegen will.
Von meinem Fragerecht darf ich noch ein wenig Gebrauch machen, wobei ich anmerke, daß mir die



Dr. Hans de With
Koalitionsvereinbarungen natürlich bekannt sind. Wie steht es mit der Regelung von Fragen zur nichtehelichen Lebensgemeinschaft? — Ich weiß, da gibt es zwei Annäherungspunkte. Aber hat Ihnen der letzte Juristentag nicht ins Stammbuch geschrieben: Das kann man nicht von Einzelpunkten her angehen?
Auf dem letzten Juristentag wurden hinsichtlich einer weiteren offenen Wunde Regelungen angemahnt: Nicht selten gibt es Gespräche zwischen Richtern, Staatsanwälten und Advokaten, ja, sogar Absprachen — manche nennen es Deal —; sie meinen, das begünstige nur die Großen, die Weiße-Kragen-Täter, nicht die Kleinen. Wann kommt es hier zu einem Gesetzentwurf, damit ein falscher Eindruck nicht entsteht?
Sollte nicht endlich auch die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt werden? Hier hat die Koalition auf unsere Gesetzesanträge hin mehrfach versprochen, etwas zu tun. Geschehen ist bis heute nichts. Nicht einmal der Hauch einer Annäherung findet sich hierzu im Koalitionspapier. Die inzwischen drei Frauenminister schweigen dazu. Ich habe auch heute hierzu nichts gehört.
Wer hat eigentlich wirklich beim § 218 StGB die Federführung? — Der Bundesminister der Justiz, eine der drei weiblichen Minister, oder gibt es hier einen, der ganz darübersteht, oder wie läuft das eigentlich? Das Ganze ist etwas verwirrend, nicht nur für uns, sondern auch für die Öffentlichkeit.
Über die Reform der Juristenausbildung haben wir von seiten der Bundesregierung, aber auch schon von den Koalitionsfraktionen lange, lange nichts mehr gehört. Dabei weiß jeder: Am längsten Lehrling bleibt der deutsche Jurist. Während der 30jährige in unseren westlichen Nachbarländern schon auf einige Berufsjahre und -erfahrung blicken kann, bereitet sich sein Altersgenosse in Deutschland gerade auf sein zweites Staatsexamen vor, und zwar so — ich übertreibe ein bißchen — , als ob die Welt seit 70 Jahren ehern stehengeblieben wäre. Ein bißchen mehr Mut, sage ich, Herr Minister, wäre hier angebracht.
In meiner Heimatstadt Bamberg gehen die Leute zum Dreikönigstag — nicht zum Dreikönigstreffen — zum, wie sie sagen, „Stärk antrinken". Das hat einer Ihrer großen Vorgänger, Thomas Dehler, gekannt und zu nutzen gewußt. Ich lade Sie ein, Herr Minister, ihm und, wenn Sie wollen, auch uns zu folgen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1201420000
Herr Kollege Marschewski, Sie haben das Wort.

Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1201420100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir — meine verehrten Kollegen und ich insbesondere — sind vorhin Zeugen einer mich doch erschütternden Darstellung geworden. Ich meine das, was unseren neuen Kollegen im Rechtsausschuß, Lothar de Maizière, betrifft. Es sind, formell gesehen, Fragen gestellt worden. Aber ich meine, es ist eine Form gewählt worden, die letzten Endes verdunkelte Vorwürfe beinhalten kann.
Lassen Sie mich eines sagen: Niemand hat wie Lothar de Maizière bis zur Selbstaufgabe für die Vereinigung unseres Vaterlandes gekämpft,

(Beifall bei der CDU/CSU)

für Frieden und Freiheit in der DDR. Es ist mit sein Verdienst, daß Deutschland jetzt ein Land wird und geworden ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will der verehrten Kollegin nichts Böses unterstellen. Aber Sie kennen das lateinische Sprichwort „Semper aliquid haeret". Diese furchtbare Wirkung des Gerüchtes haben bereits die Römer erkannt.
Auch ich habe, Herr Präsident, wie ich sehe, sechs Minuten Redezeit. Ich glaube, die Zeit von dem Kollegen Deres müssen Sie noch dazurechnen; dann sind es ein paar Minuten mehr. Ich will mich trotzdem bemühen, mich einigermaßen kurz zu halten.
Meine Damen und Herren, zum Etat und zur Rechtspolitik: Die neue Wahlperiode wird in der Rechtspolitik weitgehend davon bestimmt sein, den Zusammenbruch des Sozialismus in der früheren DDR rechtspolitisch aufzuarbeiten. Nichts anderes — verbunden mit dem Freiheitswillen der Menschen dort — war es nämlich, was zur Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands führte.
Was wollen die Menschen drüben? — Sie wollen einen Staat, der nicht gängelt, sondern der freiheitliche Regelungen bietet und diese mit einer unabhängigen Justiz durchsetzt. Mit anderen Worten: Sie erwarten von uns den Übergang von sozialistischen Absolutismus zum funktionierenden Rechtsstaat.
Dabei ist die Justizproblematik natürlich vor allen Dingen eine Personalfrage. Ich bin Ihnen, sehr geehrter Herr Justizminister, dankbar, daß Sie es erreicht haben, ein massives Hilfsprogramm von 120 Millionen DM durchzusetzen. Dies wird sicherlich die Chance geben, daß wir amtierende Richter gewinnen, daß wir pensionierte Richter und Staatsanwälte gewinnen, in der DDR tätig zu sein.
Aber ich meine, das Hauptproblem — wir haben dies neulich noch in Dresden gesehen — ist der Mangel an Rechtspflegern. Die Grundbücher, so wissen Sie, befinden sich in einem jammervollen Zustand. Sie verrotten zum Teil in den Kellern. Dies bedeutet für unsere Wirtschaft natürlich ein ganz schlimmes Investitionshindernis.

(V o r sitz : Vizepräsidentin Renate Schmidt)

Deswegen erlaube ich mir, schon jetzt zu sagen, daß diese 120 Millionen DM nur ein erster Schritt sein können, die dringende Personalnot zu beheben.
Trotz der Aushilfe mit Personal aus den alten Ländern bleibt zu überlegen, ob nicht etwas von dem hinweggenommen werden muß, was wir „Instanzenseligkeit" nennen. Schon in den alten Bundesländern, meine Damen und Herren — dies ist bekannt —, hat der Rechtswegperfektionismus manch eigenartige Blüte getrieben. Gerade in den neuen Bundesländern wirkt er investitionshemmend. Deswegen wollen wir jede rechtsstaatlich vertretbare Möglichkeit der Beschleunigung nutzen. Ich denke z. B. an eine verstärkte Funktion der Einzelrichter oder an eine behut-



Erwin Marschewski
same Präklusion im Beweisantragsrecht im Strafverfahren. Was die Großinvestitionen anbetrifft, müssen wir uns bemühen, so meine ich, die Planungsverfahren zu verkürzen, und wir werden im Einzelfall nicht umhinkönnen, ausnahmsweise Maßnahmegesetze zu erlassen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Unser besonderes Anliegen, meine Damen und Herren, wird es sein, denjenigen Bürgern in der DDR zu helfen, die unter dem alten SED-Regime schlimmes, oft jahrelanges menschenverachtendes Unrecht haben erleiden müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Uns haben viele Briefe erreicht, Briefe mit erschütternden Schicksalen. Was wir anstreben, ist eine zügige Rehabilitation, aber auch eine möglichst rasche Erledigung der Gerichtsverfahren gegen die Schuldigen, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Herr Kollege de With, ich begrüße die Anfrage, die Sie, glaube ich, Ende Februar gestellt haben. Ich meine, es ist zum inneren Frieden ganz wichtig, daß wir das tun, was Sie zu Recht angeboten haben, nämlich daß wir zu einem parteiübergreifenden Konsens in dieser wichtigen Frage kommen.

(Beifall bei der CDU/CSU und des Abg. Dr. de With [SPD])

Das DDR-Regime — da sind wir uns einig — hat viel Unheil über die Menschen gebracht. Das sollte sich gerade die PDS einmal hinter die Ohren schreiben.

(Sehr wahr! bei der CDU/CSU)

Wir haben die Verpflichtung, den Opfern, die soviel Leid haben ertragen müssen, zu helfen.
Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren, ist es für uns ein wenig unverständlich, daß die Forderung nach einer Amnestie zugunsten bestimmter Mitarbeiter der Stasi noch nicht verstummt ist. Ich darf Ihnen sagen, meine Damen und Herren: Mit den Unionsfraktionen wird es eine solche Amnestie nicht geben können.

(Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!) Das Strafprozeßrecht und das Strafrecht


(Zuruf des Abg. Dr. Briefs [PDS/Linke Liste])

— Herr Kollege, Sie können sich ja zur Zwischenfrage melden! — bieten durchaus genügend Möglichkeiten, so meine ich, hier schuldangemessen zu reagieren.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit aus der Fülle des in den Koalitionsgesprächen Vereinbarten nur zwei Punkte erwähnen.
Zunächst zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Wir werden hier handeln müssen, meine Damen und Herren. Wir haben heute auch der Presse entnommen, daß diese Delikte der organisierten Kriminalität nicht nur in der Bundesrepublik zunehmen. Das gilt bedauerlicherweise auch für die Länder der ehemaligen DDR. Wir werden hier neue Ermittlungsmethoden fordern müssen. Ich denke an den Einsatz verdeckter Ermittler. Ich hoffe auch da auf ein bißchen Entgegenkommen der SPD-Seite. Ich denke an die
Telefonüberwachung, die erweitert werden müßte. Ich denke an die Rasterfahndung.
Lassen Sie mich dabei eines sagen, meine Damen und Herren: Nicht nur die typische organisierte Kriminalität ist verwerflich und gefährlich. Genauso verwerflich und gefährlich, ja verbrecherisch ist es, Straftaten nach dem Außenwirtschafts- und dem Kriegswaffenkontrollgesetz zu begehen.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Die illegalen Waffenhändler muß die ganze Härte des Gesetzes treffen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Zum Schluß — ich glaube, ich habe noch etwas Zeit — darf ich vielleicht doch noch einen sehr wichtigen Bereich ansprechen, meine Damen und Herren.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben eine großzügige Präsidentin!)

— Ich bedanke mich bei der Frau Präsidentin auch ganz herzlich. Aber wir sollten, so meine ich, in diesem kleinen Kreis heute abend durchaus einmal Gelegenheit nehmen, etwas intensiver über Rechtspolitik zu diskutieren. Wenn wir in diesem Hause sonst darüber reden, ist es ja noch später.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1201420200
Herr Kollege, es sind aber keine fünf Minuten mehr.

(Zuruf von der CDU/CSU: Der hört gleich auf!)


Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1201420300
Meine Damen und Herren, ich meine die einigungsbedingten Änderungen des Grundgesetzes. — Die Union — das wissen Sie — bejaht eine systemimmanente Fortschreibung des Grundgesetzes. Aber — das ist auch klar — einem Totalumbau des Grundgesetzes als einer bewährten Verfassung können wir nicht zustimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Was wir wollen, sind keine sozialistischen Planspiele — ich sage Ihnen das —; denn sie gefährden die Wertordnung. Wir wollen keine plebiszitären Elemente in der Verfassung.

(Zuruf von der CDU/CSU: Dafür ist das Parlament da!)

Weimar darf sich nicht wiederholen. Wir wollen keinen Umbau der Verfassung; denn unsere Verfassung, so meine ich, hat sich bewährt. Die Menschen in der DDR, Herr Professor Ullmann, sind doch auf die Straße gegangen, um das zu realisieren, was wir zum Glück der Geschichte hier seit Jahr und Tag haben durchführen können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Gerade hier, meine Damen und Herren, gilt der Satz von Montesquieu: Wenn es nicht nötig ist, ein Gesetz zu erlassen, so ist es notwendig, keines zu erlassen. — Das gilt besonders an dieser Stelle.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das wollen wir beherzigen!)

Vielleicht zum Schluß noch einen Satz, meine Damen und Herren: Ich meine, daß die Beschränkung in



Erwin Marschewski
der Rechtspolitik auch dazu beitragen könnte, die Arbeit des Rechtsausschusses wieder ein bißchen freundlicher zu gestalten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Was heißt „wieder" ?)

Denn in der letzten Periode — so habe ich nachgesehen — haben wir allein dort 520 Vorlagen behandelt, von denen wir sage und schreibe 345, fast doppelt soviel wie in der letzten Periode, beschlossen haben. Dies sollte, so meine ich, wirklich genügen. Ich glaube, die Kollegen aus dem Rechtsbereich stimmen mir in diesem Punkt 100%ig zu.
Ich darf mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP — Geis [CDU/CSU]: Das war eine gute Rede!)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1201420400
Als nächstes hat Herr Professor Ullmann das Wort.

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1201420500
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Schon zweimal in diesem Jahrhundert ist in deutschen Landen das Recht nicht nur bis in seine dogmatischen Fundamente zerstört, sondern auch bis in die alltägliche Gesetzespraxis hinein unbrauchbar gemacht worden: zwischen 1933 und 1945 durch einen bis zu allen denkbaren und undenkbaren Exzessen gehenden Bruch mit dem Völker- und Menschenrecht, nach 1949 durch die marxistisch-leninistische totale Funktionalisierung des Rechtes im Dienste der ideologischen Chimäre einer Identität von Staat und Gesellschaft.

(Geis [CDU/CSU]: Hoffentlich hört das auch die PDS!)

Die Aufgaben der Rechtserneuerung, die sich unter den Voraussetzungen solcher Zerstörung stellen, liefern auch die Maßstäbe, an denen der Justizhaushalt zu messen ist.
Die Titelgruppe 03 im Haushalt des Bundesministeriums der Justiz, Kosten der Reformaufgaben, zeigt, daß es hier ein Bewußtsein für solche Aufgaben und die Bereitschaft gibt, ihre Lösung in Angriff zu nehmen.
Erklärungsbedürftig freilich bleibt, warum die hier angesetzten Ausgaben von 2,3 Millionen so niedrig bleiben gegenüber einem Gesamtvolumen des Haushaltsbereiches Justiz in Höhe von 89,5 Millionen.
Warum z. B. wird für eine Strukturanalyse der Rechtspflege eine ganze Million ausgegeben, während die Reform der Rechtspflege selbst nur mit 175 000 DM angesetzt ist?
Warum stehen für Reformen des Handels- und Wirtschaftsrechtes nur ganze 6 000 DM zur Verfügung, und warum werden die Gelder für Maßnahmen zur Rechtsunterrichtung der Bevölkerung sogar um 5 000 DM gekürzt?
Es scheint aber vor allem in einer Hinsicht noch immer ein erhebliches Defizit an Problembewußtsein zu bestehen, nämlich darüber, daß Rechtserneuerung weit mehr ist als Justizreform. Denn Rechtserneuerung kann nur beginnen und wirksam werden als Erneuerung des Rechtsgefühls.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Aber auch wir hier im Hause stehen offenkundig in der Situation, durch unsere Unrechtsgefühle geprägt und gefangen zu sein. Offenkundig weichen die Unrechtsgefühle von jungen Frauen, wie sie heute für meine Gruppe gesprochen haben, gewaltig von den Unrechtsgefühlen derer ab, die sich gegen sie empört haben.

(Beifall bei der SPD)

Hier müssen wir zur Verständigung kommen. Wie weit sind wir in diesem Punkt noch vom Bewußtsein einer gemeinsamen Problemlage entfernt! Es schmerzt mich, dieses sagen zu müssen, aber es muß im Interesse der gemeinsamen Aufgabe der Rechtserneuerung gesagt werden.
Ich bitte Sie dringend, meine Damen und Herren: Hören Sie aus den Stimmen dieser jungen Leute nicht den Wunsch heraus, hier in diesem Hohen Hause zu provozieren, sondern hören Sie den Schmerz eines empörten Rechtsgefühles heraus. Er ist in der ehemaligen DDR verbreitet.
Ich will nur ein Beispiel anführen. Wegen der vielen hier heute geäußerten und gehegten Mißverständnisse will ich noch einmal sagen: Ich rede jetzt über Kriegsdienstverweigerer; ich rede nicht über Soldaten und vor allen Dingen nicht gegen sie.
In den letzten Tagen hat man begonnen, Musterungs- bzw. Gestellungsbefehle an die Wehrpflichtigen auszusenden. Dabei ist für diejenigen, die noch unter der SED-Herrschaft den Kriegsdienst verweigert haben, diese ihre Verweigerung — so wörtlich im Formular — als rechtlich völlig irrelevant erklärt worden.
Ich frage mich: Was ist das für ein Recht, das zu diesem Urteil der Irrelevanz führt? Wohlgemerkt: Ich frage nicht nach dem auch mir bekannten Gesetz vom Dezember vorigen Jahres. Ich frage nach dem Recht, das zu so krassen Verletzungen des Rechtsgefühls der betroffenen jungen Bürger führt. Hat man denn so völlig vergessen, daß die Friedensbewegung der Kern des Widerstandes gegen das SED-Regime gewesen ist und daß diese Bewegung unüberwindlich war, weil ihr Gewissen mit ihrem Rechtsgefühl übereinstimmte?

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Briefs [PDS/Linke Liste])

Was sind das für Prüfungsrechte, die hier gegen ein bewährtes und erprobtes Rechtsgefühl in Anspruch genommen werden? Ist es nicht vielmehr genau umgekehrt: Nicht das erprobte und in Bedrohung und Anfechtung bewährte Gewissen des mündigen Bürgers hat sich vor dem Staat zu legitimieren, sondern unter demokratischen Bedingungen, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland herrschen, ist es der Staat, dessen Gesetze sich vor dem Forum des freien Gewissens zu legitimieren haben, wenn dieser Staat nicht einer rechtszerstörerischen und darum perversen Legalität verfallen soll?



Dr. Wolfgang Ullmann
Was eigentlich ist die religiöse Deklaration über der Grundgesetzpräambel wert, wenn im Bereich ihrer Gültigkeit junge Männer veranlaßt werden sollen, ihre Grundsätze gegen ihr Gewissen zu verleugnen und damit gegen die Grundprinzipien der biblisch-christlichen Tradition zu verstoßen, nach der das Gewissen gar keine andere Autorität über sich anerkennen darf als die, die als einzige das Recht zu einer apodiktischen Gesetzgebung gleich dem Dekalog hat?
Wenn wir nicht in ganz gefährliche Konflikte gerade auf dem Boden der jüdisch-christlichen Voraussetzungen unserer Rechtstradition geraten wollen, ist es höchste Zeit, das Gebaren einer arroganten und situationsblinden Legalität zu verlassen und uns gemeinsam der Verpflichtung zur Rechtserneuerung und der Erneuerung des Rechtsgefühls zu unterstellen. Das kann geschehen — und es geschieht ja bereits —, etwa in der Zusammenarbeit derer, die am Neuaufbau der Justiz in den östlichen Ländern beteiligt sind. Hier ist besonders jenen zu danken, die schon jetzt aus den alten Bundesländern dort hingegangen sind, aus Gemeinsinn und patriotischem Engagement, ohne daß sie sicher waren, Sonderbeförderungen oder Seniorenprogramme mit lukrativen Nebeneinkünften genießen zu können.

(Marschewski [CDU/CSU]: Richtig!)

Aber Recht ist nicht nur Juristensache, Recht ist Bürger- und Bürgerinnensache. Darum sollte das Parlament selbst eine Quelle der Rechtserneuerung werden. Es sollte Schluß sein — hier widerspreche ich meinem Vorredner und spreche hier von einer montesquieuschen Notwendigkeit — mit der hier immer wieder zu hörenden Verdächtigung derer, die im Rahmen der Verfassungsdiskussion für Bürger- und Bürgerinnenbeteiligung, für Bürgerinitiativen und Bürgergesetzgebung streiten. Wer ist der bessere Demokrat, Herr Kollege: der, der in solchen Bemühungen eine Gefährdung des Parlaments sieht, oder der, der von dem letzteren fordert, es möge diese Quellen demokratischer Aktivität selbst auffinden und erschließen helfen und damit auch der Rechtserneuerung dienen?

(Marschewski [CDU/CSU]: Jetzt zu Weimar! Das ist mein Problem!)

Und schließlich: Rechtserneuerung, das heißt auch sichtbare und öffentlich dokumentierte Erneuerung seiner Autorität. Ich freue mich, mich hier dem Kollegen de With anschließen zu können. Was könnte diesem Zweck besser dienen als die Verlegung eines der obersten Gerichte der vereinigten Bundesrepublik in die fünf erneuerten Länder? Ich spreche hier nicht, was mancher und manche vielleicht denken, vom Bundespatentgericht, vom obersten Disziplinar- oder Rückerstattungsgericht, sondern ich spreche vom Bundesgerichtshof oder vom Bundesverfassungsgericht.
Wer meint, daß das Reichsgericht in Leipzig von jenen angesprochenen Rechtszerstörungen nicht unbefleckt geblieben sei, der sei daran erinnert, daß in Magdeburg einmal ein Schöppenstuhl gestanden hat, der Zentrum einer bis Skandinavien, Nowgorod und Kiew reichenden Rechtskultur gewesen ist.

(Sehr wahr! bei der CDU/CSU)

Das Bewundernswerteste an ihr aber war, daß sie auf keinerlei Herrschafts- oder Aufsichtsrechten beruhte, sondern allein auf der Erprobtheit und Gediegenheit ihrer Erfahrung.
Rechtserneuerung, nicht Rechtsverwaltung lautet unsere Aufgabe. Das ist ein Appell, uns daran zu erinnern, daß es in unserer eigenen Rechtsgeschichte Traditionen gibt, die maßstabbildend wirken, gerade angesichts der Herausforderungen durch Rechtszerstörungen wie die, von denen wir provoziert sind.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, der SPD, bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Dr. Briefs [PDS/Linke Liste])


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1201420600
Das Wort hat der Bundesminister der Justiz, Herr Kinkel.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1201420700
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es tut mir schrecklich leid, daß ich Sie zu so später Stunde noch bitten muß, auch mir noch 15 Minuten zuzuhören.

(Marschewski [CDU/CSU]: So lange? Herr Minister, 10 Minuten reichen!)

— 15 Minuten sind vorgesehen.
Ich habe gehört, Frau Präsidentin, daß nach meinem Redebeitrag Schluß der Debatte sein soll, weil sowohl die Verteidigungspolitiker wie die Wirtschaftspolitiker alles zu Protokoll gegeben haben.

(Müntefering [SPD]: Sie sind der letzte! — Marschewski [CDU/CSU]: Morgen steht in der Zeitung: Kinkel ist der Letzte!)

Das heißt, daß ich sogar noch eine Minute länger sprechen darf.
Ich habe mir vorgenommen, ein paar allgemeine Dinge zu sagen. Danach möchte ich vor allem auf das, was Sie, Herr de With, gesagt haben, eingehen.
Ich habe in meiner ersten Rede im Bundestag gesagt, meine Damen und Herren, daß ich den Aufbau des Rechtsstaats als das zentrale Thema der vor uns liegenden Periode sehe. Das betone ich heute nochmals nachdrücklich.
Wir haben gemeinsam die staatlich-rechtlich — innere — Wiedervereinigung durch die beiden historischen Vertragswerke des vergangenen Jahres in einer, wie ich meine, geglückten Weise gemeistert. Es ist uns Gott sei Dank auch gelungen, die außenpolitische Einbettung der Wiedervereinigung zu vollziehen.
Jetzt liegt eine weitere, unendlich schwierige Aufgabe vor uns, nämlich die Verwirklichung der inneren Einheit der Bundesrepublik Deutschland in der Praxis. Dafür ist der wirtschaftliche Aufbau ungeheuer wichtig. Für die Menschen in den neuen Ländern — ich habe das schon einmal hier betont — ist aber der Aufbau des Rechtsstaats mindestens von gleicher Bedeutung.



Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Der Aufbau einer demokratischen Justiz in den neuen Bundesländern heißt zuallererst praktische Hilfe, heißt Richter, Staatsanwälte und Rechtspfleger. Das ist ja auch hier vorhin angesprochen worden.
Ich habe ein auf drei Jahre angelegtes personelles Sofortprogramm entwickelt, zu dessen Finanzierung die Bundesregierung dreimal 120 Millionen D-Mark, also 360 Millionen DM, in einem Drei-Jahres-Programm bewilligt hat.
Durch ein Seniorenprogramm wird es pensionierten Richtern, Staatsanwälten und Rechtspflegern aus den alten Ländern ermöglicht, über die Altersgrenze hinaus für drei weitere Jahre in den neuen Ländern tätig zu werden. Ich muß sagen: Das bisherige Echo — insbesondere auf meine eigenen Aufrufe — ist erstaunlich. Es haben sich allein im Bundesjustizministerium ca. 40 Richter und Staatsanwälte gemeldet, die bereit sind.

(Marschewski [CDU/CSU]: Das ist ein sehr guter Anfang! — Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dabei muß ich darauf hinweisen, daß wir gar nicht die Hauptanlaufstelle sind. Das Echo bei den Länder ist auch durchaus beachtlich.
Die Zahl der von den Altländern entsandten Richter, Staatsanwälte und Rechtspfleger soll von gegenwärtig 130 auf das Zehnfache erhöht werden; 50 % der Kosten trägt der Bund. In diesem Zusammenhang habe ich auch eine gewisse Teilerfolgsmeldung eines Bundeslandes. Ich gehe damit auch auf die Quotenfrage ein. Baden-Württemberg hat heute mitgeteilt, daß es zusätzlich 150 Richter und 75 Rechtspfleger entsendet.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Hamburg hat mir heute mitgeteilt, daß es 23 Richter und 6 Staatsanwälte sowie 15 Rechtspfleger entsendet. Sogar in den kleineren Ländern funktioniert es also.

(Beifall des Abg. Dr. de With [SPD])

Ich habe die große Hoffnung, daß die Quote, die ich mit den Ländern vereinbart habe, eingehalten werden kann.
Schließlich wird der Bund nicht unerhebliche Gelder für die Aufstockung der Gehälter zur Verfügung stellen, die gebraucht werden, damit wir tatsächlich Richter in die neuen Bundesländer bekommen.
Noch eine erfreuliche Mitteilung — ich bin immer dagegen, daß nur gejammert wird, ich bin dafür, daß gehandelt wird; jedenfalls versuche ich, ein kleines bißchen nach diesem Motto vorzugehen —: Ich habe den Deutschen Anwaltverein und die Bundesrechtsanwaltskammer angesprochen und die Zusage bekommen, daß sofort 50 Juristen aus 50 Top-Anwaltskanzleien in der Bundesrepublik zur Verfügung gestellt werden, und zwar auf Kosten der deutschen Anwaltschaft,

(Beifall des Abg. Dr. de With [SPD])

die ab sofort die Überwachung und die Aufarbeitung der offenen Vermögensfragen in den fünf neuen Ländern übernehmen werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. de With [SPD])

Ich halte das für ein hervorragendes Beispiel praktizierter Solidarität.

(Marschewski [CDU/CSU]: Das mit den TopKanzleien ist ein verdecktes Lob!)

Der Personaltransfer von West nach Ost ist aber natürlich auch eine Frage der Kapazität. Deshalb haben die Länder, wie ich finde, zu Recht darauf hingewiesen, daß das Freistellen von Personal in den alten Ländern auch mit einer Überprüfung aller Rechtspflegeressourcen verbunden sein muß. Es geht um Vereinfachungen mit wesentlichen Entlastungswirkungen, die unmittelbar umsetzbar sind und die, wenn möglich, personelle Kapazitäten in den Gerichtsbarkeiten freisetzen, wobei man für meine Begriffe durchaus an Vorschläge in bezug auf eine Befristung denken sollte. Ich denke an den verstärkten Einsatz von Einzelrichtern in der Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, vor allem in Asylsachen, oder auch an die Verkleinerung von Strafkammern und die Abschaffung der Sprungrevision in Strafsachen,

(Zustimmung des Abg. Marschewski [CDU/ CSU])

auch an die Einführung der Zulassungsrevision zum BGH bei geringwertigen Streitwerten.
Ich weiß, daß mit diesen Maßnahmen und Überlegungen nicht jeder glücklich ist. Ich weiß das sogar sehr genau. Verstehen Sie mich bitte recht. Es soll nicht der Rechtsstaat eingeschränkt oder beschnitten werden. Aber im Angesicht der defizitären Situation, die wir haben, glaube ich, daß Notzeiten auch Notmaßnahmen erfordern.
Die Justizminister und -senatoren haben eine Arbeitsgruppe eingerichtet. Am 24. April wird in Berlin eine Sonderjustizministerkonferenz stattfinden.

(Unruhe bei der CDU/CSU)

— Würden Sie mir vielleicht eine Sekunde zuhören? Ich wäre dankbar, wenn Sie mir ein wenig Aufmerksamkeit für nicht ganz unwesentliche Fragen schenken würden. — Vielen Dank.

(Dr. de With [SPD]: Ihnen geht es nicht besser als der Opposition!)

Für die Akzeptanz des Rechtsstaats in den neuen Ländern wird ein Punkt von ganz besonderer Bedeutung sein, und zwar wie wir das Problem der Weiterbeschäftigung der dort tätigen Richter und Staatsanwälte lösen. Sicher ist: Wir werden ohne diese Richter und Staatsanwälte nicht auskommen. Ich wende mich erneut gegen eine pauschale Verurteilung; ich wende mich für eine individuelle Gerechtigkeit erneut an die Justizminister in den neuen Ländern.
Allerdings muß die Justiz von allen Richtern und Staatsanwälten befreit werden, die dem SED-Regime als Steigbügelhalter gedient haben und sich als Instrument der Unterdrückung mißbrauchen ließen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)




Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Wir wollen keine Zweitauflage der Entnazifizierung. Aber wir brauchen — ich habe dies schon einmal von diesem Podium aus gesagt — eine offene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Das sind wir den Menschen und dem Rechtsstaat schuldig.

(Dr. Brief [PDS/Linke Liste]: Dann müssen Sie doch alle drinlassen!)

— Ich darf vielleicht sagen, daß ich mich um das Problem mehr bemüht habe als Sie bisher.
Einerseits müssen die vor Gericht stehenden Bürger wissen, daß sie es zukünftig mit rechtsstaatlich denkenden Richtern und Staatsanwälten zu tun haben. Andererseits müssen endlich auch die betroffenen Richter und Staatsanwälte Klarheit darüber haben, ob sie in ihrem Amt bleiben können oder nicht. Es darf also jetzt nicht weitere Zeit verloren werden, sondern wir müssen jetzt schnell mit der Überprüfung zu Ende kommen.
Dabei müssen alle möglichen Erkenntnisquellen geschöpft werden. Dazu gehört alles das, was in Salzgitter liegt. Ich möchte bei der Gelegenheit auf folgendes hinweisen — ich habe dazu heute eine Presseerklärung abgegeben, weil dies meiner Meinung nach in der Öffentlichkeit etwas schief dargestellt wurde — : Die Erkenntisse aus Salzgitter werden überschätzt; vor der Wende wurden sie unterschätzt, jetzt werden sie überschätzt. Die Umfragen in den neuen Ländern zeigen, daß die Richterwahlausschüsse im Endeffekt nur relativ wenig mit diesen Erkenntnissen anfangen können, um so mehr mit den Akten, die bei der Gauck-Behörde liegen, um so mehr vor allem auch mit den Akten, die in den früheren DDR-Strafvollzugsanstalten gefunden wurden und noch gefunden werden.
Ich habe mit Herrn Gauck in der letzten Wochen ein intensives Gspräch geführt. Er hat mir zugesagt, daß er die Anfragen der Richterwahlausschüsse, der Staatsanwaltswahlausschüsse und die Ermittlungsersuchen der Staatsanwaltschaften sowie des Generalbundesanwalts vordringlich behandeln will. Ich finde, das ist eine ganz wichtige Zusage.
Ein Teil der verheerenden Hinterlassenschaft des Unrechtsregimes in der ehemaligen DDR ist zweifellos auch die Kriminalität von Mitgliedern der früheren SED-Führung. Es würde niemand verstehen — das sage ich mit Nachdruck — , wenn Straftäter, wenn also strafbare Handlungen vorliegen sollten, unbehelligt blieben. Gerade denjenigen, die an höchster Stelle Verantwortung getragen haben, Unrecht begangen haben, sich bereichert haben, an deren Händen eventuell sogar Blut klebt, muß nun der rechtsstaatsmäßige Prozeß gemacht werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zustimmung des Abg. Dr. de With [SPD] — Marschewski [CDU/CSU]: Das ist eine Selbstverständlichkeit!)

Dies verlangt der Rechtsstaat; dies sind wir auch den zahllosen Opfern des Unrechtsregimes schuldig. Es geht nicht um Rache und Vergeltung, sondern es geht ganz einfach um Gerechtigkeit.
Die Strafverfolgung in diesem Bereich ist Sache der Länder. Die Bewältigung der Regierungskriminalität liegt überwiegend beim Land Berlin. Berlin ist aber überbelastet, braucht dringend Hilfe der Altländer, braucht Hilfe des Bundes. Ich jedenfalls habe erklärt, daß ich jede mir mögliche Hilfe geben werde.
Das ist aber nur die eine Seite der Vergangenheitsbewältigung. Eine noch größere Aufgabe für den Rechtsstaat sehe ich darin, die Schicksale der Opfer von Verfolgung und Unrecht der SED aufzuarbeiten und den erlittenen Schaden wiedergutzumachen. Ich habe hier schon einmal erklärt — ich erkläre es noch einmal, weil es nicht oft genug gesagt werden kann: Das SED-Regime hat systematisch Menschen zerbrochen und Lebensschicksale zerstört. Es hat Kritiker strafrechtlich verfolgen lassen, in psychiatrische Anstalten gesperrt und an Ausbildung und Fortkommen gehindert. Wir müssen alles tun — ich sage es jedenfalls für meine Person zu — , um hier zu helfen. Nur mitfühlende Worte oder Lippenbekenntnisse reichen nicht.
Ich stelle mir die Rehabilitierung wie folgt vor — Herr de With, weil Sie danach gefragt haben — : Im Augenblick liegen in den neuen Ländern zirka 40 000 Anträge auf Rehabilitierung aus dem strafrechtlichen Bereich vor. Ich gehe von etwa 100 000 Fällen aus, die auf uns zukommen werden. Wir müssen die personellen Voraussetzungen dafür schaffen. Das versuche ich im Augenblick durch das Programm, das ich vorgelegt habe.
Darüber hinaus wird eine noch schwierigere Aufgabe zu lösen sein. Sie besteht darin, daß wir neben der verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung vor allem auch die berufliche Rehabilitierung aufarbeiten müssen, wobei nicht jeder einmal erlittene Nachteil schon Ansprüche auslösen kann. Ausgehend von sozialen und sozialstaatlichen Grundsätzen wird man vielmehr darauf zu achten haben, ob der erlittene Nachteil auch jetzt noch fortbesteht.
Daß aber etwas geschehen muß, ist aus moralischen und rechtsstaatlichen Gründen unumgänglich. Ich habe deshalb auch großes Verständnis dafür, daß die Opposition hierzu eine Große Anfrage eingebracht hat.
Ich darf sagen, daß im Bundesministerium der Justiz eine ganz neue Abteilung eingerichtet worden ist, die sich nur mit der Rehabilitierung befassen wird. Ich muß allerdings auch darauf hinweisen, daß Rehabilitierung nicht nur eine moralisch-ethische Aufarbeitung sein kann, sondern auch etwas kosten wird.
Wir brauchen für die Umsetzung des Rechtsstaats viel Geld. Nur wenn der wirtschaftliche Aufbau funktioniert, werden wir dieses Geld für den Aufbau des Rechtsstaats haben. Deshalb geht es um Investitionen. Darum haben wir uns gemeinsam bemüht. Ich möchte ausdrücklich sagen, daß ich den Mitgliedern des Rechtsausschusses in ganz besonderer Weise dafür dankbar bin, daß die Beratungen über das Artikelgesetz, wenn ich richtig informiert bin, heute positiv abgeschlossen worden sind, so daß wir dieses Gesetz, dem ich doch ganz erhebliche Bedeutung beimesse, hoffentlich am Freitag in zweiter und dritter Lesung verabschieden können.
Zur Abtreibungsfrage. Auch diese Frage ist ein Problemkreis, der mindestens im Zusammenhang mit der



Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Wiedervereinigung aus formalen Gründen gelöst werden muß. Ich möchte dazu einige Bemerkungen aus der Sicht des Bundesjustizministers machen, der, wenn ich das sagen darf, die Zuständigkeit für diese Frage, für den Kernbereich des Strafrechts, hat.
Das Problem des Schwangerschaftsabbruchs berührt viele Bereiche unserer Gesellschaft und kann, wie ich meine, nicht isoliert nur unter dem Blickwinkel des Rechts behandelt werden. Abtreibung und die Haltung der Gesellschaft gegenüber Kindern bedingen einander. Wir müssen uns daher gerade auch bei der Beratung der Frage des § 218 aktiv und intensiv für die Verbesserung der Lebensumstände der Kinder einsetzen.

(Dr. Laufs [CDU/CSU]: Das ist unstrittig!)

Ich habe bei der Diskussion über die Kinderkonvention schon einmal angedeutet, daß ich das als ein besonderes Thema empfinde, für das ich mich einsetzen will. Ich möchte das heute noch einmal wiederholen.
Ich denke als Bundesjustizminister durchaus auch an ein obligatorisches Recht auf einen Kindergartenplatz. Schwangere brauchen in Konfliktlagen Hilfe und Unterstützung, vor allem im Hinblick auf das spätere Leben mit dem Kind. Ich sage deutlich: Keine Frau — so meine ich jedenfalls — trifft leichtfertig die Entscheidung zum Abbruch.

(Beifall bei der FDP und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

Eine ungewollte Schwangerschaft bedeutet für jede Frau vielmehr einen schweren Konflikt. Bei der Lösung dieses Konfliktes müssen wir Frauen helfen und die Möglichkeit einer vertrauensvollen Beratung schaffen. Das ist heute nachmittag schon im Rahmen anderer Haushalte diskutiert worden.
Wir müssen versuchen, Frauen in ihrer Bedrängnis zu helfen. Ich sage das so, weil ich wirklich davon überzeugt bin. Wir müssen Möglichkeiten schaffen, daß Frauen Kinder haben und dennoch ihr bisheriges Leben fortsetzen können. Heute stehen Frauen viel häufiger als früher im Berufsleben, haben lange Jahre in die Ausbildung investiert. Sie müssen die Möglichkeit haben und behalten, nach der Geburt ihrer Kinder in den Beruf zurückzukehren und sich dennoch um die Erziehung ihrer Kinder zu kümmern. Wenn wir Lebensumstände schaffen, in denen die Interessen von Kindern u n d Müttern gleichermaßen verwirklicht und berücksichtigt werden können, werden wir im Hinblick auf das angestrebte Ziel etwas Gutes tun.

(Beifall bei der FDP und des Abg. Dr. Schwörer [CDU/CSU])

Zurück zu den Kindern. Es mag komisch klingen zu so später Stunde, aber ich nehme es trotzdem für mich in Anspruch, auch wenn ich meine Redezeit etwas überschreite: Ich möchte gern vortragen, was zu den Kindern zu sagen ich mir vorgenommen habe.
Kinder werden schwach und hilflos in unsere Welt hineingeboren. Ohne uns Erwachsene sind sie nicht überlebensfähig. Lange Zeit brauchen sie unsere Fürsorge und unseren Schutz. Die Natur hat uns damit eine gewaltige Verantwortung auferlegt. Dieser werden wir in der modernen Industriegesellschaft oft nicht gerecht, leider. Gerade in unserer Zeit, in der sich das Rad immer schneller und immer hektischer dreht, müssen wir ganz besonders auf die Rechte der schwächsten Glieder unserer Gesellschaft achten.

(Dr. Laufs [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Ich werde als Bundesjustizminister — ich sage es noch einmal von dieser Stelle aus — auch handeln. Ich bin im allgemeinen dafür bekannt, daß ich nicht nur etwas sage, sondern daß ich es auch mache: Ich werde mich in den kommenden Jahren bemühen, das Bewußtsein der Gesellschaft für die Sorgen und Nöte der Kinder in ganz besonderer Weise zu schärfen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie beim Bündnis 90/GRÜNE)

Ich möchte mich auch für eine bessere und stärkere Rechtsstellung der Kinder einsetzen.

(Müntefering [SDP]: Sicher für das Kindergeld, Herr Minister, was?)

— Ich habe mit dem Kindergeld nichts zu tun.

(Wartenberg [Berlin] [SPD]: Sind nicht auch Sie Mitglied der Bundesregierung?)

— Ja, ich bin Mitglied der Bundesregierung. Ich werde mich auch dafür einsetzen, daß wir mehr für das Kindergeld tun.

(Marschewski [CDU/CSU]: Drei kräftige Frauen haben wir da! — Müntefering [SPD]: Habe ich Sie da auf dem falschen Fuß erwischt?)

— Sie erwischen mich nicht auf dem falschen Fuß; den Eindruck habe ich nicht.
Für den Gesetzgeber sehe ich Handlungsbedarf in folgenden Bereichen: Es geht um Kinderpornographie, Kinderprostitution und auch um den Handel mit Kindern sowie um Kindesmißhandlungen in breitestem Umfang. Ich sehe bei nichtehelichen Kindern im Sorgerecht, im Unterhaltsrecht und im Erbrecht Probleme.
Ich möchte auch noch kurz auf den Bereich der nichtehelichen Lebensgemeinschaft eingehen, weil er vorher angesprochen worden ist. Wir müssen uns hier sehr genau überlegen, ob wir gesetzgeberisch tätig werden. Wir haben im Justizministerium im Augenblick eine große Untersuchung dazu vorliegen. Die neuesten Erkenntnisse sind erstaunlich. Wir haben bisher immer von etwa 1,2 Millionen nichtehelichen Lebensgemeinschaften gesprochen. Die zuverlässigen Untersuchungen zeigen, daß die Zahl auf ca. 800 000 zurückgegangen ist; es sind also erheblich weniger, als wir bisher angenommen haben.

(Dr. de With [SPD]: Immer noch genug! — Zuruf von der CDU/CSU: Zu viele!)

— Das sind immer noch genug. In der Tat muß man sich aber überlegen, ob man da etwas tut.
Hiervon zu trennen ist die Fürsorge für die stetig steigende Zahl der nichtehelich geborenen Kinder. Die Rechtsstellung dieser Kinder muß gefestigt werden. Das nichteheliche Kind braucht den Umgang auch mit seinem Vater. Die rechtlich unterschiedliche Behandlung von ehelich und unehelich ungeborenen Kindern muß, soweit es irgendwie möglich ist — das



Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
sage ich mit Nachdruck und deutlich — , beseitigt werden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, SPD und des Bündnisses 90/ GRÜNE)

Kinder haben nun einmal keinen Einfluß auf die Lebensweise ihrer Eltern. Sie dürfen dadurch, wie ich meine, auch keine Nachteile erleiden.
Wir haben eine rechtsvergleichende Untersuchung dazu in Auftrag gegeben. Ich hoffe, daß wir damit auch noch etwas in der Praxis bewirken können.
Wichtig ist aber vor allem insgesamt — auch das habe ich hier schon einmal gesagt — ein Bewußtseinswandel zugunsten der Kinder und zugunsten des Lebens mit Kindern.

(Dr. Laufs [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Noch ganz kurz zur organisierten Kriminalität; dann will ich zum Schluß kommen. Der Bundeskanzler hat dieses bedrückende Problem heute morgen angesprochen. Ich habe große Angst, daß gerade in diesem Bereich die neuen Länder den verheerenden westlichen Standard ganz schnell erreichen werden. Wir haben erklärt, daß wir mit modernsten Methoden versuchen wollen, an die Verbrecherbanden heranzukommen. Wie schwer das ist, wissen wir alle gemeinsam. Wir dürfen jedenfalls nicht zulassen, daß der Rechtsstaat hier zweiter Sieger bleibt. Es muß bei der radikalen Abschöpfung der enormen Gewinne bei der Geldwäsche und der Vermögensstrafe angesetzt werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir brauchen eine Verschärfung des Betäubungsmittelstrafrechts, und wir müssen auch an neue Methoden der Verbrechensbekämpfung, an Rasterfahndung, an den Zeugenschutz beim Einsatz verdeckter Ermittler, und an das Zeugnisverweigerungsrecht für Drogenberater heran.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Das haben wir in der Koalitionsvereinbarung beschlossen. Dem Justizministerium liegt bereits ein Entwurf vor, den wir zunächst besprechen müssen und bei dem ich es besonders schön fände, wenn er als Koalitionsentwurf eingebracht würde.
Lassen Sie mich jetzt nur noch ganz kurz auf die Fragestellungen eingehen, die Herr de With gebracht hat.
Die Frage lautete: Haben die Länder Quoten für Richter und Staatsanwälte festgelegt? Die Antwort ist ja. Ich habe es vorher angedeutet.
Eine weitere Frage lautete, ob die Verwaltungsgerichtsbarkeit in den neuen Ländern ordnungsgemäß aufgebaut wurde. Die Antwort: bisher leider noch nicht. Aber es gibt bis jetzt aus den Gründen, die ich im Rechtsausschuß vorgetragen habe, erstaunlich wenig Verwaltungsgerichtsfälle.

(Dr. de With [SPD]: Das kommt noch nach dem Reparaturgesetz, das wir am Freitag verabschieden!)

Zur Frage nach einem Umzug oberster Gerichte in ein neues Bundesland: In der Tat möchte sich der Bundesjustizminister vor der Entscheidung über den Regierungssitz zu diesem Fragenkreis nicht äußern.
Ich räume, was das Jugendstrafvollzugsgesetz anbelangt, Probleme ein, aber ganz einfach deshalb, weil wir nicht genügend Kraft haben, neben all dem, was im Augenblick vordringlich ist, auch das noch zu machen.
Für die Regelung von Absprachen im Strafverfahren brauchen wir andere Zeiten als im Augenblick.
Was die Juristenausbildung anbelangt, muß ich Ihnen sagen, daß ich schon in der letzten Legislaturperiode resigniert habe.

(Dr. de With [SPD]: Machen Sie einen neuen Anlauf mit uns!)

Zusammen mit Herrn Minister Engelhard habe ich resigniert vor der Haltung der Länder in dieser Frage. Ich muß es so resignativ sagen. Ich will gerne einen neuen Anlauf versuchen, wenn die Kraft dafür ausreicht.

(Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Man soll nie aufgeben, Herr Kinkel!)

Meine Damen und Herren, ich war weit über die Zeit; ich bitte um Entschuldigung. Die Sorgen in den neuen Ländern sind immens. Die meiste Kraft und Energie muß dem Aufbau der früheren DDR gewidmet werden. Wir dürfen dabei aber, wie Herr de With zu Recht gesagt hat, nicht die Dinge, die uns gemeinsam berühren, außer acht lassen. Nur wenn wir anfangen, für alle 16 Länder zu denken und zu handeln, werden wir wirklich wiedervereinigt sein, vor allem auch im Recht.
Ich danke Ihnen. Ich bitte nochmals um Entschuldigung, daß ich so lange überzogen habe.

(Lebhafter Beifall bei der FDP und der CDU/ CSU)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1201420800
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, interfraktionell ist vereinbart worden, die Redebeiträge zu den noch vorliegenden Einzelplänen, nämlich zu Wirtschaft und Verteidigung, zu Protokoll zu geben.

(Beifall)

Sind Sie mit dieser Abweichung von der Tagesordnung einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch.

(Marschewski [CDU/CSU]: Es fällt sehr schwer!)

Das scheint der Fall zu sein. Dann ist es so beschlossen.
Ich glaube, wir sind dem neuen Kollegen Carl-Ludwig Thiele besonders dankbar, daß er dieser Vereinbarung zugestimmt hat, weil er heute seine erste Rede gehalten hätte. Sie wäre sicherlich eine gute Rede geworden.
Ich darf damit, nachdem keine weiteren Wortmeldungen vorliegen, die heutige Sitzung schließen und berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Donnerstag, den 14. März 1991, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.